Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938 [1 ed.] 9783205206842, 9783205202363, 9783205205500


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German Pages [322] Year 2017

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Die gescheiterte Republik: Kultur und Politik in Österreich 1918–1938 [1 ed.]
 9783205206842, 9783205202363, 9783205205500

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ANTON PELINKA DIE GESCHEITERTE REPUBLIK KULTUR UND POLITIK  IN ÖSTERREICH 1918–1938

Anton Pelinka

Die gescheiterte Republik Kultur und Politik in Österreich 1918–1938

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar · 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen  : Vorderseite  : Die besiegte Republik: Februar 1934, das mit dem Kruckenkreuz des autoritären Regimes verhängte Republikdenkmal in Wien  ; Foto  : Albert W. Hilscher © ÖNB Bildarchiv Inv.-Nr. H 2437/8 Rückseite: Wien, Erste Republik-Denkmal um 1930  ; © ÖNB Bildarchiv Inv.-Nr. 139.194B

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : textbaustelle, Berlin Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : CPI Moravia, Pohorelice Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20236-3 | eISBN 978-3-205-20550-0

Zur Erinnerung an Irene Harand Sie sah, was auch andere hätten sehen können – wenn sie nur gewollt hätten. Im Zeichen des Respekts vor Karl Renner und Leopold Figl, Julius Raab und Adolf Schärf  : Sie lernten aus den Fehlern – die immer auch ihre eigenen waren.

Inhalt

Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 »Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik . . . . . . . . . . .

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2 Zum Begriff der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Die Republik wider Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Vom Zentrum zur Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Die Flucht aus der Republik . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Flucht in das Gestern . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Flucht in die Weltrevolution . . . . . . . . . . 5.3 Die Flucht in den Anschluss . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Flucht in den (unverbindlichen) Patriotismus 5.5 Die Flucht in ein (welches  ?) vereintes Europa .. .

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6 Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 1918/19  : Die ungeliebte Republik . . . . . . . . . 6.2 1920–1929  : Die ignorierte Republik . . . . . . . . 6.3 1929–1933/34  : Die bedrängte Republik . . . . . . 6.4 1933/34–1938  : Dem Abgrund entgegen . . . . . . 6.5 1938, 1945 und danach  : Die vergessene Republik

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107 110 118 127 135 155

7 Zwischen Gestern und Morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Innenpolitik als Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 Ungenützte Potentiale . . . . . . . 9.1 Der Kalte Krieg im Inneren .. 9.2 Frauen . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Liberale . . . . . . . . . . . . . 9.4 Linkskatholiken . . . . . . . . 9.5 Jüdinnen und Juden . . . . . . 9.6 Wissenschaft . . . . . . . . . .

189 190 194 202 219 226 236

7

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Zu groß für Österreich  ?

10 Zu groß für Österreich  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

11 Österreichisches Exil und Exil in Österreich . . . . . . . . . . . . .

259

12 Was blieb  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Zeittabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

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ieses Buch erscheint ein Jahrhundert nach dem Entstehen der Republik Österreich. Es ist mit der Intention geschrieben, Zusammenhänge deutlich zu machen – vor allem, warum die Republik zunächst scheiterte, bevor sie erfolgreich sein konnte. Die Erklärung des großen Misserfolges, der sich – nach einem Niedergang, gefolgt von einem katastrophalen Einschnitt – beginnend mit 1945 in einen großen Erfolg verwandelte, muss auf viele Faktoren zurückgreifen  : auf die welt- und vor allem europapolitischen Gegebenheiten, auf die Österreich wenig oder auch gar keinen Einfluss hatte  ; auf die ökonomischen Rahmenbedingungen, die soziale Sicherheit zerstören oder Wohlstand schaffen konnten – und die ebenfalls nur zum Teil von der Republik Österreich zu steuern waren  ; von den politischen Kräften im Lande, die sich – den demokratischen Grundsätzen entsprechend – in Parteien gliederten. Das alles ist zu berücksichtigen, und das alles ergibt ein ebenso komplexes wie buntes Puzzle, das Widersprüche immer wieder aufzeigen, aber nur zu oft nicht auflösen kann. Dieses Buch will den Absturz der Ersten Republik – auch – aus der Perspektive der Kultur erklären  : Kultur, verstanden als Politische Kultur, als Summe von Bewusstseins- und Verhaltensmustern, Produkt einer politisch zu etikettierenden Sozialisation  ; aber auch Kultur, definiert wie sich diese den Kulturseiten der Zeitungen und den Kultursendungen von Rundfunk und (zur Zeit der Ersten Republik noch nicht aktuell) Fernsehen manifestiert. Kultur reflektierte und beeinflusste die Republik – ihren Abstieg zu den Katastrophen 1934 und 1938, ihr Wiedererstehen 1945. Die Politische Kultur der Ersten Republik hilft verstehen, warum diese scheiterte  : Sie drückte das zum Bürgerkrieg drängende Gegeneinander der sich voneinander streng abgrenzenden Lager aus. Die Kultur, wie sie sich in der Literatur und in der Wissenschaft manifestierte, hilft ebenfalls zu verstehen  : Denn diese Kultur ignorierte weitgehend die Republik. Mit einigen Ausnahmen, zu denen Karl Kraus zählte und das sozialwissenschaftliche Forschungsteam, das die Studie über die Arbeitslosen im niederösterreichischen Marienthal verfasste, war die Kultur der Theater und der Universitäten gegenüber der Republik von bewusstem Negieren gekennzeichnet. Kultur war auf das Gestern bezogen – oder auf ein erträumtes Morgen. Die Gegenwart der Republik wurde von der Kultur weitgehend ignoriert. Der Begriff »Republik« bezieht sich nicht nur auf den Zeitraum zwischen der Gründung der Republik, 1918 und deren vorläufigem Ende, 1934. Um 9

Vorwort

die Kontinuität über dieses Ende hinaus zu unterstreichen, ist auch der Zeitraum des autoritären, semifaschistischen, weder republikanischen noch demokratischen »Ständestaates« mit einbezogen  : eine Periode, in der die politische Freizügigkeit zugunsten einer »Vaterländische Front« genannten Einheitspartei ganz wesentlich eingeschränkt war. Das Buch ist der Erinnerung an Irene Harand gewidmet  : Diese Frau, diese österreichische Katholikin hatte erkannt, was andere hätten erkennen müssen – aber nicht erkennen konnten oder nicht erkennen wollten  ; nicht die Bischöfe ihrer, der Römisch-Katholischen Kirche, und nicht die führenden politischen Kräfte der Republik und deren Appendix, des autoritären Ständestaates. Irene Harands Beispiel zeigt uns, welche Einsichten möglich gewesen waren und welchen Konsequenzen ausgewichen wurde. Das Buch soll aber auch den Respekt vor denen ausdrücken, die aus dem Scheitern der Republik und deren Fehlern, die immer auch eigene Fehler waren, gelernt hatten  : allen voran Karl Renner und Julius Raab, Leopold Figl und Adolf Schärf. Ihr Leben demonstriert, dass eine Politische Kultur, die auf das Ende der Demokratie hinauslief, durch eine andere ersetzt werden konnte – durch eine Kultur, die Demokratie ermöglichte und förderte. Bei der Arbeit an diesem Buch konnte ich mich – wie schon seit Jahren – auf die Verlässlichkeit und Professionalität Ellen Pallis verlassen. Sie hat die technische Seite der Entstehung begleitet – und dafür danke ich ihr ganz besonders. Budapest, Wien, Innsbruck 2017

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1 »Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik »Dass jemand, der wie ich vollkommen jeder Politik fernstand und seit Jahren nicht einmal sein Wahlrecht ausgeübt hatte, ausgesucht worden war […].« (Zweig 1961, 423)

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it diesen Worten kommentierte Stefan Zweig die Hausdurchsuchung, die von der Polizei des »autoritären Ständestaates« 1934 in seinem Salzburger Haus vorgenommen worden war. Zweig, dessen Welt die »von gestern« war, die Welt eines kosmopolitischen Weltbürgers in Österreich-Ungarn, dem multinationalen Reich, das seinem Ende entgegentaumelte  ; eine Welt, deren kulturelle Glanzlichter viele über den Zustand dieses Österreich zu täuschen vermochten  ; einem Reich, das schließlich die Unfähigkeit zur inneren Reform mit einem aggressiven Befreiungsschlag zuzudecken versuchte. Zweig war in der 1918 gegründeten Republik nie wirklich heimisch geworden, obwohl er von Erfolg zu Erfolg eilte  : als Textautor von Opern Richard Strauss’, in der Nachfolge Hugo Hofmannsthals  ; vor allem aber als Autor von historischen Büchern, Romanen, die sich weltweit bestens verkauften. Zweig war in der Republik nie angekommen. Zweig, der Vertreter der Aufklärung, stand dieser Republik, deren Verfassung vom Geist der Aufklärung und der Demokratie bestimmt war, ganz einfach ferne. Zuhause war er, der in Wien aufgewachsene Sohn aus dem jüdischen Großbürgertum, in den Jahren der Republik in Salzburg  ; aber er fühlte sich wohl auch zuhause in London und New York und schließlich im brasilianischen Petropolis. Und er beobachtete das Weltgeschehen mit großer Aufmerksamkeit  : Er besuchte die Sowjetunion, nahm aber anders als andere Besucher in dieser Zeit dort nicht ein im Aufbau befindliches Paradies wahr. Und er verfolgte den Aufstieg des Österreichers Adolf Hitler mit wachsender Sorge und schließlich mit großer Verzweiflung. Unpolitisch war dieser Österreicher ganz bestimmt nicht – auch wenn er sich selbst als jemanden bezeichnete, der »das Politische und Dogmatische im tiefsten verabscheute« (Zweig 1961, 359). Er, der an der Weltpolitik aufmerksam Anteil nahm, der 1928 bei seinem Besuch im Reich Stalins das marxistisch-leninistische Experiment skeptisch, aber offen und mit großem Interesse beobachtet hatte  ; Zweig, der das Heranwachsen der mit dem Namen Adolf 11

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Hitler verbundenen Gefahr höchst aufmerksam beobachtet hatte – mit der Politik der Republik, die seiner Welt »von gestern« gefolgt war, wusste Stefan Zweig wenig anzufangen. Umso verständlicher war sein Erstaunen, dass die Polizei des autoritären Dollfuß-Schuschnigg-Systems ihn im Verdacht hatte, er könne Waffen des Republikanischen Schutzbundes gelagert haben. Zweig verstand sich als Bürger einer globalen Kultur, als Kosmopolit, der auch Bürger des kleinen Österreich war – weil er eben zuvor als Bürger eines großen Österreich das Licht der Welt erblickt hatte. Mit Kultur verband Zweig nicht die Wohnbauoffensive des »Roten Wien«. Kultur, das waren für ihn die Salzburger Festspiele, deren Anfänge er miterlebte  ; Kultur, das war die weltweite Allianz, die Internationale der dem aufsteigenden Nationalismus und Totalitarismus entgegentretenden Schriftsteller, die sich primär als Europäer – und nicht vor allem als Franzosen oder Deutsche oder Italiener verstanden  ; oder eben auch nicht primär als Österreicher. Eine ganz andere, freilich ähnlich weite Distanz lag zwischen der Republik und Konrad Lorenz. Während Zweig schon Jahre vor 1938 ein unbestrittener Star des globalen Literaturbetriebes war, wurde Lorenz nach 1945 zu einem ebenso unbestrittenen Star des Wissenschaftsbetriebes. Seine Distanz zur Politik hatte Lorenz in einem bemerkenswerten, mit 26. März 1938 datierten Brief an einen deutschen Kollegen ausgedrückt  : »Sie können sich keine blasse Vorstellung davon machen, welche Begeisterung hier herrschte und selbst jetzt noch herrscht, in welcher Ausnahms- und Festesstimmung selbst so unpolitische Menschen wie wir sind  ! […] Ich glaube, wir Österreicher sind die aufrichtigsten und überzeugtesten Nationalsozialisten überhaupt  !« (Föger, Taschwer 2001, 65). Lorenz war als »unpolitischer« Mensch Mitglied der NSDAP und entsprach mit antisemitischen Bemerkungen übelster Art (Föger, Taschwer 2001, 84 f.) dem Zeitgeist dieser Jahre – Bemerkungen, die er später als Missverständnisse hinzustellen versuchte  : Lorenz wurde in der Zweiten Republik zu einer Art Säulenheiliger eines durchaus politischen Konsenses. Politiker der SPÖ und der ÖVP lobten ihn ungefragt, auch die KPÖ hatte Positives anzumerken, und den Grünen war er eine Art personifizierter Gründungsmythos (Föger, Taschwer 2001, 14, 193 f.). Über die politische Seite des selbstbekennenden Unpolitischen wurde nach 1945 nur wenig gesprochen. Dass der Ruhm des Nobelpreisträgers für Medizin und Physiologie mit dem Ruhm des anderen selbstbekennenden Unpolitischen, mit dem Stefan Zweigs, auf keinen Fall auf einen Nenner zu bringen war, darüber wurde nach 1945 so weit wie möglich geschwiegen. Dieses (und anderes) Schweigen war freilich Teil des Preises, der für die Stabilisierung der neuen, der Zweiten Republik zu entrichten war. 12

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Abb. 1  : Stefan Zweig (1934) – der »unpolitische« Kosmopolit in Salzburg, mit Arturo Toscanini (links) und Bruno Walter (Mitte). Abb. 2  : Konrad Lorenz (1939) – der »unpolitische«, begeisterte Nationalsozialist sinniert über seine Karriere, die ihm die NSDAP ermöglichen wird.

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»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Zweigs Distanz zur Politik der Republik äußerte sich in einer Nichtteilnahme an den Wahlen der Republik – und in einer tiefen Depression, als der Nationalsozialismus erfolgreich nach der Weltherrschaft zu greifen schien. Lorenz’ Distanz zur Politik der Republik äußerte sich in einer kritiklosen Unterwerfung unter eben diesen Nationalsozialismus, eine Haltung, die bestenfalls als grenzenlos opportunistisch und schlimmstenfalls als Ausdruck einer mörderischen Gesinnung zu verstehen ist. Das Desinteresse, das Stefan Zweig der Politik der Republik entgegenbrachte, und Konrad Lorenz’ bereitwillige Anpassung an den NS-Staat zeigen den höchst widersprüchlichen Grundakkord der Kulturgeschichte dieses Österreich, dessen republikanisch-demokratischer Charakter nicht einmal 16 Jahren zu überleben vermochte und dessen bloße Existenz bald darauf verloren ging. Kultur, das identifizierte kaum jemand mit dem intellektuellen Widerspruch zwischen Otto Bauer und Ignaz Seipel, zwischen dem revolutionären Weltbild des Austromarxismus und dem klerikal-restaurativen des Politischen Katholizismus  ; Kultur, das stand über diesen Niederungen, deren Lärm den ungeliebten Kleinstaat erfüllte  ; dieses Österreich, das so eigentlich niemand gewollt hatte. Kultur, das war – explizit als »unpolitisch« definiert – die Kompetenz des im brasilianischen Exil Verzweifelnden  ; und Kultur, das war der Wissenschaftsbetrieb, der den Naturwissenschafter Konrad Lorenz zu unpolitisch-politischen Verrenkungen trieb. Mit Politik sollte und wollte Kultur nichts zu schaffen haben. In dem 1918 neu geschaffenen Kleinstaat war Wien das Mekka der Psychoanalyse  ; in diesem Österreich vertrat der »Wiener Kreis« ein naturwissenschaftlich diszipliniertes Verständnis von Philosophie, und junge Sozialforscherinnen und Sozialforscher entwickelten im niederösterreichischen Marienthal Forschungstechniken, die später – an der Columbia University, an der University of Sussex und anderswo – bahnbrechend für den Zugang zu Gesellschaft und Politik werden sollten. In diesem kleinsten der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns waren Staatsoper und Burgtheater weiterhin weltweit wahrgenommene Zentren der Hochkultur – und Salzburg wurde in kurzer Zeit zu einem Standort, an dem Arturo Toscanini dirigierte und Max Reinhardt inszenierte. Dieses kleine Österreich war tatsächlich so etwas wie eine kulturelle Großmacht. Doch das alles schien ohne direkte Verbindung mit dem zu sein, was Zweig als »die Politik« bezeichnete und für die Lorenz sich erst erwärmen konnte, als sie in deutscher Uniform in Österreich einmarschiert war. Die Republik blieb dieser Kultur fremd. Die Republik, von dieser Kultur kaum wahrgenommen, taumelte der Katastrophe entgegen. Die Republik wurde zerstört, ersetzt zunächst von einem halbherzig autoritären, halbherzig faschistischen System, das selbst bald Opfer des schlimmsten aller Systeme werden sollte, die in der 14

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Geschichte bisher dokumentiert und analysiert sind. Ein Absturz – von der Kultur des Stefan Zweig mit Entsetzen und von der Kultur des Konrad Lorenz zunächst mit klammheimlicher, dann mit offener Freude kommentiert  ; eine Katastrophe, die mit dem Namen des noch vor Sigmund Freud wohl meistzitierten Österreichers dieser Zeiten verbunden ist  ; mit dem, der Zweigs kosmopolitischer »Welt von gestern« entflohen war, um von München und Berlin aus Österreich von der politischen Landkarte, ja von der Geschichte zu tilgen. Am Beginn stand der Versuch, aus der weltpolitisch vorgegebenen Restmasse des alten Österreich etwas, irgendetwas Vernünftiges zu machen. Am Beginn stand der intellektuell und ethisch ehrenvolle Gründungsakt einer Demokratie, die ihre Existenz der Niederlage des alten, teilweise demokratischen Österreich verdankte, dessen Parlament – das Abgeordnetenhaus des Reichsrates – bereits ab 1907 auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen Männerwahlrechtes gewählt wurde, sich aber nicht zu einem gleichwertigen Gegenspieler des Kaisers und dessen Regierung zu steigern vermochte. Am Beginn des neuen Österreich stand die Gründung der Republik – als die wohl beste Verlegenheitslösung, die im Herbst 1918 politisch möglich war. Und im Oktober 1920 beschloss die 1919 gewählte Provisorische Nationalversammlung Österreichs ein Bundes-Verfassungsgesetz und gab so der Verlegenheitslösung einen vernünftigen Rahmen. Die Republik war im November 1918 von parlamentarischen Eliten des Kaiserreiches ausgerufen worden. Diese entschieden über die Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung, die 1920 die Verfassung beschloss. Der republikanische Grundkonsens war von Personen und politischen Kräften formuliert, die schon in der Schlussphase des Kaiserreiches politisch eine Rolle spielten  : Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Deutschnationale. Freilich  : Auf einen republikanischen Katalog der Grundrechte konnten sich die Republikgründer nicht verständigen. Man einigte sich auf einen pragmatischen Kompromiss  : Die im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 verankerten Grund- und Freiheitsrechte sollten ihre Geltung auch in der Republik behalten, in der Ersten wie auch in der Zweiten. Die Republik war neu – aber sie betrat nicht vollständig Neuland (Welan 1971, 37). Der Verfassungskonsens war vor dem Hintergrund der Probleme gefunden worden, die für die meisten Menschen zunächst viel dringlicher waren als die Frage der Gestaltung der politischen Ordnung  : Die Versorgungslage war im Herbst 1918 katastrophal. Es ging darum, die Ernährung der Millionen sicherzustellen, die in dem Raum lebten, der nicht von einem der anderen Nachfolgestaaten in Anspruch genommen war. Die Versorgung der Bevölkerung unterstrich die Abhängigkeit von den Siegermächten  : Eine wirksame Bekämp15

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

fung der Hungersnot setzte Hilfe von Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA voraus (Stadler 1966, 163–166). Der Entscheidung über die republikanische und demokratische Verfassung waren intensive Beratungen vorangegangen, um auf der Basis der von den Siegermächten des Weltkrieges geschaffenen Tatsachen eine von einem breiten Konsens getragene politische Struktur zu schaffen. Dies gelang. Das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 begann mit den Sätzen  : »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« Auf diese Verfassung hatten sich Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Deutschnationale verständigt. Sie diente als Grundlage der Republik, bis diese ab März 1933 in mehreren Etappen von einer zur Diktatur entschlossenen Regierung zerstört wurde. Und sie dient als Grundlage der mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 wieder entstandenen Republik. Diese freilich, die Zweite Republik, entwickelte sich zu einer Erfolgsgeschichte  : eine stabile Demokratie, die sich in das entstehende europäische Gesamtgefüge einzuordnen verstand  ; eine Republik, deren politische Spielregeln allgemein akzeptiert wurden  ; eine Ordnung, die soziale Stabilität und einen insgesamt steigenden Wohlstand ermöglichte. Diese Erfolge waren der Ersten Republik versagt geblieben. Das begann schon mit der Dürftigkeit und Widersprüchlichkeit des allen Akteuren gemeinsamen Verständnisses von dem, was »Österreich« zu bedeuten hätte, das Land, dem sie ja eine Verfassung gegeben hatten. Was »Österreich« war, blieb nebulos und umstritten. Der Anschluss an das Deutsche Reich der demokratischen Republik von Weimar war von den Siegermächten unterbunden worden. War dieses Österreich – der im Wesentlichen deutschsprachige »Rest« des alten Kaiserreiches – nur ein Provisorium, das darauf zu warten hatte, bis eine sich ändernde politische Gesamtlage Europas den gewünschten Anschluss doch noch ermöglichen würde  ? Oder war dieses Österreich, dessen »deutscher Charakter«, was immer dies auch heißen mochte, zunächst von niemandem bestritten wurde, war die Republik auf Dauer als zweiter deutscher Staat errichtet, der sich später im Vergleich mit dem zur Diktatur transformierten Deutschen Reich als das »bessere« Deutschland verstehen konnte  ? Oder war dieses Österreich die Keimzelle von etwas Alt-neu-Großem, von einem Reich, das unter geänderten Bedingungen wiedererstehen sollte – mit oder ohne die Vorzeichen der Herrschaft der Habsburger  ? Oder war dieses Österreich eine Art Wartezimmer auf dem Weg zu einer Europa oder gar die Welt umspannenden Sowjetrepublik  ? Österreich war nicht Österreich war nicht Österreich. Und »demokratisch«  : Wer war dieses Volk, das nun, offiziell als neuer Souverän deklariert, an die Stelle des alten Herrscherhauses getreten war  ? Die 16

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Deutschen der Monarchie – etwa einschließlich der deutschsprechenden Flüchtlinge aus dem vormals österreichischen Galizien, unter ihnen vor allem auch Jüdinnen und Juden  ? Alle Bewohner der kleinen Republik – unabhängig von Muttersprache und Religionszugehörigkeit, unabhängig auch von regionaler Herkunft  ? Und wie sollte die Demokratie, aufbauend auf dem »Demos«, nun organisiert werden  ? Zunächst war man sich, nach getaner Verfassungsarbeit, durchaus einig. Wahlen in den Nationalrat, Wahlen in die Landtage der bald neun Länder wurden durchgeführt, ohne dass ernsthaft die Legitimität dieser Vorgänge in Zweifel gezogen worden wäre. Doch bald schon tauchten Stimmen auf – war dies die »wahre« Demokratie, oder war sie nur eine »Formaldemokratie«, in der die Parteien im Parlament de facto als Souverän agierten  ? Und machten nicht bald auch Nachbarstaaten vor, dass die »Herrschaft des Volkes« auch ganz anders interpretiert werden konnte – in Ungarn, Italien, Jugoslawien  ? Demokratie war nicht Demokratie war nicht Demokratie. Nein, das Prinzip der Demokratie war letztendlich kein alle verbindendes Prinzip, dessen Implikationen von allen außer Streit gestellt worden wären. Und erst recht  : Republik  ? War diese mehr als eine pragmatische Notlösung, die nach der Abdankung des letzten Kaisers ergriffen werden musste  ? War Republik überhaupt jemals anders definiert als aus dem Negativen – dass die Republik eben keine Monarchie sein sollte  ? Schwang im Begriff Republik irgendetwas mit, was eine emotionelle, eine affektive Dimension ansprach – wie die Republiken, die mehr als ein Jahrhundert davor aus Revolutionen entstanden waren  : in Nordamerika, in Frankreich  ? Der Verfassungskonsens von 1920 beinhaltete keine belastbare Übereinstimmung darüber, was die Grundbegriffe Österreich, Demokratie, Republik zu bedeuten hätten. Und daran scheiterte die Republik. Freilich  : Sie scheiterte auch im Zusammenhang mit den Entwicklungen in Europa insgesamt und mit der Entwicklung in der Mitte Europas ganz besonders. Europa entwickelte sich nach 1918 nicht hin zu mehr, es entwickelte sich hin zu immer weniger Demokratie. Österreich war da so anders nicht. Und das alles lief letztlich auf das Ende der Demokratie in Österreich, auf das Ende der demokratischen Republik und schließlich auf das Ende Österreichs hinaus. Die Erste Republik scheiterte. Aber musste sie scheitern  ? Ganz offensichtlich nicht wegen ihrer in eine Verfassung gegossenen politischen Ordnung und wohl auch nicht wegen der handelnden Personen  : Immerhin stehen unter der Unabhängigkeitserklärung von 1945 die Namen von bereits in der Ersten Republik maßgebenden Politikern, allen voran Karl Renner und Leopold Kunschak. Die Personen, die den Absturz der Republik nicht aufzuhalten vermochten, waren wesentlich nicht nur an der Gründung, sondern letztlich auch am Erfolg der Zweiten beteiligt. 17

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

Die politische Ordnung der Ersten Republik war als das konzipiert, was Westminster-Demokratie genannt wird  : Die Mehrheitsbildung in einem frei gewählten Parlament bestimmt, wer regiert (Lijphart 1999, 9–30). Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist aus ebendiesem Grund faktisch nicht gegeben – eine mit der Parlamentsmehrheit identische Regierung steht im Parlament einer zur Übernahme der Regierung bereiten Opposition gegenüber. Eine Trennung der Gewalten ist in diesem Demokratiemodell aber sehr wohl zwischen der mit der Parlamentsmehrheit zu einer Einheit verschmolzenen Regierung auf der einen und der unabhängigen Rechtsprechung auf der anderen Seite vorgesehen. Der demokratische Charakter ist durch den Wettbewerb zwischen Regierung und Opposition hergestellt und erweist sich in der Rotation der Parteien zwischen der einen, der Regierungs-, und der anderen, der Oppositionsfunktion. Aber eben diese Konsequenz der Westminster-Demokratie, die den britischen Parlamentarismus charakterisiert, kam in Österreich nicht zum Tragen  : Die politische Rechte, bald »Bürgerblock« genannt, wurde bei keiner Wahl von der politischen Linken abgelöst. Während im britischen Unterhaus über Jahrhunderte hinweg Tories und Whigs, dann – ab dem 20. Jahrhundert – Konservative und Labour einander an der Regierung ablösten, war die Funktionsverteilung zwischen rechts und links in Österreich während der gesamten Dauer der Ersten Republik festgeschrieben. Und als die von den Christlichsozialen geführte Regierung fürchten musste, bei Wahlen die Mehrheit zu verlieren, beschritt sie den Weg in die Diktatur. Der Ersten Republik fehlte die politische Kultur, von der die Zweite ausgezeichnet werden sollte  : ein praktiziertes System der Machtteilung, ausgedrückt in »Großen Koalitionen« und Sozialpartnerschaft. Die Erste Republik war verfassungsrechtlich als Westminister-Demokratie konzipiert – die Alternative zu diesem Modell, die Konkordanz- oder Konsensdemokratie etwa nach Schweizer Muster –, wurde nicht ernsthaft angedacht und schon gar nicht umgesetzt (Lijp­ hart 1999, 31–47). Und doch wäre dieses alternative Verständnis von Demokratie eine Chance gewesen, die Demokratie zu stabilisieren, wie die Entwicklung der Zweiten Republik belegt. Die Erste Republik blieb bestimmt von einem Schwarz-Weiß-Denken, von einer Unfähigkeit, Politik statt eines »Alles-oderNichts« als ein »Mehr-oder-Weniger« zu begreifen. Die Ansätze einer Konsensdemokratie hatten sich mit der Verabschiedung des Bundes-Verfassungsgesetzes schon am 1. Oktober 1920 erschöpft. Die Logik einer nun nicht mehr gebremsten Konfliktdemokratie führte zu den Ereignissen der Jahre 1933 und 1934, zum Ende der demokratischen Republik und schließlich zum Ende Österreichs. Eric Hobsbawm erlebte als Schulkind in den 1920er Jahren in Wien die Alltäglichkeit eines politischen Denkens, das die Trennung in Lager als selbstver18

»Unpolitische« Kultur und Fragmentierte Politik

ständliche Gegebenheit, als vorgegeben und quasi natürlich akzeptierte. Die Menschen, so Hobsbawm, nahmen es als Teil der herrschenden Verhältnisse hin, sich entweder in das geschlossene Milieu der Sozialdemokraten (der »Roten«) oder in das der Christlichsozialen (der »Schwarzen«) einordnen zu müssen (Hobsbawm 2003, 12). Eine die Lager verbindende Gemeinsamkeit existierte nicht, war jedenfalls nicht erkennbar. Die vormalige Reichs- und Residenzstadt eines multinationalen Empires war zwar, erkenn- und hörbar vor allem in der Vielfalt sprachlicher Intonationen, noch immer nicht das, was der Deutschnationalismus gerne gehabt hätte – eine eindeutig »deutsche« Stadt. Aber die Sprachfärbungen waren die Grundlage einer informellen, freilich effektiven kulturellen Hierarchie  : Eine slawische (vor allem tschechische – »böhmische«) Färbung der deutschen Sprache galt als minderwertig, und Menschen italienischer Herkunft (etwa aus dem vormals österreichischen Trentino) waren als »Katzelmacher« Objekt alltäglicher Verspottung (Hobsbawm 2003, 11). Die Kluft zwischen der aus dem alten Österreich kommenden ethnisch-­ sprachlich-kulturellen Vielfalt und einer das Deutsche betonenden Einfalt bekamen vor allem die Menschen jüdischer Herkunft zu spüren. Diesen, von denen viele – wie Joseph Roth – nostalgisch der Monarchie nachtrauerten, gab in diesem neuen Österreich niemand das Gefühl, Teil der »Nation« zu sein – denn eine solche gab es in der Republik ja nicht, jedenfalls keine, die sich als österreichisch verstanden hätte (Hobsbawm 2003, 22). Aber auch formell machte es der in Schattierungen dominante Antisemitismus den Jüdinnen und Juden schwer, sich in dem klein gewordenen Österreich zuhause zu fühlen. 1921 verhinderte der deutschnationale Innenminister Leopold Waber die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die im republikanischen Österreich lebenden, vor allem aus dem (alt)österreichischen Galizien stammenden Menschen jüdischer Herkunft mit der Begründung, als Juden könnten sie – aus »rassischen« Gründen – nicht als Deutsche gelten und damit auch nicht in Österreich eingebürgert werden ( Judson 2016, 445, 542). Die Republik hatte auf diese Weise die Standards der Nürnberger Rassengesetze vorweggenommen. Der Unterschied zwischen dem Scheitern der Ersten und dem Erfolg der Zweiten Republik kann mit dem Begriff Kultur umschrieben werden. Die Erste Republik scheiterte, weil die an den Bildern von Schwarz oder Weiß, von Gut oder Böse, von unbedingtem Sieg oder totaler Niederlage orientierten politischen Akteure ihre manichäischen Weltbilder nicht hinter sich lassen konnten oder wollten. Die politische Kultur der Ersten Republik war die einer unbedingten Gegnerschaft, die letztlich in offene Feindschaft kippte. Das kann freilich nicht bedeuten, dass diese Unversöhnlichkeit allen gleichermaßen zuzuschreiben gewesen wäre. Auch wenn wohl keine der politi19

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schen Parteien der Ersten Republik von der Verantwortung für das Scheitern dieser Demokratie frei war – die Verantwortung traf stärker diejenigen, die letztlich aktiv die Demokratie zerstörten, um einen autoritären Staat an die Stelle der Republik zu setzen  ; und erst recht die, die im Interesse einer totalitären Phantasie die Eigenständigkeit Österreichs auslöschten. Die drei staatsgründenden Lager der Ersten Republik teilten sich die Verantwortung für deren Scheitern – aber nicht zu gleichen Teilen. Die Verantwortung derer, die gezielt und mit Absicht die demokratische Republik in den Abgrund führten – im Wesentlichen der Repräsentanten des katholisch-konservativen Lagers und damit der Christlichsozialen Partei – war natürlich eine andere, eine tiefere und größere als die Verantwortung derer, die sich zu Recht als Opfer des Weges weg von der Demokratie und hin zu einem autoritären Staat sehen mussten. Aber auch die Sozialdemokratie kann natürlich nicht als bloß passives Opfer einer Entwicklung gesehen werden, die ja auch von der Furcht vor einem von den Sozialdemokraten selbst mit genährten Bolschewismus-Gespenst bestimmt war. Und erst recht war die Verantwortung des deutschnationalen Lagers eine andere – eines Lagers, dessen Vertreter ab 1933 fast vollständig in die NSDAP übergetreten waren  ; eines Lagers, das sich schließlich – mit Ausnahme einiger weniger – voll mit dem rassistischen, antisemitischen, gegen jedes Verständnis von universellen Menschenrechten agierenden Regime identifizierte  ; mit einem Deutschland, dessen Ziel die Beseitigung eines unabhängigen Österreich war. Ian Kershaw widmet in seiner düsteren Zusammenfassung über das schreckliche Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Österreichs Demokratie eine differenzierte Aufmerksamkeit. Kershaws generelles Urteil geht von dem Widerspruch aus, dass einerseits Österreichs Demokratie von 1918 bis 1933 intakt blieb – angesichts der Entwicklung in den meisten der anderen Nachfolgestaaten (Italien, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Polen) keine Selbstverständlichkeit (Kershaw 2015, 184). Der Abstieg Österreichs in die Diktatur begann später als in den meisten anderen Staaten des Raumes. Kershaw diagnostiziert aber andererseits auch die von Anfang an gegebene Fragmentierung der Gesellschaft als ein Dilemma, das die Republik letztlich nicht zu überwinden verstand  : die tiefen Risse, die zwischen den drei Lagern bestanden und eine Verankerung der Demokratie verhinderten (Kershaw 2015, 131). Eine Politische Kultur der Teilung der Macht wäre an sich in Österreich, wäre in der Republik sehr wohl angelegt gewesen  : Die Verfassung der österreichischen Bundesländer (mit Ausnahme Vorarlbergs) sah vor, dass die im Landtag vertretenen Parteien ihrer parlamentarischen Stärke entsprechend auch in der Landesregierung vertreten sein mussten. Dieses System der Konzentrati20

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onsregierung konnte sich auf das Vorbild der Schweiz berufen, wo im Gefolge des Bürgerkriegs des Jahres 1847 (des »Sonderbundskrieges«) sich schrittweise durch eine faktische, nicht rechtlich vorgeschriebene Verregelung ein politisches System etablierte, das allen größeren Parteien Anteil an der Regierungsmacht einräumt (Fallend 1997, 238–244). Österreich war 1920, nach dem Zerbrechen der Großen Koalition, auf der Ebene des Bundes einen anderen Weg gegangen. Einen letzten Versuch, eine auf Machtteilung aufbauende Konkordanz- und Konsensdemokratie zu etablieren, machte Ignaz Seipel im Sommer 1931. Seipel war persönlich an Otto Bauer herangetreten, bestimmt von der strategischen Überlegung, eine Einbindung Bauers – der in seiner Partei, der Sozialdemokratie, dem linken Flügel zugerechnet wurde – wäre die beste Voraussetzung für eine Konzentrationsregierung, die unter christlichsozialer, also Seipels Führung stehen sollte. Die Verhandlungen zwischen den beiden großen Parteien zerschlugen sich, bevor sie noch wirklich begonnen hatten – in der Sozialdemokratie setzte sich die Meinung durch, das Koalitionsangebot Seipels würde die Sozialdemokratie mit einer Verantwortung für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik belasten, die angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem auf Kosten der Arbeiterschaft gehen müsste (Goldinger, Binder 1992, 183–185). Wie immer man diese Befürchtungen der Sozialdemokratie sehen mag – sie würde durch eine Beteiligung einer Politik der sozialen Verschlechterung gegenüber ihrer Kernklientel unglaubwürdig werden  : Angesichts der späteren Entwicklungen war die Ablehnung von Seipels Angebot letztlich die Zurückweisung einer wohl letzten Chance zur Rettung der Republik. Selbst Otto Leichter, der die sozialdemokratische Parteilinie vertritt, konzediert im Rückblick  : »Mag sein, dass der Verlauf der österreichischen Konterrevolution anders gewesen wäre, wenn damals Otto Bauer Seipels Kanzlerkollege geworden wäre. Die kleinen Geister, die sich als Vollstrecker des Faschismus in Österreich vorgedrängt haben, hätten gewiss nicht das Märchen verbreiten können, mit den österreichischen Sozialdemokraten könne man nicht verhandeln und zusammenwirken, solange Otto Bauer ihr Führer sei. Sie hätten auch schwerlich den Übergang der christlichsozialen Partei in ihrer Gesamtheit in die faschistische Front durchsetzen können, wenn die Partei noch 1931 eine Konzentrationsregierung mit den Sozialdemokraten gebildet hätte« (Leichter 1964, 129 f.). Die Sozialdemokratie hatte in dieser entscheidenden Situation sich für Passivität entschieden. Damit hatte sie die – vielleicht, wahrscheinlich – letzte Gelegenheit ungenützt verstreichen lassen, die bereits voll in Gang befindliche Entwicklung nicht einfach erleiden zu müssen, sondern aktiv korrigieren zu können (Leser 1968, 449–456). Die Nationalratswahl 1930, die der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wieder die relative Mandatsmehrheit gebracht 21

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hatte, wurde von der Parteiführung als Bestätigung ihrer Politik des Abwartens gewertet – einer sich bald als wirklichkeitsfremd erweisenden Politik der Passivität, des »Attentismus«, die auf die Gewinnung einer absoluten Parlamentsmehrheit und einer dann der Partei automatisch zufallenden Rolle der bestimmenden politischen Kraft abgestellt war (Hanisch 2011, 273–277). Das Scheitern der Republik bestand im Versagen, im Unvermögen der Republikgründer, über den Tellerrand ihrer eigenen selektiven Wahrnehmung so etwas wie das Ganze zu erkennen. Die real existierende Republik war es offenbar nicht, die Marxisten und Klerikale und Deutschnationale einte. Die Lager und ihre Parteien sahen immer stärker die jeweils andere Seite als das Übel, das es zu überwinden galt, weil es der Verwirklichung des eigenen Zieles entgegenstand. Die Republik war nichts, was verband. Die Republik war bloß der Kampfplatz, auf dem man sich bekriegte, um über die Republik hinweg in eine hellere Zukunft schreiten zu können  ; einer Zukunft, die explizit die jeweils anderen ausschloss  : den »gottlosen« Marxismus – und die Juden und die von diesen beherrschte »dekadente« Kultur  ; oder die Parteien des Klassenfeindes der Bourgeoisie, deren selbst gewählte Aufgabe die Niederhaltung der Arbeiterklasse war. Diese Phantasien, getrieben von »Weltanschauungen«, von »Ideologien«, wiesen durchwegs über die Republik hinaus, weil sie den jeweils anderen, deren gegenläufigen Interessen und gegnerischen Parteien keinen Platz ließen. Daran ging letztlich die Republik zugrunde. Die Frage nach der Verantwortung für das Scheitern bewegte und bewegt die Politik der Zweiten Republik. Zwei Narrative stehen einander diametral gegenüber  : die mit dem Namen Charles Gulick verbundene Interpretation des Scheiterns, eine Deutung, die sich auf die Unversöhnlichkeit der Rechten bezieht und im Antirepublikanismus und in der antidemokratischen Grundhaltung des katholisch-konservativen Lagers die eigentliche Ursache für den Untergang von Republik und Demokratie und schließlich von Österreich sieht. Die Täter- und die Opferrollen sind hier klar verteilt  : Die Sozialdemokratie wurde, weil sie an ihrer demokratischen Grundhaltung festhielt, vom Bürgerblock und den Christlichsozialen bewusst und gewaltsam ausgeschaltet (Gulick 1948). Die Gegeninterpretation, die etwa Gordon Sheperd vertritt, sieht den politischen Katholizismus, die Christlichsozialen und insbesondere auch Engelbert Dollfuß als tragisch Getriebene in einem von außen geschriebenen Drehbuch  : Um Österreich vor dem in Deutschland ab 1933 herrschenden expansiven Nationalsozialismus zu retten, sahen sich Dollfuß und die anderen österreichischen Patrioten in ihrem Widerstand gegen die deutsche Aggression von den Sozialdemokraten alleingelassen (Sheperd 1961). Das »dritte Lager«, in der Republik politisch organisiert in der Großdeutschen Volkspartei und im Landbund, war 1938 aus den Trümmern von Repu22

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blik und »Ständestaat« als Sieger hervorgegangen. Dieses Lager, das heißt die meisten Repräsentanten der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes, hatte in den 1930er Jahren begonnen, sich mit einem System zu identifizieren, das in den Jahren vor 1945 und danach der Welt als das Böse schlechthin erschien  : verantwortlich für einen Angriffskrieg, der mit innerer Logik zum Weltkrieg führte  ; und verantwortlich für die versuchte und weitgehend gelungene Ausmordung des europäischen Judentums – ein erstmaliges Verbrechen gegen die Menschheit (Bauer 2001, 20). Dieses Lager wurde mit dem Nationalsozialismus identifiziert, der noch grandioser, noch schrecklicher als die Republik und der »Ständestaat« gescheitert war. Und deshalb war das deutschnationale Lager 1945 bei der Wiedergründung der Republik und in der folgenden Periode politisch abwesend. Erst ab 1949 – in Form des Verbandes der Unabhängigen, aus dem 1956 die Freiheitliche Partei Österreichs entstehen sollte – fand dieses, fand das deutschnationale Lager wieder einen Platz in der Republik  ; und war offenkundig bestrebt, den Konflikt um Deutungshoheit und »Schuldfrage« den beiden anderen Lagern zu überlassen – zu offenkundig war es, dass für den österreichischen Deutschnationalismus nicht die Verteidigung der NS-Politik, sondern nur die Flucht aus der Verantwortung als sinnvolle Option erscheinen konnte. Die Zweite Republik schaffte es, unter dem maßgeblichen Einfluss und dem erheblichen Druck der siegreichen Alliierten, eine politische Kultur zu entwickeln, in der zwischen den Bürgerkriegsgegnern des Februar 1934 eine systematische Teilung der Macht etabliert werden konnte. Der dem parlamentarischen System der Westminster-Demokratie entsprechende Grundsatz »The Winner Takes All« wurde faktisch aufgehoben durch eine Praxis, in der die Frage nach dem Wahlsieger erheblich relativiert war. Das gab der Zweiten Republik Stabilität – und zeigt auch, dass das Scheitern der Ersten Republik nicht die Folge der politischen Ordnung der Republik an sich war, sondern die Konsequenz des Umgangs mit dieser Ordnung  ; eben die Folge der politischen Kultur. Die Zweite Republik konnte die Bürgerkriegsmentalität und damit die politische Kultur der Ersten überwinden. Die Zweite Republik hatte aus dem Versagen der Ersten gelernt. Was blieb, das waren die intellektuellen Nachhutgefechte, die sich der Frage nach der »Schuld« widmeten.

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ieter Judson diagnostiziert für das Ende der Habsburger-Monarchie das Vorhandensein mehrerer politischer Kulturen – und damit das Fehlen einer einzigen, dominanten Politischen Kultur ( Judson 2016, 370–376). Das alte Österreich, die österreichische Reichshälfte der Doppelmonarchie, war durch eine doppelte politische Brechung, eine mehrfache Fragmentierung gekennzeichnet  : Zum Neben- und Gegeneinander der sich zunehmend auseinander entwickelnden Nationalitäten und ihren spezifischen Subkulturen, ausgedrückt in national (und damit nicht österreichisch) definierten Organisationsformen, etwa der Turnerbünde und Gesangsvereine, aber auch national (und eben nicht österreichisch) etikettierten Parteien, gab es auch eine Fragmentierung in politische Lager, die – ansatzweise – österreichisch waren  : Die Sozialdemokratie war ihrem internationalen Verständnis entsprechend quer zu den nationalen Identitäten organisiert, und auch der Politische Katholizismus war zumindest von seinem Anspruch her transnational. Dass diese zu den nationalen Brüchen quer liegenden Fragmentierungen, die ja potentiell auch eine Zukunftschance für das alte Österreich und dessen mögliche Weiterentwicklung in Richtung eines Bundesstaates darstellten, in dieser ihrer gesamtösterreichischen Funktion letztlich nicht erfolgreich waren – am deutlichsten sichtbar im Gegensatz zwischen tschechischer und (deutsch-)österreichischer Sozialdemokratie und dem Auseinanderbrechen der Gesamtpartei (Mommsen 1963  ; Konrad 1976) –, war Teil des Scheiterns des alten Österreich  : Symptom und Mitursache des Zerfalls. Das neue, das republikanische Österreich hatte, obwohl es nun nicht mehr als »Vielvölkerstaat« definiert wurde, die Fragmentierungen und Brüche des alten Österreich übernommen  : Das deutschnationale Lager, verwurzelt in den Nationalitätenkonflikten der Monarchie, musste nun nicht mehr den Status des Deutschtums gegen tschechische oder italienische oder polnische Ansprüche verteidigen – umso bestimmender wurde die ja (zunächst zumindest bis 1933 auch von den anderen Lagern geteilte) Orientierung am Anschluss an das Deutsche Reich, eine Orientierung um fast jeden Preis, die letztlich zum März 1938 führte  : zur Okkupation und Annexion Österreichs, für die der vereinfachende Begriff »Anschluss« verwendet wurde (Botz 1976). Die Subkulturen der anderen Lager – der Sozialdemokratie und des politischen Katholizismus – lebten aber in der Republik in der Form weiter, die sie bereits vor 1914 entwickelt hatten. In der Monarchie hatten sich die Lager zu einer subsidiären Form gesellschaftlicher Ordnung und auch politischer Macht entwickelt, die 25

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nun an die Stelle der zusammengebrochenen Ordnung des Kaiserreiches und einer nur dem Kaiser und nicht dem Reichsrat verantwortlichen Regierung traten. Diese Lager repräsentierten keine Politische Kultur, sondern politische Kulturen, die am Beginn der Republik in der Lage waren, sich zu verständigen – zu einer Allianz der Notwendigkeit. Aus dieser Allianz entwickelte sich aber keine politische Kultur der Gemeinsamkeit. Die Politische Kultur der Republik – dieses Neben- und Gegeneinander verschiedener politischer Kulturen – war in einem großen Reich entstanden. Die Politische Kultur der Republik war die Summe politischer Subkulturen, die sich in den letzten Jahrzehnten des alten Reiches zu kristallisieren begonnen hatten. Dieses Reich und damit der Bezug zu ihm waren zwar 1918 abhanden gekommen. Doch die im Reich der Habsburger verwurzelten politischen Kulturen existierten auch nach dem Ende ihres Bezugssystems in der kleinen Republik weiter  ; sie fanden nicht zu einer neuen, die Republik und ihre Rahmenbedingungen reflektierenden gemeinsamen, republikanisch-demokratischen Politischen Kultur. Die Lager als Träger der politischen Fragmentierungen brachten eine Summe nebeneinander existierender politischer Kulturen mit in die Republik, Kulturen, die dazu beitrugen, dass die Entwicklung einer einzigen, der Politischen Kultur der Republik nicht gelang. Die Republik war bestimmt von einer Kultur der Fragmentierung, der gesellschaftlichen Risse, der politischen Unversöhnlichkeit. Die Summe der politischen Kulturen der sich eben nicht nur als politische Parteien, sondern als »Weltanschauungsgemeinschaften« verstehenden Lager – dieses Neben- und Gegeneinander von Politischem Katholizismus, Austromarxismus und Deutschnationalismus, die war ganz einfach zu groß für die kleine Republik. Begriff und Konzept der Lager geht auf Adam Wandruszka zurück (Wan­ druszka 1954). Dieser unterstreicht die gemeinsamen Wurzeln der Dreiteilung der Lager in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Monarchie. Wandruszka spricht von einem »christlich-konservativen«, einem »nationalen« und einem »sozialistischen« Lager, wobei er manche Formen des Überganges diagnostizierte – etwa die »Heimwehrbewegung« zwischen dem »christlich-konservativen« und dem »nationalen« Lager. Allen Lagern konzediert Wandruszka ein gemeinsames liberales und demokratisches Erbe, dessen Zurückdrängung zum Ende der Republik entscheidend beitrug. Dadurch »ging die gemeinsame Sprache und damit die Verständigungsmöglichkeit verloren und die Folge davon konnte nur der erst latente, dann der akute Bürgerkrieg, der erbitterte Kampf jedes der drei Lager gegen die beiden anderen und damit schließlich die Katastrophe sein« (Wandruszka 1954, 480 f.). Die Plattform, die verloren ging, das waren die Republik und ihre demokratische Verfassung, die ja zunächst von den drei Lagern gemeinsam getragen 26

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worden waren. Aber es war eben ein Konsens ohne kulturelle Tiefenwirkung, ohne Nachhaltigkeit. Die in Lagern formierten politischen Kulturen hatten nicht zu einer, zu der Politischen Kultur der Republik gefunden. Carl Schorske schreibt von einem »Key«, einem Schlüssel zum Verständnis der Politischen Kultur des alten Österreich im Fin-de-siècle. Schorske konzentriert sich auf ein »Trio«, auf drei Personen, die eine neue Qualität in die Gesellschaft und Politik des alten Österreich gebracht hatten  : Georg Schönerer, Karl Lueger, Theodor Herzl (Schorske 1980, 116–180)  : Der Erste hatte es verstanden, aus seinem deutschen Nationalismus eine Bewegung und eine Partei zu machen, die den Anschluss an das 1871 geschaffene Deutsche Reich und damit die Zerstörung von Habsburg-Österreich anstrebte und darüber hinaus einen postkonfessionellen, einen »rassischen« Antisemitismus vertrat. Der Zweite hatte Habsburg-Österreich zu demokratisieren, zu retten versucht, war dabei aber immer vom für ihn selbstverständlichen »deutschen« Charakter Wiens ausgegangen und zum Prototyp eines vorhandene Vorurteile (insbesondere des Antisemitismus) instrumentalisierenden Populisten geworden. Und der Dritte beantwortete von Wien aus die mehr oder weniger unverhohlen antisemitischen Nationalismen seiner Zeit – den deutschen, den magyarischen wie auch die anderen – mit der Propagierung eines jüdischen Nationalismus. Dieses Trio stand am Ende der Monarchie. Lueger und Herzl starben noch vor Kriegsausbruch, aber beide lebten in ihren Bewegungen und Parteien weiter  : Lueger als mythisch überhöhte Integrationsfigur des Politischen Katholizismus und damit der Christlichsozialen Partei  ; und Herzl als Schlüsselfigur des Zionismus, der die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina und die Gründung des Staates Israel schlussendlich erfolgreich betrieb. Luegers Partei wurde zur hegemonialen Partei der Republik, auch verantwortlich für das Ende der Republik und den Aufbau des autoritären Regimes der Jahre 1933 bis 1938. Herzls Zionismus beeinflusste 1919 die Kandidatur einer Jüdischnationalen Partei für die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung, die einen Abgeordneten stellte – Robert Stricker, dem bei der Wahl 1920 nicht mehr der Einzug in den Nationalrat gelang. Doch wirksam, ja entscheidend für Österreich war das Erbe Georg Schönerers – die durch keine wissenschaftliche Argumentation gestützte Überzeugung, es gebe eine »jüdische Rasse«  ; und die bedingungslose Orientierung am Anschluss an das Deutsche Reich. Das alles machte den 1921 verstorbenen Schönerer zu dem Politiker, der unter den drei Personen des »Trios« wohl am stärksten das Schicksal der Republik bestimmte – in Richtung auf deren Untergang. Das Österreich, das es bis 1918 gab, war ein multi-, ein transnationales Experiment. Als sich im Europa des 19. Jahrhunderts – am Beispiel der Einigung Italiens und der Einigung Deutschlands – das Grundprinzip ethnisch-natio27

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naler Eindeutigkeit durchzusetzen schien, war das alte Österreich die Antithese zu diesem Nationalismus, diesem primär, ja ausschließlich nationalen Konzept von Demokratie und Staatlichkeit  : Österreich war vieldeutig, vielschichtig. Es baute auf einem nicht nur, nicht primär nationalen Verständnis politischer Ordnung. Aus dem Blickwinkel des 19. Jahrhunderts war dieses Österreich nicht mehr zeitgemäß. Dass es aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts vielleicht zeitgemäßer werden sollte als das von Souveränitäts- und Exklusivitätsphantasien bestimmte Selbstverständnis der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts – das kann aus dem literarischen Werk Joseph Roths herausgelesen werden. Aber Joseph Roth stand nicht für den Zeitgeist der Periode Europas, in die das Österreich der Republik 1918 hineingeworfen wurde. Was immer auch das alte Österreich war – es war jedenfalls kein National­ staat. Die Sprache der Theater in Prag war Tschechisch oder Deutsch  ; in Lemberg konkurrierten und koexistierten Polnisch und Deutsch als Bildungssprachen der Aufstiegsorientierten, Jiddisch und Ukrainisch waren die Sprachen der nicht assimilierten Schichten des vor allem ländlichen Umfelds  ; in Innsbruck, der Hauptstadt des mehrsprachigen Kronlandes Tirol, blockierten deutschnationale Studenten erfolgreich die bereits beschlossene Einrichtung einer italienischsprachigen Rechtsfakultät, die den Österreichern italienischer Muttersprache des Raumes Trient und der Gegend um Triest die Möglichkeit geben sollte, nicht zum Studium in das Königreich Italien, etwa nach Padua oder Bologna ausweichen zu müssen. Und im Abgeordnetenhaus des Reichsrates bekämpften sich – manchmal bis zur Handgreiflichkeit – die Repräsentanten der verschiedenen Nationalismen. In diesem Österreich, das alt war (wie die Dynastie der Habsburger), aber eben auch neu – durch die 1867 eingeführte Verfassungsordnung, durch das indirekte Bekenntnis zu einer multikulturellen, im Begriff der »Nationalitäten« ausgedrückten Struktur  : In diesem Österreich schien sich in der Politik alles um die Kultur und in der Kultur alles um die Politik zu drehen. Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi führte vor, wie katholischer und deutschnationaler Antisemitismus sich verbündeten, um den Fortschritt der Wissenschaft zu blockieren  ; Hans Makart und – nach ihm – Gustav Klimt sangen in Form ihrer Kunst, ihrer Bilder das hohe Lied der kulturellen Verschmelzung von Aristokratie und Bürgertum und sorgten so für die atmosphärische Stärkung der Monarchie, die wiederum von Egon Schiele, dem jungen Wilden, provoziert wurde  ; Alfons Petzold gab der Arbeiterbewegung eine literarische Stimme, und im Rosenkavalier verbanden sich die Genies von Richard Strauss und Hugo Hofmannsthal zu einem kulturellen Höhepunkt einer Staats- und Gesellschaftsform, die mit Maria Theresia assoziiert werden und, als Kunstwerk der Musik und der Literatur, an Mozart erinnern sollte – ein Höhepunkt 28

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der Hochkultur der Epoche, aber auch wohl als ein wunderschöner, wohlklingender Zauber zu interpretieren, der den sich bereits ausbreitenden Modergeruch zudecken sollte. Die Sprachenreform des austro-polnischen Ministerpräsidenten Kasimir Badeni war bereits gescheitert – und damit die Chance, das Versprechen eines multinationalen Österreichs in die Wirklichkeit umzusetzen (Watson 2011, 18–21). Die Nationalismen zersetzten den durch das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht zunächst gestärkten Parlamentarismus und führten dazu, dass in der österreichischen »Reichshälfte« der Kaiser (durch den nur ihm verantwortlichen Ministerpräsidenten) über Jahre hinweg ohne Parlament autoritär regierte  ; und der »Ausgleich« mit Ungarn hatte dazu geführt, dass die ungarische »Reichshälfte« ein strukturell verankertes Interesse daran hatte, jede Form der Umwandlung der gesamten Monarchie in eine demokratische Föderation – unter der Ägide eines konstitutionell agierenden Kaisers und Königs – zu verhindern. Die Magyaren hatten Grund zur Annahme, dass jede Föderalisierung Österreich-Ungarns ihre relativ privilegierte Position gefährden würde – gegenüber den Rumänen und Slowaken, den Kroaten und Serben, die unter der magyarischen Dominanz im Königreich Ungarn zu leben hatten und Objekt einer systematischen Magyarisierungspolitik waren (Kann 1974, 406–467). Auch gegen Ende des Ersten Weltkrieges, als die Friedensverhandlungen mit dem postzaristischen, dem kommunistischen Russland nochmals die Chance für eine die Stabilität des Vielvölkerstaates sichernde Reform zu bieten schienen, verhedderte sich die Politik des Reiches in den nationalen Gegensätzen  : Österreich-Ungarn versuchte aus geopolitischen Erwägungen den Ansprüchen der Ukraine entgegenzukommen, die auch als »Schutzstaat« der ruthenischen, das heißt der ukrainischen Nationalität in Österreich wahrgenommen wurde, ein Entgegenkommen, das den Interessen der polnischen Nationalität, die das österreichische Galizien politisch dominierte, massiv widersprach. Am Ende konnte Österreich-Ungarn im Umfeld der Verhandlungen von Brest-Litowsk die Ukraine nicht dazu bringen, verstärkt Lebensmittel zur Verbesserung der katastrophalen Ernährungslage in Österreich-Ungarn zu liefern  ; aber die Loyalität der polnischen Nationalität war sowohl im Westen (Krakau) als auch im Osten Galiziens (Lemberg) entscheidend geschwächt. Österreich-Ungarn hatte es niemandem recht machen können (Watson 2011, 501–504). Was für ein Bild tragischen Scheiterns  ! Österreich, die eine der beiden »Reichshälften«, hatte seine offiziell anerkannten Nationalitäten. Unter diesen war allerdings keine, die sich österreichisch nannte. Theoretisch sollten alle diese Nationalitäten – deutsch und tschechisch, polnisch und italienisch, ruthenisch (ukrainisch) und slowenisch 29

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und rumänisch – »österreichisch« sein. Österreich, das war die – gedachte – Klammer, die alle diese entsprechend ihrer Sprache definierten Nationalitäten verbinden sollte. Österreich war übernational, sollte zumindest übernational sein. Anders Ungarn  : Das »transleithanische« Königreich verstand sich als Nationalstaat, in dem die Magyaren die Staatsnation bildeten und die anderen Nationalitäten nur ein von den Magyaren definiertes Recht darauf hatten, toleriert zu werden. Der Nationalitäten- und Sprachenkonflikt lähmte Österreich. In Ungarn wurde dieser Konflikt von der Magyarisierungspolitik der Regierung in Budapest überlagert, unterdrückt, bis er 1918 voll ausbrechen konnte (Kann 1974, 452–461  ; Watson 2014, 15–18). Dass es im alten Österreich keine österreichische Nationalität gab, war eine Folge des Verständnisses von Nationalität als einer »Kulturgemeinschaft«, die wiederum als Sprachgemeinschaft definiert war. Dass in diesem Österreich das Österreichische transnational definiert war, sollte 1918 entscheidende Konsequenzen haben  : Die (anderen) Nachfolgestaaten etablierten sich als Nationalstaaten, auf der Grundlage des altösterreichischen Verständnisses von Nationalität. Dem kleinen, dem neuen, dem republikanischen Österreich blieb nichts anderes übrig, als sich »deutsch« zu definieren. Die dem von den Siegermächten propagierten »Selbstbestimmungsrecht der Völker« immanente Konsequenz dieser deutschen Identität, die Zugehörigkeit zu einem, zu dem deutschen Nationalstaat, wurde diesem Restösterreich allerdings verwehrt. Die Ambivalenz des alten Österreich fand in der Politik Karl Luegers seinen sichtbarsten Ausdruck. Lueger (und seine Christlichsoziale Partei) waren dezidiert pro-habsburgisch, in diesem Sinn eindeutig pro-österreichisch. Sie standen ausdrücklich gegen die Bismarck-, Hohenzollern- und Berlin-Orientierung der Deutschnationalen. Doch Lueger war auch das Sprachrohr eines vulgären Antisemitismus, den er und die Christlichsozialen nicht erfunden hatten, sehr wohl aber politisch instrumentierten (Pulzer 1988  ; Hödl 2006, 63–66). Und er nutzte ebenso auch die Vorurteile, die von der Binnenmigration ausgelöst wurden – Vorurteile, die den Zuwanderern vor allem aus den slawisch geprägten Kronländern nach Wien entgegenschlugen. Lueger verband einen Alltags-Antisemitismus mit einem Alltags-Antislawismus (und Anti-Magyarismus). Vom deutschnationalen Lager, dessen Exponenten sich zu Luegers Zeit vor allem in der Alldeutschen Partei Schönerers versammelt hatten, trennte ihn die Orientierung der Deutschnationalen an einem aus Luegers Sicht vor allem protestantisch geprägten Deutschland. Mit den antijüdischen und antislawischen Vorurteilen der Alldeutschen hatte er keine oder wenig Probleme. Die Idee eines »Anschlusses« an Deutschland aber lehnte er entschieden ab. Lueger personifizierte das Bekenntnis zu einem übernationalen Österreich – und gleichzeitig auch die opportunistische Verwässerung 30

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der Kernidee dieses Österreich, das über den Nationalitäten schweben sollte (Boyer 2010). Friedrich Funder, der als Chefredakteur der »Reichspost« zum inneren Führungszirkel der Christlichsozialen Partei vor 1914 wie auch nach 1918 gehörte, erinnert in seinen Memoiren daran, wie sehr der Alltagsantisemitismus keineswegs »nur« ein religiös motivierter war  ; wie auch innerhalb des katholischen Aktivsegments jüdische Identität als quasi angeboren verstanden wurde, von der sich freizumachen die Taufe nicht immer ausreichte (Funder 1952, 298– 300). Der Antisemitismus der Christlichsozialen begründete eine Gemeinsamkeit zwischen dem deutschnationalen und dem katholisch-konservativen Lager  ; eine Gemeinsamkeit, die in den 1930er Jahren die Glaubwürdigkeit und Konsistenz der katholisch-konservativen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wesentlich beeinträchtigen sollte (Pauley 1992, 150–203). Österreich und speziell Wien waren um 1900, wie von William Johnston und Carl Schorske beschrieben, ein Laboratorium der Moderne ( Johnston 1972  ; Schorske 1980). Gustav Mahler setzte als Komponist und Direktor der Hofoper einen grandiosen Schlusspunkt unter die Romantik. Otto Wagner und Adolf Loos bildeten die Brückenpfeiler der Verbindung zwischen der Architektur eines historisierenden Eklektizismus und eines den Bauhaus-Stil vorwegnehmenden Funktionalismus. Sigmund Freud zeigte auf, dass ein im engeren Sinn bloß naturwissenschaftliches Verständnis menschlicher Psyche allzu viele Fragen nicht zu beantworten vermag. Und die »österreichische Schule der Nationalökonomie« prägte die Wirtschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts. Österreich und speziell Wien waren am Vorabend des Weltkrieges Zentren einer dynamischen Entwicklung von Gesellschaft, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft. Doch dieser Entwicklung fehlte der entsprechende politische Rahmen. Die Stabilisierung der österreichischen Entwicklungsdynamik scheiterte an der Politik, die sich heillos in Nationalitätenkämpfen festgefahren hatte – und die eben deshalb versucht war, einen Anlass zu nutzen, mit einem Krieg den gordischen Knoten der Reformunfähigkeit zu zerschlagen (Rauchen­ steiner 2013, 121–202). Diese Generalprobe der Moderne wurde 1914 zu einer Generalprobe des Weltuntergangs. Österreichs Ambivalenz trug nicht nur zum Absturz der eigenen Ordnung bei, sie riss auch den Kontinent in einen Abgrund, in eine Katastrophe, die an ihrem Ende schon mit der nächsten, noch größeren schwanger war. Das 1918 aus einer Art Verlegenheit gegründete »neue« Österreich, dieser Staat, den keiner wollte, hatte vom alten Österreich beides geerbt – die Fähigkeit, sich als kulturelle Großmacht darzustellen, wie auch die Fähigkeit, alle gebotenen Chancen auf eine bessere oder zumindest stabile Zukunft ungenützt vorbei streichen zu lassen. Der Gegner Österreichs war zuallererst Öster31

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reich selbst  : Es war die Kriegstreiberei österreichischer Politik des Jahres 1914, die dieses alte Österreich zerstören sollte  ; und es war die Lust am eigenen Untergang, der 1938 viele, so viele, allzu viele Österreicherinnen und Österreicher dem österreichischen Zerstörer Österreichs zujubeln ließ. Kultur und Politik waren, sie sind miteinander verflochten. Versuche wie die von Stefan Zweig und Thomas Mann, sich in bestimmten Phasen ihres Lebens als »Künstler« und daher »unpolitisch« aus der Politik wegzustehlen, waren eine Flucht aus der Verantwortung und vor der Einsicht in die Unvermeidlichkeit politischer Instrumentalisierung und damit Politisierung von Kultur. Kultur ist politisch – und es hätte nicht der Brutalisierung von Kunst und Kultur durch die beiden Totalitarismen des schrecklichen 20. Jahrhunderts bedurft, um dies zu erkennen (Geyer, Fitzpatrick 2009). Politik bedient sich der Kunst  ; in negativer Form, etwa durch das Verbot der Aufführung von Arthur Schnitzlers Reigen  ; oder in positiver Form wie durch die staatliche, das heißt politische Finanzierung kultureller Großereignisse in Hof- bzw. Staatsoper und Burgtheater – und, in der Republik, der Salzburger Festspiele. Kultur gibt es aber, mehr oder weniger unabhängig von dieser »Hochkultur«, auch als Politische Kultur – als ein System von Bewusstseins- und Verhaltensmustern, die Politik bestimmen  ; gleichgültig, ob diese Muster ausdrücklich normiert sind oder nicht. Politische Kultur existiert – unabhängig davon, ob sie als »gut« oder »schlecht« bewertet wird. Und  : Eine Gesellschaft, ein Staat kann auch nicht frei von jeder politischen Kultur sein – die Frage ist daher nicht, ob die Republik Österreich eine Politische Kultur hatte, sondern welche. Politische Kultur ist als Ensemble von Bewusstsein und Verhalten zu verstehen, das in einer Gesellschaft die Politik prägt (Sabetti 2007). In einem demokratischen politischen System ist Politische Kultur ein unverzichtbarer, ein entscheidender Bestandteil der politischen Legitimation  : Die Regierenden müssen der jeweils herrschenden Politischen Kultur Rechnung tragen, sie können diese nicht einfach ignorieren. In der Zwischenkriegszeit, zwischen 1918 und 1938, bestand die herrschende Politische Kultur Österreichs nur aus dem Neben- und mehr noch Gegeneinander der politischen Kulturen der Lager. Diese waren auf eine der inneren Mobilisierung ausgerichtet, gegen einen als Feind konzipierten Anderen  : Der Feind war der innenpolitische Gegner. Und Gegner wurden nicht – weder konzeptionell noch real – in die utopisch fingierten Machtstrukturen einer vom Sieg des eigenen Lagers bestimmten Zukunft kooptiert, sie wurden ausgeschlossen. Der Grundkonsens zwischen diesen Subkulturen war extrem schwach, Kompromisse waren kaum möglich. Die fast logische Konsequenz waren Bürgerkriege, war das Ende der Demokratie – und die Entwicklung hin zum »Finis Austriae« des Jahres 1938. 32

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Dieses Österreich der (Ersten) Republik sollte später als eines der Modelle für eine von Brüchen bestimmte Gesellschaft werden, deren in der der Verfassung formulierte Strukturen nicht ausreichten, um die in Richtung Bürgerkrieg weisenden Energien der verfeindeten Lager zusammenzuhalten. Das Österreich der Ersten Republik gilt als Beispiel für eine »zentrifugale Demokratie«, in der aus dem Mangel an Konsens die politischen Eliten auf den Bürgerkrieg zutreiben (Lijphart 1977, 114–119). Eine politische Kultur der Machtteilung, des einvernehmlich festgelegten und strukturell verankerten Kompromisses, zeichnete sich ansatzweise zwischen 1918 und 1920 ab – in Form einer Großen Koalition, die einen Verfassungskonsens ermöglichte. Aber bald schon wurde diese in Richtung Konkordanzdemokratie weisende Kompromissbereitschaft von einem Konfliktdenken abgelöst, das politische Lösungen nur als Sieg der einen und Niederlage der anderen Position zu verstehen in der Lage war. Die Politische Kultur der (Ersten) Republik, immer mehr zersplittert in einander feindselig gegenüberstehende Subkulturen, entwickelte sich in Richtung einer fundamentalistischen Konfliktkultur, die auf ein Alles-oder-Nichts hinauslaufen sollte. Eine tief fragmentierte Gesellschaft kann nicht eine zentripetale, an der politischen Mitte orientierte Demokratie hervorbringen – jedenfalls nicht unter den Bedingungen eines grundsätzlich uneingeschränkten Wettbewerbs der Parteien. Eine solche Gesellschaft tendiert dazu, eine zentrifugale Dynamik zu entwickeln, weil eine politische Mitte, ein für die wichtigsten Interessen, Parteien und Bewegungen gemeinsamer Nenner nicht oder kaum existiert. Es liegt daher nicht im Eigeninteresse von Parteien, die miteinander im Wettstreit um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler stehen, sich von den äußeren Rändern des politischen Spektrums in Richtung der politischen Mitte zu bewegen – vielmehr werden sie diese Mitte meiden, weil es dort nichts zu gewinnen gibt. Die Umwandlung einer so zentrifugal angelegten Demokratie kann nicht einfach durch ein von oben verordnetes Zuschütten der Gräben zwischen den Subgesellschaften herbeiführt werden, zwischen den – in Österreich bestehenden – politisch-weltanschaulichen Lagern. Eine solche politisch-kulturelle Transformation würde sich auch weitgehend den Möglichkeiten von Parteien entziehen – eine solche Transformation kann nur das Ergebnis langer, auch über Generationen hinweg wirkender Erfahrungs- und Lernprozesse sein. Aber auch wenn die politischen Eliten, also die Führungen der Parteien nicht einfach die Fragmentierungen aufzuheben vermögen – sie können durch eine Politik der Kompromisse einander an der politischen Macht beteiligen und so das »Alles-oder-Nichts« durch ein »Sowohl-als-auch« ersetzen. Dazu aber, zur Überwindung der in den Lagermentalitäten angelegten zentrifugalen Tenden33

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zen und einer Politischen Kultur des Freund-Feind-Denkens waren die politischen Eliten der Republik erst 1945 und in den Jahren danach in der Lage. Arend Lijphart hat in seinen Arbeiten zur Konsens- und Konkordanzdemokratie diesen prinzipiellen Unterschieden in der politischen Kultur eine theoretische Grundlage geliefert – und zwar durchaus auch mit Bezügen zu Österreich im 20. Jahrhundert. In einem durch die »Lagermentalität« tief fragmentierten Land wäre es notwendig gewesen, um den in der Zerklüftung potentiell schon angelegten Bürgerkrieg zu vermeiden, dass die politischen Eliten sich auf die Teilung der Macht verständigen. Das, was dann in der Zweiten Republik Gerhard Lehmbruch die »Proporzdemokatie« nennen sollte – der Verzicht auf den Versuch eines fundamentalistischen Diktats des einen über das andere Lager, das konnte die Erste Republik nicht herstellen  ; oder, besser, dazu waren die Eliten der in politischen Parteien organisierten weltanschaulichen, quasi-religiösen Lager nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage (Lijphart 1977  ; Lehmbruch 1967). Politische Kultur als durch gesellschaftliche Sozialisation verfestigtes Verhaltensmuster ist mit dem Phänomen Kultur, wie es zunächst losgelöst von Politik verstanden wird, nicht direkt, sehr wohl aber indirekt verbunden. Das gilt vor allem für die Kultur, die von der »Hochkultur« getrennt als »Volks-« oder Alltagskultur zu verstehen ist. Gerade diese war im »Zwischenösterreich« der Jahre 1918 bis 1938 von der Fragmentierung der Politik bestimmt. Turnen und Sport waren »weltanschaulich« organisiert – deutschnationale Turnerbünde konkurrierten mit dem Sport, der unter der Ägide des katholischen »Reichsbundes« stattfand (Schultes 1967)  ; und von diesen waren die Aktivitäten des sozialdemokratischen Arbeitersportes separiert. Rad- und Autofahren wurde entweder »proletarisch« organisiert – oder sie waren »bürgerlich«. Den Olympischen Spielen stellte die Sozialdemokratie eine »Arbeiterolympiade« entgegen. Neben den als »bürgerlich« geltenden Hochschulen, den Universitäten, entwickelten sich »Volkshochschulen«, die vor allem als Bildungsstätten der Arbeiterbewegung gedacht waren. 1931 fand in Wien die Arbeiter-Olympiade statt. 77.000 Athletinnen und Athleten aus 27 Staaten nahmen daran teil, mehr als 200.000 Personen sahen die einzelnen Sportveranstaltungen. Die Stadt Wien hatte für diese Spiele, die als »Gegen-Olympiade« zu den »bürgerlichen« Olympischen Spielen gedacht war, ein neues Stadion errichtet, das als Prater-Stadion bis tief ins 21. Jahrhundert hinein als zentrale Stätte für sportliche Großveranstaltungen dient. Julius Deutsch hatte die Arbeiter-Olympioniken im Namen aller Sozialdemokraten begrüßt, die tapfer die »faschistische Reaktion« bekämpften und die Solidarität des »internationalen Proletariats« bräuchten (Goldblatt 2016, 137). Das war die Demonstration einer Gegenkultur, die von vornherein alle ausschloss, 34

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die sich nicht in die von einer Partei definierte und organisierte Arbeiterklasse einordnen konnten oder wollten. Die Sozialdemokratie verstand sich als Bewegung, die nicht primär auf die Integration in die herrschende »bürgerliche« Kultur, sondern auf die Schaffung einer proletarischen Gegenkultur setzte. Das Adjektiv »Arbeiter«, das Singvereinen wie Radfahrerklubs vorangestellt wurde, stand für kulturelle gesellschaftliche Brüche. Indem die Sozialdemokratie diesen Gräben einer teilweise segregierten Gesellschaft Ausdruck verlieh, vertiefte sie diese auch. Das Ziel der österreichischen Sozialdemokratie, die sich nicht als leninistisch, sehr wohl aber als marxistisch verstand, war die Überwindung der bürgerlichen Klassenherrschaft durch die Arbeiterklasse – und nicht das Aufgehen der proletarischen Subkultur in die herrschende oder auch allen Subgesellschaften gemeinsame Kultur. Diese kulturellen Brüche waren keine Schöpfung der Republik – sie hatten sich schon in der Monarchie abgezeichnet. In Wien war der »Hofoper« eine »Volksoper« entgegengestellt worden – Erstere galt nicht nur als aristokratisch, sondern auch (nicht nur, sehr wohl aber auch als Folge des Wirkens von Gustav Mahler) als »verjudet«. Die Volksoper hingegen sollte der »deutschen« Musik gewidmet sein, und das wurde zunehmend als Abgrenzung gegenüber dem Judentum verstanden. Und der deutschen Dichtkunst war in Wien das »Deutsche Volkstheater« gewidmet, als Gegenstück zu dem offenbar zu kosmopolitischen Hof-Burgtheater. Das Zitat aus Richard Wagners »Meistersingern«, das die Fassade des in der letzten Phase der Monarchie auch als Gegenstück zur Philharmonie des Musikvereins gegründete Konzerthaus ziert – »Ehret eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister« –, wurde durchaus im Sinne Wagners als Absage, ja als Kampfansage an das »Jüdische« in der Musik verstanden. Die gesellschaftlich-kulturellen Brüche waren verschiedener Art, und sie wurden unterschiedlich und einander ausschließend definiert  : Die Sozialdemokratie war von der nach ihrem Verständnis vorhandenen, nicht von ihr geschaffenen Realität des Klassengegensatzes, des Klassenkampfes bestimmt. Die beiden »bürgerlichen« Lager – das katholisch-konservative und das deutschnationale – waren in ihren spezifischen Abgrenzungen voneinander weniger eindeutig, die religiöse und die ethnische (»völkische«) Komponente ließen nicht immer eine eindeutige Trennlinie zu. So war der katholische Antisemitismus immer eine Einladung, Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Lagern zu entwickeln. Was Österreich schon vor 1914 und erst recht nach 1918 fehlte, das war eine Kultur, die als stabiler Brückenschlag zwischen den Lagern hätte dienen können. Zwar entwickelte sich rund um die internationale Erfolgsbilanz 35

Zum Begriff der Kultur

des österreichischen Fußballs der 1930er Jahre (»Wunderteam«) ein die Lager verbindender Patriotismus der Alltagskultur, die auch die Akzeptanz eines Teamchefs jüdischer Herkunft (Hugo Meisl) mit einschloss – diese Ansätze einer gesamtösterreichischen Alltagskultur kamen jedoch zu spät und waren zu schwach entwickelt, als dass sie eine politisch-kulturelle Brückenfunktion erfüllen hätten können. Aber auch in der Fußballbegeisterung blieb der Gegensatz der politisch-weltanschaulichen Fragmentierung deutlich   : Fußballvereine galten in der Öffentlichkeit als proletarisch (Rapid) oder als jüdisch-assimiliert (Austria) oder als deutschnational (Wiener Sportklub) oder als zionistisch (Hakoah) – auch wenn diese Zuordnung primär eine der Wahrnehmung war und nicht einer organisatorischen Bindung an eines der politisch-weltanschaulichen Lager entsprach (Maderthaner, Pfoser, Horak 2008). Diese Zuschreibung war freilich nicht unbedingt eine österreichische Besonderheit  : In anderen, ebenfalls fragmentierten Gesellschaften kam in der gegeneinander stattfindenden Mobilisierung der Fan-Clubs ebenfalls eine durchaus politische Parteinahme zum Ausdruck wie etwa zwischen Glasgow Rangers (protestantisch-britisch) und Celtic Glasgow (katholisch-irisch) – oder in der bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts bestehenden Trennung in »weiße« und »schwarze« Sportverbände in den USA. Sport als Teil der Kultur war und ist von der Politik einfach nicht trennbar (Markovits, Hellerman 2001). Der österreichische Fußball der 1920er und 1930er Jahre hatte etwas Verbindendes. Zwar waren die erfolgreichen Wiener Fußballklubs in der allgemeinen Wahrnehmung sozial zugeordnet, aber dies entsprach nicht einer Bindung an politisch-weltanschauliche Lager  : Rapid Wien wurde als »proletarisch«, aber nicht als Teil des sozialistischen Lagers wahrgenommen, und das jüdisch-assimilierte Bürgertum, das so wesentlich den Kreis der Anhänger der Wiener Austria bestimmte, verhinderte, dass der Verein als Teil eines der beiden Lager des »Bürgerblocks« gesehen wurde. Eindeutig zuzuordnen war nur die Mannschaft von Hakoah, als jüdisch-national, als zionistisch (Bunzl 1987). Der Fußball aber in seiner Gesamtheit überbrückte die Lagergrenzen  : Der Sport machte deutlich, was der Politik fehlte – eine Gemeinsamkeit jenseits der vertieften Feindschaften. Und die bedeutende Rolle, die Funktionäre mit partiell jüdischem Familienhintergrund im Fußball der Jahre zwischen 1918 und 1938 spielten, neben Hugo Meisl vor allem Ignaz Abeles und Josef Gerö, zeigt den Ausnahmecharakter des Fußballs als der wichtigsten Form einer Alltagskultur der Massen  : Juden und Nicht-Juden agierten neben- und miteinander. Den vor allem in der Politik der Republik so wichtigen Etikettierungen, die ein- und ausschlossen, kam im Fußball wenig Bedeutung zu (Hafer, Hafer 2008  ; Blimlinger 2008). 36

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Friedrich Torberg, dessen Fußball-Begeisterung immer auch eine Begeisterung für die Mannschaft der Wiener Austria war, versuchte sich nach dem »Anschluss« als Schöpfer eines speziellen Opfermythos  : Er interpretierte in Form eines Gedichtes den Tod des Austria-Stars und Mittelstürmers des »Wunderteams«, Mathias Sindelar, im Jahre 1939 als – zumindest indirekte – Folge der Repression der NS-Herrschaft  : »Von einem einzigen, harten Tritte fand sich der Spieler Sindelar verstoßen aus des Planes Mitte, weil das die neue Ordnung war« (Torberg 2008). Doch Sindelar war als Nicht-Jude im NS-Staat nicht unmittelbar gefährdet, und von politischen Aktionen gegen das Regime hatte er sich ferngehalten. Torberg wollte ganz einfach ein idealistisches Bild vom Wiener Fußball ins Politische transformieren. So stark war die Bedeutung des Fußballs als Teil einer die Lagergrenzen überwindenden Alltagskultur, dass politische Opferrollen konstruiert wurden, um dem Fußball eine höhere Bedeutung einzuräumen. Torberg war ein Grenzgänger. Er repräsentierte das, was Österreich auch war  : ein Stück des Österreich von gestern. Seine Verbindungen zwischen Wien und Prag standen für das Weiterleben einer kulturellen Vernetzung über die 1918 geschaffenen Staatsgrenzen hinweg. Er repräsentierte die Vielseitigkeit eines Judentums, das sich kosmopolitisch und gleichzeitig österreichisch verstand – auch als es, wie Torberg selbst, gezwungen war, in Amerika zu überleben. Und er stand für die kulturelle Buntheit dieses kosmopolitischen Judentums  : Sein Roman Der Schüler Gerber, 1930 erschienen, thematisiert die Konfrontation zwischen einer jungen Generation und den im österreichischen (und nicht nur in diesem) Schulsystem dominanten autoritären Strukturen. Torberg war nicht nur ein Fan des Wiener (und Prager) Fußballs, er betrieb auch selbst Leistungssport in den Reihen der Wasserballer der Hakoah. Dass Torberg, der – scheinbar, anscheinend – kulturell »assimilierte« Jude, im Österreich der Republik für den Fußball der Wiener Austria schwärmte und gleichzeitig Sport innerhalb der zionistischen Hakoah betrieb, zeigt, wie durchlässig die gesellschaftlichen Grenzen sein konnten – bis dann, 1938, es für die politischen Machthaber einerlei wurde, wie sich ein Mensch selbst sah  : Die Definitionsmacht über die persönliche Identität und das individuelle Schicksal hatte ein totalitärer Staat übernommen. Der Fußball in den Jahren der Republik füllte teilweise das patriotische Vakuum, das die Periode zwischen dem Ende der Monarchie und dem »Anschluss« so bestimmte. Allerdings  : Der Fußball der großen Erfolge war ein Wiener, kein österreichischer Fußball. Die Spieler des »Wunderteams« rekrutierten sich ausschließlich aus Wiener Vereinen. Die sportlichen Erfolge, die Massenbegeisterung auslösten, waren Erfolge Wiener Mannschaften. Das Gefälle zwischen der Hauptstadt, deren Dimensionen noch dem des alten Rei37

Zum Begriff der Kultur

ches entsprachen, und dem übrigen Österreich – das Gefälle zwischen dem »Wasserkopf« Wien und der »Provinz« war in der Alltagskultur des Fußballs besonders deutlich. Dass Kultur im Zwischenösterreich der Ersten Republik politisch war, war nichts Spezifisches. Es waren die besonderen Formen einer in vieler Hinsicht politischen und politisierten Kultur, die als spezifisch für dieses Österreich gelten konnten. Die tiefen gesellschaftlichen Brüche, die entlang den Konfliktlinien Klasse und Religion und Ethnizität liefen und nicht oder nur unzureichend von einem verbindenden, Gemeinsamkeiten reflektierenden und fördernden Verständnis von Demokratie und Identität überbrückt waren – das war ein besonderes Merkmal der Politischen Kultur der Ersten Republik. Kultur drückt Identität aus, Kultur schafft Identität. Identität ist immer bestimmt von Inklusion und Exklusion. Daher ist Kultur immer ein Konfliktfeld. In Irland gründete Elisabeth I. 1592 in Dublin das »Trinity College« als die drittälteste englischsprachige Universität der Welt. Bis tief in das 20. Jahrhundert hinein galt diese Universität als Instrument der Protestantisierung Irlands. Nationalbewusste, und das hieß fast immer auch bewusst katholische Irinen und Iren lehnten diese Universität ab, und als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch andere Universitäten in Irland errichtet wurden, bedeutete dies eine nationale und religiöse Segregation im Bildungsbereich  : Als Katholikin, als Katholik studierte »man« ganz einfach nicht am »Trinity College«. In Frankreich wurde 1875 in Paris das »Institute Catholique« gegründet – als katholische Universität, im Protest gegen den oft als antikatholisch wahrgenommenen Säkularismus der Dritten Republik und der staatlichen Universitäten. In Belgien konkurrierten »Freie Universitäten« (etwa die Université libre de Bruxelles) mit der historisch dominanten katholischen Universität Louvain (Leuwen)  : Wer wo studierte, war da und dort gleichbedeutend mit einem politisch-weltanschaulichen Bekenntnis. Die Verflechtung von Kultur und Politik bedeutet immer eine Instrumentalisierung der Kultur. Auch das war keine Besonderheit der Ersten Republik in Österreich. Die österreichische Besonderheit war, dass die kulturelle Segmentierung nach 1918 nicht von einem Mechanismus der Integration aufgefangen werden konnte. Was sich im Bereich der innenpolitischen Aufrüstung entwickelte – das eine Lager rüstete gegen das andere, Wehrverbände bereiteten sich auf den Bürgerkrieg vor – das hatte seine Entsprechung in einer politischen Zerklüftung der Kultur. Kultur ist jedenfalls immer Determinante der Politik – und Politik existiert als Determinante von Kultur. Kultur und Politik bedingen einander. Die Verflechtung beider Sphären ist freilich keine simple Über- und Unterbaubeziehung. Politik findet zwar grundsätzlich losgelöst von Kultur statt, aber nicht 38

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von dieser unabhängig  ; und Kultur ist eine Summe subjektiver Ausdrucksformen, die nicht einfach (nur) politisch zu steuern wären, die aber dennoch die gesellschaftlichen Umstände und die politischen Verhältnisse reflektieren und damit auch beeinflussen. Politik bestimmt immer die Rahmenbedingungen mit, unter denen Kultur stattfindet  ; und Kultur erzählt, direkt oder indirekt, von Politik – von gesellschaftlichen Zuständen, von Unterdrückung und Vertreibung, von Krieg und Frieden  ; und auch wenn Kultur wie eine Idylle erscheinen mag, abgehoben von der Realität, ist sie immer auch Teil einer Erzählung, eines Narrativs, dessen Gegenstand eben gesellschaftliche und damit auch politische Verhältnisse sind. Eine Kultur, die – scheinbar – allem Politischen ausweicht  ; Bilder, die nicht wie die von Francisco Goya, und Wandmalereien, die nicht wie die von Diego Rivera im engeren Sinn von Politik zu erzählen und für Politik zu motivieren scheinen  : Sie sprechen dennoch zumindest indirekt von Politik, etwa durch demonstratives Verschweigen. Beethovens Eroika, geplant als Hymnus auf den Vollender der Französischen Revolution, ist auch, aber nicht nur durch die Umbenennung dieser Symphonie höchst politisch. Und auch wenn die 1935 eröffnete Glockner-Hochalpenstraße nicht unmittelbar als politische Botschaft geplant war, wie dies etwa auf das Reichsparteitagsgelände von Nürnberg zutraf, so war sie doch Teil einer auf Arbeitsbeschaffung gerichteten Politik und Teil einer politischen Botschaft von der Lebens- und Überlebensfähigkeit des autoritären Regimes. Die politischen Diskurse in Österreich waren in diesen zwei Jahrzehnten zwischen 1918 und 1938 von einem Vakuum des Bewusstseins, von einer kaum reflektierten Verlegenheit gekennzeichnet. Wer war da ein Patriot  ? Loyalität und Identifikation, also Patriotismus, bezogen sich kaum auf die Republik. Diese wurde ja als aufgezwungen empfunden – jedenfalls in ihren Grenzen und Begrenzungen, jedenfalls im Anschlussverbot  ; und für viele war auch die Staatsform der demokratischen Republik aufgezwungen – auch wenn 1918 von dem sich als Provisorische Nationalversammlung deklarierenden Restparlament des Kaiserreiches beschlossen. Die einen bezogen in diesem Zwischenösterreich ihren Patriotismus auf das Österreich von gestern – habsburgisch, übernational und jedenfalls ein Reich, eine Großmacht. Die anderen bezogen ihren Patriotismus auf das Deutsche Reich – und bis 1933 war dies ja auch demokratisch legitim. Andere wiederum sahen ein integral sozialistisches Europa, mehr oder weniger nach dem Muster der Sowjetunion, als Objekt ihrer politischen Sehnsüchte, ihrer Zuordnung. Der real existierenden Republik wurde kaum eine, ja eigentlich überhaupt keine affektive und nur wenig kognitive Zuwendung entgegengebracht. Freilich  : Massen konnten in diesem Österreich bewegt werden – wenn etwa im 39

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September 1933, bei der Erinnerung an die 250 Jahre zurückliegende Türkenbelagerung Wiens, ein christliches, ein katholisches Österreich beschworen wurde, als Bollwerk des gesamten Abendlandes. Und der Kanzler, Engelbert Dollfuß, der den Weg in Richtung der Zerstörung der Republik bereits beschritten hatte, trug bei dieser in indirektem Zusammenhang mit dem »Allgemeinen Deutschen Katholikentag« bei einer Massenveranstaltung auf dem Wiener Trabrennplatz gehaltenen Rede eine österreichische Uniform – allerdings die der K.-u.-k.-Armee. Der so signalisierte Patriotismus wollte nicht am Heute, er wollte am Gestern anknüpfen. Dollfuß und seine Gefolgschaft – das katholisch-konservative Lager in allen seinen Schattierungen – akzeptierten und praktizierten die Abendland- und Bollwerk-Rhetorik, um sich von der bereits halb unterdrückten Republik zu verabschieden – und dabei berief er sich auf die vergangene Größe des vorrepublikanischen Österreich. Dollfuß’ Trabrennplatzrede war der programmatische Auftakt für den Weg in die christlich etikettierte Diktatur und half mit, den nach seiner Ermordung durch nationalsozialistische Putschisten am 25. Juli 1934 forcierten Dollfuß-Mythos ideologisch zu unterfüttern (Dreidemy 2014). Österreich als christlich abendländisches Bollwerk  : doch Bollwerk – gegen wen  ? Doch nicht gegen den Islam und die moderne Türkei, die beide 1933 für Österreich ein eher blasses, entferntes, jedenfalls nicht bedrohliches Gebilde waren. Gegen Moskau  ? Die Expansionsenergie der Sowjetunion und damit des Marxismus-Leninismus hatte sich de facto weitgehend erschöpft. Die Rote Armee stand jedenfalls, bevor die deutsche Aggression sie in das Zentrum Europas saugte, weit entfernt  ; und die Kommunistische Partei Österreichs war eine der erfolglosesten kommunistischen Parteien Europas. Mobilisierte Dollfuß gegen den Marxismus in Form des Austromarxismus, gegen die größte Partei des bereits »ausgeschalteten« österreichischen Nationalrates, gegen die Partei, die sich mehr als alle anderen mit dieser auch von ihr nicht wirklich geliebten Republik identifizierte  ? Damit mobilisierte Dollfuß aber gegen die Republik. Doch der eigentliche Gegner wäre ein anderer gewesen  : das Deutsche Reich, das sich in der ersten Hälfte des Jahres 1933 zur Diktatur einer Monopolpartei gewandelt hatte  ; das nationalsozialistische Deutschland, das keinen Zweifel daran ließ, wie seine Politik gegenüber Österreich aussehen würde. Adolf Hitler freilich, der Reichskanzler – noch nicht Staatsoberhaupt, aber schon unumschränkter Diktator, er hatte bereits seine katholische Karte gespielt  ; und die Kirche hatte sich zum Mitspielen entschlossen. Am 20. Juli 1933 hatte Eugenio Pacelli, Kardinal-Staatssekretär und in wenigen Jahren Papst, das Konkordat unterschrieben, das dem Hitler-Regime innerkirchliche Legitimation verlieh. Mit Pacelli unterschrieb das Dokument Franz von Papen, Hitlers Steigbügel40

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halter und Parade-Katholik, der zwischen 1934 und 1938 als Gesandter in Wien emsig an der Untergrabung von Österreichs Selbständigkeit arbeiten sollte. Dollfuß, der sich auf eben diese Kirche, auf eben diese vatikanische Diplomatie stützte, konnte daher den Gegner kaum ausdrücklich beim Namen nennen, der als Einziger das klein gewordene Österreich, das sich gerade von seiner demokratisch-republikanischen Staatsform verabschiedete, wirklich bedrohte. Und so blieb nur angedeutet, wer unter allen anderen der eigentliche Gegenspieler dieses Österreich war – Republik hin oder her. Die Haltung des katholisch-konservativen Lagers gegenüber dem Nationalsozialismus und gegenüber dem Antisemitismus bezeichnet Heinrich Bußhoff als »dialektisch«, widersprüchlich, ambivalent (Bußhoff 1968, 251–279). Das wird in Dollfuß’ Bollwerk-Rhetorik deutlich  : Die wenig eindeutige Haltung, die nicht direkt ausgesprochene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, die insgesamt darin zum Ausdruck kommende Vorsicht hat zwar sicherlich auch damit zu tun, dass im September 1933 Hitler Reichskanzler war und die »Tausend-Mark-Sperre«, die Österreichs Tourismus-Industrie empfindlich traf, diplomatische Rücksichten nahelegte. Aber es gab eben auch grundsätzliche Berührungspunkte, unabhängig von der vielleicht gebotenen Vorsicht gegenüber der Regierung des großen Nachbarn. Die Heimwehren waren eine Brücke zwischen dem zunehmend offen zum Nationalsozialismus mutierten deutschnationalen und dem katholisch-konservativen Lager. Die Heimwehren mit ihren Bindungen an die Christlichsoziale Partei und die Vaterländische Front, aber auch mit ihren regionalen Allianzen mit der NSDAP verband die beiden Lager des »Bürgerblocks« auch, nachdem Hitlers Griff nach Österreich zuerst ein Griff auf den österreichischen Deutschnationalismus war. Es war die Gegnerschaft zur demokratischen Republik, die eine gemeinsame Basis herzustellen versprach – zwischen dem Politischen Katholizismus und dem Nationalsozialismus. Und auch wenn die Repräsentanten des katholisch-konservativen Lagers, auch Dollfuß, auch Schuschnigg, eine klare Grenze zwischen ihren Positionen und der der NSDAP sahen – in der Auseinandersetzung mit der demokratischen Republik ergaben sich eben doch Gemeinsamkeiten »dialektischer« Art (Carsten 1977, 295–302). Das Opfer dieser Art von Dialektik war die Republik. Diese erfuhr keine emotionale Zuwendung. Sie dorrte aus, ja ihr Leben jenseits einer Verfassungsund Rechtsordnung bestand nur in voneinander weitgehend unabhängigen, einander mehr oder weniger offen bekämpfenden Subsystemen. Das Leben in diesen Subsystemen, in diesen »Lagern« konnte nicht zu einem gemeinsamen Leben weiterentwickelt werden, das alle diese Subsysteme integriert hätte. Die Republik war bestenfalls eine geduldete Hülle  ; oder auch das kleinere Übel im Vergleich mit den konkreten Alternativen, gegen die sich der »Republikanische 41

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Schutzbund« der Sozialdemokratie bewaffnet hatte. Schlimmstenfalls aber war die Republik etwas, was möglichst rasch zu beseitigen wäre. Diese emotionale Blässe der Republik spiegelt sich in der kulturellen Abwesenheit der Republik, auch und gerade in der Kultur einer Habsburg-Nostalgie, in deren verschiedensten Formen. Joseph Roth und Franz Lehár, Hugo Hofmannsthal und Robert Musil, Stefan Zweig und andere – sie ignorierten die Realität der Republik. Karl Kraus, dessen kritische Energie sich zunächst auf das sich selbst zerstörende K.-u.-k.-Reich gerichtet hatte (Die letzten Tage der Menschheit), war einer der wenigen, der auch die Republik begleitete. Er nahm literarisch Anteil an deren Entwicklung, er nahm die Republik ernst. Insgesamt aber war das Österreich der Republik durch ein mental und emotional politisches wie auch kulturelles Vakuum gekennzeichnet. Und das konnte man auch im Geschehen der Hoch- wie auch der Alltagskultur erkennen. Rückblickend ist man allzu oft geneigt, die Nabelschnur, die kausale Verbindung zwischen Kultur und Politik herunterzuspielen. Wie oft wird Österreichs kulturelle Blüte der 1920er Jahre gelobt, als eine Art Fortsetzung des Wiener »Fin de siècle«. Brücken zwischen der letzten kulturellen Periode der Monarchie und der Ersten Republik sind ja ganz eindeutig gegeben. Und die Zusammenhänge zwischen dieser kulturelle Hochblüte und der politischen Implosion, die sich bereits vor 1914 überdeutlich abgezeichnet hatte und die 1918 dann auch eintrat, diese Zusammenhänge sind festzuhalten und zu betonen. Freilich  : Es waren negative Zusammenhänge. Es ist das Fehlen einer starken Verbindung zwischen Kultur und Politik, die das Dilemma der Republik deutlich macht. Es ist eine kausale Verbindung negativer Art – die Abwesenheit der Kultur in der Politik der Republik war ein Zeichen für die Beschädigung der Republik, wie auch das Fehlen eines Zusammenwachsens der politischen Kulturen der Lager zu einer gemeinsamen Politischen Kultur Ursache und Zeichen für das politische Scheitern der (Ersten) Republik war. Die Verflechtung von Politik und Kultur ist kein österreichisches Spezifikum. William Shakespeare war ein eminent politischer Dichter. Sein Richard III. war eine wesentliche Legitimationshilfe für das Haus Tudor, zu dessen Hofdichter sich Shakespeare entwickelt hatte. Indem Shakespeare Richard als den großen Erzschurken zeichnete – wider alle bekannte historische Realität – half er mit, Richards Gegner (von denen sich die Tudors herleiteten) als Wohltäter hinzustellen. Wolfgang Amadeus Mozart benutzte die anti-aristokratische Dichtung des Pierre de Beaumarchais, um mit Figaros Hochzeit die gesellschaftliche Ordnung seiner Zeit als verrottet zu zeichnen und so bloßzustellen – mit einer Oper, deren politische Botschaft geradezu revolutionär war. Thomas Mann schrieb während des Ersten Weltkrieges ein eminent politisches Buch und nannte es – ohne Anspruch auf Ironie – Betrachtungen eines Unpo­ 42

Zum Begriff der Kultur

litischen. Die österreichische Republik freilich hatte keinen Shakespeare, jedenfalls keinen zwischen 1918 und 1938, und auch keinen Beaumarchais oder Mozart. Thomas Manns Ekel vor der »Zivilisation« des Westens aber – ein Ekel, den er freilich bald überwinden sollte – fand sehr wohl eine Analogie in den Werken seines Freundes Hugo Hofmannsthal, der emotional, der mental nie in der Republik angekommen war. Die Kultur, in ihrer politischen Funktion, ignorierte die Republik – oder lieferte Argumente dafür, dass dieses Österreich nicht ernst zu nehmen wäre. Robert Musil arbeitete in den Jahren der Ersten Republik an seinem Mann ohne Eigenschaften. In diesem Roman, oft mit James Joyces Ulysses auf eine Stufe gestellt, beschäftigt sich die K.-k.-Hochbürokratie mit einer Parallelaktion – mit der Vorbereitung des 70. Thronjubiläums Kaiser Franz Josephs, parallel zum 30. Thronjubiläum Wilhelms II. Franz Joseph war schon tot, ohne dieses Jubiläum erlebt zu haben  ; und Wilhelm war im niederländischen Exil. Doch Musil ließ dieses Thema österreichischer Vergeblichkeit – und zwar der Vergeblichkeit des Österreichs von gestern – ganz einfach nicht los. Die Kultur – jedenfalls das, was »Hochkultur« genannt wurde und wird, war in der Republik höchst lebendig. Was zwischen 1918 und 1938 in der Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen stattfand  ; was in den Premieren des Wiener Burgtheaters und des Theaters in der Josefstadt eine gar nicht so kleine Minderheit von materiell und kulturell Privilegierten bewegte  ; was sich an intellektueller Begeisterung bei den Lesungen von Karl Kraus abspielte  ; was die Architektur Clemens Holzmeisters ausdrückte und die Debatten um die Musik Arnold Schönbergs, Alban Bergs und Ernst Kreneks  ; das Wissenschaftsverständnis des »Wiener Kreises« und die Popularität der historischen Romane Stefan Zweigs – alles das belegt eine dynamische Kultur, auch und gerade dort, wo sie auf eine Gegenkultur stieß, vor allem auf die des »Roten Wien«. Aber die Hochkultur fand in den zwei Jahrzehnten nach 1918 weitgehend abgekoppelt von der Realität der Republik statt, die Kultur hatte in der Republik keine Wurzeln geschlagen – sie war dem Gestern verbunden, oder sie hatte sich bereits an einer Zukunft jenseits der Republik orientiert  : an der Kultur eines großen Deutschen Reiches oder an der Kultur einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Kultur und Republik existierten nebeneinander – nicht miteinander. Die Kultur der Ersten Republik mag deren Politik weitgehend ignoriert haben, auch weil diese Politik zu klein war für eine Kultur, die aus der Vergangenheit an größere Räume gewöhnt war – und die größere Räume herbeisehnte. Das änderte freilich nichts daran, dass Kultur und Politik verflochten waren  : durch die Rolle, die der Republik als Herrin über die Universitäten zufiel, als Betreiberin großer Theater und als Mäzenin kultureller Großveran43

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staltungen. Doch gerade in dieser ihrer Rolle, in der Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik, wurde die Republik behindert – durch das Fehlen einer die Lager verklammernden Politischen Kultur. Die Republik, dem Bürgerkrieg entgegentaumelnd, verstand es nicht, die Kultur der Höheren Bildung und der großen Theater als einen gesellschaftlichen Faktor zu etablieren, der links und rechts verband. An den Universitäten der Republik wurden jüdische Studierende diskriminiert und physisch bedroht, und Arthur Schnitzler galt zwei der drei politisch-weltanschaulichen Lager als dekadent. Die Salzburger Festspiele waren eine Chance, als eine neue, auch international wahrgenommene Schöpfung der Republik nach innen als Klammer zu wirken – aber der Brückenschlag gelang wohl letztlich doch nicht, zu sehr katholisch-restaurativ musste Jedermann, das Spiel vom Sterben des reichen Mannes auf dem Domplatz, auf alle wirken, die sich in das Lagerdenken des konservativen Politischen Katholizismus nicht einzuordnen verstanden. Und Karl Kraus, immer der politische Kämpfer, dessen Lesungen und dessen literarisch-journalistisches Produkt, »Die Fackel«, in Wien jedenfalls immer gesellschaftlich-intellektuelle Ereignisse waren, Kraus spaltete erst recht  : Viele Jahre hindurch wurde er als »Linker« wahrgenommen, weil er die zerstörenden Kräfte von gestern und die beharrenden Kräfte von heute schonungslos vorführte  ; und dann, 1934, galt er plötzlich als Bannerträger von Dollfuß, nur weil er – Kraus – in der Aggression des nationalsozialistischen Deutschland eine alles andere zur Seite schiebende Gefahr sah. Dieses komplexe Verhältnis von Politik und Kultur herrschte und herrscht in Österreich  ; herrschte auch und speziell in jenen beiden Jahrzehnten, die »Zwischenkriegszeit« genannt werden – die Periode, die von einem Weltkrieg zum anderen führte, die einen Bogen von einer Annäherung an den Untergang zur nächsten spannte. Es waren zwei ereignisreiche, es waren spannende Jahrzehnte  ; und es waren »große Zeiten« – aber eben solche, die man, rückblickend, wohl nur allzu gerne vermieden hätte. Die in diesen beiden Jahrzehnten einander begleitenden, einander beeinflussenden Abläufe dessen, was »Politik« einerseits und »Kultur« andererseits genannt wird – diese Abläufe begleiteten die Republik  ; und helfen auch verstehen, warum diese scheiterte.

