168 92 239MB
German Pages 802 [866] Year 1987
AUTORENKOLLEKTIV DIE G E R M A N E N • BAND II
BAND
4/II
VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR HERAUSGEGEBEN VON
J O A C H I M HERRMANN
DIE GERMANEN Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa
Ein Handbuch in zwei Bänden Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter Leitung von B R U N O K R Ü G E R
Band II: Die Stämme und Stammesverbände in der Zeit vom 3. Jahrhundert bis zur Herausbildung der politischen Vorherrschaft der Franken Mit 68 Tafeln und 192 Abbildungen 2., durchgesehene Auflage
A K A D E M I E - V E R L A G • BERLIN 1986
Autorenkollektiv : Peter Donat, Eike Gringmuth-Dallmer, Rigobert Günther, Alexander Häusler, A n d j e Knaack, Achim Koppe, Bruno Krüger, Hansulrich Labuske, Elsbeth Lange, Rudolf Laser, Achim Leube, Christian Müller, Hanns-Hermann Müller, Wolfgang Pfeifer, Burkhard Rode, Berthold Schmidt, E r d m u t e Schultze, Rosemarie Seyer, Manfred Teichert, Siegrid Weber, Gerd Zuchold
An der wissenschaftlich-technischen Vorbereitung wirkten m i t : Gisela Weber (graphische Arbeiten); Margret H a m a n n (Fotoarbeiten); Anneliese Mahn, Renate Wieland, Gertrud Sigmeier (wiss.-techn. Arbeiten) Redaktion: Anneliese Mahn, Dankwart Rahnenführer
Inhalt
I.
II.
III.
IV.
Die historische Situation zu Beginn des 3. Jahrhunderts. Von Bruno Krüger . . .
11
1. Die Herausbildung der Stammesverbände 2. Die Stammesverbände — eine neue politische Kraft 3. Die Situation im Römischen Reich gegen Ende des 2. und zu Beginn des 3. Jahrhunderts 4. Die Ersterwähnung der germanischen Stammesverbände seit dem 3. Jahrhundert und der unmittelbare Anlaß hierzu
11 14 15 16
Zur Quellensituation in der Zeit vom 3. bis zum 6. Jahrhundert 1. Archäologische Quellen. Von Bruno Krüger 2. Schriftliche Quellen a) Die antike und frühmittelalterliche Geschichtsschreibung. Von Hansulrich Labuske b) Die Volksrechte der Germanen. Von Burkhard Rode 3. Sprachwissenschaftliche Quellen. Von Bruno Krüger
21 21 23
Römisch-germanische Beziehungen im 3. Jahrhundert. Von Rudolf Laser . . . . 1. Zur Lage an Rhein und oberer Donau, auf dem Balkan und im Osten des Imperiums 2. Der Zusammenbruch des Limes 3. Das gallische Sonderreich (259—274) 4. Der Norden des Imperiums bis zur Reichsreform des Diokletian (293) . . . . 5. Innergermanien und das Römische Reich im 3. Jahrhundert
32
23 30 30
32 39 42 45 48
Zur Bevölkerungsgeschichte aus anthropologischer Sicht in der Zeit vom 3. bis zum 6. Jahrhundert. Von Christian Müller 57 57 1. Zur Quellensituation 2. Leichenbrände 57 a) Geschlechtsaufbau und Altersstruktur 58 b) Konstitution 59 c) Krankheitsbelastung 59 3. Körpergräber 59 a) Geschlechtsaufbau und Altersstruktur . 60 b) Altersaufbau 60 c) Körperbau 62 d) Typensonderung 65 4. Stammesunterschiede 66 5. Krankheiten 67
6
V.
VI.