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on außen erzwungen, von den in politischen Parteien organisierten Lagern geschaffen, von diesen aber nie geliebt, glich das Österreich der Ersten Republik einer staatlichen Hülle, in der eine tief zerklüftete Gesellschaft eigentlich nicht so recht wusste, was sie mit ihrer Staatlichkeit anzufangen hätte. Die Republik, dieser Rest, dessen Territorium nicht durch eine freie Entscheidung bestimmt war, sondern dadurch, dass kein anderer Nachfolgestaat dieses Territorium in Anspruch nehmen konnte, diese Republik war nach dem Auszug der verschiedenen Nationalitäten aus dem alten Österreich zur Eigenstaatlichkeit gezwungen. Und sie musste auch unter dem Druck von außen dazu gebracht werden, sich Österreich zu nennen – sie durfte nicht Deutsch-Österreich heißen. Es war ihr nicht erlaubt, sich als Teil der deutschen Republik, der Demokratie von Weimar zu bekennen. Republik war dieses Österreich mangels an Alternativen. Zur Unabhängigkeit war die Republik gezwungen. Und sie nannte sich auch Demokratie, weil dieser Begriff so etwas wie einen Konsens über politische Inhalte vorzutäuschen schien. Dieser Konsens hatte seinen Ausdruck in einer durchaus lebens- und überlebensfähigen Verfassung gefunden. Aber dieser Konsens, die notwendige Basis politischer Stabilität unter den Vorzeichen einer Demokratie, der war zu dünn. Und allzu bald brach er ganz einfach zusammen. Die Republik war auch »Österreich« gegen ihren Willen – denn sie hatte sich ja »Deutsch-Österreich« nennen wollen und sich 1918 zu einem Teil der »Deutschen Republik« erklärt. Das Österreich, das über den Anfängen der Republik schwebte, war ein Österreich der Vergangenheit – und nicht der Zukunft. Über der kleinen Republik wehte der Geist eines großen, aber untergegangenen, auf schreckliche Weise letztlich gescheiterten Reiches. In den Schlachten eines Weltkrieges, an dessen Anfängen eine erstaunliche, eine katastrophal leichtfertige Außenpolitik Österreich-Ungarns gestanden war (Rau­ chensteiner 2013, 121–162), hatte dieses übernationale, aber von Nationalismen zerrissene Reich das gemeinsame Dach verloren – die Dynastie. Letztlich war diese Klammer zerbrochen, und dieses Österreich hatte zu bestehen aufgehört. Die Republik war vor die Aufgabe gestellt, sich vom Schatten dieses alten Reiches zu emanzipieren – eine Aufgabenstellung, die keinen Erfolg zu versprechen schien. Die Republik war gezwungen, Österreich zu sein – ohne so recht zu wissen, was denn Österreich nach dem Zusammenbruch von 1918 eigentlich zu bedeuten hätte. 45

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Österreich war und ist nicht Österreich. Österreich war einmal die Summe der Länder, die vom Hause Habsburg regiert wurden. Bis zu den Napoleonischen Kriegen hatten auch die vormals spanischen Niederlande zum Reich der Habsburger gehört und danach die Lombardei und Venezien. Nach dem Wiener Kongress war Österreich ein »Kaisertum«, das sich – nach verlorenen Kriegen gegen Piemont und Frankreich 1859 sowie gegen Preußen und Italien 1866 – unter dem Druck der Niederlagen 1867 auf die eine Hälfte einer Doppelmonarchie reduziert sah. Und nun, 1918, war Österreich ein Nachfolgestaat dieser Monarchie wie andere auch. Aber während einige von diesen den Untergang Österreichs als ihren Erfolg interpretierten – etwa die Tschechoslowakei und Jugoslawien, aber auch Rumänien und Polen – konnte der »Rest« Cisleithaniens, dem Umfang und Name von den Siegermächten vorgeschrieben waren, sich der Verliererrolle nicht entziehen. Kein Zweifel  : Österreich war zwar ein Nachfolgestaat unter anderen. Aber Österreich konnte keinesfalls das Ende der Doppelmonarchie als Erfolg deuten – es war eindeutig in der Rolle des Verlierers, eine Rolle, die Österreich sich mit Ungarn zu teilen hatte. Auch aus der Sicht der Siegermächte war Österreich ein Nachfolgestaat und gleichzeitig ein Feindstaat – eine Doppelrolle voller Ambivalenz (Stadler 1966, 53–55). Alle Nachfolgestaaten waren 1918 und danach mit der Frage nach ihrer Identität konfrontiert. Die Tschechoslowakei versuchte sich als »zweite Schweiz« – doch die beiden großen Minderheiten, die Deutschen und die Ungarn, standen zu einem Gutteil abseits. Polen sah sich als wieder erstandener Nationalstaat – und hatte von Anfang an damit zu kämpfen, dass etwa die Hälfte seiner Bevölkerung sich nicht als Polen, sondern als Juden oder als Deutsche, als Ukrainer oder Weißrussen oder Litauer verstand. Die Siegermacht Italien kam rasch in Konflikt mit der Auch-Siegermacht Jugoslawien  : Waren Dalmatien und Istrien, war Fiume/Rijeka von südslawischer oder italienischer Identität bestimmt  ? Ungarn wurde von einem simplifizierten, ungebrochen zornig-aggressiven Verlierer-Narrativ bestimmt – eine auf einen expansionistischen Revisionismus gerichtete Rollenfixierung, die Ungarn letztlich auf die Seite Hitler-Deutschlands zog, weil dies die Wiederherstellung der alten Größe zu versprechen schien, wie sie vor Trianon bestanden hatte. Rumänien wiederum sah – weil es im Krieg auf der »richtigen« Seite gestanden war – sein Territorium um etwa die Hälfte vergrößert, war aber nicht in der Lage, diesem Groß-Rumänien Stabilität zu geben, und wurde bald von der Welle erfasst, die den gesamten Raum des alten Österreich-Ungarn erfassen sollte – von einer antidemokratischen wie auch nationalistischen Flut. Alle diese Nachfolgestaaten hatten ihre nationalen Erzählungen, die über eine zumeist ganz andere Wirklichkeit hinweghelfen sollten. Allen diesen Staaten leisteten die herrschenden Narrative einen ambivalenten Dienst  : Sie ver46

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mittelten die Illusion von Kontinuität. Doch Österreich – welche Narrative wurden diesem so klein gewordenen Österreich angeboten  ? Da gab es die Retro-Perspektive, die zumeist rosig gefärbte Version des alten Österreich, eine Sicht, die sich dieses neue Österreich zurechtmachte und daher sich nicht als Nachfolgestaat unter anderen Nachfolgestaaten sehen wollte, sondern als ein in Theater und Film weiter lebendes Operetten-Österreich  ; oder auch als melancholische Tragödie – wie bei Joseph Roth oder Hugo Hofmannsthal  ; oder als fast schon dadaistische Erzählung wie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaf­ ten. Diese Retro-Perspektive hatte ihre katholisch-restaurativen Aspekte, auf die dann der sich »christlich« nennende autoritäre Staat zwischen 1933 und 1938 zurückgreifen sollte. Der Verklärung des alten Österreich stand von Anfang an die Utopie der sozialistischen Weltrevolution entgegen, wie sie aus Moskau tönte. Doch in diesem Traum des Marxismus-Leninismus schien es keine besondere, keine spezifische Rolle für Österreich zu geben. Zwischen dieser Utopie und der Realität des Scheiterns der Weltrevolution wurde die österreichische Sozialdemokratie hin- und hergerissen und wusste nicht so recht, ob diese kleine Republik mehr sein sollte als ein Provisorium – ein Wartezimmer auf dem Weg in die größere Republik, in das (sozial)demokratische Deutsche Reich. Das entsprach – zunächst – ganz dem Narrativ vom deutschen Österreich. Und dieses Narrativ erschien als die einzige Vision, die sich in reale Politik umsetzen ließ  : in den Anschluss an das 1918 zwar ebenfalls geschlagene, aber als großes Reich weiter bestehende Deutschland. Dieser Anschluss kam 1938 – in ganz anderer Form, als er 1918 von der Provisorischen Nationalversammlung gewünscht worden war. Die Republik hatte kein eigenes spezifisch österreichisches Narrativ. Alles Österreichische war von gestern – definiert von Barockschlössern, katholischer Gegenreformation, den »süßen Wiener Mädeln« oder auch der Welt knorriger Bergbauern, wie sie Albin Egger-Lienz malte. Gestrig war die wohlig genossene Dekadenz der Jahrhundertwende. Es war eben noch nicht lange her, da hatte es eine Ordnung eines Großreiches gegeben, definiert von einer ständisch gegliederten Gesellschaft, in der einer aristokratischen Elite trotz des 1907 eingeführten allgemeinen und gleichen Männerwahlrechtes bis 1918 die entscheidende politische Rolle zukam. Im Abgeordnetenhaus des Reichsrates mögen »bürgerliche« Politiker wie auch sozialdemokratische das Sagen gehabt haben. Im Staatsdienst aber dominierten Aristokraten in den Spitzenpositionen der Diplomatie und des Offizierskaders. Und da die Regierung nur dem Kaiser, nicht aber dem Parlament verantwortlich war, war trotz einer starken Sozialdemokratie die Politik des alten Österreich von einer absteigenden Kaste dominiert, die über ein sterbendes Reich herrschte. Dies war auch nicht ein 47

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Ansatzpunkt für eine positive Interpretation der Vergangenheit  : Für die Republik waren zwar die parlamentarischen Ansätze des Reichsrates nutzbar, nicht aber die Erinnerung an den – auch – selbst verschuldeten Untergang der Welt von gestern. Das deutsche Narrativ fand sich im Österreich nach 1918 in den schon vor 1914 errichteten Denkmälern der Ringstraße, wo Goethe und Schiller, nicht aber Shakespeare oder Molière oder Tolstoi in aller Größe gefeiert wurden  ; in einer Aufschrift auf dem Denkmal des Erzherzogs Karl auf dem Heldenplatz, das diesen österreichischen Heerführer – den »Sieger von Aspern« – als Kämpfer für ein Deutschland definierte, das es zur Zeit der Napoleonischen Kriege als politische Einheit gar nicht gegeben hatte. Das deutsche Narrativ war schon vor 1918 da – und es vertrug sich nicht immer mit dem betont katholischen Habsburg-Narrativ, das von den großen Taten dieser katholischsten aller Dynastien berichtete. Aber dieses deutsche Narrativ schien 1918 jedenfalls mehr Zukunft zu haben als ein österreichisches, das auf Prinz Eugen und Maria Theresia, auf Erzherzog Johann und den vorletzten Kaiser fokussiert war. Die auf so vielen Bildern gefeierte »Waffenbrüderschaft« des Weltkriegs reflektierte dieses deutsche Narrativ – und gleichzeitig auch seine Ambivalenz, der Karl Kraus in seinen Letzten Tagen der Menschheit literarisch Ausdruck verlieh  : eine von einem latenten österreichischen Minderwertigkeitskomplex beeinflusste Koexistenz von deutsch und österreichisch, ein Nebeneinander, das nicht immer ein Miteinander war. Immerhin hatte die Armee des preußischen Königs, der 1871 deutscher Kaiser werden sollte, Österreich 1866 gedemütigt und damit dem eigentlichen großdeutschen Traum – ein Deutsches Reich unter Österreichs Führung – jede Verwirklichungschance genommen. Karl Kraus war einer der wenigen, der einer unbedingten Deutschland-Orientierung 1918 und 1919 widersprach. Er trauerte dem alten Reich ganz bestimmt nicht nach, ja er war froh, nicht mehr – im Sinne der alten Begrifflichkeit – Österreicher zu sein. Aber den Anschluss an die Deutsche Republik sah er nicht als Hoffnung, sondern als Gefahr  ; und gleichzeitig bedauerte er, dass die neuen Grenzen den großen Kulturraum des multinationalen Österreich zu zerreißen drohten (Timms 2005, 24 f.). In den Letzten Tagen der Menschheit hatte Kraus die Widersprüche zwischen einer spezifisch österreichischen und einer spezifisch deutschen Zugangsweise aufzuzeigen versucht – etwa in immer wiederkehrenden Konfrontationen zwischen deutschen (von Kraus oft bewusst als »preußisch« bezeichneten) und österreichischen Offizieren  ; Konfrontationen, die dem im Weltkrieg entstandenen Kalauer entsprechen, für die Deutschen sei die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos, für die Österreicher hingegen sei sie hoffnungslos, aber nicht 48

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ernst. Und in einer Szene, in der auf der Wiener Ringstraße ein »Berliner Schieber« auf einen Dienstmann trifft, hat Kraus deutlich gemacht, wie sehr die Vorstellung von einer gemeinsamen Kultur und einer gemeinsamen Sprache einem Wunschdenken und nicht einer Realität entsprach (Kraus 1964, II. Akt, 1. Szene). Es gab kein Narrativ, keine große Erzählung, keine Geschichtsdeutung, die das Österreich, wie es im Staatsvertrag von St. Germain 1919 definiert worden war, mit einer besonderen Identität hätte versorgen können. Der Politische Katholizismus war das Produkt der Prägekraft einer Kirche, die für Frankreich und Italien, für Belgien und Spanien und Portugal grundsätzlich dieselbe Bedeutung hatte wie für Österreich. Die marxistischen Revolutionsperspektiven konnten ebenso wenig das Bedürfnis der klein gewordenen, fremdbestimmten Republik nach einem exklusiv österreichischen Narrativ befriedigen. Und das deutsche, das deutschnationale Narrativ lief mit letzter Konsequenz auf das hinaus, was 1938 passieren sollte  : Österreich wurde zu einer Region, zu einer Art Provinz eines großen Reiches, in dem nicht einmal mehr der Name Österreich akzeptiert war. Die kleine Republik startete 1918 als schlampig und als fremd definierte, territorial eingeschränkte Fortsetzung eines anderen Österreich. Dieser Anfang war wohl unvermeidlich  : Die Sachzwänge, die mit der militärischen Niederlage und der Sezession der meisten Regionen und Kronländer vorgegeben waren, ließen kein systematisches Agieren, sondern nur ein rasches Reagieren zu. Ein klares Konzept, was mit diesem Österreich geschehen sollte, diesem »Rest«, der 1919 noch geglaubt hatte, auch die mehrheitlich deutschsprechenden Gebiete der Tschechoslowakei »behalten« zu können  ; eine klare Sicht auf die Zukunft dieses aus Niederlage und Verlegenheit geborenen Landes hatte niemand – auch nicht die Sozialdemokratie, die zunächst Grund zur Annahme hatte, die politisch bestimmende Kraft zu sein. Viel zu bestimmen hatte sie eben auch nicht. Bestimmend waren die Siegermächte, die in Paris – nachdem sie im Vertrag von Versailles, im Friedensschluss mit dem als Hauptgegner definierten Deutschen Reich, eine europäische Ordnung zu diktieren versucht hatten – nun auch Zeit für die anderen Verlierer des Krieges fanden. Anders als mit Deutschland wurde in St. Germain kein Friedens-, sondern ein Staatsvertrag unterzeichnet. Die Republik, der die Bezeichnung »Deutsch« vor Österreich ebenso verboten war wie der Anschluss an die deutsche, die demokratische, die Weimarer Republik, galt ja nicht als Rechtsnachfolgerin Österreich-Ungarns, wollte natürlich auch nicht Rechtsnachfolgerin sein. Das alte Österreich hatte zu bestehen aufgehört, ohne dass irgendeine staatliche Autorität eine formelle Nachfolgefunktion beanspruchen hätte können – oder dies auch nur gewollt hätte. 49

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Der Kaiser und König, der bis zum bitteren Ende das Staatsoberhaupt beider Reichshälften und damit auch aller sich zu Nachfolgestaaten entwickelnden Regionen gewesen war, hatte ein Vakuum hinterlassen. Irgendjemand musste dieses füllen, musste politische Verantwortung übernehmen. Es waren die Parteien, die in Fraktionen gegliederten Abgeordneten des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrates, die – so ferne sie nicht bereits Verantwortung in einem anderen der Nachfolgestaaten übernommen hatten – wohl oder übel sich in eine bestimmende Rolle gezwungen sahen, die sie zu Staatsgründern und Verfassungsgebern machte. Die militärische Niederlage hatte die alte Ordnung zerstört, und die Entente definierte den territorialen Umfang der Nachfolgestaaten. Die Macht in Restösterreich aber übernahmen die Parteien, die aus der Zeit des alten Österreich in das neue Österreich hinüberreichten, soweit dies von den Siegermächten zugelassen war. Wer denn sonst hätte die Verantwortung übernehmen sollen – wenn nicht die Parteien  ? Doch diese waren nicht bloß Organisationen, die sich um Erfolge bei Wahlen und im Parlament bemühten. Die Parteien waren Lager, mit einem quasi-religiösen, hoch ideologischen, »weltanschaulichen« Selbstverständnis. Diese Lager waren Ersatzkirchen, die politischen Religionen verpflichtet waren. Und die diesen zufließenden Identitäten und Loyalitäten ließen nicht allzu viel Raum für eine Bindung an das 1918, 1919 und 1920 neu und von außen definierte Österreich. Die Parteien des alten Österreich hatten sich nicht aus freien Stücken angemaßt, für das neue Österreich zu handeln. Die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen, die Deutschnationalen – sie und nur sie konnten agieren, nachdem die für das alte Österreich Sprechenden, die Autoritäten des Kaiserreiches, abhanden gekommen waren. Die Republik war von Anfang an Parteienstaat, aber nicht aus der Begehrlichkeit der Parteien heraus. Die Republik war ein Parteienstaat, definiert und bestimmt in dem von den Siegermächten vorgegebenen Rahmen von Parlamentariern, die 1911 gewählt worden waren  ; von Politikern, die sich in Fraktionen, also in Parteien gegliedert hatten. Die Republik war, aus den Gegebenheiten heraus, unvermeidlich ein Parteienstaat – was sonst hätte sie auch sein können  ? Die Republik war von den Siegermächten zur Unabhängigkeit verurteilt. Und sie wurde behandelt wie Ungarn oder Bulgarien oder das Osmanische Reich, deren Grenzen nach den Rahmenbedingungen und Prioritäten des Versailler Vertrages konstruiert wurden  : aus dem Primärinteresse der Entente heraus, Deutschland möglichst klein zuhalten  ; und um die Staaten, auf die sich die großen Siegermächte dabei stützen zu können glaubten (Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien, Griechenland), möglichst zu stärken. Österreich wurde in St. Germain durch die auf Deutschland als den 50

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Hauptgegner gerichtete Brille der Sieger wahrgenommen – und entsprechend schlecht behandelt. Die Republik begann als fremdbestimmte Ordnung. Das in seiner Konzeption und vor allem in seinen Konsequenzen wenig durchdachte »Selbstbestimmungsrecht« der »Völker«, das dem Kriegseintritt der USA 1917 eine ethische Fassade geliefert hatte, galt ganz offensichtlich für die Interessen und Bedürfnisse der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns nur mit willkürlichen Einschränkungen. Es hatte keine Geltung für die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete im Norden Böhmens und Mährens und auch nicht für Südtirol  ; aber auch nicht für einen frei gewählten Anschluss des demokratischen Österreich an ein demokratisches Deutschland. Dieses Selbstbestimmungsrecht wurde von Österreich nur im Fall des mehrheitlich deutschsprechenden Westungarn erfolgreich in Anspruch genommen  : Hier ging es darum, Ungarn klein zuhalten – und da war das Selbstbestimmungsrecht von Nutzen  ; denn es wurde ja gegen Ungarn eingesetzt, einen anderen Verliererstaat. Das Selbstbestimmungsrecht war nur auf den ersten Blick ein in sich logisches Konzept. Dahinter verbargen sich aber nur zu oft gegenläufige Interessen. Die Umsetzung dieses Konzeptes 1919 bedeutete immer und unvermeidlich, dass dem einen Interesse nur auf Kosten eines anderen Interesses Rechnung getragen werden konnte (Macmillan 2003). Und alle diese Interessen hatte Österreich 1919 nicht für sich mobilisieren können. In einer Umkehr der geopolitischen Interessenlage sollte, etwa zwei Jahrzehnte später, Adolf Hitler das Selbstbestimmungsrecht zum Vorwand nehmen, um zunächst Österreich, dann die Tschechoslowakei und schließlich Polen zu zerschlagen und so mit Berufung auf ein von ihm willkürlich definiertes Selbstbestimmungsrecht »der Deutschen« den Krieg zu provozieren. Die Republik war von Anfang an geplagt von Phantomschmerzen. Ausdruck dessen waren die Operettenkaiser in einer Republik, die Adelstitel abgeschafft hatte  ; waren elegante Stücke wie Hugo Hofmannsthals Der Schwierige, in denen die Gesellschaft der Monarchie melancholisch verklärt erschien, die Republik aber hässlich und grau. In dieser Wahrnehmung konnte die Republik gegen die Monarchie den Wettbewerb um die Emotionen nicht gewinnen. Die Welt der Gefühle, die war nicht die der Republik. Die Provisorische Nationalversammlung war ein Produkt des alten Österreich, ein Parlament, bestehend aus dem Rest des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses – aus denjenigen der 1911 Gewählten, die nicht schon in Warschau und Prag und Rom und Belgrad politische Schlüsselrollen zu übernehmen versuchten. Die Republikgründer waren durchwegs im alten Österreich verwurzelt, in dieser ihrer Verwurzelung eben nicht im Widerspruch zur alten Ordnung, sondern in abgestufter Identifizierung mit derselben. Die staatliche 51

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Ordnung der Republik war durch die Übernahme des Großteils der Rechtsordnung und des Bildungssystems und – zunächst jedenfalls – auch der Währung des alten Reiches bestimmt. Es war eine Republik, die zwar den Auftrag hatte, sich als etwas Neues zu definieren  ; die aber – mangels einer verbindenden Idee für dieses Neue – sich auf den Trümmern des Alten wiederfand. Die Republik erwies sich bei näherem Hinsehen als alt, aber auch vertraut  ; eben als ruinenhafter Rest eines Teiles des alten Österreich. Wie konnte man von ihr erwarten, dass sie zu neuen Ufern aufbrechen würde  ? Letztlich reichte es nicht einmal zur Stabilisierung des Status Quo. Das offensiv Republikanische war beschränkt auf die politische Linke. Doch auch diese hatte sich ja vor 1914 als loyale Opposition in einem grundsätzlich akzeptierten System einer teilparlamentarisierten Monarchie verstanden. Und Karl Renner, der mehr als jeder andere mit den Weichenstellungen der Jahre zwischen 1918 und 1920 verbunden war, war 1916 von der kaiserlichen Regierung zum Direktor des »Ernährungsamtes« berufen worden. Er war als Minister der kaiserlichen Regierung im Gespräch, im Zusammenhang mit den zögerlichen Reformversuchen des jungen Kaisers Karl – ein potentieller Karrieresprung Renners, der aber auch und vor allem durch den Widerstand in den eigenen, den sozialdemokratischen Reihen blockiert worden war. In seinem 1917 erschienenen Buch Marxismus, Krieg und Internationale hatte er ein kaum verhülltes Loblied auf den »Kriegssozialismus« gesungen, den er in Österreich, aber mehr noch im Deutschen Reich verwirklicht sah  ; auf einen Sozialismus, den er als Vorboten einer neuen, demokratischen Ordnung nach dem Ende des Krieges sehen wollte (Renner 1917). Renner  : ein Republikaner  ? Vielleicht, je nach den Gegebenheiten. Ein Revolutionär  ? Mit Sicherheit nicht (Pelinka 1989  ; Saage 2016). Die Haltung der österreichischen Sozialdemokratie zum Krieg war voll von Widersprüchen gewesen. Zwischen dem Artikel des Chefredakteurs der Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, zum Kriegsausbruch 1914 (»Der Tag der Deutschen Nation«) und Friedrich Adlers Mordanschlag auf den K.-k.-Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh, 1916, konnte die Sozialdemokratie beanspruchen, alle nur denkmöglichen Positionen eingenommen zu haben  : die der regierungskonformen Kriegspropaganda ebenso auch wie die einer Fundamentalopposition gegen die Kriegspolitik  ; die des sich anbietenden reformistischen Retters der alten Ordnung und auch die des angemaßten Zerstörers ebendieser Ordnung. Die Sozialdemokratie – so gab sie sich jedenfalls den Anschein – war 1918 bereit zu allem und zum Gegenteil von allem  : zur Revolution – und zur Evolution. Dass die Sozialdemokratie den Weg der Evolution wählte, sollte nichts daran ändern, dass ihre Gegner sie weiterhin im Verdacht hatten, letztlich doch »Bolschewiken« zu sein. 52

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In einer Debatte im Nationalrat vom Oktober 1932 rief Engelbert Dollfuß von der Regierungsbank Otto Bauer zu  : »Sie sind in ihrer Gesinnung ständig ein Bolschewik […].« Da war er, der Verdacht – der evolutionäre Weg hatte die Sozialdemokratie nicht davor bewahrt, dass viele ihrer Gegner sie für kommunistische Revolutionäre hielten, die den evolutionären Weg nur als Taktik und als Tarnung beschritten hätten. Dass bei dieser Sitzung Karl Seitz, Bürgermeister von Wien und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, erklärt hatte  : »Demokratie ist kein Endziel, sie ist ein Mittel, zum Ziel zu gelangen, zum Sozialismus«, war ein vielleicht verständlicher Anlass, um immer wieder den Bolschewismus-Verdacht zur Dämonisierung der Sozialdemokratie zu bemühen (Hanisch 2011, 279). Dass dieser Verdacht von einem christlichsozialen Bundeskanzler kam, der sich wenige Monate später daran machen sollte, die demokratische Republik zielbewusst zu zerstören, unterstrich nur, wie weit die Positionen der großen Parteien voneinander entfernt waren – 14 Jahre nach Gründung der Republik, 12 Jahre nach dem einvernehmlichen Beschluss der Verfassung der demokratischen Republik. Dollfuß führte Österreich weg von der Demokratie – und hatte gleichzeitig die Sozialdemokratie im Verdacht, dies ebenso zu beabsichtigen, freilich in eine ganz andere Richtung. So eindeutig war die Position der Christlichsozialen, der anderen Großpartei, von Anfang an eben auch nicht – da war, wie bei der Sozialdemokratie, viel Raum offen für auch gegenläufige Interpretationen. Denn die Christlichsozialen mussten, wie auch die Sozialdemokraten, in den eigenen Reihen widersprüchliche Positionen auf einen Nenner bringen. Ignaz Seipel, der schon 1918 die dominante Figur im katholisch-konservativen Lager war, war am Ende der Monarchie – freilich nur für kurze Zeit – kaiserlicher Minister gewesen. Als der grundsätzlich und deutlich pro-habsburgischen Christlichsozialen Partei der Kaiser abhanden gekommen war, war es Seipel, der dafür sorgte, dass die Christlichsozialen sich mit der Republik abfanden. Republikaner war Seipel nicht – jedenfalls nicht aus Überzeugung. Er war Realist und eben deshalb Opportunist – Karl Renner nicht unähnlich. Und er erkannte, dass nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung seine Partei die neue Realität zu akzeptieren hatte, sollte sie auch in der Zukunft Einfluss haben (Boyer 2010, 413–456). Seipel und seine Partei waren Republikaner und Demokraten – auf Zeit. Doch sobald sich die Gesamtlage änderte, begann Seipel allmählich, Stück für Stück, sich von der Republik und der parlamentarischen, der parteienstaatlichen Demokratie zu verabschieden (Winter 1966, 25–58). Die Deutschnationalen, der dritte Partner in den Konzentrationsregierungen der Jahre 1918 bis 1920, konnten erst recht nicht viel mit diesem neuen, diesem kleinen, diesem fremdbestimmten Österreich anfangen. Die Deutschnationalen trauerten nicht Habsburg nach – sehr wohl aber und ganz beson53

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ders dem untersagten Anschluss an ihr deutsches Vaterland. Und sie zogen sich aus Protest gegen das Anschlussverbot der Siegermächte aus der Provisorischen Regierung zurück – wie auch Otto Bauer, der sozialdemokratische Außenminister. Bauers Anschlussorientierung wie auch die der anderen, anders als Bauer nicht zum Rücktritt bereiten Sozialdemokraten, alle voran Karl Renner, war nicht »völkisch« orientiert. Bauer war – romantisch und illusionär auf andere Weise – von der Sorge getrieben, dass Österreich ohne Eingliederung in die Deutsche Republik ein »Zwergstaatenleben« führen müsste, »ein Leben der Kleinheit und Kleinlichkeit, ein Leben, in dem nichts Großes gedeihen kann, am allerwenigsten das Größte, das wir kennen, der Sozialismus« (Hanisch 2011, 108). Ein »Zwergstaatenleben« – das widersprach der Illusion von Größe. Die Lager, die Parteien schleppten ihre Geschichte mit, die sie im alten Österreich geprägt hatte. Mit dem kleinen Österreich konnten sie sich nicht wirklich identifizieren. Die Staatsgründer und Verfassungsgeber der Republik waren genau genommen nicht in der Republik, sie waren noch immer im alten Österreich zuhause. Das Kriegsende konnten sie nicht anders als eine Niederlage sehen. Da waren manche österreichische Schriftsteller von einer anderen Konsequenz, einer anderen Konsistenz gewesen. Arthur Schnitzler hatte sich, angewidert von der Massenhysterie der Kriegsbegeisterung des Jahres 1914, von der Politik des alten Österreich abgewandt  ; Stefan Zweig hatte durch internationale Kontakte – etwa zu Romain Rolland – ein europäisches Netzwerk aufzubauen versucht, das der Vernunft eine Stimme geben sollte  ; und Karl Kraus hatte mit den Letzten Tagen der Menschheit das wohl eindrucksvollste literarische Dokument des Kriegswahns zu Papier gebracht. Das Dreigestirn Schnitzler, Zweig, Kraus war natürlich nicht repräsentativ für das, was man die österreichische Kultur hätte nennen können. Gerade Kraus hatte in seinen Letzten Tagen ausreichend deutlich aufgezeigt, wie opportunistisch, wie intellektuell peinlich sich viele, allzu viele unter den »Kulturschaffenden« im Strom der mörderischen Kriegsbegeisterung verhalten hatten. 1918, am Ende der alten und am Beginn einer neuen wenn auch nicht ganz so neuen Ordnung stand Österreichs Kultur mit einer Reputation da, die der Reputation von Österreichs Politik so unähnlich nicht war. In der Bilanz dieser Kultur konnte man ebenso wie in der Bilanz der Politik Elemente, Stimmen, punktuelle Handlungen und Ereignisse finden, die alles und das Gegenteil von allem zu belegen in der Lage waren  : nationale Hochrufe wie Widerstand gegen die nationale Hysterie  ; pessimistischer Realismus und ebenso imperiales, imperialistisches Wunschdenken. 54

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Patriotismus war nicht Patriotismus  : Er war entweder rückwärtsgewandt und sonnte sich im Licht Maria Theresias und Radetzkys – die beiden hatten nun freilich überhaupt nichts mit der Republik und deren 1919 gezogenen Grenzen zu tun  ; oder aber der Patriotismus war auf ein mystisches Reich der Zukunft gerichtet, das immer stärker die Züge Adolf Hitlers annehmen sollte und erst recht nichts mit der Republik und deren Verfassung anzufangen wusste. Österreichs Politik und Österreichs Kultur waren am Ende der Monarchie vielfach gebrochen. Und vielfach gebrochen waren sie in die Republik gegangen  ; oder, besser, in diese hineingezwungen, in diese hineingeworfen worden. Wie hätte es auch anders sein können  ? Österreich hatte seinen geopolitischen Raum verloren, in dem es quasi selbstverständlich kulturelle Hegemonie beansprucht hatte, die sich in einem faktischen Vorrang der deutschen Sprache äußerte. Die für die verschiedenen Theaterkarrieren so wichtigen Bühnen in Teplitz-Schönau und Mährisch-Schönberg waren aber nun plötzlich Ausland. Das Kunsthistorische Museum in Wien verstand sich als Haus einer Kunst, die ihr Umfeld aufzugeben oder zumindest entscheidend zu reduzieren hatte. Die K.-k.-Hofoper, die bald Staatsoper hieß, konnte nicht mehr davon ausgehen, dass sie automatisch die Standards für die Opernhäuser etwa in Lemberg (das nun Lwov hieß) oder in Prag (Praha) bestimmen würde. Das neue Österreich hatte auch fünf der acht im alten Österreich bestehenden Universitäten verloren  : Krakau und Prag und Olmütz, Lemberg und Czernowitz. Und doch  : Das neue Österreich gab sich in vielem der Illusion hin, nicht ein Nachfolgestaat unter vielen, sondern – neben Ungarn – der Nachfolgestaat, ja die Fortsetzung des alten Österreich zu sein. Dass das neue Österreich sich anders sah als die Tschechoslowakei oder das bald zu Jugoslawien mutierte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das war überdeutlich. Franz Theodor Csokors 3. November 1918 hatte diesem Anders-, diesem BesondersSein literarisch Ausdruck gegeben  : Während die Offiziere dem toten Oberst, der nicht bereit war, die Monarchie zu überleben, Erde aus ihren verschiedenen Nachfolgestaaten ins Grab nachwarfen, gab der jüdische Regimentsarzt dem Oberst »Erde aus Österreich« mit auf seinen letzten Weg. Und diese Erde war nicht die der Republik, die es am 3. November 1918 und den unmittelbar darauffolgenden Tagen ja noch gar nicht gab. Österreich, das wurde mit dem K.u.-k.-Oberst begraben  ; Österreich, das hatte – wie der Oberst ja auch – Hand an sich gelegt. Und das, was aus diesem Österreich wurde, das hatte bereits seine unterschiedlichen Narrative  : Ungarn und Polen, die Tschechoslowakei und Italien, Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten, Slowenen. Für Csokors Blick auf die Realität des Unterganges des alten Österreich ist signifikant, dass der einzige unter den jungen österreichisch-ungarischen 55

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Offizieren, dessen Muttersprache deutsch war, dem toten Oberst »Erde aus Kärnten« ins Grab wirft – nicht Erde aus Österreich. Der Nachfolgestaat, der sich – gezwungenermaßen – Österreich nannte, verfügte über kein Narrativ, jedenfalls kein republikanisches  ; keines, das seiner demokratisch-republikanischen Struktur entsprochen hätte. Das einzig bestehende österreichische Narrativ wurde mit dem K.-u.-k.-Oberst begraben  ; das Narrativ, das mit den beiden Begriffen Habsburg und Vielvölkerstaat umschrieben war. Und dieses österreichische Narrativ wurde von einem Juden in Erinnerung gerufen, der in den nun gegründeten Nationalstaaten offenkundig seinen Platz nicht mehr zu erkennen vermochte. Die anderen Nachfolgestaaten hatten schon ihre spezifischen nationalen Erzählungen, mit ihren exklusiven und inklusiven Funktionen  ; mit der fiktiven Klarheit, wer nicht und wer sehr wohl zum Volk, zur konstruierten, imaginierten Nation gehörte  : nationale Erzählungen, geprägt von (etwa polnischen und ungarischen) Opfermythen, von Zukunftsprojektionen (etwa Tomáš Masaryks Idee von einer Tschechoslowakei als der zentraleuropäischen Schweiz), oder von einer nationalen Identität, die Revanche für vergangenes (vermeintliches) Unrecht zu versprechen schien (Italien, Rumänien, Jugoslawien). Österreich, der »Rest«, sah sich ebenso als Opfer – aber anders als andere Nachfolgestaaten (mit Ausnahme Ungarns) als Opfer des Jahres 1918 und der in den Pariser Verträgen geschaffenen Ordnung. Das österreichische Opfernarrativ hatte auch kein zentrales Thema, das es für sich in Anspruch hätte nehmen können – wie dies Ungarn mit Trianon zu schaffen verstand und so dem ungarischen Opfermythos einen klaren Inhalt gab und damit die Vision von der Wiederherstellung alter Größe zu verbinden verstand. Eine solche Vision hatte Österreich nicht – denn die Träume legitimistischer, monarchistischer Zirkel von der Neugeburt des alten Reiches waren nicht nur Träume, sie waren auch denkbar ungeeignet, die politisch-weltanschaulichen Zerklüftungen der Republik zu überwinden. Doch vieles passte ganz einfach nicht in die sich verengenden, einander ausschließenden Identitäten der Nachfolgestaaten. Franz Kafka etwa – 1883 in Prag geboren, Sohn einer »bürgerlichen«, deutschsprechenden jüdischen Familie, starb 1924 in Klosterneuburg bei Wien. Viele der Werke, die seinen Ruf als einen der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts begründeten – wie Der Prozess und Das Schloss – erschienen auf der Grundlage nachgelassener Fragmente erst nach seinem Tod. Sein Beruf, der ihm ein Einkommen gesichert hatte, war der eines Versicherungsangestellten in Prag. Wem »gehörte« Kafka  ? Der Tschechoslowakei, als deren Staatsbürger er starb  ? Dem Judentum, von dessen Milieu er zweifellos geprägt war – ohne sich im Sinne des Zionismus oder einer religiös-jüdischen Orthodoxie als jüdisch zu 56

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definieren  ? Dem Österreich der Habsburger, in dem er sozialisiert worden war  ? Der deutschen Literatur, aus deren Bibliotheken er 1933 und danach entfernt wurde  ? Kafka hatte Beziehungen mit Frauen in Berlin (Grete Bloch) und Wien (Milena Jesenská) (Marková 2011). War er irgendwo »zuhause«  ? Vielleicht in einem Europa, das es bis 1914 als eine Art Versprechen gab, in Zweigs Welt von gestern  ; oder in einem multinationalen Österreich, das – unvollendet – 1918 unterging  ? Die Nationalisierung des Kulturbetriebes, die 1918 in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns voll einsetzte, ließ ihm wenig Raum. Kafka war kein Tscheche – oder doch  ? Er war kein Tschechoslowake – oder doch  ? Er war kein Österreicher – oder doch  ? Oder war er Deutscher, war er Jude  ? Dass er das alles war und das alles auch wiederum nicht, machte ihn irgendwie heimatlos. In seiner vielschichtigen persönlichen Identität, die so viele kulturelle Zuschreibungen erlaubte, stand er im Widerspruch zu der 1918 entstandenen Ordnung fingierter nationaler Eindeutigkeiten. Im neuen Österreich, in dem er – Opfer seines Lungenleidens – im Alter von 41 Jahren starb, war er jedenfalls politisch nicht zuhause  ; obwohl sich dieses Österreich, das der Republik, mehr als jeder andere der Nachfolgestaaten einem nationalen Narrativ zu entziehen schien. Denn es war ja eine Republik, deren Grundlage der Wille der Siegermächte war, den »Rest« des Habsburgerreiches zur Unabhängigkeit zu zwingen  ; ein Staat, der nur deshalb existierte, weil sein Territorium nicht einem der anderen Nachfolgestaaten zugesprochen worden war. Der Staat dieser Republik war ein Konstrukt der Sieger. Der Inhalt der Republik wurde freilich von denen definiert, die sich in diesem »Rest« wiederfanden. Und zuhause – faktisch, wenn auch nicht mental – waren in diesem Österreich vor allem politisch-weltanschauliche Lager, die in den letzten Jahrzehnten der Monarchie verwurzelt waren. Die Lager der Republik – zunächst in einer Allianz der Vernunft einander verbunden, bald jedoch zum Krieg gegeneinander rüstend – die hatten ihre Narrative. Aber diese bezogen sich nicht auf die Republik, die sie im November 1918 ausgerufen hatten. Die Republik, wie sie im Staatsvertrag von St. Germain 1919 und im Bundes-Verfassungsgesetz 1920 definiert worden war, wurde als Verlegenheitslösung und Provisorium wahrgenommen. Wer wollte sich mit ihr identifizieren  ? Die Sozialdemokraten nur in so ferne, als der neue Staat und seine Ordnung keine Monarchie waren – als ob die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1914 in der 1918 untergegangenen Monarchie den Hauptfeind gesehen hätte. Aber darüber hinaus bewegte die real existierende Republik die Sozialdemokratie nicht wirklich – sie wurde hingenommen, weil alle anderen Lösungen (etwa die große deutsche Republik von Weimar) nicht erreichbar waren oder aber (in Form einer Räterepublik) letztendlich doch nicht erstrebenswert erschienen. 57

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Die Sozialdemokratie wurde zur Verteidigerin der Republik nur deshalb, weil die sich abzeichnenden konkreten Alternativen für sie besonders negativ eingestuft wurden – etwa eine Habsburg-Renaissance. Die Republik wurde von der Sozialdemokratie als kleineres Übel akzeptiert und wohl auch geschätzt. Aber geliebt, geliebt wurde diese Republik auch nicht von der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie hatte zu den Ereignissen, die zur Gründung der Republik führten, wenig Ursächliches beigetragen. Sie hatte freilich mitgeholfen, den diktierten Übergang 1918 und 1919 in einer im Wesentlichen gewaltfreien Form zu gestalten und der Republik eine demokratische und parlamentarische Verfassung zu geben. Aber die österreichische Sozialdemokratie befand sich in einer geopolitisch und strategisch komplexen Situation  : 1919 regierten für jeweils mehrere Monate im Osten Österreichs (Ungarn) und im Westen (Bayern) »Räteregierungen«, die mehr (Ungarn) oder weniger (Bayern) sich an der russischen, der kommunistischen Revolution orientierten. Die Kommunistische Partei Österreichs, 1918 noch vor Kriegsende gegründet, sah in diesen Entwicklungen in Österreichs Nachbarschaft ein Vorbild. Die Sozialdemokratie wollte dem revolutionären Gehabe der KPÖ eine revolutionäre Rhetorik entgegensetzen, die zu nichts verpflichtete, um sich so für den republikanisch-parlamentarischen Weg einen Konkurrenten fernzuhalten. Die Sozialdemokratie sprach von einer Revolution, um eine Revolution zu vermeiden. Das war 1918, 1919 keineswegs so klar. Die KPÖ schien durch die Streikbewegungen, die schon vor Kriegsende, 1917, eingesetzt hatten, an politischem Gewicht ebenso zu gewinnen wie durch die Oktoberrevolution und die folgende internationale Anerkennung der kommunistischen russischen Regierung – zunächst durch die Mittelmächte. Und die österreichischen Kommunisten schienen ja auch durch die ungarische und die bayrische Räterepublik gestärkt – freilich mit deren Ende auch wiederum geschwächt (Hautmann 1971). Am Beginn der Republik sah sich jedenfalls die Sozialdemokratie von links unter Druck gesetzt, die Notwendigkeit zur politischen Neugestaltung auch zu einer Neuordnung der ökonomischen Verhältnisse zu nutzen, etwa in Richtung eines umfassenden Programms der Sozialisierung. Erwin Weissel charakterisiert die Situation 1918 und 1919 so  : »Die Revolution war einfach da. Die Sozialdemokratie hatte sie nicht gemacht und musste sie doch als die ihre legitimieren, weil sie die Revolutionäre stellte« (Weissel 1976, 423). Doch die Sozialdemokratie hatte sich auch und vor allem auf den Boden einer liberalen parlamentarischen Demokratie gestellt und wusste daher, wie dies etwa das Wahlergebnis 1920 deutlich machte, dass die Revolution auf parlamentarischem Wege nicht umzusetzen war. Die Sozialdemokratie hatte sich für die Evolution entschieden, aber sie verzichtete nicht auf die revolutionäre Rhetorik. Für diesen Balanceakt brauchte 58

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die Partei den Meister verbaler Radikalität, einer Rhetorik, der keine Radikalität der Taten entsprach und auch gar nicht entsprechen sollte. Die Partei brauchte Otto Bauer (Leser 1968, 105–169  ; Hanisch 2011). Dieser, der nach dem Tod Viktor Adlers zur Schlüsselfigur der österreichischen Sozialdemokratie aufgestiegen war – ohne jemals formell Parteivorsitzender zu werden –, schrieb ein Buch und nannte es Die Österreichische Revolution (Bauer 1985). Und er gab dem Ablauf der Ereignisse, der – wenn man will – Evolution genannt werden kann, der jedenfalls ein fremdbestimmtes Hinübertaumeln von der einen in die andere Wirklichkeit war, den Namen »Revolution«. Nun kann man natürlich alles und jedes Revolution nennen. Aber im europäischen Diskurs dominieren zwei Erfahrungen das Verständnis von dem, was Revolution war und ist  : Die Französische Revolution von 1789 und die beiden Russischen Revolutionen von 1917 – vor allem die zweite der beiden. Die Bedeutung der ersten dieser beiden russischen Revolutionen trat bald in den Hintergrund. Denn die Sieger der Oktoberrevolution hatten jedes Interesse, die Bedeutung der Februarrevolution herunterzuspielen – die Februarrevolution hätte ja als Weichenstellung in Richtung einer parlamentarischen, einer liberalen russischen Demokratie verstanden werden können. Doch Geschichte, Weltgeschichte machte die Oktoberrevolution. Diese hatte mit der Revolution von 1789 manches, wenn auch nicht alles gemeinsam. Beide waren blutig, gewaltsam, und von Terror begleitet. Und die Geschichte beider sollte – jedenfalls in Europa – den Begriff und das Bild von Revolution prägen. Otto Bauers Analyse dessen, was er Revolution nannte, war durchaus aussagestark  : Das Österreich der Jahre 1918 bis 1920, also die Republik, die sich dem Diktat von St. Germain zu beugen hatte, die aber auch eine liberale, eine parlamentarische Verfassung zustande brachte, die Republik der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und der Großen Koalition wurde von Bauer als eine Phase des »Gleichgewichts der Klassenkräfte« interpretiert. Da schwang schon mit, dass in diesen Jahren Weichen gestellt wurden, die in die Richtung der Sozialpartnerschaft der Zweiten Republik gingen  : etwa die Etablierung der Kammern für Arbeiter und Angestellte, die ein Gegenstück zu den schon seit 1848 bestehenden Handelskammern bildeten. Doch wie immer man Bauers Sichtweise deutet, welche Einsichten auch aus ihr zu gewinnen waren – eine Revolution in dem Wortsinn des politischen Alltagsdiskurses, im Sinne der Erfahrungen von 1789 und 1917 waren die Republikgründung und die anderen, diese begleitenden Ereignisse jedenfalls nicht. Mit der Deutung der Ereignisse in der Republik Österreich 1918 und 1919 als »Revolution« konnte die Sozialdemokratie – vielleicht, wahrscheinlich – dem kommunistischen Drängen nach einer richtigen, einer richtig blutigen Revolution ein wenig Wind aus den Segeln nehmen. Aber gleichzeitig versetzte 59

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man wesentliche Teile der Gesellschaft in Angst und Schrecken. Das, was man höchst unscharf das »Bürgertum« nannte, begann nun in weiten Kreisen die Revolutionsrhetorik der so gar nicht revolutionären Sozialdemokratie ernst zu nehmen. Und das sollte sich als wesentliche Belastung der Republik und ihrer Demokratie erweisen  : die Angst des Bürgertums vor einer Revolution, wie sie in der Vorstellung der sich ja nur revolutionär gebärdenden und nicht revolutionär agierenden Sozialdemokratie ganz bestimmt nicht kommen sollte  ; eine Angst, die sich aber sehr gut gegen die Wortrevolutionäre der demokratischen Linken instrumentalisieren ließ. Die zweite Konsequenz des Balancierens zwischen reformistischer Praxis und revolutionärem Gerede war, dass die eigene Klientel in eine Erwartungshaltung gedrängt wurde, die nur enttäuscht werden konnte. Die Sozialdemokratie als Partei und die ihr verbundenen Freien Gewerkschaften wurden in der Perspektive bestärkt, dass die (nach dem traditionellen marxistischen Verständnis) »bürgerliche« Republik demnächst, in einem Qualitätssprung, sozialistisch werden könnte  ; dass die real existierende Republik nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zum endgültigen Sieg im Klassenkampf wäre. Doch dieser Sieg traf nicht ein. Und die Republik war daher auch für die Linke, die zur Verteidigung der Republik bereit war, eine Enttäuschung. Und die zweite der Staats- und Republikgründenden, verfassunggebenden Parteien, die Christlichsozialen  ? Denen war die Monarchie abhanden gekommen. Die Republik akzeptierten sie als unvermeidliches Übel, das man mehr oder weniger zähneknirschend hinzunehmen hätte. Die Partei des Ignaz Seipel war aus pragmatischen Gründen republikanisch. Die Wiederherstellung der Monarchie war nicht möglich, wie schon deren Rettung sich 1918 als nicht machbar erwiesen hatte. Ignaz Seipel stellte die innerparteilichen Weichen in Richtung Republik – wohl weil er das Chaos, das sich vor allem in Bayern und Ungarn beobachten ließ, oder gar das, was sich in Russland abspielte, zu vermeiden versuchte  ; und auch weil er zu erkennen glaubte, dass dieser Rest des alten Österreich, von den Siegermächten zur Weiterführung des Namens Österreich gezwungen, gut beraten war, nicht auf Konfrontationskurs gegenüber den Siegermächten zu gehen (Boyer 2010, 413–435). Die Christlichsoziale Partei war republikanisch aus pragmatischen Gründen  ; und sie war demokratisch auf Widerruf. Als es der Partei gelang, bei der Wahl des Nationalrates 1920 eine sozialdemokratische Hegemonie zu verhindern, nahmen die Erben Karl Luegers ohne Zögern die Rolle der Republikführung an. Sie sicherten sich – weil sie ja ebenso wenig wie die Sozialdemokratie eine absolute Mehrheit im Nationalrat zu erreichen vermochten – in einem bald »Bürgerblock« genannten Bündnis mit dem deutschnationalen Lager und dessen beiden Kleinparteien, der Großdeutschen Volkspartei und dem Land60

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bund, eine relative Hegemonie. Und sobald sich die politische Großwetterlage in Europa änderte, trat die Schwäche und die Relativität der Republik- und Demokratieverhaftung der Christlichsozialen klar hervor. Eine sozialistische Revolution drohte weder von innen noch von außen. Die revolutionäre Rhetorik der Sozialdemokratie erwies sich für alle, die sehen wollten und konnten, als Bluff, den zu instrumentalisieren die Christlichsozialen freilich nie aufgaben. Die Furcht vor einer »Bolschewisierung« Europas war durch den 1920 vor Warschau gestoppten Vormarsch der Roten Armee weitgehend gegenstandslos geworden. Wie die Beispiele Italiens und Ungarns, Polens und Jugoslawiens, Griechenlands und Finnlands, Bulgariens und Rumäniens und schließlich vor allem Deutschlands und Spaniens zeigten, wurde die pluralistische Demokratie nicht primär von links, sie war vor allem von rechts bedroht. Die Christlichsozialen begannen, diese Entwicklung als eine Veränderung eines Kräfteparallelogramms zu interpretieren. Teils bestimmt von der nie überwundenen Reserve gegenüber der demokratischen Republik, teils getrieben von einer »neuen Rechten« in Form der Heimwehren, setzten sich die Christlichsozialen allmählich vom Verfassungskonsens ab, der 1920 die Grundlage der Republik gewesen war. Ignaz Seipel begann von der »wahren« Demokratie zu sprechen und zu schreiben, in der Parteien und Parlament zurückgedrängt werden sollten – eigentlich eine Paradoxie, wenn dies von der Schlüsselfigur eines Lagers kam, das ohnehin der Machtfaktor Nummer eins im Gefüge von Parteien und Parlament war. Die Christlichsozialen und insbesondere Ignaz Seipel waren weder entschiedene Anhänger noch entschiedene Gegner von Republik und Demokratie. Ernst Karl Winter schreibt über die pragmatische Flexibilität der Partei in Grundsatzfragen, die er »scholastisch« nennt (und Seipel einen scholastischen »Staatsweisen«), es handle sich »um die pastorale Akkomodation an das jeweils vorherrschende Interesse der Epoche. Indem dieses sich selbst wandelte […], wechselte auch der scholastische Staatsweise das Objekt seiner Anpassung. Denn nicht den Staat zu gestalten, war sein Beruf und Plan, sondern nur ihn auszurichten auf eine längst vorausgegebene Gestalt« (Winter 1966, 53). Vorausgegeben, im Voraus definiert – das war eine Ordnung, die den Vorstellungen und der Doktrin der Katholischen Kirche entsprach. Dem Zeitgeist (»dem vorherrschenden Interesse der Epoche«) sich pastoral anzupassen, also die politische Taktik auf die strategischen Erwägungen der Kirche abzustellen – das war die Aufgabe christlichsozialer Politik à la Seipel. Wäre es »nur« auf die reale Machtverteilung angekommen, die Christlichsozialen hätten sich mit ihrer dominanten Rolle zufriedengeben können. Sie waren die Partei, der es – unter Einhaltung der Spielregeln einer durch die Verfassung 61

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von 1920 geformten Demokratie – ohnehin gelungen war, mit ihren kleineren Partnern, zu denen neben den deutschnationalen Parteien ab 1930 auch die Heimwehren kommen sollten, die Sozialdemokratie als großen Konkurrenten auf Distanz zu halten und die politische Macht der Linken auf die Festung des Roten Wien zu reduzieren. Den Christlichsozialen reichte letztlich doch nicht ihre Machtposition als Regierungspartei. Bald schon begannen sie sich vom Pfad der »demokratischen Konsolidierung« abzusetzen (Steiner 2004, 245–266). Die Vorstöße von Seipel in Richtung »wahre Demokratie« hatten schon 1927 begonnen, Jahre bevor der Aufstieg zunächst der deutschen, dann der österreichischen NSDAP den Christlichsozialen einen (weiteren) Grund lieferte, die Schwäche der demokratischen Republik zu beklagen, die sie doch ohnehin zu kontrollieren vermochten. Hinter diesen Vorstößen stand die Einsicht in die eigene – relative – Stärke, die der – relativen – Schwäche der Sozialdemokratie entsprach  : Die Kräfte hatten sich verschoben, zuungunsten der Linken, und das schien Seipel und den Christlichsozialen die Möglichkeit zu eröffnen, die Macht im Staat grundsätzlich neu zu verteilen. Die von Othmar Spann beeinflusste, zunächst programmatisch-ideologische Wende der Christlichsozialen weg vom Parlamentarismus und hin zum Korporatismus genannten, im Vagen stecken bleibenden berufsständischen Denken drückte die nie aufgegebenen Mentalreserven dieses Lagers aus – die Distanz gegenüber der von der Republik und ihrer Verfassung repräsentierten liberalen, westlichen, parteienstaatlichen Demokratie. Und diese Reserve gegenüber der demokratischen Republik machte die Christlichsozialen für autoritäre Tendenzen anfällig – in Verbindung mit der Schwäche der Linken nicht nur in Österreich. Spanns »Der wahre Staat« und Seipels »Die wahre Demokratie« liefen explizit (bei Spann) oder implizit (bei Seipel) auf die Aufkündigung des republikanischen Konsenses mit der Sozialdemokratie hinaus. Spann lehnte Demokratie und Liberalismus ausdrücklich ab, er sah die von ihm propagierte berufsständische Ordnung als klare Antithese zu dem, wofür die Republik stand (Spann 2013, 105–118). Seipels Kritik an der Demokratie war nicht grundsätzlicher Art  : Seipel war ja Demokrat, wenn dies dem augenblicklich herrschenden Zeitgeist, also den herrschenden Interessen einer bestimmten Epoche entsprach  ; und er wandte sich von der Demokratie ab, sobald die Interessenkonstellation eine prinzipiell andere wurde. Spann war, als Gegner der Demokratie, ein Überzeugungstäter. Seipel argumentierte auf einer anderen Ebene – auf der, die Winter »scholastisch« nannte  ; und die als Bindung an die Interessen der Kirche ebenso bezeichnet werden kann wie als ein an Opportunismus gemahnender Pragmatismus (Winter 1966, 109–146). Der politische Katholizismus hatte die Demokratie nicht als Primärwert akzeptiert – durchaus in Übereinstimmung mit der Kirchlichen Soziallehre. 62

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Weder Leo XIII. noch Pius XI. setzten sich mit Fragen demokratischer Freiheit und Pluralität auseinander. Die soziale Frage war für sie eine Frage der wirtschaftlichen, nicht der politischen Ordnung. Die Päpste hatten ja auch erfahren, dass die parlamentarische Demokratie des Königreiches Italien den Kirchenstaat zerstört hatte – und dass dieser erst durch den italienischen Faschismus in Form des Vatikanstaates wiederhergestellt worden war. Das katholisch-konservative Lager in Österreich, das sich als eine Art regionale Filiale eines weltumspannenden politischen Katholizismus verstand, stand der Demokratie und deren grundlegenden Freiheiten mit vorsichtiger Neutralität gegenüber. Und als – vor allem auch im Zusammenhang mit dem in den La­ teranverträgen besiegelten Friedensschluss mit dem faschistischen Italien – die Haltung des Papstes jedenfalls nicht als prinzipiell demokratiefreundlich interpretiert werden musste, hatten die Christlichsozialen in Österreich keinen Grund, sich als unbedingte Verteidiger der demokratischen Republik aufzuspielen. Die christlichsoziale Kritik an der demokratischen Republik begann sich zu steigern – das katholisch-konservative Lager zeigte immer klarer seine Reserviertheit gegenüber Republik und Demokratie (Diamant 1960, 92–141). Diese Bereitschaft der Christlichsozialen zur Adaption an die herrschende Zeitgeistigkeit hatte natürlich eine internationale Dimension. Um 1930 schien die Entwicklung in Europa insgesamt nicht in Richtung der Demokratie zu gehen. Insbesondere in dem geopolitischen Raum, in den die kleine Republik hineingestellt war – der Raum, der weitgehend aus den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns gebildet wurde –, bestimmten autoritäre Tendenzen die Entwicklung  : in Ungarn und in Jugoslawien, in Polen und in Rumänien. Und in Italien gab ein zunächst international weitgehend akzeptierter Diktator eine Richtung vor, die – nach Benito Mussolinis Arrangements mit der Katholischen Kirche 1929 – für eine Partei des Politischen Katholizismus eine besondere Anziehungskraft ausüben musste. Für viele, die aus dem katholisch-konservativen Lager kamen, war die demokratische Republik eine pragmatische Konzession an einen offenkundigen politischen Sachzwang, der die Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestimmte. Das, was sich im Deutschen Reich zusammenbraute, das »Neuheidentum« des Nationalsozialismus, war für den österreichischen Katholizismus zunächst noch abschreckend. Aber der italienische Faschismus schien einen Ausweg zu bieten, dem Zeitgeist der beginnenden 1930er Jahre Rechnung zu tragen und die nie wirklich voll akzeptierte demokratische Republik zu überwinden – und das noch dazu mit dem Segen der Katholischen Kirche. Die Konzepte, die Othmar Spann anbot, schienen dafür eine wissenschaftliche Grundlage zu liefern. Und der von Eric Voegelin konzipierte »autoritäre Staat« schien ein Gerüst zu bieten, auf das sich die Regierung Dollfuß einlas63

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sen konnte  : in Erfüllung einer Doppelfunktion, die dem antidemokratischen Zeitgeist ebenso entsprach wie der Notwendigkeit, sich dem immer bedrohlicheren Zugriff Hitlers entziehen zu können (Voegelin 1997). Doch das, was sich da aus Bedrängnis und Überzeugung entwickelte, reflektierte auch das kulturpolitische Vakuum, das schon 1918 entstanden war  : Österreich, so die Befindlichkeit, sei doch nicht nur das Land zwischen Neusiedler See und Bodensee  ; Österreich, das sei doch größer  ; Österreich, das stehe in der Nachfolge des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Auch für die nicht expliziten Parteigänger des Hauses Habsburg war Österreich von der Erinnerung an Karl V. und an Maria Theresia geprägt  ; an die Reaktion der Gegenreformation und an die Aktion des Josephinismus  ; Österreich, das konnte sich doch nicht auf das provinzielle Kleinklein zwischen Leoben und Linz beschränken. Das alte Österreich hatte ein Vakuum hinterlassen, das die demokratische Republik nicht auszufüllen schien. Die Kultur der Republik stand noch immer im Zeichen der Vergangenheit – auch dann, wenn sie etwa im Roten Wien sich als Oppositions­kultur verstand  ; auch dann, wenn sie – in Konkretisierung des Anti-Habsburg Affektes Georg Schönerers und Adolf Hitlers – deutscher als Deutschland zu sein versuchte  ; und erst recht dann, wenn sie wie im Staat Engelbert Dollfuß’ und Kurt Schuschniggs sich bewusst in die Nachfolge der Monarchie stellte. Wie sollten die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Maler und Bildhauer, die Architekten und Musiker, die Sängerinnen und Sänger der Staatsoper und der Salzburger Festspiele sich auch speziell dieser Republik verbunden fühlen, wenn die politisch immer weiter auseinanderdriftenden, einander immer offener bekämpfenden Gründer dieser Republik nicht klar zu machen verstanden, wofür diese demokratische Republik mit einem aus der Vergangenheit überlieferten Namen stand  ? Der Republik gelang es nicht, eine politische Kultur des Konsenses zu entwickeln  ; und der Kultur war es letztlich nicht möglich, in dieser Republik mehr zu sehen als eine Heim- und Wirkungsstätte mit Ablaufdatum.

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4 Vom Zentrum zur Peripherie

D

ie in den Pariser Vorortverträgen festgelegte Nachkriegsordnung war der Triumph des Nationalismus, der sich als Demokratie verkleidet hatte. Die Nachfolgestaaten der Monarchie – die meisten froh, dem »Völkerkerker« entkommen zu sein – bauten auf dem Konstrukt einer jeweils in einem Staat dominierenden Nation, einer Kernnation, die für sich in Anspruch nahm, andere Nationen, Nationalitäten, ethnische oder religiöse Minderheiten zwar zu tolerieren, aber nicht an der Definition zentraler Staatlichkeit teilnehmen zu lassen. In den Nachfolgestaaten, die sich als Nutznießer dieser Ordnung sahen – die Tschechoslowakei und Polen, Jugoslawien und Rumänien und Italien – wurden Minderheiten bestenfalls so behandelt wie die Nationalitäten im alten Österreich  ; schlimmstenfalls wesentlich schlechter. Die Nachfolgestaaten wurden zu verkleinerten Spielarten der Reiche, die 1918 untergegangen waren – Öster­reich-Ungarn, Russland, das Osmanische Reich ( Judson 2016, 442–452). Österreich und Ungarn freilich, die in Paris als Verliererstaaten behandelt wurden und denen kaum Gebiete gelassen worden waren, die nicht eindeutig im Sinne einer an der Sprache orientierten Begrifflichkeit deutsch oder ungarisch waren, hatten keine nationalen Minderheiten größeren Umfangs auf ihren Gebieten. Während Ungarn sich aber als traditioneller Nationalstaat mit einer (magyarischen) Kernnation zu definieren vermochte, blieb die Rolle einer solchen Kernnation – jenseits der deutschen – in Österreich unbesetzt. Der mögliche Ausweg aus dieser Situation – die Eingliederung in die Deutsche Republik – war von den Siegermächten versperrt. Und so war die Republik Österreich der einzige Nachfolgestaat des Reiches der Habsburger mit einem nationalen Vakuum. Österreich als Republik war, anders als die anderen Nachfolgestaaten, ein nationales Niemandsland  : Die Kernnation der Republik hatte ihr Zentrum außerhalb der österreichischen Landesgrenzen  ; die Kernnation Österreichs war die deutsche, und die wurde von Berlin aus regiert. Die Republik war mit einem Namen belastet, der zu Missverständnissen einladen musste. Das Österreich der Republik war nicht das Österreich der Monarchie. Dennoch hatte die Republik das andere, das große Österreich als Schatten ständig hinter sich. Und das war ja nicht nur ein semantisches Problem – zwar war die Republik ein neues, ein anderes Österreich als das Österreich der Monarchie. Aber es war der Nachfolgestaat, der die frühere Residenzstadt der Habsburger zur Hauptstadt hatte  ; es war der Nachfolgestaat, der die Herrschaft der Habsburger nicht primär als Fremdherrschaft wahr65

Vom Zentrum zur Peripherie

nahm  ; mit einem Wort  : Österreich war zwar nicht Österreich, das Österreich der Republik war – territorial, politisch – ein völlig neues Österreich. Aber kulturell, in der Wahrnehmung der im Österreich der Republik und außerhalb derselben Lebenden, war die Republik auch ein Stück Fortsetzung des alten Österreich. Und diese Kontinuität der Wahrnehmung war Belastung und Chance  ; eine Ambivalenz, die sich durch die gesamte Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert zieht (Gehler 2002). Unabhängig von dieser besonderen Situation, auch unabhängig von der in die Vergangenheit des alten Reiches weisenden Begrifflichkeit »Österreich« aber war die Republik grundsätzlich ein Nachfolgestaat unter anderen  : geprägt von den Erfahrungen eines multinationalen Reiches, das von Wien und schließlich gemeinsam von Wien und Budapest aus regiert worden war. Dieser Raum dieses früheren Reiches war Mitteleuropa, das 1918 in eine staatliche Vielfalt zerfallen war  ; und der Raum war mit dem posthabsburgischen Europa gleichzusetzen. Doch dieser Raum war nicht in der Lage, sich in seiner Gesamtheit politisch Gehör zu verschaffen. Dies war auch die Folge der Politik der Mächte, die einzelne Nachfolgestaaten zu instrumentalisieren versuchten  : Die Westmächte insgesamt, die in Polen das geopolitisch logische Bollwerk gegen die Ausbreitung des Sowjetkommunismus sahen, der ja zunächst gestützt auf die Bajonette der Roten Armee in Form einer militärischen Expansion vorzurücken schien  ; Frankreich als »Pate« der »Kleinen Entente« (Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien), die im französischen Interesse jeden deutschen und jeden ungarischen Revisionismus niederhalten sollte  ; Italien, das unter Mussolini im Donauraum eine Art »natürliche« Interessensphäre für eine expansive Großmachtpolitik sah und vor allem Österreich und Ungarn gegen Jugoslawien in Stellung zu bringen versuchte  ; und schließlich Deutschland, das ab 1933 den (vor allem ungarischen) Revisionismus zu nutzen verstand, um so seine umfassendere Strategie gegen die mit dem Vertrag von Versailles identifizierte europäische Ordnung auszuspielen. Die zukünftige Ordnung Mitteleuropas hatte im Weltkrieg in den strategischen Überlegungen des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns eine wichtige Rolle gespielt. Der Raum, definiert als Großraum zwischen einer potentiell russischen und einer ebenso potentiell deutschen Einflusszone, spielte vor allem in den geostrategischen Planungen, die von deutscher Seite für einen »Siegfrieden« angestellt wurden, eine zentrale Rolle  : als eine von Deutschland ökonomisch in Abhängigkeit gehaltene Region, die eine deutsche Hegemonie weit in den Osten und Südosten Europas hinein sichern sollte. Diese Überlegungen, mit dem Namen Friedrich Naumann verbunden, entsprachen freilich kaum der Interessenlage Österreich-Ungarns. Denn die Verwirklichung eines solchen vom Deutschen Reich abhängigen Mitteleuropa – einschließlich eines 66

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unabhängigen Polen und einer unabhängigen Ukraine – hätte auch Öster­ reich-­Ungarn zu einem faktischen Satelliten eines Europa beherrschenden Deutschen Reiches gemacht (Watson 263 f., 465–468). In teilweise analoger, aber offen schrecklicher, offen terroristischer Form nahm das Deutsche Reich diese strategische Mitteleuropa-Perspektive ab 1933 wieder auf. Und deren erstes, geopolitisch durchaus logisches Opfer sollte Österreich sein. 1918 hatte die Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns eine solche Neu- und Unterordnung Ost-Mitteleuropas verhindert. Die siegreiche Entente diktierte eine andere Ordnung – ein Neben- und potentielles Gegeneinander von Klein- und Mittelstaaten, die eine Renaissance deutscher Großmachtansprüche, eine deutsche Expansion niederhalten sollten. Dieses Mitteleuropa der Ordnung von 1918 war die Summe der Nachfolgestaaten des Reiches der Habsburger. Dieses Mitteleuropa war aber nicht in der Lage, zu einem mit einer einzigen Stimme sprechenden Faktor zu werden, der eine gemeinsame Strategie in der europäischen Politik vertreten hätte. Die Staaten Mitteleuropas waren diesbezüglich dem untergegangenen Österreich-Ungarn sehr ähnlich  : Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre interne, vor allem ethnischen Konflikte zu steuern, die von den jeweiligen Nachbarn zur Destabilisierung benutzt wurden – im Interesse eines ungarischen oder deutschen Revisionismus oder auch im Interesse italienischer Expansionsbestrebungen. Die Grenzziehung der Friedensverträge 1919 und 1920 war begleitet von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Nachfolgestaaten, und ethnische Spannungen begleiteten das 1919 und 1920 neu gestaltete Mitteleuropa ebenso wie sie die Entwicklung Österreich-Ungarns bestimmt hatten ( Judson 2016, 436–441). Die Konflikte waren für Jahrzehnte vorgezeichnet – zwischen den sich als Nationalstaaten verstehenden Nachfolgestaaten und den Minderheiten, etwa den Deutsch und Ungarisch sprechenden Minderheiten in der Tschechoslowakei und Rumänien oder den Minderheiten im italienisch-jugoslawischen Grenzgebiet, in Istrien und Dalmatien. Mitteleuropa existierte, geprägt von einer gemeinsamen Geschichte, die aber offenkundig politisch mehr trennte als sie verband. Das europäische Potential Mitteleuropas als ein Faktor der Stärkung der Demokratie nach innen und Stabilität nach außen blieb vollkommen ungenutzt  ; und auch die Republik Österreich war nicht in der Lage, dieses Potential in irgendeiner Form zu aktualisieren  : Zu sehr stand auch die Republik Österreich unter dem Verdacht restaurativer Tendenzen  ; zu sehr konnte die Politik in Prag oder Belgrad das Anti-Habsburg Ressentiment ins Spiel bringen, als dass eine österreichische Mitteleuropa-Politik Chancen auf eine reale Umsetzung gehabt hätte  ; zu sehr hatten die anderen Nachfolgestaaten in Paris 1919 auf das Klischee vom »Völkerkerker« Habsburg- Österreich gesetzt, 67

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als dass das republikanische Österreich Spielraum für eine aktive Mitteleuropa-Politik gewinnen hätte können. Österreich, die demokratische Republik, blieb in seiner unmittelbaren Umgebung isoliert – und war daher umso anfälliger für italienische und deutsche Instrumentalisierungsversuche ( Johnson 2011, 163–172, 180–186). Die von der in den Pariser Vorortverträgen konstruierte Nachkriegsordnung hatte auch eine demokratische Komponente – nicht nur ausgedrückt in dem faktisch nicht wirklich umsetzbaren »Selbstbestimmungsrecht der Völker«, sondern auch in den Schutzbestimmungen für ethnisch-nationale Minderheiten. Und 1918, 1919 begannen die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns durchwegs als Demokratien – mit freien Wahlen und einem parlamentarischen Mehrparteiensystem. Doch bald schon kam die Demokratie unter Druck  : Autoritäre Tendenzen in Italien, Polen und Ungarn, in Jugoslawien und Rumänien führten zum Ende der Demokratie oder zumindest zu erheblichen Einschränkungen der Demokratiequalität. Die Republik Österreich sah sich zunehmend von autoritären politischen Systemen umgeben, und schließlich – ab 1933 – konnten unter den Nachbarstaaten nur noch die Schweiz und die Tschechoslowakei als Demokratien gelten. Der Weg Österreichs, der Weg von der Demokratie hin zur Diktatur, entsprach einem zentraleuropäischen Trend, der auch noch im 21. Jahrhundert sich in einer allen Staaten dieses Raumes gemeinsame Schwierigkeit zur historischen Reflexion äußert (Rathkolb, Ogris 2010). Die Gesellschaft der Monarchie war vom Spannungsverhältnis zwischen den Nationalitäten und von den unterschiedlichen Zielvorstellungen der beiden »Reichshälften« gekennzeichnet gewesen  : Das Konzept eines ungarischen Nationalstaates hatte mit dem Konzept eines multinationalen Österreich koexistiert, das allen Nationalitäten grundsätzlich Gleichheit versprochen hatte, diese Gleichheit aber nicht oder kaum umzusetzen in der Lage war – wie etwa das Scheitern der auf eine Gleichstellung der deutschen und der tschechischen Sprache in Böhmen und Mähren abgestellten Sprachreform von 1897 demonstriert hatte (Watson 2014, 18–21). An die Stelle eines asymmetrischen Vielvölkerstaates mit einer versuchten, aber nicht geglückten Balance zwischen den Nationalitäten war nun die kleine Republik getreten, die als kleinster Nachfolgestaat in dieser Periode der Explosion des Nationalismus nicht über eine Kernnation definiert war. Und dieses neue, dieses republikanische Österreich, das sich als »Rest« eines großen Reiches kaum zurechtzufinden vermochte, war geplagt von den Schwierigkeiten zwischen Erinnerungen an eine vergangene Größe und Träumen von einer Zukunft, die aber offenkundig nicht die der Republik sein sollte. Die Menschen in der Republik sahen sich fast durchwegs als Deutsche. Sie waren die Angehörigen der Nationalität, die im alten Österreich mit Bezug 68

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auf ihre Sprache als deutsch eingestuft worden waren. 1910, vor Ausbruch des Krieges, waren 35,6 Prozent der Bevölkerung des Kaiserreiches (also der österreichischen Reichshälfte) statistisch als Deutsche geführt – die größte unter den sieben österreichischen Nationalitäten (Watson 2014, 16). Die Politik der Siegermächte erschwerte, ja machte es letztlich unmöglich, dass die Deutschen der Monarchie sich als Kernnation des Nachfolgestaates fühlen konnten  : Gebiete mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung wurden der Tschechoslowakei und Italien zugeschlagen, aus Gründen strategischer Kalküle. Und auch den Deutschen, die im Nachfolgesaat Österreich die überwältigende sprachlich-ethnische Mehrheit stellten, wurde das Selbstbestimmungsrecht nicht zuerkannt – das Aufgehen in das Deutsche Reich wurde untersagt. Die Republik war österreichisch, und sie war – nach dem herrschenden Selbstverständnis – auch deutsch. Diese Ambivalenz kam in den territorialen Konflikten, die auch nach Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain noch nicht geklärt waren, zum Vorschein  : Die Grenzziehung zu zwei der anderen Nachfolgestaaten war strittig – zu Jugoslawien und Ungarn. Die Existenz einer Slowenisch sprechenden Bevölkerung im Süden Kärntens begründete den Anspruch Jugoslawiens (des Königreiches der Serben, Kroaten, Slowenen) auf weite Teile Kärntens, die vom republikanischen Österreich mit dem Hinweis auf die deutschsprechende Mehrheitsbevölkerung zurückgewiesen wurde. Truppen des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen besetzten daraufhin Teile Kärntens, es kam zu Gefechten zwischen den jugoslawischen Kräften und österreichischen Milizen. Da Italien den österreichischen Widerstand gegen die jugoslawischen Gebietsansprüche unterstützte, konnte Österreich durchsetzen, dass es am 10. Oktober 1920 zu einer Volksabstimmung kam, die in dem umstrittenen Teil Unterkärntens eine Mehrheit für die Zugehörigkeit zu Österreich ergab (Stadler 1966, 121–127). Ausdruck der österreichischen Ambivalenz war, dass die Parolen, die zur Stimmabgabe für Österreich aufriefen, für ein deutsches Kärnten warben und nicht für ein österreichisches. Und das Ergebnis der Abstimmung wurde auch nicht als pro-österreichisch, es wurde als pro-deutsch interpretiert. Dass offenkundig auch ein Teil der Slowenisch sprechenden Kärntnerinnen und Kärntner für die Zugehörigkeit zu Österreich votiert hatten, wurde von der herrschenden Meinung in Kärnten und Österreich als Entscheidung »für den unbedingten Anschluss an die Deutsch-Kärntner« interpretiert (Menz, La­ louschek, Dressler 1989, 45). Der »Abwehrkampf« gegen die Gebietsansprüche des Königreiches der Serben, Kroaten, Slowenen wurde ethnisch-national definiert, in der Tradition der Nationalitätenkonflikte des alten Österreich. Es ging um deutsch gegen slowenisch, es ging nicht um Österreich, um die Republik. Der Republik, das aus Verlegenheit geborene neue Österreich, kam 69

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bei der herrschenden ethnisch-nationalen Wahrnehmung des Konfliktes kaum Bedeutung zu. Die Entscheidung des Vertrages von St. Germain, die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete Westungarns Österreich zuzusprechen, rief ungarischen Widerstand hervor. In der einzig größeren Stadt des Gebietes, in Sopron (Ödenburg), wurde – festgelegt von den Siegermächten – am 14. und 15. Dezember 1920 eine Abstimmung durchgeführt, bei der sich die Mehrheit der Bevölkerung für die (weitere) Zugehörigkeit zu Ungarn entschied (Stadler 1966, 136–141). Das übrige Westungarn wurde zum österreichischen Burgenland. In beiden plebiszitären Entscheidungen, in Westungarn und in Kärnten, spiegelten sich die nationalen Konflikte der alten Monarchie – es ging letztlich um deutsch oder slowenisch, um deutsch oder ungarisch. Österreich spielte – als nationale Selbstdefinition der Bevölkerung – wenn überhaupt dann nur eine Nebenrolle. Die Republik war von Anfang an in einem Zwiespalt – sie war nicht mehr das große, übernationale Reich  ; sie war nicht Österreich-Ungarn, und sie war auch nicht die österreichische Hälfte dieses Reiches. Sie war viel kleiner. Und der Ausweg, sich als Nationalstaat zu definieren – ein Ausweg, der allen anderen Nachfolgestaaten offen stand, war verwehrt  : Denn nach dem 1918 herrschenden Bewusstseinsstand gab es ja in Österreich eine Mehrheitsbevölkerung deutscher, nicht aber eine österreichischer Nationalität. Das Bewusstsein der Republik, der Menschen in der Republik, war von Ratlosigkeit und Widersprüchlichkeit definiert  : Die Republik war deutsch, oder doch nicht  ; und sie war österreichisch, aber auch nicht so ganz. Und das drückte sich auch und vor allem in der Kultur aus. Das kulturelle Österreich der Republik litt unter einem politisch verursachten Phantomschmerz  : Man hatte an Bedeutung entscheidend eingebüßt – und das wurde in den Jahren ab 1918 nun permanent implizit oder explizit beklagt. Was vor und während des Weltkrieges in Wien politisch diskutiert und beschlossen worden war, das war ab dem November 1918 plötzlich ohne direkte Bedeutung für die Politik in Krakau und Lemberg, in Prag und Brünn, in Triest und Laibach. Wien hatte aufgehört, das politische Zentrum Mitteleuropas zu sein. Das neue Österreich war kleiner als alle anderen Nachfolgestaaten, und auch ökonomisch konnte Wien keine Hegemonie beanspruchen – wenn auch die Zentralen der in Mitteleuropa dominanten Banken (wie die der Creditanstalt) nach wie vor in Wien angesiedelt waren (Berger 2007, 125–130). Bis zum Ausbruch der großen Wirtschaftskrise, 1929, hatte die österreichische Wirtschaft einen gewissen Aufschwung zu verzeichnen  : Die Republik investierte in die Infrastruktur – die Elektrifizierung der Eisenbahnen wurde begonnen, das Straßennetz ausgebaut, und der Tourismus hatte sich 70

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von dem Stillstand während der Kriegsjahre zu erholen begonnen. Doch die von der deutschen Regierung 1933 verhängte »Tausend-Mark-Sperre« traf den Fremdenverkehr äußerst empfindlich – ein Hinweis auf die ökonomische Abhängigkeit der Republik vom Zentrum Berlin. Die Weltwirtschaftskrise hatte auf Österreich ähnliche Auswirkungen wie in der übrigen Welt und ließ die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft steigen. Die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg versuchten mit dirigistischen Maßnahmen – die Roman Sandgruber von einer »Wirtschaftsdiktatur« schreiben lässt – die Wirtschaft anzukurbeln (Sandgruber 1995, 371–402). Wien und das, was nun Österreich hieß, waren 1918 zur Peripherie geworden. Und auch die Versuche, den letzten Kaiser von Österreich und König von Ungarn wieder auf einen Thron zu bringen und damit den alten Reichsanspruch neu zu beleben, hatten nur mit Bezug auf Ungarn, nicht aber auf Österreich einen gewissen realen Gehalt. In der österreichischen Sozialdemokratie und im deutschnationalen Lager Österreichs war die Orientierung an Berlin vorherrschend. Wenn schon der Anschluss an Deutschland von der Entente verboten war und sowohl Deutschland als auch Österreich darauf zu verzichten hatten, so war Berlin dennoch Fluchtpunkt und Zentrum einer gesamtdeutschen Orientierung, die zunächst in allen Lagern vorherrschte. Das katholisch-konservative Lager freilich verhielt sich gegenüber Berlin relativ zurückhaltend  : Deutschland war mehrheitlich ein protestantisches Land und die deutsche Sozialdemokratie hatte sich – jedenfalls bis 1930 auf der Reichsebene, bis 1932 in Preußen – eine relativ größere Machtposition gesichert als die österreichische, der ab 1920 nur im Bundesland Wien, nicht aber im Bund eine Regierungsrolle zukam. Weimar blieb – anders als für die Christlichsozialen – für die österreichische Sozialdemokratie ein, ja der Orientierungspunkt  : Deutschland, die große Republik, das demokratische Reich, in dem die Sozialdemokratie ein bestimmender Faktor war. Erst auf dem Parteitag 1933 strich die österreichische Sozialdemokratie das Ziel des »Anschlusses« an Deutschland aus ihrem Parteiprogramm – Hitlers »Machtergreifung« hatte auf die Deutschlandorientierung der österreichischen Sozialdemokratie eine unmittelbare Auswirkung (Panzenböck 1985, 187–192). 1931 schloss Österreich – vertreten durch den parteilosen, aber dem deutschnationalen Lager zugerechneten Außenminister Johannes Schober – mit dem Deutschen Reich (vertreten durch Außenminister Julius Curtius) einen Vertrag über eine Zollunion. Diese Vereinbarung, die auch als ein »Anschluss light« gedeutet werden konnte, kam unter massiven Druck vor allem von Seiten Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei. Das deshalb angerufene Haager Schiedsgericht entschied mit knapper Mehrheit, dass – im Sinne der Interpretation der Mehrheit der europäischen Regierungen – die Zollunion 71

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dem im Genfer Protokoll von 1922 genauer formulierten Verzicht Österreichs auf den Anschluss an Deutschland widerspreche. Vor diesem Schiedsspruch und der dahinter stehenden Front europäischer Mächte wichen die deutsche und die österreichische Regierung schließlich zurück – die Zollunion war tot. Das Deutsche Reich war noch nicht willens und fähig, einen Schritt in Richtung »Anschluss« zu setzen, der die Mächte provoziert hätte, mit denen ja Deutschland durch das 1925 geschlossene Locarno-Abkommen einen Modus Vivendi gefunden hatte. Für einen »Anschluss light« war die politische Konstellation Europas nicht reif (Schausberger 1978, 184–197). Einem Schritt in Richtung eines solchen »Anschlusses light« entsprach die schrittweise Angleichung der österreichischen an die deutsche Wirtschaft und die deutsche Rechtsordnung. Die Regierung des »Bürgerblocks« war auch unter dem Einfluss deutschnationaler Verbände, die – wie der Österreichisch-deutsche Volksbund und die Österreichisch-deutsche Arbeitsgemeinschaft – eine »Deutschtumspflege« betrieben, die sich zunächst auf eine unverbindliche Rhetorik beschränkte und in einer immer wiederkehrenden Deklamation der Zugehörigkeit zu Deutschland bestand (Schausberger 1978, 161–167). Der Schober-Curtius Vertrag war das Resultat der Deutschland-Orientierung des republikanischen Österreich. Dieser weitgehend für selbstverständlich gehaltene österreichische Konsens, die Zukunft der Republik in einer Annäherung an Deutschland zu suchen, spielte ab 1918 durchgehend eine bestimmende Rolle in der österreichischen Politik. Es galt offenbar, zunächst einmal abzuwarten, bis die europäische Gesamtlage Österreich weiterführende Schritte im Sinne eines »deutschen Weges« erlauben würde. Eine solche Annäherung lief aber mit innerer Logik auf ein Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich hinaus. Die Außenpolitik der Republik folgte der Orientierung am Zentrum Deutschland freilich nur vorsichtig, zögerlich. Ignaz Seipel und Johannes Schober sprachen ausdrücklich davon, dass sich Österreich in den sich verschärfenden Konflikten zwischen den am Status quo der Pariser Vorortverträge orientierten Mächten (Frankreich und die »Kleine Entente«) und den dagegen anrennenden revisionistischen Kräften (vor allem Ungarn und Italien) eine Politik der Neutralität verfolge (Hanisch 1994, 318 f.). Das Scheitern der Zollunion mit Deutschland machte deutlich, dass manche europäischen Mächte eine zu starke Fixierung Österreichs auf Deutschland mit Misstrauen verfolgten. Die Bedeutung Berlins als politisches Zentrum für die österreichische Peripherie nahm freilich in dem Augenblick zu, als eine nationalsozialistische Regierung nun den Anschluss mit neuen, gewaltbereiten Mitteln und mit abnehmender Rücksicht auf die Meinung der anderen Mächte herbeizuführen 72

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gedachte. Nun wurde Österreich in besonderer Form zur politischen Peripherie  : abhängig von den politischen Schachzügen Berlins, auf die eine österreichische Regierung zu reagieren hatte. Eine, wenn nicht die große Paradoxie österreichischer Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, dass der reale Anschluss der Anschlussorientierung ein Ende bereiten sollte. 1943 erklärte Adolf Schärf, bis 1934 Sekretär des sozialdemokratischen Parlamentsklubs, in einem Gespräch mit dem deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner  : »Der Anschluss ist tot. Die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden« (Stadler 1982, 174). 1945 musste Österreich nicht mehr von den Alliierten gezwungen werden, sich als unabhängiger Staat zu verstehen – unabhängig insbesondere von Deutschland. Der Deutschnationalismus hatte in Österreich im falschen Kleid gesiegt  : nicht in Form eines freien Beitritts zur demokratisch verfassten Weimarer Republik, sondern in Gestalt einer militärischen Okkupation und einer Annexion an einen totalitären Führerstaat. Dieser real erlebte Anschluss bedeutete das Ende des Traumes vom Anschluss. Deutschland hatte in den Jahren der NS-Diktatur seine Rolle als politisches Zentrum überspielt. Österreich, ab 1918 grundsätzlich bereit, sich der deutschen Hegemonie unterzuordnen, wurde 1938 und den sieben Jahren danach abgestoßen – durch zu viel Herrschaftslust, zu viel Repression und vor allem an einem Zuviel an Expansionspolitik, deren (auch selbst)zerstörerische Züge schon von Anfang an zu erkennen waren. Österreich hatte zu viel an deutscher Herrschaft erfahren. Doch das wurde erst deutlich, als – wiederum unter dem Einfluss von Siegermächten, wiederum konkretisiert von den Staat und Republik gründenden Parteien – Österreich 1945 aus freien Stücken seine Unabhängigkeit erklärte. Der deutsche Weg hatte Österreich zu Österreich geführt. Freilich  : Die Distanz zum Anschlussgedanken muss auch in Verbindung mit den geopolitischen Entwicklungen gesehen werden. Am 1. November 1943 hatten die UdSSR, die USA und das Vereinigte Königreich die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich in den Grenzen von 1937 als Kriegsziel fixiert. Diese »Moskauer Deklaration« kam zu einer Zeit, in der das Kriegsgeschehen bereits begonnen hatte, sich gegen Deutschland zu wenden  : Die Schlachten von Stalingrad und El Alamein, die Landung der Alliierten in Nordafrika und in Italien und der Sturz Mussolinis mussten als Signale dafür gesehen werden, dass der NS-Staat einer vernichtenden militärischen Niederlage entgegenging. Für Österreich – für das österreichische Exil wie auch für die in Österreich Lebenden, insbesondere die mit den Strukturen der Ersten Republik Verbundenen – wurde deutlich, dass es um die Zukunft des Landes besser bestellt wäre, wenn es in der bevorstehenden Katastrophe sich nicht als Teil Deutschlands wiederfände. Das nun gerade auch bei den Sozialdemokra73

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ten wachsende Bewusstsein österreichischer nationaler Eigenständigkeit war auch die Folge einer nüchternen Kosten-Nutzen-Analyse. Die Vertreter des Konzeptes einer österreichischen Nation – vor 1938 entweder isoliert im katholisch-konservativen Lager wie Ernst Karl Winter oder aber in der kleinen Kommunistischen Partei – konnten sich bestätigt sehen, weil das Aufgehen Österreichs in einem großen Deutschland ja real erlebt und negativ erfahren worden war (Kreissler 1984, 115–156, 219–248). Das freilich konnte in den Jahren der Ersten Republik so nicht vorhergesehen werden. Das alte Reich war 1918 untergegangen. Und vielen schien ein neues Reich, das der demokratischen Weimarer Republik, ein legitimer Ausweg aus dem scheinbaren, anscheinenden Mangel jeder Perspektive für die Zukunft der kleinen Republik. Berlin (und damit Deutschland) hatte zunächst auch als kulturelles Zentrum dem zur Peripherie gewordenen Österreich seinen Stempel aufgedrückt. Vor allem als Theaterstadt wurde Berlin auch für das Österreich der Ersten Republik tonangebend. Max Reinhardt, in Niederösterreich geboren, hatte in den 1920er Jahren in Berlin ein »Theaterimperium« aufgebaut. Am Wiener Burgtheater hatten sich zuvor Verhandlungen zerschlagen, ihn dauerhaft als Regisseur zu binden – auch im Zusammenhang mit Gegensätzen zwischen Reinhardt und Anton Wildgans, dem damaligen Direktor des Theaters (Mi­ koletzky 2015, 749–751). Zur gleichen Zeit wurde Reinhardt, gemeinsam mit Hugo Hofmannsthal, zur entscheidenden Triebfeder, die den Salzburger Festspielen Weltgeltung zu verschaffen vermochte. 1933 hatte er – wegen seiner jüdischen Herkunft – in Deutschland keinen Platz mehr. Einige Jahre wurde Wien (neben Salzburg) zu der Stadt, deren Theaterlandschaft Reinhardt prägen sollte, bevor er Österreich in Richtung USA verließ oder – besser – verlassen musste. Österreichs Kultur wurde als Teil der deutschen Kultur gesehen – jedenfalls zwischen 1918 und 1933. Und als gerade die Kulturpolitik der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg ihr Österreich als eine Art »besseres Deutschland« darzustellen versuchten, war das »Deutsche« der österreichischen Kultur erst recht allgegenwärtig – als Anspruch, dem eine schwer zu definierende, äußerst vage Realität entsprach. Das Verständnis vom deutschen Charakter der Kultur der kleinen Republik und des »Ständestaates« war vollkommen in Übereinstimmung mit der Begrifflichkeit der Jahrzehnte vor 1918  : Österreich war ja keine Nation, keine Nationalität gewesen. Österreich war ein übernationaler Schirm, unter dem national, das hieß sprachlich definierte Kulturen zusammenfinden, sich zusammenstreiten oder sich auch voneinander separieren konnten. Der sich zunächst »Deutsch-Österreich« nennende »Rest« sah sich als ein zweiter deutscher Staat, dessen Deutschtum sich gerade im deutschen Cha74

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rakter seiner Kultur zu beweisen hatte. Was immer auch unter dem deutschen Charakter von Österreichs Kultur verstanden wurde – die Folge war eine wohl nach 1918 unvermeidliche Fokussierung auf die Kultur im »Reich«, wie dies auch in der Karriere Max Reinhardts zum Ausdruck kam, auf ein Zentrum jenseits der österreichischen Grenzen. Eine freilich bloß halbherzig betriebene Konkurrenz zwischen der österreichischen und der deutschen Kultur – besser  : zwischen dem sich nach wie vor deutsch verstehenden österreichischen und dem deutschen Kulturbetrieb – kam erst auf, als der NS-Staat die Kultur ihrer Freiheit beraubte. Die Wiener Staatsoper und die Wiener Theater boten nun den aus Deutschland verbannten Dirigenten (wie Bruno Walter), Regisseuren (wie Max Reinhardt) und Schriftstellern (wie Carl Zuckmayer) ein Betätigungsfeld. Ein solches wurde allerdings mit großer politischer Vorsicht eingeräumt  : Der »Ständestaat« hatte keinerlei Interessen, der Kultur der politisch Linken eine Heimstatt zu offerieren – Bert Brecht passte ganz einfach nicht in das katholisch-autoritäre System. Und die spezifische Art von Appeasement, die Österreich insbesondere nach dem Juli-Abkommen von 1936 gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland betrieb, ließ auch wenig Raum für kulturelle Akzente, die dem Hitler-Regime als Provokation erscheinen mussten. Berlin, nicht Wien stand im Zentrum österreichischer Kultur  : bis 1933 als primärer Anziehungspunkt und nach 1933 als ein nur teilweise eingestandenes »Defining Other«  : das Deutschtum, von dem sich das des zweiten, des besseren deutschen Staates abzuheben hatte. Kurt Schuschniggs programmatischer Versuch, kurz vor dem Ende in »Dreimal Österreich« diesem dem Abgrund entgegentaumelnden Gebilde namens Österreich Sinn und Zukunft zuzuschreiben (Schuschnigg 1937), war die Quadratur eines Kreises. Mit der Zerstörung der Republik und ihrer demokratischen Verfassung, mit der gewaltsamen Ausschaltung der Sozialdemokratie hatte dieses Österreich keine Basis, die stark genug gewesen wäre, dem Ansturm standzuhalten. Die Zukunft Österreichs wurde nicht vom autoritären Diktator in Wien, sondern vom totalitären Diktator bestimmt, der aus Wien kommend über München und Berlin wieder nach Wien zurückkehren würde. Und dieser musste zunächst, bis zum März 1938, auf bestimmte Faktoren Rücksicht nehmen – auf die Haltung Italiens etwa oder auf die Reaktionen in Paris und London. Was in Wien bis zu den Tagen des März 1938 geschah, das war für den Ablauf der Ereignisse letztlich ohne entscheidende, ja ohne größere Bedeutung. Die verzweifelten Versuche von Dollfuß und Schuschnigg, dieses postdemokratische, dieses postrepublikanische Österreich mit Berufung auf eine christliche Mission als den besseren deutschen Staat zu definieren und sich damit von Berlin abzugrenzen, führten ins Nichts. 75

Vom Zentrum zur Peripherie

Österreich, Mitglied des Völkerbundes, konnte 1938 auf der internationalen Bühne nicht auf die Solidarität hoffen, die es dem Völkerbundmitglied Abessinien 1936 gegen die italienische Aggression, gegen den italienischen Angriffskrieg, gegen die Eroberung und Annexion des afrikanischen Kaiserreiches verweigert hatte – die unbedingte Orientierung Dollfuß’ und Schuschniggs an Italien hatte ihren Preis, der 1938 deutlich werden sollte (Binder 2013). Und Bruno Walter, Carl Zuckmayer, Max Reinhardt und die anderen, die diese ihre Kultur – die ihnen im Deutschen Reich auszuüben nicht mehr erlaubt war – in Österreich hochgehalten hatten, mussten sich nun abermals auf die Flucht machen. Das Österreich Schuschniggs, das ihnen Zuflucht geboten hatte, konnte sie nicht mehr schützen. Felix Kreissler sieht die Nationswerdung Österreichs, die ja eine Emanzipation von einer wahrgenommenen deutschen Identität und damit auch eine Emanzipation von Österreichs Peripherierolle war, als einen Lernprozess. Der war schon angelegt vor 1938 – die Jahre zwischen 1938 und 1945 waren aber der entscheidende Schub, der den Prozess beschleunigte. Die Auflösung der Monarchie als Ergebnis des Ersten Weltkriegs hatte geopolitische Voraussetzungen geschaffen, die das Österreich der Republik in eine zunächst kaum reflektierte Identitätskrise gebracht hatten. Die 1918 logisch wirkende Konsequenz der Republikgründung – der Anschluss – wurde von den Siegermächten verhindert, die Republik war gezwungen, sich zwischen einer nicht mehr wiederholbaren Vergangenheit und einer nicht machbaren Zukunft selbst zu bewähren. Öster­reich war Peripherie – jedenfalls kein Zentrum mehr. Diese Zwischenlage Zwischenösterreichs endete in einer Katastrophe. Aber eben diese Erfahrungen mit der Zugehörigkeit zu einer totalitären Diktatur, die den Namen Deutschland trug, war der wohl entscheidende Katalysator, um den Lernprozess der Ablösung einer österreichischen von einer deutschen Identität und damit auch von einem deutschen Zentrum voranzutreiben. Dieser Lernprozess sollte dann die Zweite Republik prägen (Kreissler 1984, 524–536  ; Haller 1996).

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5 Die Flucht aus der Republik

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ie Republik fand zum Zeitpunkt ihrer Gründung bereits die ­Bruchlinien vor, die ihre Entwicklung entscheidend bestimmen und vor allem auch behindern sollten  ; Bruchlinien – cleavages, die schon vor 1918 und erst recht danach aktuell waren  ; cleavages, verstanden als politisch-gesellschaftliche Gräben, Erdbebenlinien gleich, von denen eine Gesellschaft durchzogen ist. Entlang dieser Linien müssen nicht, es können aber vehemente Konflikte ausbrechen. Entlang dieser Linien muss damit gerechnet werden, dass ein gesellschaftlich vorhandener, politisch messbarer Gegensatz sich explosionsartig Bahn bricht. Unter den Rahmenbedingungen eines liberalen, eines demokratischen Mehrparteiensystems führen diese Bruchlinien zur Entstehung politischer Parteien als Versuch eines friedlichen Umgangs miteinander (Rokkan 2000, 332–412). Diese Konfliktlinien waren auch verantwortlich für das dominante FreundFeind-Denken, das die Republik beherrschte. Zwischen dem »Richtig«, dem »Wahr« der eigenen Position und dem »Falsch«, dem »Unwahr« der anderen Seite gab es kaum reale Möglichkeiten, die Politik in den Schattierungen der Farbe Grau zu sehen – alles war entweder Weiß oder es war Schwarz. Diese Konfliktlinien waren  : Religion (Politischer Katholizismus)  : Der in der Gesellschaft allein schon quantitativ gegebene faktische Vorrang der Römisch-Katholischen Kirche, der die große Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher angehörte, rieb sich vor und nach 1918 mit den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit des Staatsgrundgesetzes – mit dem Säkularismus. Auch im Alltag gab es Spannungen gegenüber den verbrieften Rechten der (anderen) staatlich anerkannten Religionsgesellschaften und gegenüber den konfessionell Ungebundenen. Das Nachwirken der Gegenreformation und die deutschnationale, schließlich auch nationalsozialistische Affinität weiter Teile des österreichischen Protestantismus (Pauley 1981, 23, 96) verstärkten überdies die Trennlinie zwischen Katholizismus und anderen christlichen Konfessionen. Die Christlichsoziale Partei und ihre faktische Nachfolgeorganisation, die Vaterländische Front, verstanden sich ausdrücklich als Instrumente, die der Soziallehre der Katholischen Kirche zum Durchbruch zu helfen hatten. Das katholisch-konservative Lager sah sich als der politische Arm der Römisch-Katholischen Kirche. Die gesellschaftlich ein- und ausschließende Positionierung der Christlichsozialen war deutlich. Im Parteiprogramm der Wiener Christlichsozialen von 1919 hieß es etwa  : »Für die Ehen der Katholiken sollen die Grundsätze 77

Die Flucht aus der Republik

des kirchlichen Rechts auch vom Staat anerkannt werden« (Berchtold 1967, 365). Damit hatten die Christlichsozialen programmatisch das vorweggenommen, was der Politik des Vatikans entsprach und auch im Konkordat von 1933 Aufnahme finden sollte  : In entscheidenden Fragen der Gesellschaft hatten die Normen der Kirche, so die Christlichsozialen, Vorrang vor den Normen des Staates. Und im »Linzer Programm der christlichen Arbeiter Österreichs« von 1923 wird ein religiöses Bekenntnis formuliert, das in der Präambel der Verfassung des »Ständestaates« vom 1. Mai 1934 (»Im Namen Gottes, des Allmächtigen«) wiederkehren sollte  : 1923 hieß es, einem Gebot des Dekalog gleich  : »Es ist ein Gott  ; ihm ist jeder Mensch verantwortlich  ; er ist der Schöpfer aller Gesetzmäßigkeit« (Berchtold 1967, 372). Eine solche programmatische Festlegung machte es Personen, die sich anders als katholisch (oder zumindest »christlich«) verstanden, letztlich unmöglich, sich einem solchen Lager zuzuordnen. Mit der religiösen Neutralität der demokratischen Republik waren solche Bekenntnisse zwar grundsätzlich vereinbar, sie zogen aber eine Art ideologischen »Eisernen Vorhang« zwischen einem Teil der Gesellschaft, einem Milieu, einem Lager, und der übrigen Gesellschaft. Klasse (Sozialdemokratie)  : Das Proletariat, in seiner großen Mehrheit, stand fest hinter der Sozialdemokratie – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und den Freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften. Die »Arbeiterklasse« wurde vom sozialistischen Lager nicht nur in den verschiedensten sozialen Facetten (von der Weiterbildung bis zum Sport) organisiert, sondern auch mit einer quasi-religiösen Weltanschauung ideologisch versorgt. Das marxistische Gesellschaftsverständnis schien auf alles Antworten zu bieten – von der Frage der Beziehung zwischen den Geschlechtern bis zur Rolle von organisierter Kirchlichkeit. Karl Seitz’ Feststellung in der Sitzung des Nationalrates vom Oktober 1932, Demokratie sei der Weg, Sozialismus das Ziel, unterstrich die geradezu eschatologische Begrifflichkeit, von der die Ideologiebildung der Sozialdemokratie bestimmt wurde  : Aus dem Konflikt der Klassen führte ein eindeutig vorgegebener Weg in die Konfliktfreiheit einer klassenlosen Gesellschaft (Hanisch 2011, 279). Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gab sich 1926 ein umfassendes Programm (»Linzer Programm«), das nach innen hin die verschiedenen in der Partei vertretenen Positionen versöhnen sollte – und eben deshalb in Kauf nahm, nach außen hin Barrieren aufzuziehen. Die gesamte Sprache des Programms entsprach der eines innermarxistischen Diskussionszirkels – etwa  : »Den gegenwärtigen Völkerbund betrachtet die Sozialdemokratie als einen Kampfboden des Klassenkampfes« (Berchtold 1967, 264). Das Bekenntnis zum evolutionären, zum demokratischen und parlamentarischen Weg verschlüsselte die Partei in 78

Die Flucht aus der Republik

ihrem Programm in einer Form, die zu Missverständnissen einlud, ja zu solchen einladen musste  : »Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben […]. Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen« (Berchtold 1967, 253). Demokratie – gedacht für die Periode des Schönwetters  ? Diktatur – für die schlechteren Zeiten  ? Das »Linzer Programm« weist die Sozialdemokratie als Vertreterin eines relativen Demokratieverständnisses aus. Die Sozialdemokratie bekannte sich zur Demokratie – aber offenkundig nur, solange sie nicht zum Beispiel eine »Unterbindung des Wirtschaftslebens« festzustellen hätte. Dann kann, darf, ja muss sie zur Diktatur schreiten. Eine vertrauensbildende Rhetorik war das gerade nicht. Die Republik, die sollte – so das Programm – verteidigt werden. Aber die Aufgabe des Heeres war sehr eng und eindeutig definiert  : »Erhaltung eines Heeres, das stark genug ist, jede gegenrevolutionäre Erhebung niederzuwerfen« (Berchtold 1967, 254). Da war sie wieder, die verbale Rhetorik  : Die Republik wurde als Produkt einer Revolution (und nicht eines demokratischen Kompromisses) definiert – nur so ist ja die Fixierung nicht auf einen antidemokratischen, antirepublikanischen Staatsstreich oder Putsch, sondern auf eine »Gegenrevolution« zu verstehen. Die Republik als revolutionäre Festung – das war natürlich keine überzeugende Einladung an die, die vielleicht für die Sozialdemokratie zu gewinnen gewesen wären, an eine – vielleicht – vorhandene politische Mitte. Nationale Identität (Deutschnationalismus)  : In historischer Verbindung mit den Konflikten der Nationalitäten in der Monarchie wurde das (deutsche) Volk als Quelle politischer Legitimation gesehen. »Völkisches« Denken, das die Nation nicht als etwas gesellschaftlich Gewachsenes, politisch Konstruiertes und kulturell Definiertes und daher auch nicht als historisch wandelbar sah, prägte einen Nationalismus, der mit innerer Konsequenz auf die Aufhebung österreichischer Unabhängigkeit hinauslief – und auf die Ausgrenzung aller, die in diesem als »natürlich« vorgegebenen Volk keinen Platz zu haben schienen. Es war ein sich auf die Tradition Herders berufendes Denken, das Volk und Nation als unveränderbar, als Teil der Natur sieht – und nicht der Kultur  : So war der dogmatische Nationalismus der österreichischen Deutschnationalen begründet, der sich unter dem Einfluss des Nationalsozialismus immer weiter zu einem rassistischen Furor steigerte (Anderson 2006, 67 f.). 79

Die Flucht aus der Republik

In ihrem »Salzburger Programm« von 1920 ging die Großdeutsche Volkspartei vom zentralen Gedanken der »Volksgemeinschaft« aus. Schon im ersten Satz wird klar, was gemeint ist  : »Im unerschütterlichen Glauben an die unzerstörbare Kraft des deutschen Volkes […]« (Berchtold 1967, 439). »Deutsch«, »unerschütterlich«, »unzerstörbar«  : Eine Gründungspartei der Republik Österreich demonstrierte hier ihren quasi-religiösen Glauben an ein Volk, dessen politisches Zentrum außerhalb der Grenzen der Republik war. Damit war der Grundakkord des österreichischen Deutschnationalismus formuliert, und dieser Grundakkord wurde zu einer Attacke auf einen Hauptfeind weitergeführt  : »Der innere Zusammenhalt des deutschen Volkes wurde schon im Zeitalter des Liberalismus in verhängnisvoller Weise gelockert« (Berchtold 1967, 439). Der Liberalismus war der deklarierte Feind des Deutschnationalismus. Die groben antijüdischen Bemerkungen, die sich freilich auch in der Programmatik der Christlichsozialen finden, führen in dem ungewöhnlich langen programmatischen Papier zu einem aussagestarken Finale  : »Die vollendete Verwirklichung der Volksgemeinschaft würde das Ende der jüdischen Herrschaft bedeuten« (Berchtold 1967, 482). »Jüdische Herrschaft« – was war damit gemeint  ? Das war nicht näher definiert, das ließ alles offen – und war so eine Aufforderung zu einer antijüdischen Pogromstimmung. Dass der konkrete Anschluss an das Deutsche Reich nicht im Zentrum dieses Bekenntnisses steht, mag wohl damit zusammenhängen, dass die Weimarer Republik des Jahres 1920 der Großdeutschen Volkspartei noch weniger attraktiv als die Republik Österreich erschienen sein mag  : noch deutlicher unter »jüdischer Herrschaft« als die Republik, innerhalb der die Großdeutschen ja gerade an der Formulierung einer Verfassung arbeiteten. Mit den Grundsätzen dieser Verfassung war die manische Fixierung auf einen ohne empirische Begründung konstruierten Kampf für die »Volksgemeinschaft« gegen die »Juden« (die ganz offenkundig nicht zum Volk gehörten) und deren Herrschaft sicherlich nicht vereinbar. Religion, Klasse, Nation  : Entlang dieser Bruchlinien hatten sich schon vor Gründung der Republik die Lager entwickelt, denen politische Parteien entsprachen. Dass die Republik von diesen Lagern gegründet wurde, bedeutete auch, dass sie über explosive, als »Weltanschauung« definierte Differenzen hinweg bestehen musste – und dies schließlich nicht mehr schaffte. Die Republik brauchte, um überhaupt existieren zu können, die Fähigkeit der Lager, also der Parteien, auf die Umsetzung wesentlicher Teile ihrer programmatischen Ziele (ihrer »Weltanschauung«) zu verzichten, um auch den jeweils anderen die Möglichkeit zur Identifizierung mit der Republik und zur Beteiligung an der Republik zu geben. Im Laufe des insgesamt ohnehin nur kurzen Lebens der (Ersten) Republik nahmen Bereitschaft und Fähigkeit der weltanschaulich verfestigten Lager ab, sich in die Lage, in die Positionen der jeweils anderen Seite 80

Die Flucht aus der Republik

hineinzuversetzen und diese zu respektieren. Die Republik, aus Vernunftgründen – mangels umsetzbarer Alternativen – 1918, 1919 und 1920 im Konsens errichtet, wurde immer mehr als Kampf- und Konfliktfeld gesehen, auf dem sich weltanschauliche Gegner quasi-religiöse, politische Gefechte lieferten, die letztlich in der Überwindung, in der Zerstörung eben dieser Republik endeten. Die politisch-weltanschaulichen Lager und die ihnen entsprechenden Parteien schotteten sich voneinander ab. Sie wurden zu Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft, sie entwickelten sich zu Subgesellschaften. Sie stärkten die eigene Identität durch eine ständig betonte Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen Lager. Politische Bewusstseinsbildung fand primär innerhalb der Lager statt, politisches Handeln wurde vor allem als Handeln im Namen der eigenen Partei verstanden – und gegen die anderen Parteien. Das verstärkte die Bindung an die eigene Partei, das eigene Lager, und das vertiefte die Gräben gegenüber den anderen. Und diese Hegemonie einer Lagerkultur (bzw. der verschiedenen, einander in Feindschaft gegenüberstehenden Lagerkulturen) vertiefte – in Form einer Freund-Feind-Wahrnehmungsspirale – die Bruchlinien in der Gesellschaft. Jedes politisch wirksame »Wir«-Gefühl in der Republik bezog sich primär auf das eigene Lager – und kaum auf die Republik, kaum auf Österreich insgesamt, und auch nicht auf die Demokratie. Die politischen Kräfte sahen die demokratische Republik nur eingeschränkt – wenn überhaupt – als eine positive Errungenschaft, als historischen Erfolg. Die Republik, die war auch nicht die Sache, mit der sich die dominanten Stimmen der österreichischen Kultur ab 1918 auseinandersetzten. Zu unsicher, zu neu war dieses Gebilde, das sich Österreich nannte, ja nennen musste, in semantischer Übereinstimmung mit einem Kaiserreich, das sich einmal von Czernowitz bis Triest erstreckt hatte – und nicht nur vom Bodensee bis zum Neusiedler See. Zu unsicher, zu ungewiss war auch die Zukunft dieser Republik, die ja doch nichts anderes war als der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die entscheidenden politischen Kräfte zwischen 1918 und 1920 hatten verständigen können. Und zu wenig glich dieser aufgezwungene Kompromiss den hehren Idealen, den Utopien und Visionen, den Phantasien, die von den Ersatzkirchen entwickelt und gepflegt worden waren, die 1918 als Staatsgründende und verfassunggebende Parteien agiert hatten  ; von den Parteien, die bis 1918 ja nur eine Art Reserveautorität in dem davor von einer nur dem Kaiser verantwortlichen Regierung gelenkten Reich gewesen waren Diese quasi-religiösen Ideale, die konnten nicht umgesetzt werden – jedenfalls nicht im Rahmen einer Republik, die auf den Prinzipien individueller Grundrechte und parlamentarischen Regierens aufgebaut war. Die Utopien, die waren dazu verurteilt, weiterhin fernab realer Umsetzung in Programmen liturgisch beschworen zu werden. Die Phantasien, die dienten letztlich nur 81

Die Flucht aus der Republik

dazu, von einer grauen Wirklichkeit abzulenken – von einer Wirklichkeit, die nicht schwarz-gelb und nicht rot und nicht schwarz-weiß-rot war. Diese graue Wirklichkeit, die sich rot-weiß-rot kleidete, befriedigte keine der politischen Kulturen der drei Lager, der Subsysteme, und sie wurde auch nicht Trägerin einer alle die Lager verbindenden Politischen Kultur. Die Realität der zentrifugalen Demokratie bestand aus voneinander streng oder zumindest deutlich getrennten Lagern, die in den anderen Lagern die Schuldigen für alles denkbare Übel sahen, und zwar auch ethisch-moralisch Schuldige, die böswillig die Umsetzung der eigenen Ideale verhinderten. Doch partiell konnten die Lager ihre Ziele sehr wohl umsetzen  : die Sozialdemokratie in Wien, in einem der neun Länder, aus denen die Republik bestand  ; durchaus im Einklang mit der Republik, die ihren Ländern ja Autonomie einräumte. Das katholisch-konservative Lager erhielt seine Chance 1934, als es – nach dem militärischen Sieg über die Sozialdemokratie – ihren Wunschstaat ausrufen konnte, »Im Namen Gottes, des Allmächtigen«. Und die Deutschnationalen erreichten ihr Ziel in seiner Gesamtheit  : die Brechung der »jüdischen Herrschaft« durch eine Volksgemeinschaft, die in den Tagen des März 1938 ihrem Erlöser zujubelte. Die Lager waren in der von ihnen geschaffenen Republik nur bedingt zuhause. Sie waren auf der Flucht in ganz offenkundig irreale Welten. Die österreichische Kultur, die jenseits der Lagergrenzen und der Lagermentalitäten erfolgreich war, und zwar in Europa und in der Welt, war eine Kultur, deren Verhaltensmuster gegenüber der Republik ebenfalls ein Ignorieren, ebenfalls eine Flucht war. Mit der Republik, mit der wusste diese Kultur wenig anzufangen. Die Wissenschaft in Form der Sozialwissenschaften beschäftigte sich – etwa in der Studie über die Arbeitslosen von Marienthal – sehr wohl mit der Realität der Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der damit verbundenen Verelendung. Doch diese Wirklichkeit war keine spezifisch österreichische  ; keine, die mit der Existenz der Republik Österreich ursächlich in Verbindung gebracht werden konnte. Dort, wo es um Österreich ging, und das war vor allem in der Literatur der Fall, wurde die Republik zumeist ausgeblendet. Vor der Republik, vor der ergriff die Kultur die Flucht – mit wenigen Ausnahmen, zu denen vor allem Karl Kraus zählte. Der kulturelle, der theoretische Überbau und die literarisch umgesetzten Fluchtreflexe entsprachen durchaus der Tendenz der auf dem Tisch liegenden politischen Programme  : Die Republik, die wurde nicht ernst genommen. Die Lager hatten sich in ihre Subgesellschaften eingegraben und predigten immer wieder dieselben Worthülsen ein- und demselben Publikum  : dem Publikum der ohnehin Überzeugten. Die einen predigten von der klassenlosen Gesellschaft, die Zweiten von einem »wahren«, einem christlichen (katholi82

Die Flucht in das Gestern

schen) Staat und die Dritten von einer Volksgemeinschaft, die sich durch den Ausschluss (die Vertreibung  ?) der Juden verwirklichen sollte. Untereinander kommunizierten die Lager kaum  : Sie saßen in ihren Festungen, ihren Burgen und hatten die Brücken hochgezogen. Draußen, vor den Mauern der Festung, war Feindesland. Dass da draußen auch die demokratische Republik wartete, die eine Einladung zum friedlichen Wettbewerb um die Stimmen von nicht fest gebundenen Wählerinnen und Wählern war – das konnten die von einem militanten Verständnis der Politik geprägten Lager nicht erkennen. Die demokratische Republik, auf deren Glatteis wollten diese Träger festgefahrener, quasi-religiöser Überzeugungen sich nicht vorwagen.

5.1 Die Flucht in das Gestern Kein anderer Schriftsteller Österreichs schien mehr unter dem Ende des alten Österreich zu leiden als Joseph Roth. Er, 1894 als Sohn jüdischer Eltern im österreichischen Galizien geboren, stammte aus einem alles andere als privilegierten Milieu. Er sprach – indirekt – für das (alt)österreichische »Ostjudentum«. Er sprach, ebenfalls indirekt, aber auch für alle diejenigen, die für »Kaiser und Vaterland« eingetreten waren und in den Jahren der Republik an dieser Vergangenheit keinen Makel erkennen wollten und konnten. Roth repräsentierte als Person und als Dichter das, was vor 1918 war, was als politisches Design existierte – und was daraus hätte werden können  : eine multinationale, eine supranationale Föderation  ; ein Modell für ein multinationales, für ein supranationales Europa. Seine Erfahrungen als junger Offizier im Ersten Weltkrieg schlugen sich in den Romanen Radetzkymarsch und Die Kapuziner­ gruft nieder, in der großartigen, vielschichtigen Geschichte der Familie von Trotta, von slowenischen Bauern abstammend – und fast durch Zufall, aber auch in Konsequenz ihrer Loyalität dem Hause Habsburg gegenüber zum Beamten- und Offiziersadel aufgestiegen. Mit dem alten Österreich war für Roth eine Welt untergegangen, ohne dass er eine neue wahrnehmen konnte oder wollte. Die einzige politische Hoffnung, an der sich der alkoholkranke Roth vor seinem Tod im Exil, in einem Pariser Armenspital klammerte, hieß Habsburg. Die Welt nach 1918 war Roths Welt nicht  ; und schon gar nicht war es die kleine Republik, die den Namen des großen Reiches zu tragen gezwungen war. Roth blieb eingetaucht in seine Welt von gestern. Mit Zweig, dem anderen österreichischen Dichter, dessen Welt die von gestern war, stand Roth in regem Kontakt. Zweig unterstützte den verarmten Roth auch finanziell. Beide waren keineswegs nur Nostalgiker des 1918 83

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untergegangenen Österreich. Beide beobachteten Hitlers Aufstieg zunächst mit Sorge, dann mit wachsendem Entsetzen. Und Roth nahm auch am Untergang des republikanischen Österreich Anteil – aber kaum im Sinne einer Parteinahme. Am 18. Februar 1934 schrieb er an Zweig, aus Paris, durchaus in analytischer Klarheit über die Kämpfe in Österreich und die Niederlage der Sozialdemokratie  : »Eine gute Parteipolitik lässt sich nicht zu einer Stunde provozieren, in der sie keine Macht mehr hat. Auch ein Kind konnte sich ausrechnen, dass die Sozialdemokraten auf diese Weise untergehen müssten« (Roth, Zweig 2014, 148). Roth hatte keineswegs das Schicksal der Republik ausgeblendet. Doch Roths literarisches Schaffen wie auch das Stefan Zweigs beschäftigte sich mit vielem, auch direkt und indirekt Politischem – aber nicht mit der Republik. Es war die Vergangenheit, die sie als Literaten interessierte – Roth vor allem, ja fast ausschließlich die dem Untergang entgegenschwankende Monarchie. Zweig war da mehr der Kosmopolit – sein Interesse, seine Romane galten der Geschichte Europas. Und länger als Roth verschloss er sich einer, seiner spezifischen Betroffenheit durch die 1933 an die Macht gekommene regierungsoffizielle Politik der Judenverfolgung (Roth, Zweig 2014, 604–607). Hugo Hofmannsthals Welt war auch die von gestern. Aber anders als Roth konnte er die Welt und das Österreich auch nach 1918 reflektieren. Er, der im Rosenkavalier das Wien des Rokoko so meisterhaft gezeichnet hatte  ; er, der in Der Unbestechliche die Klassenschranken des Österreich vor 1914 mit auffallender Kritiklosigkeit beschrieben hatte  ; er trauerte um die 1918 untergegangene Welt in seinem Stück Der Schwierige  : mit feiner Ironie und voll von Distanz zu der neuen Welt der Republik. Hofmannsthal hatte, ebenso wenig wie Roth, nie wirklich die Republik als die Seine, als sein Österreich akzeptiert. Aber er kritisierte im Schwierigen immerhin aus seiner Sicht das Ungenügen der Republik. In seinem literarischen Werk fiel Roth, anders als Hofmannsthal, zur Republik nichts ein. Er beobachtete deren Abstieg, ohne dies literarisch zum Ausdruck zu bringen. Franz Werfel hatte die Arbeit an seinem Roman Der veruntreute Himmel 1939 im Exil begonnen. Die Geschichte ist die eines Rückblicks auf Österreich, eine Welt, auf eine Ordnung, die verloren war  ; und auf eine Welt, die – Hofmannsthals Unbestechlichem ähnlich – von einer klar vorgegebenen, von den Beteiligten als selbstverständlich akzeptierten sozialen Hierarchie geprägt ist  : Das Pendant zu Hofmannsthals Diener »Anton« ist Werfels Köchin »Tina«. Dass die beiden mit großer Sympathie gezeichneten Dienstboten auch noch »böhmakeln«, unterstreicht die ethnisch-sprachlich-kulturelle Seite der ständischen Ordnung der Vergangenheit. Anders als Der Schwierige ist Der verun­ treute Himmel von einer ausgeprägt katholischen Milieustimmung unterlegt, 84

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von Werfels Hinwendung zum Katholizismus, die in Das Lied der Bernadette dann noch deutlicher wird. Warum diese Welt einer harmonisch in Stände gegliederten Gesellschaft zusammengebrochen war – 1918, 1938, darauf ging Werfel nicht ein ( Jungk 2006, 264 ff.). Die Welt von gestern war kulturell nicht nur für die monarchistische Bewegung Österreichs bestimmend, aus der 1938 der neben der kommunistischen Resistance stärkste Widerstand gegen militärische Okkupation und »Anschluss« kommen sollte (Luza 1984, 29–42). Der an der Erinnerung an die und einer möglichen Wiedererrichtung der Monarchie orientierte österreichische Legitimismus war der Teil des katholisch-konservativen Lagers, der sich prinzipiell nicht mit dem republikanischen Österreich anfreunden konnte. Das katholisch-konservative Lager konnte sich insgesamt nicht mit der Republik des »Zwischenösterreich« identifizieren – obwohl dieses weitgehend von Christlichsozialen politisch bestimmt wurde. Das Lager, das die Regierung der Republik und des »Ständestaates« regierte, identifizierte sich weitgehend mit der Gesellschaft und dem Glanz und der Ordnung, die 1918 zu Ende gegangen waren. Die Repräsentanten dieses Regierungslagers begannen sich bald in den österreichisch-ungarischen Uniformen des Ersten Weltkriegs zu zeigen. Das Bundesheer wurde 1933, 1934 mit neu-alten Uniformen ausgestattet, die bewusst an die Monarchie erinnern sollten, und zur selben Zeit wurde das Verbot der Adelstitel ebenso aufgehoben wie die speziell das »Haus Habsburg« betreffenden Gesetze. Aus der Republik, die ja generell und insbesondere rechts von der politischen Mitte stets ungeliebt blieb, floh das katholisch-konservative Lager zunächst in die Nostalgie – und dann in die halbfaschistische Diktatur. Für Kurt Schuschnigg war die Republik eine kurze, wenig prägende, wenig bedeutsame Zwischenphase, die als »zweites Österreich« vom ersten – dem Österreich der Monarchie – zum dritten führte, dem Österreich, das von Kurt Schuschnigg mit den Mitteln der Diktatur regiert wurde. Das dritte Österreich sollte eine tragische Fußnote der österreichischen Geschichte blieben – das zweite aber, die Republik, kehrte 1945 wieder. Und der durch den Sieg der Alliierten befreite Schuschnigg schrieb nun das Requiem des Unterganges von 1938 (Schuschnigg 1946).

5.2 Die Flucht in die Weltrevolution Als 1917 in einem Revolution genannten Putsch der bolschewistische Flügel der russischen Sozialdemokratie, der sich bald darauf Kommunistische Partei nannte, sich der staatlichen Macht bemächtigte, löste dies weltweit drama85

Die Flucht aus der Republik

tische Wellen aus. Von diesen wurde insbesondere auch die europäische Sozialdemokratie erfasst, die sich in kommunistische und sozialdemokratische Parteien spaltete. Die Parteien, die sich weiterhin sozialdemokratisch nannten, wollten ihre Ziele einer sozialistischen, einer letztlich klassenlosen Gesellschaft mit den Mitteln und unter den Rahmenbedingungen eines Mehrparteiensystems, also einer liberalen Demokratie erreichen. Die kommunistischen Parteien folgten dem russischen Vorbild. Ihr Ziel war die Diktatur einer Einheitspartei, die im Namen des Proletariats handelte. Die Oktoberrevolution und das daraus entstandene Sowjetsystem sollte als Modell nicht nur für eine russische, sondern für eine transnationale, für eine europäische und schließlich globale Ordnung dienen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht  : Das Ergebnis der russischen Revolution war nicht ein sozialistisches Europa, sondern ein sich abschottendes kommunistisches Russland. Doch eben dieses Russland strahlte aus – als eine Alternative zu der in Krise und Unfrieden festgefahrenen übrigen Welt  ; als ein glänzender Stern, der – wie die rubinroten Sterne, die bald vom Kreml leuchten sollten – gerade Intellektuellen und »Kulturschaffenden« aller Welt eine bessere, eine grandiose Zukunft versprach. Die Sowjetunion übte eine Faszination für alle aus, die in der Welt von gestern und in einer zunehmend von faschistischen Diktatoren bestimmten Welt von heute nach einer besseren Welt von morgen suchten. Viele Intellektuelle wie etwa Bernard Shaw, Beatrice und Sidney Webb und andere prominente, zumeist politisch links Engagierte – zum Beispiel Vertreterinnen und Vertreter der britischen Fabian Society – wollten das Land Lenins und Stalins als den Vorboten einer neuen, grundsätzlich besseren Gesellschaftsordnung sehen  ; und eben deshalb nahmen sie bei ihren von der KP der UdSSR sorgsam organisierten Besuchen nur das wahr, was sie sehen wollten. Deshalb ließen sie sich auch in die Propagandamaschine Moskaus einspannen (Foot 1996, 237–239  ; 272 f. Ferguson 2007, 198  f.  ; Fitzpatrick 2015, 105 f.). Diese quasi-religiöse Anziehungskraft, die auch durch Stalins freilich zwischen 1939 und 1941 abrupt unterbrochenen Anti-Hitler-Kurs und die vor allem im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg propagierte Volksfront-Strategie der Kommunistischen Internationale gespeist wurde, die so viele humanistisch motivierte Intellektuelle erfasste (Crossman 1991), wirkte sich – jedenfalls bis 1934 – gegenüber der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nur äußerst schwach aus. Die SDAP hatte sich in ihrer Programmatik als die die am meisten »links« stehende Partei der internationalen Sozialdemokratie positioniert, und ihre permanente Oppositionsrolle in der Republik half ihr auch, sich vom Pragmatismus freizuhalten, den eine Regierungsfunktion mit sich bringen hätte müssen. Eben deshalb ließ die österreichische Sozialdemokratie der Kommunistischen Partei wenig Raum. 86

Die Flucht in die Weltrevolution

Norbert Leser kritisiert den Verbalradikalismus einer in permanenter Opposition verharrenden Sozialdemokratie als ein Instrument, um sich nicht nur das faktische Monopol auf der Linken zu sichern, sondern auch parteiintern eine Illusion aufrecht zu halten. Die stabile Stärke der Sozialdemokratie, die sie bei Nationalratswahlen zeigte – als eine 40-Prozent-Partei – und ihre Prägekraft im »Roten Wien« wirkten als Opiat  : Die Sozialdemokratie fühlte sich in ihrer Festung, in ihrem geschlossenen Milieu politisch stärker als sie objektiv war (Leser 1968, 373–376, 402–405). Doch der Partei gelang weder ein Ausbruch aus der sozialdemokratischen Hochburg Wien, noch wusste sie etwas Wirksames den autoritären Tendenzen entgegenzusetzen. Sie hielt die Partei ruhig – durch die Verkündung einer frohen Botschaft. Deren Umsetzung fiel der Partei freilich nicht in den Schoß. Wien wurde als Laboratorium gesehen, das vormachte, was eine Sozialdemokratie an der Regierung zustande zu bringen vermag. Doch die Erfolge der Sozialdemokratie in Wien konnten letztlich nicht über ihre Misserfolge in der Republik hinwegtäuschen. Das »Rote Wien« konnte nicht verhindern, dass die Partei insgesamt systematisch zurückgedrängt wurde  ; dass nicht die Sozialdemokratie, sondern die NSDAP zu einem auch in Wahlergebnissen ausgedrückten primären Nutznießer der Wirtschaftskrise wurde. Die Sozialdemokratie war ganz offenkundig nicht, wie es gelegentlich hieß, die bessere Partei für die schlechteren Zeiten  : Die Massenarbeitslosigkeit stärkte nicht die Sozialdemokratie, sie stärkte die Fundamentalopposition auf der äußersten Rechten (Rabinbach 1983). Ein besonderes Beispiel für die Flucht in die Illusion sind die Passagen zum Internationalismus im »Linzer Programm«  : Die Sozialdemokratie »betrachtet es als Aufgabe der internationalen Arbeiterklasse, den Völkerbund unter ihren Druck zu stellen […]. Die Sozialdemokratie ordnet alle ihre Gegenwartskämpfe dem Kampf um ihr Endziel unter, um die dauernde Sicherung des Völkerfriedens und der Völkerfreiheit durch die internationale Föderation der nationalen sozialistischen Gemeinwesen« (Berchtold 1967, 264). Da ist alles voll von Illusion  : Welche »internationale Arbeiterklasse«  ? Und das Spannungsfeld zwischen den völkischen, nationalen und den internationalen Begrifflichkeiten – wo wird dieses auch nur ansatzweise aufgelöst  ? Die österreichische Sozialdemokratie war nicht in der Lage, im Wettstreit mit anderen Parteien innerhalb Österreichs den entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Aber sie gab vor, die Rezepte für Völkerfrieden und Völkerfreiheit zu kennen. Die Sozialdemokratie wich der Realität in Österreich aus, indem sie in höchst unverbindlicher und vager Form eine internationale Föderation der »sozialistischen Gemeinwesen« zu propagieren wagte. Die Sozialdemokratie war eine Gesellschaft in der Gesellschaft – mit ihren speziellen Bildungseinrichtungen, ihren Sport- und Freizeitorganisationen. 87

Die Flucht aus der Republik

Die Sozialdemokratie war eine in sich geschlossene Gegenkultur. Doch hinter dieser betonten Einigkeit gab es Widersprüche – unvermeidlich in einer Partei, die bei allen Wahlen in der Republik auf Bundesebene etwa 40 Prozent aller Stimmen für sich gewinnen konnte. Und dies führte auch zu Flügelbildungen, die freilich nach außen hin von einem Einheitsmythos zugedeckt werden sollten. Ein Flügel wurde als »links« wahrgenommen, dessen Vertreter war Max Adler. Adler war auch der Hauptverantwortliche dafür, dass in der Rhetorik der Partei und den Formulierungen des »Linzer Programms« von 1926 Begrifflichkeiten einen prominenten Platz einnahmen, die ein Naheverhältnis zum Marxismus-Leninismus zu betonen schienen – wie etwa die als Defensivinstrument in den Raum gestellte »Diktatur des Proletariats«. Max Adler unterschied auch zwischen den »Illusionen des Bolschewismus«, die proletarische seien – während die Illusionen der Demokratie bürgerlich waren (Pfabigan 1981, 226). Da wird das kommunistische Einparteiensystem (die Sowjetunion) der Demokratie (und damit der Republik Österreich) gegenübergestellt – beide seien von Illusionen gekennzeichnet. Doch die des Bolschewismus konnten, weil »proletarisch«, bei Max Adler auf mehr Verständnis stoßen als die »bürgerlichen« Illusionen der Demokratie. Dass die »bürgerliche« Demokratie in Form der Republik Österreich die politische Meinungs- und Organisationsfreiheit garantierte, jedenfalls bis März 1933, und dass unter den Nutznießern dieser Freiheiten auch die Sozial­ demokratie war, ist bei diesem von Max Adler repräsentierten Demokratieverständnis offenbar sekundär. Sekundär ist auch das Fehlen dieser Freizügigkeit in der Sowjetunion – denn diese ist ja »proletarisch«. Diese auffallende Geringschätzung der demokratischen Republik war ein Spiel mit Worten, das dem scholastischen Wortspiel eines Ignaz Seipel um nichts nachstand  : Seipel schrieb »wahr« vor Demokratie – und verkehrte damit die bestehende Demokratie in ihr Gegenteil. Adler nannte die eine Realität »proletarisch« und die andere »bürgerlich« – und demontierte damit den Wert der demokratischen Republik. Das war nicht das, was man einen begeisterten demokratischen Republikanismus nennen konnte. Das verstärkte innerhalb der Sozialdemokratie die Vorstellung von der demokratischen Republik als einer Art Zwischenstufe auf dem Weg zum Sozialismus, der jedenfalls zu einem Gutteil etwas ganz anderes als die Republik und ihre Verfassung von 1920 wäre, zumindest partiell anders und vor allem qualitativ besser. Und das war Wasser auf die Mühlen und für die Argumente der politischen Rechten, die sich in ihrem (Vor-)Urteil bestätigt sahen, die Sozialdemokratie wäre letztlich bolschewistisch. Trotz ihrer Ambivalenz, trotz ihrer tendenziellen Distanz zur real existierenden Republik versuchte die österreichische Sozialdemokratie als einzige 88

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Partei, der Republik eine affektive Unterlage zu geben. 1928 veröffentlichte der Wiener Stadtschulrat eine Broschüre, die den zehnten Jahrestag der Republikgründung zum Anlass nahm, die Republik den Schülerinnen und Schülern der Wiener Schulen positiv zu vermitteln. Die Bundesregierung, dem antimarxistischen Schulterschluss des »Bürgerblocks« verpflichtet, unterband die Verwendung dieses Lehrbehelfs (Achs 2015, 126). Die Republik zu feiern, das war Sache der Sozialdemokratie – und stieß eben deshalb auf den Widerstand des »Bürgerblocks«. Und auch das »Republikdenkmal«, das die Stadt Wien zwischen dem Parlament und dem Gebäude des Stadtschulrates aufstellen ließ, war Ausdruck des Versuches republikanischer Sinnstiftung – allerdings im Namen der Sozialdemokratie, nicht im Namen der Republik. Dass dieses Denkmal nur Sozialdemokraten gewidmet war – dem ersten Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und ersten Außenminister der Republik, Viktor Adler, dem ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Wiens, Jakob Reumann, und dem sozialdemokratischen Mitglied der Provisorischen Staatsregierung und Wiener Stadtrat Ferdinand Hanusch – unterstrich die Unfähigkeit oder auch den Unwillen der Sozialdemokratie, im Interesse der Vertiefung republikanischer Identität über die Grenzen des eigenen Lagers hinauszuwirken  ; ebenso wie die Unfähigkeit und den Unwillen der Christlichsozialen Partei und der deutschnationalen Parteien, die Republik als etwas Verbindendes, als etwas Gemeinsames zu feiern. Die Sozialdemokratie war der Republik verpflichtet, nicht aber dem Öster­ reich, dessen politische Ordnung die Republik war. Die österreichische Sozial­ demokratie war bis 1933 am republikanischen Deutschland orientiert, das mit dem Namen Weimar auch eine kulturelle Verbindung mit der Aufklärung symbolisierte. Und auch als die »Machtergreifung« der NSDAP in diesem Deutschen Reich dazu führte, dass die österreichische Sozialdemokratie den »Anschlussparagraphen« aus ihrem Parteiprogramm stricht, blieb die Partei ihrer deutschnationalen Tradition treu. Karls Renners Verhalten nach dem 11. März 1938 belegt dies ebenso wie Otto Bauers Aufruf nach dem real vollzogenen Anschluss, die Parole der Partei als Antwort auf diese Ereignisse sei nicht die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich, sondern die »gesamtdeutsche Revolution« (Hanisch 2011, 369–375). Die »gesamtdeutsche Revolution« erwies sich als Wolkenkuckucksheim. Die Wiederherstellung der Republik Österreich aber sollte Realität werden. Da war die Interpretation der österreichischen Kommunisten zukunftsträchtiger als Otto Bauers Wunschdenken. Unter dem Einfluss Alfred Klahrs entwickelte die KPÖ das Konzept einer österreichischen Nation – parallel zu den Versuchen Ernst Karl Winters, im katholischen Milieu des Landes ebenso eine theoretisch begründete Absage an die Vorstellung von einem »deutschen 89

Die Flucht aus der Republik

Österreich« zu formulieren (Kreissler 1984). Es ist eine der Paradoxien der österreichischen Geschichte dieser Zeit, dass die KPÖ damit die Entwicklung des historischen Bewusstseins in Österreich besser vorauszuzeichnen verstand als ihre große Rivalin auf der Linken, die Sozialdemokratie. Die KPÖ, die seit ihrer Gründung 1918 den Status einer Kleinpartei nie hinter sich zu lassen vermochte, reflektierte eine für den späteren Verlauf wesentliche Änderung des Österreich-Verständnisses deutlich früher als die Sozialdemokratie. Die KPÖ sollte dafür freilich 1945 und danach nicht in Form von Wahlerfolgen belohnt werden  ; übrigens auch in dieser Hinsicht dem politischen Schicksal Ernst Karl Winters ähnlich, der erst Jahre nach 1945 aus dem US-amerikanischen Exil nach Österreich zurückkehrte, ohne im nun in der Österreichischen Volkspartei politisch organisierten Milieu des Politischen Katholizismus besonderen Einfluss erlangen zu können (Cullin 1978). Die Sozialdemokratie propagierte die Republik  ; aber diese Republik war letztlich eine deutsche Republik. Über diesen Schatten, der ja der Begrifflichkeit der Republikgründung entsprach, konnte die Sozialdemokratie erst springen, als der 1938 umgesetzte Anschluss die Anschlussorientierung zerstört hatte, das »Großdeutsche Reich« in die Katastrophe geschlittert und Österreich von den Alliierten sowohl befreit als auch besetzt war  : 1945. Zwar hatte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als Reaktion auf Hitlers »Machtergreifung« 1933 die Forderung nach dem »Anschluss« aus ihrem Programm entfernt, aber der Traum von einem großen Deutschland hatte die österreichische Sozialdemokratie (noch) nicht losgelassen Das Jahr 1938 machte dieses Weiterleben des sozialdemokratischen Deutschnationalismus deutlich  : Renners Verhalten, seine Zustimmung zum bereits militärisch vollzogenen »Anschluss«, spiegelte diesen Traum ebenso wie Bauers Formel von der »gesamtdeutschen Revolution« (Panzenböck 1985). In den Jahren der (Ersten) Republik bestimmte das illusionäre Bild vom Aufgehen in die große Deutsche Republik die Sozialdemokratie sicherlich stärker als der Traum von einer Weltrevolution nach sowjetischem Vorbild. Die Sowjetunion blieb für die meisten Menschen in Österreich, die sich in irgendeiner Form politisch »links« verstanden, weitgehend blass, sie konnte in Österreich nach 1918 nicht allzu viel Anziehungskraft entwickeln. Das lag auch am Verbalradikalismus der Sozialdemokratie – rhetorisch schien nicht so viel zwischen Leninismus und Austromarxismus zu stehen  ; und den entscheidenden Unterschied, die Einstellung zu Demokratie und Mehrparteiensystem, spielten Sozialdemokraten wie Max Adler herunter. Überdies war die Partei in ihrer Oppositionsrolle von dem mit einer Regierungsfunktion verbundenen Zwang zu pragmatischer Kompromissorientierung frei und konnte sich daher als Fundamentalopposition zur »bürgerlichen Klassenherrschaft« darstellen – 90

Die Flucht in die Weltrevolution

eine Rolle, die einer zweiten, einer kommunistischen Fundamentalopposition ganz einfach zu wenig Platz ließ. Das hielt auch das Interesse am sowjetischen Experiment in Grenzen. Zwar gingen einige Österreicher in die UdSSR, um dort – ohne unmittelbar erkennbare politische Motivation – als Techniker zu arbeiten wie Karl Waldbrunner, der in der Sozialdemokratie nach 1945 eine führende Rolle spielen sollte (Androsch, Pelinka, Zollinger 2006). Aber anders als in anderen, vor allem westeuropäischen Ländern inspirierte die Sowjetunion nur wenige Menschen im Sinne der kommunistischen Vorstellung vom »neuen Menschen«, der – zusammen mit einer »klassenlosen Gesellschaft« – in der Sowjetunion im Entstehen sein sollte. Die Ausstellung »Zehn Jahre Sowjetrußland« stieß 1928 in Wien auf nur mäßiges Interesse (Bertschik, Kucher, Polt-Heinzl, Unterberger 2014, 30). Der österreichischen Sozialdemokratie war es gelungen – durch ihren Verbalradikalismus und ermöglicht durch ihre permanente Oppositionsrolle auf Bundesebene – die Kommunistische Partei Österreichs und damit die Gralshüterin des sowjetischen Experiments politisch klein zu halten. Damit fehlte auch eine wirksame Stimme, die das sowjetische Experiment in Österreich propagieren hätte können. Das sollte sich allerdings am Ende der Republik ändern. 1934 in die Illegalität gedrängt, sahen nun viele Sozialdemokraten die Sowjetunion in einem anderen Licht. Die UdSSR empfing 1934 Kämpfer des Republikanischen Schutzbundes als Helden des antifaschistischen Kampfes. Freilich  : Bald schon sollten viele dieser Helden in der stalinistischen Vernichtungsmaschine ihren Tod finden (Stadler 1974, 275–346). In weitgehender Unkenntnis des Schicksals seiner Genossen entwickelte Otto Bauer 1936 im Exil in seiner Schrift Zwischen zwei Weltkriegen  ? ein unter dem Begriff »integraler Sozialismus« stehendes strategisches Konzept einer gemeinsamen Frontstellung von Kommunisten und Sozialdemokraten. Bauer setzte dabei auf die von ihm als Demokratisierung der stalinistischen Sowjetunion gedeutete Volksfrontpolitik der Kommunisten in Frankreich und Spanien, und er nahm die 1936 beschlossene sowjetische Verfassung wörtlich – als Beispiel einer sozialistischen Demokratie. Der gleichzeitig einsetzende Terror und die Schauprozesse ignorierte Otto Bauer keineswegs, aber er wollte nicht von seinen Illusionen lassen, vor allem davon nicht, die Sowjetunion wäre letztlich doch eine fortschrittliche Kraft des internationalen Sozialismus (Hanisch 2011, 350–357). Die Alternative zur Orientierung an einer Weltrevolution, die nicht kam, auch nicht unter dem Schatten sowjetischer Expansion, wäre eine Orientierung an anderen Modellen des Sozialismus gewesen  ; und zwar an denen des demokratischen Sozialismus. In Schweden begann zur gleichen Zeit, als die Sozialdemokratie in Österreich zur Fundamentalopposition verurteilt schien, 91

Die Flucht aus der Republik

der schwedische Weg zum Sozialismus  : im Rahmen eines parlamentarischen Mehrparteiensystems, ohne Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg, an einer Strategie der Sozialreform in kleinen Schritten orientiert. Schweden sollte erst nach 1938 – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Erfahrungen des Exils österreichischer Sozialdemokraten, unter ihnen Bruno Kreisky – zu einem Muster werden, zu dem (neben der britischen Labour-Regierung Clement Attlee) wohl wichtigsten Vorbild für die österreichische Sozialdemokratie am Beginn der Zweiten Republik. Und eine auch theoretische Distanzierung der Sozialdemokratie von ihren marxistischen Wurzeln sollte erst nach 1945 einsetzen – unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als sich die (vor allem auch die deutsche) Sozialdemokratie zu einer grundsätzlichen Distanzierung vom Marxismus veranlasst sah  ; von einem Theoriegebilde, auf das sich ja auch Lenin und Stalin berufen hatten (Schwan, Schwan 1974). Die österreichische Sozialdemokratie erwies sich nach 1918 als immun gegenüber der Anziehungskraft des sowjetischen Vorbilds  ; aber es fehlte auch die Möglichkeit, außerhalb des »Roten Wien« das in die Praxis umzusetzen, was das Wesen des demokratischen Sozialismus hätte demonstrieren können. Die Sozialdemokratie verlor sich zwar nicht vollständig in Visionen – aber sie konnte nicht die Chance erkennen, für die Republik, für Österreich einen dritten Weg zu beschreiten  : zwischen einem auf utopischen Verheißungen bauenden totalitären System à la Lenin und Stalin und den sich mühsam zwischen Wirtschaftskrise und autoritärer Versuchung dahinschleppenden Demokratien des liberalen, des westlichen Typs.

5.3 Die Flucht in den Anschluss Der Anschluss an das Deutsche Reich war eine Perspektive, die mit einer gewissen Logik dem Denken entsprach, das im 19. Jahrhundert in Europa mehr und mehr selbstverständlich wurde  : An die Stelle der Dynastien, die mit Berufung auf traditionelle (»göttliche«) Rechte regierten, sollte »das Volk« als Quelle staatlicher Legitimation treten. Das 19. Jahrhundert war vom »Übergang zu einem Zeitalter des Nationalismus« geprägt (Gellner 1991, 63–82). Dieses Zeitalter baute auf einer Fiktion  : auf der Annahme, dass das, was ein Volk ausmacht, auf unbestreitbaren, objektiven Kriterien beruht  ; dass das, was ein Volk vom anderen trennt, ebenso allgemein nachvollziehbar ist. »Das Volk« wurde als naturgegeben konstruiert – errichtet auf als eindeutig fingierten Kriterien der Ein- und der Ausschließung. Das Vordringen des Nationalismus brachte eine Veränderungsdynamik in die europäische Staatenwelt. Staaten, deren Bevölkerung nicht deckungsgleich 92

Die Flucht in den Anschluss

mit einem Volk war, hatten zunehmend Schwierigkeiten, sich zu legitimieren. Völker, die in mehreren Staaten lebten, strebten zu gemeinsamer Staatlichkeit. Habsburg-Österreich war als Vielvölkerstaat davon besonders betroffen – von den Sezessionsbestrebungen der verschiedenen Nationalitäten. Der deutsche Nationalismus in Österreich zielte auf die Vereinigung der mehrheitlich deutschsprachigen Länder und Regionen der Monarchie in einem einzigen deutschen Nationalstaat, in dem Staat, der 1871 in Versailles gegründet worden war – dem Deutschen Kaiserreich. Die Politik der Habsburger in Österreich hatte zuvor, in Wahrnehmung der aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation kommenden Tradition, die Führungsrolle in den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden deutschen Einigungsversuchen beansprucht, war aber hier auf die Konkurrenz Preußens gestoßen, das sich letztlich 1866 militärisch gegen Österreich durchzusetzen vermochte  : Das Deutsche Reich wurde 1871 unter Führung Preußens gegründet – ohne Österreich. Das hinterließ Wunden, und das wurde in Österreich zum zentralen Thema einer politischen Bewegung, eines politisch-weltanschaulichen Lagers. Der Anschluss weiter Teile des alten Österreich an das neue Deutsche Reich war freilich nur unter der Voraussetzung der Zerschlagung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn vorstellbar. Dem Anschluss an das Deutschland der Hohenzollern stand das Reich der Habsburger entgegen. 1918 war dieses nun zerfallen, und es erschien nur konsequent, dass das Aufgehen des Restes, der sich Österreich nennen musste, in das Deutsche Reich nun auf der politischen Tagesordnung stand. Dass dies von den Siegermächten nicht gestattet wurde, machte den Anschluss erst recht zu einem zentralen Thema österreichischer Politik. Der Anschluss sollte das kleine Österreich in den Verband des Deutschen Reiches bringen – gestützt auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch die Angehörigen der deutschen Nation, die nun in der kleinen Republik lebten, in Anspruch nehmen wollten  : ein Volk, ein Reich. Das freilich hatten die Sieger von 1918 verhindert. Das Anschlussverbot schuf einen Opfermythos, der die Grundlage des österreichischen Deutschnationalismus in den Jahren der Ersten Republik wurde. »Volk« – was aber war dies  ? »Demos« – die Summer aller Bürgerinnen und Bürger, in einem bestimmten Territorium  ? Oder »Ethnos« – ein Verband, der unabhängig von Staatlichkeit quasi natürlich vorgegeben war  ? Wer war in ein bestimmtes Volk eingeschlossen, wer war von diesem ausgeschlossen  ? Der Nationalismus hatte schon im 19. Jahrhundert Formen angenommen, die – vor allem unter dem Begriff »völkisch« – auf biologische Ein- und Ausschließungskriterien bauten. Dies führte dazu, dass Volk und Nation von unübersteigbaren Grenzen bestimmt gesehen wurden. »Deutscher« oder »Tschechin« war man 93

Die Flucht aus der Republik

kraft Geburt, und man blieb es das ganze Leben lang. Dass diese Interpretation des Völkischen, des Nationalen eine komplexe Wirklichkeit grob vereinfachte  ; dass die Bestimmungsfaktoren des Entstehens und des Vergehens von Nationen nicht biologisch, dass sie vielmehr politisch und ökonomisch und kulturell und daher veränderbar waren – das wurde im »völkischen« Denken ausgeblendet (Gellner 1991, 83–97). Das Denken in den Kategorien der Natur rieb sich mit der Mobilität der Moderne  : In Österreich-Ungarn hatte ja die ökonomische Dynamik dafür gesorgt, dass Millionen Menschen aus nicht deutschsprachigen Gebieten in Großräume wie Wien und aus nicht ungarischsprachigen Gebieten in urbane Zentren wie Budapest zogen. Die Monarchie war ein »melting pot«, ein Schmelztiegel, der Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Sprache schrittweise integrierte  ; ein Vorgang, den viele Nationalisten als »Rassengemisch« oder als »Umvolkung« ablehnten und jedenfalls argwöhnisch beobachteten. In der im 19. Jahrhundert sich verfestigenden Tradition wurde »völkisches« mit »rassischem« Denken vermengt  : »Rasse« als Begriff, der aus der Biologie kam  ; der die Menschen in objektiv vorgegebene, physiologisch definierbare Kategorien zu teilen versuchte. Diese Tendenz zur Vermengung der Kategorien Volk, Nation, Rasse entsprach etwa dem Forschungsansatz von Konrad Lorenz  ; und er war weltweit als weitgehend selbstverständlich akzeptiert  : Er diente zur Legitimierung der systematischen Trennung der als »Rasse« definierten Teile der Gesellschaft – mit der überall erkennbaren Tendenz, durch eine biologisch begründete Rangordnung der »Rassen« die Herrschaft der einen über die anderen zu legitimieren und damit abzusichern (Sowell 2013). Durch den biologischen Begriff »Rasse« sollte eine nicht a priori starre Exklusivität der Begriffe »Volk« und »Nation« dauerhaft festgeschrieben werden. Dass im »völkischen Denken« der Rückgriff auf biologische Differenzen unvermeidlich von Willkür bestimmt war, zeigte sich im Ausschluss der Menschen jüdischer Herkunft aus dem »Volk« – ein Ausschluss, zu dem etwa der Deutschnationalismus in Österreich zunehmend neigte  : Keine Form der Anpassung an Sprache und Kultur und Religion reichte aus, um Menschen, die ihre familiären Wurzeln im Judentum hatten, als »Deutsche« und daher als Mitglieder etwa in »deutschen« Studentenverbindungen zu akzeptieren (Pau­ ley 1992, 30–34). Der Deutschnationalismus, den Georg Schönerer und seine »Alldeutschen« vertraten, war von diesem mit der Konstruktion einer jüdischen »Rasse« verbundenen »völkischen« Denken bestimmt. Am Beginn der Republik war ein solches völkisch-rassisches Denken keineswegs die das Anschlussdenken allein beherrschende Variante des Deutschnationalismus. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, unter ihnen auch 94

Die Flucht in den Anschluss

viele jüdischer Herkunft, wollten Teil eines fortschrittlichen demokratischen Deutschland sein – der Republik von Weimar – und sahen keinen Widerspruch zwischen einem sozialdemokratischen Internationalismus und einem, ihrem konkreten Deutschnationalismus. Christlichsoziale wurden zwar von den antikatholischen Aspekten des militanten Deutschnationalismus abgestoßen – dass jedoch Österreich deutsch und dass das Ziel eines Anschlusses an das Deutsche Reich legitim war, das war für die Christlichsozialen nach 1918 prinzipiell unbestritten. Aber auch wenn der Anschluss bis 1933 das grundsätzliche Ziel aller drei politisch-weltanschaulichen Lager blieb, die Vehemenz, mit der dieses Ziel verfolgt wurde, war immer deutlicher einer extremen Variante vorbehalten, einer Fraktion des dritten, des deutschnationalen Lagers. Diese Fraktion kam zunehmend unter den Einfluss der NSDAP, die in Deutschland 1930 fast schlagartig zu einer Großpartei geworden war. Innerhalb weniger Jahre, beginnend 1930, zog die NSDAP einen Großteil der Wählerinnen und Wähler der traditionellen deutschnationalen Parteien an sich. Sie wuchs aber auch auf Kosten der Christlichsozialen und der Sozialdemokratie. Sie unterwanderte Teile der Heimwehren, insbesondere in der Steiermark. Sie wurde zu einer Klassen, Konfessionen und Regionen übergreifenden Allerweltspartei – zu einer Volkspartei (Hänisch 1998). Vor dem Aufstieg der NSDAP zur dominanten Kraft im deutschnationalen Lager – also bis etwa 1932 – waren die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund (und damit die mit der Christlichsozialen Partei verbündeten Parteien des »Bürgerblocks«) bereit, die internationalen Rahmenbedingungen anzuerkennen, die einem als Ergebnis eines diplomatischen Verhandlungsprozesses vereinbarten Anschluss Österreichs an die Deutsche Republik entgegenstanden. Die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund legten Wert auf eine sich ständig wiederholende deklamatorische Orientierung am Anschluss, sie akzeptierten aber die Grenzen der Handlungsfähigkeit Österreichs. Im Abkommen, das die Christlichsozialen mit der Großdeutschen Volkspartei 1922 zur Bildung einer Koalitionsregierung schlossen, lautete eine die Regierung verpflichtende Formulierung  : »Festhalten an der Anschlusspolitik unter inniger Fühlungnahme mit der deutschen Regierung […]« (Bielka 1979, 173). Diese Formulierung hinderte die Koalition der Christlichsozialen und der Großdeutschen aber nicht daran, die »Genfer Protokolle« zu unterzeichnen, die eine finanzielle »Sanierung« Österreichs unter den Auspizien des Völkerbundes mit einer expliziten Verschärfung des Anschlussverbotes verbanden. Das »Festhalten« am Ziel eines Anschlusses war jedenfalls auch für das deutschnationale Lager – zunächst – eine Art großdeutsche »Mentalreservation«, eine floskelartige Etikette, die – überdies auch grundsätzlich von den Sozialdemokraten geteilt – die österreichische Außenpolitik begleitete, diese 95

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aber kaum beeinflusste (Bielka 1979, 173 f.). Das freilich änderte sich mit dem Aufkommen der NSDAP – in Deutschland wie auch in Österreich. Die extremistischen, terroristischen Methoden, die Anhänger der 1933 von der Regierung Dollfuß verbotenen NSDAP anwendeten, waren nicht unbedingt geeignet, der Idee des Anschlusses an ein nunmehr nationalsozialistisch regiertes Deutsches Reich größere Zustimmung zu verleihen. Der nationalsozialistische Terrorismus nützte dem Anschluss eher nicht. Für eine Verbreiterung der nationalsozialistischen Basis setzten sich aber schließlich die erfolgreich ein, die als »gemäßigte« Nationalsozialisten galten. Sie hatten entscheidenden Anteil an der Unterminierung einer Politik, die zwar am »deutschen« Charakter Österreichs festhielt, den Anschluss an dieses nunmehr von Hitler repräsentierte Deutschland aber verhindern wollte. Es waren die gesellschaftlich etablierten Teile des österreichischen Deutschnationalismus, die Österreich reif für die Tage des März 1938 machten – und nicht die Putschisten des Juli 1934, nicht die gewaltbereiten Terroristen, die für die verschiedenen Anschläge verantwortlich waren ( Jagschitz 1976  ; Botz 1983, 215–231). Im universitären Betrieb prominent verankerte Personen wie der Germanist Josef Nadler und der Historiker Heinrich Srbik halfen mit, dass weite Teile der Gesellschaft das nicht zu sehen bereit waren, was Karl Kraus schon 1933 – unmittelbar nach der »Machtergreifung« der NSDAP in Deutschland – ausführlich dokumentiert hatte  : den alltäglichen Terror der neuen Herren Deutschlands. Nadler, Srbik, Edmund Glaise-Horstenau, Arthur Seyß-Inquart und andere waren in die dominante bürgerliche Gesellschaft Österreichs integriert. Sie standen in der Tradition der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes, die mit den Christlichsozialen den »Bürgerblock« gebildet hatten. Sie waren in jeder nur denkbaren Hinsicht »salonfähig«. Mit denen, die für den Mord an Engelbert Dollfuß verantwortlich waren, schienen sie nichts gemeinsam zu haben. Viele dieser »gemäßigten« Nationalsozialisten waren aktive Mitglieder der katholischen Kirche (wie Seyß-Inquart) und hatten allein schon deshalb Zugang zu einem Milieu, dem auch die im autoritären Staat Herrschenden angehörten (Rosar 1971). Es waren die »Gemäßigten« unter den österreichischen Nationalsozialisten, die den im Dollfuß-Schuschnigg Regime politisch, kulturell und gesellschaftlich dominanten Kräften die Illusion ermöglichten, irgendwie müsse man sich doch mit dem Nationalsozialismus arrangieren können. Die Sehnsucht nach dem großen Reich, das da irgendwo hinter den Wolken existierte  ; ein Reich, das irgendwie an das verklärte Heilige Römische Reich erinnerte, in dem ja das Haus Habsburg über die Jahrhunderte regiert hatte  ; ein Reich, das den 1866 und 1871 erfolgten Ausschluss Österreichs von der Gründung des Deutschen Reiches wiedergutmachen würde  : Alle diese mit der 96

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Wirklichkeit des NS-Regimes so gar nicht in Einklang zu bringenden Illusionen helfen mit, die Hysterie des März 1938 zu verstehen. Diese Sehnsucht, die dazu führte, dass 1938 überzeugte Nationalsozialisten ebenso jubelten wie enttäuschte Sozialdemokraten  ; dass katholische Bischöfe Briefe mit »Heil Hitler« unterzeichneten  ; dass es – unbeschadet des eindeutig undemokratischen Charakters der »Volksabstimmung« genannten Bestätigung des militärisch bereits vollzogenen »Anschlusses« – so etwas wie eine diffuse, aber eindeutige Mehrheitsstimmung gab  : Diese Flut von Naivität und Opportunismus, von Selbsttäuschung und Raublust und Hysterie sollte der Zweiten Republik große Probleme mit der Definition Österreichs als Opfer des Nationalsozialismus bescheren. Opfer der im März 1938 in Erfüllung gegangenen Sehnsucht nach dem »Anschluss« war der Staat Österreich, ohne Zweifel  ; aber Österreich, als Gesellschaft, als »Volk« – dieses Österreich war insgesamt sicherlich kein Opfer des real vollzogenen Anschlusses. Die Rolle Österreichs als ein in das nationalsozialistische Deutschland voll integrierter Teil wurde in der Zweiten Republik kontrovers diskutiert – allerdings nicht unmittelbar nach der Befreiung des Jahres 1945, sondern nach einigen Jahrzehnten, die einen Generationenwechsel und damit eine gewisse Distanz erlaubten (Göllner 2009). Dieser Diskurs erlaubte schließlich – wenn auch mit Verspätung – eine differenzierte Interpretation der Vorgeschichte und der Geschichte des »Anschlusses« und der vielschichtigen Erfahrungen, die sich nicht einfach auf einen einzigen Begriff wie »Täter« oder »Opfer« bringen ließen – jedenfalls nicht mit Bezug auf eine Gesellschaft, in der so viele Menschen sich aktiv an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt hatten, an Verbrechen, unter deren Opfern ebenfalls so viele Menschen aus Österreich waren. Unter allen Fluchtreflexen war der, der in Richtung Anschluss wies, der einzige, der ein reales Ergebnis zeigte. Das vergangene Reich der Habsburger ließ sich nicht wieder herstellen. Die Weltrevolution blieb Illusion. Paneuropa war ein Thema für Kongresse, auf denen unverbindliche Reden gehalten wurden – bevor unter völlig geänderten Bedingungen ein ganz anderes Europa, ein partiell trans- und supranationales, sich entwickeln konnte. Aber der Anschluss, der fand wirklich statt. Das klein gewordene Österreich hatte sich mental nicht wirklich mit der Republik abgefunden. Der Traum vom Reich hatte eine Fluchttendenz ausgelöst, die zum realen Anschluss führte – weg von der Republik, über die Zwischenstation des sich christlich nennenden autoritären Staates, hin zu Krieg und Holocaust. Zwischen 1938 und 1945 musste Österreich erfahren, was die einzige wirklich zur Auswahl stehende Antithese zur Republik war. 97

Die Flucht aus der Republik

5.4 Die Flucht in den (unverbindlichen) Patriotismus Am 12. November 1929 sollte Anton Wildgans vor dem schwedischen König und den Spitzen des Königreiches Schweden eine Rede halten – als offizieller Repräsentant des »geistigen Österreich«. Wegen einer schweren Erkrankung konnte Wildgans nicht nach Stockholm reisen, aber am 1. Jänner 1930 las er diese Rede im Wiener Rundfunk (Wildgans 1947, 3). Die Rede, bald darauf veröffentlicht, gilt auch viele Jahrzehnte später wohl zu Recht als ein Versuch, Österreich zu definieren – nach Habsburg und vor einer ungewissen Zukunft. Wildgans’ Rede war bestimmt von dem Vorhaben, Österreich zu verstehen und zu deuten – jenseits der Lager, jenseits der Parteilichkeiten. Dieser Versuch ist in so ferne gelungen, als Wildgans’ Rede sicherlich nicht vom Austromarxismus und auch nicht vom heraufdämmernden Faschismus in Anspruch genommen werden konnte  ; und auch nicht vom Deutschnationalismus, wie er ab 1930 sich bereits vor allem in Gestalt der NSDAP zeigte. Und auch die Christlichsozialen konnten Wildgans’ Ausführungen nicht einfach für sich beanspruchen. Wildgans’ Rede schloss aber die drei weltanschaulich-politischen Lager auch nicht von vornherein aus. Wildgans’ Österreich-Bild war milde und indirekt eine Einladung zur Versöhnung im Inneren. Aber eben deshalb war es auch seiner literarischen Eleganz zum Trotz auffallend blass. So konstruierte er einen »österreichischen Menschen«, dem er bestimmte Fähigkeiten zuschrieb – Folge einer »historischen Natur«. Zu diesen Fähigkeiten zählte Wildgans insbesondere die »zum Dienen an einer Idee« (Wildgans 1947, 24 f.). Einer Idee, irgendeiner Idee  ? Da konnte jede und jeder hineinlesen, was gerade gewollt oder auch einfach zeitgeistig war. Sicher, Wildgans wandte sich indirekt gegen die Tendenz zur Patriotismusverweigerung des Marxismus, indirekt gegen die Negierung einer österreichischen Rolle im militanten Deutschnationalismus, und auch der Politische Katholizismus konnte sich bei Wildgans nicht wirklich selbst entdecken. Aber Wildgans’ Rede zeigte, dass dort, wo Gemeinsamkeiten über die Lagergrenzen möglich waren, sie sich durch inhaltliche Dürftigkeit, ja Beliebigkeit auszeichneten. Österreich – als Dienstbote »einer Idee«  ? Und wer sollte diese Idee formulieren  ? Die, die eine Idee von einer solchen Idee hatten, standen ja bereit – aber jede dieser Ideen schloss die jeweils anderen Ideen aus  : Die Idee von einem katholischen Österreich, das sich ausdrücklich an der Lehrmeinung der Päpste orientierte, war für den Marxismus ebenso unannehmbar wie für einen Deutschnationalismus, der in der Tradition Schönerers sich nicht nur gegen Habsburg und »die Juden«, der sich auch (in der Tradition des Luthertums) gegen »Rom« abgrenzte. Die Idee von einem sozialistischen Österreich roch für alle, die sich von den 98

Die Flucht in den (unverbindlichen) Patriotismus

Parteien des »Bürgerblocks« vertreten fühlten – vertreten von den Christlichsozialen und dem Heimatschutz, von der Großdeutschen Volkspartei und vom Landbund – zu sehr nach Bolschewismus, auch wenn die SDAP sich programmatisch in Abgrenzung vom sowjetischen Weg auf den Parlamentarismus und das Mehrparteiensystem festgelegt hatte. Und der Deutschnationalismus  ? Viel spezifisch Österreichisches hatten das Milieu und die politischen Strömungen des »dritten Lagers« nicht anzubieten – weil sie ja auch, und zwar auch nach 1933, trotz eines von Adolf Hitler regierten Deutschen Reiches am Ziel des »Anschlusses« festhielten. Das konkrete Österreich der Republik spielte in der Rede keine erkennbare Rolle. Wildgans sprach zwar von einem »neuen Österreich« (Wildgans 1947, 30), das offenbar das Österreich der Ära nach Habsburg war, also das kleine, das republikanische Österreich. Aber in welcher Verbindung dieses neue Österreich mit dem alten gesehen werden sollte und auf welcher Grundlage der »österreichische Mensch« sich in diesem Rahmen verwirklichen wollte – darüber schwieg Wildgans  ; wie auch in seiner Rede nichts über demokratische oder republikanische Grundwerte zu finden ist. Wildgans bekämpfte nicht die Republik, die er ja in Stockholm vertreten sollte. Aber irgendwelche Konturen gab er ihr ebenso wenig  : auch nicht die Konturen einer Demokratie, deren Qualität sich ja auch als Kern der Idee geeignet hätte, der Österreich hätte »dienen« können. Zu einer Nation Österreich, wie sie als gesellschaftliches und politisches Konzept nur wenige Jahre nach Wildgans’ Rede vom Katholiken Ernst Karl Winter und vom Kommunisten Alfred Klahr entworfen werden sollte – als eine Art Überbau für einen als patriotisch definierten Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und den diesem zuarbeitenden österreichischen Deutschnationalismus –, zu einer österreichischen Nation bekannte sich Wildgans nicht. Ein solches Bekenntnis und das damit verbundene Konstrukt wären im November 1929 auch kaum irgendwo auf Verständnis gestoßen und hätten Widerstand provoziert, und nicht nur im deutschnationalen Lager. Es brauchte die unmittelbare Bedrohung Österreichs von Seiten des nationalsozialistischen Deutschland, um den unverbindlichen Patriotismus à la Wildgans durch einen verbindlichen zu ersetzen – durch einen, der mit dem Begriff einer österreichischen Nation und damit einer Abgrenzung gegenüber Deutschland zusammenhing. Aber Winters und Klahrs nationale Österreich-Deutung hatte, zunächst jedenfalls, auch nach 1933 nur wenig Resonanz. Auch in den letzten etwa zwei Jahren vor dem »Anschluss« blieben die nebulosen Begriffe vom »deutschen Staat«, der Österreich sein wollte, oder auch vom »besseren Deutschland« Bestandteil der offiziellen Staatsdoktrin des Dollfuß-Schuschnigg Regimes wie auch des in der Sozialdemokratie herrschenden Bewusst99

Die Flucht aus der Republik

seins. 1929 jedoch – als Wildgans seine Rede formulierte – musste der Österreich-Patriotismus erst recht blasser als blass bleiben. Wildgans’ Patriotismus war zur Unverbindlichkeit verurteilt, weil er konturenarm blieb. Eben weil er grundsätzlich für alle Lager der Republik offen sein wollte, musste er beliebig bleiben. Dieses Österreich, das Wildgans repräsentierte, war zwar inklusiv, schien einen Brückenschlag zwischen links und rechts zu ermöglichen, aber es glich dem Österreich, das in dem »Loblied« des Ottokar von Horneck in Grillparzers König Ottokars Glück und Ende als nett, harmlos, nicht ohne Charme, nicht unsympathisch, aber ganz gewiss nicht mobilisierend dargestellt wird  : dieser Österreicher, der als Menschentypus Rudolf von Habsburg angepriesen wird, dem ersten Habsburger, der über Österreich herrschen sollte  ; dieser »österreichische Mensch«, von dem das Loblied handelt, verfügt als spezifische Tugend, dass er sich zwar »sein Teil« denke, aber das Lesen »in Büchern« und das Reden eher den »anderen« überlässt (König Ottokars Glück und Ende, dritter Aufzug). Dieser Österreicher will ganz offenkundig von der Welt und von Europa möglichst in Ruhe gelassen werden. Österreich wurde, bei Grillparzer und bei Wildgans, als eine Art Rückzugsgebiet in eine Idylle konstruiert  ; ein Österreich, das versucht, sich vor den Aufregungen der Welt freizuhalten. Doch die Aufregungen, die waren ja schon da – und nicht zuletzt kamen sie aus Österreich selbst. Es war kein Zufall, dass 1955 das Wiener Burgtheater mit Grillparzers Stück vom Anfang der Herrschaft Habsburgs über Österreich und dem darin prominent in den Vordergrund geschobenen Loblied auf Österreich eröffnet wurde. Mit Ausnahme derer, die auch zehn Jahre nach der Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit und der Republik noch immer dem Regime nachtrauerten, das den Namen und den Staat Österreich auszulöschen versucht hatte, und die daher keinen »österreichischen Menschen« kennen wollten  : mit dieser Ausnahme konnten nunmehr alle Grillparzer (und damit auch Wildgans) zustimmen – einem harmlosen Patriotismus, höchst unverbindlich, von maximaler Inklusivität und minimaler Exklusivität. Die Stunde eines solchen Patriotismus war allerdings zu dem Zeitpunkt, als Wildgans seine Rede schrieb, noch nicht gekommen  ; aber diese Stunde sollte schlagen, nach einer siebenjährigen Erfahrung mit der Auslöschung Österreichs. Wildgans’ Patriotismus war ganz offenkundig verfrüht  : Ihm fehlte die Erfahrung der Jahre 1938 bis 1945  ; ihm fehlte das entscheidende »defining other«, das die österreichische Identität nach 1945 mit wachsender Deutlichkeit bestimmten sollte – der real erlebte Anschluss, die Umsetzung des Deutschnationalismus in Form der Eingemeindung in ein totalitäres »Großdeutschen Reich«. Ein österreichisches Nationalbewusstsein hatte sich von einer Interpretation österreichischer Staatlichkeit als einer Variante deutscher Staatlichkeit 100

Die Flucht in ein (welches  ?) vereintes Europa

abzugrenzen  ; von einer Definition Österreichs als »zweiter deutscher Staat«  ; auch in Absage von Österreich als dem »besseren Deutschland«  : Ein solches Nationalbewusstsein, in Übereinstimmung mit den (links)katholischen Theorieansätzen bei Ernst Karl Winter und den kommunistischen bei Alfred Klahr, fand erst in der Zweiten Republik die dafür notwendigen Voraussetzungen vor. Erst in der Zweiten Republik entwickelte sich eine breite Identifikation mit Österreich nicht nur als Staat, sondern auch als Nation – unabhängig von den theoretischen Konzeptionen von Staat und Nation (Bruckmüller 1994  ; Haller 1996  ; Thaler 2001). 1929, als Wildgans sein Loblied auf Österreich formulierte, hätte jeder Versuch einer inhaltlichen Verbindlichkeit des Österreich-Bildes die vorhandenen Brüche in der Gesellschaft nur noch weiter vertieft. Wer, wie Wildgans, patriotisch sein wollte – patriotisch österreichisch –, durfte über eine Beliebigkeit, eine mehrfach abgesicherte Unverbindlichkeit nicht hinausgehen  ; musste harmlos bleiben  : harmlos durch das Ausweichen vor der Benennung der tiefen Gegensätze, die Gesellschaft und Politik der Republik bestimmten  ; harmlos durch den an die Welt außerhalb Österreichs gerichteten Appell, Österreich deshalb doch als liebenswürdig, als liebenswert wahrzunehmen, weil es doch garantiert keine Ecken und Kanten aufwies. Die Ecken und Kanten, die eben nicht österreichisch im Sinne eines österreichischen Konsenses waren, die in Österreich trennten und nicht verbanden – diese Ecken und Kanten mussten um der Bitte willen versteckt werden, die Wildgans’ Rede ausmacht  : Bitte, mögt doch dieses Österreich, es bereitet ganz bestimmt niemandem mehr Schmerzen. Das freilich sollte bald anders sein  : 1934 und 1938 gab es genügend Anlass, Österreich nicht als nett und harmlos zu sehen. Das als liebenswürdig gepriesene Österreich sollte wenige Jahre nach Wildgans’ Plädoyer ein ganz anderes Gesicht zeigen.

5.5 Die Flucht in ein (welches  ?) vereintes Europa 1934 veröffentlichte der Österreicher Richard Coudenhove-Kalergi die Neuauflage seines erstmals 1923 erschienenen Buches »Europa erwacht  !«. 1934 fand der Paneuropa-Kongress in Wien statt. Rückblickend wissen wir, dass Europa nicht erwacht war – jedenfalls nicht im Sinne der von Coudenhove-Kalergi propagierten Paneuropa-Bewegung. Trotz prominenter Namen, mit denen sich die Kongresse dieser Bewegung schon vor 1934 schmücken konnten, darunter Aristide Briand und Gustav Stresemann, Edvard Beneš und Ignaz Seipel, hatte die paneuropäische Bewegung nicht die geringste Chance, sich gegen 101

Die Flucht aus der Republik

die weiterhin primär, ja ausschließlich national definierten Interessen und die diesen verpflichteten Regierungen der einzelnen Staaten durchzusetzen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der neuen Auflage des Buches waren Briand, Stresemann und Seipel tot – und der Regierungs- und bald auch Staatschef des Deutschen Reiches hieß Adolf Hitler. Und der Regierungschef Österreichs, der beim Paneuropa-Kongress 1934 in Wien sprach, hieß Engelbert Dollfuß. Coudenhove-Kalergi wollte Österreich eine wesentliche Rolle in einem zukünftigen geeinten Europa einräumen  : Wien habe »den ersten Anspruch darauf, Sitz der europäischen Bundesbehörden zu werden« (Coudenhove-Ka­ lergi 1934, 203). Und er begründete dies damit, dass Wien mit dem Erbe der Habsburger identifiziert werden könne. Dass dies auch für manche der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns eine negative Qualifizierung sein könnte, ein solcher Gedanke kam Coudenhove-Kalergi offenbar nicht wirklich in den Sinn. Coudenhove-Kalergi stellte sich auch nicht der Frage der Demokratie. Dass Engelbert Dollfuß vor dem Paneuropa-Tag in Wien am 17. Mai 1934 eine Rede hielt – im Gebäude des Parlaments, in dem im März 1933 eben dieser Dollfuß das Zusammentreten des Nationalrates mit Polizeigewalt verhindert hatte, schien Coudenhove-Kalergis Pläne ebenso wenig ernsthaft zu stören wie der Bürgerkrieg des Februar 1934 und die Verfassung des 1. Mai ebendieses Jahres, die beide insgesamt eine entschiedene Absage an die Demokratie durch ebendiesen Engelbert Dollfuß waren. Coudenhove-Kalergi, der Freimaurer war, die Großloge Wien aber in den 1920er Jahren verlassen hatte (Göhring 2016, 60–62), hatte in Österreich seine Paneuropa-Bewegung überparteilich aufgestellt. Er hatte Kontakte zu Karl Renner und Otto Bauer, doch seine primären politischen Bezüge waren zu den regierenden Christlichsozialen – zu Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß. Er war, und hier kam ihm sein aristokratischer Hintergrund wohl zu Hilfe, mit den traditionellen Eliten des Landes bestens vernetzt. Er sah seine Bewegung in einer Tradition »großer Männer«. Beim ersten Paneuropa-Kongress in Wien, 1926, war der Saal des Wiener Konzerthauses mit Bildern Karls des Großen und Napoleons, Victor Hugos und Friedrich Nietzsches und anderer geschmückt  : Es war eine durchaus widersprüchliche Sammlung von historischer Prominenz, aus der sich kaum eine konsistente, in die Zukunft weisende Botschaft ableiten ließ – außer dass diese Männer alle Europäer waren (Göhring 2016, 68). Coudenhove-Kalergi bemühte nicht die Demokratie, er bemühte die Geschichte. Die Entwicklung von der griechisch-römischen Antike über die kriegerischen Versuche, europäische Großreiche zu etablieren – von Karl dem Großen bis zu Napoleon – führte Coudenhove-Kalergi bis zur Entstehung Europas als »Großnation« fort. Gegen die Einsicht in deren Existenz richte sich 102

Die Flucht in ein (welches  ?) vereintes Europa

zwar eine »nationalistische Hysterie« (Coudenhove-Kalergi 1934, 295 f.). Wie diese aber zu überwinden sei, darüber bietet das Buch keine anderen Ansätze als gut gemeinte Pädagogik. Und dass über die Jahrhunderte, ja Jahrtausende weder das Römische Reich noch die Hegemonie der Kirche zu einem Europa des Friedens geführt hatten  ; dass erst die Aufklärung und die Anfänge einer modernen Demokratie, fernab der Erfahrungen der attischen Polis, das Ende der über all diese Zeiten als selbstverständlich akzeptierten Sklaverei brachten  ; dass Coudenhove-Kalergis »Paneuropa« keinen Bruch mit dem europäischen Kolonialismus auch nur ansatzweise ins Auge fasste – und eben deshalb von der außereuropäischen Welt als Gegner, als Feind wahrgenommen werden musste  : Alles das kam dem Österreicher, dessen Kritik am innereuropäischen Nationalismus vielleicht, wahrscheinlich originell und potentiell bahnbrechend war, offenbar nicht in den Sinn  ; oder durfte nicht formuliert werden, denn dann wären ihm ja die zwar höchst unverbindlichen, grundsätzlich aber freundlichen Töne aus einem Teil von Europas Staatskanzleien nicht entgegengekommen. Coudenhove-Kalergi war geprägt von einem Zeitgeist, der auch in Westeuropa vor 1939 bestimmend war  : Der Faschismus à la Mussolini, mit dem glaubten die Demokratien, sich arrangieren zu können – nicht zuletzt im Sinne möglicher Bündnisse gegen Stalin und Hitler. Die »Stresa-Front«, 1935 von Großbritannien, Frankreich und Italien verabredet, richtete sich gegen Deutschland  : Hitler hatte die Verlängerung des Locarno-Paktes abgelehnt und damit eine Säule des Nachkriegsfriedens in Frage gestellt – die Anerkennung der Westgrenzen Deutschlands. Das faschistische Italien schien bereit, sich weiterhin in die Front der Siegermächte von 1918 einbinden zu lassen – gegen den diese Mächte bedrohenden deutschen Revisionismus. Überdies hatte sich das faschistische Italien im Juli 1934, als das nationalsozialistische Deutschland in den Putsch gegen das Dollfuß-Regime involviert war, gegen Hitler-Deutschland gestellt. Coudenhove-Kalergi sah ganz offenkundig keinen Grund, ein Paneuropa unter Ausschluss des faschistischen Italien zu konzipieren – ebenso wenig wie die französische und die britische Regierung in den Kategorien eines konsequenten Antifaschismus dachten oder handelten. Dass die im Europa der sich auseinanderentwickelnden politischen Systeme so etwas wie eine gemeinsame politische Grundlage entwickeln müssten, bevor eine europäische Einigung sinnvoll angedacht werden könnte, daran wagte Coudenhove-Kalergi nicht zu denken. Denn dann hätte er sich eingestehen müssen, dass das Europa von 1934 keine Chancen für einen europäischen Einigungsprozess hätte bieten können  ; ebenso wenig wie vom Österreich dieses Jahres zu erwarten gewesen wäre, zu einem solchen Prozess eine demokratische Qualität beisteuern zu können. Die demokratische Republik Österreich und 103

Die Flucht aus der Republik

ihr Untergang – das alles spielte für den österreichischen Gründer der Paneuropa-Bewegung keine, jedenfalls keine erkennbare Rolle. Dem Österreich seiner Zeit wich er aus. Er beschwor die Verdienste eines untergegangenen Österreich, um für ein nicht näher definiertes Österreich (das des Engelbert Dollfuß etwa  ?) eine europäische Führungsrolle zu beanspruchen. Coudenhove-Kalergis Frontstellung gegen die »nationalistische Hysterie« sollte nach 1945 ein sinnvoller Anknüpfungspunkt für die mit den Namen Jean Monnet und Robert Schuman verbundenen Anfänge eines europäischen Integrationsprozesses sein. Doch ein solcher baute und baut nicht auf die Traditionen alter Großreiche, die ja durchwegs nicht nur Kriege nicht verhindern konnten, die viel mehr selbst Verantwortung für eine ständige Abfolge mörderischer Schlächtereien hatten. Die nach 1945 real einsetzende Integration Europas hatte mit Coudenhove-Kalergis Wunschdenken herzlich wenig gemein. Coudenhove-Kalergis »Paneuropa« war eine rückblickend wohl durchaus sympathisch wirkende idealistische Fluchtperspektive, die weg von der Realität der Republik und von der Realität des Dollfuß-Schuschnigg Regimes führte, dessen Platz in einem von ihm konzipierten »Paneuropa« er nicht anzweifelte. Coudenhove-Kalergi entwickelte sein Konzept für das Europa seiner Zeit  : für das Europa, in dem von den Regierenden zumeist zwar allgemeine, unverbindliche Bekenntnisse zu einer europäischen Zivilisation zu haben waren, aber keine Bindung, keine Relativierung nationaler Souveränität im Interesse eines transnationalen Europa. Coudenhove-Kalergis Europa-Idee wurde in einer Etappe der europäischen Entwicklung formuliert, als nicht Demokratisierung, als vielmehr autoritäre und totalitäre Tendenzen im Aufwind waren. Eben deshalb kam seine Europa-Konzeption einerseits zur falschen, andererseits aber zur richtigen Zeit  : richtig, weil die heraufdämmernden Spannungen, die schließlich 1939 zum Weltkrieg führten, klar erkennen ließen, wohin die Nationalismen, wohin uneingeschränkte nationale Egoismen führen müssen. Aber es war die falsche Zeit für eine Umsetzung einer paneuropäischen Idee in politische Strukturen. Für die Realisierung einer Paneuropa-Idee brauchte es die Schrecknisse eines Zweiten Weltkrieges, der ja auch und vor allem ein europäischer war  ; brauchte es die Erstmaligkeit des Holocaust. Dann freilich war das Europa, das auf den Konzepten Jean Monnets aufbauen sollte, ein Europa, das auf der Grundlage westlicher, liberaler Demokratien errichtet werden konnte – und zwar nur auf dieser Grundlage. Solche Voraussetzungen hatte Coudenhove-Kalergi nicht vorgefunden. Und deshalb blieb sein Denkansatz widersprüchlich  : Sein Paneuropa war als Kooperation zwischen Demokratien und autoritären Systemen verschiedenster Art konzipiert. Ein solches Paneuropa war freilich allein schon deshalb nicht 104

Die Flucht in ein (welches  ?) vereintes Europa

realistisch, weil mit der von Coudenhove-Kalergi versuchten Einbindung von Diktaturen – etwa der von Benito Mussolini – ja prinzipielle Gegner eines auch nur ansatzweise supranationalen Europa für das paneuropäische Konzept gewonnen werden sollten (Göhring 2016, 115 f.). Coudenhove-Kalergi war sich natürlich bewusst, dass in einer Periode wachsender Spannungen Paneuropa nicht einfach durch einen simplen Vertrag hätte begründet werden können. Die Gegensätze in diesem Europa zwischen den Weltkriegen waren viel zu tief, um ernsthaft eine Verwirklichung Paneuropas versuchen zu können – über unverbindliche, diplomatisch formulierte Freundlichkeiten hinaus. Die Gräben zwischen den Interessen der revisionistischen und der antirevisionistischen Mächte waren viel zu tief. Die Gegensätze zwischen Staaten, die immer stärker auf die Überwindung der Ordnung von Versailles, Trianon und St. Germain drängten – und Staaten, die an ebendieser Ordnung festhalten wollten, machten auch nur jeden Versuch einer Realisierung Paneuropas von vornherein unmöglich. Dazu kamen noch die Spannungen, die sich aus der Bandbreite zwischen liberalen Demokratien und autoritären, mehr oder weniger faschistischen Systemen ergaben. Paneuropa war kein Programm, das unmittelbar auf die Agenda europäischer Politik hätte gesetzt werden können – jedenfalls nicht in den 1920er und 1930er Jahren. Paneuropa war ein nicht unsympathischer Traum, der aber über die unsympathische Realität eines schon wieder sich in Richtung Krieg entwickelnden Europa nicht hinwegtäuschen konnte. Es war eine eigenartige Flucht aus der von Dollfuß autoritär beendeten Republik  ; eine Flucht aus dem kleinen Österreich, aus dem Österreich, wie es 1919 von den Siegermächten definiert worden war  ; eine Flucht in ein Reich, ein Paneuropa, das – außer historischen Bezügen, von Karl dem Großen bis Napoleon, außer einem doch eher vagen Abendlandmythos und dem in diesem Mythos de facto integrierten Kolonialismus – wenig an Zusammenhalt aufzuweisen hatte. Wie hätte ein solches Paneuropa, das offenkundig auch diktatorisch regierte Mitgliedstaaten aufgenommen hätte – wie hätte ein Paneuropa in diesen Jahren entstehen können  ? Verglichen mit einem zwischen Demokratie und Diktatur schwankenden Europa war die Doppelmonarchie ein Muster an Homogenität gewesen. Österreich-Ungarn war ein Reich, bestehend aus zwei auf unterschiedlichen Voraussetzungen errichteten Teilen – der eine dem Muster eines Nationalstaates verpflichtet, der andere auf halbem Weg in Richtung eines multinationalen Bundesstaates unterwegs  ; ein Reich, gekennzeichnet durch die Etablierung eines wenn auch höchst unvollkommenen Parlamentarismus, verbunden durch eine gemeinsame Währung, durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik  : So viel Gemeinsamkeiten hätte ein Paneuropa, das auf den Gegeben105

Die Flucht aus der Republik

heiten der Zwischenkriegszeit bauen hätte müssen, nie auch nur annähernd erreichen können. Es war eine Flucht, die sich auf Geschichte berief – und die Geschichte ignorierte. Das Europa der Antike war ein Europa konkurrierender Herrschaftsansprüche, dessen mächtigster der des Römischen Reiches war  ; ein Reich, das auf den Säulen von Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung baute. Das Europa des Mittelalters war ein Europa, in dem das Reich der Karolinger und der sich »Römisch« nennenden Kaiser, mit Unterstützung des Papstes, »Ungläubige« mit dem Schwert bekehrte. Das Europa der Neuzeit begann als ein Europa mörderischer Religionskriege und wurde schließlich zu einem Europa, in dem expandierende Nationalstaaten – Spanien, Frankreich, Russland, England – in immer wieder wechselnden Allianzen gegeneinander fast permanent Krieg führten. Coudenhove-Kalergis abendländisch gefärbte Idylle von einem zur Einigung fähigen Europa war Wunschdenken – nicht Realität. Da passte es hinein, dass Coudenhove-Kalergi auf die Kooperation auch mit Mussolini und Dollfuß setzte. Und da war es nur – in einem besonders tragischen Sinn – logisch, dass diese Phantasie an der Realität eines zum Angriffskrieg drängenden Deutschland scheitern musste  ; scheitern auch an dem unbedingten Festhalten aller Regierungen – und zwar auch der demokratischen – an der Fiktion nationaler Souveränität. Coudenhove-Kalergis Paneuropa war das Resultat eines Fluchtreflexes – weg von dem Europa der Spaltungen, weg aber auch von dem kleinen, posthabsburgischen Österreich. Dass dieser Fluchtreflex auf einem Traum baute, dessen Verwirklichung unter anderen Voraussetzungen und mit anderen, klaren Vorstellungen von verbindlichen Grundsätzen und Mechanismen zwei, drei Jahrzehnte später beginnen sollte – nach einer noch größeren Katastrophe, als dies der Krieg von 1914 bis 1918 war, zeigt ein Stück Vision, zeigt eine Idee, die Zukunft haben sollte  ; aber erst, als die Idee sich mit real existierenden Interessen verbünden konnte und daher zu mehr wurde als bloß nebulose Romantik.

106

6 Periodisierung

D

ie Republik war in den wenigen Jahren ihrer Existenz vom Widerspruch zwischen Erstarrung und rasanter Dynamik bestimmt, von Versteinerung und von Beschleunigung. Zwischen 1918 und 1933 änderten sich die von einer stabilen Lagermentalität bestimmten Strukturen genau genommen überhaupt nicht. Der Verfassungskonsens war 1919 erreicht, und er hielt auch der Belastungsprobe rund um die Verfassungsnovelle 1929 stand. Die Parteien, die politisch-weltanschaulichen Lager standen einander mit zunehmend offener Feindseligkeit gegenüber. Die Akteure blieben im Wesentlichen immer dieselben  : Ignaz Seipel und Otto Bauer, Karl Renner und Johannes Schober, Karl Seitz und Carl Vaugoin. Doch die Geschichte wurde von Faktoren weitergetrieben, die nicht im Ermessen Österreichs standen. Die Republik schien zwar eineinhalb Jahrzehnte fast gelähmt  : Ein Wahlergebnis glich dem vorhergegangenen, der »Bürgerblock« regierte mit knapper parlamentarischer Mehrheit, die Sozialdemokratie opponierte, ohne aus der Rolle permanenter Opposition ausbrechen zu können. Aber die Rahmenbedingungen verschoben sich in dramatischer Weise  : Die Demokratie wurde rund um Österreich ausgehöhlt. Und Österreich, die Republik, wurde schließlich von ebendieser autoritären Welle erfasst. Das Konzert der Siegermächte hatte sich 1919 gegenüber dem demokratischen Deutschland unnachgiebig gezeigt, und dieses Konzert erwies sich ab 1933 als unfähig, das Erstarken eines nun mehr nicht demokratischen Deutschen Reiches zu unterbinden. Damit wurde der letztlich entscheidenden Bedrohung österreichischer Selbständigkeit Tür und Tor geöffnet. Schon davor war der Verlust an Demokratiequalität in Österreichs Nachbarschaft zu einer Bedrohung für die republikanisch-demokratische Ordnung der Republik geworden – die Ordnung, die 1918 dem europäischen Zeitgeist und dem politischen Willen der die Nachkriegsordnung bestimmenden Mächte zu entsprechen schien. In Österreichs Nachbarschaft wies nun bald vor allem das faschistische Italien einem neuen Zeitgeist die Richtung. Eine globale Wirtschaftskrise – kaum war eine alles verzehrende Inflation beendet – führte zu struktureller Massenarbeitslosigkeit, der das republikanische Österreich ebenso wenig Herr zu werden verstand wie das republikanische Deutsche Reich. In Österreich machte eine kurze Erfahrung mit der Konsensdemokratie, 1918 bis 1920, einer sich vertiefenden Erfahrung mit der Konfliktdemokratie Platz. Es ging, in der Wahrnehmung der entscheidenden Akteure, nicht 107

Periodisierung

um die Suche nach Kompromissen, mit denen alle leben konnten – es ging um Sieg oder Niederlage. Und diese Unfähigkeit (besser wohl  : dieser Unwille) zum Kompromiss verstärkte sich in der kurzen Geschichte dieser Republik. Politik wurde weiterhin als Nullsummenspiel verstanden – entweder der ganze, der totale Sieg oder aber die vernichtende Niederlage. Die Republik hatte 1918 demokratisch begonnen  : mit einer Erklärung, einem Beschluss der 1911 gewählten Abgeordneten des Abgeordnetenhauses des Reichsrates. Und die Republik entwickelte sich weiter als Demokratie – im Rahmen einer Verfassung, die den Grundprinzipien parlamentarischen Regierens entsprach. Doch im Rahmen dieser bis 1933 respektierten Prinzipien entstand keine Politische Kultur des Ausgleiches, der Machtteilung. Und es entstand auch nicht die für eine Konkurrenzdemokratie so zentrale Qualität der Rotation der Regierungsmacht  : Mit dem Ende der Provisorischen Staatsregierung und dem Beginn demokratischer Normalität, ab 1919 also, kam es zu keiner Ablösung einer Regierung als Folge von Parlamentswahlen. Die Rotation der Regierenden ging dieser Republik ab  : Der unter Führung der Christlichsozialen stehende »Bürgerblock« regierte, und die Sozialdemokratie war in permanenter Opposition. Die Republik, erstarrt in einem verkrusteten Gegensatz zwischen annähernd gleich starken Blöcken, von denen immer der eine regierte und der andere in Opposition verharrte, ging ihrem Ende entgegen, und das in verschiedenen Etappen. Dieses Ende war auch von vielen so gewollt  : Dass die demokratische Republik einem autoritären Staat weichen musste, das war durchaus wenn schon nicht die Absicht, so doch auch nicht gegen die Intention der führenden Kräfte des katholisch-konservativen Lagers. Spanns »wahrer Staat«, Seipels »wahre Demokratie« hatten konzipiert, was am 1. Mai 1934 verkündet wurde. Das eine Lager war der Sieger – in der ersten Etappe des Dramas des Unterganges der Republik. In der zweiten Etappe sollte 1938 ein anderes Lager siegen. Dass Österreich als eigenständiger Staat überhaupt zu existieren aufhören sollte, das war – zunächst – das Ziel nahezu aller politischer Kräfte  ; und als klar wurde, dass dies das Aufgehen in einem totalitären System bedeuten musste, wollten dies die einen – das 1933, 1934 bereits mehr oder weniger explizit sich dem Nationalsozialismus ausliefernde deutschnationale Lager –, und setzten sich gegen die anderen durch, und zwar in der ganzen, dem 1938 von Österreich Besitz ergreifenden System entsprechenden Totalität. Über diesen Anschluss an ein mörderisches Deutsches Reich – über den bestand ganz gewiss kein Konsens  ; auch wenn, bereits vollzogen, der Anschluss eine hysterisch anmutende massenhafte Zustimmung finden sollte. Verhindern konnten diese Katastrophe die Gegner des Nationalsozialismus jedenfalls nicht. 108

Periodisierung

Tabelle 1  : Wahlergebnisse der Nationalratswahlen (zusammengestellt nach Khol et al. 2007, 713–715) Jahr

Stimmenanteil

Mandate

1. Bürgerblock 1.1 Christlichsoziale 1.2 Deutschnationale

35,9 18,4

69 26

Bürgerblock gemeinsam

53,4

95

2. Sozialdemokraten

40,8

72

3. Sonstige **

 4,9

 3

1. Bürgerblock 1.1 Christlichsoziale 1.2 Deutschnationale

42,3 16,7

 85  28

1919*

1920

Bürgerblock insgesamt

59,0

123

2. Sozialdemokraten

35,9

 69

3. Sonstige***

 4,2

  1

1. Bürgerblock 1.1 Christlichsoziale 1.2 Deutschnationale, Landbund (10+5)

45,0 12,8

82 15

Bürgerblock insgesamt

57,8

97

2. Sozialdemokraten

39,6

68

3. Sonstige

 2,6

 0

48,4  6,3

85  9

Bürgerblock gesamt

54,7

94

2. Sozialdemokraten

42,3

71

3. Sonstige

 3,0

 0

1923

1927 1. Bürgerblock 1.1 Einheitsliste (Christlichsoziale, Großdeutsche 73+12) 1.2 Landbund

109

Periodisierung

Jahr

Stimmenanteil

Mandate

35,7 11,6  6,2

66 19  8

Bürgerblock insgesamt

53,5

93

2. Sozialdemokraten

41,2

72

3. Sonstige 3.1 NSDAP 3.2 KPÖ 3.3 Andere

 3,0  0,6  0,6

 0  0  0

1930 1. Bürgerblock 1.1 Christlichsoziale 1.2 Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund (10+9)**** 1.3 Heimatblock (Heimwehren)

*

Wahl in die Konstituierende Nationalversammlung  ; ** je ein Mandat für  : »Demokratische Parteien« (Wahlbündnis), Jüdisch-Nationale und Partei der sozialistischen und demokratischen Tschechen  ; *** ein Mandat für  : »Demokratische Parteien« (Wahlbündnis)  ; **** »Schober-Block«  : Wahlbündnis der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes

6.1 1918/19  : Die ungeliebte Republik 1918 schlug anscheinend, auf den ersten Blick, eine Stunde null – ein Jahr eines Neubeginns war angesagt. Aus den Trümmern Österreich-Ungarns hätte vieles, freilich nicht alles hervorgehen können  : Die Monarchie, als Staatsform, war tot – dass dies auch so blieb, darauf hätten auch, unabhängig von den Ereignissen in Österreich selbst, vor allem die Nachfolgestaaten geachtet, die das Ohr der Siegermächte hatten, insbesondere die Tschechoslowakei, die sich von einem wenn auch klein gewordenen Habsburg-Österreich bedroht gesehen hätte. Eine Rätedemokratie wie in Bayern oder Ungarn wäre möglich gewesen, freilich nur unter der Voraussetzung, dass diejenigen, die im Namen eines Räte-Österreich agiert hätten, bereit gewesen wären, das Diktat von St. Germain zu unterschreiben. Die geopolitischen Interessen der Siegermächte wie auch die der anderen Nachfolgestaaten des alten Österreich ließen nur eine der theoretisch vorhandenen Optionen zu  : eine Demokratie, und zwar eine westliche, eine liberale Demokratie – in republikanischer Staatsform. Freilich  : Wie diese demokratische Republik auszusehen hätte – ob sie mehr präsidiale oder mehr parlamentarische Züge aufweisen würde, ob sie zentralistisch oder föderalis110

1918/19  : Die ungeliebte Republik

tisch strukturiert werden sollte, das war offen. Die Entscheidung darüber lag bei dem klein gewordenen Österreich. 1918 war aber vor allem aus einem Grund letztlich keine Stunde null. Denn über das, was aus dem von den Siegermächten territorial definierten »Rest« des Kaiserreiches nun werden sollte, entschieden politische Eliten, die aus der Vergangenheit kamen  ; die ihre Wurzeln in der Monarchie hatten, die politisch von den letzten Jahren Österreich-Ungarns oder, präzise, der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie geprägt waren. Zu entscheiden hatten die schon vor 1914 aktiven Parteien und die von ihnen gestellten Abgeordneten des Reichsrates  ; zu entscheiden hatten die politischen Eliten, die als Reserve bereit standen, als die alten, die außerparlamentarischen politischen Eliten mit dem Kaiser abgedankt hatten. Zu entscheiden hatten diejenigen, die ein Stück Neuanfang verkörperten – aber viel mehr noch ein großes Stück Kontinuität. Über das Morgen hatten Männer von Gestern zu entscheiden. Frauen stießen, als am Entscheidungsprozess Beteiligte, erst 1919 in die nunmehr republikanischen Institutionen vor. 1918 wurde das imperiale, das multinationale Österreich zu dem bescheidenen Rest, zur Republik. Der blieben auch die großen Denkmäler imperialer Vergangenheit, vor allem in Wien  : die Hofburg (das unvollendete »Kaiserforum«) und Schönbrunn und die Ringstraße. Diese zeigte stolz die Ambivalenz des alten Österreich  : das Parlament, ein demokratisches Signal, dessen Abgeordnetenhaus bereits ab 1907 nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählt worden war, im europäischen Vergleich höchst fortschrittlich legitimiert, aber nur mit wesentlich beschränkter Macht ausgestattet. Denn in der Hofburg residierte der Kaiser, und der bestellte die K.-k.-Regierung, die dem Parlament politisch nicht verantwortlich war  ; und wenn das Abgeordnetenhaus der Regierung zu chaotisch erschien, berief der Kaiser das frei gewählte Parlament erst gar nicht ein und erließ statt der vom Parlament zu verabschiedenden Gesetze ganz einfach Notverordnungen. Und über Außen-, Finanz- und Militärpolitik wie auch über die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas hatte auch die K.-k.-Regierung nicht zu befinden  : Für diese Agenden war nicht die österreichische Regierung zuständig, denn sie waren K.-u.-k.-Angelegenheiten. Sie waren dem zumeist nicht sehr einfachen Zusammenspiel der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte vorbehalten. Doch nun, 1918, sollte das Parlament der Zentralort des politischen Entscheidungsprozesses werden. Der Kaiser hatte abgedankt, und die Parteien, durchwegs geprägt von den Erfahrungen der Monarchie, gaben der Republik eine parlamentarische Verfassung. Das republikanische Staatsoberhaupt (ein parlamentarisch gewählter Staatsnotar mit dem Titel »Bundespräsident«) sollte repräsentieren, aber nicht regieren. Das Regieren war die Aufgabe einer von 111

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der Mehrheit des Nationalrates gestellten und dieser politisch verantwortlichen Bundesregierung. Entscheidend war – dem britischen Westminster-Parlamentarismus entsprechend – die Parlamentswahl, die indirekt auch Regierungswahl war. Die Weichen stellten zunächst die nicht in die anderen Nachfolgestaaten abgewanderten Abgeordneten des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses. Sie erklärten sich zur »Provisorischen Nationalversammlung« und bestellten eine Regierung, die aus allen der drei vorhandenen Fraktionen bestand – aus den Sozialdemokraten, den Christlichsozialen, den Deutschnationalen. Die Parteien in Form der politisch-weltanschaulichen Lager füllten das durch den Zusammenbruch der Monarchie entstandene Vakuum. Dass die Republik von 1911 unter den Rahmenbedingungen der Monarchie gewählten Abgeordneten gegründet wurde, darf nicht als programmatische Intention missverstanden werden. Die Gründung der Republik durch die Abgeordneten, die sich nicht zu einem der anderen Nachfolgestaaten, sondern zu »Deutsch-Österreich« bekannten, war Ausdruck einer Verlegenheit. Es gab keine andere erkennbare Option. Oder doch  ? War da nicht Sowjetrussland, mit dem die K.-u.-k.-Regierung im März 1918 in Brest-Litowsk Frieden geschlossen hatte  ? War da nicht die zur selben Zeit gegründete Kommunistische Partei Österreichs, die versuchte, Druck auf die Sozialdemokratie auszuüben, damit Österreich dem sowjetischen Vorbild folgte  ? Und entstanden nicht 1919 in Bayern und Ungarn – also in unmittelbarer Nachbarschaft – Räterepubliken, die auf die Ernsthaftigkeit dieser einen, dieser russischen Alternative zu einer auf parlamentarischem Konsens aufbauenden Republik verwies  ? Rückblickend scheint klar zu sein, dass die Optionen, die von der Kommunistischen Partei forciert worden waren – eine Räterepublik, ein System des Typs, der sich gerade in Russland durchgesetzt hatte, keine Chancen auf Verwirklichung hatte. Doch aus der Sicht der Jahre 1918, 1919, 1920 war dies anders. Die Niederlage der Roten Armee in Polen und damit das Ende der Erwartung (Befürchtung), Sowjet-Russland könnte mittels einer »bolschewistischen« Streitmacht den Marxismus-Leninismus nach Mitteleuropa bringen, und das Ende der Räterepubliken in Österreichs Nachbarschaft waren 1918, 1919 nicht vorgezeichnet. Und in Österreich kam es in den entscheidenden Jahren zwischen dem Ende des Krieges und dem ersten wesentlichen Schritt in Richtung republikanischer Konsolidierung – der Beschluss über das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 – immer wieder zu auch von der KPÖ gesteuerten gewaltsamen Unruhen, die eine Möglichkeit eines Putsches nach dem Muster von Petrograd, vom Oktober 1917, nicht auszuschließen schienen (Botz 1983, 43–71). Erst 1920 war die Option eines Räte-Österreich nicht mehr vorhanden. 112

1918/19  : Die ungeliebte Republik

Aber was war mit der Monarchie  ? Waren die Abgeordneten, die im November 1918 die Republik ausriefen, davor nicht mehr oder weniger konsequente, mehr oder weniger überzeugte Repräsentanten eines Österreich gewesen, das – im Sinne des Staatsgrundgesetzes von 1867 – eine konstitutionelle Monarchie war, mit einer durchaus zumindest potentiell starken parlamentarischen Komponente  ? Wo war im November 1918 die Alternative »Habsburg«  ? Die K.-k.-Sozialdemokratie neigte am Beginn der Republik dazu, zu vergessen und vergessen zu machen, dass sie mit ihrem grundsätzlich (freilich weitgehend gescheiterten) transnationalen Anspruch eine prinzipielle Loyalität versprechende Säule in jedem Umbau des alten Österreich in eine Föderation hätte sein können und wohl auch müssen. Karl Renner, der noch 1916 und 1917 ein auch und gerade innerparteilich scharf kritisierter Proponent eines Modus Vivendi mit der alten Ordnung war, war nun entschiedener Republikaner (Saage 2016, 79–154). Es war die Bereitschaft der Sozialdemokratie vor dem, während des und nach dem Krieg zu Kompromissen, die ihr immer wieder den spöttischen Zuruf einbrachte, sie sei ein als Wolf verkleidetes Schaf. Die Christlichsozialen, die sowohl in ihrem urbanen Flügel als auch in ihrem ländlich-agrarischen Segment Träger eines durchaus vorhandenen habsburgisch-österreichischen Patriotismus waren, hatten aus Einsicht in die politischen Realitäten die monarchische Option abgeschrieben. Unter Ignaz Seipels Führung stellten sie sich auf den Boden der durch das Kriegsende und die Gründung der anderen Nachfolgestaaten geschaffenen Tatsachen. Die Christlichsozialen standen noch mehr als die Sozialdemokraten für Kontinuität  : Als bis Herbst 1918 eindeutig an der Sicherung der Monarchie orientierte Partei standen sie für den evolutionären Übergang von der Monarchie zur Republik (Boyer 1995, 452–462). Die Deutschnationalen sahen vor allem im Bekenntnis zur »Deutschen Republik« die Gewähr, dass sie den von ihnen mit unterschiedlicher Intensität abgelehnten Schmelztiegel des Habsburger Reiches endlich in Richtung der lichten Höhen eines Reiches verlassen konnten, das nur noch »deutsch« war. Die aus einem Teil der deutschnationalen Verbände und deutschnationalen Abgeordneten 1920 gegründete Großdeutsche Volkspartei nahm durch ihren Namen in Kauf, dass sie – entgegen der ursprünglichen, auf 1848 verweisenden Begrifflichkeit – nicht für eine österreichische Führungsrolle in einem Deutschen Reich eintreten konnte, dass ihre Vorstellung vom Anschluss aus realpolitischen Zwängen einer kleindeutschen Lösung entsprechen musste. Aber in ihrem »Salzburger Programm« formulierte sie ein völkisch-rassistisches Verständnis von Deutschtum, ausgedrückt in einem vulgären Antisemitismus (Wandruszka 1954, 382–386  ; Berchtold 1967, 439–482). 113

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Das Fehlen real vorhandener Alternativen zur Republikgründung ermöglichte den parlamentarischen Konsens. Das war auch die Folge der Politik der Siegermächte. Sie hatten schon vor dem Ende des Krieges darauf gesetzt, den als »Völkerkerker« denunzierten Habsburgerstaat in verschiedene Bestandteile zu zerschlagen. Und Woodrow Wilsons ebenso gut klingende wie vage Konzeption eines »Selbstbestimmungsrechtes der Völker« – eine Konzeption, die völlig offen ließ, wer oder was »ein Volk« ausmachte – schuf den Überbau über eine bestimmten, durchaus nachvollziehbaren Interessen folgende Ordnung. Das Deutsche Reich sollte gezähmt und geschwächt werden – und deshalb wurde ein Anschluss Österreichs an Deutschland untersagt. Eine starke Tschechoslowakei und ein starkes Jugoslawien – beide geschaffen unter teilweise Vernachlässigung, ja Verletzung der Prinzipien Wilsons – sollten in Verbindung mit einem gestärkten Rumänien im Rahmen eines Bündnissystems (»Kleine Entente«) die Nachkriegsordnung gegen jeden deutschen und ungarischen Revisionismus sichern. Und die Unvermeidlichkeit, dass das neue Polen auch das österreichische Galizien umfassen musste – wenn man sich auf die Neugründung Polens einließ –, tat ihr Übriges, um Österreich als kleinsten der Nachfolgestaaten der Monarchie zu definieren. Österreich war eben wirklich der »Rest«. Und diesem »Rest« blieb angesichts des von den Siegermächten und den (anderen) Nachfolgestaaten genährten Feindbildes Habsburg nichts anderes übrig, als das zu tun, was von den Umständen vorgegeben war, die von allen möglichen Faktoren geschaffen und von so vielen Seiten definiert waren – nur nicht von der Seite Österreichs. Die Gründung der Republik Österreich war eine realpolitische Verlegenheitslösung. Als solche konnte sie und musste wohl auch akzeptiert werden. Aber wirklich geschätzt wurde sie kaum und selten und wenn überhaupt dann nur mit erheblichen Einschränkungen. Die Republik, wie sie sich nach dem Staatsvertrag von St. Germain begrenzt sah, war eine unter mehr oder weniger hörbarem Zähneknirschen akzeptierte Unvermeidlichkeit. Die mentale und emotionelle Tiefenwirkung dieser Lösung tendierte gegen null. Ein Österreich-Patriotismus, wenn er überhaupt existierte, bestand in einer Habsburg-Wehmütigkeit, nicht aber in einem starken, positiven Gefühl für die republikanische Ordnung des von den Siegern definierten Restes. Doch mit diesem Rest musste etwas geschehen. Und es ist erstaunlich, wie aus diesem Rest die Republik gemacht wurde – eine schlüssige Kopfgeburt. Die politische und auch intellektuelle Konsistenz dieses aus Vernunft und aus Einsicht in das Mögliche entstandenen Gebildes konnte sich freilich erst nach dem Scheitern des ersten Versuches der Republik und den Jahren der Katastrophe erweisen – nicht nach 1918, sondern erst nach 1945. Das rückblickend in sich logisch anmutende, ja geradezu zwingende Scheitern der Ersten Republik 114

1918/19  : Die ungeliebte Republik

kontrastiert auffallend mit dem Erfolg der Zweiten Republik, einer Republik, deren in rechtliche Normen gegossene politische Strukturen durchaus die waren und sind, die auch die Jahre unmittelbar nach der Republikgründung bestimmten  : Parteienstaatlichkeit und Verfassungskonsens. Der Verfassungskonsens ging freilich in der Ersten Republik schließlich verloren – umso erstaunlicher, dass er 1945 und danach so selbstverständlich wieder akzeptiert war. Allerdings waren 1945 die entscheidenden Parameter andere als 1918  : Das kleine Österreich hatte eine Variante des realen »Anschlusses« erlebt, der eine schreckliche, eine schrecklich negative Erfahrung war, einen »Anschluss«, in dessen Verlauf zunächst so viele dem Prominentesten unter den Exilösterreichern mit einer oft an quasi-religiöser Hysterie mahnenden Begeisterung zugejubelt hatten. Und auch die internationalen Parameter waren andere  : Die Siegermächte des Zweiten der beiden Weltkriege waren, aus den verschiedensten Gründen, diesem Österreich nunmehr überaus freundlich gesinnt – wie dies in der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 ausgedrückt worden war. Das alles war 1918 und 1919 anders  : Österreich war für die Siegermächte ein Feind, und dem entsprach ein Feindbild – weniger für Frankreich, Großbritannien und die USA, und mehr für die anderen Nachfolgestaaten der Monarchie, die sich auf der Seite der Sieger sahen – also für alle Staaten dieses mitteleuropäischen Raumes mit Ausnahme Ungarns. Verglichen mit dem Feindbild Deutschland war Österreich für die siegreichen Großmächte allerdings nur von sekundärer Bedeutung, aber als Feindbild durchaus geeignet, den Siegern dafür zu dienen, sich die Loyalität der anderen Nachfolgestaaten zu sichern, die – mit Ausnahme Polens – sich nicht von einem deutschen, die sich von einem österreichischen oder ungarischen Revisionismus bedroht sahen. 1919 wurde die Konstituierende Nationalversammlung gewählt, deren Aufgabe die Ausarbeitung und der Beschluss einer demokratischen und republikanischen Verfassung sein sollte. Gewählt wurde diese Konstituierende Versammlung nach dem allgemeinen und gleichen Frauen- und Männerwahlrecht. Den Frauen wurden, im Einklang mit dem Trend der Zeit, nun ebenfalls alle Rechte der politischen Partizipation eingeräumt. Doch gewählt wurde nunmehr auch nach dem Grundsatz der Verhältniswahl, die das in der Monarchie herrschende Mehrheitswahlrecht ablöste. Für diese Änderung hatten sich vor allem die Sozialdemokraten stark gemacht, die das alte Wahlrecht mit seinen die großen Parteien fördernden, die Kleinparteien benachteiligenden Effekten als unfair und daher als ungerecht und undemokratisch abgelehnt hatten. Die Folgen des Grundsatzes der Verhältniswahl, der auch 1920 in das Bundes-Verfassungsgesetz aufgenommen wurde, war der faktische Zwang zur Koalitionsbildung. Keine Partei konnte erwarten, im Parlament allein über eine regierungsfähige Mehrheit zu verfügen. Auch jede der beiden Großparteien 115

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musste wissen, dass sie Koalitionspartner brauchen würde, um über eine parlamentarische Mehrheit zu verfügen. Und damit war, ohne dass dies 1920 schon erkennbar gewesen wäre, die Sozialdemokratie für die verbleibenden Jahre der Ersten Republik ausmanövriert. Denn die Christlichsozialen fanden in den deutschnationalen Parteien (Großdeutsche Volkspartei und Landbund) und später auch in dem als eigene Partei kandidierenden Heimatschutz (den Heimwehren) Verbündete und sicherten sich so eine parlamentarische Mehrheit. Der »Bürgerblock« war geboren, die Sozialdemokratie war und blieb isoliert. Doch zunächst herrschte Konsens. Die Verfassung wurde erarbeitet und am 1. Oktober 1920 mit einer breiten Mehrheit in der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. Um das Entstehen der Verfassung ranken sich Legenden, die viel über das herrschende Verständnis von Politik und Demokratie aussagen. Dass Hans Kelsen als Berater bei der Formulierung der Baugesetze der Verfassung wesentlich geholfen hatte, machte in den Aussagen von Beobachterinnen und Beobachtern, von Kommentatorinnen und Kommentatoren die Verfassung zur »Kelsen-Verfassung«. Kelsens Einfluss war freilich methodischer, nicht inhaltlicher Natur  : Es war sein »Denkstil«, der die Verfassung prägte ( Jabloner 2015, 176). Die zentrale politische Funktion einer Verfassung – die Festlegung, wie sich staatliche Macht legitimiert, wie sie kontrolliert und abgelöst werden kann, dies zu bestimmen war nicht Kelsens Aufgabe, die wurde von ihm auch nicht in Anspruch genommen. Die Bezeichnung »Kelsen-Verfassung« lenkt vom politischen Charakter der Verfassung der Republik ab. Eine solche Einordnung entpolitisiert ein höchst politisches Projekt, indem sie dieses in ein rechtswissenschaftliches Projekt umdeutet (Welan 2012, 221–233). Die Verfassung war unvermeidlich ein hoch politisches Werk. Und die entscheidenden Weichenstellungen wurden nicht von Hans Kelsen vorgenommen, sondern von Karl Renner und Otto Bauer, Ignaz Seipel und Jodok Fink. Dass die Republik ein mit einer nur geringen Kompetenzfülle ausgestattetes Staatsoberhaupt erhielt, war ein politischer Kompromiss  : Die Sozialdemokratische Partei wollte auf ein solches Amt überhaupt verzichten und dem Nationalratspräsidenten (oder einem Parlamentspräsidium) die Aufgaben eines republikanischen Staatsoberhauptes übertragen. Die Christlichsozialen strebten einen Präsidenten mit größerer Machtfülle an, direkt vom Volk bestellt – eine Vorstellung, die dann 1929 durch eine Novellierung des Bundes-Verfassungsgesetzes Realität werden sollte. Das Resultat  : ein kompetenzarmer Bundespräsident. Ein anderer politischer Kompromiss war die Bundesstaatlichkeit  : Die Sozialdemokratie wollte einen Zentralstaat, die Christlichsozialen eine föderale Struktur mit ausgeprägten Länderrechten. Das Resultat  : ein Bundesstaat mit 116

1918/19  : Die ungeliebte Republik

insgesamt schwach ausgeprägten Rechten für die zunächst sieben, schließlich neun Bundesländer. Am Beispiel der bundesstaatlichen Strukturierung der Republik war auch zu erkennen, dass es sich bei der Suche nach einer neuen Verfassung nicht um einen abstrakten Verfassungsdiskurs handelte, sondern um den Abtausch von Interessen. Die Sozialdemokratie ging davon aus, dass sie zwar Wien politisch dominieren kann, dass aber die anderen Länder unter christlichsozialer Hegemonie stehen würden  ; deshalb die sozialdemokratische Abneigung gegen einen ausgeprägten Föderalismus. Die Christlichsozialen waren aus ebendiesen Gründen zur gegenteiligen Position gekommen. Die Verfassungsdebatte hier und auch in allen anderen Fragen war primär von Interessen, nicht von Ideen geleitet. Die zwischen den Parteien ausgehandelten politischen Kompromisse wurden von Hans Kelsen in eine bestimmte Rechtsform gegossen. Und das wurde dann aus bestimmten Gründen missdeutet  : Die Verfassung sei »rechtspositivistisch«, weil Kelsen als Gründer und führender Vertreter des Rechtspositivismus galt. Die Verfassung sei gleichsam von Kelsen entworfen worden, die Zustimmung der Nationalversammlung sei nur Formsache gewesen. Alle diese Interpretationen sind Ausdruck einer Flucht vor dem Politischen. Die unbestreitbare Brillanz von Kelsens Rechtssystematik wurde benutzt, um die Politik in der Verfassung unsichtbar zu machen, die Politik aus der Verfassung zu vertreiben. Eben deshalb vermied man es, in der Verfassung den Status der eigentlichen Verfassungsgeber zu klären – den Status der politischen Parteien. Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 ignorierte seine Mütter, seine Väter  : die Parteien. Diese hatten die Verfassung genutzt, um sich hinter der Verfassung zu verstecken. Diese versuchte Entpolitisierung der Verfassung stand für eine Kultur, die von Politik bestimmt war, dies aber nicht eingestehen konnte und wollte. Die Republik wurde von politischen Kräften in einem Vieleck politischer Interessen geschaffen – aber diese Interessen legten wenig Wert darauf, als Schöpfer der Republik genannt zu werden. Die offizielle Republik, in Form ihrer Verfassung, negierte ihre politischen Bestimmungsfaktoren – die Interessen der Akteure jenseits der Grenzen und die Interessen im Lande selbst. Und die Republik wurde ebenso kulturell negiert. Das besonders eindrucksvolle literarische Dokument der Ereignisse von 1918 – Franz Theodor Csokors 3. November 1918 – handelt vom Zusammenbruch des alten Österreich und dem Aufstieg der nicht-österreichischen Nationalismen. Österreich, dem neuen und republikanischen Österreich, wurde nicht nur bei Csokor keine Bedeutung zugemessen. Österreich wird, bei Csokor, zu Grabe getragen. Die Verfassung vom 1. Oktober 1920 ist inzwischen – durch ihre Geltung auch in der Zweiten Republik – die älteste geschriebene noch gültige Verfassung eines europäischen Flächenstaates. Das allein ist ein Beleg für ihre Qua117

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lität. Doch diese Qualität war zuallererst ein politischer Erfolg. Die Republik begann mit einem geglückten Paukenschlag. Aber dieser sollte nicht denen zugeschrieben werden, die dafür verantwortlich waren. Man sprach daher nicht von einer »Renner-Seipel-Verfassung«, sondern von einer »Kelsen-Verfassung«. Und da dieser Hans Kelsen bis in die Zweite Republik hinein mit dem auch von Taras Borodajkewycz betonten Etikette »Jude« zu leben hatte, war damit die Verfassung eine jüdische. Die antijüdische Konnotation der Verfassung – in Verbindung mit Kelsen – führte Jahrzehnte später zu einer der größten innenpolitischen Gewaltexplosionen der Zweiten Republik, im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen und für Borodajkewycz, Professor für Geschichte an der Wiener Hochschule für Welthandel, der späteren Wirtschaftsuniversität (Fischer 1966  ; Kropiunigg 2015). Die Verfassung der Republik war von einem breiten Konsens getragen. Doch dieser Konsens war an reale Voraussetzungen gebunden, die auch abhanden kommen konnten. Das sollte rasch deutlich werden  : Die von der Konstituierenden Nationalversammlung 1919 (von Sozialdemokraten und Christlichsozialen gemeinsam) eingesetzte Sozialisierungskommission erarbeitete einvernehmlich Gesetzesentwürfe, von denen die meisten nicht beschlossen wurden. Mit dem Scheitern der Räterepubliken in Bayern und Ungarn und der Niederlage der Roten Armee vor den Toren Warschaus war die Angst der Christlichsozialen vor einer unmittelbar drohenden Revolution verflogen. Sie sahen keinen Grund mehr, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei besonders entgegenzukommen (Hanisch 2011, 185 f.). Die Fähigkeit der eben erst gegründeten Republik, im Interesse der Stabilisierung der Demokratie eine Kultur der Machtteilung zwischen den Lagern und insbesondere zwischen den beiden großen Parteien zu entwickeln, war mit dem Verfassungskonsens bereits fast vollständig erschöpft.