INHALT
6. Künstliche Schädelverbildung 7. Einwohnerzahl und Siedlungsgröße
69 69
Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung
81
1. Hausbau und Siedlung. Von Peter Donat 2. Zur Siedlungsentwicklung des 5. bis 7. Jahrhunderts in den Stammesgebieten. Von Eike Gringmuth-Dallmer 3. Die landwirtschaftliche Produktion a) Ackerbau. Von Elsbeth Lange und Eike Gringmuth-Dallmer b) Haustierhaltung. Von Manfred Teichert und Hanns-Hermann Müller . . . c) Jagd und Fischfang. Von Manfred Teichert und Hanns-Hermann Müller . 4. Die handwerkliche Produktion a) Handwerkliche Tätigkeiten im Bereich der bäuerlichen Produktion. Von Andje Knaack 1. Herstellung der Keramik 2. Erzeugung und Verarbeitung von Eisen 3. Herstellung von Textilien und deren Verarbeitung 4. Verarbeitung von Holz 5. Verarbeitung von Bronze 6. Herstellung und Verarbeitung von Glas 7. Verarbeitung von Stein 8. Verarbeitung von Fellen und Leder 9. Verarbeitung von Knochen, Horn und Geweih 10. Weitere Produktionszweige b) Zur kunsthandwerklichen Produktion. Von Rosemarie Seyer c) Der Entwicklungsstand der handwerklichen Produktion im 5-/6. Jahrhundert. Von Andje Knaack 5. Austausch und Handel. Von Andje Knaack
81 90 100 100 107 119 123 123 123 128 139 143 148 149 151 151 152 153 154 156 157
Kunst und Ideologie
173
1. Die kunsthandwerkliche Produktion. Von Rosemarie Seyer a) Allgemeine Entwicklungslinien — äußere Einflüsse b) Material, Verzierungstechniken und Herstellungsverfahren. Produktionsinstrumente c) Zur ökonomischen und sozialen Stellung der Verfertiger kunsthandwerklicher Produkte d) Kunsthandwerkliche Produktion im Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung 2. Die Entwicklung der germanischen Kunst. Von Rosemarie Seyer a) Spezifika der germanischen Kunstentwicklung. Einflüsse überregionalen Charakters b) Ornamentik und Stile c) Figürliche Darstellungen d) Besonderheiten der künstlerischen Entwicklung in den einzelnen germanischen Gebieten e) Zu den Beziehungen zwischen Kunst und Kult 3. K u l t und Ideologie. Von Rosemarie Seyer a) Opfer b) Heiligtümer und Opferfeste c) Götter
173 173 176 199 203 205 206 208 224 237 245 248 250 259 260
INHALT
d) Symbolik und Amulette . e) Schriftquellen 4. Grabsitte und Grabkult. Von Erdmute Schultze 5. Die Herausbildung des Christentums. Von Gerd Zuchold a) Quellenlage b) Der Prozeß der Christianisierung c) Künstlerische Erzeugnisse als Hinweis auf germanisches Christentum. . . VII.
VIII.
7 263 265 269 279 279 280 285
Die Sprachentwicklung bis zur Herausbildung des althochdeutschen Wortschatzes . . 315 1. Die Runen. Von Erdmute Schultze a) Zum Aufbau der Runenschrift ( b) Verbreitung und Sprache der Ruüendenkmäler c) Herkunft der Runen d) Zur Bedeutung der Runeninschriften 2. Die Sprachentwicklung bis zur Herausbildung des Hochdeutschen. Von Wolfgang Pfeifer a) Sprachliche Besonderheiten und Unterschiede in den ersten Jahrhunderten b) Überlieferte Sprachformen c) Die Entwicklung seit dem 6. Jahrhundert.
315 315 317 319 321 326 326 329 332
Die germanischen Stammesverbände bis zur endgültigen Vorherrschaft der Franken
336
1. Die Alamannen. Von Berthold Schmidt a) Der Stammesname und die politische Geschichte b) Besiedlungsgeschichte und Kultur c) Haus-, Hof- und Siedlungsformen d) Bestattungswesen e) Kleidung, Tracht, Schmuck, Kunst f) Die Festigung des Stammesverbandes und dessen politische Eingliederung in das Frankenreich 2. Die Burgunden bis zum Untergang ihres Reiches an der oberen Rhône im Jahre 534. Von Achim Leube a) Die Burgunden im mittleren Odergebiet (2. bis 4. Jh.) b) Die Landnahme im Neckar-Jagst-Gebiet (278 — 430) c) Das Reich um Worms (406 bis 443) d) Das Reich in der „Sapaudia" (Südwestschweiz) e) Das Reich an der Rhône 3. Die Franken bis zur politischen Vereinigung unter Chlodwig. Von Bruno Krüger a) Erste Vorstöße in das provinzialrömische Gebiet . . b) Die Herkunft und historische Stellung der salischen Franken c) Laeten und Föderaten. Von Rigobert Günther d) Der Charakter der Auseinandersetzungen mit den Kräften des Römischen Reiches e) Die fränkischen Gefolgschaftskontingente im Kalkül der römischen Politik f) Die Landnahme germanischer Bauern im 4. und 5. Jahrhundert g) Siedlungswesen — materielle Kultur h) Bestattungswesen, K u l t und Ausdehnung des Christentums i) Einflüsse der spä,tantiken Klassengesellschaft j) Die sozialökonomische Differenzierung der Bevölkerung k) Die L e x Salica zu Fragen der sozialen Differenzierung. Von Siegrid Weber . *1) Fränkisch-alamannische Auseinandersetzungen. Von Rigobert Günther . . m) Die Herrschaft der Merowinger