6.2 1920–1929  : Die ignorierte Republik 1920 kehrte so etwas wie Normalität in die österreichische Republik ein. In den folgenden Jahren fanden Wahlen zum Nationalrat, zu den Landtagen, zu den Gemeinderäten statt. Diese Wahlen waren grundsätzlich fair, und sie waren frei. Ihre Ergebnisse wurden allgemein respektiert. Die Republik schaffte auch im Konsensweg eine Neuordnung des Föderalismus  : Die westungarischen Bezirke, mit ihrer deutschsprachigen Mehrheit, waren in St. Germain Österreich zugesprochen worden. Sozialdemokraten und Christlichsoziale bestimmten gemeinsam die Struktur des neuen Bundeslandes und beschlossen, dass dessen Hauptstadt Eisenstadt sein sollte. 118

1920–1929  : Die ignorierte Republik

Eine Neuordnung der Bundesstaatlichkeit gelang auch im Konsensweg durch die Trennung von Wien und Niederösterreich. Die Bundeshauptstadt war ja – zunächst – Teil des Landes Niederösterreich. Hinter dem Trennungsbeschluss standen die Interessen der beiden Großparteien  : Die Loslösung Wiens von Niederösterreich und die Schaffung eines eigenen Bundeslandes Wien sicherte die Vorherrschaft der Christlichsozialen in Niederösterreich – und die der Sozialdemokraten in Wien, das nun Land und Stadt in einem war. Die Aufspaltung Niederösterreichs in zwei Länder entsprach geradezu mustergültig einer auf Machtteilung gegründeten Konsensdemokratie, die als eine der Instrumente zur Konfliktlösung die Methode territorialer Trennung einzusetzen vermag (Lijphart 1977, 44–47). Auch nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung 1920 hatte die österreichische Politik ihre Fähigkeit zum konstruktiven Kompromiss also nicht – noch nicht – eingebüßt. Die Erweiterung der Kompetenzen der Stadt Wien, die nun auch über die Zuständigkeiten eines Bundeslandes verfügte, sicherte der Sozialdemokratie die notwendigen Instrumente, Wien zu einer sozialdemokratischen Musterstadt zu machen. Bis 1918 hatte für Wien noch eine Variante des alten Kurienwahlrechtes gegolten, und dieses hatte der Stadt eine christlichsoziale Mehrheit in der Tradition Karl Luegers gesichert. Damit war es ab 1918 vorbei. Unter den sozialdemokratischen Bürgermeistern Jakob Reumann und Karl Seitz wurde Wien zu einem Labor gesellschaftlichen Engineerings, zu einem Muster der akkordierten Sozialreform, die nicht nur karitative Hilfe für soziale Bedürftige bot, die auch einem umfassenden gesellschaftspolitischen Zielkatalog folgte (Frei 1984  ; Zeisel 1985). Maßgeblich waren ein aus Steuermitteln finanzierter sozialer Wohnbau (die »Gemeindebauten«), eine präventiv orientierte Gesundheitspolitik und eine Bildungspolitik. Letztere stieß freilich rasch an ihre Grenzen, da Wien hier nicht von sich aus die von der Sozialdemokratie angestrebte Gesamtschule (»Einheitsschule«) einführen konnte – dafür wären die Bundespolitik und die auf der Bundesebene regierenden Christlichsozialen zu gewinnen gewesen. Das »Rote Wien« war als »Vorbote« eines sozialdemokratisch regierten Österreich gedacht – als ein gesellschaftspolitisches Experimentierfeld, als ein Laboratorium, das auch den Beweis für die Umsetzbarkeit der sozialdemokratischen Programmatik liefern sollte (Leser 1968, 373–376). Die Stadt und das Land Wien setzten deshalb auch besondere Akzente in der Kulturpolitik. Einfluss auf den unbändigen Gestaltungswillen, der die Sozialdemokratie im »Roten Wien« antrieb, hatte Alfred Adler, dessen Individualpsychologie – anders als die Psychoanalyse Sigmund Freuds – direkte Argumente für eine politische Steuerung der Sozialisation der Menschen zu liefern schien. Spezielle Symphoniekonzerte sollten dem Proletariat den Zugang zur Hochkultur eröffnen. 119

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Volkshochschulen wurden konzipiert, um eine vom sozialdemokratischen Fortschrittsoptimismus geprägte Erwachsenenbildung voranzutreiben. Wien wurde so zu einer »roten« Insel in einem katholisch-konservativ dominierten Österreich. Und dennoch  : Die Wahrnehmung Wiens außerhalb der europäischen Linken, die dieses sozialdemokratische Wien aufmerksam und voller Sympathie beobachtete, hatte sich nicht allzu sehr verändert. Für die herrschende Sicht auf das kulturelle Wien hatte die Republikgründung, hatte auch das »Rote Wien« keine allzu große Bedeutung. 1925 besuchte Thomas Mann Wien und referierte vor dem PEN-Club. Sein Bild von Wien, das er mit München verglich, hätte er auch um 1910 zeichnen können  : Die Wiener Kultur sei »älter und mürber«, sie habe eine »kleine Neigung zur Hinfälligkeit und Krankheit«. Das Klischee vom morbid-dekadenten Wien war lebendig. Mit dem Wien der Sozialdemokratie hatte dies aber auch gar nichts zu tun. Mann bescheinigte Wien auch, eine »charakteristisch prickelnde Sphäre« zu besitzen und »außerordentlich mondän« zu sein (Harpprecht 1996, I, 556). Mit denselben Worten hätte Mann auch die kulturelle und gesellschaftliche Atmosphäre des Wien des Fin de siècle beschreiben können. Und es war ja auch kein Zufall, dass der österreichische Dichter, der Mann am nächsten stand, Hugo Hofmannsthal war. Für diesen war die Republik ein lästiges Ärgernis, das am besten ignoriert werden sollte. Für Mann, der zur Zeit seines Vortrages vor dem PEN-Club in Wien bereits zum prominenten Repräsentanten und Verteidiger der Weimarer Republik geworden war, spielte die Republik Österreich offenbar ebenso wenig eine signifikante Rolle wie das »Rote Wien«. Für Mann schien die Republik gar nicht zu existieren – wenn es um Wien und nicht um Weimar ging. Für Hofmannsthal aber warf die republikanische Gegenwart einen eher unerfreulichen Schatten  : Die aristokratisch-großbürgerliche Atmosphäre, in der Hofmannsthal zuhause war, die er in seinen literarischen Werken abbildete, war durch Kleinbürgertum und Proletariat, die nun plötzlich nicht mehr ihre »angestammten« Plätze in der Pyramide der sozialen Hierarchien zu akzeptieren schienen, erheblich gestört. Hofmannsthals Ästhetizismus sah sich durch alles, was republikanisch war, zutiefst verunsichert. Ein anderes Österreich-Bild stand einem anderen Besucher aus Deutschland vor Augen. Theodor Adorno lebte, beginnend 1925, einige Jahre in Wien. Seine kulturellen Bezüge, seine persönlichen Kontakte waren nicht Hofmannsthal, sondern Karl Kraus und Arnold Schönberg. Adorno war an einem Österreich interessiert, das sich nicht in eine Nostalgie einhüllte, um der grauen Gegenwart zu entkommen (Dvorák 2005, 25–34). Adornos bahnbrechende Forschungen im Bereich der Musik- wie auch der Sozialwissenschaften 120

1920–1929  : Die ignorierte Republik

reflektierten nicht Vergangenes, sie beeinflussten Zukünftiges. Die Lebenswege Manns und Adornos, der beiden so unterschiedlichen Wien-Besucher der 1920er Jahre, sollten sich wieder im kalifornischen Exil überkreuzen. Die literarische Figur des Adrian Leverkühn (der manche Züge Schönbergs trägt) in Manns Doktor Faustus wurde auch vom Rat des »komponierenden Philosophen« Adorno beeinflusst (Harpprecht 1996, 2. Band, 1540–1549). 1922 erhielt Österreich eine Anleihe des Völkerbundes. Die Sozialdemokratie stimmte im Nationalrat gegen die »Genfer Protokolle«, deren Ratifizierung diese Sanierungsmaßnahme sicherte. Die Anleihe brachte das Vertrauen der Großmächte in das neue Österreich zum Ausdruck. Mit der Anleihe war eine Präzisierung und weitere Betonung des Verbotes einer Vereinigung mit Deutschland verbunden – das »Anschlussverbot« war auch drei Jahre nach dem Vertrag von St. Germain ein zentraler Bestandteil der Politik der (westeuropäischen) Mächte. (Berger 2007, 91–94) Dieses Verbot eines Aufgehens in der demokratischen Deutschen Republik lieferte die Begründung für das Nein der sozialdemokratischen Opposition im Parlament (Hanisch 2011, 214–219). Die Inflation der unmittelbaren Nachkriegszeit war nun überwunden. Eine neue Währung – der Schilling – wurde 1925 eingeführt. Es begannen einige Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die wenig geliebte Republik schien sich in Richtung Stabilität zu entwickeln. Die parlamentarische Demokratie schien Wurzeln zu schlagen. Die Sozialdemokratie blieb freilich – auf Bundesebene – auf die Rolle einer Daueropposition reduziert, die Republik wurde von denen regiert, die ihr gegenüber die größten Vorbehalte hatten – vom »Bürgerblock«, der Koalition aus Christlichsozialen und Deutschnationalen, einer Allianz, deren Hauptzweck zu sein schien, die Sozialdemokraten von der Regierung fernzuhalten. Davon unbeschadet blieben die Spielregeln der demokratischen Verfassung allgemein respektiert. Die antiparlamentarischen Tendenzen, die bald von Seiten der Heimwehren und vor allem auch der NSDAP ins politische Spiel gebracht werden sollten, waren zunächst weit außerhalb des zentralen politischen Geschehens, des Mainstreams. Die Kommunistische Partei Österreichs, die niemals auch nur annähernd die Stärke der deutschen oder der französischen Kommunisten erreichen konnte, blieb marginalisiert – von einer starken Sozialdemokratie an den Rand gedrängt, wohl auch weil die Oppositionsrolle der Sozialdemokratischen Partei ein verbalradikales Auftreten erlaubte. Die Republik schien in einer demokratischen Stabilität angekommen zu sein, zu einem Gleichgewicht gefunden zu haben. Auch das kulturelle Leben Österreichs stabilisierte sich. Die nunmehr Staatsoper genannte Hofoper in Wien konnte sich in ihrer Rolle als eines der führenden Opernhäuser der Welt behaupten. Dass mit Richard Strauss einer der ganz Großen unter den leben121

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den Opernkomponisten der Welt die Direktion der Staatsoper von 1919 bis 1924 übernommen hatte, unterstrich die ungebrochene Attraktivität Wiens als Weltmusikstadt. Strauss war eine der zentralen Personen des kulturellen Österreich – in der Republik wie auch im »Ständestaat«. Und er spielte eine führende kulturpolitische Rolle, nach gewissen Reibungen, auch im NS-Staat  : in Wien und Salzburg, Dresden, München, Berlin. Er verstand sich als »unpolitisch« – und sein Zusammenstoß mit einem anderen »Unpolitischen«, mit Stefan Zweig, zeigte die Problematik der Politikverweigerung generell. Zweig hatte das Libretto für Strauss’ Oper Die schweigsame Frau geschrieben, die 1935 in Dresden uraufgeführt wurde. Im Vorfeld hatte Strauss unter erheblichem Einsatz durchgesetzt, dass Zweigs Name – der als »Jude« im nationalsozialistischen Deutschland verfemt war – im offiziellen Programm genannt wurde. Der Konflikt führte dazu, dass die Staats- und Parteiführung der Premiere fernblieb und Strauss sein 1933 übernommenes Amt als Präsident der Reichsmusikkammer zurücklegte bzw. zum Rücktritt gedrängt wurde (Matuschek 2014, 288 f.  ; Ender 2014, 261–273). In seinem Briefwechsel mit Zweig hatte sich Strauss als unpolitisch und an der »Rassenfrage« desinteressiert bezeichnet. Strauss’ Rolle als Unpolitischer hatte ihn zwar das Präsidentenamt in der Reichsmusikkammer gekostet, aber er machte sich weiter im NS-Staat nützlich – und das Regime war ihm nützlich  : durch Uraufführungen, durch seine Tätigkeit als Dirigent nach dem März 1938 (wie schon davor) in Salzburg und in Wien. Zweig, der Unpolitische, starb 1942 im Exil  ; Strauss, der Unpolitische, starb 1949 – nach Abschluss seines »Entnazifizierungsverfahrens« (»nicht betroffen«) und letzten, hohen Ehrungen anlässlich seines 85. Geburtstages im US-amerikanisch besetzten Bayern. Die Republik war nicht nur in der Bewahrung alter kultureller Größe erfolgreich – wie die Wiener Staatsoper gerade auch unter Strauss demonstriert hatte, sie betrat auch kulturelles Neuland. 1924 wurden die Salzburger Festspiele gegründet, die seit 1920 als zweites kulturelles Zentrum neben Wien geplant waren. 1927 begannen die jährlichen Aufführungen. Die erste Oper, die gegeben wurde, war Fidelio. Nicht ganz zufällig sollte mit Beethovens Oper 28 Jahre später die Opernsaison in der wieder aufgebauten Staatsoper in Wien begonnen werden  : Diese Freiheitsoper stand für die musikalische Kontinuität österreichischer Hochkultur. Doch ausgedrückt in der Schlüsselrolle, die Hugo Hofmannsthal in den Anfängen der Salzburger Festspiele zukam, ging es in Salzburg weniger um politische Freiheit und mehr um religiösen Glauben, um Katholizität, weniger um Neues und mehr um die Musealisierung des Alten. Hofmannsthals Jedermann, gespielt vor dem Dom, war dafür ebenso 122

1920–1929  : Die ignorierte Republik

ein Beleg wie Das Salzburger Große Welttheater, dessen Uraufführung 1922 in einer Kirche – der Kollegienkirche – stattgefunden hatte (Steinberg 2000). Die ersten Ideen, das von der Geschichte des Erzbistums besonders geprägte Flair der Stadt an der Grenze zu Deutschland, zu Bayern, als kulturelles Markenzeichen zu nutzen, waren schon vor 1918 formuliert worden. Diese Konzeptionen, die dann nach 1918 in eine Realität umgesetzt werden konnten, waren von einer für Österreich aussagestarken Vieldeutigkeit  : Es ging darum, »deutsche Kultur« durch »österreichische Kulturpolitik« zu zeigen (Steinberg 2000, 116–141). Es ging darum, spezifisch Österreichisches in einen deutschen Kulturkontext zu stellen. Und dieses spezifisch Österreichische wurde in der Tradition des Barockkatholizismus und damit auch der Gegenreformation vermittelt. Es war ein kulturpolitisches Aufzeigen – im Sinne eines katholisch gefärbten »großdeutschen« Gedankens, der dem »kleindeutschen«, preußisch-protestantisch dominierten, 1871 gegründeten Deutschen Reich gegenübergestellt wurde (Steinberg 2000, 110 f.). Hinter diesem Konzept – vage und in seinem Abgrenzungsbedürfnis auch wiederum klar – waren Republik und Demokratie zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht vorgesehen. Und wenn es um die Abgrenzung gegenüber »Preußen« ging, so ging es, indirekt, aber klar erkennbar, auch um die Abgrenzung gegenüber dem »Roten Wien«. Wie vage letztlich das kulturpolitische Design der Festspiele war, zeigte sich 1938  : Hofmannsthals Jedermann musste vom Repertoire ebenso verschwinden wie Max Reinhardt als Mitgestalter des gesamten Konzepts des Festivals. Doch zwischen 1938 und 1943 wurde weitergespielt – und bei den Aufführungen des Rosenkavaliers wurde der Dichter des Textes, Hofmannsthal, ganz einfach nicht mehr genannt. Richard Strauss dominierte das Opernrepertoire, Mozart wurde weiterhin gespielt und im Theater – neben Goethe und Kleist – auch Shakespeare und Molière. Joseph Goebbels, der nun die »Kulturpolitik« bestimmte, war sich natürlich bewusst, dass die Salzburger Festspiele nicht einfach in einen kleindeutschen Provinzialismus versinken durften, wenn sie als sommerliches kulturelles Großereignis des NS-Staates sich neben und nach Bayreuth zu bewähren hätten (Steinberg 2000, 233–235). Salzburg und die Festspiele waren »judenfrei« – so aber nun auch für den NS-Staat nützlich. Die Etablierung der Salzburger Festspiele war die wohl am stärksten prägende (hoch)kulturelle Innovation der Jahre der Republik. Die Festspiele waren eine Akzentsetzung, die – auch wenn sie in einem vorrepublikanischen Verständnis von Gesellschaft und Kultur verwurzelt war – ihre Nachhaltigkeit durch ihre Überlebensfähigkeit unter Beweis stellte  : angedacht noch in der Monarchie, etabliert in der Ersten Republik, lebendig im »Ständestaat« wie auch im NS-Staat und wieder voll und mehr als je zuvor erblüht in der Zweiten Republik. 123

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In der Phase der relativen politischen Stabilisierung der Republik in den 1920er Jahren entwickelten sich Kunst und Kultur auch jenseits dieses einen Großereignisses, des Beginns der Salzburger Festspiele, und konnten durchaus in Einklang mit der Wunschvorstellung einer kulturellen Großmacht namens Österreich gebracht werden. In der Architektur entwickelte sich das schöpferische Potential weiter, das vor 1914 mit Adolf Loos, Josef Frank, Franz Schuster und dem Österreichischen Werkbund verbunden war, und verband sich auch mit den gesellschaftspolitischen Impulsen wie der Siedlerbewegung und dem kommunalen Wohnhausbau der Stadt Wien (Achleitner 1983, 676–682). In der Malerei beeinflusste der Expressionismus, der ja mit Oskar Kokoschka schon vor 1914 in Österreich lebendig war, Maler wie Albin Egger-Lienz (Schmied 1983, 696–700). Die Bildende Kunst gewann in der Republik ein Ansehen, das freilich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voll erkannt werden sollte  : Herbert Boeckl, Albert Paris Gütersloh, Alfred Kubin, Fritz Wotruba und andere begannen ihre auch international beachtete Karriere als Maler, Bildhauer, Lithographen. Das meiste, das sie schufen, wurde 1938 von dem Urteil »entartete Kunst« eingeholt. Und es brauchte auch nach 1945 noch Jahre, bis sich die – Zweite – Republik an die künstlerische Kreativität zu erinnern vermochte, die sich in der Ersten entwickelt hatte. Erst allmählich begann sich Österreich dieser Kreativität bewusst zu werden. Sammler wie Otto Mauer, Viktor Matejka und Wilfried Daim halfen viele Jahre nach der Befreiung Österreichs mit, diese kulturelle Produktivität ins öffentliche Bewusstsein zu rücken (Diem 2011, 179–192). Kunst und Kultur entwickelten sich in einer Zeit der relativen politischen Ruhe (nach 1920) und einer allmählich Prosperität versprechenden wirtschaftlichen Entwicklung (ab 1922). Diese Zeit war aber eine Periode politischer Stagnation – ausgedrückt in der verfestigten Fragmentierung einer von Feinddenken und Feindbildern geprägten politischen Landschaft. Österreichs Kulturlandschaft war dynamisch – nur nicht die Landschaft der Politischen Kultur. Da standen, nicht unbedingt bemerkt von allen politischen Akteuren, die Zeichen bereits auf Sturm. Die politische und kulturelle Stabilisierung erwies sich als Scheinblüte. Der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927, die Folge heftiger Demonstrationen und in Verbindung mit einem brutalen Polizeieinsatz, war ein deutliches Signal. Noch hatte die Weltwirtschaftskrise nicht begonnen – die ökonomische und soziale Notlage konnte also nicht der entscheidende Grund für die nun einsetzende Gewaltspirale sein. Es waren die Defizite einer immer nur Gegensätze und Gegnerschaft betonenden Politischen Kultur, die einer weiteren Stabilisierung der demokratischen Republik entgegenstanden. Die Lager und 124

1920–1929  : Die ignorierte Republik

Parteien hatten von einer pragmatischen Konsensbereitschaft nicht zu einer grundsätzlichen Verfestigung und Vertiefung ihrer Gemeinsamkeiten auf dem Boden der demokratischen Republik gefunden. Sie standen sich voll Misstrauen gegenüber. Und sie begannen zu rüsten – mit Blickrichtung auf einen möglichen Bürgerkrieg, der bald Realität werden sollte. Der Brand des Justizpalastes war eine tragische Paradoxie. Im burgenländischen Schattendorf hatte ein Zusammenstoß zwischen einer politisch rechten Frontkämpfervereinigung und dem Republikanischen Schutzbund zwei Todesopfer auf der Seite der Linken gefordert. Ein Geschworenengericht sprach die angeklagten Frontkämpfer frei. Geschworenengerichte wurden von der Sozialdemokratie als große Errungenschaft gesehen, weil »das Volk« und nicht Berufsrichter Recht sprachen. Der Freispruch der Angeklagten durch die Vertreter »des Volkes« führte aber in diesem Fall zu einer Massendemonstration, die sich nicht gegen das Straflandesgericht Wien richtete, in dem der Prozess stattgefunden hatte, sondern gegen den Justizpalast, der mit dem Strafverfahren in keinem erkennbaren Zusammenhang stand. Der Brand und der Polizeieinsatz forderten 89 Todesopfer, darunter vier Angehörige der Exekutive (Leser 1968, 399–411  ; Botz 1987, 65–117). Karl Kraus, der sich ganz auf die Seite der Demonstranten stellte, forderte in einer Plakataktion den Polizeipräsidenten Johannes Schober zum Rücktritt auf. Elias Canetti beobachtete das Geschehen und sah in ihm die Eigendynamik einer Massenbewegung – er verwertete diese Erfahrung in Masse und Macht. Die am 15. Juli 1927 in Gang gesetzte Gewaltspirale war die erste Etappe der Republik auf ihrem Weg in den Untergang. Die Ereignisse des Juli 1927 zeigten, wie dünn die Fassade demokratischer Stabilität war, die sich die Republik 1920 und danach zuzulegen verstanden hatte. Die Wirtschaftskrise sollte erst zwei Jahre später beginnen und die NSDAP erst 1930 den Durchbruch bei Wahlen in Deutschland schaffen. Der Brand des Justizpalastes und die darin überdeutliche extreme Brüchigkeit der demokratischen Republik hatte mit diesen erst später hinzutretenden Faktoren an sich nichts zu tun  : Die Republik war schon morsch, bevor Massenarbeitslosigkeit und Nationalsozialismus sich auswirken konnten. 1928 war Gelegenheit, des zehnten Jahrestages der Ausrufung der Republik zu gedenken. Dieser Jahrestag wurde nicht zu einem Festtag, der die politischen Kontrahenten, die politisch-weltanschaulichen Lager hätte verbinden können. »Das rote Wien feiert die Republik«, berichtete die Arbeiter-Zeitung am 13. November 1928, mit dem Untertitel »Gigantischer Aufmarsch der Wiener Arbeiterschaft vor dem Denkmal der Republik« (Bertschik, Kucher, Polt-Heinzl, Unterberger 2014, 238). Es war das Denkmal, auf dem drei Sozialdemokraten – und nur Sozialdemokraten – als Gründer der Republik in 125

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monumentaler Form verewigt wurden. Die Christlichsozialen und der »Bürgerblock« insgesamt konnten sich wohl nicht eingeladen fühlen, an einem solchen »gigantischen Aufmarsch« vor einem Denkmal teilzunehmen, das als Gedenkstätte einer Partei und nicht der Republik wahrgenommen werden musste. Aber die Christlichsozialen hatten immer schon mit der Republik ihre Probleme gehabt. Im Innersten waren viele ganz einfach Monarchisten geblieben – wie etwa Wilhelm Miklas, der 1928 zum zweiten (und letzten) Bundespräsidenten der Ersten Republik gewählt wurde und der in diesem Amt auch während der Jahre des autoritären Ständestaates verblieb. Viel mehr als die Hinnahme der demokratischen Republik als kleinstes der möglichen Übel war von diesen mehr oder minder offen für Habsburg eintretenden Repräsentanten des katholisch-konservativen Lagers nicht zu erwarten. Die mit diesem Lager verbundenen Monarchisten hatten freilich noch ein weiteres spezifisches politisches Merkmal  : Sie waren erheblich weniger anfällig als andere »bürgerliche« Kräfte für den sich radikalisierenden Deutschnationalismus, der innerhalb weniger Jahre zum Nationalsozialismus mutierte. Mit dem Generationenwandel trat eine weitere, in ihren Effekten letztlich antirepublikanische Tendenz in Erscheinung  : Aus den Überlebenden der Schützengräben des Weltkriegs kamen die nicht unbedingt monarchistisch gesinnten, nicht à priori antidemokratischen Offiziere – wie Engelbert Dollfuß, wie Kurt Schuschnigg, wie Julius Deutsch. Deutsch war Sozialdemokrat, seine Erfahrungen im Krieg hatten nichts daran zu ändern vermocht. Deutsch war und blieb der demokratischen Republik verpflichtet. Und er verstand seine Loyalität gegenüber der Republik, indem er seine Partei militärisch für die sich abzeichnende Notwendigkeit vorzubereiten, die Republik wenn nötig mit Waffengewalt zu verteidigen  : Deutsch wurde zu einer Schlüsselfigur des Republikanischen Schutzbundes, der sozialdemokratischen Miliz (Deutsch 1960). Dollfuß und Schuschnigg waren – sozialisiert im katholischen Milieu, Mitglieder des CV, des Cartellverbandes – prototypische Christlichsoziale. Dollfuß und Schuschnigg hatten nichts gegen die Demokratie an sich, sie waren allerdings mehr und mehr gegen die real existierende Demokratie. Die Schuld an den Enttäuschungen durch die Zustände der Gegenwart gaben sie ganz vage »den Parteien« und dem »westlichen« Parlamentarismus. Sie wünschten sich eine starke Hand, wie sie dies aus den Kommandostrukturen der Armee gewohnt waren. Sie wollten eine starke Exekutive. Und sie sahen in den aus den Veteranenverbänden der österreichisch-ungarischen Armee entstandenen Wehrverbänden (allen voran in dem in regionale Heimwehren gegliederten Heimatschutz) einen Bündnispartner bei der Umgestaltung der Republik, bei der angestrebten Stärkung der Exekutive (Edmondson 1978). 126

1929–1933/34  : Die bedrängte Republik

Ignaz Seipel hatte die Erwartungen der neuen Politikergeneration in den eigenen Reihen erkannt. Er, der in der allerletzten Phase der Monarchie noch kaiserlicher Minister gewesen war, der seine Partei 1918 und 1919 auf Republikkurs gebracht und wesentlich zum Verfassungskonsens 1920 beigetragen hatte, begann nun vermehrt von der »wahren Demokratie« und der »wahren Republik« zu sprechen. Das war die Tonart, die sich die in Wehrverbänden organisierten, politisch rechts stehenden ehemaligen Soldaten hören wollten  : man stellte das Adjektiv »wahr« vor die Kernbegriffe der real existierenden Ordnung – und signalisierte damit die Absicht, den Inhalt dieser Begriffe in sein Gegenteil zu verkehren (Diamant 1960, 97–105  ; Klemperer 1972, 274– 292). Ein letztes Zeichen der potentiellen Stärke der demokratischen Republik war der Kompromiss, der die Verfassungsnovelle von 1929 ermöglichte. Die Christlichsozialen drängten, auch um den Druck der militant antidemokratischen (oder zumindest antiparlamentarischen) Heimwehren abzuwehren, auf eine Stärkung der exekutiven Staatsgewalt, des Bundespräsidenten und der Bundesregierung – und damit auf eine Schwächung des Parlaments. Noch versuchten sie dieses Ziel im Rahmen des Bundes-Verfassungsgesetzes erreichen – und nicht, wie später, unter Verletzung der Verfassung. Deshalb brauchten sie für die für eine Verfassungsänderung notwendige parlamentarische Zweidrittel-Mehrheit die Zustimmung der Sozialdemokraten. Diese waren kompromissbereit – in Grenzen. Die unbedingte Grenze für die Sozialdemokratie war, dass die politische Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Nationalrat erhalten bleiben musste – unabhängig von der Stärkung der Rechte des nun direkt zu wählenden Bundespräsidenten. Diese Bedingung waren die Christlichsozialen zu akzeptieren bereit. So wurde 1929 noch einmal, das letzte Mal, das Potential der demokratischen Republik realisiert, einen Verfassungskonsens zu formulieren. Damit aber hatte sich die demokratische Reformbereitschaft der Republik erschöpft. Alle anderen politischen Ziele, die danach die Entwicklung bestimmen sollten, führten von der Republik weg.

6.3 1929–1933/34  : Die bedrängte Republik Der Brand des Justizpalastes im Juli 1927 war ein Fanal, das noch nicht das Ende der Republik anzeigte, sehr wohl aber den Anfang vom Ende. 1929 zeigte die Republik nochmals ihren Überlebenswillen  : Die dem autoritären »Zeitgeist« folgende Verfassungsnovelle, entscheidend gemildert durch das Beharren der Sozialdemokratie auf der Wahrung des Grundprinzips parlamenta127

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rischer Demokratie, stand am Ende des republikanischen Konsenses. Von da führte die Entwicklung weg von Republik und Demokratie. Die Novellierung des Bundes-Verfassungsgesetzes hatte noch einmal, aber zum letzten Mal die Fähigkeit der Lager zu einem Grundkonsens demonstriert, der die entscheidenden Schritte von 1918, 1919 und 1920 ermöglicht hatte. Die Einigung 1929 half beiden Seiten – der Regierung und der Opposition –, das Ergebnis der Verhandlungen als Erfolg für sich zu reklamieren. Aber der Verfassungskonsens von 1929 war nur eine Zwischenstation auf der Fahrt in den Abgrund, ein kurzes Innehalten, bevor die Republik sich weiter auf ihr Ende zu bewegte. Der 1929 voll einsetzenden Wirtschaftskrise und der dramatisch steigenden Arbeitslosigkeit kam eine wesentliche, eine beschleunigende Rolle bei der von Demokratie und Republik wegführenden Entwicklung zu. Die Arbeitslosigkeit schwächte die Konfliktfähigkeit der sozialdemokratischen »Freien Gewerkschaften«. Das von Otto Bauer am Beginn der Republik diagnostizierte »Gleichgewicht der Klassenkräfte« hatte sich verschoben, die Balance zwischen Arbeit und Kapital war nicht mehr gegeben. Doch die ökonomische und soziale Krise konnte nicht allein für den Abstieg der Republik verantwortlich gemacht werden  : Die west- und nordeuropäischen Demokratien wie auch die USA überstanden diese Krise, ohne dass die überall im Aufstieg befindlichen antidemokratischen Kräfte das demokratische Gefüge zerstören hätten können. Es war das Fehlen einer starken demokratischen politischen Kultur, es war das Fehlen eine die Lagergrenzen überschreitenden demokratischen Zivilgesellschaft, das zum Ende der Republik führte. Im September 1931 rief sich der steirische Landeskommandant der Heimwehr, Walter Pfrimer, zum »Staatsführer« aus. Es war ein außer Kontrolle geratener Konflikt innerhalb des Regierungslagers. Der Putsch gegen die Bürgerblock-Regierung unter Bundeskanzler Karl Buresch wurde rasch niedergeschlagen (Edmondson 1978, 130–143). Der Versuch eines Teils der Heimwehren, gegen die Regierung eines christlichsozialen Bundeskanzlers zu rebellieren, zeigte nicht nur die Fragmentierung der zwischen verschiedenen autoritären Vorbildern hin- und herschwankenden Heimwehrbewegung. Es zeigten sich auch die Brüche im »Bürgerblock«. Im Hintergrund stand eine neue Dynamik der politischen Landschaft, die Folge des Auftauchens eines neuen Akteurs  : der österreichischen NSDAP. Die Allianz der Christlichsozialen und der Deutschnationalen geriet immer mehr unter den Druck der NSDAP. Den traditionellen Parteien des deutschnationalen Lagers kamen die Wählerinnen und Wähler abhanden, und auch führende Funktionäre des Landbundes und der Großdeutschen wechselten zu den Nationalsozialisten. In dieser Phase der Republik kam nun plötzlich Bewegung in das bis dahin erstarrte Wahlverhalten  : Die NSDAP erzielte bei Landtagswah128

1929–1933/34  : Die bedrängte Republik

len erhebliche Stimmgewinne – nicht nur, aber vor allem auf Kosten der Parteien des Bürgerblocks. Bei der Gemeinderatswahl in Innsbruck, am 23. April 1933, wurde die NSDAP mit 41,2 Prozent der Stimmen stärkste Partei (Rie­ dmann 1983, 988). Die Sozialdemokratie musste erkennen, dass die Gewinne der NSDAP auch auf Kosten der Sozialdemokratie, der SDAP gingen. Und Dollfuß musste sich in seiner Annahme bestärkt sehen, dass der freie Parteienwettbewerb im Sinne des seit März 1933 ausgeschalteten Parlamentarismus nur einer Partei in die Hände arbeiten würde – der NSDAP, die seit dem Frühjahr 1933 ja massiv von der Unterstützung aus Deutschland profitierte. Die nationalsozialistische deutsche Regierung hatte mit ihrem Griff nach Österreich begonnen. Wie wenig reale Bedeutung die Verfassungsnovellierung von 1929 hatte, sollte 1933 und 1934 demonstriert werden  : Bei der Zerstörung von Verfassung und Demokratie spielte der rechtlich so gestärkte Bundespräsident überhaupt keine erkennbare Rolle. Der entscheidende Akteur des autoritären Kurses war der Kanzler, der gegenüber dem verfassungsrechtlich gestärkten Staatsoberhaupt nur die zweite Rolle in der Exekutive spielen sollte – jedenfalls war diese Rangordnung aus dem Wortlaut der Verfassungsnovelle herauszulesen. Faktisch aber war es nicht der Präsident, es war der laut der Verfassungsnovelle eigentlich hinter dem Präsidenten zurücktretende Kanzler, der im Zusammenspiel mit den Heimwehren und unter italienischem Druck innerhalb eines Jahres, zwischen März 1933 und Februar 1934, der Republik ein Ende bereiten konnte  : ein Lehrstück über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Es war der Kanzler, der auch die für die weitere Entwicklung wesentlichen außenpolitischen Weichen stellte. Die Kontakte zur italienischen Regierung, die den Weg Österreichs in Richtung Diktatur förderte, ja geradezu forderte, liefen direkt über den Kanzler. Der persönliche Kontakt zwischen Dollfuß und Mussolini bestärkte die österreichische Regierung, nicht den Kompromiss mit der Sozialdemokratie zu suchen, sondern diese »auszuschalten« – sie so lange zurückzudrängen, bis sie kapitulieren würde oder aber in einer für sie aussichtslosen Situation militärisch besiegt werden könnte (Maderthaner, Maier 2004). Die Wahlen in Innsbruck vom 23. April 1933 waren die letzten freien Wahlen der Ersten Republik. Die Regierung Dollfuß verbot – ohne Rechtsgrundlage, bzw. mit Berufung auf das aus der Monarchie stammende »Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz«, das von der Regierung als Rechtfertigungshilfe und Vorwand bei der Ausschaltung des Nationalrates herangezogen worden war, weitere Landtags- und Gemeinderatswahlen. Am 26. Mai 1933 wurde die Kommunistische Partei von der Regierung aufgelöst. 129

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Abb. 3  : Politische Mobilisierung – Arbeiterolympiade, Wien, Sommer 1931  : die Gegenkultur, bereits in der Defensive.

Am 19. Juni 1933 w ­ urden NSDAP und der weitgehend nationalsozialistisch unterwanderte Steirische Heimatschutz verboten. Diesem Verbot war eine Serie von Sprengstoffanschlägen vorangegangen  : Die NSDAP hatte sich als Partei gezeigt, die mit den Methoden des Terrors ihre Ziele zu erreichen versuchte. Das Verbot der KPÖ war – angesichts der chronischen Schwäche dieser Partei – politisch weitgehend bedeutungslos und sollte nur demonstrieren, dass die Regierung, bereit zum Vorgehen gegen die NSDAP, die extreme Linke ebenfalls nicht zu tolerieren bereit war. Das Verbot der NSDAP hingegen hatte eine wesentliche Signalwirkung  : Es bedeutete auch, dass die Regierung Dollfuß einen offenen Konflikt mit der deutschen NSDAP (und damit der deutschen Regierung) riskierte, die ja – vor allem von München aus – die Aktionen der österreichischen Nationalsozialisten steuerte. Das NSDAP-Verbot zeigte, dass das Wachstum dieser Partei die Grundstruktur der Republik – die Existenz dreier, allen Reserven zum Trotz auf dem Boden der Republik agierender Lager – in Gefahr gebracht hatte. Die Grenzen zwischen den Lagern erwiesen sich plötzlich als durchlässig. Die NSDAP bedrohte freilich zunächst nicht die Grenzen zwischen dem politischen Katholizismus und der Sozialdemokratie, sondern die zwischen dem faktisch von der 130

1929–1933/34  : Die bedrängte Republik

Abb. 4  : Politische Mobilisierung – Engelbert Dollfuß auf dem Wiener Trabrennplatz, September 1933  : die Hegemonialkultur, zur Diktatur entschlossen.

NSDAP besetzten deutschnationalen Lager und den beiden anderen. Denn der NSDAP war es gelungen, Stimmen von links und rechts zu gewinnen. Die NSDAP wuchs zu einer Allerweltspartei heran, die nicht in die Kategorie einer Weltanschauungs- oder Klassenpartei passte  ; und ihr gelang dieses Wachstum, obwohl oder gerade weil sie ihren Charakter einer extremen Antisystem-Partei, die der demokratischen Republik als Fundamentalopposition gegenüberstand, nicht verhehlte (Pauley 1981, insbes. 81–103). Das Verbot der NSDAP war für die neue, die nationalsozialistische Führung des Deutschen Reiches eine Provokation. Die deutsche Regierung antwortete mit ökonomischen Sanktionen – mit der »Tausend-Mark-Sperre«  : Deutsche Bürgerinnen und Bürger hatten für ein Visum für eine Reise nach Österreich tausend Mark zu bezahlen. Diese Maßnahme traf die österreichische Tourismusindustrie massiv  : Die Zahl deutscher Touristen in Österreich ging von einer Saison auf die andere von fast 750.000 (1931–1932) auf 70.718 (1933–1934) zurück (Pauley 1981, 112). Dies verschlechterte die ökonomische und soziale Situation in Österreich wesentlich und diente der nunmehr von den Nationalsozialisten gesteuerten Anschlusspropaganda. 131

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Bevor die Republik unterging, hatte sich das erstarrte Parteiensystem zu bewegen begonnen. Und diese Bewegung ging von einer deklariert antirepublikanischen und antidemokratischen Partei aus. Das deutschnationale Lager, bis dahin vertreten von kleinen bäuerlich-bürgerlichen Honoratiorenparteien (Großdeutsche Volkspartei, Landbund), geriet unter die Kontrolle einer Partei, die zwar durchaus auch in der Tradition des extremen Deutschnationalismus und »Rassenantisemitismus« à la Schönerer stand, die aber darüber hinaus als Massen- und Bewegungspartei unkonventionelle Züge aufwies. Der Aufstieg der NSDAP war das Zeichen, dass die zur Starre gewordene Kontinuität der aus der Monarchie kommenden Lager und Parteien sich dem Ende näherte. Die Republik, aufgebaut auf der Stabilität der drei Lager – Stabilität im Außen- wie auch im Innenverhältnis –, hatte diesem Kontinuitätsbruch letztlich nichts entgegenzusetzen. Die Entwicklung in Österreich unterschied sich wesentlich von der in den meisten west- und nordeuropäischen Demokratien, sie unterschied sich aber nicht wesentlich von der Entwicklung in Zentraleuropa. Autoritäre Tendenzen unterschiedlicher Art reduzierten die Demokratiequalität in allen anderen Nachfolgestaaten der Monarchie – mit Ausnahme der Tschechoslowakei. Das faschistische Italien und bald auch das nationalsozialistische Deutschland nutzen diese Trends, um sich geopolitischen Einfluss zu sichern. Die Aushöhlung der Demokratie in Ungarn, in Rumänien und in Jugoslawien und eben auch in Österreich wurde von Rom und bald auch von Berlin aus systematisch gefördert. Die Entwicklung glich einem Endspiel, das dem Muster des letzten Aktes der Monarchie entsprach. Die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns folgten einem fast einheitlichen Trend – so als wäre das Reich der Monarchie nicht zerbrochen, sondern weiterhin ein die Entwicklungsdynamik des Raumes bestimmender, einheitlicher Faktor. Die Nachfolgestaaten bewegten sich fast im Gleichschritt weg von der Demokratie. Die in den Friedensverträgen festgeschriebene Ordnung hatte nicht zu einer Stabilisierung geführt, sie förderte vielmehr die Destabilisierung der Demokratie. Polen verlor sich in dem Widerspruch zwischen dem nationalstaatlichen Paradigma und der faktischen Multiethnizität auf einem autoritären Weg  ; Jugoslawien konnte die gegen eine (vermeintliche, tatsächliche) serbische Suprematie gerichteten Vorbehalte vor allem von Seiten Kroatiens nicht überwinden  ; Rumänien, das vor allem dank des bis 1918 ungarischen Siebenbürgen (Transsylvanien) zu einem Groß-Rumänien geworden war, verstrickte sich ebenso in autoritären Tendenzen wie Ungarn, das zwar ein Parlament behielt, in dem aber ein nationalistisch-revisionistischer, zunehmend antisemitischer Trend die Demokratie aushöhlte. Und in Italien mussten Demokraten wie Alcide De Gasperi, der noch als Ver132

1929–1933/34  : Die bedrängte Republik

treter des Trentino in das Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrates gewählt worden war, den Weg des Landes in eine Diktatur erleben, die den Begriff »Faschismus« zu einer gängigen, weltweit gebrauchten Polit-Etikette machte. Österreich konnte sich da in einer – schlechten – Post-Habsburg Gesellschaft durchaus wiederfinden. Noch vor dem Verbot der KPÖ und der NSDAP, noch vor der Unterbindung weiterer Wahlen hatte Dollfuß einen entscheidenden Schritt in Richtung Diktatur gesetzt. Er hatte einen Geschäftsordnungskonflikt im Nationalrat als Rechtfertigung benützt, um diesen und damit das parlamentarische System auszuhebeln. Die kühle Distanz der Christlichsozialen zur Republik hatte nun, in Verbindung mit dem direkten Einfluss des faschistischen Italien und der aus dem nationalsozialistischen Deutschland kommenden Bedrohung, den entscheidenden Schritt zum gezielten Abbau der Grundwerte der demokratischen Republik ermöglicht  : Es war der Punkt, von dem aus Dollfuß nicht mehr umkehren wollte oder konnte. Am 4. März 1933 hatte ein Geschäftsordnungskonflikt im Nationalrat zum Rücktritt aller drei Präsidenten geführt – eine Panne, die von der Regierung Dollfuß genützt wurde, um das Zusammentreten des Nationalrates mit dem Hinweis auf eine »Selbstausschaltung« des Nationalrates mit Polizeigewalt zu verhindern – eine Begründung, die nichts als ein Vorwand war, den die zur Abkehr von Demokratie und Republik bereits entschlossene Regierung Dollfuß zur Umsetzung ihrer Intentionen einsetzte (Saage 2016, 234–239). Die Regierung stützte sich bei dieser autoritären Beendigung des Parlamentarismus in politischer Willkür auf ein »kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz«, das aus der Zeit des Weltkriegs stammte und im Widerspruch zur Verfassung der Republik stand (Huemer 1975). Die Ereignisse vom 4. März 1933 sind immer wieder beschrieben, analysiert, bewertet worden (Parlamentsdirektion 2014). Die Einordnung war Teil der sich über Jahrzehnte in der Zweiten Republik hinziehenden Debatte über die Verteilung von Schuld am und Verantwortung für das Ende der demokratischen Republik. Dieser Diskurs ist inzwischen an seinem Endpunkt angelangt  : Unbestritten ist, dass der Geschäftsordnungskonflikt leicht hätte gelöst werden können – wenn der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. Dollfuß aber sah den Konflikt als die Gelegenheit, den entscheidenden Schritt in die Diktatur zu setzen. Unbestritten ist, dass die Regierung Dollfuß bewusst und gezielt die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zerstörte, als sie die neuerliche Einberufung des Nationalrates unter Einsatz der Polizei unterband. Das Handeln der Regierung Dollfuß findet keine Rechtfertigung, akzeptiert man die demokratische Republik und ihre Verfassung als legitime Grundlage. Das Handeln der Regierung hätte allerdings als Notmaßnahme angesichts der 133

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verstärkten Bedrohung von Seiten des nationalsozialistischen Deutschland gerechtfertigt werden können. Dass zu diesem Zweck aber die Republik zerstört werden musste, ist angesichts des letztendlich katastrophalen Misserfolges der gegen den Nationalsozialismus gerichteten Politik des Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes nicht einsichtig  : Die Regierung Dollfuß entzog der Republik die demokratische Basis, ohne dadurch Österreich vor dem Nationalsozialismus retten zu können. Beginnend mit dem 4. März 1933 hatte Österreich aufgehört, ein parlamentarisches System zu sein – die Bundesregierung hatte die Parlamentskammer ausgeschalten, der sie politisch verantwortlich war. 11 Monate, bis zum 12. Februar 1934, war Österreich eine defekte Demokratie  : Der von den Landtagen bestellte Bundesrat, die zweite Kammer des Parlaments – mit wesentlich weniger Kompetenzen ausgestattet als der Nationalrat –, arbeitete weiter, wie auch die Landtage und Landesregierungen. Auch der Verfassungsgerichtshof konnte wie die anderen Höchstgerichte zunächst noch seine Funktion ausüben. Doch Oppositionsparteien wurden verboten – zunächst kleinere Parteien. Die große Opposition, die Sozialdemokratie, wurde in ihrem Radius mehr und mehr eingeschränkt. Hinter den Kulissen versuchten Sozialdemokraten und einige Regierungsvertreter einen Ausweg zu finden, der ein Weiterleben von Demokratie und Republik ermöglicht hätte. So formulierte Otto Bauer im März 1933 in einem Memorandum, das er über den der Sozialdemokratie zugerechneten tschechoslowakischen Gesandten Zdenek Fierlinger dem tschechoslowakischen Außenminister Edvard Beneš übermitteln ließ, die Bereitschaft der Sozialdemokratie, gemeinsam mit der Regierung einen Ausweg zu entwickeln  : Die Sozialdemokratie könnte Dollfuß eine umfassende Reform der Bundesverfassung zugestehen, wenn nur wieder der Nationalrat einberufen würde. Auch der britischen Gesandtschaft wurde dieses Memorandum zugestellt (Hanisch 2011, 281 f.). Karl Renner machte Repräsentanten der Regierung in einem von der Spitze seiner Partei gedeckten Vorstoß den Vorschlag, durch ein »Staatsnotstandsgesetz« dem Interesse der Regierung an einer weiteren Stärkung der Exekutive entgegenzukommen, gleichzeitig aber den parlamentarischen Charakter der Republik und der Verfassung zu retten (Saage 2016, 243 f.). Diese und andere Vorstöße waren Versuche, fünf vor zwölf die Zerstörung von Republik und Demokratie doch noch zu verhindern. Doch es war nicht fünf vor, es war bereits fünf nach zwölf. Engelbert Dollfuß glaubte, bei einem Kompromiss mit der Sozialdemokratie nichts gewinnen zu können  : Sein Protektor, Benito Mussolini, drängte auf einen klaren Schnitt, auf das Ende der Republik. Und Dollfuß musste auch damit rechnen, dass Neuwahlen – die durch einen Kompromiss mit der Sozialdemokratie zwar hinausgescho134

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ben, letztlich aber nicht verhindert worden wären – vor allem einer Partei entscheidende Gewinne bringen würden  : der NSDAP. Dollfuß hatte bereits die Brücken zur Sozialdemokratie abgebrochen, als eine Schießerei in Linz, am Morgen des 12. Februar 1934, den Bürgerkrieg und mit ihm das Ende der Demokratie brachte, wie sie – in defekter Form – auch nach dem 4. März 1933 noch bestanden hatte.

6.4 1933/34–1938  : Dem Abgrund entgegen Für die sozialdemokratische Parteiführung waren Ausbruch und Ablauf der Kämpfe am 12. Februar 1934 ein Schock (Deutsch 1960, 181–224). Die Generalstreikparole der sozialdemokratischen Gewerkschaften wurde nur höchst lückenhaft befolgt. Der militärische Widerstand des Schutzbundes brach schnell zusammen. Das rasche Ende des Bürgerkriegs war auch im Zusammenhang mit einem katastrophalen Fehlkalkül der Partei zu sehen  : Die Parteiführung hatte keineswegs die Aktion Bernascheks und des Linzer Schutzbundes geplant oder angeordnet (Hanisch 2011, 296–302). Aber sie hätte damit rechen müssen, dass auf ein als Provokation empfundenes, vielleicht auch von der Regierungsseite so geplantes punktuelles Vorgehen der Regierung lokale Einheiten des Schutzbundes so reagieren würden, wie das in Linz der Fall war. Auf das, was dann folgte, war die Sozialdemokratie nicht wirklich vorbereitet  : auf die mangelnde Konfliktbereitschaft eines Großteils der durch Massenarbeitslosigkeit demoralisierten Arbeiterschaft, auf die Aussichtslosigkeit eines militärischen Kräftemessens mit der Regierung. Die Sozialdemokratie war zum Opfer ihrer selektiven Wahrnehmung geworden. Sie war in ihrer mentalen Festung einzementiert, in der die von der Richtigkeit ihres Dogmas Überzeugten über Strategie und Taktik diskutierten, die Grundannahmen ihrer Voreingenommenheit aber nicht in Frage stellten. Die Sozialdemokratie war gefangen in ihrem Verständnis von Klassenkampf, in ihrer vereinfachenden Sichtweise vom »Proletariat«, das zum Kampf gegen eine »Bourgeoisie« entschlossen sei – gegen eine »Klasse«, die den Pfad des »Faschismus« beschritten habe. Die Sozialdemokratie war letztlich bestimmt von einem Determinismus, von einer Vorstellung eines grundsätzlich vorgegebenen Ablaufes der Geschichte und damit der Unausweichlichkeit des eigenen Erfolges, der allen Rückschlägen zum Trotz letztendlich kommen würde, weil er kommen musste. Die Sozialdemokratie hatte sich von der Wirklichkeit isoliert – sie ließ sich in eine Konfrontation treiben, für die sie nicht gerüstet war und die zu gewinnen sie keine Chance hatte. 135

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Im Februar 1934 wurde nicht nur die Sozialdemokratie niedergerungen  : Die Ereignisse führten auch auf besonders dramatische Weise das Ungenügen der Politischen Kultur der Republik vor, einer Kultur, die nur aus dem Nebeneinander von Subkulturen bestanden hatte. Am Ende stand der Bürgerkrieg. Das »Alles oder Nichts« endete mit einem »Nichts« für die einen  ; vier Jahre später, im März 1938, auch mit einem »Nichts« für die Sieger des Februar 1934. Der 12. Februar 1934 wurde zu einem, zu dem emotionalen Datum, der die Wahrnehmung der Geschichte der Republik bestimmt – nicht in einer verbindenden, sondern einer trennenden Form. Die Sozialdemokratie sieht im Bürgerkrieg, sieht in den Opfern der Kämpfe und der im Namen der Regierung urteilenden Standgerichte das eigentliche, das entscheidende Narrativ des zunächst verlorenen Kampfes für die Republik, eines Kampfes gegen deren Zerstörer. Für das katholisch-konservative Lager waren diese Opfer tragisch fehlgeleitete Menschen, deren Führung nicht zu erkennen vermochte, dass es nun nicht mehr um die Republik, dass es vielmehr um den Bestand des vom nationalsozialistischen Deutschland bedrohten Österreich ging (Kindermann 1987). Beide Wahrnehmungen sind nicht a priori falsch, aber sie sind einseitig  : Die vorherrschende sozialdemokratische Sicht klammert weitgehend aus, dass am Verlust der Gemeinsamkeit zwischen den Lagern auch die Sozialdemokratie Mitverantwortung zu tragen hatte. Dass in offiziellen Äußerungen der Sozialdemokratie die Demokratie als der Weg, »der Sozialismus« aber das Ziel bezeichnet wurde, hatte ja die Sozialdemokratie nicht gerade als fundamentaldemokratisch ausgewiesen (Hanisch 2011, 279). Die Selektivität der katholisch-konservativen Seite ist noch viel augenscheinlicher  : Weder die Politik Dollfuß’ noch die Schuschniggs waren primär davon bestimmt, das nationalsozialistische Deutschland als Hauptfeind auszumachen und die Ausschaltung von Parlament und demokratischer Republik als unvermeidlichen Schritt zur Stärkung Österreichs gegen diesen Gegner einzuordnen. Dollfuß erhielt ja nur deshalb die Unterstützung Mussolinis, weil er dem faschistischen Italien und den italienischen Interessen im Donauraum das Ende der demokratischen Republik zu versprechen schien. Dollfuß balancierte immer wieder zwischen links und rechts, aber angesichts der geopolitischen Gegebenheiten in Mitteleuropa in den Jahren 1933 und 1934 hielt er die Sozialdemokratie für den Gegner, dessen Interessen er mit dem geringsten Risiko ignorieren konnte. Vor die Entscheidung gestellt, Mussolini zu verärgern oder den Boden der republikanischen Verfassung zu verlassen, entschied sich Dollfuß für Mussolini – und gegen die Sozialdemokratie. Der österreichische Kanzler war 1933 und 1934 bereit, den demokratischen Grundkonsens über Bord zu werfen. 136

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Die Signale, die Dollfuß immer wieder auch gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland ausschickte ( Jagschitz 1976, 52–73), die Suche nach Kompromissen mit diesem Gegner – eine relativierende Sicht, die zwei Jahre nach dem Tod Dollfuß’ seinen Nachfolger veranlasste, das »Juli-Abkommen« zu schließen – das kann als eine unvermeidliche Politik des Entgegenkommens gegenüber einem übermächtigen Gegner gesehen werden. Aber der partielle Gleichklang zwischen dem autoritären Ständestaat und dem Nationalsozialismus – etwa in der Absage an die Grundpositionen der Aufklärung – kann nicht einfach nur als taktisch notwendige Konzession gesehen werden. Dollfuß’ Position, artikuliert in der Trabrennplatzrede vom September 1933, hatte sich zu einer prinzipiellen Absage an die Demokratie entwickelt – etwa in der Frontstellung gegen Parlament und Parlamentarismus, gegen »Parteienherrschaft« und die »liberal-kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung« (Carsten 1977, 213). Auch Schuschniggs Absage an die demokratische Republik in Dreimal Österreich war zu klar, zu grundsätzlich formuliert, als dass dies als bloß taktisches Manöver zu verstehen gewesen wäre (Schuschnigg 1937, 104–125). Und auch wenn dies ganz gewiss nicht als Gleichklang zwischen Dollfuß und Schuschnigg auf der einen und dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite zu interpretieren ist  : Beide Dokumente, die Dollfuß-Rede und das Schuschnigg-Buch, sind erst recht nicht als Verteidigungsschrift der Werte zu sehen, auf denen 1918, 1919 und 1920 die Republik gegründet worden war. Das Ende, das die zur Diktatur entschlossenen Führer des katholisch-konservativen Lagers der Republik bereiteten, war kein zufälliges  ; es war bewusst herbeigeführt worden. Um die Republik schien nach deren Ende niemand wirklich zu trauern. Die Sozialdemokratie klagte an, dass sie mit Gewalt ausgeschaltet worden war  ; aber die Wiederherstellung, die Wiederkehr der Republik in der Form von 1920 schien ihr zunächst keine Option zu sein. In die Illegalität gedrängt, verhandelten die »Revolutionären Sozialisten« mit den Kommunisten über eine punktuelle Aktionsgemeinschaft und eine Einheitsfront – ohne dass eine solche sozialdemokratisch-kommunistische Kooperation besondere Wirkung im Kampf gegen den autoritären Staat gezeigt hätte (Holtmann 1978, 207–211). Eine klare Zielsetzung in Richtung auf Wiederherstellung der demokratischen Republik war nicht erkennbar. Die Christlichsozialen hatten erst recht keinen Grund, die Wiedererrichtung einer ohnehin nur aus den objektiven Gegebenheiten des Jahres 1918 akzeptierten, nicht aber wirklich geschätzten Ordnung zu betreiben  : Die Sieger des Bürgerkrieges vom Februar 1934 hatten ja auch, in dem schon im März 1933 einsetzenden Entwicklungsprozess, die Brücken hinter sich abgebrochen. 137

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Beide Seiten gingen 1934 davon aus, dass die Republik eine längere Fußnote oder vielleicht auch ein kürzeres Kapitel in der Geschichte Österreichs gewesen wäre – nicht mehr. Das macht deutlich, wie wenig der 1945 einsetzende Erfolgskurs eben dieser Republik von denen schon vor 1945 angedacht worden war, die für die Zweite Republik verantwortlich sein sollten. Die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik geht auf die 1945 gegenüber 1918 und 1934 völlig geänderten geopolitischen Rahmenbedingungen zurück – nicht auf eine länger bestehende Intention oder ein Design oder gar eine Planung österreichischer politischer Kräfte. Nach dem Bürgerkrieg des Februar 1934 gingen alle wesentlichen politischen Akteure vom finalen Tod der Republik aus. Die Sieger des Bürgerkrieges versuchten, ihre vagen Vorstellungen einer »berufsständischen Ordnung« in ein politisches System zu kleiden, das bis zum März 1938 auch nach den Vorstellungen der Sieger unvollendet bleiben sollte. Und die Verlierer  ? Die Sozialdemokratie, die im Untergrund als »Revolutionäre Sozialisten« oder im Exil politisch weiterexistierte (Leichter 1968, Holtmann 1978), schwankte zwischen Resignation und Illusion. Einige der im Lande verbliebenen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren auch bereit, mit dem Dollfuß-Schuschnigg Regime nötigenfalls Kompromisse zu schließen, um das größere Übel zu verhindern – durchaus verstanden im Sinne von Karl Kraus  : den »Anschluss« an ein von Hitler beherrschtes Deutschland. So waren die hektischen Aktivitäten in den Stunden des 10. und 11. März 1938 zu verstehen, bevor eine militärische Erpressung von deutscher Seite Schuschniggs Widerstandswillen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließ. Die Revolutionären Sozialisten beschlossen in diesen Stunden, für die von Schuschnigg für den 13. März 1938 anberaumte Volksabstimmung die Parole auszugeben, mit »Ja« zu stimmen – weil ein »Nein« ein »Ja« zu Hitler gewesen wäre. In der Illegalität hatte die Sozialdemokratie nun doch zu Karl Kraus’ Verständnis vom Dollfuß- und Schuschnigg-Regime als dem »kleineren Übel« gefunden – zwar ein Übel, aber kleiner als die einzig reale, einzig vorhandene Alternative, die Herrschaft der NSDAP. Doch auch dieses Angebot kam nicht fünf vor, es kam fünf nach zwölf (Leichter 1963, 133 f.  ; Pasteur 2008, 217–222  ; Hanisch 2011, 371). Karl Kraus hatte allen, die sich der Wirklichkeit nicht verschließen wollten, die Essenz des Nationalsozialismus vor Augen geführt. In seinen teilweise erst nach 1945 veröffentlichten Vorstudien zur Dritten Walpurgisnacht hatte er Quellen verwendet, die im Österreich der Jahre 1933, 1934 und 1935 allen zugänglich waren. Diese – vor allem auch internationale Pressemeldungen – zeigten den sofort nach dem 30. Jänner 1933 in Deutschland einsetzenden politischen Terror, der sich in physischer Gewalt gegen Andersdenkende äußerte  ; in der systematischen Entrechtung der als »Juden« punzierten deutschen Bür138

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gerinnen und Bürger  ; im raschen Zusammenbruch eines der Reichsverfassung entsprechenden rechtsstaatlichen Systems (Timms 2005, 492–515  ; Franzen 2013). Österreich – die Gesellschaft und die Regierenden – wusste genau, was da auf das Land zukam. Diejenigen, die den »Anschluss« an dieses Deutschland wollten, wollten diese Verhältnisse  ; wollten den politischen Terror, der den vom »autoritären Staat« à la Dollfuß und Schuschnigg geübten Terror weit in den Schatten stellen sollte  ; wollten, dass die »Nürnberger Rassengesetze« auch für Österreich gelten sollten  ; und wollten auch eine Politik der systematischen Herausforderung der anderen europäischen Mächte – eine Politik, die mit innerer Notwendigkeit auf einen Krieg hinauslaufen musste. Eric Voegelin, der in den Jahren der Diktatur Dollfuß’ und Schuschniggs als Dozent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien nicht zu den Gegnern des »autoritären Regimes« zählte, hob Jahrzehnte später in seinen Vorlesungen an der Universität München Karl Kraus als Beleg dafür hervor, dass – und Voegelin bezog dies in offener Kritik vor allem auf die Kirchen in Deutschland – niemand überrascht sein konnte, in welche Richtung sich die Herrschaft des Nationalsozialismus entwickelte  : von der Menschenverachtung zur Menschenvernichtung. »Ich möchte jetzt ein paar Stellen aus der Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus zitieren. Ich werde das noch bei verschiedenen Gelegenheiten tun, denn die Dritte Walpurgisnacht hat für uns den außerordentlichen Vorteil, dass sie im Jahre 1933, unmittelbar nach der Machtergreifung, geschrieben worden ist […] und zeigt, was ein Mensch, der Vernunft und Geist hat, schon damals über den Nationalsozialismus gewusst hat – nur aufgrund seiner Zeitungslektüre. Es zeigt auch den ganzen Alibischwindel des ›Ja, das konnte man doch damals noch nicht wissen  !‹ Man konnte, wenn man intelligent genug war« (Voegelin 2009, 90). Denjenigen, die mit Entsetzen wahrnahmen, in welche Richtung, zu welchem Ergebnis Schuschniggs Schlingerkurs führen musste, ging es nicht (mehr) um die Republik  ; es ging um die Vermeidung des Schlimmsten, des Aufgehens in einem totalitären System der offenen Unmenschlichkeit und der Vorbereitung auf einen Angriffskrieg. Schuschniggs Politik – schwankend zwischen einer Politik des Appeasements gegenüber den Nationalsozialisten, wie im Abkommen des Juli 1936, und dem gelegentlich mit Heldenpathos (»RotWeiß-Rot bis in den Tod«) verkündeten Willen zu unbedingtem Widerstand – hatte schließlich keine wirkliche Chance zu bieten, dieses Ende zu vermeiden. Und Schuschnigg und sein Regime – die Regierung und die Einheitspartei »Vaterländische Front« – waren auch nicht fähig, die eigene gesellschaftliche Basis zu verbreitern. Dazu hatten Dollfuß und Schuschnigg die bestehenden Gräben bereits allzu sehr vertieft. Karl Kraus’ Formel vom »kleineren Übel« wäre an sich geeignet gewesen, als rationale Grundlage wenn schon nicht einer 139

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Aussöhnung, so doch pragmatischer Absprachen und punktueller Allianzen mit der ja im Untergrund und auch in Form einer Exilorganisation mit Sitz in Brünn weiterbestehenden Sozialdemokratie zu dienen. Und die »Aktion Winter« war auch ein Schritt, den Dollfuß in diese Richtung gesetzt hatte – ein Schritt, dem Schuschnigg freilich keine weiteren Schritte folgen ließ (Alfred A. Missong in Winter 1969, 9–34). Ob die Sozialdemokratie, die »Revolutionären Sozialisten« im Untergrund und die Parteiführung im Exil, in der Lage gewesen wäre, für eine solche Verbreiterung des Regimes zu sorgen – mit dem Ziel, den Zugriff des nationalsozialistischen Deutschland zu verhindern, muss offenbleiben und ist jedenfalls fraglich. Zu sehr hatte die sozialistische Führung damit zu kämpfen, dass viele im eigenen Lager – demoralisiert durch die Niederlage des Februar 1934 – bereit waren, den Nationalsozialismus als unvermeidlich oder sogar als ein System zu sehen, dass eher geeignet wäre, die Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Stagnation zu bekämpfen  ; zu überzeugend war es auch für manche, den »Hauptfeind« im Austrofaschismus, den realen Gegner im Lande selbst, und nicht im Nationalsozialismus zu sehen. Aber Schuschnigg unternahm auch nicht einen ernsthaften Versuch, die Kompromissbereitschaft der Sozialdemokratie zu testen – mit einem Angebot einer gemeinsamen Frontstellung, wie sie von Ernst Karl Winter propagiert wurde  : Links und Rechts gemeinsam gegen Hitler. Das Angebot der Wiederherstellung der Republik und ihrer Verfassung wurde jedenfalls nie ernsthaft erwogen. Denn die Republik, die war ja – scheinbar – tot. Sie war tot – und nicht nur für die Regierenden des »Ständestaates«, sondern auch für die Linke. Die Sozialdemokratie insgesamt schien gebrochen, zerbrochen. Einige aus den Reihen der Sozialdemokratie, insbesondere Kämpfer des Republikanischen Schutzbundes, gingen in die UdSSR und wurden dort, zunächst, als die Helden des 12. Februar gefeiert – bevor viele in die Mühlen des Stalinismus gerieten (Kykal, Stadler 1976). Einige sahen den drohenden Sieg des Nationalsozialismus als persönliche Chance, an den Siegern des Februar-Bürgerkrieges Revanche zu nehmen. Und ein signifikanter Teil der Arbeiterschaft, dieses Kernelements jeder der vom Austromarxismus theoretisch unterfütterten Zukunftserwartung, zeigte sich anfälliger für die NS-Propaganda, als dies die marxistische Faschismus-Theorie hätte erwarten lassen (Kirk 1996). An das Wiederaufleben der Republik in Gestalt der Bundesverfassung von 1920, gestützt auf einen Kompromiss zwischen den Siegern und Verlierern des Februar 1934, dachte kaum jemand – waren doch die einige Jahre später für Österreich so entscheidenden internationalen Rahmenbedingungen nicht zu erkennen. In den Tagen des März und April 1938 hatte die Sozialdemokratie jedenfalls keine Antworten, die in irgendeiner Weise eine Hoffnung auf das Wiedererste140

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hen der Republik ausdrücken würden  : Karl Renner diente sich dem NS-Regime an, und Otto Bauer verlief sich in dem Phantasiegebilde einer »gesamtdeutschen Revolution« (Saage 2016, 265–274  ; Hanisch 2011, 372). Die Verlierer des vom nationalsozialistischen Deutschland ferngesteuerten zweiten Bürgerkriegs, der Kämpfe vom Juli 1934, die hatten freilich eine klare Vorstellung von der Zukunft (Schafranek 2006, 214–223). Und diese war erst recht nicht eine, die den Strukturen und Funktionen der Republik entsprechen hätte können. Die österreichischen Nationalsozialisten waren Agenten, die im Auftrag des zur totalitären Diktatur verkommenen Deutschen Reiches den »Anschluss« herbeizwingen sollten. Diese antirepublikanische, antidemokratische und antiösterreichische Vision schien im März 1938 gesiegt zu haben – bis sie in einer besonders schrecklichen Form scheitern sollte  ; aber nicht an Österreich, sondern an geopolitischen Gegebenheiten, auf die Österreich keinen Einfluss hatte  ; an einer globalen Allianz, für die Überlegungen zur Zukunft Österreichs nur eine sekundäre Rolle spielen konnten. Aber am Ende des Schreckens stand die neu geborene Republik Österreich  : Ergebnis nicht primär eines auf die Wiederherstellung dieser Republik zielenden politischen Widerstandes, sondern der Konvergenz vor allem internationaler Interessen und, wie auch schon 1918, des Fehlens anderer, realer Alternativen. Der »Ständestaat« hatte für sich ein intellektuelles, ein geistiges Profil beansprucht. Die gesellschaftlichen Ideen Othmar Spanns gaben dem Regime so etwas wie akademische Reputation. Spann hatte ja schon in den eineinhalb Jahrzehnten der Republik der prinzipiellen Distanz des katholisch-konservativen und auch des deutschnationalen Lagers zur ungeliebten Republik Ausdruck verliehen. 1938 sollte er von den Nationalsozialisten für seine Bemühungen um die Untergrabung der Republik nicht belohnt werden – er verlor seine Professur, und er wie auch einige aus seinem engsten Kreis wurden vom NS-Staat verfolgt (Siegfried 1974, 207–220). Eric Voegelin, der dem berufsständischen Regime eine staatsrechtliche Grundlage zu geben versuchte, wurde ebenfalls 1938 Opfer politischer Verfolgung. Er entkam in das US-amerikanische Exil, und nach seiner Rückkehr nach Europa baute er in den 1950er und 1960er Jahren ein universitäres politikwissenschaftliches Institut auf – das Geschwister-Scholl-Institut an der Universität München (Voegelin 1997). Spann war in den sozial- und vor allem wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen der österreichischen Universitäten in den 1920er und 1930er Jahren von prägendem Einfluss. Der »Spannkreis« verband einen normativen, sich der empirischen Überprüfung entziehenden Zugang zu Politik und Gesellschaft mit einer Tendenz zum Nebulosen (Siegfried 1974, 71–78). Auf die »Ganzheitslehre« Spanns konnten sich die verschiedensten politischen Strömungen verständigen – von Rechts bis Rechtsaußen. Spann war einer der Gründer der 141

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»Akademischen Legion«, in der sich katholisch-konservative und deutschnationale (auch nationalsozialistische) Gruppierungen fanden. Gerade der Mangel an einer konkreten politischen Strategie machte die »Spann-Schule« zu einem gemeinsamen Nenner, auf den sich das katholisch-konservative und das deutschnationale Lager verständigen konnten. Die konkrete politische Verortung Spanns war und ist nicht leicht  : Er war sicherlich kein Vertreter eines politischen Pluralismus, wie es dem Verfassungsverständnis der Republik entsprochen hätte. Spann war ein Gegner all dessen, was in irgendeiner Form als »liberal« bezeichnet werden könnte. Vielleicht am besten wurde Spann von Eugen Kogon charakterisiert, der in einem Beitrag in der katholischen »Schöneren Zukunft« Spanns Verdienst formulierte, »die Kritik des Liberalismus als eines gesellschaftlichen Prinzips nicht nur systematisch gemacht, sondern sie auch durch den wissenschaftlichen Aufbau der Lehre vom wahren Wesen der Gesellschaft (und Wirtschaft), das nicht individualistisch, sondern universalistisch ist, über sich selbst hinausgeführt zu haben« (Siegfried 1974, 134 f.). Das alles klingt nach einer antiliberalen und antidemokratischen, antiindividualistischen Theologie, die Spann offenbar vertreten hat. Es ging um Glauben, nicht um Wissen. Und das alles war natürlich hervorragend geeignet, als Brücke zwischen Ignaz Seipels nebuloser Vorstellung von der »wahren Demokratie« (die jedenfalls nicht die real existierende sein sollte) und Spanns Vorstellung vom »wahren Wesen« von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu dienen. Den Inhalt der Worthülsen, den konnte eine reale Politik dann leicht füllen, sobald die von der demokratischen Republik und deren Verfassung vorgesehenen Regeln nicht mehr zu gelten hatten (Spann 2013). Spanns Ansehen in der politischen und speziell wissenschaftlichen Welt der Zeit nach 1945 wurde dadurch teilweise gerettet, dass er tatsächlich ein Opfer des Nationalsozialismus geworden war. Spann war dem Nationalsozialismus in seiner antiliberalen und damit auch antidemokratischen Grundhaltung ähnlich. Was ihn jedoch vom Nationalsozialismus trennte, das war der Widerspruch zwischen Universalismus und Rassismus. Das NS-Regime hatte für Spann und seinen Kreis keine Verwendung  : Spann wurde eine »rassefeindliche Grundauffassung« vorgeworfen (Siegfried 1974, 207 f.). Dass Spann 1938 in Ungnade gefallen war, änderte freilich nichts daran, dass Spanns Universalismus in der Zweiten Republik im Wesentlichen als geistesgeschichtliches Phänomen zwar analysiert wurde, dass aber seine »Schule« nicht wieder prägend werden konnte  : Die demokratische Republik hatte sich letztlich als nachhaltiger erwiesen als die antidemokratische »Schule« des Othmar Spann. Voegelin hingegen hatte, anders als Spann, keine Illusionen über seine Chancen im NS-Staat  : Er ging rechtzeitig ins Exil. Nach seiner Rückkehr 142

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nach Europa, in München, verfasste er – basierend auf einer Vorlesungsreihe – eine scharfe Analyse über das Verhalten der christlichen Kirchen gegenüber dem Nationalsozialismus  : Eine wohl brillant zu nennende Kritik eines grundsatzlosen Opportunismus, der die Ansprüche der Kirchen an sich selbst Lügen strafte (Voegelin 2009, 160–220). Die am 1. Mai 1934 verkündete Verfassung des »Bundesstaates Österreich« hatte offiziell die demokratische Republik beendet, deren Institutionen schon davor, seit der »Ausschaltung« des Nationalrates, im Sinne der normativen Kraft des Faktischen nur mehr als defizitäre Demokratie zu bezeichnen war. Die zweite Kammer des Parlaments, der Bundesrat, und der Verfassungsgerichtshof hatten in den Monaten nach dem März 1933 noch unter den Rahmenbedingungen der republikanischen Verfassung agiert, aber der für die Legitimierung der Bundesregierung entscheidende Nationalrat war von der Regierung mundtot gemacht worden. Dollfuß, der letzte Bundeskanzler der (Ersten) Republik, hatte bewusst den Weg der Zerstörung der Republik beschritten – auch wenn er diesen Weg als unvermeidlichen Akt der Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland sehen wollte. Er wurde zum Kanzler des neuen Regimes – und zum Führer der unvollendeten Einheitspartei des unvollendeten »Ständestaates«, der Vaterländischen Front (Sheperd 1961, 193–207). Die Charakterisierung des Regimes, das sich mit der Verfassung vom 1. Mai 1934 legitimierte, sollte den geschichts- und sozialwissenschaftlichen Diskurs der Zweiten Republik intensiv beschäftigen (Reiter-Zatloukal, Rothländer, Schölnberger 2012  ; Wenninger, Dreidemy 2013). Dass es sich um einen »Unrechtsstaat« handelte, ist allgemein akzeptiert. Ob es ein politisches System war, das sich in die Kategorie »Faschismus« einordnen lässt, ist hingegen umstritten. Die 1934 mit den Mitteln einer Diktatur ausgeschaltete Sozialdemokratie und die Revolutionären Sozialisten wie auch die Kommunisten bezeichneten die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg als »Austrofaschismus« – eine Einstufung, die auch im wissenschaftlichen Diskurs des 21. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielt (Tálos 2013). Die Kritik an einer solchen Zuordnung setzt vor allem bei der begrifflichen Unschärfe des Faschismusbegriffes und dessen tagespolitischer Instrumentierung ein. Dass der »Ständestaat« wesentlich Anleihen beim italienischen Faschismus machte, ist die eine, nicht bestreitbare Realität  ; Teil eben dieser Realität ist aber auch, dass der »Ständestaat« sich in einen in den 1930er Jahren dominanten autoritären Trend europäischer Politik einfügte – eine Entwicklung, für die Namen wie Miklós Horthy, Antonio Salazar, Ioannis Metaxas, Jozef Pilsudski, Francisco Franco und andere stehen. Die Beseitigung demokratischer Systeme in allen (mit Ausnahme der Tschechoslowakei) Nachfolge143

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staaten Österreich-Ungarns war Merkmal des Zusammenbruchs einer zentraleuropäischen Ordnung, die vom normativen Denken Woodrow Wilsons und den geopolitischen Interessen Frankreichs geprägt war (Kershaw 2015, 245). Die Republik Österreich wurde von einem Sog erfasst, der die Demokratie in halb Europa und insbesondere in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns zerstörte. Aber lässt sich dieser Sog generell als Aufstieg des Faschismus bezeichnen  ? Das Ende der demokratischen Republik Österreich war Teil einer umfassenden gegen die Demokratie gerichteten Transformation in Mittel-, Ost- und Südeuropa. Das Ende der Republik war kein Sonderfall. Aber Ausdruck der spezifischen Komplexität des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes war auch, dass es Facetten aufwies, die nicht dem Faschismus à la Mussolini entsprachen – etwa der direkte Bezug zur Katholischen Soziallehre und auch die spezifische Rahmenbedingung eines autoritären Systems, das sich auch gezwungenermaßen von Beginn an in einer Abwehrfront gegen ein totalitäres System fand. Das alles ist ebenso Realität wie der unfertige Charakter dieses höchst widersprüchlichen Gebildes (Botz 2015). Die begriffliche, die systematische Zuordnung des mit den Namen Dollfuß und Schuschnigg verbundenen Regimes ist in Diskussion. Die politische Realität, die gesellschaftliche Verankerung dieses Regimes ist hingegen außer Streit. Auf wen sich dieses sich selbst als »autoritärer Ständestaat« definierende Staatswesen gesellschaftlich stützen konnte, war schon durch die Präambel der am 1. Mai verkündeten Verfassung deutlich  : »Im Namen Gottes, des Allmächtigen« wurde dieser Staat ins Leben gerufen, der sich nicht Republik, sondern »Bundesstaat« nannte. Die direkte Berufung auf Gott konnte im Kontext der gegebenen Voraussetzungen nur heißen, dass nun der Politische Katholizismus, dass das katholisch-konservative Lager die staatliche Macht zur Gänze an sich gerissen hatte. Der »Ständestaat« garantierte zwar Religionsfreiheit, aber die Römisch-Katholische Kirche hatte Privilegien, die sie zu einer Art Staatskirche machten. Das hatte schon das 1933 von Dollfuß und Kardinal-Staatssekretär Eugenio Pacelli unterzeichnete, aber vom österreichischen Nationalrat nicht in der von der Verfassung der Republik vorgeschriebenen Weise ratifizierte Konkordat vorbereitet. Österreich akzeptierte, dass für Mitglieder der Katholischen Kirche (und damit für die Mehrheit der Bevölkerung) das kirchliche Eherecht und nur dieses gelten sollte – und damit eine zivilrechtliche Scheidung ausgeschlossen war. Der Staat akzeptierte auch eine Stärkung des Religionsunterrichts in den staatlichen Schulen – und sagte eine verstärkte Förderung des katholischen Schulwesens zu. Alle, die nicht der römisch-katholischen Kirche angehörten oder sich dieser nicht wirklich verbunden fühlten, sa144

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hen in dieser Privilegierung der und nur dieser Kirche eine Diskriminierung (Schima 2012). Der »Ständestaat« durfte sich, musste sich, wollte sich immer ganz offiziell mit den Spitzen des katholischen Klerus zeigen. Kaum eine offizielle Veranstaltung, bei der Prälaten nicht Ehrengäste gewesen, katholische Priester nicht prominent begrüßt worden wären. Bei den wirklich großen Selbstdarstellungen des Regimes waren der päpstliche Nuntius und die jeweiligen Ortsbischöfe demonstrativ anwesend. Wie sonst in dieser Epoche nur noch im Freistaat Irland, in Portugal, in Polen, in Italien und im Spanien der Franco-Diktatur schienen die Katholische Kirche und der Staat eins zu sein. Der »Ständestaat« demonstrierte im Bündnis mit der Katholischen Kirche seine Abkehr von einem säkularen Verständnis von Staat und Politik. Und die Katholische Kirche akzeptierte das Bündnis mit dem autoritären System – wie dies in dieser Epoche auch in Italien, Portugal und Spanien demonstriert wurde. Diese enge Verbindung unterstrich, dass das Dollfuß- und Schuschnigg-Österreich zwar manches mit Hitlers Deutschland gemeinsam hatte – etwa das Einparteiensystem und das Ende politischer und medialer Freiheit –, dass aber dennoch wesentliche Unterschiede blieben. Der »Ständestaat« erlaubte einen reduzierten politischen Pluralismus. Die »Vaterländische Front«, die eine Fortsetzung der Christlichsozialen Partei und der Heimwehren unter neuem Namen war und die nun das politische Monopol besaß, ließ intern einen gewissen Pluralismus zu. Und sie ließ diesen Pluralismus nicht nur zu, sie konnte auch nicht verhindern, dass interne Widersprüche, dass gegensätzliche Interessen auch nach außen hin erkennbar waren  : Die »Vaterländische Front« war der Prototyp einer autoritären, aber nicht totalitären Monopolpartei (Bärnthaler 1971). Die enge Verflechtung zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime verhinderte nicht, dass die auch in der Kirche der 1930er Jahre vorhandene, wenn auch öffentlich nur selten in Erscheinung tretende innere Pluralität weiter lebte. Katharina Ebner schreibt in diesem Zusammenhang von den »Politischen Katholizismen« in den Jahren zwischen 1933 und 1938 und diagnostiziert, dass die den Politischen Katholizismus Österreichs betreffende, auf Ernst Hanisch zurückgehende Differenzierung auch auf die Jahre des »autoritären Ständestaates« zutraf. Dass diese Differenzierung nicht in den Untergrund gedrängt wurde, sondern – halböffentlich – vom politischen System geduldet wurde (und wohl auch, im Hinblick auf die Befindlichkeit der Kirche, geduldet werden musste), unterstreicht den relativ pluralistischen Charakter der Diktatur der Jahre 1933 bis 1938 (Ebner 2013, 161). In den »Sozialen Arbeitsgemeinschaften« versuchten Strömungen, die aus den Christlichen Gewerkschaften kamen und die gelegentlich mit dem Begriff 145

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»linkskatholisch« etikettiert wurden, eine Art »linken Flügel« der Einheitspartei nicht nur de facto zu bilden, sondern auch als solcher erkennbar zu sein – zur Gewinnung der und gleichzeitig als Konkurrenz zur in der Illegalität weiter existierenden Sozialdemokratie (Pelinka 1972, 119–127). Gleichzeitig schickte die Einheitspartei aber auch Signale nach rechts außen, zur ebenfalls in der Illegalität wirkenden, vom deutschen Nachbarn massiv unterstützten NSDAP aus. Unter deutschem Druck öffnete Schuschnigg kurz vor dem Ende seine Regierung für Nationalsozialisten, die als »gemäßigt« eingestuft waren  : Arthur Seyß-Inquart und Edmund Glaise-Horstenau. Dass beide nach der deutschen Kapitulation als Kriegsverbrecher hingerichtet werden sollten, macht das Illusionäre der Unterscheidung zwischen »gemäßigten« und »radikalen« Nationalsozialisten deutlich. Ein Beispiel für diesen wesentlich reduzierten, aber vorhandenen Pluralismus lieferten Irene Harand und ihre 1933 gegründete »Weltbewegung gegen Rassenhass und Menschennot«. Bis 1938 gab sie die Wochenschrift »Gerechtigkeit« heraus. Das Motto dieser Zeitschrift, auf der Titelseite jeder Ausgabe gedruckt, war  : »Ich bekämpfe den Antisemitismus, weil er unser Christentum schändet.« Harand war Katholikin und Monarchistin, und sie verstand ihre Bewegung als Teil der »Vaterländischen Front«. Aber Harands Aktivität richtete sich gegen den Antisemitismus, der ebenfalls in der Monopolpartei des Ständestaates seinen Platz hatte, aber ohne – anders als im NS-System – Teil eines in gesetzliche Diskriminierungen umgesetzten Regierungsprogramms zu sein. Harand, die ihre Bewegung auch in anderen europäischen Staaten etabliert hatte, publizierte 1935 ein Buch  : »›Sein Kampf‹. Antwort an Hitler« (Harand 2005  ; Schubert 2008, 112). Auch wenn Harands Wirkung beschränkt blieb – eine Beschränkung, die eine Konsequenz des auch kirchlichen Antisemitismus und die Folge der mit dem Juli-Abkommen 1936 einsetzenden Beschwichtigungspolitik Schuschniggs gegenüber Hitler war  : Das Buch war von einer antinazistischen Angriffsfreudigkeit, die dazu führte, dass Harand vom Nationalsozialismus als prominente Gegnerin eingestuft wurde. 1938 konnte sie, als nicht-jüdische Aktivistin, mit Mühe dem Zugriff der Gestapo nach New York entkommen. Die sich auf die zentrale Botschaft des Christentums berufende Irene Harand und das Verhalten der Bischöfe, der Kirche insgesamt, hätten gegensätzlicher nicht sein können – ein Gegensatz, der zumindest rückblickend die Katholische Kirche beschämen müsste. In der Zeit, in der die herrschende Kräfte in der Katholischen Kirche massiv an einem Modus Vivendi mit dem Nationalsozialismus interessiert waren  ; als der österreichische Kurienbischof Alois Hudal in seinem 1937 veröffentlichten Buch Die Grundlagen des Nationalsozialismus sich an das NS-Regime anbiederte, in dem er die grundsätzliche Vereinbarkeit der nationalsozialis146

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Abb. 5  : Irene Harand (ca. 1936) und ihre Zeitschrift  : Unbequem, weil sie besser als die anderen sah,

was bevorstand.

tischen Doktrin mit den kirchlichen Lehren verkündete  ; aber auch, als die sozialdemokratische und die kommunistische Linke unfähig waren, den Judenhass als Kernelement und nicht als eine bloße Nebensache des unscharf »Faschismus« genannten Nationalsozialismus zu erkennen – in diesen Jahren zeigte Harands fast einsame Aktivität einen erstaunlichen Durchblick und Hudals geduldete, teilweise geförderte Politik eines kirchlichen Appeasements eine intellektuell und ethisch skandalöse Blindheit  : Ein in einem hohen Amt im Vatikan amtierender österreichischer Bischof, der doch die Lehre des Juden Jesus Christus zu vertreten vorgab, ließ sich durch den nationalsozialistischen Rassenantisemitismus nicht davon abhalten, für die Verständigung, ja für ein Bündnis zwischen Katholischer Kirche und Nationalsozialismus zu werben. Hudal sah außer dem nicht von Adolf Hitler persönlich, sondern nur von einigen Nationalsozialisten der zweiten Ebene vertretenen NS-Neuheidentum keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen der NS-Doktrin und der Römisch Katholischen Kirche (Weinzierl 1988, 57–60, 115–117). Hudals Position kam einer damals nur am Rande wahrgenommenen Bankrotterklärung des ethischen Anspruchs der Kirche gleich  ; der Kirche also, die gleichzeitig eine Stütze des autoritären Regimes in Österreich war  ; der Kirche, die dann im März 1938 die Repräsentanten des Politischen Katholizismus in Österreich 147

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ebenso zu opfern bereit war wie im März 1933 die katholische Zentrumspartei Deutschlands. Hudal war insgesamt nicht repräsentativ für die Kirche – freilich war Harand dies ebenso wenig. Aber das Beispiel Hudals zeigt, wie weit die Kirche als prominente Stütze Dollfuß’ und Schuschniggs von den Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte entfernt war. Gleichzeitig zeigt Hudals Beispiel, wie sehr die Bischöfe zu einer opportunistischen Anpassung neigten – sie stützten Dollfuß und Schuschnigg, solange dies einem kirchlichen Machtkalkül entsprach  ; sie waren aber auch bereit, falls es ihnen im Interesse ihrer als Organisation definierten Kirche notwendig erschien, sich 1938 mit den Gegnern Dollfuß’ und Schuschniggs zu arrangieren. Die Bischöfe Österreichs waren ein immanenter Bestandteil des sich christlich nennenden »Ständestaates« – und sie hätten ganz offensichtlich nichts dagegen einzuwenden gehabt, eine ähnlich »positive« Rolle auch für den Nationalsozialismus zu spielen. Doch dieser hatte eigentlich nur in den ersten Monaten nach dem »Anschluss« eine Verwendung für die Unterwerfungsbereitschaft der Katholischen Kirche in Österreich. Im totalitären NS-Regime hatte die Kirche ausgespielt. Dass Vertreterinnen und Vertreter der Katholischen Kirche individuell mutige Zeichen des Widerstandes setzten, änderte nichts daran, dass die Kirche der Bischöfe zum Widerstand nicht bereit war. Der oberösterreichische Bauer Franz Jägerstätter verweigerte den Militärdienst in der einen Angriffskrieg nach dem anderen vom Zaun brechenden »Großdeutschen Wehrmacht« – mit Berufung auf die kirchliche Lehre vom »gerechten Krieg«. Der Bischof von Linz sprach ihm das Recht ab, seinem Gewissen zu folgen. Jägerstätter wurde hingerichtet und Jahrzehnte später seliggesprochen, zu einem Zeitpunkt, als Jägerstätter der Bischofskirche nicht mehr ein Ärgernis war (Zahn 1986). Der Ständestaat war eine autoritäre Diktatur. Er war aber kein totalitäres Regime. Der Ständestaat findet – rückblickend – durchaus seinen Platz in der Typologie des Faschismus wie andere autoritäre Systeme auch  : das Salazar-Regime in Portugal, das Franco-Regime in Spanien, die Herrschaft Pilsudskis in Polen und die Horthys in Ungarn, aber auch der italienische Faschismus – sie unterdrückten Opposition, sie ließen politische Freiheit nicht oder nur extrem eingeschränkt zu (Tálos 2013, 569–586). Aber sie kannten, anders als die mit den Namen Hitler und Stalin gekennzeichneten Systeme, einen gewissen Pluralismus, der auch öffentlich erkennbar, der offiziell konzediert war und der jedem dieser semifaschistischen oder faschistischen Regime eine spezifische Note gab. Das galt eben auch für die Jahre zwischen 1933 und 1938 in Österreich (Bischof, Pelinka, Lassner 2003). Einen Beleg für diesen relativen, diesen eingeschränkten Pluralismus in einem Einparteienregime zeigte das Verhältnis zwischen Kurt Schuschnigg und 148

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Rüdiger Starhemberg. Nach der Ermordung Dollfuß’ im Juli 1934 hatten die beiden – Schuschnigg als Politiker, der aus der Christlichsozialen Partei (und den »Ostmärkischen Sturmscharen«, einer den Christlichsozialen besonders eng verbundenen Miliz) kam, und Starhemberg als Repräsentant der Heimwehren –, sich Dollfuß’ Macht geteilt  : Schuschnigg wurde Regierungschef, Starhemberg übernahm die Führung der Vaterländischen Front. Dieses Duopol hielt nur bis 1936  : Als Schuschnigg, auch unter dem Einfluss des demonstrativ katholischen Franz von Papen, Hitlers Gesandten in Wien, eine Art Kompromiss mit der deutschen Reichsregierung versuchte – das Resultat war das Abkommen vom Juli 1936 –, opponierte Starhemberg (der in seinen jungen Jahren selbst Nationalsozialist gewesen war) gegen diese Annäherung an den NS-Staat. Schuschnigg setzte sich durch, die Bedeutung der Heimwehren wurde zurückgedrängt, Schuschnigg übernahm auch die Führung der Vaterländischen Front. Starhemberg wurde aber weder gedemütigt noch in irgendeiner Form außer Landes gedrängt oder verfolgt. Er übernahm die Führung des Dachverbandes aller österreichischen Sportverbände. Er hatte seine politische Macht eingebüßt, aber sein Gesicht gewahrt. Machtkämpfe innerhalb der NSDAP (»Röhm-Putsch«) und der KPdSU pflegten anders zu enden. Der »Ständestaat” war unvollkommen, und er war halbherzig. Die berufsständische Ordnung, die er anstrebte, wurde nie im Sinne der Zielsetzung des Systems erreicht. Gegenüber der in die Illegalität abgedrängten sozialdemokratischen Opposition schwankte die Regierung Schuschnigg zwischen polizeistaatlicher Unterdrückung und zaghaften Versuchen der Einbindung, der Integration in das System. Teil dieser Versuche waren die zwischen dem 1. Oktober und 31. Dezember 1936 abgehaltenen Wahlen von »Vertrauensmännern« – ein versuchter Ersatz für die Institution der Betriebsräte, die in der Republik als Resultat freier Wahlen weitgehend von den sozialdemokratischen »Freien Gewerkschaften« dominiert worden waren. Mit der Wahl von »Vertrauensmännern« sollte 1936 ein Brückenschlag zu den bei den Revolutionären Sozialisten aktiven Gruppen der Sozialdemokratie versucht werden, die von der Regierung und der Vaterländischen Front als grundsätzlich gewinnbar eingestuft wurden. Die in der Illegalität tätigen Freien Gewerkschaften gaben die Parole aus, sich aktiv und auch passiv, in Form von Kandidaturen, an der Vertrauensmännerwahl zu beteiligen. Das Ergebnis der Wahl von 1936 war, dass mindestens die Hälfte der gewählten Vertrauensmänner in Opposition zur Regierungspolitik standen – darunter auch Anton Benya, Metallarbeiter, in der Zweiten Republik Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes von 1963 bis 1987 und des Nationalrates von 1971 bis 1986. Benya war auch Mitglied des von der Regierung und der Vaterländischen Front kont149

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rollierten »Einheitsgewerkschaftsbundes«. Doch kaum als Vertrauensmann gewählt, wurde Benya im Februar 1937 im Zusammenhang mit Zusammenkünften Oppositioneller verhaftet und verbrachte mehr als ein halbes Jahr im Gefängnis (Douschan 2011, 41–49). Das Schuschnigg-Regime hatte einen Oppositionellen partiell zur Mitarbeit im System gewonnen, nur um ihn rasch wieder abzustoßen. Wegen solcher Widersprüchlichkeiten blieben die Versuche, die politische Basis des diktatorischen Systems zu verbreitern, ohne nennenswerten Erfolg. Der unfertige Charakter des »Ständestaates« kam auch in der Halbherzigkeit seiner Kulturpolitik zum Ausdruck. Die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg und die Vaterländische Front förderten eine bestimmte und behinderten eine andere Kultur, ohne dass klar nachvollziehbar gewesen wäre, was außer nur vage formulierten Orientierungspunkten das kulturpolitische Ziel sein sollte. So beschloss die Regierung am 5. April 1934, in Wiederaufnahme der Kunstförderung in der Monarchie »Staatspreise« zu stiften. Diese sollten »hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Musik und der Literatur (auszeichnen), die nach Form und Gehalt als dem deutschösterreichischen Kulturkreis zugehörig und als Bereicherung des deutschösterreichischen Kulturgutes zu werden sind« (Aspetsberger 1979, 197). »Deutschösterreichisch« entsprach keineswegs einer spezifisch »ständestaatlichen« Orientierung, sondern einer auch in der Republik bis 1933 gängigen Begrifflichkeit. Was die offizielle Kulturpolitik des autoritären Regimes aber spezifisch machte, das war die punktuell versuchte, nicht aber systematische Grenzziehung gegenüber einer vom Nationalsozialismus geprägten Kunst. Der Jury für den Staatspreis für Literatur gehörte – als Vorsitzender – der Germanist Josef Nadler an, dessen Sympathien gegenüber dem Nationalsozialismus bekannt waren  ; und mindestens einmal wurde ein Vorschlag dieser Jury von der Regierung zurückgewiesen, weil ein Auszuzeichnender wegen nationalsozialistischer Betätigung polizeibekannt war  : Es handelte sich um den Schriftsteller Josef Wenter, der 1933 in einem »Hitler-Propagandaroman« sich gegen Österreichs Eigenstaatlichkeit ausgesprochen hatte. Ähnliche Rückweisungen wegen sozialdemokratischer (marxistischer) Betätigung scheinen in den Aufzeichnungen der Jury in den Jahren 1934 bis 1938 nicht auf. Dass Wenter 1936 – ein Jahr nach der Zurückweisung des Vorschlages der Jury – den Staatspreis dennoch bekam, zeigt das Fehlen einer gegenüber dem Nationalsozialismus klaren Linie der Kulturpolitik. Die Regierung, die versuchte, Kulturpolitik als Instrument ihrer Abgrenzungspolitik gegen links und rechts einzusetzen, bediente sich einer von mehr oder weniger offenen Anhängern des Nationalsozialismus durchsetzten Jury  : eine auffallende Inkonsequenz gegenüber dem Nationalsozialismus (Aspetsberger 1979). 150

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Die Halbherzigkeit im Kampf gegen den Nationalsozialismus durchzieht die fünfjährige Geschichte des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes. Nach dem Tod Engelbert Dollfuß’ erhielt die Kritik am Nationalsozialismus und am nationalsozialistischen Deutschland ein besonderes Motiv  : Dollfuß als »Märtyrer«, als Opfer einer das christliche, aber eben immer auch deutsche Österreich bedrohenden Macht ( Jagschitz 1976, 190–198  ; Dreidemy 2014). Die Todesurteile gegen die Hauptschuldigen am Putsch des 25. Juli 1934 verschärften die Frontstellungen auf beiden Seiten. Hitlers Politik der Beschwichtigung freilich, die ja auch Folge der internationalen (und insbesondere der italienischen) Reaktion auf die Verflechtungen der Putschisten mit deutschen Kommandozentralen war, und die Bestellung des Katholiken Franz von Papen zum deutschen Gesandten unterstrich eine teilweise Abkehr deutscher Unterstützung für eine gewaltbereite, terroristische Politik gegen Österreich. Die Regierung Schuschnigg reagierte auf Hitlers Beschwichtigung mit einer zögerlichen, letztlich aber doch deutlich erkennbaren Politik der Nicht-Konfrontation, die im Abkommen vom Juli 1936 ihren ersten und in Schuschniggs Fahrt nach Berchtesgaden im Februar 1938 ihren zweiten (und letzten) Höhepunkt fand. Für den nationalsozialistischen »Griff nach Österreich« (Schausber­ ger 1978) wurde nun das Auftreten der »gemäßigten« österreichischen Nationalsozialisten wesentlich. Diese unterschieden sich von den »Radikalen« – wie den aus den Reihen der SS kommenden Putschisten des Juli 1934 – vor allem durch ihre weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz. Sie waren »salonfähig«. Unter den »Gemäßigten« waren Universitätslehrer (wie Josef Nadler und Heinrich Srbik), im katholischen Milieu prominent Vernetzte (wie Taras Borodajkewycz) oder diesem Milieu sich demonstrativ Zurechnende (wie Arthur Seyß-Inquart) sowie Repräsentanten des Offizierscorps der Monarchie (wie Edmund Glaise-Horstenau und Carl Bardolff ). Ihnen allen war gemeinsam, dass sie den weit über das deutschnationale Lager hinausreichenden Konsens vom »deutschen Charakter« Österreichs und die ebenfalls breite grundsätzliche Orientierung am »Anschluss« zu nutzen vermochten, um den Nationalsozialismus als Teil dieses »deutschen Charakters« und den Anschluss an das von Hitler ausgerufene »Dritte Reich« als legitimes Ziel österreichischer Politik zu propagieren. Es waren die »gemäßigten« Nationalsozialisten, die sich von den Putschisten des Juli 1934 wesentlich zu unterscheiden schienen, die den Abwehrwillen und die Abwehrfähigkeit eines schwankenden Regimes entscheidend schwächten. Es waren diese vermeintlich Gemäßigten, die letztlich für die zum 11.März 1938 führenden Abläufe bestimmten  ; die Gemäßigten, die sich als Alternative zu der »Österreichischen Legion« angeboten hatten – zu den österreichischen Nationalsozialisten im deutschen Exil, die in militärischer Formation bereit standen, gewaltsam in Österreich einzudringen (Schafranek 2011). 151

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Die »gemäßigten« Nationalsozialisten spielten den »good cop« zum »bad cop« der Putschisten und Legionäre. Es war eine Arbeitsteilung im Rahmen einer Dramaturgie, die am Abend des 11. März 1938 ihren tragischen Scheitelpunkt erreichte. Da wurde als Resultat einer militärischen Erpressung der »gemäßigte« Seyß-Inquart Bundeskanzler. Am folgenden Tag hieß dieser Adolf Hitler in Österreich willkommen – um ihn im Triumph durch Österreich zu begleiten. Und auf den Straßen Wiens und der anderen Städte und Dörfer des Landes wurden Menschen gedemütigt und gequält und ermordet. 1937 erschien ein von Josef Nadler und Heinrich Srbik editiertes Buch, das für diese »gemäßigten« Nationalsozialisten repräsentativ war. Der aussagestarken Titel war »Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum« (Nad­ ler, Srbik 1937). In diesem Buch, dessen Inhalt fließende Übergänge von dem vagen Deutschnationalismus à la Schuschniggs Dreimal Österreich zum nationalsozialistischen Verständnis von »Deutschtum« erlaubte, ja indirekt dazu einlud, stand für das bildungsbürgerliche, das »gemäßigte« Element des österreichischen Nationalsozialismus. Diese gesellschaftlich etablierten, in jeder nur denkbaren Hinsicht »bürgerlichen« Nationalsozialisten waren es, die Österreichs Widerstandswillen bereits so unterminiert hatten, dass dieses sich als »besseres« Deutschland definierende Österreich letztlich sang- und klanglos vor dem »schlechteren« Deutschland kapitulierte  : Zwischen dem Bild eines deutschen, einem imaginären Deutschen Reich vorgeblich immer schon verbundenen Österreich, wie es Nadler und Srbik zeichneten, und dem ebenfalls an einem Reich hinter den Wolken orientierten Österreich eines Kurt Schuschnigg war zu wenig Differenz erkennbar, als dass der offene Widerstand sich zu lohnen und letztlich auch nur möglich schien. Schuschnigg war ein Diktator, der als »kulturbeflissen« galt  ; der systematisch Kontakte zu den verschiedenen, keineswegs nur katholischen Kreisen der Hochkultur hielt – auch und gerade zu Personen, die wie Franz Werfel als »jüdisch« galten. Schuschnigg stand in einem sozialen Umfeld, zu dem freilich auch »gemäßigte« Nationalsozialisten gehörten  ; und er war auch in einem Kulturmilieu zuhause, das mehr kosmopolitisch als nationalistisch war. Dieser Schuschnigg sah die Republik nur als eine kurze und gescheiterte Zwischenphase auf dem Weg zu einem neuen, katholisch-christlichen, deutschen, mehr oder weniger faschistischen, sicherlich aber nicht nationalsozialistischen Österreich – das freilich ebenso wenig demokratisch war. Doch Schuschniggs »drittes Österreich« konnte noch viel weniger die Stabilität erreichen, die dem »zweiten Österreich«, eben der Republik, so dramatisch verweigert worden war. Kaum hatte Schuschnigg seinen Zweckoptimismus in seinem Buch Dreimal Österreich zum Ausdruck gebracht, war es mit seinem Österreich, dem »christlichen Bundesstaat«, schon wieder vorbei – noch viel tragischer gescheitert als die Republik. 152

1933/34–1938  : Dem Abgrund entgegen

In diesem Punkt war Schuschniggs Perspektive Stefan Zweigs Sicht so unähnlich nicht. Zweig sah jeden Grund, einer »Welt von gestern« nachzutrauern. Diese Welt war das vor der Republik bestehende Österreich, und sie war nicht nur auf Österreich beschränkt. Die Republik war kein Bestandteil der Ordnung, die Zweig aus guten und teilweise auch aus bloß einer Verklärung verpflichteten Gründen nostalgisch feierte. Für Zweig war die Republik eine bereits verblasste, von ihm nie wirklich wahrgenommene Zwischenphase – zwischen der Welt eines kosmopolitischen Österreich, das im Weltkrieg untergegangen war, und der Antithese zu dieser weiten Welt der Bildung und Toleranz  ; der Antithese, für die der Name des österreichischen Katholiken Adolf Hitler stand. Zweigs Die Welt von gestern ist mit den Augen und Interessen eines gebildeten Großbürgers wahrgenommen. Die Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie der Monarchie, wird am Rande erwähnt – nicht ohne Sympathie. Die Sozialdemokratie der Republik wird nicht einmal erwähnt, außer als Opfer der Ereignisse von 1934. Karl Renner und Otto Bauer, die Schlüsselfiguren der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei der Republik, werden in Zweigs Buch nicht genannt. Die Sowjetunion, die Zweig 1928 kurz besucht hatte, versetzte ihn in Ratlosigkeit  : Mit dem Marxismus-Leninismus an der Macht wusste er wenig anzufangen (Zweig 1961, 360–375). Für Dollfuß und Schuschnigg, deren Weg in die Diktatur er ablehnte – und deshalb noch vor dem »Anschluss« ins Exil ging –, hatte er zumindest so etwas wie Verständnis. Er wertete ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus als eine Art »mildernden Umstand«, in dieser Hinsicht seinem Widerpart Karl Kraus ähnlich. Doch die Republik  ? Die schien für ihn abgeschlossen. Die entscheidenden Tage des Februar 1934 verbrachte Zweig in Wien – und stellte danach mit Erstaunen fest, dass er vom Bürgerkrieg und vom Sieg der autoritären Regierung über den republikanischen Widerstand nichts wahrgenommen, »nichts gesehen« hätte (Zweig 1961, 420). Der Republik trauerte Zweig in seiner wachsend depressiven Grundstimmung jedenfalls nicht nach, als ihn in seinem letzten Exil in Brasilien die militärischen Erfolge der Achsenmächte in die endgültige Verzweiflung trieben. In einer zwischen der Militärdiktatur Japans und dem nationalsozialistischen Deutschland aufgeteilten Welt wollte Stefan Zweig nicht leben. Zweig, der in den Jahren der Republik gerade auch außerhalb Österreichs der meistgelesene österreichische Schriftsteller war, trauerte um eine Welt, die nicht mehr bestand – und auch nicht wieder erstehen konnte  : um die Welt des »Fin de siècle«, in der die Staaten zusammenzuwachsen schienen  ; in der die Töchter und Söhne eines wohlhabend gewordenen Bürgertums Freunde in Paris und Berlin, in Rom und London hatten  ; in der jemand wie Stefan Zweig sich – fast – überall zuhause fühlen konnte. 153

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1945 wuchs aus den Resultaten der Niederlage, des Zusammenbruchs der deklarierten Feinde von Zweigs »Welt von gestern« das heraus, was Zweig eigentlich ignoriert hatte  : die im Vergleich zur »Welt von gestern« so kleine, so bescheidene Republik Österreich. Diese Zweite Republik sollte sich als erfolgreich erweisen – anders als die Republik, von der dieser zweite Anlauf zu einer österreichischen Demokratie sowohl die Verfassung wie auch die Traditionen des katholisch-konservativen und des sozialistischen »Lagers« und auch das politische Führungspersonal geerbt hatte  : repräsentiert von Karl Renner, jenem politischen Überlebenskünstler par excellence, dem Mann für alle Jahreszeiten. Dass die Zweite Republik den Erfolg hatte, den die Erste nicht erzielen konnte, war freilich Umständen zuzuschreiben, die zum Teil, ja weitgehend außerhalb der österreichischen Kontrolle lagen. Die Alliierten (die UdSSR, die USA, das Vereinigte Königreich) hatten sich in der »Moskauer Deklaration« vom 1. November 1943 darauf verständigt, dass sie Österreich anders als Deutschland behandeln würden  : als Opfer des Nationalsozialismus, aber auch als mitverantwortlich für den Krieg, den Deutschland vom Zaun gebrochen hatte. Dazu kam auch noch der ebenso zufällige wie für Österreich glückliche Umstand der Geographie  : Österreich wurde gleichzeitig von den Truppen der Roten Armee und von den Truppen der westlichen Alliierten befreit und auch besetzt. Dies ermöglichte es, dass Österreich – solange die Sowjetunion kein Interesse an einer Teilung Österreichs nach deutschem Muster hatte – nicht in den Sog der defensiven Aggressionspolitik der UdSSR kam. Österreich war konkret nicht in Gefahr, Objekt einer Politik zu werden, die der Sowjetunion ein Glacis von Satellitenstaaten garantieren sollte  ; von Staaten, deren politische Ordnung dem sowjetischen Muster folgte und deren außenpolitische Orientierung von Moskau aus kontrolliert und gesteuert werden konnte. Der Erfolg dieser, der Zweiten Republik war auch und vor allem der Gnade der Geopolitik zu verdanken. Doch am Erfolg der 1945 wiedererstandenen Republik hatte auch Österreich Anteil  : Julius Raab, der als Führer der niederösterreichischen Heimwehr 1930 in Korneuburg der parlamentarischen Demokratie eine klare Absage erteilt hatte, wurde ebenso zu einem Garanten dieser Demokratie wie die Vertreter einer Sozialdemokratie, die 1918 die Republik nur als Zwischenstufe, als eine Art Provisorium, geprägt von einem »Gleichgewicht der Klassenkräfte« zu akzeptieren bereit waren. Österreich hatte gelernt. Dieses Lernen war Teil einer kulturellen Entwicklung, freilich kaum das Ergebnis einer Hochkultur, wie sie sich in den Salzburger Festspielen manifestierte – diese hatten ja auch, ab 1938 »judenfrei«, einfach weitergemacht  ; auch nicht, jedenfalls nicht unmittelbar, ein Produkt der Gegenkultur der von der Sozialdemokratie bestimmten 154

1938, 1945 und danach  : Die vergessene Republik

Arbeiter- und Volkshochschulen, die freilich Ausdruck eines kulturellen Fortschrittsoptimismus waren, der sich 1945 bestätigt sehen konnte. Die ab 1945 einsetzende Erfolgsgeschichte war die Geschichte einer Politischen Kultur, die an die Stelle des »Entweder-oder« und des »Alles-oder-nichts« das »Sowohl-alsauch« und das »Einerseits-andererseits« setzte. Politik wurde nicht mehr von der Vision des Sieges der eigenen über die andere Seite bestimmt – sondern vom Pragmatismus der Machtteilung. Die Farbe dieser zum Erfolg führenden Politischen Kultur waren die verschiedenen Schattierungen von grau.

6.5 1938, 1945 und danach  : Die vergessene Republik Der letzte Akt von »Zwischenösterreich« erinnert an den Ablauf einer Entwicklung, die nach 1945 in Form einer »Salamitaktik« die Stalinisierung der mittel-osteuropäischen Staaten vollendete. In Österreich hatte der im März 1938 beendete Prozess im März 1933 mit der Ausschaltung des Nationalrates begonnen, hatte im Jahr 1934 weitere dramatische Ereignisse nach sich gezogen – den Bürgerkrieg vom Februar 1934, mit dem die Verteidiger der Republik oder dessen, was von dieser noch übrig war, gewaltsam ausgeschaltet wurden  ; die Verkündung der Verfassung vom 1. Mai 1934 »im Namen Gottes, des Allmächtigen«, einer Verfassung, deren in jeder Hinsicht unzureichender Charakter von Anfang an erkennbar war (Wohnout 2012)  ; den Bürgerkrieg vom Juli ebendieses Jahres, der den Zugriff des nationalsozialistischen Deutschland auf Österreich noch einmal aufhalten konnte  ; die – rückblickend – aussichtslosen Versuche, mit dem NS-Staat Kompromisse zu schließen, im Juli 1936 und zuletzt, im Februar 1938, in Berchtesgaden – alles das fand seinen Endpunkt in der »Anschluss« genannten Okkupation und Annexion Österreichs. Dieser letzte Akt hatte nur deshalb so lange auf sich warten lassen, weil Mussolini zunächst noch seine schützende Hand über den österreichischen Semifaschismus gehalten hatte. Sobald Mussolini geschwächt war, griff das Hitler-Regime zu – unter dem Jubel eines Teils der österreichischen Bevölkerung  ; akzeptiert, ja akklamiert von den Bischöfen und manchen Sozialdemokraten, die den sofort auch in Österreich einsetzenden Staatsterror gelegentlich zur Begründung heranziehen sollten, sie hätten ja Schlimmeres verhindern wollen – wohl auch für die, die bereits in die Kerker und Lager der neuen Herren eingeliefert waren (»Anschluß« 1998). Die Einordnung dessen, was im März 1938 geschah, war auch nach 1945 von gegenläufigen Interessen und einer selektiven Wahrnehmung bestimmt. Das Maß an »Freiwilligkeit«, mit dem sich Österreich dem NS-Staat unterwarf, kann wohl nur an dem gemessen werden, was zu welchem Zeitpunkt wie 155

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beurteilt wird  ; und deshalb wird man zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen müssen. Zwischen der Reaktion der (etwa fünf Prozent der Bevölkerung umfassenden) Österreicherinnen und Österreicher jüdischen Glaubens und der Anpassungsbereitschaft eines Theodor Innitzer oder eines Karl Renner war ein wesentlicher Unterschied, wie auch ein gradueller zwischen denen bestand, die noch in der Nacht zwischen dem 11. und 12. März mit »spontaner« Gewalt gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner der NSDAP vorgingen, und denen, die »nur« Hitlers »Triumphzug« von Braunau über Linz nach Wien bejubelten. Der »Anschluss« lässt keine einfache Benotung zu. Er war »a curious mixture of voluntary accession and compulsory occupation« ( Jarausch 2015, 303). 1938 fand der in sich logische, weltpolitisch angelegte, freilich nicht zwingende Untergang des schwankenden Österreich seinen Abschluss. Es war ein schrecklicher, ein schrecklich banaler Untergang. Die Republik hatte ihr Ende 1933 und 1934 noch in einer offenen Auseinandersetzung gefunden  : in einem Konflikt im Nationalrat, einen Konflikt, den eine zur Diktatur entschlossene Regierung nutzte, um dem parlamentarischen Regierungssystem mit Polizeigewalt ein Ende zu bereiten  ; und in einem Bürgerkrieg, der – so sinnlos er auch rückblickend erscheinen mag – doch das Ende der 1918 ausgerufenen Republik mit einem heroischen Mythos ausstattete. Doch Schuschniggs »Ich weiche der Gewalt«, verkündet in seiner Rundfunkrede am 11. März 1938, hatte nichts Heroisches. Diejenigen, die geglaubt hatten, des Kanzlers »Rot-Weiß-Rot bis in den Tod« ernst nehmen zu können, mussten sich betrogen fühlen – von einem Kanzler, der nun plötzlich kein »deutsches Blut« vergießen wollte. Und Österreichs jüdische Gemeinden, deren Blut ja dem NS-Regime nicht »deutsch« galt, sahen sich vom Kanzler, den sie in der Schlussphase des »Ständestaates« mehr unterstützt hatten als jede andere gesellschaftliche Gruppe, schutzlos dem sofort über sie hereinbrechenden Terror ausgeliefert. Die »Revolutionären Sozialisten«, die sich noch am 10. März verständigt hatten, bei dem vom Kanzler ausgerufenen Referendum für das »kleinere Übel« und damit, indirekt, für Schuschnigg zu stimmen, hatten dem Gegner des Februar 1934 ein Zweckbündnis angeboten – ohne Ergebnis und jedenfalls zu spät. Verglichen mit dem Ende von Schuschniggs »drittem Österreich«, dem halbfertigen Ständestaat, diesem semi-faschistischen System, war das Ende der demokratischen Republik noch von einem gewissen tragischen Stil gekennzeichnet gewesen. Das Ende des Dollfuß-Schuschnigg Regimes war eine noch viel größere Tragödie – aber dieses Ende war ohne Stil. Österreichs Bischöfe, die sich in aller Öffentlichkeit immer als Staffage für Dollfuß und Schuschnigg hergegeben hatten, grüßten bald schon mit »Heil Hitler«. Theodor Innit156

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zer, Kardinal-Erzbischof von Wien, schien zufrieden, dass er – zunächst noch – die von ihm durch eine »Hilfsstelle« für »nicht-arische« Katholiken scheinbar geschützten getauften Jüdinnen und Juden vor dem Schlimmsten zu bewahren vermochte. Zum Schicksal der viel zahlreicheren Ungetauften – zu den Pogromen, die noch am Abend des 11. März in Österreich ausgebrochen waren, fiel ihm nichts ein, wie ihm bezüglich der Entrechtung und der öffentlichen Drangsalierung der Jüdinnen und Juden auch nichts bei seinem Bittgang zu Adolf Hitler ins Hotel »Imperial« eingefallen war. Was hätte er auch sagen sollen – die Politik des Vatikans war nach wie vor an einem Appeasement, einer Beschwichtigung der Macht orientiert, mit der Papst Pius XI. ein Konkordat geschlossen hatte und die Pius XII. im Vergleich mit dem Kommunismus als kleineres Übel erschien – wenn nicht überhaupt der Papst Hitler als ein Instrument zur Zerstörung des Hauptfeindes einstufte, des sowjetischen Kommunismus (Cornwell 1999, 130–178). An den Universitäten Österreichs wurden die, die nicht »deutsch« waren – primär die, deren »Ariernachweis« sie als Jüdinnen oder Juden auswiesen – rasch von ihren Positionen entfernt, unter nur zu oft aktivem Zutun derer, die persönlich nun Karrierechancen sahen. Konrad Lorenz, vor Kurzem habilitiert, setzte nun seine Hoffnung auf eine Professur an der Universität Wien. In einem Brief an einen deutschen Kollegen vom 11. April 1938 schrieb er, er hoffe auf »vor allem etwas wirklich ›arteigenes‹ Deutsches, denn ich muss (im strengsten Vertrauen) sagen, dass die Humanpsychologie auch in ihren heutigen deutschen Vertretern immer noch für den Kenner merklich von dem Gedankengut der jüdisch-daherredenden und wortschwelgenden Judengrößen durchsetzt ist« (Föger, Taschwer 2001, 84). Das konnte nur als Attacke auf Karl und Charlotte Bühler verstanden werden, die das Institut für Psychologie an der Universität Wien geleitet hatten – Karl als Institutsvorstand, Charlotte als seine Mitarbeiterin. Charlotte, die im Sinne der NS-Kategorien »Jüdin« war, entkam auch – wie ihr »arischer« Ehemann – in die USA, wo ihr früherer Mitarbeiter Paul Lazarsfeld am Beginn seiner außerordentlichen Karriere an der Columbia University stand. Lorenz freilich startete seine professorale Laufbahn in Königsberg, am Lehrstuhl Immanuel Kants, bevor er im Dienste der Wehrmacht Gutachten erstellte. Er wurde zum erklärten Anwalt »eine(r) bewusste(n), wissenschaftlich unterbaute(n) Rassenpolitik« (Föger, Taschwer 2001, 148). Lorenz ließ 1938 in unmittelbarem Zusammenhang mit dem »Anschluss« persönliche Freunde fallen, weil diese »Juden« waren – wie Fritz Redlich, Arzt und Psychiater, der nach seiner Flucht in den USA als Professor in Los Angeles ein Buch über Hitler veröffentlichte (Diagnosis of a Destructive Prophet). (Pelin­ ka-Marková 2000). Im März 1938 waren kollegiale Verbindungen zu Jüdinnen 157

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und Juden für Lorenz zu Belastungen geworden, die seiner Karriere im Wege standen (Taschwer, Föger 2003, 78–92). In der Staatsoper grüßte Karl Böhm mit zum Hitlergruß erhobenem Arm  ; in Salzburg, rasch »judenrein« gemacht, wurde Hochkultur nun im Sinne der neuen Machthaber demonstriert  ; und der arisierte österreichische Film, der nun eben nicht mehr österreichisch war, produzierte mit den schon davor populären Stars – wenn diese »rassisch« einwandfrei waren – die Filme, die dem Reichspropagandaminister genehm waren. Die diplomatischen Missionen in Wien schlossen – oder wurden in Konsulate umgewandelt. Die westlichen Demokratien hatten bereits auf die Politik der Beschwichtigung Hitlers gesetzt – eine Politik, die sie im September 1938 nach München und Hitler im März 1939 nach Prag bringen sollte. Wegen Österreich und dessen Regierung, die 1936 kein Wort der Kritik am italienischen Angriffskrieg im Osten Afrikas geäußert hatte, wollten die britische und die französische Regierung nicht das erhoffte Arrangement mit Hitler aufs Spiel setzen, schon gar nicht für ein Regime, das sich kampflos einer militärischen Erpressung unterworfen hatte. Österreich war untergegangen. Die nationalsozialistische Diktatur tilgte sogar das Wort Österreich  : aus Nieder- und aus Oberösterreich wurden Nieder- und Oberdonau. »Finis Austriae«. Die politische und auch staatsrechtliche Situation Österreichs zwischen 1938 und 1945 war spezifisch  : Es gab keine staatliche Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, denn anders als in den nach 1938 vom Deutschen Reich besetzten Staaten (wie das »Protektorat« Böhmen und Mähren, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Norwegen, Serbien, Griechenland, Ungarn) gab es keine österreichischen staatlichen Strukturen, die mit der deutschen Besatzung hätten kollaborieren können. Es gab eine umfassende Kollaboration der österreichischen Gesellschaft – aus Überzeugung oder aus Opportunismus, aus Überlebensinteresse oder aus Gründen der Tarnung. Aber das in verschiedene »Reichsgaue« zergliederte Gebiet Österreichs wurde von deutschen Behörden administriert – österreichische Behörden, die zur Kollaboration bereit hätten sein können, gab es nicht. Freilich  : In den deutschen Behörden, die das österreichische Territorium verwalteten, wirkten zum Großteil Menschen, die noch bis zum 13. März 1938 österreichische Beamtinnen und Beamten waren. Die österreichische Kollaboration war eine gesellschaftliche, nicht eine staatliche. Es gab auch einen österreichischen Widerstand im besetzten und annektierten Österreich, beginnend mit den ersten Tagen des »Anschlusses« (Déak 2015, 28–30). Doch dieser Widerstand hatte nicht das Wiedererstehen der Republik im Sinne  : Der legitimistische Widerstand mobilisierte einen österreichischen Patriotismus, der von der Vision der Wiederkehr einer Monarchie bestimmt war  ; der kommunistische Widerstand baute auf einen Patriotismus, der sich 158

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mit kommunistischen Zielen verband, die auf die UdSSR abgestellt waren – eine Bindung, die in der Zeit der strategischen Allianz zwischen Hitler und Stalin, zwischen September 1939 und Juni 1941, einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt war, analog der Situation aller Kommunisten in allen Staaten der Welt. Widerstand gab es auch individuell – ohne Verbindung zu organisierten Gruppen. Der Widerstand war darauf gerichtet, das NS-Regime zu schädigen und so einen Beitrag zu dessen Überwindung zu leisten. Um die Republik, wie sie 1918, 1919 und 1920 entstanden war, ging es aber dem Widerstand nicht. Die Republik schien auch für den österreichischen Widerstand keine Zukunft zu haben. Umso erstaunlicher, dass das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich die Wiedergeburt ebendieser von der Geschichte dem Anschein nach so abgeschriebenen Republik bringen sollte. Die Republik erhielt eine zweite Chance, weil die Interessen der Alliierten, die Österreich militärisch befreien sollten, sich auf diese und wohl nur auf diese Formel der Wiederherstellung Österreichs in den Grenzen von 1937 (so die Moskauer Deklaration von 1943) bringen ließen – auf einen gemeinsamen Nenner, auf den sich die UdSSR, die USA und das Vereinigte Königreich geeinigt hatten  ; freilich auch, weil die österreichischen Akteure – vor allem im Lande selbst – sich 1945 auf die Republik und nur auf diese verständigen konnten  : nicht auf eine Räterepublik und nicht auf eine Donaukonföderation und nicht auf einen Ständestaat. Es war die tot geglaubte Republik, die demokratische Republik in der Verfassung von 1920, die sich als einzige Option aus dem Kräfteparallelogramm internationaler und nationaler Interessen anbot. 1938 aber war – so schien es allen – die Republik Österreich tot, endgültig tot. Die Gegner des real vollzogenen Anschlusses stellten dies nicht in Frage – sie wandten sich gegen die nationalsozialistische Diktatur, sie träumten aber nicht von der österreichischen Republik  ; sie träumten von einer gesamtdeutschen Revolution, die – vielleicht – eine deutsche Republik, nicht aber eine österreichische gebracht hätte  ; oder die Gegner der NS-Herrschaft in Österreich hielten ein Wiedererstehen einer Monarchie, etwa im Kleide einer Donaukonföderation für möglich, eine Fortführung des Reiches der Habsburger unter neuen Vorzeichen. Auch im österreichischen kommunistischen Exil, in der UdSSR, dachte jedenfalls bis 1936 niemand an die Wiederkehr der Republik mit der Verfassung von 1920 und den Grenzen, wie sie der Vertrag von St. Germain diktiert hatte. Innerhalb der Komintern und unter den österreichischen Studierenden der »Internationalen Lenin-Schule« in Moskau herrschte als Zukunftsperspektive vor  : »Anschluss eines Sowjetösterreichs an ein Sowjetdeutschland« (Köstenberger 2016, 107). 159

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An die Möglichkeit, dass sieben Jahre nach dem Untergang Österreichs die Republik in exakt der Gestalt wiedererstehen würde, in der sie 1918, 1919 und 1920 geformt worden war, hielt 1938 wohl kaum jemand für eine realistische Perspektive. Doch eben das sollte geschehen  : Die gescheiterte Republik kam wieder. Sieben Jahre nach der stillosen und wohl eben deshalb umso schrecklicheren Katastrophe des März 1938 sollte wieder ein Österreich entstehen. Ermöglicht von der Politik und den siegreichen Armeen der Alliierten konnten österreichische Politiker darangehen, das entsprechend dem Wortlaut der »Moskauer Deklaration« vom 1. November 1943 in den Grenzen von 1937 wiederhergestellte Land mit Strukturen, Institutionen, einem politischen System auszustatten. Allen, die sich an dem Entwurf für dieses Österreich beteiligten, dachten nicht an das Wiedererstehen des »Ständestaates«  ; und eine Sowjetrepublik mögen zwar einige Kommunisten ins Auge gefasst haben, aber als geopolitisch realistische Option in dieser Stunde null spielte eine Räterepublik keine Rolle. Mit größter Selbstverständlichkeit erklärten am 27. April 1945 die Repräsentanten der drei sich »antifaschistisch« nennenden, den Staat gründenden Parteien die Unabhängigkeit Österreichs – und damit verbunden die Wiedererrichtung der Republik in Form der Verfassung von 1920. Die untergegangene Republik, mit der Kultur und Politik sich nach 1918 nur zögerlich hatten anfreunden können, war wiedererstanden. Dass Karl Renner und Adolf Schärf, Leopold Kunschak und Johann Koplenig am 27. April 1945 in der Unabhängigkeitserklärung das Wiedererstehen der Republik Österreich verkünden konnten, war in erster Linie der Politik der Alliierten zu verdanken  : Sie hatten die Kriegsmaschine des nationalsozialistischen Deutschland niedergezwungen. Sie hatten sich schon 1943 auf die Befreiung Österreichs festgelegt und damit der Vorstellung, von der die Gründer der Republik 1918 zunächst ausgegangen waren, dem »Anschluss« an Deutschland, die weltpolitische Grundlage entzogen. Aber anders als 1919 in St. Germain mussten Österreichs Vertreter zur Unabhängigkeit nicht gezwungen werden. In der Moskauer Deklaration hatten 1943 die Alliierten die österreichischen Gegner des Nationalsozialismus wissen lassen, Österreichs Behandlung nach seiner Befreiung würde auch davon abhängen, welchen Beitrag der österreichische Widerstand bei der Niederringung der deutschen Herrschaft leisten würde. Diesen Widerstand gab es, von Anfang an  : schon ab März 1938 den Widerstand monarchistischer und kommunistischer Gruppen  ; bald auch den von Menschen des sozialdemokratischen und des katholisch-konservativen Mainstreams  ; und auch den Widerstand Einzelner, die ohne Verbindung zu Parteien und anderen Gruppierungen der nationalsozialistischen Herrschaft 160

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und dem mit dieser Herrschaft unmittelbar verbundenen Terror entgegentraten  : durch die Rettung Verfolgter, durch die Sabotage von Kriegsanstrengungen, durch Desertion aus der Deutschen Wehrmacht. Dieser österreichische Widerstand war heroisch, und die Zahl der Opfer, die er forderte, betrug (abhängig von der Zuordnung) jedenfalls mehrere zehntausend Menschen (Luza 1994  ; Neugebauer 2014). Doch entscheidend für das Wiedererstehen eines Staates, der sich Österreich nannte – und entscheidend dafür, dass dieses Österreich frei war, sich die politische Ordnung seiner Wahl zu geben –, entscheidend waren die Alliierten und ihr militärischer Sieg über das Deutsche Reich  ; und ihre Bereitschaft, das Wiedererstehen der demokratischen Republik zuzulassen. Die Männer, die von der ihnen 1945 zugespielten welt- und geopolitischen Chance Gebrauch machten, waren durchwegs Männer von gestern. Karl Renner war schon 1918 als Provisorischer Staatskanzler der erste Repräsentant der Republik und ihres Gründungsaktes 1918 gewesen, er hatte 1919 im Namen der Republik den Staatsvertrag von St. Germain unterzeichnet, und er hatte wesentlich Anteil an der Ausarbeitung der Verfassung gehabt. Er war Gesicht und Stimme der ersten zwei Jahre der Republik, als diese noch für kurze Zeit von einer politischen Kultur des Kompromisses und der Machtteilung getragen worden war. Und er war auch in den folgenden Jahren der Vertreter des »gemäßigten«, des »rechten« Flügels der Sozialdemokratie. Zwischen 1934 und 1938 hatte er sich nicht an der Untergrundtätigkeit der Revolutionären Sozialisten beteiligt und 1938 zwei Schritte gesetzt, die seinem Politikstil entsprachen – Schritte, die als opportunistische Anbiederung ebenso verstanden werden können wie als kluges Ausloten dessen, was unter geänderten Rahmenbedingungen möglich sein könnte  : Am 3. April 1938 hatte das »Neue Wiener Tagblatt« ein von Renner offenkundig ohne direkten Druck gegebenes Interview, in dem er – nach einer vorsichtigen Distanzierung gegenüber den neuen Herren über Österreich (»Obschon nicht mit jenen Methoden errungen, zu denen ich mich bekenne, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache […]«) – erklärte, er werde bei der »Volksabstimmung« genannten totalitären Zustimmungsorgie am 10. April mit »Ja« stimmen. Und im Anschluss an das im September geschlossene »Münchner Abkommen« verfasste Renner eine Denkschrift, in der er dieses Ergebnis deutscher Aggressionsbereitschaft und westlicher Beschwichtigungspolitik ausdrücklich lobte – und zwar auch die »beispiellose Beharrlichkeit und Tatkraft der deutschen Reichsführung«. Diese Denkschrift freilich wurde nicht mehr veröffentlicht, weil offenkundig Renner im Herbst 1938 schon seine Nützlichkeit für die NS-Diktatur verloren hatte (Pelinka 1989, 66–71  ; Saage 2016, 265–274). 161

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Julius Raab, der – als christlichsozialer Abgeordneter zum Nationalrat – Führer der niederösterreichischen Heimwehren war, hatte sich am 18. Mai 1930 in Korneuburg in einem »Eid« der Heimwehren zu folgender politischer Zielsetzung verpflichtet  : »Wir wollen nach der Macht im Staate greifen […]. Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat. Wir kämpfen gegen die Zersetzung des Staates durch den marxistischen Klassenkampf und liberal-kapitalistische Wirtschaftsgestaltung« (Cars­ ten 1977, 161). Das war ein in jeder Hinsicht antiliberales Programm  : gegen die liberale, westliche, parlamentarische Demokratie – und gegen eine liberale Wirtschaftsordnung. Raab war auch 1938 Mitglied der letzten Regierung Schuschnigg – als Handelsminister. Raab war somit ein prominenter Vertreter des autoritären, semifaschistischen Systems, das der Republik gewaltsam ein Ende gesetzt hatte. Das Verhalten der Republikgründer war Ausdruck einer signifikanten Lernfähigkeit. Wie immer man diese Flexibilität von Renner und Raab einschätzen mag – sie war die Voraussetzung dafür, dass die Republik wieder zum Leben erweckt werden konnte. Die wieder gegründete Republik brauchte Kontinuität. Diese Republik wollte und sollte aber nicht allzu sehr mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden. Die Zweite Republik hatte jedes Interesse, die Alliierten, die den Rahmen für Österreichs Zukunft absteckten, an die »Moskauer Deklaration« von 1943 zu erinnern – an die Definition Österreichs als »erstes Opfer« des nationalsozialistischen Deutschland. Daher hatte die Republik überhaupt kein Interesse, alles das zu diskutieren, was gegen diese »Opferthese« einzuwenden gewesen wäre  : dass weite Teile der österreichischen Gesellschaft die deutschen Besetzer als Befreier willkommen geheißen hatten  ; dass der Wille zum Widerstand 1938 und auch in den Jahren danach gering entwickelt war  ; dass Österreicherinnen und Österreicher in etwa proportionaler Entsprechung der Einwohnerzahl des Deutschen Reiches an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt waren  ; dass zwar der Staat Österreich, nicht aber Österreich als Gesellschaft ein Opfer des nationalsozialistischen Deutschland war. Dass Interesse der (Zweiten) Republik manifestierte sich in einem RotWeiss-Rot-Buch, das – 1946 erschienen – auf Dokumenten gestützte »Nachweise« erbrachte, die zur Stützung der Opferthese geeignet waren (Rot-WeissRot-Buch 1946). Diese Darstellung war die eines Rechtsvertreters in einem Gerichtsverfahren, der alles, was seinem Mandanten dient, vorbringt – und alles, was nicht nützlich erscheint, verschweigt. Das war legitim, das war insbesondere angesichts der politischen Gesamtsituation, in der sich die Republik unmittelbar nach ihrer Befreiung befand, verständlich. Aber es war natürlich 162

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nicht im Sinne der ganzen Wahrheit – es war nicht die Summe aller einander vielfach widersprechender Teilwahrheiten. Die Zweite Republik hielt sich zunächst nicht damit auf, das Scheitern der Ersten näher zu untersuchen. Angeklagt (und oft verurteilt) wurden 1945 und unmittelbar danach nationalsozialistische Verbrecher (Butterweck 2016). Das diente ja, auch wenn viele der Angeklagten Österreicher waren, der »Opferthese« – denn sie hatten im Namen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches gehandelt. Komplizierter wurde es, wenn materielle Interessen betroffen waren – im Zusammenhang mit der Entschädigung der individuellen Opfer der NS-Herrschaft, insbesondere der Restitution des im Zusammenhang mit der »Arisierung« geraubten jüdischen Vermögens –, da wurde »die Sache in die Länge« gezogen (Knight 1988). Denn es gab in der Zweiten Republik mehr Stimmen bei den »Ehemaligen« (Nationalsozialisten) zu gewinnen als bei den (insbesondere den jüdischen) überlebenden Opfern. In dieser komplexen Situation der Nachkriegszeit hielt man sich nicht auf, die einander ausschließenden Narrative mit einem wissenschaftlich gestützten Diskurs zu konfrontieren. Das sozialistische Lager pflegte seine Opferrolle, die mit dem Februar 1934 verbunden war. Das katholisch-konservative Lager war damit beschäftigt, die ambivalente Rolle Seipels und Dollfuß’ in möglichst positivem Licht dastehen zu lassen. Und das »dritte Lager«, das wollte erst recht nicht, dass an die Übernahme des Deutschnationalismus durch die NSDAP erinnert wurde. Es gab kein wirkliches Interesse, die Geschichte des Scheiterns der Republik insgesamt zum Thema zu machen. Und das schien auch nicht erforderlich zu sein  : Denn diejenigen, die partiell die Verantwortung für dieses Scheitern mit sich trugen, hatten gelernt – ohne viel darüber zu reflektieren. Die politischen Eliten, die für die Katastrophen der (Ersten) Republik verantwortlich waren, hatten ihr Verhalten geändert. Die Republik wurde nun zum Lehrbeispiel dafür, wie eine Politische Kultur, die nichts anderes war als das Neben- und Gegeneinander von Subkulturen, zu einer Politischen Kultur der Teilung von Macht wird. An die Stelle einer Republik, geprägt von einander misstrauisch beäugenden, sich in Festungen einschließenden Lagern, die sich weigerten, aus ihren Partialinteressen heraus Gemeininteressen zu entwickeln, trat die (Zweite) Republik und wurde zu einem Muster erfolgreicher Konkordanzdemokratie. Die Reflexion darüber, warum dies nicht schon nach 1918 möglich gewesen war, die musste freilich warten.

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7 Zwischen Gestern und Morgen

D

ie Republik hatte zwischen 1918 und 1933 nicht erreicht, als langfristiges Zukunftsprojekt wahrgenommen zu werden. Sie blieb ein Zwischenösterreich – nicht mehr das Österreich von gestern, aber irgendwie ratlos auf dem Weg in ein höchst umstrittenes Morgen. Die Republik war voll von Zukunftsprojekten, voll von hehren, auch quasi-religiös bestimmten Glaubenssätzen. Aber keines dieser Projekte war allen Lagern gemeinsam. Die Ziele, die in höchst unterschiedlicher, nur zu oft einander extrem widersprechender Form und nötigenfalls unter Verletzung der Normen der Republik erreicht werden sollten – die wurden nicht erreicht, konnten auch im Rahmen der Republik gar nicht erreicht werden. Die Republik enttäuschte, ja sie musste diejenigen enttäuschen, die sich von ihr die Verwirklichung visionärer Ideen erwartet hatten. Die Republik enttäuschte, weil die für »Ideologien« Verantwortlichen nicht Realitäten, weil sie Illusionen produzierten. Die universellen Menschenrechte waren am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der US-amerikanischen und der Französischen Revolution verkündet worden. Sie standen im scharfen Widerspruch zu einer gesellschaftlichen Realität, die durch die prinzipielle Ungleichbehandlung der Geschlechter, durch Sklaverei und einen gegen indigene Völker gerichteten Rassismus gekennzeichnet waren. Dieser Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit erzeugte aber eine Spannung, die sich in einer allmählichen Annäherung der Realität an die universellen Normen niederschlug. In Österreich hatte die Aufklärung vor allem sich mit den Methoden des Absolutismus (»Josefinismus«) durchgesetzt, der den Fortschritt von oben gewährte, dem aber das Postulat der Gleichheit aller Menschen prinzipiell fremd war. In Österreich fehlten die Erfahrungen mit einer erfolgreichen Revolution. Und dieses Defizit konnte auch nicht mit dem semantischen Trick der Sozialdemokratie beseitigt werden, die Ereignisse des November 1918 »Revolution« zu nennen. Das war auch ein Geburtsdefizit der Republik  : Ihr fehlte ein in die Zeit der früheren Neuzeit zurückreichender, grundsätzlich anerkannter Anspruch auf das, was die sich entwickelnde Demokratie des 19. und 20. Jahrhunderts ausmachte  : ein Normengerüst, das allgemein als verbindlich angesehen wurde  ; eine inhaltliche Grundnorm, die nicht umstritten war  ; eine ethische Basis, die nicht aus-, die vielmehr einschloss. Daher war die Berufung auf Grundsätze in der Republik Österreich immer eine Berufung auf etwas, was trennte – und nichts, was verband. Die Republik war ein Aufbruch von einem Gestern – ohne eine Gemeinsamkeiten begründende Vorstellung von einem Morgen. 165

Zwischen Gestern und Morgen

Das Morgen, das so viele erträumten, für das so viele zu kämpfen bereit waren, das war diese Republik ganz offensichtlich nicht. Dieses Morgen war für die einen das eine – und für die anderen ganz etwas anderes. Die Zukunft, die schien immer auch bestimmt vom großen Deutschen Reich hinter den Wolken, das zunächst noch nicht das Gesicht des mörderischen Auslandsösterreichers trug  ; oder von der Weltrevolution, die sich in Moskau zu formieren schien – und der auch die Sozialdemokratie, etwa ausgedrückt in Otto Bauers Formel vom »integralen Sozialismus«, entscheidendes Zukunftspotential zuschrieb  ; oder von einem Österreich, das sich in die von Leo XIII und Pius XI propagierten Formeln einer berufsständischen Ordnung einordnen ließ, einer Ordnung, deren Konturen zwar höchst vage blieben, die aber ganz eindeutig nicht die Züge der demokratischen Republik mit ihrem Mehrparteiensystem und ihren parlamentarischen Prozessen trug. Die Republik blieb gerade für politisch Engagierte, für politisch besonders Interessierte bestenfalls eine notgedrungen in Kauf zu nehmende Zwischenstufe, ein Provisorium, das zu überschreiten oder auch ganz einfach wegzuräumen wäre, sobald sich die Gelegenheit dazu ergeben sollte. Die politische Welt von gestern, wie sie Stefan Zweig beschrieb, war bereits von einer Mentalität geprägt gewesen, die einem liberalen Großbürger wie Zweig offenbar nicht so deutlich war  : von der Welt der segmentierten Loyalitäten, der Welt der politischen Kulturen der Lager. Die »Lagermentalität« war das wichtigste Erbe, das die Republik aus der politischen Kultur der Monarchie mitgenommen hatte. Vor 1918, im Kaiserreich, war die Identität der Menschen von zwei Faktoren bestimmt – von der Nationalität, also von der Sprachgruppe, und von der politisch-weltanschaulichen Heimat, von der die meisten geprägt und umfangen waren. Die meisten sahen sich primär als Deutsche oder Tschechen oder Italiener oder Polen oder Slowenen – und ebenso, bestimmt von der Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Status, als Sozialisten oder Katholiken oder auch als »national«. Und viele blieben für ihre Umwelt »Juden« – ob sie das wollten oder nicht. Die Republik, die gab es eigentlich nicht – nicht als ein gemeinsames Band, das in den Vorstellungen ihrer Bürgerinnen und Bürger Grundlage und Rahmen offener, den Prinzipien der Demokratie entsprechender Prozesse gewesen wäre. Die Sozialdemokratie verstand sich, grundsätzlich zu Recht, als die eigentliche, ja die einzige Stütze der Republik. Aber sie sah sich in dieser Rolle alleingelassen. Das Republikdenkmal in Wien trägt nur die Büsten und Namen der drei sozialdemokratischen Gründungsväter – Viktor Adler, Jakob Reumann und Ferdinand Hanusch –, aber keinen Namen, keine Büste eines der anderen, der nicht sozialdemokratischen Gründungsväter. Eben deshalb wurde die Republik auch als der Besitz des einen Lagers wahrgenommen. Die 166

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anderen machten der Sozialdemokratie diesen Besitz der Republik auch gar nicht streitig. Die anderen wollten diese Republik überwinden. Die Republik verband nicht – sie trennte. Die Republik, einstimmig von den Vertretern aller drei Lager gegründet, wurde nicht als eine gemeinsame, sie wurde als sozialdemokratische Errungenschaft wahrgenommen. Und die Republik, deren Gründung man in Wien mit der Erinnerung an drei – nur – sozialdemokratische Gründer gedachte, zeigte sich in einer für die Geschichte dieses Zwischenösterreich typischen Verkürzung. Der erste Satz Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes lautete ja  : »Österreich ist eine demokratische Republik.« Dem Republikdenkmal fehlte (und fehlt noch immer) ein Bezug zu den anderen Qualitätsmerkmalen, die die republikanische Verfassung beanspruchte  : zu Österreich und zur Demokratie. Der Republik und deren Gründung wurde gedacht, jedenfalls von Seiten der Sozialdemokratie. Demokratie, das war aber offenkundig sekundär, jedenfalls kein Begriff, der mobilisierte – auch nicht gegeneinander. Und Österreich  ? Was der Österreich-Bezug der republikanischen Verfassung zu bedeuten hätte, das wurde – wie in diesem Republik-Denkmal auf der Wiener Ringstraße neben dem Gebäude des Parlaments – nicht wirklich thematisiert. Republik, das hieß, dass der Kaiser abgedankt hatte, dass Österreich keine Monarchie mehr war. Viel mehr bedeutete Republik nicht. Österreich, das war der deutschsprachige Rest der Monarchie, dem der Anschluss an die deutsche Republik untersagt worden war. Und Demokratie  ? Wer wollte, konnte das Demokratieverständnis der Republik sehr wohl aus der Verfassung herauslesen. Das Recht der Republik »ging vom Volk« aus. Aber das Volk  ? Sicherlich, die Erweiterung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes auf Frauen hatte die am stärksten ins Auge springende begriffliche Verengung des Volkes beseitigt – Volk verstanden als die Summe der politisch Berechtigten. Aber gab es eine ethnische Dimension des Volkes  ? Die wurde nicht ausgesprochen, sehr wohl aber immer mitgedacht. Als 1920 in Unterkärnten eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit dieser Region zu Österreich oder Jugoslawien stattfand, da hießen die Kampfrufe »deutsch« oder »slowenisch«. Um Österreich schien es da kaum zu gehen. Und die ab 1930 immer stärker in nationalsozialistisches Fahrwasser geratende Anschlussbewegung stellte zunehmend »deutsch« in einen Gegensatz zu »jüdisch«. Das Alltagsverständnis von »Volk« war, durchaus in Übereinstimmung mit der nun aus Deutschland kommenden Propaganda und der in Deutschland seit 1935 geltenden Gesetzeslage (»Nürnberger Gesetze«), bei einem gegen »das Judentum« gerichteten Rassismus angelangt. Die Republik als Begriff hatte kaum einen eindeutigen Inhalt. Demokratie wurde als Volksherrschaft verstanden, aber »Volk« ließ verschiedene Interpretationen zu. Und was »Österreich« bedeuten sollte, war von Anfang an diffus, 167

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umstritten, blass. Für die Linke stand zu viel Österreich-Betonung immer unter dem Verdacht einer Habsburg-Nostalgie, die einer Restauration den Boden bereiten sollte – bis, etwa ab 1936, die KPÖ sich (von der Sozialdemokratie ungläubig bis offen ablehnend beäugt) dem Konzept einer »Österreichischen Nation« verschrieb  ; bis, zur selben Zeit, parallel zur KPÖ Gruppierungen des politischen Katholizismus, allen voran Ernst Karl Winter, dasselbe Konzept formulierten (Kreissler 1984, 174–183). Die Demokratie, die konnte höchst verschieden verstanden werden. Die Sozialdemokratie machte es den anderen schwer, ihr Demokratieverständnis als Grundlage einer breiten Gemeinsamkeit zu sehen. Das Bekenntnis zur »Diktatur des Proletariats« im Linzer Programm der SDAP von 1927 – einer Diktatur, die »nur« als Defensivstrategie gegenüber einer autoritären Machtübernahme von rechts (von Seiten der »Bourgeoisie«) verstanden wurde – konnte, ja musste zu Missverständnissen führen. Wurde doch auch das Einparteiensystem der UdSSR von Lenin, Trotzki, Stalin als eine solche »Diktatur des Proletariats« definiert. Max Adler, einer der Theoretiker der Sozialdemokratie, der üblicherweise deren »linkem« Flügel zugerechnet wurde, repräsentierte die Vorbehalte seiner Partei gegenüber der Demokratie, wie sie in der republikanischen Verfassung ihren formalen Rahmen für ein Mehrparteiensystem fand. Max Adler schätzte diese Demokratie keineswegs gering ein, aber er sah sie als Zwischenstufe auf dem Weg zu einem Endzustand, den er »soziale Demokratie« nannte und zwischen der »volonté générale« des Jean-Jacques Rousseau und der klassenlosen Gesellschaft des Karl Marx angesiedelt sah  : ein Ideal, das auch bei Max Adler nebulos blieb, das aber die nur eingeschränkte Identifikation der Sozialdemokratie mit der Demokratie der Republik anzeigte (Adler 1926). In Verbindung mit der Formel von einer defensiven »Diktatur des Proletariats« und der gelegentlichen sozialdemokratischen Definition der Demokratie als »Weg«, der zum »Ziel« des Sozialismus führte (so etwa Karl Seitz – Hanisch 2011, 279), waren demokratietheoretische Diskurse dieser Art wenig geeignet, die politischen Gegner der Sozialdemokratie von einer breiten Gemeinsamkeit eines republikanischen Demokratieverständnisses zu überzeugen. Und die Christlichsozialen  ? In den zentralen Dokumenten des Politischen Katholizismus, auf die sich die Partei berief – Seipel ebenso wie Dollfuß –, in den Enzykliken also und den anderen sozialethischen Aussagen der Päpste war zwar viel von sozialer Gerechtigkeit die Rede, nicht aber von Demokratie. Die Katholische Kirche sollte erst Jahrzehnte später, im Zweiten Vatikanischen Konzil, ihre prinzipielle Zustimmung zur Demokratie und zu den demokratischen Grundwerten politischer Freiheit formulieren. Zwischen 1918 und 1938 168

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waren Kirche und Papst jedenfalls nicht Proponenten der liberalen Demokratie, wie sie in der Verfassung der Republik Österreich verankert war. Kein Wunder, dass die Christlichsozialen sich in ihrer Position dadurch bestätigt fühlten, den Demokratiekonsens der Jahre 1918 bis 1920 nur als taktische Notwendigkeit gegenüber einer starken Sozialdemokratie und nicht als eine belastbare Grundlage für einen verregelten, friedlichen Wettbewerb aller Parteien zu sehen. Hatten doch noch im August 1918 die katholischen Bischöfe Österreichs »Souveränität des Volkes, Volksmehrheit als Quelle des Rechtes, Selbstbestimmungsrecht der Völker« als »falsche Ideen« bezeichnet (Diamant 1960, 106). Diese von den Bischöfen offenbar noch in der Annahme des Weiterbestehens des Reiches der Habsburger formulierte Position ließ einer Partei des Politischen Katholizismus nur den Spielraum, Demokratie als unvermeidlich zu akzeptieren, nicht aber als Wert, als Ziel an sich offensiv zu vertreten. Bald schon nach 1920, als die Schwäche der Sozialdemokratie den Spielraum der Christlichsozialen wesentlich erweiterte, begann die Partei – allen voran Ignaz Seipel – die durch Parteienwettbewerb und Parlamentarismus definierte liberale Demokratie durch das Attribut »wahre Demokratie« so lange zu relativieren, bis Engelbert Dollfuß die Demokratie der Republik beseitigte. Die demokratische Republik war nicht in der Lage, eine gesamtösterreichische demokratische Identität zu begründen. »Man« war sozialistisch oder katholisch oder deutschnational, das alles freilich mit durchaus unterschiedlicher Intensität. »Man« definierte sich primär im Gegensatz zu den anderen Lagern. Inklusion und Exklusion, die Kernfunktionen jeder Identität, bezogen sich auf die jeweils anderen – in Österreich. Jedes Lager sah die für die eigene Identitätsstiftung notwendigen »anderen«, die »defining others«, im anderen Lager – in Österreich. Die demokratische Republik war der pragmatisch vereinbarte Kampfboden, auf dem mit »weltanschaulicher« Intensität gestritten wurde. Die demokratische Republik – das war kein inhaltlich definierter Primärwert. Und gestritten wurde von gesellschaftlichen Gruppen, die mehr waren als politische Dienstleister, zuständig für die Rekrutierung des politischen Führungspersonals, um den Wählerinnen und Wählern eine Auswahl der Regierenden möglich zu machen. Die Lager waren zwar auch für diese politischen Servicefunktionen der Parteien verantwortlich. Sie waren aber vor allem subsidiäre Quasi-Nationen, subsidiäre Quasi-Kirchen  : zuständig für »Weltanschauungen«, für die großen, alles erklärenden Narrative. Lager vermittelten feste Loyalitäten, und sie verkündeten Wahrheiten. Die Identität der Lager war eine exklusive. Die Lager praktizierten eine exklusive Liturgie. Was den einen die Massenaufmärsche am 1. Mai war, war den anderen die Fronleichnamsprozessionen. Massenveranstaltungen, Massenaufmärsche waren Ausdruck des Trennenden – nicht des Verbindenden. 169

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Gemeinsam hatten die Lager nichts – jedenfalls nichts, was sie hätten gemeinsam demonstrieren können, keine alle Lager inkludierende Identität, keine gemeinsame politische Liturgie. Es fehlte der Republik das, was in den USA der 4. Juli, in Frankreich der 14. Juli, in der Schweiz der 1. August ist  : eine alle verbindende Tradition des nationalen Feierns. Was den einen die rote Nelke als Blume sozialistischer Gemeinsamkeit, war den anderen die weiße Nelke – die Blume der Christlichsozialen  ; und für die Dritten erfüllte die blaue Kornblume die Funktion eines politischen Signals, das ein- und das ebenso ausschloss. Die Republik gab es, weil die Monarchie verschwunden war, weil der Monarch abgedankt hatte. Die Republik gab es nicht als gemeinsame Grundlage, auf die sich die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte verständigt hätten. Ausdruck dieser Exklusivität subnationaler Identitäten war auch das Wahlverhalten. Die Stimmenanteile und Mandate der Parlamentsparteien waren eingefroren – es gab kaum Bewegung, es gab kaum Wechselwähler oder -wählerinnen. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte 1919, bei der Wahl in die Konstituierende Nationalversammlung, 40,76 Prozent der Stimmen erhalten – 1930, bei der letzten Wahl des Nationalrates in der Ersten Republik, erhielt sie 41,15 Prozent. Für die Christlichsozialen stimmten 1919 35,91 Prozent – und 1930 35,65 Prozent. Die restlichen Stimmen fielen dem unter verschiedenen Namen antretenden Parteien des deutschnationalen Lagers und, am Ende der Republik, auch den Heimwehren zu (Kleindel 1978, 320, 336). Die Lager standen einander schroff und in sich kaum verschiebenden Größenordnungen gegenüber – und sie rüsteten gegeneinander. Dennoch gab es Grauzonen. Im »Bürgerblock« gab es die innere Pluralität des deutschnationalen Lagers, repräsentiert von der Großdeutschen Volkspartei und dem Landbund, 1930 verbunden im »Schoberblock«, der bei der Wahl in diesem Jahr 11,52 Prozent der Stimmen erhielt. 1930 hatte auch ein Teil des Heimatschutzes auf einer eigenen Liste kandidiert – und 6,16 Prozent der Stimmen erhalten. Der Heimatschutz wie auch der Schoberblock waren Teil der Koalitionsregierung, mit der Engelbert Dollfuß ab 1933 gezielt den Weg in die Diktatur beschritt. Und einige Landesorganisationen des Heimatschutzes hatten 1930 auch Kandidaten für die Liste der Christlichsozialen Partei nominiert– wie etwa der niederösterreichische Heimatschutz, als dessen Vertreter Julius Raab in den Nationalrat einzog, als Repräsentant des Heimatschutzes innerhalb der Christlichsozialen Partei. Die in der Republik bestimmenden Personen hatten ja zunächst eine tief in der Vergangenheit verwurzelte Vorgeschichte. Das galt natürlich für Karl Renner, der seine Karriere als »Mann für alle Jahreszeiten« noch im Abgeordnetenhaus des österreichischen Parlaments begonnen hatte, wo er auf Tomáš Masaryk und Alcide de Gasperi traf  : Alle drei waren durch ihre weiteren Kar170

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rieren von großer Symbolik für das, was das alte Österreich vielleicht hätte werden können, aber nicht erreicht hat, weil es tragisch-dramatisch gescheitert war. Kontinuität verkörperte aber auch Leopold Kunschak, dessen demokratisches Engagement innerhalb der christlichen Arbeiterbewegung ihn schon vor 1914 zu einem ernsthaften Konkurrenten der Sozialdemokratie gemacht hatte und dessen ausgeprägter Antisemitismus weder vor 1914 noch nach 1918 ein Hindernis für seine führende Rolle in der österreichischen Politik war (Pelinka 1972, 222–226). Teil der Kontinuität der Republik war das Militär. Zwar bekam das kleine Heer der Republik Uniformen, die nicht an die Monarchie erinnern sollten. Erst die Regierung Dollfuß führte wieder im Sinne ihrer Nostalgiepolitik Militäruniformen ein, die bewusst an die K.-u.-k.-Armee anknüpften. Aber das Personal des Bundesheeres, das wurde unmittelbar nach der Gründung der Republik – unvermeidlich – aus dem K.-u.-k.-Militär rekrutiert. Das galt auch in besonderer Weise für die Sozialdemokraten  : Deren Militärexperten – Theodor Körner, Julius Deutsch, Alexander Eifler und andere – waren österreichisch-ungarische Offiziere gewesen. Nach dem Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung, 1920, halfen sie mit, im Zuge der Militarisierung der Innenpolitik der Sozialdemokratie einen militärischen Arm zu verschaffen – den Republikanischen Schutzbund. Denn von 1920 an hatte die Regierung (und damit die Parteien) des »Bürgerblocks« die Kontrolle über das Heer. Das Bundesheer wurde ab 1920 nicht nur als ein Heer »im Schatten der Parteien« wahrgenommen, sondern insbesondere auch als ein der Regierung zur Verfügung stehendes Instrument der Politik im Inneren. Dafür sorgte Carl Vaugoin, der christlichsoziale Verteidigungsminister. Die Regierung konnte auf dieses Heer auch für innenpolitische Zwecke zurückgreifen, was in den Bürgerkriegen des Februar und des Juli 1934 entscheidend sein sollte ( Jedlicka 1955). Das österreichische Heer, zunächst – Ausdruck der sozialdemokratischen Hegemonie am Beginn der Republik – »Volkswehr« genannt, bevor es zum Bundesheer wurde, war ein Instrument der Innenpolitik. Nur im Zusammenhang mit zunächst noch nicht eindeutig geklärten Fragen der Grenzziehung der Republik (gegenüber Jugoslawien und Ungarn) kam dem Heer zumindest potentiell eine für die Außenbeziehungen der Republik signifikante Funktion zu. Eine entscheidende Rolle spielte das Heer in den Bürgerkriegen des Februar und des Juli 1934, als ein Instrument der Regierung bei der Niederwerfung zunächst der linken (sozialdemokratischen) und dann der rechten (nationalsozialistischen) Gegner. Im einzigen »Ernstfall« der Verteidigung gegen einen von außen kommenden Aggressor – beim Einmarsch der deutschen Truppen in den Morgenstunden des 12. März 1938 – spielte das Bundesheer keine Rolle. Schuschnigg hatte ja schon am Vorabend kapituliert und dem Bundesheer die 171

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Weisung erteilt, dem deutschen Einmarsch keinen Widerstand entgegenzustellen. Das Bundesheer wurde dann auch sofort in die Deutsche Wehrmacht eingegliedert – mit Ausnahme der Angehörigen, die als »jüdisch« oder als (im Sinne der NS-Regierung) politisch unzuverlässig galten. Nach dem Untergang des Gestern, der Monarchie und ihrer Streitmacht, war endlich doch ein Morgen ersichtlich  : ein Morgen, repräsentiert von der Wehrmacht, die auf den Auslandsösterreicher Adolf Hitler angelobt war. Die personelle Kontinuität, die von der Monarchie in die Republik führte, fand ihren Ausdruck auch in einer baulich-architektonischen Form  : Das von Theophil Hansen entworfene klassizistische Parlamentsgebäude auf der Ringstraße, das dem Herren- und dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates des alten Österreich Platz geboten hatte, war nun der Sitz der beiden Kammern des neuen, des republikanischen Parlaments des klein gewordenen Österreich – des National- und des Bundesrates. Der »Ballhausplatz«, diese Adresse einstmals großer Weltpolitik, assoziiert mit Clemens Metternich und dem Wiener Kongress, wurde zum Amtssitz des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers. Und die Repräsentations- und Amtsgebäude des Kaisers  ? Sie wurden ins Eigentum der Republik übertragen und dienten vor allem als Museen – bevor dann, in der Zweiten Republik, der Josephinische Trakt der Hofburg zum Amtssitz des Bundespräsidenten werden sollte. Anders als in den anderen Nachfolgestaaten, in Prag etwa oder in Krakau, in Lemberg oder in Triest, aber auch anders und jedenfalls mehr als in Budapest, konnte sich das republikanische Österreich durchaus im Glanz der Dynastie Habsburg sonnen. Das war nicht unbedingt ein programmatisches Bekenntnis, sondern eher Pragmatismus – die neue Eigentümerin, die Republik, musste ja die kaiserlichen Gebäude irgendeiner Nutzung zuführen. Geradezu revolutionär mutete an, dass schon Ende 1918, unmittelbar nach dem Auszug der kaiserlichen Familie, Teile des Schlosses Schönbrunn einem sozialdemokratischen Erziehungsprogramm Heimstatt boten. Die sozialdemokratischen Kinderfreunde nützten das Schloss als Bildungsstätte für eine Reformpädagogik, die versuchte, das Konzept der Erziehung eines »neuen Menschen« umzusetzen (Weiss 2008). An die Stelle des Hofzeremoniells traten nun verschiedene Formen pädagogischer Experimente wie ein »Arbeiterkinderheim« und eine »Kinderlesehalle«. Bis 1933 diente so das größte der Schlösser der Habsburger einer sich durchaus revolutionär verstehenden austromarxistischen Bildungspolitik. Der »Schönbrunner Kreis« der sozialdemokratischen Kinderfreunde war Teil des radikalen Reformverständnisses des »Roten Wien«. Dass dafür die Räume des österreichischen Versailles verwendet werden konnten, reflektiert den sonst nur zögerlich umgesetzten Anspruch, die Republik – allen Kontinuitäten zum Trotz – als etwas wirklich Neues zu gestalten. 172

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Im Vergleich damit mutete die Nutzung des Neubaues des K.-u.-k.-Kriegsministeriums am Wiener Stubenring fast grotesk an  : Fertig gestellt kurz vor dem Ausbruch des Krieges, konzipiert als administratives Zentrum einer der großen Militärmächte Europas, wurde es nun zum »Regierungsgebäude« – Amtssitz mehrerer Ministerien der Republik. Dass vor diesem gewaltigen Amtshaus der Republik Feldmarschall Johann Radetzky in Überlebensgröße irgendeinem der seltenen militärischen Erfolge der Monarchie im 19. Jahrhundert entgegenzureiten oder einer punktuell siegreichen Vergangenheit zumindest nachzusinnen scheint, steht für die Schwierigkeiten, die Republik als etwas wirklich Neues zu begreifen. Bald traten in den politischen Spitzenfunktionen an die Stelle oder in Ergänzung zu den aus der Vergangenheit kommenden Personen die Repräsentanten einer neuen Generation  : die der Soldaten, insbesondere die der Offiziere des Weltkriegs. Sie waren, anders als Renner oder Kunschak, nicht vom Parlamentarismus des alten Österreich geprägt, sondern vom organisierten Morden in den Schützengräben. Die Militarisierung der österreichischen Innenpolitik durch die an Parteien gebundenen »Wehrverbände« schaffte dieser Kriegsgeneration eine Bühne, und die Sozialisierung in den verschiedenen Milieus (insbesondere im katholischen Cartellverband, dem CV) brachte sie zumeist unmittelbar in die Parteipolitik (Hartmann 2006, insbes. 226–236). Die letzten Bundeskanzler vor 1938 – Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg – entsprachen eben diesem Muster. Sie waren Mitglieder des CV – wie auch Ignaz Seipel und Wilhelm Miklas, die Vertreter einer älteren Generation. Und Dollfuß und Schuschnigg waren auch, darüber hinaus, Offiziere der K.u.-k.-Armee gewesen. Die Politiker dieser jüngeren, dieser Kriegsgeneration traten auch öffentlich vermehrt in Uniform auf  : Emil Fey und Ernst Rüdiger Starhemberg, die Schlüsselfiguren der sich zunehmend faschistisch orientierenden Heimwehrbewegung, aber auch und vor allem Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg zeigten sich vermehrt in Offiziersuniform – in der Uniform der Monarchie. In den 1930er Jahren hatte eine jüngere Generation die positive Interpretierbarkeit des K.-u.-k.-Militärs für die Politik entdeckt. Dass dies vor allem auf Repräsentanten des Regierungslager zutraf – also der Christlichsozialen Partei am Ende der Republik, der Vaterländischen Front im »autoritären Ständestaat« –, war auffallend, aber verstand sich von selbst  : Julius Deutsch und Alexander Eifler, wenn sie schon in Uniformen agierten, trugen nicht die österreichisch-ungarische Offiziersuniform der Vergangenheit, sondern die Uniform des Republikanischen Schutzbundes. Im kulturellen Gehabe der Republik war deutlich, dass die Monarchie nicht wirklich überwunden war. Sie hatte politisch zu existieren aufgehört. Aber die 173

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abwesende Monarchie beeinflusste weiterhin das Denken und das Fühlen des zur Republik gewordenen Österreich und seiner Gesellschaft. Ein besonderes Beispiel für die Phantomschmerzen auf kultureller Ebene lieferte Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Musil hatte mit der Arbeit an diesem Buch 1921 begonnen, und er arbeitete bis zu seinem Tod im Schweizer Exil 1942 daran. Musil, der auch als Schöpfer des Begriffs »Kakanien« gilt, geht von einer in mehrfacher Hinsicht grotesken Situation aus  : Noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnen in Wien die Vorbereitungen für Kaiser Franz Josephs siebzigjähriges Thronjubiläum, das 1918 zu feiern gewesen wäre. Da der deutsche Kaiser Wilhelm II. im selben Jahr sein dreißigjähriges Thronjubiläum begehen würde, laufen die Vorbereitungen für die beiden Jubiläen parallel – eine »Parallelaktion« also, und auch dieser Begriff sollte später in den allgemeinen Sprachschatz eingehen. Musil schildert das gesellschaftliche Milieu des untergehenden, des alten Österreich mit Distanz und Ironie. Das Groteske des Buches ist ja schon dadurch vorgezeichnet, dass die Jubiläen als eine ans Absurde grenzende Fiktion erkennbar waren  : Musil begann an diesem Roman in einem Jahr zu arbeiten, als natürlich alle wussten, dass Franz Joseph vor dem Jubiläumsjahr 1918 gestorben – und Wilhelm in ebendiesem Jahr abgedankt und ins niederländische Exil geflüchtet war. Anders als Hofmannsthal schildert Musil die niedergehende Gesellschaft Wiens aber nicht mit wehmütiger Nostalgie, sondern mit ironischer Distanz. Musils Personen und insbesondere seine Hauptfigur, Ulrich, sind – anders auch als Schnitzlers dramatische Figuren – von einer verträumten Eindimensionalität  ; ohne großen Ehrgeiz, ohne vielschichtige Dämonie, eher über sich und über die Geschehnisse rund um sie herum erstaunt  ; sich eher von den Ereignissen bewegen lassend als andere oder gar die Verhältnisse bewegend. Musils altes Österreich ist – aus einer, aus seiner Perspektive der Zwischenkriegszeit – eigentlich schon tot, bevor es stirbt. Dieser Literatur des Phantomschmerzes fiel zur Republik nichts oder nur wenig ein. Musil und wohl die Literatur der Zwischenkriegszeit insgesamt blieben der Welt der Grafen und der K.-k.-Sektionschefs verhaftet. Auf die Republik ließen sich die Literaten ebenso wenig ein wie die Operetten von Franz Lehár oder Emmerich Kálmán. Für die Kunst und die Literatur der Republik fand diese eigentlich gar nicht statt. Und das ist ja auch verständlich  : Klein und verarmt bot das republikanische Österreich wenig, um sich mit ihm zu identifizieren. Identifizieren konnte man sich mit einem geschönten Bild einer ruhmreich wahrgenommenen und in fingierter Ästhetik untergegangenen Vergangenheit  ; oder mit dem Wolkenkuckucksheim zukünftiger Reiche  ; oder einer perfekten klassenlosen Gesellschaft. Die Republik, die wurde abgelehnt  ; oder ignoriert  ; oder bestenfalls als unvermeidliches Provisorium akzeptiert. 174

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Hugo Hofmannsthal, der sich schon vor 1914 im Unbestechlichen als Repräsentant, ja als Advokat der nach wie vor feudal-aristokratischen Gesellschaftsordnung der Monarchie profiliert hatte, setzte nach 1918 eine wehmütig-nostalgische Selbstbezogenheit in Literatur um. Im Unbestechlichen war es die Spannung zwischen einer aristokratischen Familie und den »Dienstboten«, von denen einer – Anton – nicht nur (wie man damals wohl gesagt hätte) »grundanständig«, sondern auch von besonderer Lebensklugheit war. Die »Familie« sprach gepflegtes, wienerisch gefärbtes Hochdeutsch. Anton hingegen war allein schon durch die »böhmische« Färbung seiner Sprache als Angehöriger einer anderen Schicht, einer anderen Klasse ausgewiesen. Im Schwierigen betritt Hofmannsthal den Boden der Republik. Die Wiener Oberschicht der »Welt von gestern« ist durch den Zusammenbruch der Monarchie und die Republikgründung höchst verunsichert, auch verarmt, versucht aber, das Leben so weiterzuführen, wie sie das immer schon gewohnt war. Zu einem Dinner oder einer Soiree musste man unbedingt in Abendkleidung erscheinen, und es ging um alles Mögliche, etwa die Heiratschancen eines aristokratischen Sohnes  ; nur um Arbeit, um die ging es nicht  ; selbstredend auch nicht um die Niederungen der Politik. Die Arbeit, die überließ man – wenn man dies irgendwie einzurichten verstand – anderen »Ständen«. Und die Politik wurde ganz einfach ignoriert. Hofmannsthal sperrt die Republik nicht aus dem Geschehen des Schwieri­ gen aus. Die Republik tritt auf – in den Personen einiger unangenehm auffälliger »Bürgerlicher«, die nun plötzlich nicht mehr zu wissen scheinen, wo ihr angestammter Platz ist und die jede notwendige Distanz verlernt haben. Diese »Bürgerlichen« sind nicht nach Revolution lechzende Proletarier, auch nicht das brave und treu ergebene Gesinde, sondern Parvenüs, die nun glauben, ihre Zeit sei gekommen – und die des Adels sei abgelaufen. Doch wer ein »richtiger« Aristokrat nach Hofmannsthals Weltbild ist, hat für eine solche Anmaßung nur kalte Verachtung übrig. Wie in Tomaso di Lampedusas Der Leopard ist der Fortschritt (bei Lampedusa die Einigung Italiens  ; bei Hofmannsthal die eben gegründete Republik) eine vor allem ästhetisch höchst bedauerliche, moralisch auch bedenkliche Entwicklung, der gegenüber die geistvollen Beobachter aus den Reihen des »Ancien Régime« resignierend kapitulieren  : freilich auch mit dem heimtückischen Hintergedanken eines echten Konservativen, dass sich alles ändern müsse, damit alles so bleibe, wie es ist. Eine wie auch immer geartete positive kulturelle Anstrengung für die demokratische Republik oder auch nur ein nicht von Vorurteilen geprägtes Interesse an der Republik waren von solchen Protagonisten einer vergangenen Welt nicht zu erwarten. Die zeitgenössische Literatur, die sich der Gegenwart des republikanischen Österreich nicht verschloss, wurde aus nachvollziehbaren Gründen als »links« 175

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eingeordnet. Manès Sperbers Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean ist die literarische Darstellung innerkommunistischer Konflikte, Säuberungen, sektenähnlicher Kämpfe. Die Trilogie führt von einem der aus der Sicht der Kommunistischen Partei großen Konflikte der Periode nach der Oktoberrevolution zum nächsten – darunter auch nach Österreich, in den Bürgerkrieg des Februar 1934. Es ist die politisch sensible Stimme eines weitgehend desillusionierten sozialistischen Revolutionärs, der das Ende der österreichischen Republik und der mit ihr verbundenen sozialistischen Perspektive zeichnet. Aber auch bei Sperber geht es, genau genommen, nicht um die demokratische Republik Österreich – es geht um das Scheitern der marxistisch-leninistischen revolutionären Ambitionen, ein Scheitern, das unter anderem auch ein Österreich-Kapitel umfasst. Musil, Hofmannsthal, Zweig – sie waren von der Republik nicht erfasst, und sie befassten sich nicht mit ihr. In ihrem literarischen Schaffen ist die Republik manchmal (wie im Schwierigen) ein schemenhafter Hintergrund, aber nicht mehr – weder Gegenstand und Ursache von Ärger und Opposition noch von Zustimmung. Da war die Wissenschaft schon anders  : Sie blieb nicht einfach stehen und beklagte nicht das Ende der Welt von gestern. Am Beispiel von Charlotte und Karl Bühler kann dies verdeutlicht werden. Die beiden unterrichteten Psychologie an der Universität Wien und arbeiteten auch mit dem Wiener Stadtschulrat zusammen, der unter der Präsidentschaft von Otto Glöckel zu einem Reformmotor der Bildungspolitik wurde. Charlotte und Karl Bühler waren auch Gegengewicht oder – besser – Ergänzung zu Sigmund Freud, dessen Reputation ja schon vor 1914 international begründet war. Anders als Freud, anders auch als die generell in der Medizin verankerte Psychoanalyse verstanden Charlotte und Karl Bühler Psychologie als empirische Sozialwissenschaft. Die Grundlage ihrer Aussagen waren systematisierte Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Impulse in diese Richtung bezogen sie auch von der US-amerikanischen Forschung. Mit Charlotte und Karl Bühler arbeitete ein junges Team, zu denen Maria Jahoda, Hans Zeisel und Paul Lazarsfeld gehörten. Dieses Team leistete in Form der 1933 durchgeführten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal eine auch international höchst anerkannte Pionierarbeit  : Das Dorf Marienthal, in der Nähe Wiens, war von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit besonders betroffen. Die Forscherinnen und Forscher studierten und verwerteten nicht einfach nur Statistiken, sie gewannen ihre Daten vor allem auch durch das Mit-Leben in der Gemeinde  ; durch »teilnehmende Beobachtung«, die in Richtung einer »Aktionsforschung« wies. Und deshalb wurden auch die inhaltlichen Ergebnisse der Studie – insbesondere die durch Dauerarbeitslosigkeit und Verarmung bewirkten Persönlichkeitsveränderungen – als wissenschaft176

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liche Pionierleistung international gewürdigt (Lautman, Lécuyer 1998, insbes. 23–80  ; Langenbucher 2008). Doch so innovativ diese und andere Forschungen auch waren – die Universitäten insgesamt blieben strukturkonservativ, rückwärtsgewandt. Im studentischen Milieu dominierte eine von deutschnationalen schlagenden Burschenschaften und Corps beherrschte Atmosphäre, die auch den Hintergrund für antijüdische Ausschreitungen bildete (Pauley 1992, 89–101). Herausgefordert wurde diese Hegemonie durch katholisch-konservative Studierende, die sich vor allem in den Verbindungen des Cartellverbandes (CV) fanden. Dieser war auch antisemitisch, dies aber zumeist in weniger aggressiver Form als die schlagenden Verbindungen. Und in der Professorenschaft sah es ähnlich aus  : Schattierungen zwischen katholisch-konservativ und deutschnational-aggressiv bestimmten das politische Klima an den Universitäten (Taschwer 2015). Die Kultur war einerseits gestrig, verhaftet in einer gescheiterten, aber mehr oder weniger als grandios wahrgenommenen Vergangenheit  ; oder aber sie war getrieben von Sehnsüchten, von einer Flucht in die Träume einer perfekten, widerspruchsfreien Zukunft. Die Gegenwart der Republik spielte in diesem Spannungsverhältnis der Antipoden – zwischen dem Gestrigen und einem herbeigesehnten Morgen – kaum eine Rolle. Es ist bezeichnend, dass in den zwei Jahrzehnten der Ersten Republik keine Universitäten neu gegründet und auch keine neuen Universitätsbauten geplant wurden. Die hohen Schulen waren im Gestern verwurzelt – ausgedrückt auch in dem Umstand, dass die meisten der universitären Curricula aus der Zeit vor 1918 in der Republik unverändert blieben. Doch die universitäre Forschung, die war dem Neuen verpflichtet. In der Republik versammelten sich Forscher des Fachbereiches Philosophie zum »Wiener Kreis«. Wie im Umfeld von Charlotte und Karl Bühler sich die Sozialwissenschaften entwickelten, um – auch als Folge der Vertreibung 1938 – von Wien aus weltweit auszustrahlen, so entwickelte sich im »Wiener Kreis« ein Verständnis von Philosophie, das von globaler Wirksamkeit werden sollte  : eine Philosophie jenseits normativer Spekulationen. Moritz Schlick, Kurt Gödel, der freilich sich persönlich isolierende Ludwig Wittgenstein und andere verknappten, auch unter dem Einfluss der Mathematik, Philosophie auf das Essentielle, das Notwendige. Diese Form von Philosophie und Wissenschaftstheorie war eine Herausforderung für den traditionellen Wissenschaftsbetrieb. Der »Wiener Kreis« geriet in das Zentrum von Kontroversen, bei denen Vorurteile nur zu oft eine Rolle spielten und wissenschaftliche Aussagen, die demonstrativ sich von A-priori-Wertungen (und damit von politischer Etikettierung) freizuhalten versuchten, erst recht als politisch galten. Der »Wiener Kreis« provozierte Vorurteile, weil er traditionelle wissenschaftliche Zugänge 177

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hinter sich ließ. Und diese Vorurteile kulminierten 1936 in der Ermordung von Schlick (Taschwer 2015, 161–166). Das Österreich der Republik und ihres ungeratenen Appendix, des Ständestaates, hatte das Gestern verlassen, hatte es verlassen müssen – das Reich der Habsburger. Aber angekommen war Österreich in einem Nirgendwo. Die Republik war ein Nirgendwo, in dem sich niemand wirklich zuhause fühlte. Die Republik war aber nicht das Nirgendwo einer Utopie, in der – jenseits von Zeit und Ort – politisch-gesellschaftliche Phantasien ein freies Betätigungsfeld finden könnten. Die Republik war bestenfalls ein Provisorium auf dem Weg in ein wahres (sozialistisches) Morgen, schlimmstenfalls ein Übel, das möglichst rasch zu überwinden wäre – zugunsten einer »wahren« Demokratie, deren Konturen bewusst im Nebel gehalten wurden  ; oder zugunsten eines autoritär-klerikalen Systems, das sich halb auf Mussolini stützte und halb auf den Papst berief  ; oder zugunsten eines totalitären Reiches, das sich letztendlich als einzige wirkliche Antithese zu allen Gestalten Österreichs herausstellte, die nicht von Dauer sein konnten. Dass diese Antithese nicht tausend, sondern – für Österreich – nur sieben Jahre dauern sollte, das freilich war 1938 nicht vorhersehbar. Die Paradoxie dieser Republik, über die alle hinweg schreiten wollten, war ihr Erfolg, der an ihren Misserfolg anschloss – allerdings nach einer schrecklichen Etappe, nach dem katastrophalen Ende des Reiches, das der Bezugspunkt so vieler Republikflüchtlinge gewesen war.

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8 Innenpolitik als Außenpolitik

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rend Lijphart nützt, neben der Schweiz, vor allem die Demokratie der Niederlande als Beispiel für das Funktionieren einer Demokratie, in der gesellschaftliche Segmente, in sich weitgehend autochthon organisiert, in einer wechselseitig zugestandenen Autonomie durch eine Politische Kultur der Machtteilung ein demokratisches Gemeinwesen aufbauen (Lijphart 1977, 42–44, 71–87). Als Folge historischer Traumata – in den Niederlanden der »Befreiungskrieg« gegen Habsburg und Spanien, ein Krieg, der gleichzeitig ein Religionskrieg war – dominieren zunächst in einer tief gespaltenen Gesellschaft die Kräfte, die als Sieger ein politisches Machtmonopol besitzen  : In den Niederlanden war dies ab dem 17. Jahrhundert der protestantische Teil der Gesellschaft. Da der unterlegene Katholizismus aber nicht durch mehr oder weniger erzwungene Bekehrung oder Vertreibung zum Verschwinden gebracht werden konnte, räumten die protestantischen Eliten im Laufe von etwa zwei Jahrhunderten den niederländischen Katholiken Stück für Stück Autonomie ein –eine Autonomie nicht territorialer, sondern sozialer Art  : Sie konnten ihr eigenes Schulsystem entwickeln, ihre eigenen Medien aufbauen, ihre eigenen Parteien gründen und schließlich auch – durch formelle oder informelle Absprachen – an der politischen Macht des Zentralstaates teilhaben. Ein solches Muster wäre in der Republik Österreich durchaus umsetzbar gewesen, und es hatte sich auch schon über weite Strecken durchgesetzt  : Es gab Zeitungen des einen oder des anderen Lagers, und Kulturveranstaltungen der auch politisch dominierenden »bürgerlichen« Gesellschaftsschichten fanden ihr Gegenstück in Kulturveranstaltungen, die sich proletarisch nannten  ; in den frei gewählten Parlamenten des Bundes und der Länder saßen die Repräsentanten der Lager einander gegenüber, stritten auf grundsätzlich friedliche Weise im Rahmen der gemeinsam vereinbarten Spielregeln des Verfassungs- und Rechtsstaates. Doch zu einer gemeinsamen Teilung der Macht an der Spitze des Staates kam es nicht – jedenfalls nicht nach 1920. Es fehlte das letztlich entscheidende Schlussstück einer Politischen Kultur der Konkordanz  ; das, was in der Schweiz die »Zauberformel« heißt und seit mehr als einem Jahrhundert Reflexion, Relativierung und Überbrückung der für die Schweiz wesentlichen Bruchlinien der Sprachen und Konfessionen und Parteien bedeutet  : eine Konkordanzregierung in Form einer vier Parteien umfassenden Koalition im »Bundesrat«, der kollektiven Spitze der eidgenössischen Exekutive (Lijphart 1977, 31–36). 179

Innenpolitik als Außenpolitik

Die innenpolitischen Frontstellungen im Österreich der Republik verhärteten sich zu zwei Blöcken, die in einer den Formen eines »Kalten Krieges« entsprechenden Feindseligkeit einander misstrauisch beobachteten. Österreichische Politik glich immer mehr dem Konflikt zwischen zwei Akteuren, die – deutlich, ja streng voneinander abgegrenzt – miteinander so verkehrten, wie das in der Internationalen Politik den diplomatischen Beziehungen zwischen zwei nicht befreundeten Mächten entspricht. Die innenpolitischen Kontrahenten – auf der einen Seite die Regierung des »Bürgerblocks«, auf der anderen Seite die Sozialdemokratie – verkehrten miteinander bestenfalls diplomatisch korrekt, und schlimmstenfalls sahen sie immer wieder Anlässe, die militärische Aufrüstung voranzutreiben  : durch die Instrumentalisierung des Bundesheeres für die Innenpolitik und die Festigung des Bündnisses zwischen Christlichsozialen und den Milizverbänden der Rechten, insbesondere der Heimwehren  ; und auf der anderen, der linken Seite durch die militärische Stärkung, durch die Aufrüstung des Republikanischen Schutzbundes. Insbesondere nach den Ereignissen des Juli 1927, als das Gewaltpotential der innenpolitischen Konflikte allen deutlich wurde, entschlossen sich die Parteien nicht zu Abrüstung und vertrauensbildenden Maßnahmen. Sie hielten nicht ein, erschrocken über die Anzeichen eines heraufdämmernden Bürgerkrieges. Sie beschleunigten vielmehr die Vorbereitungen für einen solchen Krieg, den sie zwar nicht anstrebten, den sie mit immer größerer Deutlichkeit auf sich zukommen sahen. Dass die Parteien einander wie verfeindete Blocksysteme in der internationalen Politik gegenüberstanden, war keinesfalls aus den Anfängen der Republik zwingend abzuleiten. Doch in der »Überfunktion« der Parteien – die ja nicht nur Republikgründer waren, die auch politische Loyalitäten konstruierten und sicherten – verlor der Vorrat an Gemeinsamkeiten der Jahre 1918, 1919 und 1920 rasch an Gewicht. Die von den Lagern und den sie vertretenden Parteien geschaffenen und verfestigten Loyalitäten und Bindungen galten nicht primär Österreich, sie galten zuallererst einem politisch-weltanschaulichen Lager. Die Parteien waren mehr als eine unverzichtbare Funktion in einem demokratischen Gemeinwesen. Sie waren selbst – subsidiär – Gemeinwesen, deren Existenz das Vakuum füllte, das Österreich kaum zu füllen in der Lage war. Vor 1918 hatte die Dynastie diese Klammerfunktion über den verschiedenen Nationalitäten und den politisch-weltanschaulichen Lagern wahrzunehmen versucht. Nach dem Wegfall der Dynastie war diese Funktion unbesetzt – die Republik erfüllte diese Aufgabe ganz offensichtlich nicht. Die Parteien und die politisch-weltanschaulichen Lager, deren Produkte die Parteien waren, dienten als Quelle der Loyalität – und nicht der Staat, den es ja erst zu gründen galt  ; nicht Österreich, das 1918 gar nicht so recht wusste, was es sein konnte, sein 180

Innenpolitik als Außenpolitik

sollte, sein wollte  ; und nicht die 1918 gegründete Republik, die das pragmatische Produkt einer Verlegenheit war. Die Republik war eine Gründung von Parteien, die aus der Monarchie kamen. Es waren diese Parteien, die aus dem Diktat der Siegermächte das Beste für Österreich zu machen versuchten. Es waren diese Parteien, die als Verfassungsgeber auftraten. Und das war – natürlich – kein Zufall. Bevor es die Republik gab, hatten die Parteien schon existiert. Und nach dem Wegfall des Monarchie waren diese Parteien – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die Christlichsoziale Partei, die Deutschnationalen – die einzig handlungsfähigen Akteure, die aus dem Gestern kamen und das Morgen bestimmen konnten  ; freilich nur in dem engen Rahmen, der vor allem von außen, von den Interessen der 1918 siegreichen Mächte vorgegeben war. Doch diese Parteien waren mehr als Organisationen, die um Wählerstimmen kämpften, um im Parlament (mit)bestimmen zu können. Diese Parteien waren Weltanschauungsparteien, Quasi-Kirchen, zu denen »man« sich bekannte  ; denen »man« sich anschloss – häufig einfach aus Familientradition  ; und denen »man« sich lebenslang verbunden fühlte. In der Situation des Jahres 1918 und in den Jahren danach hätten die meisten Menschen in Österreich Schwierigkeiten gehabt, das Vaterland zu nennen, mit dem sie sich emotional verbunden fühlten, mit dem sie sich identifizieren konnten. Die Republik, an deren Spitze zumeist bärtige Honoratioren standen, die aber immer nur zu berichten wussten, was alles nicht möglich war – die Zugehörigkeit Nordböhmens und Nordmährens oder auch Südtirols zu Österreich  ; der »Anschluss« an die Weimarer Republik  ; die Fortsetzung der Wirtschaftsdynamik, die trotz immer wiederkehrender Krisen dennoch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmt hatte  ; oder, innerhalb des »linken« Milieus, dass der Sozialismus nicht unmittelbar zu erringen war, weil das »Gleichgewicht der Klassenkräfte«, das Otto Bauer für die Anfangsjahre der Republik diagnostiziert hatte (Hanisch 2011, 195–200), seinem Ende zuging, zum Nachteil der Sozialdemokratie  ; oder, innerhalb des katholisch-konservativen Milieus, dass das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 ebenso wie die im Staatsgrundgesetz von 1867 geregelten Grundrechte einfach nicht erlaubten, die Lehren der katholischen Kirche eins zu eins zu österreichischen Normen zu machen  ; oder, im deutschnationalen Milieu, dass der Völkerbund und der Internationale Gerichtshof im Haag eine Annäherung an Deutschland in Form einer Zollunion verhinderten  : Diese Republik der eingeschränkten Möglichkeiten konnte keine Zukunftsvisionen vermitteln. Diese Republik erschien grau in grau. Und die Farbe Grau galt den politischen »Weltanschauungen«, diesen Ersatzkirchen, die von den Parteien repräsentiert wurden, als höchst unattraktiv. 181

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Diese Republik hatte die Aufgabe der politischen Mobilisierung schon 1918 an die Parteien delegiert. Die Republik, dieses neue Österreich, war wie eine Hülle, deren Inhalte von den Parteien bestimmt wurden. Die Parteien hatten, die von den Siegermächten vorgegebenen Rahmenbedingungen akzeptierend, sich die Republik zu Eigen gemacht – wohl zu Recht, denn eine Alternative zu dieser Form der Parteienstaatlichkeit war jedenfalls 1918 nicht in Sicht. Einer Partei gehörte »man« an, einer Partei wurde »man« zugerechnet, in einer und für eine Partei machte »man« Karriere, weil »man« Teil eines ­L agers war. Das eigene Lager war das eigentliche Vaterland. Diesem war man verbunden, sich von diesem zu trennen war so etwas wie Landesverrat. Nicht Österreich bestimmte politisches Denken und politische Loyalität – sondern der (Austro-)Marxismus oder der Politische Katholizismus oder der Deutschnationalismus. Mobiles Wahlverhalten, Wechselwählen, das gab es kaum – die Resultate der Nationalratswahlen blieben von auffallender Konstanz. Politiker oder Politikerinnen, die ihre Partei »wechselten«, gab es ebenso wenig – jedenfalls nicht bevor die aufsteigende NSDAP mehr und mehr führende Politiker der deutschnationalen Parteien, der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes, zu sich hinüberzog. Das Verhaltensmuster des Winston Churchill, der als Konservativer begonnen hatte, dann als Liberaler Kabinettsmitglied wurde, nur um dann wieder zu den Konservativen zu wechseln, um schließlich als Konservativer, aber als auch und wesentlich von der Labour Party gestützter Premierminister zum Retter seines Landes und Europas zu werden – diese taktisch-strategische Beweglichkeit, verbunden aber mit Grundsatztreue, die gab es in Österreich nicht. Die Innenpolitik der Republik wurde wie Außenpolitik betrieben. Die Grenzen zwischen den Akteuren waren fest gezogen, und die Lager beargwöhnten einander mit einer Einstellung und Erwartung, die Beziehungen zwischen souveränen Staaten entsprochen hätte. Dass die Lager auch aufrüsteten – und zwar gegeneinander, dass sie Privatarmeen unterhielten (den Republikanischen Schutzpunkt, die Heimwehren, am Ende der Republik auch SA und SS) unterstrich nur die Versteinerung der Politik. Nichts schien diese Unbeweglichkeit ablösen zu können, bis sich schließlich alles aufzulösen begann. Nichts schien sich in dieser erstarrten politischen Landschaft zu bewegen, jedenfalls nicht bis 1932. Dann erst begann der Aufstieg einer Partei, die zwar aus einem Lager kam, aber die Lagergrenzen sprengte  : Die NSDAP löste die Großdeutsche Volkspartei und den Landbund als bestimmende Partei des deutschnationalen Lagers ab, und sie wuchs sich auch auf Kosten der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten zu einer Groß- und Volkspartei aus. Bei der Innsbrucker Gemeinderatswahl am 23. April 1933 wurde die NSDAP mit einem Stimmenanteil von mehr als 40 Prozent zur stärksten Partei der 182

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Landeshauptstadt. Wenige Wochen danach – auch im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Terroranschlägen – verbot die Regierung Dollfuß die NSDAP. Diese musste und konnte nun in der Illegalität und mit massiver Hilfe aus dem nationalsozialistischen Deutschland weiterwachsen, eben auch auf Kosten der sozialdemokratischen und der christlichsozialen Gefolgschaft. Das Wachsen der NSDAP zerstörte das traditionelle österreichische Politikgefüge mit seinen Lagermentalitäten und Lagerloyalitäten. Als am 2. September 1939 im britischen Unterhaus der Labour-Abgeordnete Arthur Greenwood sich anschickte, auf die Rede des konservativen Premierministers Neville Chamberlain als Stimme der Opposition zu erwidern, die ein energischeres Auftreten der Regierung gegen das Deutsche Reich forderte – das am Vortag den Aggressionskrieg gegen Polen begonnen hatte –, rief ihm der konservative Abgeordnete Leo Amery zu  : »Speak for England, Arthur  !« (Olson 2008, 209). Dieser Moment, der zu Recht als eine der Sternstunden des britischen Parlamentarismus gilt, wäre im österreichischen Parlament nicht möglich gewesen. Undenkbar, dass ein Abgeordneter einer Regierungspartei einen Oppositionspolitiker ermuntert hätte, dem Regierungschef entschieden entgegenzutreten. Und undenkbar, dass jemand im Nationalrat der Ersten Republik über die Parteigrenzen hinweg aufgefordert worden wäre, gegen den Kanzler »für Österreich« zu sprechen. Weder hätte Karl Renner einen solchen Zuruf von einem christlichsozialen Abgeordneten zu hören bekommen noch Ignaz Seipel oder Johannes Schober von einem sozialdemokratischen Parlamentarier. Im Österreich der Ersten Republik waren die Gräben zwischen den Parteien und den Lagern viel zu tief, als dass jemand eine solche parteiübergreifende politisch-moralische Autorität in Anspruch hätte nehmen können. In Österreich sprach niemand für Österreich, niemand für die Republik. Keine Wortmeldung Otto Bauers wäre von den Christlichsozialen oder den Deutschnationalen als eine Wortmeldung »für Österreich« anerkannt worden – und eine Rede Ignaz Seipels, auch wenn sie beansprucht hätte, »im Namen der Republik« formuliert zu werden, hätte nicht mit der Zustimmung der anderen Lager gehalten werden können. Jeder sprach für sein Lager – und nur für dieses, nicht für Österreich. Das war in der Sphäre der Kultur nicht anders. Die Weimarer Republik hatte bald in der Person Thomas Manns ihren Dichter der Demokratie, der Republik. Thomas Mann hatte sich vor 1918 durch deutliche, zu oft auch banale literarische Wortmeldungen als ein für die Kriegshysterie durchaus anfälliger Nationalist geoutet (Harpprecht 1996). Nun, nach 1918, wurde er zur Stimme einer republikanischen Mitte  ; ein Dichter, der – ohne sich von einer Partei vereinnahmen zu lassen – zum wortgewaltigen Sprachrohr und Verteidiger der Demokratie werden konnte. Seine eigenen Vorbehalte gegenüber 183

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der Demokratie zurückstellend, wurde Thomas Mann zum personifizierten Konsens, auf dem die deutsche Demokratie – vom katholischen Zentrum bis zur Sozialdemokratie – bauen konnte. Dass diese Rolle des deutschen Nobelpreisträgers bei Weitem nicht ausreichen sollte, um Demokratie und Republik zu retten, ändert nichts an Thomas Manns Funktion als Dichter der demokratischen Republik, eine Aufgabe, der er auch im Exil gerecht werden sollte. Der Republik Österreich fehlte ein Äquivalent zu Thomas Mann. Der Republik Österreich fehlte eine Stimme, die – über den Parteiungen stehend und weltweit anerkannt – beanspruchen hätte können, im Namen der Republik zu sprechen. Die bedeutenden Stimmen der aus Österreich kommenden Literatur wurden als parteilich wahrgenommen  : Das katholisch-konservative Milieu konnte Arthur Schnitzler nie den Reigen verzeihen  ; und die Deutschnationalen sahen in Karl Kraus vor allem den Gegner, der er auch – wegen seines Verständnisses für Engelbert Dollfuß – für die Sozialdemokraten werden sollte. Stefan Zweig, der auf der Weltbühne der Literatur allen anderen österreichischen Schriftstellern an Erfolg überlegen war, hielt sich gegenüber Österreich zunehmend zurück  ; er flüchtete in die politische Nostalgie (Die Welt von gestern) und schrieb überaus erfolgreiche historische Romane. Zur demokratischen Republik Österreich fiel ihm nicht viel ein. Anton Wildgans hätte mit seiner fast offiziellen, im Namen Österreichs 1929 geschriebenen Rede die Funktion eines literarischen Sprechers der Republik erfüllen können. Aber Wildgans blieb viel zu unverbindlich  : Er nannte nicht beim Namen, wer die Gegner der Republik, wer die Feinde Österreichs, wer die Widersacher der Demokratie waren. Wildgans war zu unpolitisch, um durch das Aussprechen und nicht das Verschweigen der Bruchlinien eine Brücke über die Lagergrenzen hinweg zu schlagen. Wildgans’ Bereitschaft, nach 1918 für Österreich sprechen, ging einher mit einer offenbar eben deshalb notwendigen Unverbindlichkeit (Wildgans 1947). Franz Werfel hätte vielleicht die Möglichkeit gehabt, der Rolle eines Dichters der Republik, eines »Staatsdichters«, eines österreichischen Thomas Mann nahezukommen. Politisch war er nicht leicht einzuordnen  : 1918 und 1919 war der in Prag geborene Werfel ein Mann der Linken, und zwar phasenweise auch deren revolutionärer Ausprägungen. Doch allmählich näherte sich das literarische Werk Werfels dem Mainstream an – wie er, als Jude geboren, sich auch persönlich dem Katholizismus näherte, freilich ohne jemals zu konvertieren. Werfels Der veruntreute Himmel sprach dem Selbstverständnis des eben untergegangenen Schuschnigg-Regimes aus der Seele – aber eben nur diesem. Und sein Lied der Bernadette, im US-Exil geschrieben, wurde zum Bestseller, auch und vielleicht vor allem dank der Allianz von Katholischer Kirche und Hollywood. Werfel hätte der Aufgabe, eine politisch verbindende Stimme des 184

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republikanischen Österreich zu sein, möglicherweise entsprechen können – weil er nicht einfach einem Lager zuzurechnen und dennoch politisch war. Er schuf ein monumentales politisches Werk, das ein historisches Narrativ untermauerte, ja begründen half  : In seinem Roman Die 40 Tage des Mussa Dag, der eine frei erzählte Dokumentation ist, leistete er einen zentralen Beitrag zur Identität, zur modernen Geschichte des armenischen Volkes. Zu Österreich nach dem Ende der Monarchie fiel ihm nichts ein, was ähnlich prägend hätte sein können. Österreichs Gesellschaft und Kultur waren beherrscht von einander ausschließenden Milieus, die ihre Subkulturen voneinander abgrenzten. Diese Milieus, diese Subgesellschaften, diese politisch-weltanschaulichen Lager, diese Ersatzkirchen – sie rüsteten gegeneinander, als wären sie einander feindlich gegenüberstehende Mächte. Und das waren sie ja auch  : Das Ziel des katholisch-konservativen Lagers und des Politischen Katholizismus, vertreten von der Christlichsozialen Partei, war die Niederringung des sozialistischen Lagers. Und dieses setzte auf den Sieg über die »Klerikalen«. Dass diese Feindseligkeit nicht notwendig mit einer Vorbereitung zum Bürgerkrieg einhergehen hätte müssen, ist angesichts der 1918, 1919 und 1920 demonstrierten Kompromissfähigkeit die eine Tatsache. Diese änderte aber nichts daran, dass sich die Lager schon bald zum Krieg gegeneinander vorbereiteten, gegeneinander rüsteten. Die Sozialdemokratie schuf sich mit dem Republikanischen Schutzbund eine Parteiarmee, und die Christlichsozialen verbündeten sich mit Wehrverbänden wie dem Heimatschutz (Heimwehren) und den Ostmärkischen Sturmscharen, deren Ziele zwar diffus, aber letztlich gegen die demokratische Republik gerichtet waren. Das klein gewordene Österreich wurde zunehmend militarisiert. Die Stoßrichtung der Aufrüstung wies aber nicht nach außen, sie wies nach innen. Die zutiefst fragmentierte Gesellschaft und die Politische Kultur der Republik, die nicht mehr war als das Neben- und Gegeneinander der politischen Subkulturen, wies mit innerer Logik in eine Richtung – auf den vollständigen Wegfall eines tragfähigen politischen Konsenses  ; und das wieder führte zum Bürgerkrieg. Die Merkmale einer Politischen Kultur des Bürgerkriegs war schon vor dessen Ausbruch im Februar 1934 erkennbar  : Die Lager behandelten einander wie feindseliges Ausland. Es mangelte an den Kommunikationskanälen zwischen den Lagern. Es gab keine Gesprächsmöglichkeiten, die das Auseinanderdriften der zum Krieg gerüsteten Lager hätten kontrollieren und damit vielleicht verhindern können. Vorhandene Gemeinsamkeiten – der Interessen wie auch der Überzeugungen – gingen schließlich verloren. Das Ausland im eigentlichen Sinne des Begriffes nützte schließlich diese Entwicklung für spezielle Interessen. Das an einer Expansion in den Donau185

Innenpolitik als Außenpolitik

raum interessierte faschistische Italien stützte die mit den Christlichsozialen verbündeten Wehrverbände und stärkte im katholisch-konservativen Lager die bereits ansatzweise vorhandene Neigung zum Faschismus. 1933 und 1934 drängte die italienische Regierung die Christlichsozialen und die Heimwehren zur Unnachgiebigkeit gegenüber der Sozialdemokratie und heizte so das Bürgerkriegsklima an (Kerekes 1966  ; Maderthaner, Maier 2004). Benito Mussolini wollte ein autoritäres Österreich und ebenso ein autoritäres Ungarn – als von Italien abhängige Satelliten, im Interesse seiner Großmachtpläne. Doch schließlich sollte ein anderer, noch konsequenterer, noch entschlossenerer ausländischer Akteur die Fragmentierung und Militarisierung der österreichischen Politik für seine Interessen nützen  : Das nationalsozialistische Deutschland betrieb die Militarisierung des deutschnationalen Lagers, beendete die Handlungsfähigkeit, ja die Existenz eines nichtnationalsozialistischen Deutschnationalismus in Österreich durch die faktische Vereinnahmung der Großdeutschen Volkspartei und des Landbundes durch die NSDAP und rüstete zum Krieg  : im Inneren Österreichs durch die Aufrüstung von SA und SS und von außen durch den Aufbau der »Österreichischen Legion«, die bereitstand, mit militärischen Mitteln den »Anschluss« zu vollziehen (Schafranek 2011). Aber es war nicht primär das Wirken ausländischer Akteure, das der demokratischen Republik ein Ende bereitete. Es waren die Voraussetzungen im Inneren  ; es war das Fehlen eines die Lager verklammernden Interesses, es war die Schwäche eines verbindenden Demokratiebewusstseins, es war die Abwesenheit einer sowohl republikanischen wie auch österreichischen Idee, die das Zerbrechen der zuletzt nur noch als substanzlose Hülle existierenden Republik herbeiführte. Österreich, die Erste Republik, zerbrach an den inneren Gegensätzen – und am Mangel an innerer Substanz. 1945 und in den Jahren danach existierten die politisch-weltanschaulichen Lager weiter, sie hatten nicht zu bestehen aufgehört. Mit eigentlich erstaunlicher Kontinuität hatten sie die Jahre der autoritären und dann der totalitären Diktatur überdauert. Deshalb kamen die Gründer der Zweiten Republik aus den politischen Eliten der Ersten Republik. Das katholisch-konservative und das sozialistische Lager brachten wie schon nach 1918 abermals die Kräfte hervor, die den Anfang und die weitere Entwicklung der Republik bestimmen sollten. Das deutschnationale Lager freilich war – zunächst – unter den Republikgründern nicht mehr vertreten  : Zu sehr war es durch den Nationalsozialismus diskreditiert. Erst ab 1949 entwickelten sich der Verband der Unabhängigen (VDU) und dann die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) als eine politische Heimstätte des »dritten Lagers« (Berchtold 1967, 488–512). 186

Innenpolitik als Außenpolitik

Dass die Lager auch die ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik bestimmten, bedeutete auch das Weiterleben der Lagermentalität. Die Milieus der politisch bestimmenden Kräfte der Zweiten Republik waren weiterhin, wie in der Ersten Republik, voneinander streng abgegrenzt. Die Wahlergebnisse waren weiterhin von einer auffallenden Stabilität gekennzeichnet. Es gab nur wenige »Wechselwähler«, auf deren Interessen die Parteien sich einzustellen gehabt hätten. Primär war die Politik von SPÖ und ÖVP darauf gerichtet, die Anhänger des eigenen Lagers zu mobilisieren. Das aber führte dazu, dass die österreichische Innenpolitik weiterhin als eine Art Außenpolitik betrieben wurde  : Politischen Entscheidungen gingen Verhandlungen zwischen zwei voneinander deutlich abgegrenzten Lagern voraus. Die ersten Jahrzehnte nach 1945 waren durch »Government by Diplomacy« charakterisiert (Engelmann 2001). Aber es war eine als Quasi-Außenpolitik betriebene Innenpolitik, die nicht auf Abschreckung und daher auch nicht auf innere Aufrüstung baute. Es war eine Politik, die den zumindest nicht aggressiv-feindlichen Beziehungen zweier unterschiedlicher Konfliktpartner entsprach  ; zweier Partner, die eine politische Kultur des Interessenabtausches akzeptiert hatten  ; die eine politische Kultur hinter sich gelassen hatten, die auf den totalen Sieg zur Vermeidung der totalen Niederlage ausgerichtet war. Die Republik hatte zu einer politischen Kultur gefunden, die Stabilität und damit Erfolg ermöglichte. In seiner Studie zur Politischen Kultur der Stadt Hallein beschreibt und analysiert G. Bingham Powell Jr. das Fortleben der Fragmentierung und der Lagermentalität auch nach 1945 (Powell 1970). Die Brüche in der lokalen Politik sind klar erkennbar, sie folgen traditionellen Mustern, und fast immer ist in der Gesellschaft der Kleinstadt allgemein bekannt, welchem Lager eine Person zuzurechnen ist. »Man« wusste, wer »rot« und wer »schwarz« war, auch, wer bis 1945 der NSDAP angehört hatte. Aber die voneinander nach wie vor deutlich, ja streng abgegrenzten Bindungen zu jeweils einer Partei verhinderten in der Zweiten Republik nicht mehr – anders als in der Ersten – die Suche nach inhaltlichen Kompromissen und funktionalen Junktims, die dem Verständnis entsprachen, dass der Erfolg einer Partei in einem Politikfeld den Anspruch der anderen Partei begründet, in einem anderen Politikfeld sich durchzusetzen. Der Erfolg einer Partei bestand nicht mehr primär, nicht mehr ausschließlich im Misserfolg der anderen. Die Republik hat zu einer, zu einer spezifischen, zu ihrer Politischen Kultur gefunden. Aber sie musste zunächst einmal scheitern, bevor sie ein solches Erfolgserlebnis haben konnte.

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9 Ungenützte Potentiale

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ie Republik war von Anfang an ein nicht allzu stabiles Dach über den politischen Subsystemen gewesen, die kaum darin übereinzustimmen vermochten, was die Republik sein sollte, was das demokratische Prinzip bedeutete, wofür Österreich stand. Die Republik war ein eher lockeres Band, das zusammenhielt, was nicht unbedingt zusammengehören wollte. Dieses Band begann sich bald aufzulösen. Der Mangel an Gemeinsamkeiten in Verbindung mit den sich für Österreich bald verschlechternden geopolitischen Faktoren und einer ab 1929 ebenfalls düsteren wirtschaftlichen Entwicklung – alles das wirkte sich gegen die Republik aus. Die Versäulung der Gesellschaft, diese Koexistenz voneinander weitgehend autonom bestehender, miteinander koexistierender, aber kaum kooperierender Teile – diese höchst instabile Föderation nicht territorial, sondern »weltanschaulich« definierter Teile des Ganzen führte zum Ende der Republik. Die Klammer zerbrach. Aber hätte es nicht Möglichkeiten gegeben, das Gemeinsame zu stärken  ; wäre es nicht möglich gewesen, von einer Koexistenz zu einer Kooperation, zu einem Miteinander zu kommen, um das Gegeneinander hintanzuhalten  ? Die Republik war kein Vielvölkerstaat, in dem vor allem auch territorial definierte, bestimmte Gebiete beanspruchende Nationalitäten von Österreich loszukommen versucht hätten. Im Sinne der Begrifflichkeit, wie sie in Österreich bis 1918 gegolten hatte, war die Republik ethnisch homogen  : Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Republik zählte, nach dem Verständnis des alten Österreich, zur deutschen Nationalität. Freilich, in dem in St. Germain definierten Territorium mussten die Österreicherinnen und Österreicher zum Zusammenleben gezwungen werden. Regionale Sezessionsbestrebungen von Ländern wie Vorarlberg (in Richtung Schweiz) und Tirol wie auch Salzburg (in Richtung Deutschland) zeigten, dass viele Regionen ihre Zukunft außerhalb der Republik Österreich besser aufgehoben sahen (Stadler 1966, 88–82  ; Riedmann 1983, 962–966). Doch diese Sezessionsversuche scheiterten – an der Gegnerschaft der Siegermächte oder auch – im Fall Vorarlbergs – am mangelnden Interesse der Schweiz. Es ging ab 1920 nicht um die Loslösung von der Republik  ; es ging um den Bestand der Republik insgesamt. Die Republik war zersplittert, zerklüftet. Die katholischen Jugendverbände sahen ihre primären Gegner in den sozialistischen Verbänden – und umgekehrt. Die Lager hatten ihre Wehrverbände. Der Heimatschutz (die Heim189

Ungenützte Potentiale

wehren), entstanden aus Veteranenverbänden, stand politisch rechts – der Republikanische Schutzbund links. Doch es gab gesellschaftliche Bereiche, die sich in diese auf einen Bürgerkrieg hintreibende Militarisierung der Gesellschaft nicht einzufügen schienen  ; die zu den innenpolitischen Frontstellungen quer lagen  ; und die zumindest das Potential hatten, die Reste des noch vorhandenen Gemeinsamen zu stärken, die sich auflösende Klammer über den Lagern zu bewahren – und damit doch noch zu retten, was zu retten war  : den die demokratische Republik tragenden Grundkonsens und, ab 1933, die vom Nationalsozialismus bedrohte Unabhängigkeit Österreichs. Das Vorhandensein dieser Potentiale zeigt, dass das Ende der Republik, ihr Zerbrechen im Bürgerkrieg, keine unausweichliche Notwendigkeit, kein ehernes Gesetz war. Es hätte auch anders kommen können. Und dass es nicht anders kam, das lag daran, dass die Potentiale eines Miteinanders letztlich nicht genützt wurden.

9.1 Der Kalte Krieg im Inneren Die Republik war von einer politischen Kultur verfeindeter Kartelle geprägt. Die Lager standen einander gegenüber – mit Misstrauen und zunehmend offener Feindseligkeit. Sie rüsteten gegeneinander – buchstäblich, in Form der privaten Milizen, der Wehrverbände, und im übertragenen Sinn durch die ständigen Beschwörungen der katastrophalen Konsequenzen, den jeder Erfolg der jeweils anderen Seite mit sich bringen würde. Nach dem Ende der Großen Koalition, 1920, nahm der innenpolitische Konflikt mehr und mehr den Charakter eines Kalten Krieges an. Dieser Krieg brach so lange nicht aus, wurde so lange nicht zum heißen Krieg, als es ein Gleichgewicht gab  : Die Sozialdemokratie war zwar in Daueropposition, aber durch ihre Hegemonie in Wien und innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft besaß sie genug Drohpotential, um den Rahmen parlamentarischer Demokratie zu sichern  ; um ihre Gegner davon abzuhalten, das sozialistische Lager insgesamt als einen Gestaltungs- und Machtfaktor »auszuschalten«. Und die Regierungsmacht des »Bürgerblocks« wiederum ließ revolutionäre Vorstellungen innerhalb der Sozialdemokratie über eine gewisse Rhetorik nicht hinauskommen. Die Innenpolitik der Republik war beherrscht von Kalkülen, die einem Nullsummenspiel entsprachen  : Die Erfolge der einen Seite (des einen Lagers) wurden als Misserfolge der anderen Seite gesehen. Es ging um den eigenen Sieg, der durch die Niederlage der anderen definiert war. Kompromisse waren in dieser Perspektive nichts als das Aufschieben einer Konfliktlösung, die nur im Sieg des einen und der Niederlage des (der) anderen Lager bestehen konnte. 190

Der Kalte Krieg im Inneren

Dass Erfolge – ökonomisches Wachstum, Stabilisierung der Demokratie, Stärkung des sozialen Friedens – im Interesse aller liegen könnte, das war nicht die dominante Sichtweise in der Republik. Die Innenpolitik ging von einer »Win-Lose-Situation« aus  ; davon, dass eine Partei nur gewinnen oder verlieren könnte. Eine »Win-Win-Perspektive« fehlte – die Vorstellung, dass ein bestimmtes politisches Resultat im Interesse und zur Zufriedenheit aller wäre. Die Konsequenz einer so antagonistischen Sichtweise war, dass der Triumph der eigenen Seite vor allem als der Untergang der anderen interpretiert wurde. Der innenpolitische Friede schien – zunächst – nur deshalb gewährleistet, weil die Stärke der als Gegner wahrgenommenen jeweils anderen Seite den umfassenden eigenen Sieg in einer offenen, gewaltbereiten Auseinandersetzung verhindert hätte. Der innenpolitische Friede der Republik beruhte nicht auf einem Konsens, die vorhandenen Gegensätze ausschließlich friedlich und nur unter Nutzung der Instrumente der demokratischen Republik auszutragen. Der innenpolitische Friede war in den ersten Jahren der Republik gesichert, weil das Risiko innenpolitischer Gewalt zu hoch erschien. Der Friede war ein Friede durch Abschreckung. Das Rational der Innenpolitik von 1920 bis zu Beginn der 1930er Jahre entsprach dem des Konfliktes zwischen den USA und der UdSSR ab 1947. George F. Kennan, der auf amerikanischer Seite ein strategisches und theoretisches Konzept für den Umgang mit dem zum Gegner gewordenen Verbündeten entwickelte hatte – Containment, Abhalten durch Abschreckung (Kennan 1982) –, hilft auch verstehen, was einige Jahre früher in Österreichs Innenpolitik das beherrschende Grundmuster war  : Um den eigentlichen Krieg zu verhindern, um den Kalten Krieg kalt zu halten, musste dem Gegner vermittelt werden, dass es in dessen Interesse liegt, nicht den entscheidenden Schritt in Richtung kriegerische Gewalt zu setzen. Das setzte eine glaubhafte Bereitschaft jedes der Konfliktpartner voraus, im Falle eines Angriffs dem Angreifer mehr Schaden zuzufügen als sich dieser von einem durch eine Aggression gewinnbaren Nutzen erwarten konnte. Und das wiederum führte zu sich ständig steigernden Rüstungsanstrengungen – zur Rüstungsspirale im Ost-West-Konflikt zwischen 1947 und 1985, die den Atomkrieg als Möglichkeit in alle strategischen Überlegungen mit einbezog (Kissinger 1957). Das war das Grundmuster der innenpolitischen Konflikte in Österreich, bis etwa 1931, 1932  : Die einen – im »Bürgerblock« an der Regierung – sahen die Stärke der Sozialdemokratie in der Fähigkeit, durch die Mobilisierung ihrer gewerkschaftlichen Basis und auch durch den Einsatz des Republikanischen Schutzbundes eine grundsätzliche Veränderung des Status quo zu unterbinden. Die anderen, das sozialistische Lager, sah angesichts der Exekutivmacht, über die der »Bürgerblock« verfügte, keine andere Chance als auf den Sieg bei Na191

Ungenützte Potentiale

tionalratswahlen zu setzen  ; Revolution im üblichen Wortsinn – also ein Griff nach der Macht außerhalb der von der Verfassung normierten Entscheidungsprozesse – kam deshalb nicht in Frage. Die Aufrüstung des Republikanischen Schutzbundes sollte verhindern, dass der »Bürgerblock« einem sozialdemokratischen Durchbruch bei freien Wahlen durch einen Staatsstreich zuvorkommen könnte – wie das ja auch der Pfrimer-Putsch 1931 angedeutet hatte. Das änderte sich, als die geopolitischen, die europapolitischen Rahmenbedingungen grundsätzlich andere wurden  : Der Wind, der aus Rom und bald auch aus Berlin kam, wurde immer stärker  ; das Engagement, das aus Paris und London zu erwarten war, wurde hingegen immer schwächer. Die Regierung, insbesondere die Christlichsoziale Partei, konnte von einer abnehmenden Drohkapazität der Sozialdemokratie ausgehen. Die Regierung wurde schließlich von der Linken nicht mehr abgeschreckt. Die Folge war, dass der kalte Krieg einem heißen wich  : Der Bürgerkrieg brach aus. Die Republik und die Demokratie waren am Ende. Das Erstarren der Innenpolitik in einem Kalten Krieg und der Ausbruch des Bürgerkrieges könnten den Eindruck erwecken, als wäre die gesamte Gesellschaft militarisiert gewesen, als hätten sich alle in die aufgestellten Schlachtreihen der Linken und der Rechten eingeordnet. Das freilich war nicht der Fall  : Wesentliche Segmente der Gesellschaft standen politisch abseits – außerhalb der Frontstellungen des Kalten Krieges im Inneren. Sie konnten zwar keine wirksamen Alternativen aufbauen – sie waren aber ein Potential, das die im inneren Kalten Krieg eingefrorenen Fronten hätte aufweichen können. Die Republik vergab die Chance, dieses Potential zu aktivieren. Die Politische Kultur der Republik war in politische Kulturen zerfallen, sie war entlang der Konfliktlinien der Lager erstarrt. Die zu diesen Konfliktlinien quer liegenden Identitäten waren erkennbar und sie wären eine Chance gewesen, im Sinne des Konzeptes der cross-cutting cleavages (Lijphart 1977, 10–12) Brücken zu bauen, Gemeinsamkeiten jenseits der Lagergrenzen herzustellen  : Die Österreicherinnen und Österreicher waren ja nicht nur auf ihre politisch-weltanschauliche Identität zu reduzieren, ausgedrückt in den Lagerbindungen. Die Identität wurde ja auch – grundsätzlich – von Faktoren wie Generation und Geschlecht, Bildung und Region bestimmt. Es war nicht alles, was an Interessen und Werten in der Gesellschaft vorhanden war, auf »katholisch-konservativ« oder »sozialistisch« oder »deutschnational« zu vereinfachen. Die gesellschaftlichen Verankerungen der Österreicherinnen und Österreicher waren aber so verfestigt, so sehr mit den politischen Parteien verbunden – Parteien, die eben auch weltanschaulichen, quasi-religiösen Charakter hatten –, dass die Möglichkeiten des Brückenschlages über die Lagergrenzen hinweg nicht genutzt wurden. Die an sich vorhandenen Potentiale zur Relativierung 192

Der Kalte Krieg im Inneren

einer im Freund-Feind-Denken erstarrten Politischen Kultur wurden nicht wirksam. Diese ungenützten Potentiale waren die Frauen – sie wären in der Lage gewesen, der von vor allem Männern betriebenen innenpolitischen Hochrüstungspolitik entgegenzutreten. Zum ungenützten Potential zählte auch der kulturelle Liberalismus – er bestimmte das Erscheinungsbild des republikanischen, wie er auch das des alten Österreich bestimmt hatte  ; aber politisch war dieser Liberalismus, weil politisch heimatlos, letztlich kein Faktor. Und zu diesem Potential zählten die Kräfte des Katholizismus, die ihre politische Identität nicht ausschließlich aus einer gemeinsamen Frontstellung eines, nämlich ihres Lagers gegen die politische Linke ableiteten, die vielmehr – trotz ihrer Zugehörigkeit zum Aktivsegment der Katholischen Kirche – mit Positionen der Linken sympathisierten  : die Linkskatholiken. Auch das österreichische Judentum hätte als verbindende Kraft wirken können – wenn der virulente Antisemitismus in Gesellschaft und Politik dies nicht unterbunden hätte. Und schließlich Wissenschaft und Forschung  : An Österreichs Universitäten wurde etwas geleistet, das allen zugute kam – oder zumindest zum Nutzen aller gewesen wäre. Die Wissenschaft der Republik war etwas, worauf alle Lager hätten stolz sein können – denn hier wirkten ja die oft bahnbrechenden Erfolge der Zeit vor 1914 weiter. Österreichs Wissenschaft hatte in vielen Bereichen das, was man »Weltgeltung« nennen kann, und wäre so geeignet gewesen, zu verbinden – wenn der Wissenschaftsbetrieb sich nicht selbst im Wege gestanden wäre, durch die Weigerung, seine Entwicklungsmöglichkeiten im Interesse der Republik zu nutzen. Alle diese Potentiale wurden nicht genutzt. Die Verhärtung der innenpolitischen Fronten erlaubte keine Zwischen-, keine Grautöne. Frauen, die sich politisch artikulierten, waren praktisch immer veranlasst, ja geradezu gezwungen, sich einem Lager zuzuordnen. Der politische, kulturelle, ökonomische Liberalismus existierte – aber er war nicht in der Lage, sich wirksam gegen den bestehenden faktischen Zwang zur politischen Einordnung quer zu legen, entweder katholisch-konservativ oder sozialistisch oder deutschnational zu sein. Der Linkskatholizismus blieb letztlich politisch erfolglos, weil er für die einen zum Verräter geworden wäre, hätte er seine Zuordnung in das eigene Lager ernsthaft in Frage gestellt  ; und für die anderen, für die politische Linke, blieb er immer ein vielleicht gut gemeinter, aber leicht durchschaubarer Versuch, den Kampfeswillen der Linken durch das Vorgaukeln einer nicht vorhandenen Kompromissbereitschaft der Rechten zu schwächen. Die Wissenschaft wiederum zerfiel in einander bekämpfende Gruppierungen, eine Fragmentierung, die der Wissenschaft insgesamt abträglich war und sie als Faktor gesellschaftlicher, politischer Gemeinsamkeit ausschloss. Und das Judentum  ? Von der po193

Ungenützte Potentiale

litischen Rechten gettoisiert, immer nur auf das Jüdische reduziert, von der politischen Linken als eigenständiger Faktor ignoriert, als spezifisch »jüdisch« nicht wahrgenommen, war auch den Jüdinnen und Juden eine Brückenfunktion nicht möglich. Brücken wurden angedacht, aber letztlich nicht gebaut  ; Potentiale waren vorhanden, blieben aber ungenutzt. Letztlich konnte der sich bereits deutlich abzeichnende Untergang der demokratischen Republik nicht verhindert werden und auch nicht die weitere Konsequenz, der Untergang eines selbständigen Österreich.

9.2 Frauen Für die Wahlen in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates 1907 und 1911 hatte das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht gegolten. Für die Wahl in die Verfassungsgebende Nationalversammlung wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Frauen und Männer eingeführt. Die 1920 beschlossene Verfassung der Republik signalisierte ebenso – in Übereinstimmung mit der Auffassung, die sich in Europa und Amerika durchzusetzen begonnen hatte –, dass die politische Gleichberechtigung von Frauen und Männern, ausgedrückt im aktiven und im passiven Wahlrecht für beide, sich nicht mehr aufhalten ließ. Die Folgen dieser politischen Gleichstellung der Frauen waren – zunächst – gering. Die Wortmeldungen von Frauen in der Politik blieben lange Zeit ein Randphänomen. Die weibliche Hälfte der Gesellschaft blieb extrem unterrepräsentiert  : In der Ersten Republik schwankte der Frauenanteil im Nationalrat um den Wert von 5 Prozent. Erst in der Zweiten Republik – aber auch erst in den 1980er Jahren – begann er über 10 Prozent zu steigen. Diese Kluft zwischen rechtlicher Gleichstellung und faktischer Unterrepräsentierung war weder eine spezifisch österreichische Erscheinung, noch änderte sich dieser Widerspruch sofort am Beginn der Zweiten Republik. Die Kluft war also, für sich genommen, kein besonderes Merkmal der Ersten Republik. Aber sie war Ausdruck einer Bewusstseinslage, innerhalb der FrauSein und weibliche Solidarität zwischen Frauen immer Nachrang, Loyalität zu einem der politisch-weltanschaulichen Lager immer Vorrang hatten. Eine Frauenbewegung, die sich nötigenfalls auch im Widerspruch zu den Grenzen zwischen den politisch-weltanschaulichen Lagern politisch artikuliert hätte, ließ sich in der (Ersten) Republik nicht beobachten. Eine Gemeinsamkeit der Frauen, die sich der zum Bürgerkrieg führenden Fragmentierung entgegenstellen hätte können, entwickelte sich jedenfalls nicht. 194

Frauen

Die Präsenz der Frauen im Nationalrat entsprach in keiner Weise der Norm politischer Gleichheit der Geschlechter. In der Bundesregierung war keine Frau vertreten. Erst in der Zweiten Republik sollte erstmals eine Frau Ministerin der Republik werden  : Grete Rehor, Bundesministerin für Soziales von 1966 bis 1970. Rehor war in der Christlichen Arbeiterbewegung der Ersten Republik verwurzelt (Klaus 1971, 29). Und erst nach Rehors Tätigkeit als Ministerin wurde es politisch de facto unmöglich, eine Bundesregierung zu bilden, die nur aus Männern bestanden hätte. Tabelle 2  : Entwicklung des Frauenanteils im Nationalrat (Quelle  : www.parlament.gv.at, letzter Zugriff 10.10.2016) Jahr

Zahl der Frauen im Nationalrat*

Anteil

1919** 1920 1923 1927 1930 1945 1949 1953 1956 1959 1962 1966 1970 1971 1975 1979 1983 1986 1990 1994 1996 1999 2002 2006 2008 2013

8 9 8 6 11 9 9 10 9 10 10 10 8 11 14 18 17 21 36 40 47 49 62 57 50 61

5,03 5,14 4,85 3,64 6,67 5,45 5,45 6,06 5,45 6,06 6,06 6,06 4,85 6,01 7,85 9,84 9,29 11,48 19,87 21,86 25,68 26,78 33,88 31,15 27,32 33,33

* Die Gesamtzahl der Abgeordneten im Nationalrat betrug 1920 bis 1970 165, ab 1971 183. ** Wahl in die Konstituierende Nationalversammlung

195

Ungenützte Potentiale

1976 wurde der Friedensnobelpreis an Betty Williams und Mairead Corrigan-­ Maguire verliehen. Die beiden hatten in Nordirland die Bewegung »Community for Peace People« gegründet – als Beitrag zur Überbrückung eines oft die Formen eines Guerillakrieges annehmenden Konfliktes zwischen dem republikanisch-katholischen und dem britisch-protestantischen Teil der nordirischen Gesellschaft. Durch ihr Engagement wurde die Identität »Frau« politisch gegen die Identitäten »Konfession« und »Ethnizität« mobilisiert. Die mörderische Gewalt, die Nordirland Jahrzehnte belastete, wurde zwar durch den Einsatz der beiden Frauen nicht unmittelbar beendet, aber der Weg zu einer Befriedung befördert  : Das »Good Friday Agreement« verschob 1998 den ethnisch-religiösen Konflikt von der Ebene der Gewalt auf die Ebene des demokratischen Wettbewerbes (English 2007, 356–427). Die Lage im »Zwischenösterreich« der Ersten Republik war der Lage in Nordirland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilweise ähnlich  : eine tief gespaltene Gesellschaft, deren einander feindselig gegenüberstehende Teile zur Gewalt bereit waren und diese auch einsetzten. Das Gegeneinander des sozialistischen Lagers und des katholisch-konservativen Lagers – Letzteres über weite Strecken im »Bürgerblock« verbündet mit dem deutschnationalen Lager – hatte eine weltanschauliche Dimension, die der nordirischen glich  : Demokratie, bloß als Mehrheitsherrschaft definiert, entwickelte sich zu einer immer deutlicheren Segregation der Subgesellschaften. Williams und Corrigan-Maguire setzten darauf, dass Frau-Sein eine Gemeinsamkeit begründet, die quer zu den zum Bürgerkrieg drängenden Lagern stand, eine Gemeinsamkeit, die den alles beherrschenden konfessionell-ethnischen Gegensatz relativieren und Kompromisslösungen ermöglichen kann. Die fundamentalistische Wahrnehmung des Konfliktes zwischen irisch-katholisch-republikanischem Nationalismus und pro-britischem Protestantismus als eines fundamentalistischen »Alles oder Nichts« wurde durch das gemeinsame Auftreten beider relativiert. Es entstand eine protestantische und katholische Frauen gleichermaßen vertretende Bewegung, durch die eine vor allem von Männern repräsentierte Bürgerkriegsatmosphäre allmählich durch die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen ersetzt wurde. So wurde die Möglichkeit geschaffen, eine Mitte erst einmal zu erkennen und sich darauf hinzubewegen. Die politisch engagierten Frauen der Ersten Republik versuchten jedenfalls keinen analogen Brückenschlag. Die Frauen des einen Lagers versuchten nicht, eine gemeinsame Plattform mit den Frauen des anderen Lagers zu entwickeln. Das war sicherlich auch dadurch begründet, dass – wie dies an der geringen Präsenz der Frauen in politischen Spitzenpositionen erkennbar war – politisches Engagement, der Einführung des Frauenwahlrechtes zum Trotz, nach wie vor als eine primär männliche Domäne betrachtet wurde. 196

Frauen

Die am Beginn des 20. Jahrhunderts bekannteste politische Aktivistin Öster­ reichs war Berta von Suttner. Sie war von der Gesellschaft der Monarchie geprägt. Sie hatte eine – freilich letztlich nicht erfolgreiche – Friedensdynamik in Bewegung gesetzt, weshalb sie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war (Cohen 2005). Ihre Tradition fand in der Republik keine Fortsetzung. Was Berta von Suttner dem drohenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der sich abzeichnenden militärischen Konfrontation der europäischen Mächte entgegenzusetzen versucht hatte, fand keine Fortsetzung in der Republik. Zwar gab es eine letztlich höchst vage und unverbindliche Rhetorik gegen »den Krieg« – in Wien etwa wurde eine Brücke »Friedensbrücke« genannt. Aber diese Rhetorik beschäftigte sich mit dem Krieg zwischen den Staaten – nicht mit dem drohenden Krieg im Staat. Die von Berta von Suttner begründete Tradition fand nicht nur keine Fortsetzung – sie wurde vor allem auch nicht von Frauen aufgegriffen, die der innenpolitischen Militarisierung, die den Entwicklungen in Richtung Bürgerkrieg hätten entgegentreten wollen. Die politisch engagierten Frauen der Republik setzten sich für Frauenrechte ein. Aber für sie war dies immer eine Aktivität im Rahmen ihrer Partei, ihres Lagers. Die sozialistischen Frauen – die unter den Frauen am stärksten politisch in Erscheinung traten – waren zuallererst Sozialistinnen. Ihr Einsatz für Frauenrechte war von der Auffassung bestimmt, dass der entscheidende politische Konflikt der Klassenkampf, nicht der Geschlechterkampf sei und dass erst eine sozialistische Gesellschaft das Ende der rechtlichen und vor allem auch der in der sozialen Realität vorhandenen Diskriminierung der Frauen bringen könnte. Im katholisch-konservativen Lager war die Situation noch komplexer, weil in der Tradition des Katholizismus das Festhalten an einer prinzipiellen gesellschaftlichen Rollendifferenz zwischen Frauen und Männern vorgegeben schien. Dass im autoritären Ständestaat einige historische Errungenschaften der Frauen – mit Bezug auf den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt – zurückgedrängt wurden, zeigt die Enge des Spielraumes einer politischen Frauenbewegung innerhalb des Politischen Katholizismus. Mit Berufung auf eine traditionelle Trennung der gesellschaftlichen Geschlechterrollen wurden ab 1933 Frauen aus dem Arbeitsmarkt gedrängt und auch Bemühungen der dem »Ständestaat« verbundenen Frauen – wie etwa von Alma Motzko-Seitz – zur arbeitsrechtlichen Absicherung von Frauen setzten sich nicht durch  : Ausdruck einer Politik einer »Remaskulinisierung«, gestützt auf eine »Rekatholisierung« (Bei 2012, Hauch 2013). Innerhalb der sozialistischen Frauenbewegung kam Käthe Leichter eine besondere Bedeutung zu, weil sie ihr politisches Engagement mit wissenschaftlicher Tätigkeit verband und so der »Frauenfrage« (die natürlich immer auch eine 197

Ungenützte Potentiale

»Männerfrage« war) ein spezifisch intellektuelles Profil gab. Aus dem jüdischen Großbürgertum stammend, studierte sie an den Universitäten Wien und Heidelberg Staatswissenschaften und Nationalökonomie und promovierte noch vor Kriegsende 1918 zur Doktorin der Philosophie. In Wien war sie am Beginn der Republik in der Rätebewegung aktiv und 1919 Mitarbeiterin der von Otto Bauer geleiteten Staatskommission für Sozialisierung, deren politische Bedeutung mit dem Ende der Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie auch zu Ende ging. Ab 1925 war sie mit dem Aufbau eines Frauenreferates in der Arbeiterkammer Wien beschäftigt, unter ihrer Verantwortung entwickelte dieses Referat ein wissenschaftliches Profil. Sie redigierte das Handbuch der Frauenarbeit in Österreich und sorgte damit für eine Grundlage der »Frauenpolitik«, wie sie von der Sozialdemokratie verstanden wurde (Steiner 1972, 92–102). Die politischen Grenzen ihrer Tätigkeit lassen sich aus einem von Leichter 1929 verfassten Schreiben ersehen  : In diesem bezeichnet sie das Handbuch als »eine Gegenarbeit gegen ein Sammelwerk […], das die bürgerliche Frauenbewegung […] herausgibt und größtenteils von reaktionären Frauen« geschrieben wird (Weinzierl 1975, 172). Der tiefe politische Bruch zwischen »bürgerlich« und »proletarisch« ließ auch Käthe Leichter nicht daran zweifeln, dass es eine gemeinsame Frauenbewegung nicht geben könnte. Leichters weiteres Schicksal – die Haft im KZ Ravensbrück und ihre Ermordung 1942 – waren, neben ihrer wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit, der Grund, dass sie nach 1945 zu den besonders prägenden Pionierinnen einer Frauenbewegung gezählt wurde, einer Bewegung, die nicht a priori in »bürgerlich« und »proletarisch« zerfällt (Leichter 1995). Auf der anderen Seite der für die Republik so entscheidenden Bruchlinie stand Hildegard Burjan – Gründerin der Caritas Socialis, einer als Frauenorden organisierten katholischen Sozialbewegung. Burjans familiärer Hintergrund war – wie der Leichters – bürgerlich-jüdisch. Burjan studierte an den Universitäten Zürich und Berlin, 1907 promovierte sie in Zürich zur Doktorin der Philosophie. Sie konvertierte zum Katholizismus und übersiedelte mit ihrem Mann von Berlin nach Wien. Als Folge ihres sozialen Engagements – auch im Zusammenhang mit den im Weltkrieg besonders krassen Missständen – war sie im Wiener katholischen Milieu vernetzt. 1919 wurde sie auf der Liste der Christlichsozialen Partei in die Konstituierende Nationalversammlung gewählt, kandidierte aber 1920 nicht mehr für die Wahl des Nationalrates. Ihr Betätigungsfeld war die Sozialarbeit – dazu zählte auch die Etablierung der »Bahnhofsmission«. 1933 starb Hildegard Burjan, nach einer komplizierten Operation (Weinzierl 1975, 158–168). Auch Burjans politisches Engagement führte nicht zu einer gemeinsamen Plattform, zu einer gemeinsamen organisatorischen Basis, die sozialistische 198

Frauen

Abb. 6  : Käthe Leichter (mit ihren beiden Söhnen), ca. 1930  : Sie konnten zusammen nicht kommen …

Abb. 7  : Hildegard Burjan, 1928  : … der Graben war viel zu tief.

und katholische Frauen verbunden hätte. Burjan und Leichter agierten nebeneinander – aber ganz offenkundig nicht miteinander. Die Kommunikationskanäle, die beiden Frauen offenstanden und von ihnen genutzt wurden, waren innerhalb der Lager, der Parteien bzw. (in Burjans Fall) der Katholischen Kirche – und nicht die engen Grenzen der vorhandenen Bindungen überschreitend. Isa Strassers bewegtes politisches Leben weist auf die herrschenden Rahmen­ bedingungen, die politisch aktive Frauen vorfanden  : Eingebunden in eine der durchwegs von Männern dominierten Parteien war es den Frauen mehr oder weniger unmöglich, eine übergreifende Frauenpolitik zu entwickeln, die Parteiund Lagergrenzen überschritten hätte. Strasser war Aktivistin in der Kommunistischen Partei Österreichs, verbrachte in den 1920er Jahren einige Jahre in der Sowjetunion und rieb sich nach ihrer Rückkehr in den Fraktionskämpfen innerhalb der kleinen KPÖ auf. Als »Trotzkistin« wurde sie 1929 aus der Partei ausgeschlossen – eine Etikettierung, die ihr in der UdSSR vermutlich das Leben gekostet hätte. In den Jahren der Diktatur und der Besetzung Österreichs näherte sie sich dem sozialdemokratischen Untergrund an. Ihr Sohn Peter 199

Ungenützte Potentiale

wurde in der Zweiten Republik für die SPÖ Abgeordneter zum Nationalrat (Hauch 2015). In Gabriella Hauchs Aufstellung der Frauenbewegungen der Ersten Republik – der Plural »Frauenbewegungen« signalisiert bereits den Befund – scheinen in Form von Unterkapitel »Sozialdemokratinnen«, »Katholische bzw. christlichsoziale Frauen«, »Deutschnationale bzw. großdeutsche Frauen« und »Kommunistinnen« auf, ergänzt durch eine Passage über »Parteiunabhängig« und »Lesbische Zirkel« (Hauch 1995). »Parteiunabhängig« war die Etikettierung, die Frauen bezeichnete, die zum Überschreiten der Lagergrenzen fähig und bereit gewesen waren. Der »Bund österreichischer Frauenvereine«, eine solche parteiunabhängige Gruppierung, wurde 1935 »ohne Widerstand in das Frauenreferat der Vaterländischen Front« eingegliedert (Hauch 1995, 289). Durch diese Vereinnahmung durch den autoritären Staat wurde klargestellt, dass eine Frauenbewegung, die zwischen den Bürgerkriegsgegnern des Februar 1934 hätte eine Verbindung herstellen können, nicht existierte  ; wie schon davor eine parteiunabhängige Frauenbewegung, die in die Sozialdemokratie und in die Parteien des »Bürgerblocks« gleichermaßen hätte hineinwirken können, sich nicht entwickeln konnte. Im »Kulturleben« der Republik spielten Frauen zumeist eine im Sinne des herrschenden Zeitgeistes spezifisch weibliche Rolle. Sie wurden als Gefährtinnen »großer Männer« wahrgenommen, als »Salondamen«, die gelegentlich als »Muse« einer männlichen Kulturproduktion wirken durften – aber nicht als eigenständig schöpferisch. Alma Mahler-Werfel war der Prototyp einer solchen Frau – als Witwe Gustav Mahlers, als frühere Frau von Walter Gropius und Geliebte Oskar Kokoschkas, schließlich als Ehefrau Franz Werfels entsprach sie exakt diesem Rollenbild einer über Männer definierten Frau (Hilmes 2010). Nicht als »Muse« profilierte sich Paula Preradovic, die Frau Ernst ­Moldens, des Herausgebers der »Neuen Freien Presse«. Preradovic war Lyrikern und Prosa-­ Schriftstellerin in eigenem Namen. Sie kam aus der dalmatinischkroatisch-­österreichisch-ungarischen Oberschicht und lebte ab 1920 dauerhaft in Wien. Sie hielt sich von »der Politik« und auch von feministischen Aktivitäten weitgehend fern. Umso aufschlussreicher ist die Prominenz, die sie in der Zweiten Republik erlangen sollte  : Sie wurde die Autorin des Textes der österreichischen Bundeshymne, die 1947 die mehrfach belastete HaydnHymne ersetzen sollte. Zu Mozarts Musik wurde Preradovic’ Text zur offiziellen Visi­tenkarte der Republik. Und Jahrzehnte später setzten Frauen, die aus verschiedenen Parteien kamen, eine Änderung des von einer Frau geschriebenen Textes durch  : An die Stelle der Passage »Heimat, bist du großer Söhne« trat nun die Formulierung »Heimat großer Töchter, Söhne«. Das war eine 200

Frauen

Demonstration einer die Lagergrenzen überschreitenden Frauenmacht, die in der Ersten Republik nicht vorstellbar gewesen wäre. Alma Mahler-Werfel war mit der politischen Elite ihrer Epoche eng verbunden. Ein Beispiel dafür waren ihre (und auch Franz Werfels) engen Kontakte mit Kurt Schuschnigg. Alma und Franz Werfel trafen nicht nur in Wien bei gesellschaftlichen Anlässen oft mit Schuschnigg zusammen. Im Sommer 1935 trafen sie bei einem Italien-Urlaub Schuschnigg privat, und mit dem Kanzler (und Diktator) machten sie Ausflüge – in der Limousine, die Benito Mussolini seinem österreichischen Bündnispartner zur Verfügung gestellt hatte. Nach Quellen, die von Elias Canetti überliefert wurden, hatte Schuschnigg auch mit Almas Tochter Anni eine platonische Affäre (Hilmes 2010, 277 f.). Almas Ehe mit Franz Werfel konnte als Querverbindung zwischen politisch-weltanschaulichen Lagern interpretiert werden. Alma Mahlers demonstrative Bindung an die Katholische Kirche und Franz Werfels frühere Sympathien für einen revolutionären Sozialismus machte das Paar zu einer politischen Ausnahmeerscheinung, die allerdings durch Werfels Hinwendung zur Kirche – ausgedrückt in seinen Spätwerken Der veruntreute Himmel und Das Lied der Bernadette – auch als Zeichen einer Vereinnahmung Werfels durch das katholisch-konservative Lager gedeutet werden konnte. Franz Werfel äußerte sich noch vor der Flucht ins US-amerikanische Exil auch öffentlich voll des Lobes über Kurt Schuschnigg  : So, als er dem Diktator 1935 bescheinigte, dieser besitze die »österreichische Menschlichkeit, die keiner der erbitterten Zeitphrasen erliegt, sie muss zum Heile Europas bewahrt und durchgesetzt werden« – eine geradezu hymnische Huldigung aus der Feder eines vormals linken Revolutionärs, ein Lob, das vom sozialdemokratischen Exil bitter kommentiert wurde (Hilmes 2010, 278). Alma Mahler-Werfel war jedenfalls in ihrem Sozialverhalten »rechts« zuhause  : Mit Kurt Schuschnigg ebenso befreundet wie mit Benito Mussolini vertraut. Letzterer half mit, dass die »arische« Alma und der »jüdische« Franz Werfel 1938 dem NS-Terror entkommen und nach einer mühsamen Flucht über die Pyrenäen schließlich das amerikanische Exil erreichen konnten. Obwohl zwei ihrer Ehemänner »Juden« im Sinne der herrschenden Begrifflichkeit waren, hatte Alma nie gänzlich von den in ihrem Milieu vorhandenen antijüdischen Stereotypisierungen gelassen – etwa in ihrem Verhalten gegenüber Bruno Walter (Hilmes 2010, 284 f.). Dass Kurt Schuschnigg sich demonstrativ der freundschaftlichen Kontakte mit Alma und Franz Werfel bediente, um das autoritäre Österreich als weltoffen und in diesem Sinn prinzipiell anders als das totalitäre Deutschland zu zeigen, erlaubte Alma ihre Rolle als »Grande Dame« des Kulturbetriebes zu spielen. Freilich  : Zum politischen Brückenschlag hat sie diese ihre Position nie zu nützen versucht. 201

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Jahrzehnte später, nach ihrem Tod, sollte Alma zu einer Art Ikone des Feminismus werden. Ihre Versuche als Komponistin in jungen Jahren, Versuche, die weder Gustav Mahler noch andere besonders ernst genommen hatten, wurden als Beleg für die Unterdrückung weiblicher Schaffenskraft in einer von männlicher Hegemonie bestimmten Kulturwelt gesehen. So erhielt sie doch noch eine politische Zuschreibung – ex post (Hilmes 2010, 411–419). Für das Brachliegen des feministischen Potentials ist signifikant, dass bis heute Marianne Hainisch immer nur als Begründerin nicht der oder einer Frauenbewegung, sondern der »bürgerlichen« Frauenbewegung bezeichnet wird. Hainisch, die Mutter des ersten Bundespräsidenten der Republik, hatte sich schon im 19. Jahrhundert für einen verbesserten Zugang von Mädchen zur höheren Bildung eingesetzt und später den »Muttertag« propagiert. 1929 gründete sie im Alter von 90 Jahren die »Österreichische Frauenpartei«, die bei den Nationalratswahlen 1930 auch kandidierte, ohne ein Mandat zu erreichen (Weinzierl 1975, 145–149). Eine Frauenbewegung, die Marianne Hainisch, Käthe Leichter und Hildegard Burjan politisch vereint gesehen hätte – vereint in der Verteidigung der demokratischen Republik, aber auch in Richtung der Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen, die gab es nicht. Die Verklammerung der auseinanderdriftenden politisch-weltanschaulichen Lager durch eine Gemeinsamkeiten hervorkehrende Frauenbewegung – eben die Gemeinsamkeiten eines gegen männliche Hegemonie schlechthin ankämpfenden Feminismus, die existierte in Österreich nicht. Die Loyalitäten den Lagern gegenüber waren stärker, viel stärker als die Loyalität der Frauen untereinander.

9.3 Liberale Ein österreichischer Liberalismus als politische Kraft existierte in der Republik nicht. Er war in den Nationalitätenkonflikten des alten Österreich untergegangen, erstickt in den hasserfüllten Kämpfen zwischen deutschen und tschechischen, zwischen polnischen und ukrainischen, zwischen deutschen und italienischen und slowenischen Nationalisten. Ein österreichischer Liberalismus wäre eine mögliche Grundlage für die Weiterentwicklung des Kaiserreiches zu einem Bundesstaat, einer Föderation gewesen. Aber tschechische Liberale waren schließlich zuallererst Tschechen – und deutsche Liberale waren vor allem Deutsche. Niemand wurde, schlussendlich, als Teil eines österreichischen Liberalismus wahrgenommen. Und daran sollte sich in der Republik nichts ändern. Der Liberalismus im österreichischen Judentum aber konnte sich, über seine kulturelle Wirksamkeit hinaus, politisch 202

Liberale

nicht entfalten – daran wurde er vom alles überdeckenden Antisemitismus gehindert. Die Liberalen in Österreich gab es jedoch sehr wohl. Sie waren artikulationsfähig. Sie spielten im Wirtschaftsleben eine Rolle. Vor allem aber kam ihnen im Kulturleben eine zentrale Bedeutung zu. Nur politisch, politisch waren sie ohne Gewicht. Das hatte wohl wesentlich damit zu tun, dass diese Heimatlosigkeit der Liberalen mit der politischen Heimatlosigkeit des Judentums kausal verknüpft war. Die Stimmen eines kulturellen Liberalismus waren zu einem weit überproportionalen Teil Stimmen, die in einer vom Antisemitismus geprägten Umwelt als »jüdisch« galten – jüdisch auf Grund ihrer Herkunft, nicht jüdisch auf Grund ihrer Konfession. Jüdinnen und Juden und die von ihnen mitgeprägte Kultur aber waren im katholisch-konservativen und mehr noch im deutschnationalen Lager nicht willkommen, und Jüdinnen und Juden mussten sich in dem von antijüdischen Vorurteilen geprägten Umfeld eines dieser Lager fremd fühlen. Die Sozialdemokratie wiederum, die prinzipiell dem Antisemitismus immer eine Absage erteilt hatte, glaubte, auf bestehende Vorurteile Rücksicht nehmen zu müssen. Wohl deshalb folgte auf Viktor Adler, der als Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unbestritten war, nicht der den innerparteilichen Diskurs weitgehend bestimmende Otto Bauer im Parteivorsitz nach – denn dieser galt als »Jude«, sondern der Nicht-Jude Karl Seitz (Pauley 1992, 133–149). Der Begriff »liberal« hatte in der Republik eine aus der Vorgeschichte belastete Konnotation. Liberal, das war – vor allem aus der Sicht Wiens – die Epoche vor Karl Lueger, der zentralen Figur der Christlichsozialen um 1900  ; liberal, das war die Zeit eines rasanten wirtschaftlichen Wachstums, als Wiens Bevölkerung – Folge der Zuwanderung aus den verschiedensten Teilen der Monarchie – fast explosionsartig wuchs und Wien zur viertgrößten Stadt Europas wurde. Liberal war diese Phase wirtschaftlich und kulturell  : wirtschaftlich, weil Investitionen begünstigt wurden, weil kontrollierende Eingriffe der Politik in die Wirtschaftsdynamik nur selten möglich oder auch nur gewollt waren. Liberal war diese Phase auch kulturell  : Die Architektur der Ringstraße – Folge eines Baubooms im Zusammenhang mit dem Abriss der Stadtmauern und der Regulierung der Donau – wurde zum kulturellen Markenzeichen eines aufstrebenden Bürgertums, das die 1867 durch das Staatsgrundgesetz gewonnenen politischen Freiheiten und die wirtschaftliche Dynamik für sich zu nützen verstand. Die Bauten der Oper und des Burgtheaters, des Rathauses, der Parlaments, der Börse und der Universität sollten des Stadtbild bis jedenfalls tief in das 21. Jahrhundert prägen, und Hans Markart wurde Repräsentant eines Stils, in dem die bildliche Darstellung der Gesellschaft dem Historismus und der neuen Führungsrolle des Großbürgertums 203

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verpflichtet war. Die österreichische Gesellschaft hatte die Fesseln des Spätabsolutismus abgeschüttelt – in diesem Sinne war sie liberal. Die ökonomische und kulturelle Dynamik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte auch zu gesellschaftlichen Spannungen und zu neuen, vertieften Formen sozialer Ungleichheit, die sich politisch vor allem im Aufkommen einer zunehmend sozialdemokratisch dominierten Arbeiterbewegung manifestierte – und in einer kleinbürgerlichen Protestbewegung, die den Kern der Christlichsozialen Partei bilden sollte. Deren politischer Durchbruch, die Wahl Karl Luegers zum Bürgermeister von Wien, wurde als Ende der liberalen Epoche gesehen. John Boyer nennt – in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Bewertung dieser Entwicklung – diesen politischen Wandel »Das Ende der Liberalen und die Eroberung Wiens durch die Antisemiten« (Boyer 2010, 123). Diejenigen, die den Liberalismus politisch beerbten, waren also »Antisemiten«. Damit war auch klar, dass die davor herrschenden Kräfte jedenfalls nicht antisemitisch waren. Dass die Jahre zwischen 1867 und 1897 als liberal und – zumindest indirekt – als »jüdisch« wahrgenommen wurden, war die Folge des 1867 beschlossenen Staatsgrundgesetzes. Dieses beseitigte die bis dahin noch vorhandenen rechtlichen Diskriminierungen des Judentums. Jüdinnen und Juden begannen sich verstärkt in die Gesellschaft zu integrieren. Sie wurden in der Politik ebenso sichtbar wie in der Kultur und der Wirtschaft. Es waren Jüdinnen und Juden, die in einer bis dahin nach wie vor weitgehend christlich definierten gesellschaftlichen Hierarchie als fremd, als anders wahrgenommen wurden – als ein Störfaktor, der das Gewohnte aufzulösen schien. Und der, der die Abstiegsängste des christlichen (und das hieß vor allem katholischen) »Volkes« artikulierte, war Karl Lueger. Als Sprachrohr des Antisemitismus wurde er zum Sprachrohr eines Antiliberalismus, der ein gewinnorientiertes Wirtschaftstreiben mit »den Juden« und deren Aufstieg gleichsetzte. Lueger war schon 1895 vom Wiener Gemeinderat zum Bürgermeister gewählt worden. Der österreichische Ministerpräsident Kasimir Badeni empfahl aber dem Kaiser, die notwendige kaiserliche Zustimmung zur Bestellung Luegers zu verweigern. Erst nachdem der Gemeinderat abermals Lueger gewählt hatte, wurde Lueger 1897 vom Kaiser bestätigt (Boyer 2010, 163–177). Die Begründung für den Widerstand der kaiserlichen Regierung und des Kaisers war der offene Antisemitismus, der Luegers Aufstieg und die Erfolge der Christlichsozialen begleitet hatte. Damit hatte sich aber ein Bild verfestigt, das unabhängig von der Realität auch die Geschichte der Republik mitbestimmen sollte  : Alles Liberale war eine Sache »der Juden«. Wie immer man die eineinhalb Jahrzehnte der Ersten Republik beurteilt  : Ihr Wirtschaftssystem kann wohl nur als »kapitalistisch« bezeichnet werden. 204

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In Fortsetzung der durch die Entwicklung des 19. Jahrhunderts entstandenen Rahmenbedingungen, die auch im von der republikanischen Verfassung übernommenen Staatsgrundgesetz verankert waren – etwa das Grundrecht auf Eigentum –, war die Wirtschaftsordnung der Republik kapitalistisch – oder, in der Diktion der Sozialdemokratie, »bürgerlich«. Österreichs Wirtschaft war zwar von der Zerstörung des großen Marktes der Monarchie betroffen, aber die Grundsätze und Rahmenbedingungen einer auf dem Privateigentum und dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage beruhenden Ordnung waren nicht verändert. Die Vorstöße der Sozialdemokratie zur Verstaatlichung von Finanz- und Industriesektoren hatten mit dem Ende der Großen Koalition auch schon ihr Ende gefunden. Das neue, das kleine, das republikanische und demokratische Österreich baute, wie die große Monarchie davor auch, auf den Grundsätzen des Kapitalismus. Es zählt zu den besonders auffallenden Paradoxa der Republik, dass die auf der politischen Rechten bestimmenden Akteure dieser Zeit den Kapitalismus praktizierten, ebendiesen Kapitalismus aber gleichzeitig rhetorisch ablehnten, programmatisch geradezu verabscheuten. Denn der war ja »liberal« und damit – indirekt – auch »jüdisch«. Die Parteien der »Bürgerblocks« bekannten sich deshalb niemals offen, ohne wesentliche und prinzipielle Einschränkungen, zum Prinzip der Marktwirtschaft. Die klassische Schule der Nationalökonomie, auch als »Österreichische Schule« bezeichnet, wurde zwar international zu einer das herrschende wirtschaftspolitische Paradigma bestimmenden Tradition, die bis zu Friedrich Hayek und dessen Einfluss auf Margaret Thatcher und Ronald Reagan, auf den »Neokonservativismus« wie auch den »Neoliberalismus« auch noch an der Wende zum 21. Jahrhundert überdeutlich war (Leube 1995). Doch die reale Politik in Österreich schien von dieser Schule, die mit den Namen Eugen Böhm-Bawerk, Carl Menger, Ludwig Mises und Friedrich Wieser verbunden war, kaum Notiz zu nehmen. Aus dieser liberalen Tradition kam Joseph Schumpeter, dessen Buch Kapi­ talismus, Sozialismus und Demokratie zu den theoretischen Standardwerken sowohl der Wirtschaftswissenschaften als auch der Politischen Theorie zählt. Aus dieser Tradition kam Friedrich Hayek, dessen umfassende Gesellschaftsanalyse (Der Weg in die Knechtschaft) zu den entscheidenden Wegbereitern der den sozialistischen (sozialdemokratischen) Interventionismus zurückdrängenden neoliberalen Orientierung des späteren 20. Jahrhunderts werden sollte. Dass die Sozialdemokratie die wirtschaftsliberale »Österreichische Schule« nicht als die ihre sehen konnte, das war klar. Dass aber auch Christlichsoziale, Großdeutsche und der Landbund es für notwendig hielten, sich von Kapitalismus und Marktwirtschaft zu distanzieren, wirft ein eigenartiges Licht auf die Qualität des politischen Diskurses und damit auch der politischen Kultur 205

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in Österreich. In ihren programmatischen Äußerungen gingen Christlichsoziale, Großdeutsche, Landbund und auch der Heimatschutz auf grundsätzliche Distanz zum wirtschaftlichen Liberalismus – den sie aber, in Abgrenzung zur Sozialdemokratie, ganz selbstverständlich praktizierten. In ihrem Programm von 1919 forderten die Wiener Christlichsozialen »im Interesse der Konsumenten und des sesshaften Handels- und Gewerbestandes und der bodenständigen Industrie schleunigen stufen- und branchenweisen Ausbau der kriegswirtschaftlichen Zentralen« (Berchtold 1967, 369). Die im Zusammenhang mit dem Krieg entstandenen staatswirtschaftlichen Steuerungsinstrumente sollten also nicht ab-, sie sollten ausgebaut werden. Und noch deutlicher, wenn auch besonders vage ist die Distanz zum ökonomischen Liberalismus im »Salzburger Programm« der Großdeutschen Volkspartei von 1920  : »Der von jüdischer Geistesrichtung stark beeinflusste Liberalismus hat […] infolge seiner materialistischen Wirtschaftsanschauung den Erwerbstrieb in den Vordergrund gestellt« (Berchtold 1967, 444). Das politische Österreich der Republik ignorierte weitgehend die »Österreichische Schule« der Nationalökonomie. Statt sich auf sie zu berufen, sie als österreichischen Erfolg zu werten, wurde diese aus der Schlussphase der Monarchie in die Republik hinüberreichende, international so renommierte wissenschaftliche Tradition politisch wenig geschätzt. Der wirtschaftliche Liberalismus galt, wie auch der kulturelle, in einem von einer antisemitischen Umwelt beherrschten Klima als irgendwie »jüdisch«. Da spielte natürlich keine Rolle, dass viele, wohl die meisten der prominenten Vertreter der »Österreichischen Schule« keine Juden waren – auch nicht im Sinne einer Herkunft aus dem Judentum. Der Liberalismus wurde ohne große intellektuelle Auseinandersetzung abgestempelt – als »jüdisch«. Die noch im alten Österreich entstandene und entwickelte Nationalökonomie wurde bald noch von einem anderen Zugang zu Wirtschaft und Politik überlagert – von Othmar Spann und seiner oft im Nebulosen stecken bleibenden, die spätere Systemtheorie ansatzweise vorwegnehmenden »Universalismus«, der »Ganzheitslehre«. Seit 1919 Professor an der Universität Wien, veröffentlichte er 1921 das Buch Der wahre Staat – ein Titel, an den wohl nicht zufällig etwas später Ignaz Seipel mit seinen Ausführungen zur »wahren Demokratie« anschloss. In den politischen Auseinandersetzungen der Ersten Republik wurden von der politischen Rechten nicht Menger, Böhm-Bawerk, Mises und Schumpeter dem Marxismus entgegengestellt – der Antimarxismus dieser Epoche berief sich vor allem auf Spann. Und Spann war alles andere als ein Liberaler. Die Kontroversen der Republik, wenn sie ins Grundsätzliche gingen, waren nicht zwischen Marxismus und Liberalismus. Die Antipoden waren ein von der Sozialdemokratie vorgetragener Marxismus – und ein bald 206

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mehr deutschnational, bald mehr katholisch gefärbter Antimodernismus, dessen Proponent Spann war. Spann hatte auf das Politik- und Wirtschaftsverständnis aller politischen Kräfte rechts von der Sozialdemokratie erheblichen Einfluss. Er war schon in den 1920er Jahren Mitglied der NSDAP geworden, überwarf sich aber später mit der Partei Adolf Hitlers. Er wurde zu einer Art Chefideologe aller Kräfte, die systematisch die parlamentarische Demokratie und den politischen Pluralismus zu unterminieren versuchten. Dennoch verlor er 1938 seine Professur und verbrachte einige Monate als Häftling im KZ Dachau – er war zu sehr als Anhänger des »Ständestaates« punziert, vermutlich auch den NS-Herrschern als abtrünniges Parteimitglied zu sehr verdächtig, als dass er Gnade vor den Gralshütern der reinen Lehre des Nationalsozialismus gefunden hätte. Er überlebte die NS-Zeit, konnte jedoch nach 1945 nicht erreichen, wieder als Professor an die Universität Wien zurückkehren zu können (Siegfried 1974). Spanns Denken war dem Korporatismus verwandt, wie dieser der Doktrin des italienischen Faschismus entsprach – als Alternative zu einer Demokratie, die den gesellschaftlichen Pluralismus in einer Vielzahl von Parteien legitimiert und kanalisiert. Der »autoritäre Ständestaat« mit seiner nicht zufällig nie vollendeten »berufsständischen Ordnung« baute zu einem wesentlichen Maß auf Spanns Gedanken, die auch einen Brückenschlag zur Katholischen Soziallehre der Päpste Leo XIII. und Pius XI. zuließen. Korporatismus, (italienischer) Faschismus, Katholische Soziallehre, die im autoritären »Ständestaat« ansatzweise konstruierte Gesellschaftsordnung und Spanns Universalismus hatten vor allem eines gemeinsam  : Sie alle hatten keinerlei Verständnis für den politischen Liberalismus, wie er sich in der politischen Freizügigkeit eines parlamentarischen Mehrparteiensystems ausdrückte (Müller 2011, 101–104, 108–112). Spann und nicht die »Österreichische Schule« lieferten der politischen Rechten – beiden Lagern des »Bürgerblocks« – die rhetorischen Grundlagen ihres Antisozialismus, ihres Antimarxismus. Spann und nicht Menger, Böhm-Bawerk, Mises oder auch Schumpeter war die ideologische Klammer der bis 1933 im Rahmen der Verfassung der Republik und dann jenseits dieser Verfassung regierenden Kräfte. Auf Spann konnten sich Christlichsoziale und Heimwehren und Großdeutsche verständigen. Der ökonomische Liberalismus war es nicht, der die Politik der Regierenden legitimierte – es war ein ökonomischer Antiliberalismus. Othmar Spanns Rolle hilft verstehen, warum in Österreich weder der kulturelle noch der ökonomische Liberalismus die politische Anerkennung und Bedeutung erreichen konnte, die ihm zur gleichen Zeit in den meisten Staaten Westeuropas zukam. Spanns gesamtes Theoriegebäude war normativ und 207

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idealistisch und nicht – wie es den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften seiner Zeit zunehmend entsprach – empirisch orientiert  : empirisch im Sinne interpersonell vermittelbarer Erfahrung und Überprüfbarkeit. Damit stand er in Widerspruch nicht nur und wohl nicht einmal primär zu den auf Karl Marx bauenden verschiedenen Sozialismen, er stand auch und vor allem im Widerspruch zu dem von Karl Popper vertretenen Prinzip der Offenheit von Geschichte und Gesellschaft  ; zur liberalen Demokratie, um deren theoretische Untermauerung sich der Österreicher Josef Schumpeter so verdient machen sollte  ; und eben auch zur klassischen, zur Wiener (oder Österreichischen) Schule der Nationalökonomie. Der ökonomische und politische wie auch der kulturelle Liberalismus, der im 20. Jahrhundert eine so große, weltweite Bedeutung erlangte, kam zu einem erheblichen Teil aus Österreich – freilich mehr aus dem alten Reich als aus dem Österreich der Ersten Republik. Doch keine der großen politischen Traditionen Europas hatte so wenig politisch messbare Resonanz in diesem Österreich wie der Liberalismus. Der Liberalismus im Sinne der Österreicher Böhm-Bawerk, Schumpeter und Popper spielte im Österreich dieser Zeit keine wesentliche, jedenfalls keine erkennbare politische Rolle. Der österreichische Liberalismus war offenbar zu groß für das klein gewordene Österreich. Liberal wollte in Österreich eigentlich niemand sein. Und wenn jemand – wie etwa Klaus Berchtold – gelegentlich den Begriff »liberal« verwendet (Berchtold 1967, 439–512), um einen Aspekt des »dritten«, des deutschnationalen Lagers zu charakterisieren, so ist damit nur die im Widerspruch zum Politischen Katholizismus deutliche Distanz zu einer politisch wirksamen Kirchlichkeit zu verstehen, eine Distanz auch zur Hegemonie der Christlichsozialen Partei, die ja in Wien eine als »liberal« etikettierte Epoche abgelöst hatte. Am Beginn des 20. Jahrhunderts galt in Österreich als liberal, wer sich nicht als Sozialist oder Sozialistin verstand und dennoch sonntags nicht zur Kirche ging – jedenfalls nicht zum katholischen Gottesdienst. In diesem Sinne wäre freilich auch Adolf Hitler ein Liberaler gewesen. Der Aufstieg der Christlichsozialen in Wien, verbunden mit dem Namen Karl Lueger, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts eben nicht zufällig als das Ende einer Ära des »Liberalismus« und als »Eroberung Wiens durch die Antisemiten« wahrgenommen. Diese Begrifflichkeit erklärt, dass lange Zeit politische Gruppierungen, die »bürgerlich« waren – bürgerlich im Sinne von nicht sozialistisch und nicht proletarisch, aber auch nicht agrarisch – zwar in vielem liberal waren, nicht aber als liberal gelten wollten. Anders als die Christlichsozialen beriefen sich vor allem großbürgerliche Kreise nicht direkt auf die Katholische Soziallehre  ; und anders als die Christlichsozialen waren sie kaum aggressiv, kaum explizit antisemitisch. Der politische Kampf um die Vorherr208

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schaft in Wien war am Ende des 19. Jahrhunderts der Konflikt zwischen einem vehement antisemitischen Kleinbürgertum und einem nicht oder nicht offen antisemitischen Großbürgertum – das aber eben deshalb als Sprachrohr »jüdischer« Interessen galt und eben deshalb auch als »liberal« etikettiert war. In der politischen Instrumentalisierung des Antisemitismus sahen sich Lueger und die Christlichsozialen freilich bald von den sich radikalisierenden Deutschnationalen um Georg Schönerer und Ernst Verganis »Deutsches Volksblatt« übertroffen. Die Christlichsozialen waren von da an – bis in die 1930er Jahre – mit dem »Vorwurf« konfrontiert, in ihrem Antisemitismus nicht konsequent genug zu sein  ; ein Vorwurf, der von den Deutschnationalen erhoben wurde und der am Ende der Republik das Verhältnis zwischen dem (»nur« gemäßigt antisemitischen) katholisch-konservativen und dem zunehmend mit der NSDAP deckungsgleichen deutschnationalen Lager bestimmen sollte (Bo­ yer 2010, 100–114). Die Begriffe »liberal« und »Liberalismus« waren in der Republik von dieser Vorgeschichte belastet. In dem sich aufheizenden politischen Klima der Republik wollte sich mit Ausnahme der Zionisten niemand – keine Partei, keine Gruppierung – »vorwerfen« lassen, unter jüdischem Einfluss zu stehen. Einem politisch wirksamen Liberalismus stand daher auch und wesentlich der Antisemitismus entgegen  : Da die traditionellen politischen Positionen von den drei Lagern und den ihnen entsprechenden Parteien bereits besetzt waren, wäre eine sich neu formierende Bewegung, die im Sinne liberaler Grundsätze individueller Freiheit agiert und sich auf als »jüdisch« etikettierte Theorien wie die der freien Marktwirtschaft gestützt hätte, sofort als »jüdisch« punziert worden. Wenn als politisch liberal gilt, wer in Politik und Kultur und Ökonomie individuelle Freiheitsrechte betont  ; wenn unter Liberalismus eine Bewegung verstanden wird, die sich gegen Einschränkung politischer Freiheitsrechte, gegen jede Form von Zensur und auch gegen staatliche Wirtschaftslenkung richtet, so war das politische System der Republik Österreich durch die Abwesenheit des Liberalismus charakterisiert. Und das unterschied die Republik von den anderen westeuropäischen Demokratien der Zeit. Die politisch-weltanschaulichen Lager waren, in Fortsetzung der Anfänge des österreichischen Parteiensystems in der Schlussphase der Monarchie, von gesellschaftlichen Brüchen bestimmt, die dem Liberalismus keinen Platz ließen  : Das katholisch-konservative Lager ging vom Vorrang religiöser Werte aus. Die Christlichsozialen verteidigten die vorhandenen Privilegien und den zumindest faktischen Vorrang der Katholischen Kirche und waren der Umsetzung der Katholischen Soziallehre in der Politik verpflichtet. Die dem Liberalismus immanente Tendenz zur religiösen Neutralität war dem katholisch-konservativen Lager fremd, das – wo immer es die Macht dazu hatte – 209

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nicht-katholische Konfessionen zwar in Grenzen zu tolerieren bereit war, aber von einem jeweils konkret zu definierenden Vorrang des Katholischen ausging  : staatliche Feiertage, die vom kirchlichen Kalender bestimmt waren  ; Kreuze in öffentlichen Schulen und Gerichtssälen der Republik  ; Glockengeläute von den Türmen der Kathedralen, die so gesellschaftliche Hegemonie signalisierten – dies alles war Ausdruck einer faktischen Vorrangstellung der Kirche. Diese Tradition katholischer Hegemonie wurde in den Jahren 1933 bis 1938 in Österreich nochmals verstärkt – vom Konkordat des September 1933 und der Berufung auf Gott in der Präambel der Mai-Verfassung von 1934 über die demonstrative Präsenz des katholischen Klerus bei staatlichen, offiziellen Anlässen bis hin zur politischen Umsetzung des Frauenbildes eines katholisch gefärbten und mit der traditionellen Lehre der Kirche begründeten Patriarchats, wie es in der systematischen Verdrängung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt seinen Ausdruck fand  : Alles das war diesem Lager immanent  ; und alles das widersprach einem Liberalismus, der vom 1776 in Philadelphia verkündeten Grundsatz ausging, alle Menschen seien frei und gleich geboren. Das sozialistische Lager ging vom Vorrang ökonomischer, auf den Klassenstatus bezogener Interessen aus. Individuelle ökonomische Freizügigkeit, Herzstück eines marktwirtschaftlichen, eines wirtschaftsliberalen Verständnisses, wurde als ideologischer Überbau eines an der Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Ausbeutung interessierten »bürgerlichen« Klassenbewusstseins gesehen. Der Sozialismus, den die österreichische Sozialdemokratie – sehr wohl auch in bewusster Abgrenzung vom sowjetischen Modell – im Rahmen eines parlamentarischen Mehrparteiensystems zu errichten versuchte, ließ der ökonomischen Komponente des Liberalismus keinen Platz. Politisch und kulturell war die Sozialdemokratie liberal oder zumindest ein logischer Bündnispartner eines politisch und kulturell artikulierten Liberalismus. In ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung aber war die Sozialdemokratie grundsätzlich antiliberal – denn ökonomische liberale Grundsätze waren ja, in der Sicht der Sozialdemokratie, Ausdruck des Klasseninteresses der Bourgeoisie. Das deutschnationale Lager war Produkt und politischer Ausdruck der Ablehnung der wesentlichen Konsequenz eines demokratischen Vielvölkerstaates – wie es das alte Österreich ja ansatzweise zu sein versuchte. Der Deutschnationalismus hatte bis 1918 vehement die Gleichstellung aller Nationalitäten bekämpft, er war der Verteidigung des Vorranges der deutschen Sprache und Nationalität insbesondere in den gemischtsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens, Tirols, der Steiermark und Kärntens verpflichtet. Das deutschnationale Lager nahm seine Frontstellung gegen Multiethnizität und Multikulturalität aus der Monarchie mit in das Österreich der Republik. Österreich war deutsch, und als der kleinere der beiden deutschen Staaten hatte dieses 210

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deutsche Österreich jedes Interesse an einer Vereinigung mit dem größeren Deutschland – eine Orientierung, die das deutschnationale Lager bis 1933 mit den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen teilte, bis der NS-Staat die unmittelbare Anschlussorientierung zu einem Alleinstellungsmerkmal des deutschnationalen Lagers machte. Die in einem ethnischen Verständnis angelegte Abgrenzung gegen alles als ethnisch »fremd« Definierte ließ dem im Liberalismus zumindest dem Ansatz nach verankerte Neigung zum Internationalismus, zum Kosmopolitismus kaum Platz. Die Erosion der republikanischen deutschnationalen Parteien (Großdeutsche Volkspartei, Landbund) im Gefolge des raschen Wachsens der NSDAP ab 1930 zeigte auch, dass das gesellschaftliche und politische Verständnis dieses Lagers eine mit dem Liberalismus letztlich nicht kompatible Neigung zum Ethno-Nationalismus und damit zum Rassismus aufwies. In seiner Dokumentation österreichischer Parteiprogramme gliedert Klaus Berchtold Österreichs politische Landschaft in drei Lager. Das dritte nennt Berchtold »Das liberal-deutschnationale Lager«. Eine der beiden Parteien, die dieses Lager in der Ersten Republik repräsentierten, war die Großdeutsche Volkspartei. In deren »Salzburger Programm« von 1920 versteht die Partei den Liberalismus so  : »Der von jüdischer Geisteshaltung stark beeinflusste Liberalismus hat nur der Ausbildung des Verstandes Beachtung geschenkt, die seelische Kultur aber verkümmern lassen  ; auch hat er infolge seiner materialistischen Wirtschaftsordnung den Erwerbstrieb in den Vordergrund gestellt« (Berchtold 1967, 444). In den 1923 verabschiedeten »Politischen Leitsätzen« des Landbundes, der anderen Partei dieses Lagers, findet sich die Formulierung  : »Die jüdische Rasse bekämpft er (der Landbund – Anm. AP) als volkszersetzendes Element. Dem übermächtigen Einflusse des Judentums auf unser öffentliches, wirtschaftliches, kulturelles Leben wird er (der Landbund – Anm. AP) auf das entschiedenste entgegentreten« (Berchtold 1967, 485). Liberal war eine solche Positionierung des »dritten«, des deutschnationalen Lagers in keiner der Spielarten, die dem Liberalismus zugeschrieben werden können  : nicht im Sinne der dem wirtschaftlichen Liberalismus zugeschriebenen »Österreichischen Schule« der Nationalökonomie  ; liberal erst recht nicht im Sinne eines kulturellen Liberalismus, der auf die Freisetzung der Entwicklungsmöglichkeit der Individuen setzt – unabhängig von konfessioneller Orientierung, unabhängig von nationaler Herkunft. In der Begrifflichkeit des deutschnationalen Lagers der Republik wurde etwas formuliert, was wenig später zur Staatsdoktrin des sich bald großdeutsch nennenden Reiches werden sollte. In der Programmatik des österreichischen Deutschnationalismus wird eine Tradition deutlich, die in den Reden und Artikeln Joseph Goebbels’ einige 211

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Jahre später offizielle Politik werden sollte  : Das Reden vom »überspitzten Intellektualismus« eines »volkszersetzenden« Judentums war ein in den politischen Diskursen der Ersten Republik durchaus gängiges rhetorisches Versatzstück der Parteien, die – als kleinere Koalitionspartner der Christlichsozialen – die Republik mit prägten, und zwar bereits viele Jahre vor Hitlers »Machtergreifung« in Deutschland. »Liberal« war das alles natürlich nicht – nicht im Sinne eines britischen oder eines französischen Verständnisses von Liberalismus, nicht im Sinne einer größtmöglichen individuellen Freizügigkeit im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Das völkische, das rassistische Denken bestimmte das Lager, das aus nicht wirklich verständlichen Gründen vielen als »liberal« galt. Liberale, durchaus im westeuropäischen Sinn, waren Schnitzler, Kraus, Zweig. Doch die wurden von den bestehenden Lagern nicht integriert, sie konnten sich mit keiner der bestehenden politischen Parteien identifizieren. Und eben deshalb konnte der Liberalismus keine integrative Rolle spielen – wie etwa die britischen Liberalen, die im »National Government«, im Kriegskabinett Winston Churchills, als dritte Partei die Konservativen und die Labour Party ergänzten  ; nicht wie die französischen Radikalsozialisten (die deshalb so hießen, weil sie weder radikal noch sozialistisch waren), die in den Regierungen der Dritten und der Vierten Französischen Republik eine Partei der Mitte waren, die immer wieder – als »natürliche« Regierungspartei in den rasch wechselnden Koalitionsregierungen – für politischen Ausgleich zwischen links und rechts sorgten. Liberale Stimmen in Österreich waren Stimmen, die – zu einem erheblichen Teil sehr wohl politisch – nicht als politische Stimmen im engeren Sinn galten. Sie waren die Stimmen politisch Heimatloser, die auch im Zusammenhang mit internationalen Erfolgen sehr wohl gehört wurden, aber eben nicht innerhalb des politischen Systems der Republik, weil nicht innerhalb und namens einer Partei geäußert. Diese Stimmen bildeten ein intellektuelles Potential, das quer zu den Fronten der politisch-weltanschaulichen Lager existierte  : im kulturellen Bereich weitgehend »links«, ökonomisch aber nicht in die Denkschemata des Marxismus oder eines staatsorientierten Sozialismus passend, hätte dieser Liberalismus verbinden können, wenn man ihn nur politisch gelassen hätte. Der Liberalismus aber blieb politisch ausgeschlossen. Die politische Heimatlosigkeit des Liberalismus zeigte sich in den Aktivitäten von Arthur Schnitzler, von Stefan Zweig, von Karl Kraus. Von diesem Dreigestirn der österreichischen Literatur in den zwei Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen nahm einer – Kraus – die Republik mit großer Aufmerksamkeit wahr. Während Schnitzler zwar politische Vorgänge in Österreich nach 1918 verfolgte, sich aber in den Auseinandersetzungen kaum direkt engagierte, 212

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und während Zweig sich gegenüber der Republik kühl und distanziert verhielt, war Kraus immer ein politischer Kämpfer – der freilich in keines der Schemata und Muster der Republik zu passen schien. Schnitzlers Tagebücher sind eine Quelle, aus der sich das insgesamt doch auffallend geringe Interesse an der Republik erkennen lässt. Am 6. September 1919 beschloss die Provisorische Nationalversammlung unter Protest die Annahme der von den Siegermächten diktierten Friedensbedingungen. Am 10. September unterzeichnete Karl Renner als Staatskanzler in Saint-Germanen-Laye den Staatsvertrag, der das Gebiet der Republik definierte – ohne die zunächst von Österreich beanspruchten, mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete in Nord-Böhmen und Nord-Mähren (»Sudetengebiete«) und ohne Südtirol (Stadler 1966, 83–160). Zu diesen die Republik bestimmenden Ereignissen finden sich in Schnitzlers Tagebuch keine Bemerkungen, keine Kommentare. In diesen so entscheidenden Tagen hielt Schnitzler für die Nacht vom 8. auf den 9. September relativ ausführlich einen Traum fest  : Er hatte von einem Autounfall geträumt, der ganz offenkundig in Zusammenhang mit seiner zu diesem Zeitpunkt krisenhaften Beziehung zu seiner Frau Olga stand (Schnitzler Tagebuch, 1919, 287). Schnitzler schrieb zu einem Zeitpunkt, als über Österreichs Zukunft entschieden wurde, über seinen Traum – die Zukunft der Republik bewegte ihn offenbar nicht in einer Weise, die er festhalten wollte. Und am 1. Oktober 1920 – dem Tag, an dem die Konstituierende Nationalversammlung das Bundes-Verfassungsgesetz und damit die rechtliche Grundlage der Republik beschloss, schrieb Schnitzler im Tagebuch über einen »Hundetraum« – zum Beschluss über die Verfassung ist im Tagebuch nichts vermerkt (Schnitzler Tagebuch, 1920, 93). Dieses Ausblenden der für Österreich so entscheidenden Weichenstellungen kann keineswegs damit erklärt werden, dass Schnitzler »unpolitisch«, dass er an den Gegensätzen von gesellschaftlichen Interessen und Werten nicht interessiert gewesen wäre. Wenige Tage vor der Wiedergabe seines Unfall-Traumes, am 2. September, vermerkte er in seinem Tagebuch kritisch zu Otto Bauer, der das Versagen des »Socialismus« erkannt habe  : »Wer aber ist schuld daran. Eben diese Dogmatiker wie er (Otto Bauer – Anm. AP) – die ›die Zeit gekommen‹ erachteten – und Theorien ins Praktische umsetzen wollten – ohne Rücksicht auf die Gesetze der Entwicklung und Zustand der Seelen« (Schnitz­ ler Tagebuch, 1919, 286). Schnitzler hatte immer wieder bewiesen, wie überaus sensibel er die politischen Strömungen seiner Zeit beobachtete und sie – differenziert, aber klar – auch entsprechend bewertete. Seiner kritischen Feder entging nicht der Antisemitismus, den er in seinem Roman Der Weg ins Freie 1907 diagnostiziert und in Professor Bernhardi 1912 entlarvt hatte. Dem Chauvinismus und 213

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der Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkriegs verweigerte er sich, politisch bewusst, ebenso wie Stefan Zweig. Anders als dieser engagierte er sich allerdings nicht in europäischen Friedensinitiativen. Eine Einladung, in Berlin im Herbst 1914 eine Rede zu halten – erwartet wurde von ihm ein literarisch verbrämter Aufruf zur Unterstützung der nationalistischen Aufwallungen –, lehnte er ab. Er sah sich als Skeptiker – und eine solche Stimme sei 1914 nicht zu gebrauchen (Le Rider 2008, 177). In seiner Verweigerung gegenüber den gewünschten propagandistischen Tönen war Schnitzler immer politisch. Aber auch seine Kritik an Kraus und dessen scharfe Polemik gegen die Kriegshysterie (wie in Die letzten Tage der Menschheit) war politisch  : »Trotzdem er (Karl Kraus – Anm. AP) in vielem was er sagt recht hat, ein Verläumder (sic  !) schon dadurch, dass er so vieles verschweigt – was er weiß. Er weiß nur von jüdischen Kriegsgewinnern und Wucherern  ; – und Deutschland scheint, wenn man ihn liest, nicht nur allein die Schuld an diesem Krieg zu tragen  ; – es hat überhaupt den Krieg erfunden« (Schnitzler Tagebuch 1918, 190). Aber die Republik und ihre Politik, die blieben Schnitzler fremd. Seine im Tagebuch festgehaltenen Beobachtungen zu den bürgerkriegsähnlichen Unruhen des 15. Juli 1927 zeugen von einer eher kühl-distanzierten Aufmerksamkeit (Schnitzler Tagebuch 1927, 65 f.). Und doch war Schnitzler Partei in einem durchaus politischen Konflikt  : Der Reigen, 1920 und 1921 in Berlin und Wien uraufgeführt, wurde zum Gegenstand eines politischen Streits ersten Ranges. Katholisch-konservative und deutschnationale Kräfte wollten Aufführungen mit dem Hinweis auf eine angebliche Gefährdung der »Sittlichkeit« unterbinden, und erst eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vermochte letztendlich Schnitzlers künstlerische Freiheit zu sichern. Dadurch war aber Schnitzler – fast wider Willen – zu einer politischen Cause célèbre geworden, und in diesem Kampf gegen die Zensur wusste er auch die Sozialdemokratie auf seiner Seite. Im Juni 1928 lud Ignaz Seipel als Bundeskanzler Schnitzler zu Beratungen über ein Schmutz-und-Schund-Gesetz ins Kanzleramt. Nach den verschiedenen Kontroversen am Beratungstisch stellte Seipel fest, zwischen ihm und Schnitzler lägen »Welten«. Schnitzlers Position war ganz eindeutig die Position eines Liberalen, der die Freiheit der Kunst gegen die Anmaßungen eines besserwisserischen, eines kulturell bevormundenden Staates verteidigte. Diese politische Auseinandersetzung findet sich sehr wohl in Schnitzlers Tagebuch (Schnitzler Tagebuch 1928, 162). Seipels Tendenzen aber, sich vom Verfassungskonsens des Jahres 1920 wegzubewegen – weg vom unbedingten Vorrang parlamentarischen Regierens und hin zu einem vage »wahre Demokratie« genannten Konzept, diese Tendenzen finden hingegen in Schnitzlers Tagebüchern keinen Niederschlag  : Sein politisch artikulierter Liberalismus war selektiv. 214

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Schnitzler galt in den Jahren der Republik vielen als Mann der Vergangenheit, der aus dem gesellschaftlichen Klima, aus der Dynamik und den Spannungen der letzten Epoche der untergehenden Monarchie sich nicht mit der Kleinheit der Republik hatte anfreunden können. Das war Schnitzlers Selbstwahrnehmung aber keineswegs. In einem Brief an Jakob Wassermann vom 3. November 1924 schrieb er über das untergegangene Österreich  : »Es war damals keine große Zeit und die angeblich versunkene und abgetane Welt ist genau so lebendig vorhanden als sie es jemals war. In den einzelnen Menschen hat sich nicht die geringste Veränderung vollzogen […]« (Le Rider 2008, 194). Das entsprach keiner politischen Analyse, eher einer politisch gefärbten Grundstimmung – die alles, auch das Politische sehr wohl wahrnahm, aber den Abstand wahrte. Abgeklärt  ? Vermutlich. Resigniert  ? Nicht unbedingt. Während Schnitzler – tendenziell melancholisch – die Republik an sich vorbeiziehen ließ, ohne an deren Schicksal wirklich Anteil zu nehmen, war Kraus der Prototyp des überaus politisch engagierten politisch Heimatlosen. Als scharfer Kritiker der Kriegspolitik Österreich-Ungarns galt er den meisten als politisch »links«, ohne dass er sich an eine politische Partei gebunden hätte. Seine in den Artikeln in der »Fackel« und in öffentlichen Lesungen artikulierte, immer kämpferisch vorgetragene Anteilnahme an der Republik bestärkte dieses Erscheinungsbild  : Die Kritik an Johann Schober, dem Polizeipräsidenten von Wien, im Zusammenhang mit den blutigen Ereignissen des Juli 1927 – dem Brand des Justizpalastes – war ja auch eine Kritik am Politiker Schober, dem zeitweiligen (parteilosen) Bundeskanzler und Außenminister der verschiedenen Regierungen des »Bürgerblocks« und dem Namensgeber des »Schoberblocks«, der am Ende der Republik für kurze Zeit die Großdeutsche Volkspartei und den Landbund zu einer Einheitsliste verband. Doch als Dollfuß die demokratische Republik beseitigte, war dies für Kraus nicht nur und nicht primär ein Anschlag auf die Grundfreiheiten einer Demokratie  ; er sah in Dollfuß’ Politik den verzweifelten Versuch, Österreich vor dem Zugriff des Nationalsozialismus zu retten. Dass er Dollfuß als das »kleinere Übel« bezeichnete und ihn so zu rechtfertigen schien, machte ihn für die Linken zum Verräter, zu einem, der zur Diktatur der Arbeitermörder übergelaufen war (Pfabigan 1976, 339–358  ; Timms 2005, 473–491  ; Franzen 2013). Die politische Heimatlosigkeit des Stefan Zweig und die des Arthur Schnitzler war eine selbst gewählte  : Beide sahen sich – aus nachvollziehbaren, jedenfalls verständlichen Gründen – in der zerklüfteten Politischen Kultur der Republik nirgendwo aufgehoben. Bei Kraus war dies anders  : Sein kämpferischer Einsatz für ganz konkrete politische Ziele ließen ihn immer und immer wieder Partei, politisch Partei nehmen. Aber in eine der vorhandenen Parteien, in eines der »Lager« passte er ganz einfach nicht – dazu war Kraus viel zu sehr 215

Ungenützte Potentiale

Abb. 8  : Karl Kraus (1930) – der hoch Politische und deshalb politisch Heimatlose.

Individualist. Seine kritische politische Natur, gerade auch sein Individualismus, lassen es durchaus zu, ihn als »Liberalen« bezeichnen – »liberal« zumindest im britischen und US-amerikanischen Sinn. Aber als Individualist, als Liberaler fand er keine Partei und kein Lager, in das er hineingepasst hätte. Und so wurde Kraus nicht als potentieller Verbinder zwischen den Gegensätzen der Republik gesehen, sondern als permanenter Störfaktor, der einmal die und dann wieder die andere Seite verärgerte. In Vorträgen und in der »Fackel« stritt Kraus gegen die rückwärtsgewandte Gesinnung des katholisch-konservativen Lagers und der Deutschnationalen – etwa in Fragen der Sexualmoral (Pfabigan 1976, 77–131). Kraus war 1911 katholisch getauft worden, nachdem er die jüdische Glaubensgemeinschaft verlassen hatte. 1923 trat er aus der Römisch-Katholischen Kirche wieder aus und unterstrich damit indirekt, dass er sich den im Österreich seiner Zeit üblichen Etikettierungen zu entziehen verstand. Sein Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, das 1919 als Sonderheft der von Kraus herausgegebenen und von ihm geschriebenen Zeitschrift »Die Fackel« erschien, war eine schonungslose 216

Liberale

Abrechnung mit der verbrecherischen Leichtfertigkeit, mit der das alte Öster­ reich 1914 den Krieg vom Zaun gebrochen und dann mehr als vier Jahre geführt hatte. Damit hatte sich Kraus die Gegnerschaft aller Kräfte zugezogen, die politisch »rechts« waren – des katholisch-konservativen Lagers, das in den verschiedensten Schattierungen einer Habsburg-Nostalgie verpflichtet blieb, und des deutschnationalen Lagers, das sich ja um den Opfermythos Versailles versammelte, um Revanche für eine Niederlage zu nehmen, die vom deutschen Nationalismus nicht wirklich als solche akzeptiert worden war. Immer wieder bezog Kraus in unmittelbar aktuellen Konflikten Stellung. Ab 1924 suchte er die Auseinandersetzung mit Imré Békessy, dem Verleger der Boulevardzeitung »Die Stunde«. In seinem Stück Die Unüberwindlichen (1928) verarbeitete Kraus seine Auseinandersetzungen mit Békessy und Schober (Timms 2005, 368). Kraus war in Zwischenösterreich eine intellektuelle und politische Autorität. Seine öffentlichen Lesungen zogen ein großes Publikum an – und jede Ausgabe »Die Fackel« wurde mit Spannung erwartet. Da er die Herrschenden immer wieder scharf kritisierte und so herausforderte, wurde er bis 1934 als politisch »links« wahrgenommen, denn die Herrschenden der Republik – der »Bürgerblock« – waren ja »rechts«. Als er aber nach der »Machtergreifung« der NSDAP im Deutschen Reich und der Zunahme nationalsozialistischer Aktivitäten in Österreich – einschließlich terroristischer Anschläge – und insbesondere nach dem Putschversuch und dem Bürgerkrieg des Juli 1934 die einzige reale Alternative zum »Anschluss« an das nationalsozialistische Deutschland in der Stützung des autoritären Regimes sah, wurde er der nach dem Februar 1934 im Exil und im Untergrund weiterhin aktiven Sozialdemokratie zum Verräter. Kraus war der Repräsentant der Formel vom »kleineren Übel«  : Die Diktatur Engelbert Dollfuß’ und Kurt Schuschniggs, im Kontext mit der Entwicklungen jenseits der deutsch-österreichischen Grenze gesehen, konnte und sollte in Kraus’ Meinung nicht im Zentrum der politisch-moralischen Empörung der Sozialdemokratie sein  ; Dollfuß und Schuschnigg seien zwar ein politisches Übel, aber im Vergleich mit Hitler von einer signifikant geringeren negativen Qualität. Kraus vermied es letztlich mit Erfolg, sich parteipolitisch punzieren zu lassen. Er blieb ein Heimatloser – mit Bezug auf die nur prinzipiell, für ihn aber nicht real bestehenden Angebote politischer Heimat. Kraus hatte in der »Fackel« auch Beiträge verfasst, die den Nationalsozialismus nicht als irgendeine autoritäre Herrschaftsform wie andere auch beschrieb, sondern als die schlimmstmögliche Diktatur, für die ein Begriff wie »Faschismus« eindeutig zu kurz greife. Diese Beiträge waren Bruchstücke einer größeren Arbeit, die erst 1952 posthum unter dem Titel Die Dritte Walpurgisnacht veröffentlicht werden konnte. Kraus hatte darin Material verwendet, das für alle, die sehen wollten, schon 1933, 1934, 1935 zugänglich war – Material aus 217

Ungenützte Potentiale

der internationalen Presse, Material, das auf Augenzeugenberichten basierte. In wohl keinem anderen literarischen Werk wurde schon in diesen ersten Jahren der Herrschaft Adolf Hitlers klargestellt, dass die später so oft gebrauchte Formel »Das haben wir nicht gewusst« nichts als eine bequeme Ausrede war. Kraus, der mehr als jeder andere in Österreich mit den Mitteln der Publizistik den Nationalsozialismus bekämpft hatte, starb 1936 in Wien. Die direkte, die persönliche Konfrontation mit dem Übelsten aller Übel blieb ihm, dem zornigen Liberalen, so erspart. Zweig, der in den Jahren der Republik – bis 1934 – im »Haus am Berg«, dem Kapuzinerberg in Salzburg lebte, engagierte sich politisch überhaupt nicht und gleichzeitig sehr wohl. Ihm war bewusst, dass ihm fast gegenüber – nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt – in dieser seiner Salzburger Zeit Adolf Hitler seine Residenz bei Berchtesgaden bauen ließ. Zweig, der Kosmopolit, hatte keine Illusionen, welche Gefahren für den Weltfrieden vom politischen Aufstieg dieses Mannes ausgingen. Zweig hatte 1933 unter »strengster Geheimhaltung« ein Redemanuskript Hitlers erworben, offenbar um der Psyche dieses Mannes näherzukommen, um Erklärungen zu finden, was da – zunächst einmal nur in Deutschland – vorging (Matuschek 2014, 275). Österreich kehrte er bald darauf den Rücken, verärgert von den Polizeistaatsmethoden bei der Durchsuchung seines Salzburger Hauses durch die Polizei des autoritären »Ständestaates«. Mit diesem Österreich wollte er nichts mehr zu tun haben. Allerdings hatte er auch mit dem republikanischen Österreich, das auf Zweigs Welt von gestern gefolgt war, wenig zu tun. Schnitzler, Kraus, Zweig – alle waren sie erfolgreiche Schriftsteller, alle hatten sie gesellschaftliche Resonanz. Sie alle waren politisch sensibel und nahmen, auf höchst unterschiedliche Weise, Anteil an der Politik. Aber in der von den Parteien geschaffenen Politischen Kultur fanden sie ihren Platz nicht. Was hatten Schnitzler, Kraus, Zweig gemeinsam, das ihre politische Isolation erklären könnte  ? Sie waren und blieben Juden, und auch wenn sie selbst sich keineswegs immer und vor allem niemals primär als solche sahen  : Für ihre vom Antisemitismus durchtränkte Umwelt blieben sie immer und in erster Linie Juden. Und für solche hatten die Deutschnationalen und die Christlichsozialen keinen Platz. Und der ihnen an sich offenstehende Weg in die Sozialdemokratie war deshalb keine Option, weil sie auf unterschiedliche Weise in dieses Lager ganz einfach nicht passten  : in ihrer individualistischen Sicht der Gesellschaft. Was aber war diese Sicht  ? Wenn man sie zu etikettieren hat  : Die das literarische Werk von Schnitzler, Kraus, Zweig bestimmende Norm ist das unbedingte Festhalten am Grundsatz individueller Freiheit. Und das kann, das muss man als liberal bezeichnen. Aber für Liberale hatte die Politische Kultur 218

Linkskatholiken

der Republik letztlich keinen Raum. Für Liberale nicht – und erst recht nicht für liberale Juden.

9.4 Linkskatholiken Ernst Karl Winter, für den mehr als für jeden anderen der Begriff »Linkskatholik« verwendet, ja geprägt wurde, hatte ein Motto, das Inhalt und Strategie seiner politischen Position verdeutlichte  : »Rechts stehen und links denken«. Rechts stehen – das bedeutete die Herkunft aus dem katholisch-konservativen Lager, das bedeutete auch, sich weiterhin diesem Lager verbunden und zugehörig zu fühlen. Links denken, das war die Übernahme mancher Positionen des sozialistischen Lagers. Beides zusammen – das »Rechts Stehen« und das »Links Denken« – das war die Programmatik eines Brückenbaues zwischen den beiden Lagern, deren Gegnerschaft die Existenz der Republik bedrohte und schließlich auch zerstörte. Ernst Karl Winter war Mitglied des Cartellverbandes (des CV), der Studenten- und Akademikerorganisation, aus der die Christlichsoziale Partei einen großen Teil ihrer politischen Führung rekrutierte. Winter war – durch den CV – mit Seipel ebenso verbunden wie mit Dollfuß und Schuschnigg. Schon im Vorfeld des März 1933, der Ausschaltung des Nationalrates durch die Regierung Dollfuß, hatte sich Winter kritisch gegenüber einer Politik geäußert, die auf den prinzipiellen Bruch mit der Sozialdemokratie hinauslaufen musste (Winter 1969, 9–34). Winter sah diese gegen die Linke gerichtete Politik auch deshalb als gefährlich an, weil er den Hauptgegner Österreichs auf der Rechten wahrnahm  : den Nationalsozialismus. Winter hielt es für einen strategischen Fehler, dass Dollfuß die für den Abwehrkampf gegen Hitler-Deutschland so notwendige Unterstützung der Linken zu opfern bereit war, weil er – Dollfuß – sich in einen Zweifronten-Konflikt sah und die Sozialdemokratie ebenso bekämpfte wie den Nationalsozialismus (Berger 2007, 155–160). Es sprach für die Flexibilität Engelbert Dollfuß’, dass dieser unmittelbar nach dem Februar 1934 und nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Winter zum (dritten) Vizebürgermeister von Wien ernannte, und zwar mit dem dezidierten Auftrag, eine Versöhnung mit der ja vor allem der Sozialdemokratie verbundenen Arbeiterschaft zu versuchen. Schuschnigg ging diese Flexibilität ab – nach Dollfuß’ Tod wurde Winter an den politischen Rand gedrängt, und der Versuch eines Brückenschlages zwischen rechts und links scheiterte (Pelinka 1972, 129–142). Vermutlich hatte Winter scheitern müssen. Da er trotz aller kritischen Wortmel­dungen nicht mit dem Dollfuß-Schuschnigg Regime brach, hatte 219

Ungenützte Potentiale

Abb. 9  : Ernst Karl Winter (ca. 1934), der in seiner politischen Heimat zunehmend Isolierte.

er letztlich keine oder zu wenig Glaubwürdigkeit für die nunmehr im Untergrund als Revolutionäre Sozialisten organisierten Sozialdemokraten und erst recht nicht für die sozialdemokratische Exil-Organisation mit dem Sitz in Brünn. Hätte aber Winter mit dem Regime gebrochen, wäre er in seinem eigenen Lager wohl zum Außenseiter, ja Verräter geworden – und dann hätte er aus diesem Grunde nicht Brückenbauer sein können. Doch in den Tagen und Wochen des Februar 1934 war diese offenkundige Aussichtslosigkeit wohl nicht so eindeutig erkennbar und Winter konnte seine Ernennung zum Vizebürgermeister als Signal der Regierung an die Sozialdemokratie deuten. Der Linkskatholizismus war zu einer zwar nicht wirklich realpolitisch umsetzbaren, sehr wohl aber theoretisch und ideengeschichtlich interessanten Option geworden, als das Aufkommen des Nationalsozialismus den bis 1932 vorherrschenden und alle anderen Konfliktkonfigurationen überschattenden Links-Rechts-Gegensatz entscheidend relativierte. Die Christlichsozialen sahen sich und das Österreich, für das sie standen, nun von zwei Seiten bedroht  : von einer extremen Rechten und – weiterhin – von der Sozialdemokratie. Doll220

Linkskatholiken

fuß entschied sich, gegen beide Bedrohungen zu kämpfen, wobei er auf Grund der geopolitischen Situation – der Schwächung der Demokratien in Europa und des Drucks Mussolinis – die Sozialdemokratie für den leichter und daher zuerst zu besiegenden Gegner hielt. Winter und der Linkskatholizismus gingen von einer anderen Priorität aus  : Nationalsozialismus und Sozialdemokratie waren nicht Gegner von einem analogen Bedrohungspotential. Für den Linkskatholizismus war der Nationalsozialismus der eigentliche Feind. Ähnlich der strategischen Perspektive der ab 1935 die europäische Linke bewegenden Volksfrontparole der Kommunistischen Internationale konnten und sollten die verschiedenen Fraktionen, Bewegungen, Parteien im gesamten politischen Spektrum, von rechts bis links, ihre Gegensätze hintanstellen, um gemeinsam den Nationalsozialismus (oder, in der Diktion der Komintern, den Faschismus) zu bekämpfen. Die von Winter und seiner Spielart des Linkskatholizismus angestrebte gemeinsame Front von links und rechts wurde auch von einem Österreich-Patriotismus gestützt, der sich freilich in dieser Form vor 1938 nur ansatzweise durchzusetzen vermochte  : vom Konzept einer »österreichischen Nation« (Kreissler 1984, 631–647). Dieses Konzept war die konsequente Absage an die deutschnationale Tradition, die ja nach vor wie vor auch die Sozialdemokratie beeinflusste – und auch in Schuschniggs Rhetorik hervortrat, etwa in seiner Rede vom 11. März 1938  : Dass er nicht »deutsches« Blut vergießen wolle und dass er sich mit einem »deutschen« Gruß von Österreich verabschiedete, zeigt das Weiterleben eines vagen Deutschnationalismus auch noch am Vorabend des »Anschlusses« bei denen, die den »Anschluss« hatten verhindern wollen. Gegenüber dieser romantischen, zwar unverbindlich klingenden, aber politisch relevanten Positionierung sollte die Propagierung einer »österreichischen Nation« einen deutlichen Trennungsstrich ziehen – um dann umso wirksamer sich gegen den Nationalsozialismus, der ja von der Selbstverständlichkeit eines »deutschen« Charakters Österreichs ausging, zur Wehr setzen zu können. Doch Winter blieb mit seinem nationalen Österreich-Verständnis im eigenen Lager fast allein – und auf der Linken waren es vor 1938 nur die Kommunisten, die eine österreichisch-nationale Haltung dem herrschenden Deutschnationalismus entgegensetzten  ; nicht aber die Sozialdemokratie. Auch die anderen Gruppierungen innerhalb des Dollfuß-Schuschnigg Regimes, die sich wie Winter in irgendeiner Form als »links« verstanden – die »Soziale Arbeitsgemeinschaft« und der (von der Regierung gesteuerte) Gewerkschaftsbund (Einheitsgewerkschaft) – ließen Winter allein  : Vorrang hatte für sie alle die Loyalität gegenüber der Vaterländischen Front. An eine Öffnung des Systems zu der in den Untergrund gedrängten politisch organisierten Linken, etwa zu 221

Ungenützte Potentiale

den Revolutionären Sozialisten – daran wagte nur Winter zu denken (Pelinka 1972, 95–128). Wie begrenzt die Möglichkeit linkskatholischer Positionen war, wurde auch in der durchaus vorhandenen katholischen Kapitalismus-Kritik deutlich. Leopold Kunschak, katholischer »Arbeiterführer«, hatte sich innerhalb der Christlichsozialen Partei immer wieder gegen ein zu enges Bündnis mit den Heimwehren und deren immer deutlicher hervortretenden faschistischen Kurs ausgesprochen. 1945 sollte er zu einem Gründer der Österreichischen Volkspartei werden, in deren Namen er auch die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 unterzeichnete. Kunschak verband immer wieder seine Kritik an den sozialen Folgen kapitalistischer Profitorientierung mit einem rückblickend vulgär, ja dümmlich anmutenden Antisemitismus (Pelinka 1972, 222– 226). Dieser Antisemitismus, der Ernst Karl Winter fremd blieb, war in den 1930er Jahren auch geeignet, der NSDAP Konkurrenz machen – als es darum ging, von der Erfolglosigkeit der Sozialdemokratie Enttäuschte zu gewinnen. Ernst Karl Winter sah im Nationalsozialismus den essentiellen Gegner, den Gegenpol, dem die Christlichsozialen und dann, ab 1934, der autoritäre Staat entschieden entgegentreten sollten – und deshalb auch Gemeinsamkeiten mit der (illegalen) Linksopposition zu suchen hätten. Aber nicht alle, die sich dem »linken« Flügel des katholisch-konservativen Lagers zurechneten, hatten dieselbe strategische Orientierung. Johann Staud, der aus den Christlichen Gewerkschaften kam und 1934 Präsident des vom Dollfuß-Regime eingesetzten und von der Regierung kontrollierten Gewerkschaftsbundes (»Einheitsgewerkschaft«) war, hielt mit Wissen von Kurt Schuschnigg Kontakt zu Franz von Papen, dem Gesandten Hitlers in Wien, und akzeptierte auch geheime finanzielle Zuwendungen von deutscher, das heißt nationalsozialistischer Seite (Papen 1947, 404 f.  ; Pelinka 1972, 163–169). Staud setzte damit das um, was von Anfang an die Strategie sowohl von Dollfuß als auch von Schuschnigg charakterisiert hatte  : die Strategie eines Zweifrontenkampfes, der sich sowohl gegen »links« als auch gegen den Nationalsozialismus richtete  ; ein Konflikt, in dem der eine Brückenschlag in die eine, der andere in die andere Richtung durchaus versucht werden sollten und konnten. Der von Winter vertretenen unbedingten Vorrangigkeit der Frontstellung gegen den Nationalsozialismus entsprach dieses Balancedenken aber gerade nicht. Und letztlich war die Regierung Schuschnigg, auch unter dem Einfluss geopolitischer Machtkalküle, nicht in der Lage, aus einem solchen lähmenden Zweifrontenkonflikt herauszufinden. Damit war aber der Linkskatholizismus des Ernst Karl Winter gescheitert. Der Linkskatholizismus im weiteren Sinne – nicht der Winters, aber der Kunschaks und der der Christlichen Gewerkschaften – verhedderte sich in 222

Linkskatholiken

seinen Abgrenzungen  : Mit der Sozialdemokratie lagen Kunschak und Co. im Wettstreit um die glaubwürdigere Kapitalismuskritik  ; und gleichzeitig nahmen diese Linkskatholiken in Kauf, auch in einen Wettstreit mit dem Nationalsozialismus zu treten, wer denn die glaubwürdigere Form des Antisemitismus vertrete. Dieser Wettstreit nahm gelegentlich geradezu absurde Züge an  : Als die nationalsozialistische Propaganda auf die weit verbreiteten Flüsterparolen, Adolf Hitler sei jüdischer Herkunft, mit der Gegenparole reagierten, Papst Pius XI. sei eigentlich Jude, reagierte die »Österreichische Arbeiter-Zeitung« – Organ der Christlichen Arbeiterbewegung Österreichs – mit großer Empörung  ; als ob die Behauptung, der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden hätte mit dem Stifter der Kirche die Abstammung aus dem Judentum gemeinsam, die schlimmste Beleidigung wäre, die gegen einen Papst vorgebracht werden könnte (Pelinka 1972, 229). Winter war auch innerhalb der verschiedenen linken Gruppierungen des katholisch-konservativen Lagers weitgehend isoliert. Manche, die innerhalb des Regierungslagers als »Linke« galten – wie etwa Josef Dobretsberger –, schafften es in Regierungsämter. Dobretsberger und Josef Resch waren für jeweils kürzere Phasen Sozialminister in der Regierung Schuschnigg, Hans Rott Staatssekretär im Sozialministerium (Pelinka 1972, 81 f.). Aber sie verstanden sich nicht, wie Winter, als Brückenbauer zum sozialistischen Lager. Dobretsberger, Resch, Rott versuchten der Politik der Regierung Schuschnigg mehr sozialpolitische Akzente zu geben, ohne die Prämissen des autoritären Staates in Frage zu stellen  : den Ausschluss des sozialistischen Lagers als Partei und Organisation aus der Politik. Der Linkskatholizismus scheiterte auch daran, dass er keinen Rückhalt in der Katholischen Kirche hatte. Winter konnte noch so sehr seine Verbundenheit mit der Kirche demonstrieren – in dieser blieb er ebenso isoliert wie er, Vizebürgermeister der Stadt Wien, auch im autoritären Regime isoliert war. Damit hatte er aber der illegalen Sozialdemokratie nichts anzubieten  : Er konnte nicht wirklich im Namen der Kirche und er konnte erst recht nicht im Namen Schuschniggs sprechen. Der Linkskatholizismus scheiterte an den Gräben, die er zu überbrücken versucht hatte – an den Gräben, die Österreich durchzogen, die das Ende der Republik verursacht hatten und einen wirksamen Widerstand gegen den »Anschluss« an das nationalsozialistische Deutschland letztlich verhinderten. Die Kirche und die Sozialdemokratie hatten sich auf voneinander abgegrenzte Grundsatzpositionen festgelegt, auf eine ideologische Gegensätzlichkeit, aus der politisch kaum relevante Außenseiter wie Winter keinen Ausweg zu finden vermochten. Die Sozialdemokratie hatte in ihrem Linzer Programm den grundsätzlich liberalen Gedanken niedergelegt, dass Religion Privatsache 223

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sei – zu respektieren als individuelle Entscheidung, nicht aber als Grundlage eines Programms zur Gestaltung der Gesellschaft. Überdies verwendete dieses Programm Formulierungen, die indirekt auf der Vorstellung von Religion als »Opium des Volkes« beruhten  : eine Sichtweise, die für die Kirche als Provokation wirken musste. So hieß es etwa  : »Der Kapitalismus erhält breite Massen des Volkes im Zustand des Elends, der Unwissenheit, der Unterwürfigkeit. Dieser Zustand bestimmt auch die religiösen Anschauungen dieser Volksmassen« (Berchtold 1967, 258). Innerhalb der Sozialdemokratie gab es nur wenige Stimmen, die für ein offeneres Verhältnis gegenüber der Katholischen Kirche plädierten. Zu dieser Minderheit zählte der »Bund religiöser Sozialisten« (Steger 1987, 264–290). Die Identifizierung der Katholischen Kirche mit einer Partei – der Christlichsozialen –, verstärkt noch durch die führende Rolle eines Priesters (Ignaz Seipel) an der Spitze der Partei, unterstrich einen Gegensatz, der schon vor der Republik bestanden hatte  : den Gegensatz zwischen dem einen Lager, das sich auf die kirchlichen Lehren berief und auch höchst sichtbar die Unterstützung der kirchlichen Hierarchie genoss, und dem anderen Lager, das Religion als sekundäres Produkt einer bürgerlichen Klassenherrschaft sah. In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei kam es wegen der Parteinahme der Kirche (das heißt des Klerus) für die Christlichsoziale Partei zu einer freilich nicht offiziell von der Spitze der Sozialdemokratie propagierten Austrittsbewegung aus der Kirche, und das förderte erst recht die Wahrnehmung, dass zwischen der Katholischen Kirche und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei eine strikte Gegnerschaft bestehe. Dazu kam das von und innerhalb der Sozialdemokratie oft propagandistisch verwendete Feindbild »Pfaffe«, das den Gegensatz weiter verfestigte (Steger 1987, 92–111). Dass Dollfuß in seiner programmatischen Rede vom 11. September 1933, als er den Weg in den autoritären Staat bereits beschritten hatte, sich in die Tradition eines kämpferischen Christentums stellte und damit zumindest indirekt die Gegner seiner Politik als Gegner des Christentums bezeichnete, kam einer weiteren Vertiefung des Grabens zwischen Kirche und Sozialdemokratie gleich (Hanisch 2011, 291). Davor hatte schon 1931 die Enzyklika »Quadragesimo anno« von Papst Pius XI., die ausdrücklich eine Unvereinbarkeit zwischen der katholischen Lehre und jeder (auch der demokratischen) Spielart des Sozialismus erklärte, einer explizit katholischen Aktivität innerhalb der Sozialdemokratie die Grundlage entzogen. Diese Frontstellung reduzierte den Spielraum derer, die in der Sozialdemokratie einen Brückenschlag in Richtung Kirche versuchten. Der »Bund religiöser Sozialisten«, der innerparteilich immer wieder in polemischen Auseinandersetzungen mit der deklariert antikirchlichen Freidenkerbewegung 224

Linkskatholiken

verstrickt war, hatte für die Partei nur geringe Bedeutung  : Die grundsätzliche Absage des Papstes an die Vereinbarkeit von (auch demokratischem) Sozialismus und (katholischem) Christentum machte Versuche, eine relevante Zahl von Wählerinnen und Wählern aus dem katholischen Milieu für die Sozialdemokratie zu gewinnen, praktisch aussichtslos (Steger 1987, 282–284). Ein Brückenschlag von sozialdemokratischer Seite war letztlich ebenso wenig erfolgreich wie Winters analoger Versuch, vom Politischen Katholizismus aus eine tragbare Verbindung zur Sozialdemokratie herzustellen. Die Kirche in Österreich handelte daher durchaus im Einklang mit der päpstlichen Lehre, wenn die einzigen von der Kleruskirche gesetzten Akzente in einer Öffnung zur Sozialdemokratie in Form einer »Sozialistenmission« bestanden (Silberbauer 1966, 326–352). Die Botschaft dieser mit dem Namen Michael Pfliegler verbundenen Mission war klar  : Sozialdemokraten waren Heiden, die zwar – als »verlorene Seelen« – durch Bekehrung gerettet werden sollten, die aber ihre politische Überzeugung aufzugeben hätten. Erst in der Zweiten Republik sollte die Partei deutliche Signale in Richtung des Aktivsegments der Katholischen Kirche senden – und von ähnlichen Signalen seitens der Kirche beantwortet werden (Steger 1982). Solange der Linkskatholizismus beanspruchte, innerhalb der Katholischen Kirche zu agieren, hatte er daher bis 1938 kaum politischen Spielraum. Nach 1945 freilich half er mit, die davor so tief, so »weltanschaulich« wahrgenommenen Differenzen zwischen dem sozialistischen und dem katholisch-konservativen Lager zu relativieren  ; half er mit, die Erfolglosigkeit der (Ersten) demokratischen Republik in die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik zu verwandeln. In der Zweiten Republik legten die katholischen Bischöfe Wert auf einen größeren Abstand zu den Parteien, und zwar zu allen. Das war ja auch schon in der Neugründung der Christlichsozialen Partei als »Österreichische Volkspartei« deutlich – das »Christliche« sollte nicht mehr als trennendes Signal wirken. Die Erfahrungen mit dem Kurs der Bischöfe in den Jahrzehnten davor – die Identifizierung mit dem Dollfuß-Schuschnigg Regime, die Beschwichtigungsversuche gegenüber dem Nationalsozialismus – das alles ließ die »offizielle« Kirche nach 1945 mit einer indirekt selbstkritischen Vorsicht agieren. Diese größere Distanz ermöglichte auch, in Verbindung mit dem Abschied der als Sozialistische Partei Österreichs neu gegründeten Sozialdemokratie von marxistischen Positionen, die Lösung der strittigen Konkordatsfrage  : Das von der Regierung Dollfuß 1933 unterzeichnete Konkordat war ja vom (seit März 1933 »ausgeschalteten« Nationalrat) nicht ratifiziert worden, die Sozialdemokratie beharrte daher darauf, dass das Konkordat deshalb keine Gültigkeit habe. Der Vatikan bestand ebenso darauf, Österreich müsse die Gültigkeit des Konkordats anerkennen. Die neue Beweglichkeit – auch in Verbindung mit der Nach225

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folge Pius XII., der ja persönlich als Kardinal-Staatssekretär das Konkordat unterzeichnet hatte –, erleichterte den Kompromiss in Form einer teilweisen Neuformulierung, die 1961 unterzeichnet wurde und die sozialdemokratischen Positionen entgegenkam. An der Relativierung der Bruchlinie zwischen Sozialdemokratie und Kirche hatte der österreichische Linkskatholizismus zweifellos Anteil. Nach 1945 kam den in der Tradition Winters stehenden Personen wie August Maria Knoll, Friedrich Heer und Wilfried Daim erhöhte Aufmerksamkeit zu  : Anders als dies Winter in den 1930er Jahren möglich gewesen war, formulierten sie nun nicht nur kritische Positionen gegenüber dem Politischen Katholizismus, sondern auch gegenüber der Kirche und stärkten so ihre Glaubwürdigkeit  : Knoll durch eine systematische Analyse der politischen Anpassungsneigung der Kirche, Heer durch eine fundierte Kritik am christlichen Antisemitismus und Daim durch den Versuch, die sich wandelnden Aussagen der Kirche als Teil einer in sich logischen Entwicklungsdynamik zu deuten (Knoll 1962  ; Heer 1967  ; Daim 1967). Der Linkskatholizismus hatte Brücken angedacht und auch zu bauen versucht. Fertig gestellt wurden sie erst nach 1945.

9.5 Jüdinnen und Juden Jüdinnen und Juden waren im alten Österreich zuhause – in den Kronländern des Kaiserreiches und den Regionen des Königreiches Ungarn. Jüdinnen und Juden nahmen Anteil am Kulturleben der Monarchie, studierten und lehrten an den Universitäten, waren unternehmerisch tätig oder als Arbeiter in der phasenweise boomenden Wirtschaft der Jahre vor und unmittelbar nach 1900. Juden wurden zu den Streitkräften der Monarchie eingezogen, kämpften und fielen in der Uniform der K.-u.-k.-Monarchie für »Gott, Kaiser und Vaterland« (Schubert 2008). Politisch stand ihnen der herrschende Antisemitismus entgegen – die in vielen Schattierungen und Abstufungen vorhandenen antijüdischen Vorurteile. Diese reichten von abwertenden Bemerkungen in alltäglichen Gesprächen bis zum offenen Hass, von einer religiös begründeten Abgrenzung zwischen Christen und Juden bis zu einer völkischen Ausgrenzung der Juden als »Rasse«. Der Antisemitismus hatte in Österreich-Ungarn grundsätzlich die gleichen Formen wie im übrigen Europa  : Niemand konnte genau definieren, was die Essenz jüdischer Identität – jenseits des Religionsbekenntnisses – eigentlich sei. Aber zumeist ging »man« davon aus, dass es klar sei, wer Jüdin oder Jude war – und wer nicht. 226

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Mark Twain hatte 1897 Wien besucht und die Gelegenheit benutzt, einer der öffentlichen Sitzungen des Abgeordnetenhauses des Reichsrates beizuwohnen – am Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die Sprachenreform des Ministerpräsidenten Kasimir Badeni. Twains Schilderung von den Tumulten zeigt nicht nur die tiefe, letztlich verhängnisvolle Spaltung zwischen den Nationalitäten – sie macht auch klar, dass quer zu allen Gegensätzen von Parteien und Nationalitäten der Antisemitismus alles überlagerte. Frei nach Twain  : Der österreichische Reichsrat war der Ort, an dem der eine Antisemit den anderen Antisemiten einen Juden nannte (Twain 2012). Das sollte sich in der Republik nicht grundsätzlich ändern. Jüdinnen und Juden waren in der Republik politisch aktiv – aber, mit der Ausnahme des zionistischen Abgeordneten Robert Stricker, der 1919 auf einer jüdisch-nationalen Liste in die Konstituierende Nationalversammlung gewählt worden war und 1920 nicht mehr in den Nationalrat gelangte, waren jüdische Politikerinnen und Politiker auf parlamentarischer Ebene entweder faktisch oder auch bekennend konfessionslos – in den Reihen der Sozialdemokratie  ; oder aber, in geringer Zahl, getaufte Katholikinnen und Katholiken in der Christlichsozialen Partei. Jüdinnen und Juden im engeren Sinn, Jüdinnen und Juden, deren Jüdisch-Sein nicht auf den in jeder nur denkbaren Hinsicht fragwürdigen Kriterien der Herkunft (und damit der »Rasse«) beruhte, sondern auf dem eigenen, offenen Bekenntnis zum Judentum  : Solche waren (mit der Ausnahme Strickers) in der Politik nicht wahrzunehmen. Jüdinnen und Juden waren die wirklich politisch Heimatlosen der Republik. Im Lager des Politischen Katholizismus unerwünscht, im deutschnationalen Lager geradezu der Gegner schlechthin, waren sie im sozialistischen Lager nur dann willkommen, wenn sie ihrer jüdischen Identität abgeschworen hatten. Jüdinnen und Juden im alten Österreich hatten im Kaiser ihren Protektor gegen den »neuen«, den postreligiösen, den »rassischen« Antisemitismus gesehen (Wistrich 1989, 205–237). Der abrupte Übergang von der Monarchie in die Republik war für sie oft eine mentale Herausforderung, wie dies im Verhalten des jüdischen Arztes in Csokors 3. November 1918 zeigt  : Jüdinnen und Juden, falls sie nicht in der Sozialdemokratischen oder in der Kommunistischen Partei engagiert waren, hatten keinen Grund, das Österreich der Republik mit besonders optimistischen Erwartungen zu begrüßen (Berkley 1988, 141–148). Die 1918 in Mitteleuropa etablierte Ordnung war ja der Triumph eines Nationalismus, der Jüdinnen und Juden zumeist von dem ethnisch definierten »eigenen« Volk, der »eigenen« Nation ausschloss. Freilich – dass sie für weite Teile von Politik und Gesellschaft der vorgegebene Sündenbock waren, das war nicht neu, das waren sie ja schon in der auch und wesentlich von Karl Lueger und Georg Schönerer geprägten politischen Atmosphäre der Monarchie gewohnt gewesen. 227

Ungenützte Potentiale

In der Republik wurden immer wieder Vorfälle zu Skandalen aufgebauscht, die entlang der Frontlinie zwischen den Lagern instrumentalisiert werden und dem innenpolitischen Kalten Krieg Munition liefern konnten. Dabei kam dem Antisemitismus eine besondere Bedeutung zu – wie etwa die »Halsmann-Affäre« des Jahres 1928 zeigte  : Der Tod eines jüdischen Zahnarztes aus Lettland in den Tiroler Alpen – offensichtlich ein Unfalltod – wurde zu einer Kampagne gegen den vermeintlichen Mörder stilisiert, den Sohn des Opfers. Die Kampagne wurde mit erkennbar antijüdischen Akzenten geführt. Eine breite öffentliche, vor allem internationale Aktion half schließlich mit, dass der bereits wegen Mordes verurteilte Sohn begnadigt wurde  ; und noch 1943 erinnerte Thomas Mann an die antisemitischen Töne dieser »Affäre«. Es war der Protest Albert Einsteins und einer internationalen Öffentlichkeit, der Österreichs Justiz zur Korrektur eines antisemitischen Fehlurteils zwang – in Österreich fehlte eine Kraft, die Ähnliches hätte bewirken können. Zu sehr waren alle politischen Äußerungen von vornherein einem politischen Lager zugeordnet und daher von den anderen automatisch abgeblockt. Und zu sehr fürchtete jedes Lager, in der Öffentlichkeit als »judenfreundlich« dazustehen (Berkley 1988, 181–187  ; Hofinger 1995, 33). Hatte die Debatte um Halsmann gezeigt, dass ein offenkundig Unschuldiger öffentlich zum Täter gemacht worden war – als »Jude« –, wurden die Morde an Hugo Bettauer und Moritz Schlick von Teilen der öffentlichen Meinung deshalb gerechtfertigt, weil die Opfer »Juden« waren oder als solche galten. Bettauer war jüdischer Herkunft, seine Taufe hatte nichts daran geändert, dass er weiter als Jude gesehen wurde. Er wurde zum publizistischen Sprachrohr für sexuelle Aufklärung, was ihn in den Augen vieler im katholisch-konservativen und im deutschnationalen Lager zu einem Propagandisten der »Unmoral« machte. 1922 publizierte er die Erzählung Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen. Der Roman war eine rückblickend gesehen unglaublich naive Utopie  : Eine Stadt, die offenkundig Wien sein sollte, vertrieb »seine« Juden, nur um – angesichts der erkennbaren Probleme, die durch die Abwesenheit der Juden entstanden waren – diese wieder zurückzuholen. 1925 wurde Bettauer ermordet. Für einen Teil der Medien, die wiederum einen Teil der öffentlichen Meinung ausdrückten, war der Mord Ausdruck eines verständlichen, ja gerechtfertigten Protestes gegen den »pornographischen« (und notabene jüdischen) Publizisten. Der Mörder wurde schuldig gesprochen, aber er verbrachte die nächsten Jahre nicht in einem Zuchthaus, sondern in einer Heilanstalt. Nach zweieinhalb Jahren von dort entlassen, wurde er schließlich Mitglied der SS (Pauley 1992, 102–106). Moritz Schlick, Professor für Philosophie der Universität Wien, im »Wiener Kreis« der Philosophie engagiert, wurde 1936 an der Universität von einem 228

Jüdinnen und Juden

seiner früheren Studenten erschossen. Obwohl Schlick nach den Kriterien der NS-»Rassenlehre« kein Jude war, wurde der Mordtat eine antijüdische Konnotation gegeben  : Der Mörder gab als Motiv an, Schlicks »antimetaphysische« Philosophie hätte ihn in seiner moralischen Überzeugung derart verunsichert, dass er keinen anderen Ausweg gesehen hätte. Er hätte, so die Rechtfertigung des Attentäters, aus ideologisch-moralischem Gründen gehandelt. Die antisemitische, vor allem die nationalsozialistische Polemik erfand nun Schlick als den Prototyp des jüdischen Verderbers der Jugend. Der Mörder wurde zwar verurteilt, aber schon bald nach dem »Anschluss« aus der Haft entlassen  : ein Täter, der einen Juden kreiert hatte  ; ein Mörder, der vom Nationalsozialismus zum Opfer dieses erfundenen Juden gemacht worden war (Taschwer 2015, 161–166). Diese und andere Skandale, andere Vorfälle zeigten, wie sehr der Antisemitismus sich in die Gesellschaft eingenistet, diese intellektuell und moralisch vergiftet hatte. Aus einem Kriminalfall (Halsmann) wurde ein Beleg für die Verwerflichkeit des – jedes – jüdischen Einflusses konstruiert. Der Ermordung von Juden (Bettauer) oder als Juden Etikettierten (Schlick) wurde großes Verständnis entgegengebracht. Alles, was eine Person, die als »jüdisch« punziert werden konnte, tat oder auch nicht tat, wurde zur Bestätigung vorhandener Vorurteile herangezogen, die sich jeder Überprüfung entzogen – weil sie Teil eines irrationalen Glaubens waren. Alles, was man einer als »jüdisch« wahrgenommenen Person antat, konnte in der antijüdischen Atmosphäre mit Verständnis rechnen. Die politisch-weltanschaulichen Lager konnten diesem Gebräu aus Hass nicht entkommen  : Das deutschnationale Lager instrumentierte den Antisemitismus offensiv, das katholisch-konservative Lager ambivalent – und das sozialistische Lager wusste nicht so recht, wie es sich verhalten sollte, zwischen theoretischer Zurückweisung, praktischem Ignorieren und verschämtem Aufgreifen antijüdischer Klischees (Pau­ ley 1992, 131–203). Unter diesen Voraussetzungen konnte die mögliche, die Lagergrenzen überschreitende innere Friedensfunktion des Judentums sich kaum entwickeln. In der Stadt Wien waren zur Zeit der Ersten Republik mehr als 10 Prozent der Bevölkerung jüdisch – nach den Kriterien der Konfession. Jüdinnen und Juden waren in Wien, aber auch in den anderen Ländern der Republik organisiert. Als Israelitische Kultusgemeinden genossen sie staatliche Anerkennung (Beller 1990, Freidenreich 1991). Das wäre eine Basis für eine legitime, erkennbare Artikulation politischer Interessen gewesen. Und diese relevante Minderheit existierte in allen sozioökonomisch und soziokulturell definierten Sektoren der Gesellschaft. Jüdinnen und Juden waren in allen diesen Milieus zuhause, sie hätten zwischen den Interessen der Arbeiterschaft und den Inter229

Ungenützte Potentiale

essen der Unternehmer, zwischen Studierenden und Angestellten und freiberuflich Tätigen eine Klammer bilden können – im Sinne von cross-cutting clea­ vages, von einander überkreuzenden Loyalitäten (Lijphart 1977, 75–81). Doch jüdische Gewerkschaftsfunktionäre blieben für die, die ihnen gegenübersaßen, immer Juden – und jüdische Unternehmer konnten ebenso wenig der jüdischen Identität entkommen, die ihnen (mit ihrem oder gegen ihren eigenen Willen) zugeschrieben wurde. Die einen »bestätigten«, dass die Arbeiterbewegung jüdisch manipuliert war – und die anderen, dass der Kapitalismus nur den Juden nützte. Was immer Jüdinnen und Juden taten, sie waren allen ein Feindbild. In den ersten Jahren der Republik wurden unter den Rahmenbedingungen der galoppierenden Inflation rasch Vermögen gemacht und ebenso rasch wieder verloren. Der Bankier Sigmund Bosel war ein Prototyp in dieser und für diese Zeit des rasanten Aufstiegs und rasanten Falls risikobereiter Personen. Verwickelt in die verschiedenen Bankenkrisen der Republik war er für die Öffentlichkeit nicht einfach ein Spekulant – er war ein »jüdischer« Spekulant. Bosel wurde 1938 Opfer des »Arisierung« genannten Raubzuges und 1942 nach Riga »transportiert« und dort ermordet (Ransmayr 2016, 26–276). Jüdische Interessen wurden erst dann erkennbar artikuliert, als Österreichs Unabhängigkeit auf dem Spiel stand, als das nationalsozialistische Deutschland nach dem Österreich Schuschniggs und der Vaterländischen Front griff. Die Unterstützung, die von der Israelitischen Kultusgemeinde der Regierung Schuschnigg in der Schlussphase des autoritären Regimes offeriert wurde, hatte freilich auch kontraproduktive Züge  : Der NSDAP diente sie als Beweis dafür, dass die Regierung Schuschnigg, dass die – gerade auch in den Augen der nationalsozialistischen Opposition – »klerikal-reaktionäre« Regierung in den Händen des Judentums war, von diesem ferngesteuert wurde. Und in einer vom Judenhass so erfüllten Gesellschaft musste ein solcher Anschein sich negativ auswirken (Pauley 1992, 260–273). Jüdinnen und Juden waren durchaus politisch interessiert und bereit, sich politisch aktiv zu betätigen. Der offene Antisemitismus der Parteien des »Bürgerblocks« verhinderte dies innerhalb der politischen Rechten – außer, die Taufe erlaubte Jüdinnen und Juden den Zugang etwa zur Christlichsozialen Partei. Ein Beispiel dafür war Hildegard Burjan, die sich in dieser Partei engagierte – und gleichzeitig in der Katholischen Kirche, in deren Rahmen sie die Gemeinschaft der »Caritas Socialis« aufbaute, der Caritas-Schwestern, die einer (konfessionell orientierten) Sozialarbeit verpflichtet waren. Burjan hatte zu Ignaz Seipel eine Vertrauensbasis hergestellt, und sie setzte sich nach Seipels Tod für den Bau einer Seipel-Gedächtniskirche in Wien ein, die 1934 zur Seipel-Dollfuß- Gedächtniskirche werden sollte (Weinzierl 1975, 158–169). 230

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Ohne Taufe war jüdisches politisches Engagement nur innerhalb der Linken möglich – oder im Rahmen zionistischer Organisationen. Und das begründete eine sich selbst verstärkende Spirale  : Weil Jüdinnen und Juden in den Reihen der Sozialdemokratie erkennbar waren, wurde die Sozialdemokratie in den Augen der antisemitischen Umwelt zu einer »jüdischen Partei«  ; und weil die Sozialdemokratie das ja nicht sein wollte – sie war ja einem säkularen Verständnis von Politik und Gesellschaft verpflichtet, führte dies zu einer ambivalenten Einstellung  : Jüdinnen und Juden sollten in der Sozialdemokratie nicht als jüdisch wahrgenommen werden – weil sie, im Sinne des säkularen Verständnisses der Partei, sich nicht über ein Religionsbekenntnis definiert sehen und nicht als Angehörige einer jüdischen »Rasse« gelten wollten. Die Sozialdemokratie war in einem Dilemma  : Sie lehnte den Antisemitismus entschieden ab, wusste aber gleichzeitig, dass unter ihren Wählerinnen und Wählern, dass auch unter den Mitgliedern der Partei antisemitische Vorurteile existierten. Die Sozialdemokratie sah sich mit dem Klischee des kapitalistischen Juden konfrontiert – einem Stereotyp, das dem Prototyp des »jüdischen Ausbeuters« entsprach und so die antikapitalistische Befindlichkeit der Sozialdemokratie mit einem zumindest latenten antijüdischen Akzent versah (Spira 1981, 21–34). In der Tradition von Werner Sombart war der öffentliche Diskurs von einer vulgären Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus, von Kapitalismus und Ausbeutung beherrscht oder zumindest beeinflusst – eine Gleichsetzung, die der Nationalsozialismus nicht geschaffen, die dieser aber erfolgreich bei seiner Profilierung als sozialistische Arbeiterpartei genutzt hatte (Sombart 1911). Die Konsequenz war, dass politisch aktive Österreicherinnen und Österreicher ihre jüdische Identität abzustreifen oder in den Hintergrund zu schieben versuchten  ; dass sie unter ihrer Herkunft aus dem Judentum geradezu schmerzlich litten, als wäre dies eine Krankheit – wie Viktor Adler, der 1918, kurz vor seinem Tode, schrieb  : »Ich bin nur darum Protestant geworden, um für meine Kinder die Lostrennung vom Judentum gründlicher und leichter zu machen« (Spira 1981, 36). Mit Ausnahme der zionistischen Gruppierungen, die unter den Jüdinnen und Juden Österreichs eine Minderheit waren, legten die in der Politik tätigen jüdischen Österreicherinnen und Österreicher keinen Wert darauf, ihre jüdische Existenz besonders zu betonen. Im Gegenteil  : Sie neigten dazu, ihre Herkunft aus dem Judentum zu negieren, ja fast zu verstecken. Ein Beispiel dafür bietet Julius Deutsch, der innerhalb der Sozialdemokratie in allen Fragen der Militärpolitik die Richtung bestimmte  : Als Staatssekretär für das Heerwesen (also Verteidigungsminister) in der Provisorischen Staatsregierung Renner und, nach dem Gang der Partei in die Opposition, hatte er 231

Ungenützte Potentiale

als führender Militärexperte seiner Partei wesentlichen Anteil am Aufbau des Republikanischen Schutzbundes. In seinen Erinnerungen schreibt Deutsch, der 1934 aus Österreich flüchten konnte, als General der spanischen Republik zu besonderer internationaler Prominenz aufstieg, nach der Niederlage dieser Republik im US-amerikanischen Exil lebte und dann nach Österreich zurückkehren sollte (ohne je wieder eine führende Position in der Partei zu erlangen), ausführlich über seine Herkunft. Dass diese auch durch die jüdischen Wurzeln seiner Familie bestimmt war und dass dies in Zeiten eines offenen, militanten, aggressiven Antisemitismus ja sein politisches Bewusstsein wesentlich beeinflussen hatte müssen – darüber findet sich in seiner Autobiographie nicht der geringste Hinweis (Deutsch 1960). Deutsch wich damit nicht nur einem entscheidenden Aspekt seines eigenen familiären Hintergrundes und damit seiner politischen Sozialisation aus. Es war ihm offenkundig auch nicht möglich, das Phänomen des Antisemitismus offen zu konfrontieren. Anders als Julius Deutsch versuchte Käthe Leichter nicht, ihre jüdische Herkunft zu verstecken. In ihren (unvollendet gebliebenen) Lebenserinnerun­ gen schreibt sie  : »Die österreichische Kultur wesentlich beeinflussend und von ihr geformt, ist dieses assimilierte und kultivierte Judentum aus der Physiognomie Vorkriegsösterreichs gar nicht wegzudenken, weder durch Schönerers, noch durch Luegers antisemitische Bestrebungen in seiner Position erschüttert. In meinem Elternhaus sollte ich alle seine Elemente finden« (Steiner 1973, 238). Doch Schönerers und Luegers antisemitische Bestrebungen halfen entscheidend mit, dass sich das österreichische Judentum nicht als Faktor der Integration, des Zusammenhaltes, des Konsenses über die Lagergrenzen hinweg entwickeln konnte. Denn der Antisemitismus bewirkte, dass die Herkunft aus dem Judentum von vielen – so von Viktor Adler, so von Hugo Hofmannsthal, so von Karl Kraus – als Makel gesehen wurde, den zu überwinden der Assimilationsschritt der Taufe helfen sollte  ; oder der möglichst verdrängt und vergessen werden sollte – wie bei Julius Deutsch  ; ein Makel, den die Sozialdemokratie, peinlich berührt, zu ignorieren versuchte  ; und den die beiden anderen Lager – das eine mehr, das andere weniger aggressiv – bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrativ hervorhoben. Käthe Leichter schrieb in ihren »Lebenserinnerungen« über ihre jüdische Herkunft  : »[…] obwohl mein Vater für seine Person und unsere Beziehung durchaus liberal und unreligiös war, wurde doch mit äußerster Pietät die strenge Religiosität des Großvaters respektiert […]. Nie durfte er erfahren, dass für uns Kinder Weihnachten gefeiert wurde, aber ich habe als Kind – meine einzige Erinnerung an jüdische Gebräuche – noch bei ihm den ganzen richtigen Sederabend mitgemacht […]« (Steiner 1973, 239). Für Käthe Leichter war das Judentum eine zwar eher bizarre, aber keineswegs a priori negative 232

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Form der Religiosität, aus der sie gleichsam natürlich herausgewachsen war. Das Judentum war eine Erinnerung an die Kindheit. Karl Renner – wie Karl Seitz, der Parteivorsitzende, einer der prominentesten Sozialdemokraten ohne jüdische Verwurzelung – setzte sich in den politischen Debatten indirekt mit dem Antisemitismus auseinander. Er tat dies aber eher mit einem spöttischen Unterton, der vor allem den Christlichsozialen vorhielt, die in der Gesellschaft (und speziell in der christlichsozialen Wählerschaft) vorhandenen antijüdischen Klischees zu verwenden, gegenüber dem »jüdischen« Kapital auf diese Feindbilder aber zu verzichten. Renners Rhetorik verwendete dabei antijüdische Stereotypien, die zumindest rückblickend als antisemitisch gedeutet werden könnten – obwohl er persönlich, wie auch sein Privatleben zeigt, von Antisemitismus frei war. Renners ironische Kritik an den Christlichsozialen, sie würden ihren Antisemitismus gar nicht so ernst nehmen, war – natürlich – als Grundlage für eine Analyse des Antisemitismus völlig ungeeignet (Serloth 2016, 196–204  ; Saage 2016, 37 f.). Jüdinnen und Juden, die in Anspruch nahmen, ihre Identität selbst zu definieren, wurden immer wieder auf ihr Judentum gestoßen – von einer antisemitischen Umwelt, die ihnen nicht erlaubte, ihr Judentum zu verlassen. Arthur Schnitzler hat dieses Dilemma in seinem Roman Der Weg ins Freie die sozialistische Aktivistin Therese Golowski artikulieren lassen  : »[…] mir sind jüdische Bankiers geradeso zuwider wie feudale Großgrundbesitzer und orthodoxe Rabbiner geradeso zuwider wie katholische Pfaffen. Aber wenn sich jemand über mich erhaben fühlte, weil er einer anderen Konfession oder Rasse angehört als ich, und gar im Bewusstsein seiner Übermacht mich diese Erhabenheit fühlen ließe, ich würde so einen Menschen […] also ich weiß nicht, was ich ihm täte« (Schnitzler 1978, 189). Säkulare, politisch links engagierte Jüdinnen und Juden müssen in den Jahren der Republik oft so empfunden haben wie Therese Golowski. Sie müssen in einer Mischung aus Zorn, aus Widerwillen, aus Wut immer wieder wahrgenommen haben, dass sie aus ihrem Judentum nicht freigekommen waren. Und eben deshalb war ihnen zumeist das Thema des Judenhasses so unangenehm, dass sie es nicht ansprechen konnten. Und das sollte sich auch in der Zweiten Republik nicht wesentlich ändern  : Das nicht-zionistische und nicht-religiöse Judentum wollte möglichst wenig auffallen. Die Linke entwickelte das, was Margit Reiter eine »Antisemitismus-Tradition« in der österreichischen Linken nennt. (Reiter 2001, 320–331). Das säkulare Judentum existierte auch nach dem Holocaust weiter – als verschämtes Judentum. Jüdinnen und Juden waren in der Ersten Republik in allen gesellschaftlichen Segmenten vertreten  : Sie waren Ärztinnen und Arbeiter, Gewerkschafter und Unternehmer. Sie lebten in Wien oder Salzburg, sie vertraten im Bereich der 233

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Wirtschafts- und Sozialpolitik sozialistische oder marktwirtschaftliche Ideen, sie artikulierten die Forderung nach einer Gleichbehandlung von Frauen und Männern – oder standen einer solchen gesellschaftspolitischen Orientierung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Jüdinnen und Juden wären, als Subgesellschaft der Republik, durchaus geeignet gewesen, als verbindendes Ferment zwischen links und rechts zu wirken  : in Form einer »cross-cutting cleavage«, einer die Gegensätze überbrückenden, partiellen Gemeinsamkeit. Diese Aufgabe zu erfüllen war ihnen aber verwehrt – weil alles, was Jüdinnen und Juden auch taten, immer unter der alles andere zudeckenden Zuschreibung des »Jüdischen« gesehen wurde. Das Judentum hätte verbinden können. Es war aber von seiner nicht-jüdischen Umwelt dazu verurteilt, trennend zu wirken und schließlich das primäre Opfer einer auf die Spitze getriebenen Fragmentierung zu werden. Der in der Gesellschaft vorhandene, mit wenigen Ausnahmen (wie Irene Harand) kaum systematisch thematisierte Antisemitismus verhinderte, dass das österreichische Judentum sein Potential als Brücke zwischen den Lagern hätte entwickeln können. Jüdinnen und Juden konnten tun und lassen, was sie wollten, sie taten alles als Juden. Wenn Karl Kraus in seinen Die Letzten Tage der Menschheit Kriegsspekulanten mit »typisch jüdischen Zügen« ausstattete oder in Die Unüberwindlichen der nach dem Presseherausgeber Békessy stilisierten Figur ebenfalls solche Züge verlieh – Karl Kraus, der für seine Umwelt immer Jude blieb, kam nicht los von dem Dilemma einer Gesellschaft, die Jüdinnen und Juden nicht erlaubte, ihr Judentum hinter sich zu lassen, und sie gleichzeitig sie so unter Druck setzte, dass sie eben das immer und immer wieder versuchten. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden in Österreich akzeptiert und jedenfalls kaum offensiv konfrontiert wurden, führte dazu, dass alles, was Jüdinnen und Juden taten, immer auch und nur zu oft zuallererst als »typisch jüdisch« gesehen wurde. Ob sie auf der politischen Linken den Kapitalismus bekämpften  ; ob sie sich taufen ließen und in das herrschende christliche Umfeld sich anzupassen versuchten  ; ob sie als Unternehmer wirtschaftliche Dynamik erzeugen und von dieser zu profitieren versuchten  ; ob sie, dem Zionismus verpflichtet, für einen jüdischen Nationalstaat eintraten oder dies als nationalistischen Irrweg ablehnten – sie blieben für ihre Umgebung immer Juden. Und das verhinderte, dass Menschen jüdischer Herkunft – religiös oder nicht – zwischen rechts und links Verbindungen herstellen konnten, die den Sturz in den Abgrund vielleicht hätten verhindern können. Denn was immer sie versucht hätten – sie wären auf jeder Seite, in jedem Lager allein schon deshalb zumindest auf Misstrauen oder auf offene Ablehnung gestoßen, weil sie Juden waren. 234

Jüdinnen und Juden

Jüdische Identität war (und ist) nicht einfach nur selbst definiert. Jude oder Jüdin ist nicht nur, wer sich als solche oder solcher bekennt. Jüdische Identität ist selbstbestimmt, sie ist aber immer auch fremdbestimmt (Sartre 1960). Das freilich unterscheidet jüdische Identität nicht von jeder Form von Identität – nicht von einer österreichischen oder russischen, nicht von einer schottischen oder indischen oder mexikanischen Identität, auch nicht von einer weiblichen oder männlichen, einer katholischen oder muslimischen. Durch eine post-religiöse Qualifizierung wird das Judentum aber zu einer Gemeinschaft, aus der es – wegen der besonders entschiedenen Fremdwahrnehmung – kein Entrinnen gibt. Die Ethnisierung des Judentums – einschließlich der Erfindung einer »jüdischen Rasse« – machte es den Menschen in der Ersten Republik, die als jüdisch galten, letztlich nicht möglich, eine politische Rolle jenseits ihres Judentums zu spielen. In der Christlichsozialen Partei standen sie, auch wenn getauft, weiterhin unter dem »Verdacht«, ihr Judentum nicht wirklich hinter sich gelassen zu haben – ähnlich den Marranen, den getauften Juden auf der Iberischen Halbinsel , die im 15., 16. und 17. Jahrhundert trotz Taufe unter der Inquisition zu leiden hatten. Wenn Jüdinnen und Juden in Österreich – wohl oft auch als Folge des offenen Antisemitismus der politischen Rechten – sich auf Seiten der politischen Linken betätigten, mussten sie damit rechnen, dass sie (der Rechten) als Beleg für den »jüdischen Charakter« der Sozialdemokratie galten  ; und dass die Sozialdemokratie alles tat, um auch nur den Verdacht zu vermeiden, dass in ihren Reihen Juden eine dominierende Rolle spielten. Auf diese Weise blieb das Potential des Judentums, als potentieller Faktor der Mäßigung und eines Brückenschlages über die politisch-weltanschaulichen Gräben hinweg zu wirken, letztlich ungenutzt, musste ungenutzt bleiben. Die de facto einzige Möglichkeit für Jüdinnen und Juden, sich aktiv in die Politik der Republik einzubringen, war entweder sich für das ihnen zugeschriebene, nicht selbst gewählte Jüdische quasi zu entschuldigen und es zu verdrängen – wie das Julius Deutsch machte  ; oder aber im Sinne des Zionismus, des Jüdischen Nationalismus, auf Distanz zu allen (anderen) politischen Bewegungen und Parteien zu gehen, also auf die Segregation zwischen den Juden und den »anderen« zu setzen. Beide Optionen waren die denkmöglich schlechtesten Voraussetzungen für eine Funktion der Verklammerung der Gegensätze. Hugo Hofmannsthal wollte sich in der Verklärung des katholischen Barock von niemandem übertreffen lassen. Die antisemitische Umwelt Österreichs – hatte diese ihn zu einer solchen Distanzierung von seiner jüdischen Herkunft veranlasst  ? Joseph Roth war der Literat der k.-u.-k.-Nostalgie schlechthin – trotz oder wegen seiner jüdischen Wurzeln  ? Karl Kraus sah sich ganz offensichtlich veranlasst, von dem »Verdacht«, er sei trotz seiner Taufe weiterhin Jude, sich durch grobe antijüdische Klischees (wie in den Letzten Tagen der 235

Ungenützte Potentiale

Menschheit) zu befreien – wie belastet fühlte er sich durch ein Judentum, das er nicht loszuwerden vermochte  ? Julius Deutsch wollte als Sozialist die Welt verändern – schämte er sich für seine jüdische Familie, weil diese seinem Anspruch, zuallererst das Proletariat zu repräsentieren, entgegenzustehen schien  ? Und Käthe Leichter, sie sah sich zuallererst als Sozialistin und Aktivistin einer explizit sozialistischen Frauenbewegung – wie hinderlich war für sie, dass sie für den alltäglichen Antisemitismus ihrer Umgebung vor allem Jüdin war und bleiben sollte – bis sie eben deshalb in Ravensbrück ermordet wurde  ? Eine große Zahl der Jüdinnen und Juden sah sich – im Einklang mit den liberalen, säkularen Normen der Republik – nicht als »jüdisch«, weil sie dies in religiösem Sinn nicht waren und eine andere, biologisch-rassische Begrifflichkeit ihnen nicht akzeptabel erschien. Jüdinnen und Juden aus freien Stücken waren die der religiösen jüdischen Orthodoxie Angehörenden – oder die sich einer der Spielarten der national-jüdischen Bewegung des Zionismus angeschlossen hatten. Orthodoxe und Zionisten waren aber unter denen, die für den dominanten Antisemitismus »Juden« waren und blieben, eine Minderheit. Die Mehrheit der als »jüdisch« Etikettierten erfuhr tagtäglich den gesellschaftlichen und politischen Antisemitismus. Aber diese Mehrheit neigte dazu, die antijüdischen Vorurteile mit intellektueller Verachtung und mit Negieren zu beantworten. Und deshalb konfrontierten sie den Antisemitismus auch nicht. Und eben deshalb wollten sie nicht von der Vulgarität des Antisemitismus gezwungen werden, sich in irgendeiner Form als Einheit zu sehen. Jüdinnen und Juden in Österreichs Gesellschaft waren ein bestimmender Faktor der Kultur der Republik. Das Jüdische konnte und durfte in der Politik aber keine Rolle spielen  : Jüdinnen und Juden war es unmöglich, als Jüdinnen und Juden die Politik mitzubestimmen – denn als solche blieben sie immer Außenseiter. Sie waren, mit oder ohne ihre Zustimmung, mit oder ohne ihr Einverständnis, ihrer Selbstbestimmung, als Jüdinnen und Juden fixiert. Sie waren punziert, quasi gettoisiert, jedenfalls immer wieder auf ihr Judentum reduziert. Und so war es ihnen verwehrt, als Jüdinnen und Juden dem Kalten Krieg im Inneren und dessen Fortentwicklung zu einem heißen Krieg entgegenzuarbeiten. Es war ihnen faktisch verboten – und deshalb verbaten sie sich dies selbst.

9.6 Wissenschaft William H. Johnston veröffentlichte 1972 ein Buch, das den Titel The Austrian Mind trug. Der Untertitel machte klar, welchen Zeitraum und welche Facetten des österreichischen Geistes er dabei im Auge hatte  : An Intellectual and Social 236

Wissenschaft

History, 1848–1938 ( Johnston 1972). Johnstons Untersuchung umspannte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Österreich ein Kaiserreich war und Österreichs östliche Universität in Czernowitz, in der Bukowina stand – in dem Teil der österreichischen Reichshälfte der Monarchie, die 1919 Rumänien zugeschlagen wurde, später zur UdSSR und damit zur Ukraine kam  ; und ebenso die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, bis zum »Finis Austriae« – bis zum Ende der nach 1918 eng umgrenzten Republik bzw. des »Bundesstaates Österreich«, wie sich der autoritäre Staat Dollfuß’ und Schuschniggs nannte. Es ging Johnston nicht um eine vom gesellschaftlichen Wandel losgelöste Geistesgeschichte, es ging ihm um das Aufzeigen kausaler Verflechtungen zwischen den beiden Ebenen – der Ebene des Geistes, der Vernunft, der Wissenschaft auf der einen und der Ebene des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Wandels auf der anderen Seite. In diesem Österreich des Geistes wurden Entwicklungen eingeleitet, die weit hinaus über Österreich – das alte und große wie auch das neue, das kleine Österreich – europäische, ja universelle Bedeutung erlangten. In diesem Österreich entwickelte Sigmund Freud eine neue Sicht auf die Psyche, die Seele der Menschen. Eugen Ehrlich formulierte Ansätze zu einer Rechtssoziologie. Carl Menger arbeitete die psychologische Dimension wirtschaftlichen Verhaltens heraus. Ernst Mach und Ludwig Boltzmann verliehen der physikalischen Forschung in Österreich Weltgeltung. Moritz Schlick und der »Wiener Kreis« begannen einen Dialog zwischen Philosophie und Mathematik. Rosa Mayreder zerstörte systematisch und konsequent die herrschenden Vorurteile über die »naturgegebenen« Grenzen weiblicher Intellektualität. Hans Kelsen entwickelte die »Reine Rechtslehre«. Georg Lukács und Karl Mannheim waren, durch ihre Arbeiten in Ungarn, unter den Ersten, die der Wissenssoziologie – der »Soziologie des Wissens« – eine Grundlage gaben. Diese und viele andere waren Vertreterinnen und Vertreter eines Wissenschaftsbetriebes, der dem einer Großmacht entsprach – einer politischen und kulturellen. Und das alles eröffnete 1918 der kleinen Republik die Chance, sich der politischen Enge zum Trotz als wissenschaftliche und kulturelle Großmacht zu fühlen ( John­ ston 2006). Manches, das aus der intellektuellen Lebendigkeit des alten in das neue Österreich hinüberreichte, erwies sich als Obskurantismus – oder grenzte zumindest an einen solchen. Otto Weiningers 1903 in Wien erschienenes Buch Geschlecht und Charakter erregte großes Aufsehen und provozierte heftige Debatten. Heute ist Weiningers Buch wohl als Ausdruck einer frauen- und einer judenfeindlichen Hysterie zu sehen, die nichts über Geschlecht und Charakter, sehr wohl aber viel über den kulturellen und sozialen Rahmen der Zeit aussagt (Le Rider 1985). In Wien lebte vor und nach der Jahrhundertwende Houston 237

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Stewart Chamberlain, dessen Publikationen verständlich machen, in welcher antiintellektuellen Gemengelange das »Weltbild« Adolf Hitlers sich zu entwickeln vermochte. Wien und Österreich waren vor 1914 beides – die soziokulturelle Vorstufe für die dann 1914 beginnende »Generalprobe des Weltuntergangs«, aber auch ein Raum von Intellektualität, in dem viele der wichtigsten »Denkschulen« der Wissenschaft ihren Anfang nahmen. Die Universitäten der Republik hatten die wichtigsten der den wissenschaftlichen Fortschritt belebenden Ansätze von der Monarchie geerbt – und auch deren Widersprüche. Am Beispiel des Gegensatzes zwischen Othmar Spann, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der Reinen Rechtslehre kann dies verdeutlicht werden  : Kelsen hatte die Jurisprudenz konsequent »entideologisiert«. Sein Zugang war, das von den verschiedenen Interessen geprägte Recht von diesen Interessen zu emanzipieren. Kelsen sah natürlich, dass Recht das Produkt von Politik war und ist und sein wird. Aber eben deshalb sollte die Rechtswissenschaft sich bei der Interpretation des Rechts von diesen zu Ideologien geronnenen Interessen befreien. Die »Österreichische Schule der Nationalökonomie« verstand Wirtschaftswissenschaften als eine Summe von miteinander logisch verbundenen, im Kern aber immer nachvollziehbaren Aussagen  : Nationalökonomie als eine empirische, nicht als eine normative Wissenschaft. Othmar Spann hatte einen völlig anderen Zugang als Kelsen und die »Österreichische Schule«. In Der wahre Staat vermittelt er eine Sicht auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, die aus katechismusartig vorgetragenen Sätzen besteht – ohne den Anspruch oder die Chance, diese Sätze anhand der Wirklichkeit auch zu überprüfen. Er stellte etwa dem von ihm vertretenen Universalismus den Individualismus gegenüber, ohne durch irgendeinen Verweis auf Erfahrungen die Begriffe zu klären. Er ging von der Überlegenheit des Universalismus aus – und vom »Grundirrtum« des Individualismus, und die Bewertungen des einen wie auch des anderen sind a priori klar, ohne dass Spann Bezüge zu irgendwelchen historischen oder aktuellen Erfahrungen gemacht hätte (Spann 2013, 29–71). Dass Kelsens Reine Rechtslehre auch nicht auf Erfahrungen rekurrierte, verband den Zugang beider. Aber Kelsens Intention war, die Rechtswissenschaft zu entschlacken, frei zu machen von jeder Vermengung mit Ideologien jedweder Art. Recht und Wirklichkeit sind, von Kelsen so ausdrücklich gewollt, zwei voneinander zu trennende Ebenen. Dort, wo Kelsen sich der Wirklichkeit stellte – etwa in Sozialismus und Staat (Kelsen 1965), dort argumentierte er explizit nicht auf den Boden seiner Rechtslehre, sondern als Analytiker von Staat und Politik, der sich auch auf die Erfahrungen gesellschaftlicher Realität bezieht. 238

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Spann hingegen schreibt über Staat und Politik ausgehend von axiomatisch vorgebrachten Feststellungen, von Behauptungen, die er von vornherein einer Überprüfbarkeit entzieht. Spanns Werk ist ein quasi-theologischer Kanon, dessen hoch ideologische, parteiliche Aussagen – auch gegen die Demokratie – politische Aufrufe sind, nicht aber wissenschaftliche Aussagen im Sinne einer interpersonellen Überprüfbarkeit anhand von Erfahrungswissen. Spann zwingt, sich entweder für ihn oder gegen ihn zu entscheiden. Die Österreichische Schule der Nationalökonomie hingegen ladet geradezu zum Streit über die Bedeutung empirisch gewonnener Erfahrungswerte ein, zur Revidierung von Aussagen anhand der Wirklichkeit. Spann hingegen verkündet prophetisch Wahrheiten, deren Wahrheitscharakter er einfach behauptet. Kelsen ist, von seinem Anspruch her, frei von Ideologie. Spann ist nur Ideologie. Gerade im Verständnis von Demokratie wird deutlich, wohin dies führt  : Schumpeter, aus der Tradition der Österreichischen Schule kommend, definiert Demokratie als Wettbewerb um Wählerstimmen, als ein Mehrparteiensystem, das die Grundregeln liberaler Marktwirtschaft auf die Politik überträgt (Schumpeter 1950). Das kann man kritisieren – wie es, partiell, Robert Dahl getan hat (Dahl 1989). Das kann man überprüfen – etwa ob und wie der politische Wettbewerb in einem bestimmten Land verzerrt ist. Spann aber lehnt die Demokratie mit folgender Begründung ab  : »Die meisten Aussichten, Führer zu werden, hat, wer auf die niederen Instinkte der Masse spekuliert.« Und ausnahmsweise macht sich Spann die Mühe, hier auf Erfahrungen zu verweisen. Die Erfahrungen, die er anführt, sind aber nicht Abraham Lincoln oder Aristide Briand oder David Lloyd George, auch nicht die eidgenössische Demokratie der Schweiz, sondern Perikles und die Gracchen, Kleon und der »Budapester Bolschewismus«  : höchst vage Bezüge auf eine Jahrtausende zurückliegende Vergangenheit und eine reflexartige, nicht näher ausgeführte Polemik auf etwas, was gerade (1921) aktuell erschien (Spann 2013, 115 f.). Kelsen wurde 1930 an die Universität Köln berufen – die Universität Wien und die Republik Österreich konnten oder wollten ihn nicht halten. 1933 verlor er als »Jude« seine Professur in Köln, und über Zwischenstationen in Genf und Prag kam er nach Berkeley, wo er an der University of California wirkte. Schumpeter wurde 1925 an die Universität Bonn und 1932 an die Harvard University berufen. Spann blieb an der Universität Wien bis 1938. Österreichs Wissenschaftsbetrieb, Österreichs Wissenschaftspolitik hatte sich entschieden – für Spann, gegen Kelsen und Schumpeter. Dass Spann blieb – und Schumpeter wie auch Kelsen gingen –, das war noch nicht Ausdruck bewusster Säuberungen, die sich wenige Jahre später gegen politisch (oder »rassisch«) Missliebige an Österreichs Universitäten richteten. Das war Ausdruck abnehmender, politisch gewollter oder auch nicht 239

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gewollter Fähigkeit, den »Austrian Mind« so glanzvoll zu erhalten wie er vor 1914 gewesen war. Manchmal ausgesprochen, manchmal auch nicht – aber immer fühlbar spielte der Antisemitismus eine Rolle wie schon vor 1914 und so erst recht auch nach 1918. An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, der Fakultät, an der Othmar Spann eine (wenn nicht die) politisch zentrale Figur war, wurde nach 1918 kein ordentlicher Professor jüdischer Herkunft berufen – obwohl gerade in den Wirtschaftswissenschaften die Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (darunter auch »Juden«) international in dieser Zeit höchste Anerkennung fanden. Sie verließen, wie Eric Voegelin festhielt, »Wien, bevor Hitler kam« (Taschwer 2015, 128). Österreichische Universitäten waren in der Republik immer wieder Stätten gewaltsamer antijüdischer Ausschreitungen. Die Hohen Schulen, die beanspruchten, Stätten der Vernunft zu sein, waren nur zu oft Stätten des Ungeistes. Und dieser hatte keinerlei Scheu, sich als solcher erkennen zu geben. 1932 verfasste die »Deutsche Studentenschaft« der Universität Wien – eine Art Vorläuferorganisation der 1945 ins Leben gerufenen Österreichischen Hochschülerschaft – ein offenes Schreiben an den zum neuen Dekan der Medizinischen Fakultät gewählten Ernst Peter Pick  : »Die Deutsche Studentenschaft nimmt mit Entrüstung zur Kenntnis, dass Sie wider Erwarten Ihre Wahl zum Dekan der medizinischen Fakultät angenommen haben. Nach wie vor steht die Deutsche Studentenschaft auf ihrem 1923 kundgetanenen Standpunkt, dass Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit akademische Würdestellen nicht bekleiden dürfen.« Unterzeichnet wurde dieser Brief von drei studentischen Funktionären – unter ihnen Josef Klaus, Mitglied der CV-Verbindung Rudolfina. Klaus sollte in der Zweiten Republik Obmann der Österreichischen Volkspartei und Bundeskanzler werden (Taschwer 2015, 153). Wie wenig Österreichs Universitätslandschaft geeignet war, einen Beitrag zur Überwindung der politisch-weltanschaulichen Gräben zu leisten, zeigte auch die Auseinandersetzung um die Erkenntnisse und den Tod des Biologen Paul Kammerer. Dieser vertrat – gestützt auf seine Forschungsergebnisse – eine Richtung, die der herrschenden Interpretation der Erblehre widersprach. Kammerer, der sich selbst als parteiloser Sozialist sah, hatte bereits eine Professur in Moskau angenommen. Als begründete Zweifel an der Validität seiner Forschungsergebnisse aufkamen, beging er 1926 in Niederösterreich – noch vor seiner Übersiedlung nach Moskau – Selbstmord. Jahrzehnte später griff Arthur Koestler die Debatten um Kammerer in seinem Buch Der Krötenküsser auf. In der heftigen Auseinandersetzung über Kammerers Forschung wurde immer wieder darauf verwiesen, dass er »Halbjude« sei. Kammerer hatte gegen die Anfeindungen eines antijüdischen Netzwerkes an der Universität Wien zu 240

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kämpfen. In der Republik konnten auch wissenschaftliche Diskurse sich vom herrschenden Antisemitismus nicht freimachen (Taschwer 2016, 280-283). Die »Vertreibung der Vernunft«, eben des »Austrian Mind«, hatte schon – mehr indirekt als direkt – vor 1938 eingesetzt, bevor sie dann ihren Höhepunkt erreichen sollte. Die Republik war schon davor dabei, ihr intellektuelles Kapital zu verspielen  : nicht immer intendiert, aber nicht zufällig. Und damit ging nicht nur viel von dem verloren, was Österreichs Anspruch, »kulturelle Großmacht« zu sein, ausgemacht hätte. Es wurde auch viel Fähigkeit zur Befriedung der Widersprüche aufgegeben, an denen die Republik zerbrechen sollte. Die in Etappen erfolgte Emigration, Vertreibung, Flucht charakterisierte auch das Verschwinden des »Wiener Kreises« – jenes Zirkels von Philosophen, dem die Philosophische Fakultät der Universität Wien ihren besonderen Ruf verdankte. Neben Moritz Schlick, der zumeist für die Organisation der wöchentlichen Zusammenkünfte verantwortlich war, gehörten dieser informellen Gruppe unter anderem Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Otto Neurarth, Olga Hahn-Neurath, Kurt Gödel und Carl Menger an. Die Zusammensetzung sprengte die Grenzen zwischen den im traditionellen Wissenschaftsbetrieb etablierten Fächern. Ökonomen und Mathematiker diskutierten mit denen, die Philosophen im traditionellen Sinn waren. Politisch standen einige im Lager der Linken – wie Otto Neurath und Rudolf Carnap –, andere (die meisten) ließen sich nicht einem Lager zuordnen. Das zeigte die Fähigkeit des »Wiener Kreises« zur Grenzüberschreitung in verschiedener Hinsicht (Dahms 2004). Den an der Universität herrschenden antisemitischen, konservativen oder reaktionären Eliten war der Kreis aber eben deshalb verdächtig  : Da arbeiteten Nicht-Juden und Juden, Sozialdemokraten und Liberale und politisch nicht Einzuordnende zusammen. Mitgliedern des Wiener Kreises wurde auf informellen Rundschreiben der Vorwurf gemacht, an »Wühlereien der judäo-marxistischen Hochschullehrer« beteiligt zu sein. In polemischen Attacken auf den »Wiener Kreis« wurde dessen Proponenten vorgehalten, einem »rein formalistisch-rechnerischen Denken« verpflichtet zu sein und eine »starke Analogie zur sinnlosen Verabsolutierung von Organisationsformen im politischen Bolschewismus« zu zeigen (Dahms 2004, 73). Da war er, der Vorwurf  : Was der herrschenden christlichen und deutschnationalen Voreingenommenheit nicht entsprach, das musste »bolschewistisch« sein. In die Richtung wiesen ja dann manche Kommentare beim Prozess gegen den Mörder von Moritz Schlick, dem »zersetzender jüdischer Positivismus« vorgeworfen wurde. Noch vor dem Februar 1934 waren einige Mitglieder des Kreises einem Ruf ins Ausland gefolgt  : Carnap ging in die Tschechoslowakei, Feigl in die USA. Der Bürgerkrieg des Februar 1934 und das Verbot der Sozialdemokratischen 241

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Partei veranlassten Neurath, ebenfalls in die Tschechoslowakei zu emigrieren. Moritz Schlick betonte gegenüber den Behörden, um einen Verdacht des autoritären Regimes erst gar nicht aufkommen zu lassen, den absolut »unpolitischen« Charakter des Kreises. Schlick musste dennoch in den Monaten vor seinem Tod erleben, dass offenkundig nicht zufällig die Verträge wissenschaftlicher Mitarbeiter jüdischer Herkunft von der Universitätsverwaltung nicht verlängert wurden (Dahms 2004, 73–83). Der »Wiener Kreis« wäre durch seine innovative Orientierung und durch das Überschreiten traditioneller wissenschaftlicher Fachgrenzen besonders geeignet gewesen, eine Basis für ein »Gespräch der Feinde« zu bieten. Das hätte auch für die Soziologie gegolten, die es freilich als etablierte Disziplin und Studienrichtung noch gar nicht gab. Es gab aber an den Universitäten »soziologieorientierte« Angebote – also auf Forschung gestützte Lehre, die in Kombination mit den etablierten Studienrichtungen existierten. Für das Studienjahr 1919/20 schienen im Lehrangebot der Universität Wien unter anderen die folgenden Lehrenden in dieser Soziologie- affinen Kategorie auf  : Carl Grünberg und Max Adler, beide der Sozialdemokratie verbunden, und Othmar Spann. Max Adler bot eine Lehrveranstaltung über »Einführung in den Sozialismus« an, Carl Grünberg lehrte »Über Sozialismus (Entwicklungsgeschichte und Theorien der Bewegung)«. Spann hatte eine Lehrveranstaltung über »Abbruch und Neubau der Gesellschaft (zugleich eine Darstellung und Kritik des Sozialismus)« im Angebot (Amann 2004, 218). Diese Angebote akademischer Lehre waren freilich nicht Ausdruck einer intellektuellen, einer wissenschaftlichen Kontroverse. Es waren auch offenkundig nicht Angebote der einen an die andere wissenschaftlich-politische Seite, in ein Gespräch einzutreten. Die an den Universitäten noch deutlicher als in der Politik dominierenden Kräfte eines mehr oder weniger offenen, mehr katholisch oder mehr deutschnational gefärbten Antisemitismus hatten ja von sich aus kein Interesse, von ihrer Position der Stärke in einen Diskurs mit den Schwächeren einzutreten – den politisch Schwächeren, die ja auch als unbedingte Feinde punziert waren. Die soziologischen Lehrangebote waren Signale von feindlicher Konkurrenz der voneinander isolierten Segmente  : Spann repräsentierte nicht nur den Anti-Sozialismus, sondern auch den antidemokratischen Antiliberalismus der katholisch-deutschnationalen Hegemonie, Grünberg und Adler die Antithesen zu dieser Hegemonie. Ein Dialog, der – neben dem Trennenden – auch Gemeinsames herausgearbeitet hätte, war nicht zu erwarten. In Max Adlers Biographie scheint Spann auch nicht auf – so ferne blieben sich die an derselben Universität zur selben Zeit zum selben Thema Lehrenden (Pfabigan 1982). Das »Gespräch der Feinde« fand nicht statt. 242

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Die Folgen des März 1938 beschleunigten eine Emigration, die nun vor allem eine Flucht ins Exil war. Die Universitäten wurden »judenfrei« gemacht. Dem autoritär reglementierten Wissenschaftsbetrieb der Jahre davor folgte nun der totalitäre des NS-Staates. Wer konnte, setzte seine (ihre) wissenschaftliche Karriere anderswo fort  : Karl Popper zunächst in Neuseeland, dann im Vereinigten Königreich – wo auch Ludwig Wittgenstein eine akademische Wirkungsstätte gefunden hatte. Die in Wien geborene Physikerin Lise Meitner hatte 1933 ihre Professur an der Universität Berlin als »Jüdin« verloren, sie konnte sich aber nach Schweden retten, wo sie in Stockholm am Nobel-Institut forschte. Sie war an der Entdeckung der Kernspaltung wesentlich beteiligt. Erwin Schrödinger, 1933 Träger des Nobelpreises für Physik, Professor an der Universität Graz, konnte – da er nach den Kriterien des NS-Staates kein Jude war – seine Stelle zunächst behalten, wurde aber im August 1938 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« entlassen, emigrierte nach Irland und lehrte am Trinity College in Dublin. Für einige, die Österreich verließen, zum Verlassen gedrängt oder dazu gezwungen wurden, hatte dies auch positive Ergebnisse  : Ihre wissenschaftliche Karriere nahm außerhalb Österreichs einen Aufschwung. Friedrich Stadler zählt die Namen derer auf, für die dies »die Chance des Lebens« war, darunter Peter Drucker, Ernest Dichter, Charlotte Bühler, Karl Popper, Anna Freud, Ernst Gombrich – und die nur als Beispiele (Stadler 2004, Band I, 22). An diesen Beispielen wird deutlich, was Österreichs Wissenschaft verloren hat – und zwar dauerhaft, weil ja nur sehr wenige dieser Vertriebenen 1945 und danach wieder nach Österreich zurückkommen sollten. Aber es waren insgesamt nicht nur Verluste für Österreichs Wissenschaft, es waren auch Verluste an gesellschaftspolitischer Kapazität  ; an der Fähigkeit der Wissenschaft, als Stimme der Vernunft dem entgegenzutreten, was im Kommen war – und dann eintraf  : 1934, 1938. Nach 1945 gab es keine systematischen Versuche, die »vertriebene Vernunft« zurückzuholen. Dem stand ja vor allem das Interesse derer entgegen, die ihre 1938 und danach erworbenen oder befestigten Positionen gefährdet sahen. Freilich  : Viel zu bieten hatten die österreichischen Universitäten in den ersten Jahren nach der Befreiung den Vertriebenen ja nicht  ; vor allem denen nicht, die auf Grund ihrer wissenschaftlichen Qualitäten in der weiten Welt erfolgreich waren. Dennoch  : »Rückkehr unerwünscht« war eine Botschaft, die in ihrer Mehrdeutigkeit bei den Betroffenen höchst bittere Gefühle auslösen musste (Fleck 2004). Manfried Welan schreibt in seiner Analyse der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien in den späten 1950er Jahren von dem Nebeneinander von Professoren, die früher der NSDAP angehört hatten – und nach einigen Jahren der Unterbrechung ihrer universi243

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tären Tätigkeit wieder in ihr Amt eingesetzt worden waren  ; und Professoren, die in verschiedenen Schattierungen Gegner des NS-Regimes gewesen waren. Diese Situation wurde in der Nachkriegszeit nicht reflektiert, jedenfalls nicht in einer für die Studierenden wahrnehmbaren Form. Und Welan erwähnt auch den Lehrer, der »nicht da war«  : Hans Kelsen, den die Universität Wien und die Republik 1930 hatten ziehen lassen (Welan 2014, 55–96). Der »Austrian Mind«, der österreichische Geist erhielt keine Chance, zwischen 1918 und 1934 eine den inneren Frieden fördernde Rolle zu entwickeln. Am Ende wurde der Geist vertrieben. In der Zweiten Republik war er nur noch in Spurenelementen vorhanden. Es brauchte mehr als eine Generation, bis Maria Jahoda, Rosa Mayreder, Lise Meitner und die vielen anderen »wiederentdeckt« wurden. Aber dass Hans Kelsen, dass sein Verständnis von Demokratie von viel größerer Bedeutung für die nach 1945 sich stabilisierende Republik war als Othmar Spanns antidemokratische Positionen – das war schon früh eine allgemeine Erkenntnis. Der Zweiten Republik sollte schon bald bewusst werden, dass es zum Nachteil der Demokratie war, Hans Kelsen und Joseph Schumpeter ziehen zu lassen – und Othmar Spann zu halten. Und es war nicht nur zum unmittelbaren Nachteil des »Austrian Mind«, es war auch und vor allem zum Nachteil der Republik.

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10 Zu groß für Österreich  ?

V

iktor Reimann bezeichnete in einer Doppelbiographie Ignaz Seipel und Otto Bauer als »zu groß für Österreich« (Reimann 1968). Diese Bewertung ist absurd, und sie ist zugleich auch gut begründet. Sie ist absurd, denn das Scheitern der Republik war auch das Scheitern der beiden Schlüsselfiguren dieser Republik. Würde man personalisieren – was sicherlich eine Vereinfachung wäre  : Das Scheitern der Republik war in einem wesentlichen Umfang verursacht von Seipel und Bauer, die in ihrer politischen Professionalität kläglich versagt haben. Dass Bauer und Seipel einander in einer Art von intellektuellem Respekt gegenüberstanden – wie Karl Renner berichtet (Renner 1953, 80) und wie Bauers Nachruf auf den toten Seipel bestätigt (Reimann 1968, 96– 101) –, ändert nichts daran, dass jedem der beiden entscheidende Verantwortung für das Zerbrechen des Verfassungskonsenses, die programmatisch-ideologische Polarisierung und damit für das Ende der Republik zukommt. Vom Interessenstandpunkt der demokratischen Republik aus gesehen  : Beide haben versagt. Aber haben sie versagt, weil ihre Ansprüche, ihre Talente, ihre Erwartungen »zu groß« waren  ? Beide dachten nur sekundär in den Kategorien der Republik. Bauer war ein großer »Illusionist« (Hanisch 2011), der von seinen Konzepten einer sozialistischen Revolution ausging, in der dem klein gewordenen Österreich nur eine sekundäre Rolle zufiel. Und Seipel war der »scholastische Politikos«, für den die Republik nur ein Zwischenspiel mit Ablaufdatum war (Winter 1966, 25–58). Beide versuchten, ihr politisches Handeln in etwas Größeres einzuordnen  : Bauer in die Weltrevolution oder zumindest – wenn die ganze Welt noch nicht in Griffweite lag – in die »gesamtdeutsche« Revolution  ; Seipel in eine vom scholastischen Naturrecht bestimmte Ordnung, deren konkrete Gestaltung von der sich wandelnden Lehrmeinung seiner Kirche abhing. Doch es wäre natürlich allzu einfach, das Versagen der Republik an zwei Personen und deren Visionen festzumachen. Bauer und Seipel waren ja nicht zufällig im Namen ihrer Parteien Schlüsselfiguren der Republik und damit verantwortlich für deren Scheitern. Sie waren beide repräsentativ für die Schöpfer der Republik – für ihre jeweiligen Lager. Und diese kamen, wie Seipel und Bauer auch, aus der Welt großer Reiche  : aus der Welt des Kaiserreiches, gegenüber der die Welt der Republik sehr klein aussehen musste  ; und aus der Welt zweier anderer Reiche, die – in die Zukunft projiziert – die Republik eigentlich überflüssig machen mussten  : die Welt einer erfolgreichen internationalen Revolution der Arbeiterklasse  ; und die Welt eines der päpstlichen Lehre ver245

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pflichteten, erneuerten christlichen Abendlandes. Die aus der Vergangenheit kommenden Erfahrungen wie auch die in die Zukunft weisenden Träume ließen wenig Platz für die ach so kleine, ach so unbedeutende Republik. Für einen Staat von der Größe der 1918 erklärten, 1919 territorial begrenzten und 1920 politisch definierten Republik waren die politisch-weltanschaulichen Lager von einer Prägekraft, die nicht den Dimensionen eines Staats entsprach, dessen Bevölkerung etwa sechs Millionen betrug. Die Parteien, die politisch-weltanschauliche Lager repräsentierten und für diese handelten, waren für diese Republik zu groß, zu intensiv, zu sehr alle Facetten des gesellschaftlichen Alltags bestimmend. Und innerhalb dieser Lager dachten und agierten Personen, die Schwierigkeiten damit hatten, die Begrenztheit, die Kleinheit der Republik zu internalisieren. Die Republik Österreich war ja für keines dieser Lager ein Wunschkind – sie war eine auferlegte Verpflichtung, der man sich unterzog, hoffend, dass man aus der Enge dieser Pflichtübung bald in lichtere Höhen wahrer Größe vorstoßen könne. Dass diese Visionen, diese Bilder von dem, was die Höhen ausmachen sollte, die Lager zu unversöhnlichen Feinden machen mussten, das war die eigentliche, von Beginn an schon erkennbare Tragik der Republik. Die Sozialdemokratie hatte ein faktisches Monopol auf die Linke. Das sozialistische Lager gestaltete und kontrollierte eine Subgesellschaft, eine Gegenkultur – als Antithese zu der als hegemonial empfundenen »bürgerlichen« Gesellschaftsordnung. Die Sozialdemokratie der Republik dominierte alles, was sich als »links« – politisch, kulturell – definieren ließ. Damit unterschied sich die österreichische Sozialdemokratie von den Sozialdemokratischen Parteien in den meisten anderen europäischen Demokratien  : In Deutschland, Italien, Frankreich waren sozialdemokratische Parteien in einer intensiven Konkurrenzsituation mit kommunistischen Parteien. Die österreichische Sozialdemokratie bezahlte einen hohen Preis für das Verhindern einer starken Kommunistischen Partei  : Der Preis bestand vor allem in einem sozialdemokratischen Verbalradikalismus. Der verhinderte zwar ein Stärkerwerden der Kommunistischen Partei, verschreckte aber die Parteien der Rechten. Der Verbalradikalismus der Sozialdemokratie reduzierte deren Kompromissfähigkeit in Richtung Mitte. Die Sozialdemokratie musste ihren linken Flügel (vertreten etwa von Max Adler) ruhig stellen, um die KPÖ klein zu halten. Die im Linzer Programm 1926 aufgenommene Formel von der »Diktatur des Proletariats« war zwar so in Wenn-und-Aber Bedingungen eingekleidet, dass daraus keineswegs eine Absage an die parlamentarische Demokratie und die Verfassung der Republik abgeleitet werden konnte. Aber allein die Formel von der Diktatur der Arbeiterklasse, die direkt dem Marxismus-Leninismus entliehen schien, bestärkte die Meinung des Bürgertums 246

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und der Bauern und der Katholischen Kirche, dass die österreichischen Sozialdemokraten letztlich doch »Bolschewiken« wären. Die Übernahme von Begriffshülsen, die aus den Diskursen marxistischer Tradition kamen, zeigte, wie sehr das Österreich der Republik für die sich international verstehende Sozialdemokratie nur ein regio­naler Schauplatz war – Österreich war zu klein, die Sozialdemokratie war für dieses Österreich zu groß. Im »Linzer Programm« von 1926 war in weiten Strecken von einer Terminologie geprägt, die für alle, die sich nicht als Marxisten verstanden, befremdlich, ja abschreckend sein musste. So hieß es, im Stil eines Einführungsseminars in den Marxismus  : »Der Kampf um die Klasseninteressen der Arbeiterklasse und der um die Arbeiterklasse gescharten Volksklassen stößt die Sozialdemokratie auf die Schranken der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie muss sie sprengen.« Das klang nach Revolution. Dieses »Sprengen« der bestehenden Ordnung wurde aber von der Partei quasi delegiert – an die bestehende Ordnung selbst, die an ihren Widersprüchen zugrunde gehen würde  : »Die Voraussetzungen für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung werden durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst geschaffen« (Berchtold 1967, 260). Ganz abgesehen davon, dass dies eine in revolutionäre Sprache gekleidete Aufforderung zum Abwarten, zu einer Politik des Nichtstuns, des »Attentismus« war  : Das alles hätte genauso im Programm einer marxistischen Partei in einem x-beliebigen anderen europäischen Staat stehen können. Das war eine Schablone marxistischer Pflichtrhetorik. Wo war der konkrete Bezug auf die reale Situation in Österreich  ? Da gibt der erste Satz des Programms einen gewissen Hinweis. Die Partei definiert sich selbst  : »Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, gestützt auf die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus […]« (Berchtold 1967, 247). Die österreichische Sozialdemokratie hatte auch 1926 den Namen »Österreich« noch nicht akzeptiert. Und folgerichtig hieß es im Programm auch  : »Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich als notwendigen Abschluss der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluss an die Deutsche Republik« (Berchtold 1967, 264). Dieser Passus, der im Oktober 1933 aus dem Programm gestrichen wurde, zeigt das Illusionäre der sozialdemokratischen Perspektive  : Das Produkt der militärischen Niederlage des alten Österreich und des Diktats der Siegermächte wurde »Revolution« genannt, eine Revolution, die es zu vollenden galt – durch das Aufgehen der Republik Österreich in etwas Größerem. Die Christlichsozialen sahen sich einer global agierenden Kirche verpflichtet. Es ging ihnen, als Partei, nicht nur um Wahlerfolge  ; es ging ihnen auch und vor 247

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allem um die Glaubwürdigkeit ihres Anspruches, die Lehren der Römisch-Katholischen Kirche in politische Normen und in eine gesellschaftliche Realität umzusetzen. Dieser Anspruch stand unter dem Schatten einer Vorgeschichte, die von dem mit aller Macht verteidigten Prinzip einer katholischen Herrschaft geprägt war und die bis zum »Toleranzpatent« Josephs II. 1792 für Nicht-Katholiken bestenfalls Marginalisierung bedeutet hatte. Die Christlichsozialen schleppten mit sich das historische Gepäck der Inquisition und der Gegenreformation – den ganzen Ballast, den die Kirche auf ihrem Weg in die Moderne mit sich zu tragen hatte. Die Partei hatte dieselben Schwierigkeiten, die auch die Päpste des 20. Jahrhunderts mit den Prinzipien bürgerlicher Freiheiten hatten. Die Christlichsozialen waren daher nur eingeschränkt eine Partei des kleinen Österreich – sie waren auch die Partei eines universellen Geltungsanspruches. Und dieser Anspruch machte es den Christlichsozialen erst recht schwer, sich irgendwo in einer politischen Mitte mit Andersdenkenden zu arrangieren. Schon im ersten Absatz ihres 1926 verabschiedeten Programms erklärte die Christlichsoziale Partei, was für sie oberste Autorität, was die »Richtschnur« christlichsozialer Politik sei  : »die Grundsätze des Christentums«. Und um jeden Zweifel zu beseitigen, was gemeint ist, bezieht sich die Partei sofort auf »das ganze Volk, in allen seinen Ständen und Berufen« – ein klarer Hinweis auf die 1891 von Leo XIII. begonnene und später, 1931, von Pius XI. weitergeführte Doktrin von einer berufsständischen Ordnung (Berchtold 1967, 374). Was im sozialdemokratischen Programm der Angelpunkt der Argumentation ist – der Begriff der »Klasse« –, ist für die Christlichsozialen der »Stand«. Und wie bei der Sozialdemokratie fehlt in der christlichsozialen Programmatik ein offensives Bekenntnis zur Demokratie  : Die demokratische Republik wird akzeptiert, aber das eher nur widerwillig. Die Parteien des deutschnationalen Lagers waren in besonderer Weise »zu groß« für das kleine Österreich. Denn im Mittelpunkt ihrer Programmatik, ihrer gesamten politischen Orientierung stand ja das große Reich im Nordwesten. Und wenn schon der 1918 ja von allen Parteien gewünschte »Anschluss« aus realpolitischen Gründen nicht möglich war, taten die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund alles, um die Sehnsucht nach dem Deutschen Reich als den eigentlichen Bezugspunkt ihrer politischen Existenz in Österreich am Leben zu lassen. Das deutschnationale Lager regierte zwar in unterschiedlichen Varianten die Republik Österreich als Juniorpartner der Christlichsozialen, aber noch viel deutlicher als bei diesen und der Sozialdemokratie und deren Anschlussorientierung stand ein freilich romantisch verklärtes Deutschland im Zentrum deutschnationaler Orientierung. Die 1920 von Vertretern des deutschnationalen Lagers gegründete »Großdeutsche Volkspartei« hatte am Beginn ihrer Existenz das Problem, dass das 248

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zu diesem Zeitpunkt real existierende Deutschland – die Weimarer Republik und die in dieser zunächst dominanten Rolle der deutschen Sozialdemokratie – nicht unbedingt den von massiv antijüdischen und antisozialistischen Ressentiments geplagten Großdeutschen in Österreich sympathisch erscheinen musste. Deswegen ist das »Salzburger Programm« der Großdeutschen zwar von einer gesamtdeutschen Mystik getragen, aber konkrete Schritte in Richtung »Anschluss« finden sich in diesem Programm nicht. Es beginnt allgemein  : »Im unerschütterlichen Glauben an die unzerstörbare Kraft des deutschen Volkes wurzelt die Hoffnung auf Rettung aus der furchtbaren Bedrängnis, die über unser Volk gekommen ist« (Berchtold 1967, 439). Das »Große« ist in dieser Formulierung besonders ins Mythische verlagert. Das Ganze liest sich wie die Beschwörung einer höheren, transzendentalen Autorität  : Über allem steht das »deutsche Volk« und dessen »unzerstörbare Kraft«. Aber so viel weniger im Mystischen verankert waren die Vorstellungen der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen auch nicht. Es ging den Parteien und den politisch-weltanschaulichen Lagern um die Vermittlung von Glaubenssätzen, die nicht um die real existierende Republik kreisten, die über sie hinwegtrösten sollten  : über die Kleinheit der Republik, über deren Tristesse. Der Blick auf eine imaginierte Größe – der trieb die Kräfte an, die das Schicksal der Republik bestimmten, soweit dieses im Inneren des Landes bestimmt werden konnte. Sozialdemokratie und Christlichsoziale, Otto Bauer und Ignaz Seipel  : Zwischen diesen Polen fand die zentrale politische Auseinandersetzung statt – jedenfalls in den eineinhalb Jahrzehnten der Republik, zwischen 1918 und 1933. Diese beiden Pole bestimmten die Republik, von 1918 bis 1934. Die Republik war zwischen den Polen hin- und hergerissen – und die Vorstellung, dass nur der eigene Sieg das mit dem Sieg der anderen Seite gleichgesetzte Katastrophenszenario verhindern könnte, war in einem manichäischen SchwarzWeiß-Denken begründet. Der Respekt vor der gemeinsamen Grundlage dieser beiden Pole, vor der Verfassung von 1920 mit ihren an den Erfahrungen westlicher, liberaler Demokratie orientierten Strukturen und Funktionen, ging in der sich ständig vertiefenden Polarisierung allmählich verloren – bei der Christlichsozialen explizit, bei der Sozialdemokratie implizit.. Der Politische Katholizismus war in seinen theoretischen Positionen von den Lehren der Päpste geprägt. Diese hatten zwar – beginnend mit Leo XIII. – viel Verständnis für die »soziale Frage«, für Gewerkschaften (freilich nur dann, wenn sie »christlich« waren), für eine umverteilende Sozialpolitik. Doch mit der Demokratie wollten die Päpste des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts zu tun haben. Die kirchliche Soziallehre lehnte zwar die Demokratie nicht ausdrücklich ab, sie war aber gegenüber der Demo249

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kratie desinteressiert, quasi neutral. Die Päpste waren vor allem interessiert, die Position ihrer Kirche in den einzelnen Staaten durch Konkordate abzusichern. Dass solche Verträge mit Mussolinis Italien, mit Hitlers Deutschland, mit Dollfuß’ Österreich, mit Francos Spanien abgeschlossen werden konnten, nicht aber mit den USA, der französischen Republik und der britischen Westminister-Demokratie, das erklärte und demonstrierte auch die Konsequenzen dieses Negierens der Demokratiefrage, die auch und primär eine Frage der individuellen Freiheit war und ist. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den zentralen Werten der liberalen Demokratie hatte ihre Auswirkungen auf die Christlichsoziale Partei, deren Politischer Katholizismus der Versuch der Umsetzung der kirchlichen Lehren in Gesellschaft und Politik war. Die Christlichsoziale Partei war in diesem Sinn keine Partei, deren mentales Zentrum Österreich gewesen wäre. Der Orientierungspunkt der Partei war das Rom der Päpste. Das kleine Österreich war nur ein Terrain, auf das die Doktrin einer globalen Kirche Anwendung finden sollte (Diamant 1960, 67–70). Demokratie war ein mögliches Instrument dafür, aber kein Ziel an sich. Demokratie war ein Hebel, der funktional sein konnte – unter bestimmten Voraussetzungen. Sobald sich diese änderten, verlor die Demokratie ihren Nutzen. So konnte Seipel seine der Monarchie nachtrauernde Partei dazu bewegen, der republikanisch-demokratischen Verfassung zuzustimmen  : Gemessen an den realen Alternativen der Jahre zwischen 1918 und 1920, vor dem Hintergrund revolutionärer Entwicklungen in Österreichs Umgebung, war dies die bestmögliche Option, die der Kirche offenstand. Als sich dies änderte, als der europäische Zeitgeist bald nicht mehr von links, sondern von rechts zu wehen begann, als der italienische Faschismus seinen Frieden mit der Kirche schloss – durch ein Konkordat, zu dem der demokratische italienische Parlamentarismus bis dahin nicht bereit gewesen war –, hatte das Instrument Demokratie für die Christlichsozialen in Österreich massiv an Wert verloren. Insbesondere Ignaz Seipel begann, immer im Einklang mit dem großen Design einer weltumspannenden Kirche, sich von dem Konsens zu entfernen, den er selbst 1920 mit der Sozialdemokratie in Form einer parlamentarisch-demokratischen, republikanischen Verfassung formuliert hatte. Die Sozialdemokratie war für die Christlichsozialen zunächst ein zwar bekämpfter, aber gleichzeitig strategisch unumgänglicher Partner im Versuch, Schlimmeres zu verhindern. Zu verhindern galt es, im Augenblick der Niederlage und des Auseinanderbrechens des alten Österreich, dass das Rest- und Zwischenösterreich nicht von einer sozialistischen Revolution à la Bayern und Ungarn erfasst wurde. Die Sozialdemokratie hatte sich ja als nicht revolutionär, sie hatte sich als evolutionär erwiesen – und eben deshalb war sie zur Verhinderung eines sich an Sowjetrussland orientierenden Systems nützlich, ja die So250

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zialdemokratie war wegen ihrer Fähigkeit, die Arbeiterschaft zu organisieren, als Bündnis- und Koalitionspartner zunächst unumgänglich. Auf ihrem Weg zu einer auf eine parlamentarische Mehrheit gestützte Regierung mussten die Sozialdemokraten nun aber, nach erfolgreicher Abwehr einer Revolution, von den Christlichsozialen gestoppt werden – und das geschah mit einem Bündniswechsel. Die Christlichsozialen formten den »Bürgerblock«. Die Sozialdemokratie war zwar nicht zahnlos geworden, aber die Gefahr, die von ihr für den Status Quo der gesellschaftlichen Ordnung ausgehen konnte, hatte sich als geringer herausgestellt, als dies in den Monaten nach dem Zusammenbruch der Monarchie zunächst erschien. Sie konnte nun schärfer konfrontiert, schärfer attackiert werden, weil sie sich als weniger bedrohlich erwiesen hatte. Die Polarisierung zwischen dem »Bürgerblock« und der in Daueropposition verharrenden Sozialdemokratie nahm zu (Steiner 2004, 97–133). Dass Ignaz Seipel bald von der »wahren Demokratie« sprach, die er der real existierenden, im Bundes-Verfassungsgesetz 1920 verankerten offenbar (wenn auch ohne dies jemals wirklich präzise zu begründen) entgegenstellte, förderte die Polarisierung. Der Weg zu einer Konfrontation zwischen Austrofaschismus und Austromarxismus stand offen. Das »Austro« vor diesen Begriffen stand nicht für eine österreichische Gemeinsamkeit  : Es stand für unbedingte Gegnerschaft innerhalb eines Landes. Der Brand des Justizpalastes im Sommer 1927 und das Eingreifen der Polizei mit scharfer Munition, das 89 Tote forderte, war das Wetterleuchten dessen, was da kommen sollte. Was Seipel und die Christlichsozialen wirklich im Sinne hatten, das war eine Ordnung, die sie »Im Namen Gottes, des Allmächtigen« ausrufen könnten, wobei sie sich der Zustimmung des Papstes sicher sein konnten. Das taten Dollfuß und die Vaterländische Front – die im Wesentlichen die zu einer Einheitspartei gewandelte Christlichsoziale Partei war – in Form des Verfassung vom 1. Mai 1934, die das formelle Ende der seit März 1933 weitgehend ausgehebelten republikanischen Verfassung bringen sollte. Die republikanische und demokratische Verfassung vom 1. Oktober 1920 sollte freilich viel mehr Zukunft als die autoritäre des 1. Mai 1934 haben. Die republikanische Verfassung wurde 1945 wieder in Kraft gesetzt – im Interesse der Politik der Alliierten und der Parteien, die sich im April 1945 zu einer Provisorischen Staatsregierung verbinden sollten. Die Mai-Verfassung 1934 ist längst zu einem Objekt der historischen Forschung geworden, sie ist eben Geschichte (Wenninger, Dreidemy 2013). Die Oktober-Verfassung 1920 hingegen ist auch noch im 21. Jahrhundert die Grundlage und der Rahmen für die realen politischen Prozesse der Republik Österreich. Der berufsständische Charakter der Mai-Verfassung, der die Parteien, den politischen Pluralismus und die Grundsätze des parlamentarischen Regie251

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rens durch ein komplexes Gestrüpp von korporativen Organisationsformen ersetzen sollte – ein Gestrüpp, das sich bis zum März 1938 nicht wirklich gelichtet hatte –, war keineswegs das unbedingte, das eigentliche Ziel des katholisch-konservativen Lagers. Für die Christlichsozialen war die berufsständische Verfassung (ebenso wie die Demokratie) mehr Instrument als Ideal  : ein Instrument, um die im Februar militärisch besiegte Sozialdemokratie weiter in der Illegalität, jedenfalls fern von der politischen Macht zu halten  ; um eine »ideologische« Brücke zum Protektor, zum faschistischen Italien zu schlagen  ; um dem nationalsozialistischen Deutschland ein »besseres« Deutschland entgegenzustellen, das sich dennoch nicht marxistisch punzieren ließ  ; und vor allem um ein Manifest des Politischen Katholizismus zu verkünden, das sich auf die Autorität der Römisch-Katholischen Kirche berufen konnte. Hätten die Christlichsozialen Ähnliches auch im Rahmen der Verfassung von 1920 erreichen können, hätten sie die Sozialdemokratie nicht militärisch niedergerungen, sondern auf Dauer bei Wahlen niedergehalten  ; und hätte nicht ab 1933 Hitlers Griff nach Österreich den geopolitischen Rahmen Zentraleuropas grundsätzlich verändert – die Christlichsozialen hätten ihren unscharf definierten »christlichen Staat« auch innerhalb der Spielregeln der demokratischen Republik zu verwirklichen versucht. Die demokratische Republik war für die Christlichsozialen kein Primärwert. Sie war sekundär – sie konnte von Nutzen sein oder auch nicht. In den katholisch geprägten Ländern Europas gab es analoge Entwicklungen hin zu einer christlich definierten staatlichen Ordnung, die im Sinne lang anhaltender Folgen durchaus erfolgreich waren – in Portugal, in Spanien (dort freilich als Resultat eines Bürgerkrieges von viel größerer Intensität als die der Februarkämpfe von 1934) und in Italien in Form von Konkordaten, von Verträgen zwischen autoritären Systemen und der Kirche, die in den Rang einer höchst privilegierten Staatskirche erhoben wurde. In allen diesen Ländern herrschte eine Diktatur, die sich des Wohlwollens der Kirche versichert hatte. Die Verbissenheit und Konsequenz, mit der die Katholische Kirche sich in diesen Ländern für Konkordate einsetzte, in denen es vor allem um die finanziellen Grundlagen der Katholischen Kirche, um die Sicherung ihrer Positionen im Schul- und Erziehungswesen und um den Vorrang kirchlicher Normen in Fragen des Eherechts ging – und das im Vergleich dazu auffallende, ja provokante Desinteresse an Fragen der bürgerlichen Freiheiten schlechthin  : Das alles wirft ein Licht auch auf das Verhalten der Christlichsozialen. 1933 war die Kirche durch ihre Konkordate mit dem Deutschen Reich und mit Österreich zufrieden gestellt – dass in beiden Staaten Unrechtsregime herrschten, dass politische Freiheiten bereits aufgekündigt waren, dass die Diskriminierung der Menschen jüdischer Abstammung in Deutschland bereits offen deklariert war, 252

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das spielte für die Bündnisbereitschaft der Kirche offenkundig keine Rolle. Und auch Theodor Innitzer wurde im März 1938, bei seinem Vorsprechen bei Adolf Hitler im Wiener Hotel Imperial, mit der vagen Zusage eines »religiösen Frühlings« zu einer (zunächst) überaus freundlichen Einstellung gegenüber den neuen Herren veranlasst – bereit, einen Propagandaaufruf mit »Heil Hitler« zu unterschreiben (Sauer 2000). Dass die Herren des alten, sich christlich nennenden Regimes – allen voran Kurt Schuschnigg – schon im Kerker saßen und bald schon in Konzentrationslager eingeliefert wurden, das störte Innitzer offenbar nicht wirklich. Wenn die politisch Herrschenden der Kirche etwas versprechen, dann – so jedenfalls die Botschaft der 1930er Jahre – sieht die Kirche ihnen alles nach  ; auch die Verfolgung und Unterdrückung derer, die gestern noch glauben konnten, aufrechte Diener dieser Kirche zu sein. Ignaz Seipel war 1918 Monarchist, bald darauf Republikaner und Mit-­ Schöpfer einer demokratischen Verfassung, nur um wenige Jahre später Wege zu sondieren, die von dieser Verfassung wegführen sollten. Seipels Denken war nicht dogmatisch im Sinne einer Konstruktion eines idealen Systems, sein Denken war dogmatisch in Form einer ständigen Bereitschaft zur Adaption. Diese freilich hatte immer ein Ziel  : seiner Kirche die jeweils bestmögliche Form zur Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung zu stellen. Seipel war der konsequente Diener seiner Kirche. Diese war aber viel größer als das kleine Österreich. Die Sehnsucht nach Größe und Eindeutigkeit führte weg von der Republik. Auf allen Seiten – rechts wie links – brach bald nach Gründung der Republik diese immer schon vorhandene Sehnsucht durch. Das Streben nach »wahrer« Demokratie, die das Parlament und die Parteien zurückzudrängen versprach, fand 1930 einen Ausdruck im »Korneuburger Eid« der Heimwehren, in dem es ausdrücklich hieß  : »Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat  ! Wir wollen an seine Stelle die Selbstverwaltung der Stände setzen und eine starke Staatsführung […]. Wir kämpfen gegen die Zersetzung unseres Volkes durch den marxistischen Klassenkampf und liberal-kapitalistische Wirtschaftsgestaltung […]« (Carsten 1977, 161). Das war ein Bekenntnis zu der Richtung, die dann der unvollendete »Ständestaat« verkörpern sollte  : halbfaschistisch, autoritär – und unfähig, die Aufgabe zu erfüllen, die ihn hätte rechtfertigen können. Diese Aufgabe wäre gewesen, Öster­ reich vor Hitler-Deutschland zu schützen. Diese und andere Formen der Sehnsucht zeigten in Richtungen, die mit der demokratischen Republik letztlich nicht vereinbar waren, die weg von der real existierenden Demokratie führten. Die Konflikte, von denen die demokratische Republik bedroht wurde, gingen eigentlich nicht um diese Republik  ; sie gingen um die Alternativen zur Republik. Zwar verstand sich die Sozialde253

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mokratie – aus guten Gründen – als Verteidigerin der Republik. Aber auch für sie war diese nur eine Zwischenstufe. Die Christlichsozialen sahen in der Republik eine 1918 und 1919 unvermeidliche Konzession an eine revolutionäre Grundstimmung. Republikaner waren sie eigentlich nicht – und Demokraten nur im Sinne einer »wahren« Demokratie, unter der alles Mögliche verstanden werden konnte, solange es nur nicht die bestehende Form der Demokratie war. Die Sozialdemokratie sah die demokratische Republik als Zwischenerfolg, als erste Etappe auf einem weiterführenden Weg. Für Otto Bauer blieb die Republik immer eine »Bourgeois-Republik«, deren Wert sich danach bemesse, was die konkreten Alternativen wären (Leser 1968, 432–435). Für Bauer und mit ihm für die herrschende Richtung innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war die demokratische Republik ein wichtiger, aber nicht der entscheidend letzte Schritt hin zu einer »sozialistischen Demokratie«. Deren Konturen blieben freilich vage, nur unter Zuhilfenahme einer marxistischen Rhetorik formuliert, in der liturgischen Sprache für Eingeweihte. Eine Demokratie, basierend auf der Herrschaft der »Arbeiterklasse« – und das hätte ja die »sozialistische Demokratie« sein sollen –, war nirgendwo in Sicht. Aber ihre Beschwörung war ein Ritual, das begründen half, warum die demokratische Republik Österreich nur von sekundärem Wert war. Programmatik und Verhalten der Sozialdemokratie hatte eine Opiats-Funktion  : Sie halfen, die Rückschläge und Niederlagen im Hier und Jetzt mit der Hoffnung auf eine helle Zukunft, ja mit der behaupteten Gewissheit eines radikal besseren Morgen zuzudecken. Und da dieses Morgen, im Sinne des zumindest latent deterministischen Marxismus, auf Grund der inneren Widersprüche der kapitalistischen Ordnung der Sozialdemokratie quasi in den Schoß fallen würde, konnte man abwarten – und brauchte sich nicht allzu sehr mit den taktisch-strategischen Überlegungen einer Kosten-Nutzen-Abwägung in den Niederungen realer Politik beschäftigen. Das verbale Streben nach Höherem zeichnete die einen aus – und ebenso die anderen. Die Einsicht kam nicht, dass diese Republik die bestmöglichen Voraussetzungen bot, so etwas wie ein Klassen, Stände, Parteien, Weltanschauungen übergreifendes »Bonum Commune« zu verwirklichen. Das Unvermögen der Schöpfer der Republik, aus der fast zufälligen Weichenstellung der Republikgründung, aus dem Provisorium der Jahre 1918 bis 1920 ein Definitivum zu machen, verhinderte einen allen Teilen der Republik gemeinsamen Konsens. Die Lager blieben unter sich – es gab eine sozialistische, es gab eine politisch-katholische, es gab eine deutschnationale Subnation. Es gab keine Nation Österreich. Und Demokratie, das war bestenfalls ein Mittel auf dem Weg zum großen Sieg, der Österreich entweder zu »God’s own country« oder zum sozialistischen Modell gemacht hätte – oder eben das Aufgehen Öster254

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reichs in einem Deutschland bedeutet hätte, das zunächst noch demokratische Republik, dann aber das genaue Gegenteil davon war. In der Republik Österreich, die eigentlich für alle Beteiligten nur eine Konzession an offenkundige Notwendigkeiten war, konnte auch die Kultur nicht zu einer genuin republikanischen Form finden. Die demokratische Republik blieb kulturell blass, sie war kaum im Kulturschaffen wahrzunehmen. Die Hochkultur sollte in der Republik fortsetzen, was sie bis 1914 ausgezeichnet hatte. In dieser Tradition, die mit der Republik wenig zu tun hatte, entstanden die Salzburger Festspiele. Die Sozialdemokratie förderte eine Gegenkultur, die mit dem Milieu des sozialistischen Lagers verbunden war und darüber nicht hinauszustrahlen vermochte (Kreissler 1997, 119–150). Die Kultur und ihre großen Leistungen in dem, was man »Zwischenkriegszeit« nennt, nahm dieses »Dazwischen« eigentlich nicht zur Kenntnis. Und wenn Kultur politisch wurde, dann in Form von Kontroversen um eine als Provokation empfundene Kultur – oder von Auseinandersetzungen um eine Politik, die eine ästhetisch definierte Kultur zu bedrohen schien  : die Politik als die große Katastrophe – oder aber die Gegenkultur als Zerstörerin dessen, was als traditionelle Wertordnung galt. Karl Kraus hatte den Ersten Weltkrieg als Generalprobe des Weltuntergangs charakterisiert. Elias Canetti hatte die Gewaltexplosion vom 15. Juli 1927 dazu genutzt, um für seine Studie Masse und Macht Material zu gewinnen. Arthur Schnitzlers Reigen und Ernst Kreneks Oper Johnny spielt auf waren für viele eine politische Provokation. Gelegentlich fand die Politik – wie die Beispiele von Kraus und Canetti zeigen – eine massive kulturelle Resonanz. Die Kultur nahm manchmal, und oft nur gezwungenermaßen, die Politik wahr. Das galt freilich nicht für Hugo Hofmannsthal und nicht für Robert Musil und nur mit Einschränkungen für Arthur Schnitzler und Stefan Zweig. Aber zwischen Politik und Kultur gab es eine Fülle von Interdependenzen. Noch war ja, jedenfalls bis 1933, die Freiheit der Rede und der Medien nicht unterbunden. Doch es zeichnete sich eine Polarisierung ab, die schließlich immer mehr außer Kontrolle geriet  : Die Republik war zu klein, um die über sie hinausweisenden Visionen zu realisieren  ; aber sie war auch zu klein, um die daraus resultierende Konflikt- und Zerstörungsdynamik zu kanalisieren. Die Realität der kleinen Republik befriedigte keine Sehnsucht nach Größe  ; nicht die Sehnsucht nach einem Reich, nach einem großen Gebilde, das an die Größe des alten Österreich anknüpfen konnte  ; nicht die Sehnsucht nach dem Aufgehen im großen Deutschen Reich  ; nicht die Sehnsucht nach einer alle Grenzen überschreitenden, auf Weltgeltung zielenden Revolution. Österreich war zu klein geworden, und der Slogan »small is beautiful« bewegte damals noch nicht den Verstand und die Gefühle der Menschen in Österreich. Ein 255

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großes Reich musste es sein, und wenn es auch ein Reich hinter den Wolken war. Und dieses Reich – errichtet entweder in der Tradition des Hauses Habsburg oder in Anknüpfung an Otto Bismarck oder aber den von Karl Marx genährten Erwartungen entsprechend – ein solches Reich war in den Konturen der Republik nicht erkennbar, war innerhalb der Republik einfach nicht machbar. Die demokratische Republik war nicht groß genug – nicht groß genug, um eine europäische Macht zu sein  ; und nicht groß genug, um die aus der Wirklichkeit fliehenden Phantasien zufrieden stellen zu können. Die Sehnsucht nach Größe und Eindeutigkeit stand dem Erfolg der demokratischen Republik im Wege. Es war Karl Renners durchaus als opportunistisch zu bezeichnenden Versuche, die da einen anderen Zugang vermittelten  : durch politische Flexibilität zu retten, was zu retten war  ; zu verbessern, was verbessert werden konnte, und dabei auf den großen Wurf, eben auf die Eindeutigkeit zu verzichten. Deshalb hatte Renner schon Friedrich Adlers Kritik provoziert, der – als Mörder des K.-k.-Ministerpräsidenten Karl Stürgkh – vor dem Ausnahmegericht Renner der Prinzipienlosigkeit beschuldigt hatte  ; deshalb war Renner auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1917 heftig kritisiert worden, weil er sich den Rettungsversuchen des alten Österreich nicht verweigern wollte  ; deshalb akzeptierte er in St.Germain das Diktat der Sieger – anders als Otto Bauer, der 1919 wegen des »Anschlussverbotes« unter Protest sein Amt als Außenminister zurückgelegt hatte. Und deshalb versuchte Renner sowohl 1938 – getrieben von einer (freilich nicht für ihn persönlich) fatalen Fehleinschätzung des NS-Regimes – als auch 1945 eine Anpassung an völlig gegensätzliche Realitäten, weil das prinzipielle Nein-Sagen ihm ebenso wenig möglich erschien wie ein Kampf im Untergrund. Friedrich Adler sollte Renner und der Sozialdemokratie die Abkehr von Otto Bauers großdeutscher Position nie verzeihen – und damit verzieh er Renner nicht einen opportunistisch-pragmatischen, immer an einem erzielbaren Ergebnis orientierten Zugang zur Politik (Saage 2016, 80–89, 264–274). Für Renners Ausnahmehaltung eines realistischen Opportunismus ist eine Erinnerung in seinen nachgelassenen Schriften aussagekräftig. 1929 war Jodok Fink gestorben, Renners christlichsozialer Partner in der Provisorischen Staatsregierung und 1920 erster Bundeskanzler der Republik. Beim Begräbnis in Bregenz, an dem auch Renner teilnahm, sprach ihn Ignaz Seipel mit den Worten an  : »Wie mag es kommen, dass ich zu ihrer Person niemals in ein näheres Verhältnis komme, während ich mit ihren Parteifreunden, auch mit so entschiedenen Gegnern wie Otto Bauer, wenigstens im privaten Verkehr immer gut zurecht komme  ?« Renner – so in seiner Erinnerung – antwortete Seipel  : »Die Erklärung ist einfach. Sie beide (also Seipel und Bauer – Anmer256

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kung AP) sind, der eine bewusst, der andere vielleicht unbewusst, erfüllt von der Idee des Klassenkampfes […]. Sie beide übertreiben die Idee, und das liegt mir nicht« (Renner 1953, 80). Der flexible Republikanismus Renners stand im Schatten der Eindeutigkeit sowohl Seipels als auch Bauers. Das Gespräch der Feinde war möglich – zwischen Bauer und Seipel. Das Gespräch zwischen Pragmatikern und Dogmatikern offenbar nicht. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit – sie spricht aus dem Jedermann, den Hugo Hofmannsthal für die Salzburger Festspiele geschrieben hatte. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit – sie war ein, vielleicht das entscheidende Element des als wissenschaftliche Voraussage getarnten Glaubens an eine »klassenlose Gesellschaft«. Der politische Glaube, rückwärtsgewandt – wie in Dollfuß’ Rede vom September 1933, als er die Erinnerung an die Türkenbelagerung von 1683 bemühte, um seine Politik zu begründen – gegen einen heidnischen, rücksichtslos mörderischen Feind, der vor den Toren Wien stand  ; und jede und jeder konnte sich aussuchen, ob Dollfuß damit primär den Nationalsozialismus oder aber die Sozialdemokratie gemeint hatte. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dieser quasi-religiöse Glaube an eine perfekte Ordnung stand der Republik im Wege. Die einen hatten ihre Sehnsucht nach Größe, und die anderen hatten sie auch. Aber die Republik war außer Stande, irgendeinen dieser Träume zu verwirklichen. Die Republik war zu klein für die Ansprüche ihrer Gründer, die Politik als Instrument zur Herstellung von Vollkommenheit sahen. Rückblickend wissen wir, dass sich der große Wert dieser 1918, 1919 und 1920 erklärten und definierten Republik aus ihren real vorhandenen Alternativen erkennen lässt. Denn diese Alternativen zur Kleinheit der Republik waren – vielleicht – groß, jedenfalls größer als die Republik. Aber sie waren in ihrer Größe vor allem auch schrecklich.

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11 Österreichisches Exil und Exil in Österreich

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ie Sehnsucht nach einem Reich, das irgendwo hinter den Wolken schwebte, messianisch verkündet und perfekt gedacht, fast zum Greifen nahe, jedenfalls aber erreichbar  : Solches utopische Denken bestimmte alle drei »Lager«. Die Christlichsozialen sahen ihr Ideal in einem von der Kirche legitimierten Gottesstaat, den sie im »Namen Gottes« ja auch in Form der Verfassung vom 1. Mai 1934 zu verwirklichen trachteten. Die Sozialdemokraten, die Verlierer des Bürgerkrieges vom Februar 1934, sahen nach diesem Februar den parlamentarischen Weg – den sie immer präferiert hatten – in Frage gestellt und begannen, die Sowjetunion mit anderen, positiven Augen zu sehen. Otto Bauer schrieb im Exil von einem »integralen Sozialismus«, der die von der russischen Oktoberrevolution provozierte Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung aufheben sollte. Und die deutschnationalen Parteien des Bürgerblocks mussten erleben, dass die Sehnsucht nach dem Aufgehen im großen Deutschen Reich ihre Anhänger direkt in die Arme der NSDAP trieb. Diese Sehnsucht freilich wurde real erfüllt. Alle diese Sehnsüchte scheiterten auf tragische Weise. Der Dollfuß-Schuschnigg Staat konnte mit seinen autoritären Mitteln Österreich nicht stabilisieren, ihm gelang nicht einmal die Vollendung seines eigentlich von Anfang an diffusen und widersprüchlichen Programms einer konsequenten berufsständischen Ordnung – und erst recht nicht die Abwehr des Nationalsozialismus. Und Otto Bauers »integraler Sozialismus« führte zu nichts – außer in die Folterkerker der GPU, in denen so viele der in die Sowjetunion geflohenen Kämpfer des Republikanischen Schutzbundes ihr Ende fanden. Verwirklicht wurde aber, in teils spontanen, teils perfekt organisierten Triumphen, die Sehnsucht des »dritten Lagers«, das sich dem Nationalsozialismus ausgeliefert hatte. Dieser hatte schließlich einen wirklichen Messias vorzuweisen. Und eine Utopie – die in Konzentrationslagern wie Mauthausen und Vernichtungslagern wie Treblinka ihr reales Gesicht zeigte. Und Weltgeltung – die äußerte sich in einem von diesem Messias vom Zaun gebrochenen Krieg, der Europa, ja die Welt an den Rand des totalen Untergangs führen sollte. Die Realisierung dieser einen der in der Republik geträumten Visionen trieb viele in die Flucht – aus Österreich, aber auch nach Österreich. Wenn man die Emigration der kaiserlichen Familie als Sonderfall einstuft, gab es in den Anfängen der Republik kaum politisch motivierte Emigration aus Österreich – sehr wohl aber politische Emigration nach Österreich. Die Republik Österreich war in ihren Anfängen das Ziel der Flucht von Opfern der 259

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verschiedensten Formen von Verfolgung und Vertreibung. Zehntausende, wohl Hundertausende Flüchtlinge, die vor allem aus den östlichen Teilen des Kaiserreiches schon während oder unmittelbar nach dem Krieg geflüchtet waren, hatten nun in der Republik mit Anfeindungen zu kämpfen. Zehntausende jüdische (»ostjüdische«) Bürgerinnen und Bürger der Monarchie trafen in der Republik auf eine feindselige Abwehrfront, die in diesen Menschen nicht Öster­ reicher, sondern Juden sahen. Leopold Kunschak war ein Sprachrohr dieser xenophoben, antijüdischen Stimmung, die sich in den Anfängen der Republik manifestierte. Kunschak etwa polemisierte am 9. Oktober 1919 gegen jüdische Flüchtlinge  : »Dass die öffentliche Moral so tief gesunken, dass das Redlichkeitsgefühl so schwer erschüttert ist […], das ist in erster Linie durch die jüdischen Flüchtlinge verschuldet, die sich als einzige Bande von Kettenhändlern, Schleichhändlern und Wucherern die ganze Zeit ihres Hierseins erwiesen haben […]. Man kann ruhig die Behauptung aufstellen  : Die Juden sind nicht nur die Not, sondern auch die Seuche unserer Zeit […]« (Pelinka 1972, 223). Nach dem Scheitern der ungarischen Räterepublik, 1919, flohen ungarische Kommunisten und Sozialisten vor dem einsetzenden »weißen Terror« nach Österreich. Sie, die für den »roten Terror« verantwortlich gemacht wurden, suchten und fanden in der jungen österreichischen Republik Schutz. Bela Kun, der Prominenteste unter ihnen, fiel später den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion zum Opfer. Georg Lukács, der marxistische Literaturtheoretiker, konnte wie Kun in Österreich vor dem Blutbad sicher sein, das vom Regime des »Reichsverwesers« Nikolaus Horthy in Ungarn als Rache an der Linken angerichtet wurde. Lukács wurde im Exil und später auch in Ungarn zu einem der zentralen Theoretiker eines sich allmählich vom Stalinismus (freilich nicht vom Leninismus) lösenden Marxismus. Koloman Wallisch, in der ungarischen Sozialdemokratie aktiv, fand nach seiner Flucht seine politische Heimat in der Sozialdemokratie der Steiermark. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg im Februar 1934 wurde Wallisch als Kommandant des Republikanischen Schutzbundes der Steiermark hingerichtet – unbeschadet der Immunität, die er als Nationalratsabgeordneter genoss (Steiner 1983, 320  ; Pferschy 1983, 965). Ab 1933 flohen Gegner des Nationalsozialismus aus Deutschland auch nach Österreich. Sie fanden zeitweilig Schutz im Dollfuß- und Schuschnigg-Österreich. Eugen Kogon, der geborene Münchner, hatte schon vor Hitlers »Macht­ übernahme« in Österreich promoviert. Ab 1933 war er im Exil in Österreich politisch gegen den Nationalsozialismus aktiv – vor allem in katholischen Zirkeln. 1938 wurde er verhaftet, überlebte das Konzentrationslager Buchenwald und wurde mit seinem Buch Der SS-Staat einer der ersten, die systematisch über die Welt der Lager berichteten. Dietrich von Hildebrand, ein anderer deutscher Katholik, emigrierte 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutsch260

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land in das autoritäre Österreich. Hier gab er die Zeitschrift »Der christliche Ständestaat« heraus. Die Zeitschrift war ein Sprachrohr einer katholisch-konservativen, teilweise auch monarchistischen Opposition gegen den Nationalsozialismus und wandte sich auch – vorsichtig – gegen die Absicht der Regierung Schuschnigg, mit der Regierung Hitler einen Ausgleich zu finden, wie das in Form des Abkommens vom Juli 1936 auch geschah (Weinzierl 1988, 66 f.). 1936 übersiedelte der S. Fischer-Verlag, geführt von Berman Fischer, von Berlin nach Wien, um dann, 1938, nach einer Zwischenstation in der Schweiz schließlich in Schweden eine (vorübergehende) Wirkungsstätte zu finden. Thomas Mann, dem Fischer-Verlag seit den Anfängen seiner schriftstellerischen Karriere verbunden, überlegte einen analogen Schritt  : Kurt Schuschnigg persönlich erklärte, er würde es sich zur Ehre anrechnen, die Einbürgerung des in der Schweiz lebenden und vom Verlust seiner deutschen Staatsbürgerschaft bedrohten Nobelpreisträgers zu garantieren. Mann freilich zog schließlich eine analoge Einladung der Tschechoslowakei vor – weil der Prozess der Einbürgerung in der Republik des Tomáš Masaryk einfacher war  ; auch weil die Entschlossenheit und Fähigkeit der Regierung in Prag, dem Druck der deutschen Politik zu widerstehen, größer schien als die der Regierung in Wien. Thomas Mann behielt damit recht – für einige Monate, zwischen dem »Anschluss« und »München«. Aber zu diesem Zeitpunkt lebte und arbeitete Mann als tschechoslowakischer Staatsbürger bereits in den USA. Thomas Mann schien jedenfalls keinerlei »ideologische« Bedenken gehabt zu haben, die Staatsbürgerschaft des autoritär geführten Österreich in Erwägung zu ziehen (Harpprecht 1996, Band 1, 893 f., 911 f.). Thomas Mann, neben Gerhard Hauptmann der prominenteste unter den deutschen Schriftstellern seiner Zeit, hatte die Annahme der österreichischen Staatsbürgerschaft überlegt. Carl Zuckmayer, ein Dramatiker der jüngeren Generation, verließ 1933 Deutschland, um die nächsten fünf Jahre in Österreich zu verbringen. 1938 musste er weiter fliehen, um schließlich in den USA, in Vermont, zu leben und zu arbeiten. Dort entstand auch Des Teufels General, ein meisterhafter Einblick in das innere Machtgefüge des NS-Staates. Nach 1945 lebte Zuckmayer in der Schweiz – wie auch Thomas Mann. Arturo Toscanini, der als deklarierter Antifaschist sich weigerte, im Italien des Benito Mussolini zu dirigieren – und für den ein Auftritt in Adolf Hitlers Deutschland erst recht nicht in Frage kam –, wirkte in den 1930er Jahren bei den Salzburger Festspielen. Der wohl bekannteste Dirigent seiner Zeit betrachtete eine Tätigkeit in Schuschniggs Österreichs mit seinem, Toscaninis, offensiv vertretenen Antifaschismus als durchaus vereinbar. Wie Mann und Zuckmayer sah auch Toscanini die österreichische Diktatur nicht auf einer Ebene mit der des Deutschen Reiches (Steinberg 2000, 219). 261

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Viele der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die sich aus nachvollziehbaren Gründen für die einzigen, wahrhaft echten Republikaner hielten, hatten sich 1934 mehr oder minder explizit von der demokratisch-parlamentarischen Republik abgewandt. Sie hatten als Republikaner in Zorn und Trauer resigniert – angesichts des militärisch errungenen und durchgesetzten Sieges der Anti-Republikaner. Viele freilich organisierten sich als »Revolutionäre Sozialisten« im Untergrund und bildeten, neben der Exil-Organisation der österreichischen Sozialdemokratie, die unmittelbar nach dem Februar 1934 ihre Tätigkeit in Brünn aufnahm, eine Art zweite Säule der Partei. Manche allerdings wurden zu Bannerträgern der Moskauer Variante des Sozialismus, des totalitären Systems, das sich ebenfalls auf Karl Marx berief (Leichter 1968, 107–188). Die Sieger des Februar und des Juli 1934 konnten ihres Triumphs nicht so recht froh werden, denn sie waren nun abhängig vom Diktator in Rom, der wiederum in die Abhängigkeit des Diktators von Berlin geriet – mit den bekannten Konsequenzen im März 1938. Vollen Erfolg hingegen hatten die Repräsentanten der Utopie des deutschnationalen Lagers, das ab 1933/34 weitgehend mit der NSDAP gleichgesetzt werden konnte. Die Vision dieses Lagers war Wirklichkeit geworden  : An die Stelle des halbherzigen Faschismus à la Dollfuß und Schuschnigg war der wahre, der totalitäre Faschismus à la Hitler getreten. Österreich hatte zu bestehen aufgehört. Die Juden waren entrechtet. Und das erträumte Reich war plötzlich Wirklichkeit – und rüstete zum Krieg. Doch bevor die Sehnsucht des deutschnationalen Lagers triumphieren konnte, schien das katholisch-konservative zu triumphieren. Im Februar 1934 rang es militärisch die Sozialdemokratie und deren Republikanischen Schutzbund nieder – und im Juli dieses Jahres wehrte dieses nunmehr autoritär regierende Lager den Putschversuch der Nationalsozialisten ab. Die Ergebnisse beider Bürgerkriege lösten Wellen politisch motivierter Flucht aus. Prominente Sozialdemokraten wie Otto Bauer und Julius Deutsch, die – wohl zu Recht – um ihr Leben fürchteten, entkamen ins Ausland und versuchten von dort aus eine sozialdemokratische Exilorganisation aufzubauen. Hunderte vereinfacht »Schutzbündler« bezeichnete sozialdemokratische Aktivisten flohen – zunächst vor allem in die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Viele von ihnen folgten schließlich einer Einladung in die Sowjetunion. Und wiederum viele wurden wenige Jahre später Opfer des stalinistischen Terrors (Stadler 1974). Die Niederlage der Sozialdemokratie im Bürgerkrieg des Februar 1934 fand ihren literarischen Niederschlag in Manès Sperbers Roman Wie eine Träne im Ozean. Ein besonders aussagestarkes Exilschicksal erlitt Richard Bernaschek. Dieser, Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes in Oberösterreich, 262

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hatte das Signal gegeben, sich gegen die Polizei zur Wehr zu setzen, als diese am 12.Februar 1934 in Linz daranging, das Waffenlager des Republikanischen Schutzbundes zu beschlagnahmen. Damit war der Funke gezündet, der den Bürgerkrieg auslöste. Bernaschek wurde verhaftet. Er entkam aber aus dem Gefängnis in Linz, gemeinsam mit einigen anderen sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Gefangenen. Er floh nach Deutschland, wo er die Exilführung der österreichischen NSDAP traf. Nach einigen Wochen des von der NS-Führung finanzierten Aufenthaltes in Deutschland reiste er über die Schweiz weiter in die Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Nach dem »Anschluss« kehrte Bernaschek ganz offen nach Linz zurück, wurde Staatsbürger des Großdeutschen Reiches und arbeitete unter anderem als Angestellter der Stadt Linz. 1944 wurde er verhaftet und am 18. April 1945 im KZ Mauthausen ermordet – etwa zwei Wochen vor der Befreiung des Lagers (Kykal, Stadler 1976). Bernaschek wurde in einem bestimmten Abschnitt seines Lebens von den Nationalsozialisten unterstützt – und phasenweise war er (etwa durch sein Auftreten in München) der NSDAP nützlich, freilich ohne jemals ihr oder einer ihrer Organisationen beizutreten. Bernascheks tragisches Schicksal zeigt, dass in dem Dreieckskonflikt zwischen dem katholisch-konservativen Regime, dem sozialistischen Lager und dem Nationalsozialismus – in den fast das gesamte deutschnationale Lager aufgegangen war – taktische Absprachen möglich waren, die nicht nur in Österreich beobachtet werden konnten  : Dass es der nationalsozialistische Untergrund war, der Bernaschek aus dem Gefängnis befreit und ihn in Deutschland politisch zu instrumentalisieren versucht hatte, entspricht dem Konfliktmuster, dass der »Feind meines Feindes mein Freund« ist. Der zweite Bürgerkrieg des Jahres 1934, der in der Ermordung Engelbert Dollfuß’ seinen Tiefpunkt fand, führte zu der Flucht Tausender Nationalsozialisten. Diese fanden im deutschen Exil die Unterstützung, die sie suchten  ; und viele von ihnen schlossen sich der »Österreichischen Legion« an, die von Bayern aus Übergriffe in Österreich plante und durchführte, sich aber vor allem für den Tag des »Anschlusses« bereithielt (Schafranek 2011). Doch dieser trieb andere in die Flucht – die, für die der Begriff des »österreichischen Exils« vor allem geprägt wurde. Das Jahr 1938 war das Jahr, das als »Finis Austriae« in die Geschichte eingehen sollte – als der tiefste Einschnitt in der Geschichte, den das Nach-Habsburgische Österreich erfahren sollte. Das Jahr 1938 zeigte, wie ausgehöhlt der autoritäre »Ständestaat« war. Schuschnigg, der noch wenige Tage vor dem 11. März »Rot-Weiß-Rot bis in den Tod« skandieren hatte lassen, kapitulierte kampflos vor der militärischen Erpressung, die aus Berlin kam. Er konnte sich auch des Bundesheeres nicht 263

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mehr sicher sein – zu sehr schien ihm das Militär bereits vom NS-Soldatenring unterwandert. Seine Rundfunkrede am Abend des 11. März, mit der er vor aller Welt feststellte, er weiche der Gewalt, war ein Manifest der Schwäche nicht nur des mit ihm identifizierten Systems einer halbherzigen, unfertigen Diktatur, sondern dieses Österreich überhaupt, wie es 1918 entstanden war  : Er wolle kein »deutsches Blut« vergießen, führte er zur Begründung seines Rückzugs an – und er verabschiedete sich mit einem »deutschen Wort  : Gott schütze Österreich«. Mit so viel deutscher Gesinnung war es eben nicht leicht, zum Widerstand gegen das Deutsche Reich zu mobilisieren. Wie Polizei und Bürokratie wurde nun auch die Kultur sofort »gesäubert«. Die Salzburger Festspiele wurden »entjudet« und existierten ohne Max Reinhardt und ohne die Erinnerung an Hugo Hofmannsthal weiter. Arturo Toscanini, der als Nicht-Jude vielleicht auch in dem zur »Ostmark« gewordenen Österreich hätte weiterarbeiten können, mied nun konsequent Salzburg und Wien. Toscanini hatte sich freilich schon vor 1938 nicht nur als deklarierter Anti-Faschist, sondern auch durch seinen Konflikt mit Clemens Krauss, dem Direktor der Staatsoper, der 1934 nach Berlin ging und so seine politischen Sympathien offenlegte, bei den Nationalsozialisten zur persona non grata gemacht (Dusek 2015). Bruno Walter, dessen Dirigententätigkeit an der Staatsoper in Wien schon vor 1938 von nationalsozialistischen Protesten gestört worden war (wie konnte Walter als Jude sich »erdreisten«, Wagners »Ring« zu dirigieren), setzte seine Karriere in den USA fort. Eric Voegelin, Dozent an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, der im Zusammenhang mit seinem Buch Der autoritäre Staat als Sympathisant des Dollfuß-Schuschnigg Regimes galt, emigrierte ebenfalls in die USA – als Nicht-Jude hätte er vermutlich die Chance gehabt, sich durch politische Anpassung im »Großdeutschen Reich« abzusichern. Sigmund Freud entkam, um in London zu sterben. Ernst Karl Winter und Irene Harand, die vielleicht konsequentesten Hitler-Gegner in Österreich, schafften es nach New York. Am 1. April 1938 wurden 150 Personen aus Österreich in das Konzentrationslager Dachau verbracht. Unter den Häftlingen befanden sich prominente Angehörige des katholisch-konservativen und des sozialistischen Lagers. Zwei unter ihnen sollten nach 1945 Kanzler der Republik werden – Leopold Figl und Alfons Gorbach. Zwei weitere Häftlinge wurden in der Zweiten Republik Bundesminister – Josef Gerö und Franz Olah. In den Lagern des nationalsozialistischen Deutschland standen die, denen die Aufgabe der Wiedergründung der Republik zufallen sollte, auf derselben Seite – auf der Seite der Opfer, und zwar unbeschadet ihrer politischen Gegnerschaft in den Jahren vor 1938. Die Universitäten entließen politisch nicht genehme, vor allem jüdische Lehrende, und auch die Studentenschaft wurde »judenfrei« gemacht. 1945 264

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wurden die, die an den Universitäten wegen ihrer »nicht-arischen« Abstammung 1938 ihre Positionen verloren hatten, keineswegs automatisch in diese wieder eingesetzt. Denn auf diesen Stellen befanden sich ja die, die 1938 und danach von den NS-Machthabern protegiert worden waren. Von diesen mussten freilich diejenigen, die wegen ihrer NS-Mitgliedschaft »belastet« waren, gehen – zumeist allerdings nur für einige Zeit. Manfried Welan hat diese Geschichte des Kommens und Gehens für die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien nachgezeichnet (Welan 2014, 55–96). Am 8. Oktober 1938 verwüsteten etwa hundert Angehörige der Hitler-­ Jugend das Erzbischöfliche Palais in Wien. Es war die Antwort auf eine öffent­liche Anti-NS-Demonstration der Katholischen Jugend (Weinzierl 1988, 143–151). Der Unterschied zwischen der Repression in einem autoritären und der Repression in einem totalitären System war sehr schnell augenscheinlich. Am schlimmsten freilich sollte diese Differenz zwischen der Repression unter Schuschnigg und der unter Hitler die Menschen in Österreich treffen, die nach den willkürlichen Kriterien des NS-Staates als »jüdisch« etikettiert waren. Gerade die politische Linke tat sich freilich schwer, den Antisemitismus als spezifisches Merkmal des Nationalsozialismus zu sehen. Die Linke war gefangen in ihrer undifferenzierten Faschismus-Begrifflichkeit, der sie daran hinderte, den besonderen Charakter des Nationalsozialismus wahrzunehmen, der eben nicht einfach ein Faschismus war, sondern – darüber hinaus – ein massenmörderischer Rassismus, dessen Vernichtungsenergien sich vor allem gegen »die Juden« richteten. Otto Bauer verfasste im Exil, kurz nach dem Treffen Schuschniggs mit Hitler im Februar 1938 und kurz vor dem 11. März, eine Analyse, deren Fehlprognose ein grundsätzliches Nichtverstehen des Nationalsozialismus der meisten in der linken Emigration (und der Linken generell) deutlich macht  : In Österreich sei eine »Doppelherrschaft« im Entstehen – eine Art Koalition zwischen »Klerikofaschisten« und »Nazifaschisten« (Hanisch 2011, 367). Wenige Tage später saßen Schuschnigg und die anderen führenden »Klerikofaschisten« in der Haft der Gestapo, der »Nazifaschisten«. Die in den Reihen der illegalen Revolutionären Sozialisten Aktiven, die noch am 10. März sich zu einer Ja-Parole bei der von Schuschnigg geplanten Abstimmung und damit zu einem Ja für das »kleinere Übel« durchgerungen hatten, mussten nun eine andere Intensität politischer Repression erfahren. Sie hatten entweder schon vor dem 11. März oder spätestens unmittelbar danach begreifen müssen, dass zwischen »Klerikofaschisten« und »Nazifaschisten« ein grundlegender Unterschied bestand. Diejenigen unter den Sozialdemokraten, die dem Terror ins Ausland entkommen konnten, blieben freilich zumeist in der verengten Sicht ihres Faschismus-Begriffes gefangen. Aber  : Ein Sozialist wie Bruno Kreisky, 265

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falls er jede Widerstandstätigkeit vermieden hätte, wäre nicht direkt von den NS-Machthabern am Leben bedroht gewesen  ; ein Jude wie Bruno Kreisky wäre zum Tode verurteilt gewesen – gleichgültig, was er politisch getan oder nicht getan hätte. Die »Volksabstimmung« vom 10. April 1938 sollte dem durch die Besetzung bereits vollzogenen »Anschluss« den Mantel einer Legitimität verleihen. Es war eine Fassade, deren Charakter als Propagandafarce leicht zu durchschauen war  : Jüdinnen und Juden durften nicht wählen, jede von der NS-Regierung abweichende Meinung wurde im Vorfeld der Abstimmung unterdrückt. Vor den Wahllokalen sorgten SA-Männer für den entsprechenden Druck, und allein die Anordnung der Abstimmungsformulare – mit einem großen Kreis für »Ja« und einem kleinen für »Nein« – machte ebenso klar wie das Ergebnis von 99 Prozent, dass es sich nicht um eine faire und schon gar nicht um eine freie demokratische Entscheidung handelte (Botz 1978, 151–189). Der »Arisierung« genannte Raubzug war in vollem Gange – unter spontaner Beteiligung eines Teils der österreichischen Bevölkerung. Literaten und andere »Kunstschaffende« überboten sich mit Ergebenheitsadressen an das neue Regime – wie etwa Karl Heinrich Waggerl. Der Erzbischof von Wien, Kardinal Theodor Innitzer, unterzeichnete einen Brief an den »Führer« mit »Heil Hitler«, und Österreichs katholische Bischöfe riefen – wie auch Karl Renner – dazu auf, bei der »Volksabstimmung« genannten Legitimierungsfarce vom 10. April 1938 des »Anschlusses« mit Ja zu stimmen. Und Karl Böhm grüßte in der Staatsoper bereits mit dem Hitler-Gruß. Andere Österreicherinnen und Österreicher freilich waren auf der Flucht vor dem Regime, dem Hunderttausende in den Tagen des März 1918 zujubelten. Vielen sollte die Flucht nicht gelingen, sie starben – Zehntausende österreichische Jüdinnen und Juden und Tausende österreichische Roma und Sinti, denen nichts anderes vorzuwerfen war, als dass sie geboren waren. Viele tatsächliche (oder auch vermeintliche) österreichische Gegner des Regimes wurden ermordet – vor allem kommunistische und monarchistische Aktivistinnen und Aktivisten des antinazistischen Widerstandes, aber auch Personen, die sich in den politischen Strukturen des »angeschlossenen« Österreich hervorgetan hatten. Neben vielen anderen waren darunter der Christliche Gewerkschafter Johann Staud, Präsident des autoritär geführten Gewerkschaftsbundes der Ära Dollfuß/Schuschnigg, der im KZ Flossenbürg ermordet wurde. Käthe Leichter, sozialdemokratische Autorin und Expertin der Arbeiterkammer, erlitt ein analoges Schicksal im KZ Ravensbrück. Von denen, die vom NS-Regime unmittelbar an Freiheit und Leben bedroht waren – von den Jüdinnen und Juden Österreichs, hatten schon viele vor dem 11. März 1938 und viele unmittelbar danach den Weg ins Exil beschritten. 266

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Viele gingen in das britische Mandatsgebiet Palästina, der zionistischen Vision folgend. Israel war als Fluchtziel eine Chance, der Verfolgung zu entkommen und so zu überleben (Weinzierl, Kulka 1992). Es waren auch Menschen aus Österreich, die in Palästina aktiv sich an der Vorbereitung der Staatsgründung beteiligten  ; und es waren auch Offiziere österreichischer Herkunft, die in der Haganah (der Vorstufe der Armee des Staates Israel) eine Funktion hatten (Bas­ sett 2016, 538 f.). 1934 waren vor allem Repräsentantinnen und Repräsentanten der politischen Linken geflohen, aber auch viele derjenigen, die am NS-Putsch vom Juli dieses Jahres beteiligt waren. Bei der Flucht der österreichischen Nationalsozialisten waren Behörden des nationalsozialistischen Deutschland behilflich. Die Flucht der Linken konnte sich auf ein internationales Netzwerk stützen, freilich nicht auf die Regierungen anderer Staaten (Gardiner 1983). 1938 mussten noch viel mehr Menschen des sozialistischen Lagers, des katholisch-konservativen Lagers und der als »Jüdinnen und Juden« etikettierten Menschen ihr Leben durch Flucht retten. Auf der Flucht waren Vertreterinnen und Vertreter der österreichischen Kultur und Wissenschaft. Die österreichische Kultur wurde durch diese Flucht des Jahres 1938 auch und vor allem zu einer Exilkultur. Karl Kraus, der wie kein Zweiter in Österreich das Wesen des Nationalsozialismus erkannt und es dokumentiert hatte, musste den »Anschluss« nicht mehr erleben. Egon Friedell beging am 16. März Selbstmord. Joseph Roth war bereits ebenso im Exil wie Stefan Zweig  : Roth starb 1939 in Paris – wie schon vor ihm, ebenfalls im Pariser Exil, Ödon von Horvath. Zweig beging 1942 aus Verzweiflung über den Siegeszug der Achsenmächte in Brasilien Selbstmord. Alma Mahler und Franz Werfel waren mit Hilfe Mussolinis entkommen und erreichten nach Irrfahrten 1941 US-amerikanischen Boden. Dort war bereits der erste Finanzminister der Republik, Josef Schumpeter, als Professor an der Harvard University etabliert – und Paul Lazarsfeld, der intellektuelle Star der österreichischen Jungsozialisten in den 1920er und 1930er Jahren, als Professor an der Columbia University. Maria Jahoda hatte sich ebenfalls ins Exil gerettet, um schließlich als Professorin an der University of Sussex in Großbritannien wirken zu können. Ins britische Exil schaffte es auch Elias Canetti, der sephardische Jude aus Russe in Bulgarien, der zwischen 1924 und 1938 in Wien gelebt hatte. Ludwig Wittgenstein und Karl Popper überlebten ebenfalls im Exil. Beide schrieben, wie auch Schumpeter und Lazarsfeld, ihre wichtigsten wissenschaftlichen Werke im Ausland, das ihnen – anders als Österreich – schon vor 1938 Leben und Arbeit sichern geholfen hatte. Der 1883 geborene Joseph Schumpeter, der politisch nicht einfach einzuordnen war, gehörte nicht zum österreichischen Exil im engeren Sinn  : Er war 267

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weder als politisch noch »rassisch« Verfolgter in die USA gekommen und auch mit keinem der Exilzirkel näher verbunden. An die Harvard University wurde er als bereits weltweit renommierter Wirtschaftswissenschafter berufen – ihm musste keine Hilfe angeboten werden. Doch bezeichnend war, dass Schumpeter seine Karriere als Österreicher in Österreich begonnen hatte, dann aber von und in Österreich nicht gehalten werden konnte. Schumpeter war schon in sehr jungen Jahren Professor für Nationalökonomie an den Universitäten Czernowitz und Graz geworden. In Graz hatte er für den Verband »Para Pacem« 1916 eine Schrift veröffentlicht, mit der er – der kosmopolitischen Position Stefan Zweigs sehr ähnlich – zu einem Verständigungsfrieden aufrief und ausdrücklich gegen das »verabscheuungswürdige Treiben jener« polemisierte, »die ihr Bestes tun, den Riss in der Kulturwelt zu vertiefen und zu vergiften, namentlich auch zu verhindern, dass sich die Völker sobald wie möglich nach dem Friedensschluss kulturell, politisch und wirtschaftlich versöhnen […]« (Schumpeter 1916). 1919 wurde Schumpeter – auf Vorschlag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der er nicht angehörte – Staatssekretär (Minister) in der provisorischen Regierung Renner, zuständig für das Finanzressort. In seiner etwa einjährigen Regierungstätigkeit machte er sich Otto Bauer zum politischen Gegner, vor allem auch weil er Bauers unbedingte Orientierung an einem Anschluss an Deutschland ablehnte. Nach einer Professur an der Universität Bonn wurde Schumpeter 1932 Professor in Harvard. 1942 veröffentlichte er sein bekanntestes Buch (Capitalism, Socialism and Democracy), in dem er die Grundlagen des marktwirtschaftlichen Denkens auf politische Prozesse übertrug und so eine »realistische« Theorie der Demokratie entwickelte (Swed­ berg 1991  ; Nowotny 2007). Wie Schumpeter hätte auch Friedrich Hayek nicht aus Österreich fliehen müssen  : Hayek war weder jüdischer Herkunft noch war er politisch links engagiert. Seine Karriere, die ihm später – 1974 – den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften einbringen sollte, führte in aus Österreich weg  : Österreich konnte ihn nicht halten, und mit dem Nationalsozialismus wollte Hayek nichts zu tun haben. Paul Lazarsfeld wurde in den USA zu einer Leitfigur der sozialwissenschaftlichen Innovation. Zusammen mit Robert Merton, Seymour Martin Lipset und anderen machte er das Sociology Department der Columbia University in New York zu einer, wenn nicht der ersten Adresse der Sozialwissenschaften. Die Untersuchungen zum Wahlverhalten bei den US-Präsidentschaftswahlen 1940 und 1948 (The People’s Choice, Voting) waren bahnbrechend für das Verständnis politischen Verhaltens als Resultante verschiedener, oft divergierender gesellschaftlicher Einflussfaktoren. Nach 1945 engagierte sich Lazarsfeld innerhalb der Ford Foundation für die systematische Förderung des sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Nachwuchses in Österreich. Die Vertreibung ei268

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nes wesentlichen Teils des intellektuellen Potentials 1934 und insbesondere 1938 aus Österreich hatte ja Land und Gesellschaft kulturell und wissenschaftlich verwüstet. Lazarsfeld gelang es, mit anderen – wie Oscar Morgenstern – die Ford-Stiftung 1963 für die Gründung des Instituts für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung in Wien zu gewinnen  : Der Exil-Österreicher hatte sich erfolgreich für Österreich verwendet (Marin 1978, 39–49  ; Lan­ genbucher 2008, 279 f.). Österreichs Kultur zeigte im Exil Lebendigkeit und politische Sensibilität. Franz Werfel, der mit Alma Mahler nach einer mühsamen und gefährlichen Reise von Frankreich über Spanien und Portugal in die USA gelangt war, setzte seiner Flucht ein direktes und ein indirektes Denkmal  : In Jakubovsky und der Oberst schilderte er die Flucht eines polnischen Offiziers und eines polnischen Juden vor der in Frankreich 1940 vorrückenden deutschen Wehrmacht. Und in Das Lied der Bernadette, seinem letzten Roman, erfüllte Werfel sein Versprechen, nach seiner Rettung die Wunder von Lourdes zu würdigen. Stefan Zweig, der – obwohl nicht im engeren Sinn »politisch« – aus Verärgerung über die Polizeistaatsmethoden des autoritären Regimes Österreich schon vor dem »Anschluss« verlassen hatte, schrieb in der Schachnovelle eine Erzählung, in der das Wien des Jahres 1938, das Wirken der Gestapo und das durch diese berüchtigte Hotel Metropol so beschrieben wird, als wäre er dabei gewesen  : in diesem Einfühlungsvermögen Carl Zuckmayer ähnlich, der in den USA in Des Teufels General die Atmosphäre im Berlin des Jahres 1941 so eingefangen hatte, als wäre er selbst Zeuge der Geschehnisse gewesen. Doch auch in Zweigs Schachnovelle spielt das im März 1938 untergegangene Österreich nur die Rolle einer Kulisse. Die zentrale Figur des Romans, ein der Gestapo-Haft gerade noch entkommener politischer Flüchtling, könnte prinzipiell auch 1933 aus Deutschland oder 1939 aus der Tschechoslowakei geflohen sein. Zweig lieferte eine Analyse der psychischen Folgen einer Gestapo-Einzelhaft – und nicht eine der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Verhältnisse in Österreich. Diese auffallende Abwesenheit Österreichs ist auch bei Hermann Broch festzustellen. Broch, in den USA in dem geisteswissenschaftlichen Milieu Amerikas bald etabliert, beschäftigte sich im Exil literarisch mit dem Österreich vor 1914 – etwa in Hofmannsthal und seine Zeit. Aber anders als die anderen, aus Österreich kommenden Schriftsteller im Exil nahm Broch lebhaft Anteil am politischen Geschehen seines Gastlandes. Er veröffentlichte politische Schriften, in denen er sich mit der Demokratie auseinandersetzte – vor allem mit der Demokratie, wie er sie in den USA erlebte. Und in diesen Schriften formulierte er komplexe Einsichten in politische Grundwerte, wie sie Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill in der »Atlantik Charta« formuliert hatten. Die universellen Menschenrechte und die 269

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Vereinten Nationen, die von Roosevelt als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes geplant und politisch durchgesetzt wurden, spielen im politisch-essayistischen Schaffen des späten Broch eine zentrale Rolle. Broch, der 1950 kurz vor seiner Rückkehr nach Europa verstarb, war zu einem Advokaten westlicher, liberaler Demokratie geworden. Vielleicht fiel ihm deshalb zu dem Österreich, wie er es erlebt und wie es zwischen 1918 und 1938 Bestand hatte, nicht allzu viel ein (Broch 1978  ; Lützeler 2011). Zu groß für Österreich war jedenfalls Arnold Schönberg. In den Jahren vor 1914 hatte sich Schönberg einen Platz im musikalischen Milieu Wiens verschafft – als Neutöner, der über Gustav Mahler hinaus zu neuen Ufern der Musik aufbrach, insbesondere mit der Technik der Zwölftonmusik. Schönberg hatte in den ersten Jahren der Republik in Wien den »Verein für musikalische Privataufführungen« gegründet, und junge Komponisten wie Hans Eisler studierten bei Schönberg. Doch 1925 nahm dieser, der den Gegenpol zur etablierten Musik der Wiener Philharmoniker und der Staatsoper bildete, einen Ruf nach Berlin an, als Professor an der Preußischen Akademie der Künste. Als er wegen seiner jüdischen Herkunft diese Position verlor, ging er nicht zurück nach Österreich, sondern zunächst nach Frankreich, dann in die USA. Im kalifornischen Exil hatte er engen Kontakt zu Thomas Mann, in dessen Roman Doktor Faustus Schönberg als »Adrian Leverkühn« eine Rolle spielt. Obwohl er in den Anfängen der Republik von dieser demonstrativ geehrt worden war, kehrte er nicht dorthin zurück (Harrprecht 1995, Band 2, 1386–1389, 142 f.). Schönbergs Schüler Alban Berg und Anton Webern hatten einen teilweise anderen Lebensweg. Webern leitete in Wien die Arbeiter-Sinfoniekonzerte – ein Teil der Versuches des »Roten Wien«, den Zugang zur modernen Musik zu verbreitern. Webern überlebte die NS-Herrschaft in Österreich und starb kurz nach der Befreiung des Landes 1945 in Mittersill in Salzburg. Alban Berg, der 1935 im Alter von 50 Jahren in Wien starb, schuf mit der 1925 erstmals aufgeführten Oper Wozzeck und der 1937 uraufgeführten Oper Lulu die beiden wohl bekanntesten und international erfolgreichsten Opern dieser Periode. Beiden Opern liegt ein literarischer Stoff deutscher Dichter zugrunde – von Georg Büchner und von Frank Wedekind. Dass Wozzeck in Berlin und Lulu in Zürich uraufgeführt wurden, spricht auch dafür, dass Berg (wie die gesamte Schönberg-Schule) in Zwischenösterreich nicht wirklich Wurzeln schlagen konnte. Die Staatsoper spielte ein Programm, das traditionell war – vor allem Mozart, Wagner, Verdi, Strauss. Ihre Erfolge konnten die »Neutöner« vor allem außerhalb Österreichs erzielen. Die Premiere von Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf im Jahr 1927 war eine Ausnahme in dem der Tradition verpflichteten Programm der Staatsoper. 270

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

Sie wurde einer der großen Skandale in der Wiener Operngeschichte. Sowohl das Libretto, das einen »schwarzen« Jazzmusiker in den Mittelpunkt stellte, als auch die Übernahme von Elementen des Jazz waren der Anlass für heftige politische Demonstrationen (Berger 2015, 735). Dass die Oper als »jüdische Provokation« denunziert wurde, zeigte einmal mehr die Ungeistigkeit des Antisemitismus  : Krenek war als Katholik aufgewachsen, katholisch erzogen und »Arier« im Sinne der Kriterien der »Nürnberger Gesetze«. Er verbrachte die Jahre der NS-Zeit im US-amerikanischen Exil – als nicht-jüdischer Gegner des Nationalsozialismus. Krenek, der einige Jahre mit Anna Mahler (der Tochter von Gustav und Alma Mahler) verheiratet war, nahm in den Jahren der Republik und des »Ständestaates« lebhaften Anteil an den Diskussionen, die um Karl Kraus und seine »Fackel« geführt wurden. Er beteiligte sich auch an den Überlegungen Ernst Karl Winters, Österreichs Identität gegenüber Deutschland abzugrenzen und so eine bessere Position in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu gewinnen. Nach seiner Rückkehr nach Österreich formulierte Krenek sein Österreich-Verständnis so  : »Wenn ich von Österreich spreche oder daran denke, meine ich zweierlei  : das gegenwärtige Staatsgebiet […] und die Idee des übernationalen Reiches, die eine ganz andere, historisch bedingte, theoretische Vorstellung ist« (Berger 2015, 744). Die Republik war »das gegenwärtige Staatsgebiet« – eine nüchterne Gegebenheit. Das Österreich, das Gefühle hervorrief, war ein anderes – auch wenn es auf eine »theoretische Vorstellung« reduziert ist. Die Republik war Wirklichkeit, aber Sehnsüchte und Träume – die standen für diejenigen, die ihre Bewusstseinsbildung noch vor 1914 erfahren hatten, mit dieser Republik nicht in Verbindung. Österreich lebte in der österreichischen Exilkultur fort. Aber es war nicht das Österreich der Republik. Billy Wilder und Otto Preminger, die ihre ersten Regieerfolge in Wiener Theatern erzielt hatten, wurden zu Stars in Hollywoods Filmwelt. Preminger konnte und wollte seine österreichische Prägung offenbar nicht loswerden – wie sein Film Der Kardinal demonstriert, der Theodor Innitzers Ambivalenz im Wien in den Wochen und Monaten nach dem »Anschluss« zeigt. Ernst Lothar, Schriftsteller und Regisseur, Direktor des Theaters in der Josefstadt, verbrachte die Jahre der NS-Zeit mit Adrienne Gessner in den USA, wo er am Colorado Springs College lehrte. Nach seiner Rückkehr entstand der Film Der Engel mit der Posaune, der auf Lothars gleichnamigem Roman aufbaute und der die Geschichte Österreichs erzählt – freilich unter weitgehender Ausklammerung der Republik. Was zwischen den Polen des K.-k.-Österreich und der NS-Zeit stattfand, das war kaum der Beachtung wert. Die Republik, dieses Zwischenösterreich der zwei Jahrzehnte nach 1918, schien keine Spuren im kulturellen Bewusstsein und im politischen Narrativ hinterlassen zu haben – 271

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

sieht man vom Opfer- und Märtyrermythos der Sozialdemokratie im Gefolge des Februar 1934 ab. Clemens Holzmeister, dem politischen Katholizismus verbunden, Architekt des Salzburger Festspielhauses und der Seipel-Dollfuß-Kirche in Wien – aber auch der Wiener Feuerbestattungshalle –, wirkte als Städtebauer in der Türkei des Kemal Pascha Atatürk. Die republikanischen Regierungsgebäude des als neue Hauptstadt ausgewählten Ankara sind von seiner architektonischen Handschrift geprägt. Er überlebte die NS-Herrschaft ebenso in moslemischer Umgebung wie Josef Dobretsberger, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Graz und Sozialminister unter Kurt Schuschnigg. Dobretsberger näherte sich nach seiner Rückkehr nach Österreich, nach 1945, der KPÖ an. Irene Harand und Ernst Karl Winter überlebten im US-Exil. Nach New York hatte sich auch Alma Mahler-Werfel nach einigen Jahren in Kalifornien und dem Tod Franz Werfels zurückgezogen – eine Frau, die durch ihre Verbindungen mit Mahler und Gropius, Kokoschka und Werfel als klassische Salondame galt, die viel später, nach ihrem Tod, fast zu einer Ikone des Feminismus wurde  : Sie hatte nie die Chance bekommen, sich in Kunst und Kultur anders als über ihre Männer zu definieren. Unter den Österreichern, die vor dem NS-Regime ins Ausland flüchteten, kam Rüdiger Starhemberg eine besondere Stellung zu. Starhemberg, der 1923 in den Reihen der putschenden Nationalsozialisten in München gegen die deutsche Demokratie, gegen die Weimarer Republik marschiert war, hatte bald Abstand von der NSDAP genommen und war zu deren Gegner geworden. In Österreich hatte er – als aristokratischer Gutsbesitzer in Oberösterreich – beim Aufbau der Heimwehren eine entscheidende Rolle gespielt. Als deklarierter Gegner von Demokratie und Parlamentarismus, wie im »Korneuburger Eid« 1930 programmatisch manifestiert, war Starhemberg für den Druck auf die Parteiführung der Christlichsozialen verantwortlich, ihren verbalen Antimarxismus zu einer Abkehr vom Grundkonsens der Republik weiterzuführen. Starhemberg sah sich – grundsätzlich zu Recht – als Vertreter der italienischen Variante des Faschismus. Im Februar 1934 nahm Starhemberg für sich und die Heimwehren in Anspruch, entscheidend zum militärischen Erfolg der Regierung Dollfuß gegen den Republikanischen Schutzbund beigetragen zu haben. Als Dollfuß’ Stellvertreter in der Regierung wurde er nach dessen Tod Führer der Vaterländischen Front. Starhemberg wandte sich gegen Schuschniggs Versuch, durch ein Abkommen im Juli 1936 einen Modus Vivendi mit dem nationalsozialistischen Deutschland und der NSDAP zu finden. Von Schuschnigg deshalb entmachtet, musste er – als nunmehr entschiedener Gegner der Nationalsozialisten – 1938 ins Exil. Er schloss sich der französischen Luftwaffe an, um ge272

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

gen Hitler-Deutschland zu kämpfen, kam aber nicht mehr zum Einsatz. Nach der Niederlage Frankreichs 1940 erreichte er Argentinien, um dort wieder als Landwirt – wohl besser  : Großgrundbesitzer – zu leben. Unter den Österreicherinnen und Österreichern, die es in dieses Land verschlagen hatte, war er ein einmaliger Fall  : ein deklarierter Faschist, der zunächst mit den, dann gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte und von diesen mit dem Tod bedroht worden war. Starhemberg starb 1955, kurz nach seiner Rückkehr nach Österreich (Starhemberg 1971). Wer zählt all die Namen derer, die den Nationalsozialismus entweder nicht oder nur im Exil überleben konnten  ! Österreich – so schien es – war am Ende. Und mit ihm die österreichische Kultur. Otto Bauers Reaktion auf den »Anschluss«, nicht die Wiederherstellung Österreichs müsse nun das Ziel sein, sondern die gesamtdeutsche Revolution, war nicht nur von einer besonderen, Bauers Illusionen signalisierenden Naivität. Sie zeigte auch, wie hoffnungslos im Jahre 1938 Österreichs Schicksal erscheinen musste. 1938, Finis Austriae  : Wer hätte den Mut gehabt, in diesem Moment der Geschichte daran zu zweifeln  ? Die Sehnsucht des dritten Lagers war erfüllt  ; und die beiden anderen Lager hatten vor der Geschichte verloren. Gemessen an der Bedeutung des österreichischen kulturellen Exils blieb das politische Exil auffallend bedeutungsarm. Das österreichische Exil war politisch gespalten und ohne klare Perspektive von Österreichs Zukunft. In Großbritannien und in den USA zögerten österreichische Sozialdemokraten besonders lange, bis sie sich auf das Ziel der Wiederherstellung der Republik Österreich (und damit auf eine Absage an Otto Bauers »gesamtdeutsche Revolution«) verständigten (Kuschey 2008, 216–248). Julius Deutsch, Oscar Pollak, Marianne Pollak, Friedrich Adler, Josef Buttinger, Karl Czernetz, Walter Wodak, Otto Leichter und andere waren lange Zeit unentschlossen, ob und in welcher Form die österreichische Sozialdemokratie sich politisch positionieren sollte. Insbesondere die Frage, ob Otto Bauers Formel von der »gesamtdeutschen Revolution« und die damit verbundene Absage an die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich die Parteilinie sei, blieb jedenfalls bis nach der »Moskauer Deklaration« vom 1. November 1943 offen. Erst dann setzte sich die Meinung durch, das Kriegsziel der Alliierten – die Wiederherstellung Österreichs in den Grenzen von 1937 – sollte auch das Ziel der österreichischen Sozialdemokratie sein. Das kommunistische österreichische Exil in Großbritannien hatte – wie Eric Hobsbawm beobachten konnte – eine verglichen mit der Sozialdemokratie klare Perspektive. Die Kommunistinnen und Kommunisten hielten an der vor 1938 festgelegten Linie fest, Österreichs Unabhängigkeit gegenüber Deutschland kulturell und politisch zu betonen (Hobsbawm 2003, 168 f.). Das 273

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

katholisch-konservative Exil stand, vor allem in den USA und Kanada, unter dem Einfluss monarchistischer Bestrebungen. Mit dem politisch linken Österreich-Exil, das in den USA vor allem durch Julius Deutsch vertreten war, konnte nur wenig politische Gemeinsamkeit entwickelt werden (Goldner 1977, 107–125). Andere vom Deutschen Reich militärisch besetzte Staaten waren von Exilregierungen repräsentiert, die in London oder anderswo die Interessen ihres Landes vertraten – mit der klaren Zielrichtung, für die Zeit nach der Befreiung von Hitler-Deutschland politisch vorbereitet zu sein. Eine österreichische Exilregierung hingegen gab es nicht – jedenfalls keine, die in irgendeiner Form einen österreichischen Konsens vertreten hätte. Nur das legitimistische Exil schaffte es, eine freilich von niemandem anerkannte Exilregierung in den USA zu bilden. Diese ganz auf die Person des ältesten Sohnes des letzten Kaisers ausgerichtete Regierung hatte nicht die geringsten Chancen, zu einer Verständigung mit dem sozialdemokratischen oder kommunistischen Exil zu kommen. Die Exilregierung hatte auch von vornherein mit den grundsätzlichen Bedenken derer zu kämpfen, die etwa – im Namen der Tschechoslowakei – den Österreich-Begriff der Monarchisten als Kampfansage an das Wiedererstehen der Tschechoslowakischen Republik verstanden. Die auf Otto Habsburg ausgerichtete Exilregierung, die auf die relative Stärke des monarchistischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus pochen konnte, wurde schließlich ein Opfer interner Streitigkeiten im eigenen Milieu (Goldner 1977, 65–106  ; Plöchl 2007). Eine besondere Rolle kam den Österreichern zu, die militärisch gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpften – als spezifisch österreichische Einheiten in den Streitkräften der Alliierten oder auch als Partisanen vor allem in den alpinen Regionen des Landes (Goldner 1977, 126–175  ; Luza 1984, 1986–1998  ; Neugebauer 2014, 192–205  ; Traussnig 2016). Diesem militärischen Widerstand kam vor allem deshalb Bedeutung zu, weil 1945 die österreichische Regierung darauf verweisen konnte, um so zu belegen, dass der in der Moskauer Deklaration geforderte Anteil Österreichs an seiner Befreiung tatsächlich geleistet worden war. Die in Österreich verbliebenen Sozialdemokraten waren für den Wiederbeginn 1945 politisch prägender als das sozialdemokratische Exil  : Sie waren in den Tagen des April 1945 einfach da. Die Sozialdemokratie – allen voran Karl Renner – war zur Stelle, um (gemeinsam mit der als Nachfolgerin der Christlichsozialen Partei neu gegründeten Österreichischen Volkspartei und der KPÖ) unter der wohlwollenden Förderung der sowjetischen Behörden eine Provisorische Regierung ins Leben zu rufen, die am 27. April 1945 die Unabhängigkeit Österreichs erklärte. Die bestimmenden Sozialdemokraten in 274

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

dieser Gründungsphase waren weder die, die im Exil lebten (denn diese konnten ja erst nach Wochen oder Monaten zurückkommen), und auch nicht die, die noch als Häftlinge in den Lagern des NS-Regimes waren. Adolf Schärf hatte Kontakte mit dem deutschen Widerstand und wurde deshalb auch 1944 verhaftet, kam aber wieder frei – ebenso wie Karl Seitz. Karl Renner aber, der »Mann für alle Jahreszeiten«, hatte sich von jeder Widerstandstätigkeit ferngehalten. Und er stand schon bereit, als im April 1945 sowjetische Truppen seinen Wohnort Gloggnitz erreichten – bereit, um wieder Hand anzulegen  ; bereit, um die Republik abermals zu gründen. Ähnliches galt auch für das katholisch-konservative Lager  : Entscheidend war, wer im Frühjahr 1945 im Lande war, in den von den Alliierten befreiten Gebieten. Die Repräsentanten dieses Lagers, die 1945 die Österreichische Volkspartei gründeten, hatten ebenfalls ihre Anti-NS-Haltung glaubwürdig unter Beweis gestellt  : Insbesondere traf dies auf Leopold Figl zu, den ersten Obmann der Volkspartei und ersten Bundeskanzler der Zweiten Republik. Figl war 1945 nur knapp der Hinrichtung entgangen. Auch der erste Generalsekretär der ÖVP, Felix Hurdes, hatte längere Zeit im Konzentrationslager verbracht. Häftlinge im Konzentrationslager waren auch Alfons Gorbach, Bundeskanzler der Republik von 1961 bis 1964, und Alfred Maleta, der in der Zweiten Republik (wie Hurdes auch) Präsident des Nationalrates werden sollte. Karl Gruber, im Mai 1945 provisorischer Landeshauptmann Tirols und dann Staatssekretär (Außenminister) der Regierung Renner, kam aus dem konservativen Widerstand und sicherte der in Wien gegründeten ÖVP eine gesamtösterreichische Basis. Die einzige Exilgruppe, die 1945 eine wesentliche Rolle zu spielen vermochte, waren die Kommunistinnen und Kommunisten. Sie kamen aus Moskau nach Österreich zurück (Fischer 1969, 291–427) – oder auch in den Reihen der Österreichischen Freiheitsbataillone, die auf der Seite der jugoslawischen Partisanen gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatten. Die KPÖ wurde für ihre Anti-Nazi-Aktivitäten letztlich aber nicht belohnt – zu sehr wurde sie mit der Sowjetunion und dem Verhalten der Roten Armee identifiziert, die es nicht erreichen konnte, in Österreich gesellschaftlich als das anerkannt zu werden, was sie objektiv war  : eine Armee der Befreier. Zu sehr spielten antikommunistische und »antibolschewistische«, latent rassistische Vorurteile (in denen auch die NS-Propaganda weiterwirkte) mit dem real erlebten Verhalten der ihrer Befreierrolle nicht wirklich gerecht werdenden Roten Armee einander in die Hände. Zu sehr hatte die KPÖ wohl auch den zwar vorhandenen, nicht aber dominanten »antifaschistischen« Österreich-Patriotismus in Österreichs Gesellschaft überschätzt. Die Kommunistische Partei hatte gegenüber den historisch fest in ihrer Lagertradition 275

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

verankerten anderen Parteien – der SPÖ und der ÖVP – im freien Wettbewerb um Wählerstimmen keine Chance nicht obwohl, sondern weil Antifaschismus und Österreich-Patriotismus in diesen beiden anderen Parteien viel schillernder, viel ambivalenter waren. Doch alle Tragödien, aller Heroismus des österreichischen Exils und des Exils in Österreich verblassen angesichts des Schicksals des Geschichtsmächtigsten aller Österreicher im Exil. Adolf Hitler, österreichischer Staatsbürger, hatte im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger in einer bayerischen Einheit der Armee des kaiserlichen Deutschland gedient. Sein Umzug von Wien nach München, 1913, kann wohl nicht als Flucht gedeutet werden – jedenfalls nicht als Flucht vor politischer Verfolgung  ; wenn schon, dann als Flucht vor der eigenen Erfolglosigkeit. Es war die kaiserliche deutsche Armee, die seinem Leben Halt gab  ; und es war die nach dem Ende des Krieges einsetzende politische Karriere in Deutschland, die ihn zu der zentralen politischen Figur Europas in den 1930er und 1940er Jahren machte. Hitler hatte nicht die demokratische Republik Österreich verlassen, sondern das alte Österreich. Wie er in Mein Kampf beschrieb, störte ihn an diesem Österreich vor allem die Multikulturalität, die Multinationalität. Habsburg-Österreich war für ihn zum Feindbild geworden, dem er die Utopie eines »rassisch reinen«, eines deutschen Nationalstaates entgegenstellte, der eine Weltmachtrolle vor allem in einem Expansionsdrang nach dem Osten Europas erzwingen sollte. Mit dem Österreich, das 1923 – dem Jahr des Putschversuches von München – existierte, hatte dieses Feindbild nichts zu tun. Ob nun Hitlers Weltsicht wirklich schon 1913 fertig und entscheidend für seine Emigration nach Deutschland war  ; ob nicht doch seine berufliche Erfolglosigkeit das wesentliche Motiv war und er seine rassistische, völkische Begründung erst als Überbau in München konstruierte, ist bis heute umstritten (Longerich 2015, insbes. 57–91). Sicher ist aber, dass das kleine Österreich der Republik für ihn keine besondere bewusstseinsbildende Rolle spielte. Das Österreich der Zwischenkriegszeit war für den von Großmachtphantasien beflügelten Hitler von höchstens sekundärer Bedeutung. Österreich war 1918 für den zukünftigen Diktator unwichtig geworden. Er sah es als Objekt einer (seiner) Aggression, und politisch ging es ihm 1938 vor allem darum, die Zustimmung Benito Mussolinis zum »Anschluss« zu erreichen – unabhängig davon, was Österreichs Regierung darüber dachte. Als er im Februar 1938 den österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg in Berchtesgaden empfing, um ihn massiv unter Druck zu setzen, behandelte Hitler Schuschnigg wie einen latent aufsässigen Satrapen, den er durch Drohungen zur Ordnung zu rufen hatte. Während Schuschnigg Hitler mit »Herr Reichskanzler« ansprach, war Schuschnigg für Hitler immer nur »Herr Schuschnigg«. 276

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

Der Chef der autoritären Regierung Österreichs war für den deutschen Diktator kein Partner oder auch nur Gegner, mit dem er auf gleicher Augenhöhe verhandelt hätte (Schuschnigg 1946, 37–52). Als Hitler 1932 für das Amt des Reichspräsidenten kandidierte, musste der inzwischen staatenlose Österreicher erst durch einen rechtlichen Kunstgriff zum deutschen Staatsbürger gemacht werden, damit er überhaupt zur Wahl antreten durfte. Bis dahin war er zunächst Auslandsösterreicher, danach staatenlos. Um seine Phantasien, seine Visionen umzusetzen, war ihm Österreich nicht groß genug – er brauchte das große Deutschland, er musste das Deutsche Reich zum Großdeutschen Reich machen und dabei Österreichs Selbständigkeit zerstören. Nur so konnte er zur negativen Figur des Jahrhunderts schlechthin werden. Für Österreich war er, waren seine Ambitionen zu groß. Von Österreich aus hätte er nicht Europa, ja die ganze Welt an den Rand des Abgrunds führen können. Österreich war diesem Österreicher ganz einfach zu klein. Ignaz Seipel und Otto Bauer, nach Viktor Reimann »zu groß für Österreich«, waren es nicht, die das weitere Schicksal Österreichs prägen sollten  : Seipel war noch vor dem Ende der Republik gestorben – ein Ende, an dessen Zustandekommen er nicht unwesentlich beteiligt war. Bauer starb zwischen »Anschluss« und Kriegsbeginn in Paris – das Wiedererstehen der Republik Österreich war bis zuletzt nicht eine Perspektive, die er für wünschenswert oder auch nur realistisch gehalten hätte. Dass die beiden »zu groß« für das klein gewordene Österreich gewesen wären, dafür gibt es einige Argumente. Otto Bauer konnte seine Vision von einem großen, demokratischen und sozialistischen Deutschland nie hinter sich lassen. Und Ignaz Seipel sah sich als Akteur auf einem europäischen Schachbrett, in dem er vor allem als loyaler Sohn einer globalen Kirche zu agieren hatte. Beide erlebten das alt-neue, kleine, demokratische Österreich der Zweiten Republik nicht mehr. In diesem Österreich kam dem intellektuellen Erbe dieser beiden »Großen« keine reale politische Rolle zu. Otto Bauer freilich wurde Gegenstand einer Renaissance sozialistischen Denkens. In Österreich stieg das Interesse an Otto Bauer gerade zu einer Zeit sozialdemokratischer Hegemonie – in den 1970er Jahren. Diese »Welle der Bauer-Rezeption« (Hanisch 2011, 387–393) war das Ergebnis einer gewissen Ernüchterung  : Die Zweite Republik und ihre Erfolge, und gerade auch die Erfolge der Sozialdemokratie, hatten eines offenbar nicht gebracht – den Sozialismus, wie er in der Tradition des Austromarxismus zu verstehen gewesen wäre  : eine »klassenlose Gesellschaft« als Essenz dessen, wofür die Sozialdemokratie der Ersten Republik politisch gekämpft hatte. Die »Normalisierung« der Sozialdemokratie innerhalb des Erfolgskurses der Zweiten Republik war 277

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

verbunden mit einem reformistischen Social Engineering, einer evolutionären Verbesserung der Lebensverhältnisse. Aber hatte nicht die Sozialdemokratie einmal mehr versprochen  ? Otto Bauer war, diesbezüglich, von der Gnade des rechtzeitigen Todes erfasst  : Er starb, ohne sich mit dem Regierungspragmatismus beschäftigen zu müssen, für den ab 1945 die Namen Karl Renner und Adolf Schärf und später Bruno Kreisky standen. Dieser Regierungspragmatismus schien für die »Größe« eines Otto Bauer und seiner »österreichischen Revolution« und seines »integralen Sozialismus« keinen Platz zu lassen. Und Otto Bauer schien auch in ein strategisches Denken zu passen, das – unter dem Stichwort »Eurokommunismus« – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Suche nach einem sozialistischen Weg zwischen Marxismus-Leninismus und Sozialdemokratie stand. Bauer wurde – posthum – eine Rolle zugeschrieben, die er mit Antonio Gramsci teilte  ; jenem italienischen Kommunisten, der wie Bauer gestorben war, bevor er mit einer Wirklichkeit zu tun bekommen hatte auf die er vielleicht, wahrscheinlich keine entsprechende Antwort gewusst hätte. Ignaz Seipel erfuhr keine analoge Renaissance – nicht als Theoretiker, nicht als Praktiker. Sein Politischer Katholizismus war nach 1945 nicht mehr anwendbar. Der »Ständestaat« war untergegangen – und das ohne eine heroische Geste, wie sie die Republik 1934 für sich in Anspruch nehmen konnte. Die österreichische Gesellschaft wurde in der Zweiten Republik von einer Welle der Säkularisierung erfasst. Für eine breite politische Bewegung, die sich unmittelbar auf die politischen und sozialen Aussagen der Katholischen Kirche hätte berufen können, war da wenig Platz. Und einen Raum gab es auch nicht für eine nostalgische Rückbesinnung auf die Erfahrungen der Ersten Republik  : Während sich die Bauer-Rezeption nicht mit dem unmittelbaren Scheitern Bauers auseinanderzusetzen hatte, weil Bauer für die Kräfte der Opposition der Ersten Republik und nicht für die primär Verantwortung tragende Regierung stand, wäre eine Seipel-Rezeption mit der gegen die demokratische Republik gerichteten Politik des an der Macht befindlichen katholisch-konservativen Lagers konfrontiert worden. 1945 brach die Sozialdemokratie de facto mit dem Austromarxismus – und damit mit Otto Bauer. Und die Christlichsozialen verabschiedeten sich als Österreichische Volkspartei vom Politischen Katholizismus Seipelscher Prägung. Es war Karl Renner, dessen durchaus auch opportunistisch zu nennende Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sich von diesen »Übertreibern des Klassenkampfes« (Renner 1953, 80) so entschieden abhob, der zur Schlüssel- und auch zur Symbolfigur des sich nunmehr mit seinem Status einer kleinen und demokratischen Republik abzufindenden Österreich werden sollte. Die »Großen« der Ersten Republik hatten letztlich keine Geschichtsmächtigkeit. Der 278

Österreichisches Exil und Exil in Österreich

Widerspruch zwischen den großen Sehnsüchten und der politischen Realität war endlich aufgehoben. Dem freilich hatte das Scheitern der Ersten Republik und die Katastrophe des »Anschlusses« vorangehen müssen.

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939 war das von den Interessen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs bestimmte Mitteleuropa untergegangen. Unfähig, dem Druck der revisionistischen Mächte Deutschland und Italien standzuhalten  ; alleingelassen von den großen Demokratien Westeuropas (wie die Tschechoslowakei in München im September 1938)  ; nur allzu bereit, sich gegeneinander ausspielen zu lassen – wie Polen und Ungarn gegen die Tschechoslowakei, wie Ungarn gegen Rumänien –, schien dieses 1918, 1919 und 1920 geschaffene Mitteleuropa als Fußnote zu Ende zu sein. Das Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit war gescheitert, es endete in einer Katastrophe – wie auch Österreich als Teil der Region (Rauscher 2016, 180–183). Doch dieses Mitteleuropa kehrte wieder – entgegen den Erwartungen derer, die es 1939 schon für endgültig erledigt gehalten hatten. Und es war die Republik Öster­reich, die 1945 und in den Jahren unmittelbar danach von allen diesen Staaten des zentraleuropäischen Raums das beste Los gezogen hatte  : Während die Staaten Mitteleuropas 1945 – mit der großen Ausnahme Polens – im Wesentlichen in den Grenzen von 1920 wiedererrichtet wurden, war Österreich der einzige dieser Staaten, der nicht in direkte, ja alleinige Abhängigkeit von der UdSSR geriet, der neuen ost-mitteleuropäischen Vormacht. Österreich kam 1945 in den Genuss einer geopolitischen Zufälligkeit  : Befreit und besetzt von den westlichen Alliierten und der Sowjetunion, konnte es sich in diesem neuen Europa Spielraum verschaffen, wie dies keinem anderen der mitteleuropäischen Staaten gelang. Dass die durch eine fast zufällige, nicht vorausplanbare Konstellation wiedererstandene Republik, die sich auf ihren Status des Jahres 1920 berief, nun dieses Geschenk einer weltpolitischen Interessenlage erfolgreich zu nutzen verstand, das war das Verdienst der im politischen System der Republik bestimmenden Akteurinnen und Akteure. Dass es dieselben Personen waren, die im Namen derselben Kräfte handelten, die 1933, 1934 und 1938 so kläglich gescheitert waren – das war das eigentliche, das entscheidende Lebenszeichen des post-habsburgischen Österreich. 1945 wurde Österreich die Chance geschenkt, von einer gescheiterten zur »paradoxen Republik« zu werden (Rathkolb 2005). Gerade in ihrer und durch ihre Paradoxie wurde diese, die Zweite Republik, zu einem Erfolg. Denn sie hatte zu lernen begonnen, mit den Widersprüchen zu leben. In der Ersten Republik hatte jedes Lager versucht, diese Widersprüche aufzuheben – die Widersprüche von Klasse, Konfession, Nation  ; sie aufzulösen – nötigenfalls mit Gewalt. Dass eine Demokratie erlaubt, ja geradezu fordert, politisch nicht in 281

Was blieb  ?

den Kategorien »gut – böse«, sondern »besser – schlechter« zu denken und zu handeln  ; nicht alles zu wollen, sondern sich auf das Kalkül eines abwägenden »Mehr oder Weniger« einzulassen – diese Einsicht unterschied diese Zweite Republik, schon bald erkennbar, von der Republik der Jahre 1918 bis 1934/38. Die Zweite Republik begann ihre Erfolgsgeschichte mit einer Amnesie. Die Republikgründer waren ja Personen, die auch für die Fehler und das Versagen der Ersten Republik Verantwortung trugen. Diese Gründer hatten gelernt, und sie waren zum Lernen auch mehr oder weniger gezwungen gewesen  : durch die Jahre der NS-Herrschaft und durch das Angebot der Alliierten, einem neuen Österreich – freilich in den Grenzen des alten, der Ersten Republik – eine zweite Chance zu geben. Der Neubeginn 1945 war von einem Nebeneinander aus Kontinuität und Diskontinuität gekennzeichnet – ein Widerspruch, der pragmatisch balanciert wurde. Kontinuität, die bestand in der Ordnung der Republik, ihrer Verfassung, ihren Strukturen – die neue Republik war die alte, wie sie 1918, 1919, 1920 geschaffen worden war. Und die neue Republik wurde von denselben politischen Kräften bestimmt, die schon die alte bestimmt hatten  : von den politisch-weltanschaulichen Lagern, die sich wieder in Parteien formierten. Diese gaben sich zwar neue Namen. Aber sie beriefen sich in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 ausdrücklich auf den »Geist der Verfassung von 1920« – und auf die Moskauer Deklaration vom Herbst 1943 und deren Feststellung, dass Österreich im März 1938 »der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen« sei. Die Österreichische Volkspartei definierte sich als »Christlichsoziale Volkspartei bzw. nunmehr Österreichische Volkspartei« und die Sozialdemokratie als »österreichische Sozialdemokratie, nunmehr Sozialistische Partei Österreichs (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten)«. Für die SPÖ hatten Karl Renner und Adolf Schärf das Dokument unterzeichnet, für die ÖVP Leopold Kunschak. Als dritte Partei unterschrieb die Kommunistische Partei Österreichs, vertreten von Johann Koplenig (Rot-Weiß-Rot Buch 1946, 200 f.). Es fehlte freilich – zunächst – das deutschnationale Lager. Die beiden anderen Lager waren nicht nur präsent. Sie waren vor allem handlungsfähig, sie entschieden über die Verfassung und damit auch über die Regierungsform. Und sie waren zu einem Einvernehmen mit den Alliierten bereit und fähig – mit den Befreiern, den Besatzern. Und es waren die Personen, die aus den politisch-weltanschaulichen Lagern kamen und für die Parteien sprachen, die erst recht Kontinuität ausdrückten  ; Personen, die sich stillschweigend darauf einigten, einander möglichst nicht Fehler der Vergangenheit vorzuwerfen. Die Vergangenheit war zwar höchst lebendig – wie in der personellen und strukturellen Kontinuität der Wiedergründung der Republik manifest war. Doch die 282

Was blieb  ?

Vergangenheit wurde in weiten Teilen tabuisiert  : Die Republikgründer waren nur zu gerne bereit, wesentliche Aspekte des Scheiterns, auch und gerade des eigenen Scheiterns, aus dem Nachkriegsdiskurs auszuklammern. 1945 wollten diejenigen, die auf den Trümmern des von so vielen bejubelten »Dritten Reiches« die Republik Österreich wieder aufbauten, nicht daran erinnern und auch nicht daran erinnert werden, wie sehr die Republik 1933, 1934 versagt und wie entscheidend der Nationalsozialismus in Österreich verwurzelt war. Insbesondere der Antisemitismus – dessen Verankerung in Österreich, dessen reale Ausprägung – sollte in den ersten Jahren der Zweiten Republik nicht erwähnt werden. Der Antisemitismus, den gab es offiziell nicht. Und wenn, dann hatten »die Deutschen« die Verantwortung für die Vertreibung und Ermordung der Jüdinnen und Juden Österreichs zu tragen. Dass die antijüdischen Vorurteile in der Praxis auch nach 1945 weiterlebten, wurde öffentlich kaum thematisiert. Die ersten Jahre der Zweiten Republik waren durch den »Anspruch eines Neubeginns inklusive einer Absolution« bestimmt (Ser­ loth 2016, 98–102). Die politischen Eliten der Zweiten Republik erforschten nicht ihr Gewissen, sie versuchten keine Analyse der Ursachen des Versagens der Ersten Republik vorzunehmen. Sie waren keineswegs von einer Einsicht in so etwas wie »Schuld« geplagt. Sie verhielten sich freilich anders als in der Vergangenheit. Und durch dieses andere, dieses neue Verhalten demonstrierten sie ihre Lernfähigkeit. Das Ausblenden wesentlicher Aspekte der Vergangenheit war nicht oder nicht primär die Folge einer bewussten politischen Weichenstellung. Es entsprach einer gesellschaftlichen Befindlichkeit der Jahre nach 1945  : Erinnern war gefährlich, Erinnern war schmerzhaft. Es ging um den »Wiederaufbau«. Was da genau wiederaufgebaut werden sollte, jenseits der Beseitigung der Kriegsschäden, war wohl nicht eindeutig definiert. Ein öffentlicher Diskurs darüber hätte an vielem gerührt – an die verdrängte Vergangenheit der Täterinnen und Täter, an die Wunden der Opfer und vor allem auch die ambivalente Gefühlswelt derjenigen, die nicht unbedingt darauf stolz sein konnten, sich einfach angepasst zu haben  ; angepasst an die herrschenden »Verhältnisse« der Jahre 1938 bis 1945 (Ziegler, Kannonier-Finster 2016, 199–225). Dass der Neubeginn von einer Amnesie begleitet wurde, musste auch die insgesamt geringe Zahl von Jüdinnen und Juden, die das Ende des NS-Regimes in Österreich erlebten, misstrauisch machen. Die Jüdinnen und Juden, die oft nur durch die Gunst des Zufalls überlebt hatten und sich im Mai 1945 in Österreich befanden, sahen sich einer keineswegs nur freundlichen Umwelt gegenüber. Sie waren nun, ab April und Mai 1945, nicht mehr an ihrem Leben bedroht. Doch sie mussten erfahren, dass die gegen sie gerichteten Vorurteile nicht mit der Befreiung der Konzentrationslager und auch nicht mit der be283

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dingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches aufgehört hatten. Jüdisches Leben in Österreich existierte – aber es war für viele Jüdinnen und Juden ein Leben »auf gepackten Koffern«  : Das Leben in Österreich war jedenfalls zunächst eine Existenz auf Abruf, in Richtung Palästina oder auch in die USA (Cohen-Weisz 2016, 121–176). Das deutschnationale Lager hätte niemand repräsentieren können, der nicht durch eine persönlich vorwerfbare nationalsozialistische Vergangenheit für die Alliierten und für die auf das Vertrauen der Alliierten angewiesenen Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung inakzeptabel gewesen wäre. Im Sinne der Opferrolle, die von den Alliierten in Moskau formuliert worden war und nun von der Provisorischen Staatsregierung betont wurde, durften die Vertreter der neuen, alten Republik nicht durch eine nationalsozialistische Vergangenheit belastet erscheinen. Diese Belastung wurde verstanden als Mitgliedschaft in der NSDAP. Das »dritte Lager« war eben deshalb 1945 nicht handlungsfähig. 1945 und in den ersten Jahren danach war Pragmatismus angesagt. Die Provisorische Staatsregierung hatte sich darauf festgelegt, die Moskauer Deklaration über die Wiederherstellung Österreichs so zu interpretieren, dass damit die Republik und deren Verfassung von 1920 gemeint waren. Darüber bestand zwischen den drei Koalitionsparteien – SPÖ, ÖVP, KPÖ – Konsens. Kein Konsens bestand, ob die nun wieder geltende Verfassung auch die Novelle von 1929 umfassen sollte. SPÖ und ÖVP einigten sich aber rasch darauf, der von der KPÖ kommenden Überlegung, auf diese Stärkung der präsidentiellen Komponente zu verzichten, nicht zu folgen. Der Grund war kein verfassungstheoretischer und verfassungspolitischer. SPÖ und ÖVP waren davon geleitet, einer ins Grundsätzliche gehenden Verfassungsdebatte auszuweichen. Im Hintergrund stand schon eine faktische antikommunistische Orientierung – eine solche Debatte hätte den Konsens zwischen SPÖ und ÖVP gefährden und damit den Interessen der KPÖ dienen können. Ein wesentlicher Teil des Konsenses des Jahres 1945 war, die Konflikte der Vergangenheit auszusparen. Die sich wieder in traditionellen Parteiformationen organisierenden Lager hatten zwar ihre festen Geschichtsbilder, die sich freilich jetzt teilweise neu zu interpretieren hatten  : Engelbert Dollfuß wurde innerhalb der ÖVP als Opfer der Nationalsozialisten, als tapferer Kämpfer gegen einen übermächtigen Gegner dargestellt – seine andere Rolle als Zerstörer der parlamentarischen Demokratie wurde ausgeblendet. Die Interpretation der Rolle von Dollfuß, die der britische Historiker Gordon Shepard vornahm, entsprach dieser Selektivität (Shepard 1961). Aber die ÖVP hatte akzeptiert – und das war ein signifikantes Zeichen einer neuen politischen Kultur, dass die Rechtfertigung des »Ständestaates« nicht die Sensibilität ihres 284

Was blieb  ?

Koalitionspartners, der SPÖ, überfordern dürfe. Als Kurt Schuschnigg, der NS-Haft entkommen, 1945 von Italien aus Kontakt mit seinen nunmehr in der Österreichischen Volkspartei organisierten politischen Freunden aufnahm, wurde ihm dringend geraten, nicht nach Österreich zurückzukommen (Schu­ schnigg 1969, 378). Ein potentiell politisch aktiver, ja ein in Österreich bloß präsenter Schuschnigg hätte die politische Atmosphäre erheblich belastet und das nunmehr auf Kompromiss ausgelegte Kräfteparallelogramm der Republik gestört  : Hatte er doch die Verantwortung für den repressiven Charakter des autoritären Staates und insbesondere als Justizminister auch für die ausgesprochenen Todesurteile nach den Bürgerkriegen von 1934. In der SPÖ wurde die eigene Opferrolle – insbesondere in Verbindung mit den Kämpfen des Februar 1934 – hochgehalten und betont. Aber die Parteiführung (Karl Renner, Adolf Schärf, Oskar Helmer) sorgte sich im politischen Alltag mehr um eine klare Abgrenzung gegenüber der KPÖ, die ja – grundsätzlich zu Recht – als verlängerter Arm der UdSSR galt, deren Armee Österreich nicht nur (im Zusammenspiel mit den anderen Alliierten) befreit, sondern auch in weiten Teilen besetzt hatte. Renner, Schärf, Helmer hatten schon in der Ersten Republik als Pragmatiker des rechten und nicht als »Ideologen« des linken Parteiflügels gegolten. Die SPÖ feierte ihre Tradition – etwa durch die (Wieder-)Benennung von Straßen, Plätzen, Gebäuden in der Stadt Wien und in anderen Gemeinden nach Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Gemeindebauten trugen nun wieder die Namen von Karl Marx und Friedrich Engels. Und auch das Republikdenkmal stand wieder, unverhüllt, auf der Ringstraße. Aber in der Praxis respektierte die SPÖ die zentralen Empfindlichkeiten der ÖVP, ebenso wie dies auch umgekehrt der Fall war. Die Amnesie der Anfangsjahre der Zweiten Republik betraf auch und vor allem die Verflechtungen Österreichs mit der NS-Terror- und Kriegsmaschine. Dass Österreich (als Staat) von den Alliierten 1943 als »Opfer« definiert worden war, half, die Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft am Nationalsozialismus möglichst zu verdecken. Dass Österreich, mit Zustimmung der Alliierten, schon im Spätsommer 1945 eine für das gesamte Gebiet der Republik amtierende Regierung hatte, dass noch im selben Jahr allgemeine und freie Parlamentswahlen eine demokratisch-republikanische Normalität herstellten, machte den wesentlichen Unterschied zwischen befreitem Österreich und dem besiegten Deutschland aus. Die partielle Amnesie kann auch als Preis für die neue Politische Kultur der Republik gesehen werden  : Man wollte demokratische Stabilität erreichen – durch die Teilung der politischen Macht zwischen ÖVP und SPÖ wie auch zwischen den Sozialpartnern. Die Präsentation eines Registers vergangener Sünden hätte diese Kultur des Kompromisses erschwert. Die Akteure der Re285

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publik wollten insgesamt nicht an das Versagen der Republik erinnert werden  : nicht daran, wie die erste Chance zur Errichtung einer demokratischen Republik verspielt worden war  ; nicht daran, wie diese Demokratie durch ein autoritäres System ersetzt und wie dieses (und mit ihm die österreichische Unabhängigkeit) wie ein Kartenhaus, kampf- und ruhmlos, zusammengestürzt war. Niemand wollte daran erinnert werden, dass der Anteil der Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus etwa dem Anteil der österreichischen Bevölkerung an der des Deutschen Reiches nach 1938 entsprochen hatte. Daran zu erinnern, die Ursachen des Scheiterns der Republik systematisch zu thematisieren – das wäre ein wesentlicher Störfaktor gewesen. Die Tendenz zur Tabuisierung des Nationalsozialismus, seines verbrecherischen Charakters und die Verflechtungen der österreichischen Gesellschaft mit dem NS-Regime hatte eine innenpolitische Funktion  : die Stabilisierung einer Demokratie zu fördern, in der ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler sich in unterschiedlicher Form mit dem Nationalsozialismus identifiziert hatte (Pelinka, Weinzierl 1997). Es bedurfte einer neuen Generation, einer Generation, für die Fragen eigener, persönlicher Schuld und Betroffenheit irrelevant waren, damit das Scheitern, das Versagen der Republik thematisiert werden konnte – ohne dass damit die nunmehr etablierte Politische Kultur der Machtbeteiligung, des Ausgleichs, des auf den Wettbewerb um Wählerstimmen reduzierten Konkurrenzkampfes durch die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gefährdet gewesen wäre. Dieser neuen Generation war es möglich, die Fehler der Vergangenheit, der Jahre zwischen 1918 und 1938, zu benennen, weil die österreichische Demokratie, weil die Republik sich nach 1945 stabilisiert hatte. Für diese Stabilisierung war ein intellektuell nur schwer akzeptierbarer, ethisch anrüchiger Preis bezahlt worden  : eine politisch-moralische Amnesie. Aber es war ein Preis, der politisch sinnvoll, vielleicht unvermeidlich war – wenn dem Ziel der Stabilisierung der Republik alles andere untergeordnet werden sollte. Die Erinnerung an die (Erste) Republik war Gegenstand einer »selektiven Erinnerungspolitik« (Hanisch 2011, 379–393) – jedenfalls im Innenverhältnis von Sozialdemokratie und Politischem Katholizismus. Ein Lager betonte die Verantwortung des jeweils anderen und griff die Aspekte aus den historischen Abläufen heraus, die in das von vornherein feststehende Bild passten. Für die Sozialdemokratie war vom Beginn der Zweiten Republik an Charles Gulick der Repräsentant einer gut begründeten, aber eben selektiven Wahrheit. Die Nachfolger der Christlichsozialen stützten sich auf Gordon Sheperd und später, als in der Diskussion um Kurt Waldheim 1986 und danach der Vergangenheitsdiskurs an Schärfe zunahm, Gottfried Kindermann. In der sozialdemokratischen Sicht ist der Februar 1934 das Katastrophendatum der Republik  ; in 286

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der katholisch-konservativen Sicht ist der Februar 1934 vor dem Hintergrund der auch 1934 schon drohenden eigentlichen Katastrophe des März 1938 zu verstehen (Gulick 1948, Sheperd 1961, Kindermann 1987). Eine Wahrnehmung der Geschichte der Republik und ihres Scheiterns jenseits der Selektivität wurde und wird mit dem Generationenwandel immer leichter – vor allem wenn die »Schuldfrage« durch eine differenzierende Verantwortungsanalyse ersetzt wird. Und in eine solche sind auch die Fragestellungen aus der Vorgeschichte der Republik einzubeziehen  : Wenn aus einer österreichischen Sicht (so formuliert von Karl Kraus) der Erste Weltkrieg die »Generalprobe des Weltuntergangs« war, war dann die »Zwischenkriegszeit« der erste Akt der Premiere  ? Wenn aus einer anderen österreichischen Sicht (bei Richard Coudenhove-Kalergi) der Zerfall von Österreich-Ungarn das Scheitern eines möglichen »Paneuropa« war, war dann die Zwischenkriegszeit eine einzige große Lernverweigerung  ? Welche Chancen ließ die Republik ungenützt, die sie zwischen 1918 und 1933 gehabt hätte  ? Gelernt hat – oft mit ärgerlicher Langsamkeit – auch die österreichische Gesellschaft. Dass der Antisemitismus nicht im Mai 1945 unter den Trümmern der Reichskanzlei in Berlin begraben wurde, durfte natürlich niemanden überraschen. Dass er weiterexistiert, zeigt, dass er einem vulgären Bedürfnis derer in der Gesellschaft entspricht, die in unterschiedlicher Form auf »die Juden« fixiert sind  ; und dass der Hass auf Juden mit der realen Existenz von Jüdinnen und Juden nichts zu tun hat. Dass der Antisemitismus nicht mehr in der Form existiert, wie dies in den Programmen des deutschnationalen und des konservativ-katholischen Lagers der Ersten Republik nachzulesen ist – in Formulierungen, die heute oft ungläubiges Erstaunen über die dumme Dreistigkeit antijüdischer Parolen auslösen –, das ist ein wohl positiv zu bewertendes Lernergebnis. Dass der Antisemitismus aber eine Ebene tiefer im gesellschaftlichen Gefüge weiterlebt, ist ebenso Realität  : Für einen Wahlerfolg in der Zweiten Republik ist offener Antisemitismus kontraproduktiv  ; für das Abrufen von Ressentiments etwa in den »sozialen Medien« kann der Antisemitismus aber sehr wohl nützlich sein (Gottschlich 2012). Die Zweite Republik und die Gesellschaft in der Zweiten Republik sind anders als die Erste Republik und deren Gesellschaft – aber eben auch nicht so ganz anders. Die 1918 gegründete Republik wäre als einziger der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns prädestiniert dafür gewesen, eine Alternative zu dem nach den Friedensschlüssen von 1919 und 1920 erst recht grassierenden Extremblüten eines ethnisch, eines »völkisch« verstandenen Nationalismus zu entwickeln. Die anderen waren dazu von vornherein ungeeignet – vielleicht mit Ausnahme der Tschechoslowakei, die aber von Anfang an in der Frontstellung der als hegemoniale Nationen wahrgenommenen Tschechen und Slowaken auf der ei287

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nen, der Deutschen und der Ungarn auf der anderen Seite blockiert war. Auch dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gelang es nicht, die Idee des »Jugoslawismus« vom Verdacht serbischer Dominanz freizuhalten. Italien verstand seine territorialen Gewinne als den Endpunkt eines nationalen Einigungsprozesses, und in Rumänien hatte die dominante Nationalität gewaltige Probleme, mit den Ansprüchen vor allem der Ungarn, aber auch der Serben, der Bulgaren, der Deutschen und der Juden umgehen zu lernen. Polen war ein faktischer Vielvölkerstaat, in dem aber die ethnisch, das heißt sprachlich und kulturell sich als Polen definierenden Bürgerinnen und Bürger quasi selbstverständlich die führende politische Rolle in Anspruch nahmen. Das neue, das republikanische, 1918 gegründete, 1919 fremd- und 1920 selbstbestimmte Österreich war – für sich genommen – alles andere als das, was bis dahin unter der politischen Etikette »Österreich« existiert hatte. Dieses Österreich war neu, aber gleichzeitig war es be- und überlastet mit Zuschreibungen, die in einem anderen, im alten Österreich wurzelten. Die Republik konnte nicht ein post-ethnisches, ein politisches Verständnis ihrer nationalen Identität gewinnen. Sie blieb gefangen in den Kategorien ethnischer, »völkischer« Art (Reiterer 1988). Die ethnische Selbst- und Fremdzuschreibung der großen Mehrheit der Bevölkerung der neuen Republik war »deutsch« – freilich auf der Grundlage eines imaginären Deutschtums, dem die Erfahrung in einem und mit einem deutschen Nationalstaat fehlte  ; eines Deutschtums, das auch vor 1918 nicht Teil des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaates war. Die der ethno-nationalen Logik des alten Österreich entsprechende Konsequenz, der Anschluss, war durch die internationale Politik versperrt. Die sich theoretisch öffnende Alternative aber, eine post-ethnische »Verschweizerung«, die Fortentwicklung des kleinen Österreich zu einem sich den politischen Folgen der notwendig groben ethnischen Zuschreibungen entziehenden Kleinstaates »sui generis«, wurde als Option nicht erkannt. Die dynamische, die blühende Kultur dieser beiden Jahrzehnte nach 1918 reflektierte diese gesellschaftliche, diese politische Gegebenheit und deren Begrenztheit. Wo ließ sich die Kultur intensiv mit diesem Österreich ein  ? Dort, wo Kultur nicht nur funktional, sondern auch intentional politisch war, konnte sie den engen Grenzen der Lagermentalität nicht entkommen. Sie konnte katholisch-restaurativ, sie konnte sozialdemokratisch und potentiell revolutionär, sie konnte deutschnational mit immer stärker in den Vordergrund tretenden offen antidemokratischen und rassistischen Tendenzen sein. Aber mit der Republik  ? Mit der beschäftigte sich intensiv Karl Kraus. Kraus freilich wurde in die politische Vereinsamung getrieben, als er 1933 und 1934 die politische Alternative nur mehr zwischen Dollfuß und Hitler sah – und weshalb er, der mit 288

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dem Politischen Katholizismus, mit den Christlichsozialen und den mit diesen verbündeten Heimwehren aber wirklich nichts am Hut hatte, für Dollfuß als das »kleinere Übel« optierte. Hofmannsthal, Musil und Zweig war zur Republik nichts eingefallen. Schnitzler blieb auf eine distanzierte Art politisch, ohne im engeren Sinn politisch zu sein – seine Analysen, dem Denken seines »Doppelgängers« Sigmund Freud verwandt, bezogen sich jedoch nicht oder kaum auf das Österreich der Republik. Kraus, der unmittelbar Politische unter den Schriftstellern der Republik, der war Republikaner – aber ein heimatloser Republikaner. Nicht dass die Kultur der Republik republikanisch hätte sein sollen – wie die sowjetische »sowjetpatriotisch« zu sein hatte, die des autoritären Staates zwischen 1934 und 1938 »christlich« und die des nationalsozialistischen Deutschland »deutsch« im Sinne des Verständnisses des totalitären NS-Systems. Aber sie hätte sich mit der Republik auseinandersetzen können – jedenfalls mehr, als dies der Fall war. Karl Kraus machte dies vor – aber er blieb allein. Die Kultur der Zwischenkriegszeit fand Anerkennung, sie war wirksam, sie hinterließ bleibende Spuren – nicht nur, aber vor allem auch jenseits der Grenzen der Republik. Die Produktivität der Theater und der Oper, der Museen und auch der Universitäten war eindrucksvoll. Aber sie war über weite Strecken ein Nachtrag zur Kultur des alten Österreich. Zwischenösterreich war in dieser Kultur kaum erkennbar. Das Österreich der Republik blieb blass, sehr blass für die sich dynamisch entwickelnde Kultur des Landes  ; einer Kultur, die kaum zu reflektieren schien, was da um sie alles vorging, in der Republik. In Ernst Lothars Der Engel mit der Posaune – der Roman einer Wiener Familie, den Lothar noch im US-Exil schrieb und der 1948 Grundlage eines der erfolgreichsten österreichischen Filme der unmittelbaren Nachkriegszeit werden sollte – erstreckt sich die Handlung vom Alpha der Monarchie des späten 19. Jahrhunderts zum Omega der NS-Zeit  ; von einer Periode voll von Widersprüchen, Gefahren, aber auch Möglichkeiten bis zum Untergang aller Hoffnungen. Dieses Familienepos ist eine Art österreichischer Buddenbrook-Roman, beginnend in einer Periode ökonomischer und kultureller Hochstimmung des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts  ; kippend vom Optimismus am Beginn des 20. Jahrhunderts in Melancholie und Pessimismus einige Jahrzehnte danach. Die Republik  ? Sie ist bei Lothar ein eher belangloses Intermezzo  ; eine blasse Verkleinerung vergangener Größe – viel zu schwach, das schon früh erkennbare Übel aufzuhalten, das 1938 hereinbricht. Lothars Roman ist ein politischer Roman, in dessen Mittelpunkt eine politisch bewusste großbürgerliche Wiener Familie steht. Aber in dem literarisch wahrgenommenen politischen Rahmen kommt Renner und Seipel, Bauer und Dollfuß keine Bedeutung zu. Bedeutung haben Kaiser und Kronprinz und 289

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schlussendlich vor allem der Österreicher, der aus dem Kaiserreich emigriert und aus seinem deutschen Exil 1938 heimgekehrt war. Die Republik war gescheitert. Ihr Scheitern war auch darin erkennbar, dass die Republik kulturell kaum prägend war. Sie spielte eine Rolle als Hintergrund von Tragödien. Sie war lebendig als Bewahrerin eines Erbes. Aber sie wurde nur als Schatten wahrgenommen  ; oder als Bühne, auf der andere, viel wichtiger wahrgenommene Akteure sich Kämpfe lieferten. Die Republik der Jahre 1918 bis 1934 war ein Vorspiel zum autoritären Staat von 1934 bis 1938 und dieser ein Vorspiel zur totalitären Herrschaft der Jahre 1938 bis 1945. Die Republik, das war irgendetwas zwischen dem einen, dem 1918 aufgelösten Reich – und dem Triumph des schrecklichsten aller Reiche zwei Jahrzehnte danach. Die Republik – ein bloßes Zwischenspiel  ? Aber sie sollte ja wiederkehren, die Republik. Und sie sollte sich als das beste Österreich erweisen, das es je gab  : das beste Österreich, gemessen am Ausmaß der politischen und kulturellen Freiheiten, gemessen aber auch am Standard sozialer Sicherheit. Freilich  : Zuerst musste sie scheitern, die Republik, bevor es ihr erlaubt war, erfolgreich zu sein – in einem zweiten Anlauf, in einem zweiten Versuch.

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Zeittabelle 21.  Oktober  1918  : Deutschsprachige Abgeordnete des 1911 gewählten österrei-

chischen Reichsrates bilden die Provisorische Nationalversammlung. 3.  November  1918  : Kapitulation der Streitkräfte Österreich-Ungarns. 11.  November  1918  : Karl, der Kaiser Österreichs und König Ungarns, dankt ab, bzw. verzichtet auf die Ausübung der Amtsgeschäfte. 12.  November  1918  : Die Provisorische Nationalversammlung ruft die Republik »Deutsch-Österreich« aus und erklärt diese zu einem Teil des Deutschen Reiches. Die drei in dieser Versammlung vertretenen Parteien – Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Deutschnationale – bilden eine »Provisorische Staatsregierung« mit dem Sozialdemokraten Karl Renner als Staatskanzler. 16.  Februar  1919  : Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Frauen und Männer. 10.  September  1920  : Renner unterzeichnet für die Republik Österreich den Staatsvertrag von St. Germain, der den »Anschluss« an das Deutsche Reich untersagt, die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete Westungarns Österreich zuspricht, aber den Anspruch Österreichs auf mehrheitlich deutschsprachige Gebiete in Böhmen und Mähren sowie südlich des Brenners nicht berücksichtigt. 1.  Oktober  1920  : Die Provisorische Nationalversammlung beschließt das von der Konstituierenden Nationalversammlung ausgearbeitete Bundes-Verfassungsgesetz. 10.  Oktober  1920  : In einer Volksabstimmung in Südkärnten entscheidet sich die Mehrheit für die Zugehörigkeit zu Österreich. 17.  Oktober  1920  : Wahl des Nationalrates. Die Christlichsozialen gewinnen eine relative Mehrheit, die Sozialdemokraten gehen in die Opposition. 14./16.  Dezember  1921  : In einer Volksabstimmung im westungarischen Sopron (Ödenburg) entscheidet sich die Mehrheit für die Zugehörigkeit zu Ungarn. 4.  Oktober 1922  : Unterzeichnung der »Genfer Protokolle« durch die Bundesregierung, die das »Anschlussverbot« präzisieren. Im Gegenzug erhält Österreich eine Anleihe des Völkerbundes. 21. Oktober 1923  : Zweite Wahl des Nationalrates. An den politischen Kräfteverhältnissen ändert sich nichts  : Die Christlichsoziale Partei regiert in einer Koalition mit den Deutschnationalen, die Sozialdemokraten bleiben in der Opposition. 1.  März  1925  : Der Schilling ersetzt als Währungseinheit die Krone. 3.  November  1926  : Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verabschiedet ein 291

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Grundsatzprogramm (»Linzer Programm«), in dem sie sich zu den Spielregeln des Parlamentarismus bekennt, aber ankündigt, zur Verteidigung der demokratischen Republik zu den Mitteln der Diktatur des Proletariats greifen zu wollen. 24.  April  1927  : Bei der Wahl des Nationalrates sichern sich die Parteien des »Bürgerblocks« abermals eine Mehrheit. 15.  Juli  1927  : Im Zusammenhang mit einer Demonstration gegen ein Gerichtsurteil in Wien gerät der Justizpalast in Brand, die Polizei setzt Schusswaffen ein. 7.  Dezember  1929  : Durch ein Bundesverfassungsgesetz wird die Verfassung von 1920 novelliert. Die Rechte des Bundespräsidenten werden gestärkt, der Präsident soll direkt gewählt werden, der parlamentarische Charakter der Verfassung bleibt aber bestehen. 18.  Mai  1930  : Im niederösterreichischen Korneuburg verabschieden die in unterschiedlicher Form mit den Christlichsozialen verbündeten Heimwehren (»Heimatschutz«) ein Programm, in dem sie sich zu Abkehr vom Parlamentarismus bekennen. 9.  November  1930  : Letzte Wahl des Nationalrates vor dem Ende der (Ersten) Republik. Die Sozialdemokraten erringen eine relative Mehrheit, der »Bürgerblock« – der sich weiterhin insgesamt auf eine Mehrheit stützen kann – regiert weiter. Juli  1931  : Arbeiter-Olympiade in Wien. September  1931  : Putsch der (mit der NSDAP verbündeten) Steirischen Heimwehren. Der Putsch wird von der Regierung rasch niedergeworfen. 5.  März  1933  : Bei einer Sitzung des Nationalrates legt Nationalratspräsident Renner sein Amt nieder, der Zweite und der Dritte Präsident treten ebenfalls zurück. Die Regierung Dollfuß nimmt dies zum Anlass, dies als »Selbstausschaltung« des Nationalrates zu definieren und ein Zusammentreten des Nationalrates unter Einsatz der Polizei zu verhindern. 23. April 1933  : Bei den Gemeinderatswahlen in Innsbruck – der letzten freien Wahl in Österreich bis 1945 – erringt die NSDAP die relative Stimmenmehrheit. In der Folge verbietet die Regierung Dollfuß im Zusammenhang mit Terroranschlägen die NSDAP. 11.  September  1933  : Bei einer Kundgebung in Wien legt sich Bundeskanzler Dollfuß öffentlich darauf fest, nicht mehr zu den Grundlagen der Verfassung von 1920 zurückkehren zu wollen (»Trabrennplatzrede«). 12.  Februar  1934  : Aus einem Zusammenstoß zwischen Polizei und dem (der Sozialdemokratie verbundenen) Republikanischen Schutzbund in Linz entwickelt sich ein Bürgerkrieg, den die Regierung unter Einsatz des Bundesheeres und von der Regierung unterstellter Milizverbände innerhalb kurzer 292

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Zeit für sich entscheidet. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die mit ihr verflochtenen »Freien Gewerkschaften« werden verboten. 25.  Juli  1934  : SS-Verbände besetzen das Bundeskanzleramt in Wien. Dollfuß wird ermordet. In einem mehrere Tage dauernden Bürgerkrieg werden die Putschisten niedergerungen. Kurt Schuschnigg wird Bundeskanzler. 11.  Juli  1936  : Österreich schließt mit dem Deutschen Reich ein Abkommen, das eine Garantie für Österreichs Unabhängigkeit enthält, gleichzeitig aber Vertretern der seit 1933 verbotenen NSDAP Möglichkeiten zur politischen Betätigung eröffnet. 12.  Februar  1938  : Schuschnigg trifft Adolf Hitler in Berchtesgaden. Unter erheblichem militärischem Druck sagt Schuschnigg weitere Konzessionen an die NSDAP zu. Die Regierung Schuschnigg wird um zwei nationalsozialistische Minister erweitert. 9.  März  1938  : Schuschnigg kündigt in Innsbruck für den 13. März eine Volksabstimmung an, die – in sehr allgemeiner Form – Österreichs Unabhängigkeit bestätigen soll. 11.  März  1938  : Unter massivem militärischem Druck aus Berlin sagt Schuschnigg die Volksabstimmung ab, erklärt, dem nun bevorstehenden deutschen Einmarsch keinen Widerstand entgegenzusetzen, und tritt zurück. Bundespräsident Miklas ernennt den Nationalsozialisten Seyß-Inquart zum Bundeskanzler. In unmittelbarer Folge beginnen in ganz Österreich Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner der NSDAP und insbesondere gegen Jüdinnen und Juden. 12.  März  1938  : Deutsche Truppen marschieren in Österreich ein, ohne auf Widerstand zu stoßen, und werden von großen Teilen der Bevölkerung jubelnd begrüßt. 13.  März  1938  : Hitler trifft in Linz mit Seyß-Inquart zusammen. Beide beschließen den »Anschluss« – das Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich. 15.  März  1938  : Hitler verkündet auf dem Heldenplatz in Wien den Anschluss unter organisiertem Massenjubel. 10.  April  1938  : Eine Volksabstimmung, die nicht den Kriterien einer demokratischen Entscheidung entspricht, verleiht mit einer fast 100-prozentigen Mehrheit dem bereits vollzogenen Anschluss den Schein von Legalität. 1.  November 1943  : Die Außenminister der UdSSR, des Vereinigten Königreiches und der USA erklären die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich in den Grenzen von 1937 zu ihrem Kriegsziel (»Moskauer Deklaration«). 27.  April  1945  : In dem noch nicht vollständig befreiten Österreich erklären Vertreter der Sozialistischen Partei Österreichs, der Österreichischen Volkspartei und der Kommunistischen Partei Österreichs den »Anschluss« für null 293

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und nichtig. Die Republik Österreich wird im Rahmen der Verfassung von 1920 wiederhergestellt.

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Bibliographie

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Abbildungsnachweis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9

ÖNB Bildarchiv ORF ÖNB Bildarchiv ÖNB Bildarchiv Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus (links), Yad Vashem database (rechts) Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes CS – Caritas Socialis ÖNB Bildarchiv ÖNB Bildarchiv

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Personenregister Abeles, Ignaz 36, 296 Achleitner, Friedrich 124, 295 Achs, Oskar 89, 295 Adler, Alfred 119 Adler, Friedrich 52, 256, 273 Adler, Max 88, 90, 168, 242, 246, 295 Adler, Viktor 59, 89, 166, 203, 231, 232 Adorno, Theodor A. 120, 121 Amery, Leo 183 Androsch, Hannes 91, 295 Aspetsberger, Friedbert 150, 295 Attlee, Clement 92 Austerlitz, Friedrich 52 Badeni, Kasimir 29, 204, 227 Bardolff, Carl 151 Bärnthaler, Irmgard 145, 295 Bassett, Richard 267, 295 Bauer, Otto 14, 21, 23, 53, 54, 59, 89 – 91, 102, 107, 116, 128, 134, 141, 153, 166, 181, 183, 198, 203, 213, 245, 247, 249, 254, 256, 257, 259, 262, 265, 268, 273, 277, 278, 289, 295 Bauer, Yehuda 295 Beaumarchais, Pierre de 42, 43 Beethoven, Ludwig van 39, 122 Bei, Neda 197, 295 Békessy, Imre 217, 234 Beller, Steven 229, 295 Beneš, Edvard 101, 134 Benya, Anton 149, 150, 298 Berchtold, Klaus 78 – 80, 87, 113, 186, 206, 208, 211, 224, 247 – 249, 296 Berg, Alban 270 Berger, Peter 70, 121, 219, 271, 296 Berkley, George E. 227, 228, 296 Bernaschek, Richard 262, 263, 302 Bertschik, Julia 296 Bettauer, Hugo 228, 229 Bielka, Erich 95, 96, 296 Binder, Dieter A. 21, 76, 296 Bischof, Günter 148, 296 Blimlinger, Eva 36, 296

Bloch, Grete 57 Boeckl, Herbert 124 Böhm, Karl 158, 266 Böhm-Bawerk, Eugen 205 – 208 Boltzmann, Ludwig 237 Borodajkewycz, Taras 118, 151, 298, 302 Bosel, Sigmund 230, 305 Botz, Gerhard 25, 96, 112, 125, 144, 266, 296 Boyer, John 31, 53, 60, 113, 204, 209, 296 Brecht, Bertolt (Bert) 75 Briand, Aristide 101, 102, 239 Broch, Hermann 269, 270, 297, 303 Bruckmüller, Ernst 101 Büchner, Georg 270 Bühler, Charlotte 157, 243 Bühler, Karl 176, 177 Bunzl, John 36, 297 Buresch, Karl 128 Burjan, Hildegard 198, 199, 202, 230 Butterweck, Hellmut 163, 297 Buttinger, Josef 273 Bußhoff, Heinrich 41, 297 Canetti, Elias 125, 201, 255, 267 Carnap, Rudolf 241 Carsten, F. L. 41, 137, 162, 253, 297 Chamberlain, Houston Stewart 238 Chamberlain, Neville 183 Churchill, Winston 182, 269, 304 Cohen, Laurie 197, 284, 297 Corrigan-Maguire, Mairead 196 Coudenhove-Kalergi, Richard 101 – 106, 287, 197, 299 Crossman, Richard 86, 297 Csokor, Franz Theodor 117 Cullin, Michel 90, 297 Curtius, Julius 71, 72 Czernetz, Karl 273 Dahl, Robert A. 239, 297 Dahms, Hans-Joachim 241, 242, 297 Daim, Wilfried 124, 226, 297

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Personenregister

Déak, Istvan 158, 297 De Gasperi, Alcide 132 Deutsch, Julius 34, 126, 135, 171, 173, 231, 232, 235, 236, 262, 273, 274, 297 Diamant, Alfred 63, 127, 169, 250, 297 Dichter, Ernest 243 Diem, Peter 124, 297 Dobretsberger, Josef 223, 272 Dollfuß, Engelbert 12, 22, 40, 41, 44, 53, 63, 64, 71, 74 – 76, 96, 99, 102 – 106, 126, 129 – 131, 133 – 140, 143 – 145, 148 – 151, 153, 156, 163, 168 – 171, 173, 183, 184, 215, 217, 219, 221, 222, 224, 225, 230, 237, 250, 257, 259, 260, 262 – 264, 266, 272, 284, 288, 289, 292, 293, 297, 298, 303, 305, 307, 309 Dreidemy, Lucile 40, 143, 151, 251, 296, 298, 300, 301, 304, 309 Dressler, Wolfgang V. 69, 304 Drucker, Peter 243 Dvorák, Johann 120, 298 Ebner, Katharina 145, 298 Edmondson, C. Earl 126, 128, 298 Egger-Lienz, Albin 47, 124 Ehrlich, Eugen 237 Eifler, Alexander 171, 173 Eisler, Hans 270 Elisabeth I. 38 Ender, Daniel 122, 298 Engelmann, Fred 187 English, Richard 196, 298 Eugen, Prinz von Savoyen 48 Fallend, Franz 21, 298 Feigl, Herbert 241 Ferguson, Niall 86, 298 Fey, Emil 173 Fierlinger, Zdenek 134 Figl, Leopold 5, 10, 264, 275 Fink, Jodok 116, 256, 296, 297, 303, 309 Fischer, Berman 261 Fischer, Ernst 275, 298 Fischer, Heinz 118, 298 Fitzpatrick, Sheila32, 86, 298, 299 Fleck, Christian 243, 298 Föger, Benedikt 12, 157, 158, 298

Foot, Michael 86, 298 Franco, Francisco 143, 145, 148, 250 Frank, Josef 124, 270 Franzen, Jonathan 139, 215, 298 Franz Joseph I. 43, 174, 310 Frei, Alfred Georg 119, 227, 298 Freidenreich, Harriet Pass 299 Freud, Anna 243 Freud, Sigmund 15, 31, 176, 237, 264, 289 Friedell, Egon 267 Funder, Friedrich 31, 299 Gardiner, Muriel 267, 299 Gehler, Michael 66, 299, 300 Gellner, Ernest 92, 94, 299 Gerö, Josef 36, 264, 296 Gessner, Adrienne 271 Geyer, Michael 32, 299 Glaise-Horstenau, Edmund 96, 146, 151 Glöckel, Otto 176 Gödel, Kurt 177, 241 Goebbels, Joseph 123, 211 Goethe, Johann Wolfgang 48, 123 Göhring, Walter 102, 105, 299 Goldblatt, David 34, 299 Goldinger, Walter 21, 299 Goldner, Franz 274, 299 Göllner, Siegfried 97, 299 Golowski, Therese 233 Gombrich, Ernst 243 Gorbach, Alfond 264, 275 Gottschlich, Maximilian 287, 299 Gramsci, Antonio 278 Greenwood, Arthur 183 Gropius, Walter 200, 272 Gruber, Karl 275 Grünberg, Carl 242 Gulick, Charles A. 22, 286, 287, 299 Gütersloh, Albert Paris 124 Habsburg, Otto 274 Habsburg, Rudolf von 100 Hafer, Andreas 36, 299 Hafer, Wolfgang 36, 299 Hahn-Neurath, Olga 241 Hainisch, Marianne 202 Haller, Max 76, 101, 299

314

Wissenschaft

Hänisch, Dirk 95, 300 Hanisch, Ernst 22, 53, 54, 59, 72, 78, 89, 91, 118, 121, 134 – 136, 138, 141, 145, 168, 181, 224, 245, 265, 277, 286, 300, 306, 308 Hansen, Theophil 172 Hanusch, Ferdinand 89, 166 Harand, Irene 10, 146 – 148, 234, 264, 272, 300 Harpprecht, Klaus 120, 121, 183, 261, 300 Hartmann, Gerhard 173, 300 Hauch, Gabriella 197, 200, 300 Hauptmann, Gerhard 261 Hautmann, Hans 58, 300 Hayek, Friedrich A. 205, 268, 300 Hecht, Robert 301 Heer, Friedrich 226, 300 Heissler, Dagmar 300 Hellerman, Steven L. 303 Helmer, Oskar 285 Herder, Johann Gottfried 79 Herzl, Theodor 27 Hildebrand, Dietrich von 260 Hitler, Adolf 11, 12, 40, 41, 46, 51, 75, 86, 96, 97, 99, 102, 103, 138, 140, 146 – 148, 150 – 153, 155 – 159, 172, 208, 217 – 219, 223, 240, 253, 261, 262, 264 – 266, 273, 274, 276, 277, 288, 293, 297, 298, 300, 301, 303, 304, 307, 309 Hobsbawm, Eric 18, 19, 273, 300 Hödl, Klaus 30, 300 Hofinger, Niko 228, 300 Hofmannsthal, Hugo 28, 42, 43, 47, 74, 84, 120, 122, 123, 174 – 176, 232, 235, 255, 257, 264, 269, 289 Holtmann, Everhard 137, 138, 300 Holzmeister, Clemens 272 Horak, Roman 36, 296, 299, 303, 308 Horthy, Miklós (Nikolaus) 143, 260 Horvath, Ödön von 267 Hudal, Alois 146 – 148 Huemer, Peter 133, 301 Hugo, Victor 102 Hurdes, Felix 275 Innitzer, Theodor 156, 253, 266, 271

Jabloner, Clemens 116, 301 Jägerstätter, Franz 148, 310 Jagschitz, Gerhard 96, 137, 151, 301 Jahoda, Maria 176, 244, 267 Jarausch, Konrad H. 156, 301 Jesenská, Milena 57 Johann, Erzherzog 48 Johnson, Lonnie R. 68, 301 Johnston, William M. 31, 236, 237, 301 Joyce, James 43 Judson, Pieter 19, 25, 65, 67, 301 Jungk, Peter Stephan 85, 301 Kafka, Franz 56, 57 Kálmán, Emmerich 174 Kammerer, Paul 240 Kann, Robert A. 29, 30, 301 Kannonier-Finster, Waltraud 283, 310 Kant, Immanuel 157 Karl, Erzherzog 48 Karl, Kaiser von Österreich, König von Ungarn 52, 291 Karl der Große 102, 105 Karl V. 64 Kemal Pascha Atatürk 272 Kennan, George F. 191, 301 Kerekes, Lajos 186, 301 Kershaw, Ian 20, 144, 301 Khol, Andreas 109, 301 Kindermann, Gottfried 136, 286, 301 Kirk, Timothy 140, 302 Kissinger, Henry 191, 302 Klahr, Alfred 89, 99, 101, 297 Klaus, Josef 195, 208, 240, 302 Kleist, Heinrich 123 Klemperer, Klemens von 127, 302 Klimt, Gustav 28 Knight, Robert 163, 302 Knoll, August Maria 226, 302 Koestler, Arthur 240 Kogon, Eugen 142, 260 Kokoschka, Oskar 124, 272 Konrad, Helmut 25, 301, 302 Koplenig, Johann 160, 282 Körner, Theodor 171 Köstenberger, Julia 159, 302 Krauss, Clemens 264

315

Personenregister

Kraus, Karl 9, 42 – 44, 48, 49, 54, 82, 96, 120, 125, 138, 139, 153, 184, 212 – 218, 232, 234, 235, 255, 267, 271, 287 – 289, 298, 302, 305, 308 Kreisky, Bruno 92, 265, 278 Kreissler, Felix 74, 76, 90, 168, 221, 255, 302 Krenek, Ernst 271, 296 Kubin, Alfred 124 Kucher, Primus-Heinz 91, 125, 296 Kulka, Otto D. 267, 309 Kun, Bela 260 Kunschak, Leopold 17, 160, 171, 173, 222, 223, 260, 282 Kykal, Inez 140, 263, 302 Lalouschek, Johanna 69, 304 Langenbucher, Wolfgang 117, 269, 302 Lassner, Alexander 148, 296 Lautman, Jacques 177, 302 Lazarsfeld, Paul F. 157, 176, 267 – 269, 302 Lehmbruch, Gerhard 34, 302 Lehár, Franz 42, 174 Leichter, Henry O. 198, 303 Leichter, Käthe 197 – 199, 202, 232, 236, 266, 299, 308 Leichter, Otto 21, 138, 198, 262, 273, 303 Lenin, Wladimir U. 92, 159, 168 Leo XIII. 63, 207, 248, 249 Le Rider, Jacques 214, 215, 237, 303 Leser, Norbert 21, 59, 87, 119, 125, 254, 303 Leube, Kurt R. 205, 303 Leuschner, Wilhelm 73 Lijphart, Arend 18, 33, 34, 119, 179, 192, 230, 303 Lincoln, Abraham 239 Lipset, Seymour Martin 268 Lloyd George, David 239 Longerich, Peter 276, 303 Loos, Adolf 31, 124 Lorenz, Konrad 12 – 15, 94, 157, 298 Lothar, Ernst 271, 289, 300 Lueger, Karl 27, 30, 203, 204, 208, 209, 227, 296 Lukács, Georg 237, 260 Lützeler, Paul Michael 270, 297, 303 Luza, Radomir 85, 161, 274, 303 Lécuyer, Bernard-Pierre 177, 302

Mach, Ernst 237 Maderthaner, Wolfgang 36, 129, 186, 296, 299, 303, 308 Mahler, Anna 271 Mahler, Gustav 31, 35, 202, 270, 272 Mahler-Werfel, Alma 200, 201, 267, 269, 271, 272, 300 Maier, Michaela 129, 186, 303 Makart, Hans 28 Maleta, Alfred 275 Mann, Thomas 32, 42, 43, 120, 183, 184, 228, 261, 270, 300 Mannheim, Karl 237 Maria Theresia I. 28, 48, 64 Marin, Bernd 269, 303 Markovits, Andrei S. 36, 303 Marková, Marta 57, 157, 303, 304 Marx, Karl 168, 208, 256, 262, 285 Masaryk, Tomáš Garrigue 170, 261 Matejka, Viktor 124 Matuschek, Oliver 122, 218, 303 Mauer, Otto 124 Mayreder, Rosa 237, 244 Meisl, Hugo 36, 299 Meitner, Lise 36, 299 Menger, Carl 205 – 207, 237, 241, 303 Menz, Florian 69, 304 Merton, Robert 268 Metaxas, Ioannis 143 Metternich, Clemens 172 Miklas, Wilhelm 126, 173, 293 Mikoletzky, Laurenz 74, 304 Mises, Ludwig 205 – 207, 303 Missong, Alfred A. 140, 309 Molden, Ernst 200 Molière, Jean Baptiste 48, 123 Mommsen, Hans 25, 304 Monnet, Jean 104 Morgenstern, Oscar 269 Motzko-Seitz, Alma 197 Mozart, Wolfgang A. 28, 42, 43, 123, 200, 270 Musil, Robert 42, 43, 47, 174, 176, 255, 289 Mussolini, Benito 63, 66, 73, 103, 105, 106, 129, 134, 136, 144, 155, 178, 186, 201, 221, 250, 261, 267, 276, 301, 303

316

Wissenschaft

Nadler, Josef 96, 150 – 152, 304 Napoleon I. 46, 48, 102, 105 Naumann, Friedrich 66 Neurath, Otto 241, 242 Nietzsche, Friedrich 102 Ogris, Günther 68, 305 Olah, Franz 264 Olson, Lynne 183, 304 Pacelli, Eugenio (Pius XII.) 40, 144 Panzenböck, Ernst 71, 90, 304 Papen, Franz von 40, 149, 151, 222, 304 Pasteur, Paul 138, 304 Pauley, Bruce F. 31, 77, 94, 131, 177, 203, 228 – 230, 304 Pelinka, Anton 52, 91, 146, 148, 161, 171, 219, 222, 223, 260, 286, 295, 296, 304, 309 Petzold, Alfons 28 Pfabigan, Alfred 88, 215, 216, 242, 305 Pferschy, Gerhard 260, 305 Pfliegler, Michael 225 Pfliegler, Michael 225 Pfoser, Alfred 36, 296, 299, 303, 308 Pfrimer, Walter 128, 192 Pick, Ernst Peter 240 Pilsudski, Jozef 143, 148 Pius XI. 63, 157, 166, 207, 223, 224, 226, 248, 297 Pius XII. 157, 226, 297 Plöchl, Gerhardt 274, 305 Pollak, Marianne 273 Pollak, Oscar 273 Polt-Heinzl, Evelyne 91, 125, 296 Popper, Karl 208, 243, 267 Powell, G. Bingham Jr. 187, 305 Preminger, Otto 271 Preradovic, Paula 200 Pulzer, Peter 30, 305 Raab, Julius 5, 10, 154, 162, 170 Rabinbach, Anson 87, 305, 310 Radetzky, Johann 55, 173 Ransmayr, Georg 230, 305 Rathkolb, Oliver 68, 281, 298, 305 Rauchensteiner, Manfried 31, 45, 305 Rauscher, Walter 281, 305

Reagan, Ronald 205 Redlich, Fritz 157, 304 Rehor, Grete 195 Reimann, Viktor 245, 277, 305 Reinhardt, Max 14, 74 – 76, 123, 264 Reiter, Margit 233, 288, 305 Reiterer, Albert F. 288, 305 Reiter-Zatloukal, Ilse 143, 295, 306, 310 Renner, Karl 5, 10, 17, 52 – 54, 89, 90, 102, 107, 113, 116, 118, 134, 141, 153, 154, 156, 160 – 162, 170, 173, 183, 213, 231, 233, 245, 256, 257, 266, 268, 274, 275, 278, 282, 285, 289, 291, 292, 304 – 306 Resch, Josef 223 Reumann, Jakob 89, 119, 166 Richard III. 42 Riedmann, Josef 129, 189, 306 Rivera, Diego 39 Rokkan, Stein 77, 306 Rolland, Romain 54 Roosevelt, Franklin D. 269 Rosar, Wolfgang 96, 306 Roth, Joseph 19, 28, 42, 47, 83, 84, 235, 267, 306 Rothländer, Christiane 143, 305, 306, 310 Rott, Hans 223 Rousseau, Jean-Jacques 168 Saage, Richard 52, 113, 133, 134, 141, 161, 233, 256, 306 Sabetti, Filippo 32, 306 Salazar, Antonio 143, 148 Sandgruber, Roland 71, 306 Sartre, Jean-Paul 235, 306 Schafranek, Hans 141, 151, 186, 263, 306 Schärf, Adolf 5, 10, 73, 160, 275, 278, 282, 285, 308 Schausberger, Norbert 72, 151, 306 Schiele, Egon 28 Schiller, Friedrich 48 Schlick, Moritz 177, 178, 228, 229, 237, 241, 242 Schmidt, Guido 304 Schmied, Wieland 124, 306 Schnitzler, Arthur 28, 32, 44, 54, 174, 184, 212 – 215, 218, 233, 255, 289, 306 Schnitzler, Olga 213

317

Personenregister

Schober, Johannes (Johann) 71, 72, 107, 110, 125, 170, 183, 215, 217 Schölnberger, Pia 143, 295, 305, 306, 310 Schönberg, Arnold 43, 120, 121, 270 Schönerer, Georg 27, 30, 64, 94, 98, 132, 209, 227, 232, 297 Schorske, Carl 27, 31, 307 Schrödinger, Erwin 243 Schubert, Kurt 146, 226, 307 Schultes, Gerhard 34, 307 Schuman, Robert 104 Schuschnigg, Kurt 12, 41, 64, 71, 74 – 76, 85, 96, 99, 104, 126, 134, 136 – 140, 143 – 146, 148 – 153, 156, 162, 171, 173, 184, 201, 217, 219, 221 – 223, 225, 230, 237, 253, 259 – 266, 272, 276, 277, 285, 293, 296, 305, 307, 309 Schuster, Franz 124 Schwan, Alexander 92, 307 Schwan, Gesine 92, 307 Seipel, Ignaz 14, 21, 53, 60 – 62, 72, 88, 101, 102, 107, 108, 113, 116, 118, 127, 142, 163, 168, 169, 173, 183, 206, 214, 219, 224, 230, 245, 249 – 251, 253, 256, 257, 272, 277, 278, 289, 302, 305, 309 Seitz, Karl 53, 78, 107, 119, 168, 203, 233, 275 Serloth, Barbara 233, 283, 307 Seyß-Inquart, Arthur 96, 146, 151, 152, 293, 306 Shakespeare, William 42, 43, 48, 123 Shaw, Bernhard 86 Sheperd, Gordon 22, 143, 286, 287, 307 Silberbauer, Gerhard 225, 307 Sindelar, Mathias 37 Sombart, Werner 231, 307 Sowell, Thomas 94, 307 Spann, Othmar 62, 63, 108, 141, 142, 206, 207, 238 – 240, 242, 244, 307 Sperber, Manès 176, 262 Spira, Leopold 231, 307 Srbik, Heinrich 96, 151, 304 Stadler, Friedrich 243, 295, 297, 298, 308 Stadler, Karl R. 16, 46, 69, 70, 73, 91, 140, 189, 213, 262, 302, 307, 308 Stalin, Josef W. 11, 86, 91, 92, 103, 140, 148, 155, 159, 168, 260, 262, 298, 299, 302 Starhemberg, Rüdiger 149, 173, 272, 273

Staud, Johann 222, 266, 300, 308 Steger, Gerhard 224, 225, 308 Steinberg, Michael P. 123, 261, 308 Steiner, Guenther 62, 251, 308 Steiner, Herbert 198, 232, 260, 308 Strasser, Isa 199, 300 Strasser, Peter 199 Strauss, Richard 11, 28, 121 – 123, 270, 298 Stresemann, Gustav 101, 102 Stricker, Robert 27, 227 Stürgkh, Karl Graf 52, 256 Suttner, Berta von 197, 297 Swedberg, Richard 268, 308 Taschwer, Klaus 12, 157, 158, 177, 178, 229, 240, 241, 298, 308 Tálos, Emmerich 143, 148, 300, 306, 308 Thaler, Peter 101, 308 Thatcher, Margaret 205 Timms, Edward 48, 139, 215, 217, 308 Torberg, Friedrich 37, 308 Toscanini, Arturo 13, 14, 261, 264, 298 Traussnig, Florian 274, 308 Trotzki, Leo 168, 199 Twain, Mark 227, 309 Unterberger, Rebecca 91, 125, 296 Vaugoin, Carl 107, 171 Verdi, Guiseppe 270 Vergani, Ernst 209 Voegelin, Eric 63, 64, 139, 141 – 143, 240, 264, 309 Waber, Leopold 19 Waggerl, Karl Heinrich 266 Wagner, Otto 31 Wagner, Richard 35, 264, 270 Waldbrunner, Karl 91, 295 Wallisch, Koloman 260 Walter, Bruno 13, 75, 76, 128, 201, 264 Wandruszka, Adam 26, 113, 309 Watson, Alexander 29, 30, 67 – 69, 309 Webb, Beatrice 86 Webb, Sidney 86 Webern, Anton 270 Wedekind, Frank 270

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Personenregister

Weininger, Otto 237, 303 Weinzierl, Erika 147, 198, 202, 230, 261, 265, 267, 286, 295, 304 – 306, 308, 309 Weiss, Heinz 172, 309 Weissel, Erwin 58, 309 Welan, Manfried 15, 116, 243, 244, 265, 309 Wenter, Josef 150 Werfel, Franz 84, 85, 152, 184, 200, 201, 267, 269, 272, 301 Wieser, Friedrich 205 Wilder, Billy 271 Wildgans, Anton 74, 98 – 101, 184, 309 Wilhelm II. 174 Williams, Betty 196 Winter, Ernst Karl 53, 61, 62, 74, 89, 90, 99, 101, 140, 168, 219 – 223, 225, 226, 245, 264, 271, 272, 297, 309

Wistrich, Robert S. 227, 310 Wittgenstein, Ludwig 177, 243, 267 Wodak, Walter 273, 302 Wohnout, Helmut 155, 310 Wotruba, Fritz 124 Zahn, Gordon 148, 310 Zeisel, Hans 119, 176, 310 Ziegler, Meinrad 283, 310 Zollinger, Manfred 91, 295 Zuckmayer, Carl 75, 76, 261, 269 Zweig, Stefan 11 – 15, 32, 42, 43, 54, 57, 83, 84, 122, 153, 154, 166, 176, 184, 212 – 215, 218, 255, 267 – 269, 289, 303, 306, 310

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ANTON PELINKA

DIE UNHEILIGE ALLIANZ DIE RECHTEN UND DIE LINKEN EXTREMISTEN GEGEN EUROPA

Die Geschichte der europäischen Integration ist voll von Beispielen dafür, dass rechte und linke Extremisten in nicht abgesprochener Allianz die Vertiefung Europas zu verhindern versuchten – nur zu oft mit Erfolg. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 und des Europäischen Verfassungsvertrages 2005 sind prominente Beispiele dafür. Ausgehend von dieser Evidenz zeigt das Buch, dass die auf den ersten Blick überraschende, gegen die EU gerichtete Frontstellung kein Zufall ist: Vom Kriegspatriotismus des Jahres 1914 über einen auf der extremen Linken als Antizionismus getarnten Antisemitismus bis hin zur Ablehnung der Ergebnisoffenheit der liberalen Demokratie reicht die Kette der Gemeinsamkeiten, die rechten und linken Extremismus verbinden. 2015. CA. 195 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-79574-2

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Bestenfalls als Notlösung akzeptiert, von vielen von Anfang an bekämpft, taumelte das 1918 als »Rest« gegründete Österreich dem Ende der demo­ kratischen Republik 1934 und dem Ende Österreichs 1938 entgegen. Was ein Versagen der politischen Eliten war, spiegelte sich auch in der demonstrativen Distanz von Gesellschaft und Kultur gegenüber dieser Republik. War der Weg in den Abgrund aber wirklich zwingend vorgezeichnet?

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