336 336 342 349 352 358 360 361 361 371 373 376 378 379 379 384 387 393 395 396 401 418 425 428 436 438 439
8
INHALT
4. Die Sachsen. Von Achim Leube 443 a) Die Herausbildung des sächsischen Stammesverbandes 443 b) Die Einfälle und Ansiedlungen sächsischer Bevölkerungsgruppen in Nordgallien vom 3. bis 6. Jahrhundert 448 c) Die Stämme der Chauken, Angrivarier, Cherusker, Reudigner und Avionen 450 d) Angeln und Juten im sächsischen Bündnis 452 e) Die Entwicklung des sächsischen Stammesverbandes bis zur partiellen Abhängigkeit von den Franken im 6. Jahrhundert — Besiedlungsgeschichte sowie Spezifika der materiellen und geistigen Kultur 456 f) Zu den Haus- und Siedlungsformen 463 g) Zum Bestattungswesen und Kult 466 h) Geräte des täglichen Bedarfs, Schmuck- und Trachtteile sowie Waffen . . 468 i) Zur sozialen Differenzierung 473 j) Angelsächsische Landnahme 476 5. Die Friesen. Von Achim Koppe 485 a) Entwicklungslinien der politischen Geschichte bis zum frühen Mittelalter 485 b) Natürliche Umwelt in den nördlichen Niederlanden und Abriß der Besiedlungsgeschichte; zur materiellen und geistigen Kultur 489 6. Die Thüringer. Von Berthold Schmidt 502 a) Die Stammesgeschichte und politische Geschichte der Hermunduren/ Thüringer nach schriftlichen Überlieferungen 502 b) Die Stammesnamen: Hermunduren — Thüringer 504 c) Lokalisierung des Stammes- und Siedlungsgebietes 505 d) Archäologische Quellen als Ausdruck stammesgeschichtlicher Entwicklungsprozesse -5ii e) Siedlungsgebiete, Siedlungswesen, Kultur 518 f) Siedlungskontinuität und Einwanderung anderer Stämme oder Stammesteile 539 g) Gesellschaftliche Entwicklung 542 h) Die Geschichte des Stammesverbandes und seine Integration in das fränkische Reich 544 7. Die Bajuwaren. Von Berthold Schmidt 548 a) Erste Nennung der Bajuwaren; Theorien über die Entstehung des Stammesverbandes 548 b) Die Besiedlungsgeschichte Rätiens von der spätrömischen Kaiserzeit bis zum 6. Jahrhundert 549 c) Die Entstehung des Stammesverbandes der Bajuwaren. Assimilationsprozeß romanischer und germanischer Bevölkerungsteile durch die Ostgoten. Einwanderung von Germanen aus Böhmen. Staatssiedlung durch den fränkischen König 554 d) Das Stammes- und Siedlungsgebiet, Landesausbau, Kultur 558 e) Bajuwaren und Franken — die ersten Agilolfinger 565 8. Zur Geschichte der Stämme, die nicht an Verbandsbildungen beteiligt waren, insbesondere zur Geschichte der Chatten und Langobarden 571 8.1. Die Chatten. Von Rudolf Laser 571 a) Antike Überlieferung 571 b) Das Siedlungsgebiet 575 c) Die archäologischen Quellen 579 d) Zu den sozialökonomischen Verhältnissen 581 e) Zur fränkischen Landnahme 582
9
INHALT
8.2. Die Langobarden. Von Achim Leube 584 a) Die schriftlichen Quellen zur frühen Stammesgeschichte 584 b) Die Elbwanderung und Landnahme im Rugiland im ausgehenden 5. Jahrhundert 587 c) Die langobardische Übersiedlung nach Pannonien 591 d) Die Übersiedlung nach Italien im Jahre 568 und die Ausbildung eines Klassenstaates 592 e) Zur Wirtschaft und Gesellschaft 593 8.3. Die nördlichen Elbgermanen und die angrenzenden Stämme bis zur Oder. Von Achim Leube 596 IX.
Römer und Germanen im 4. und 5. Jahrhundert. Von Rigobert Günther
. . . .
632
1. Die Reichsreform des Diokletian und ihre Vollendung unter Konstantin I. (306—337). Der Weg zum Dominat 2. Die verschärften inneren Widersprüche und Klassenkämpfe — Ausdruck der allgemeinen Krise der Sklavereigesellschaft im Römischen Reich 3. Volksbewegungen 4. Das Rhein-Mosel-Gebiet in der Zeit des Dominats 5. Die endgültige Teilung des Römischen Reiches nach dem Tode Theodosius' I. 395 und der Untergang des Weströmischen Reiches 6. Die Germanen und Angehörige anderer Ethnika im Weströmischen Reich . . X.
Die Zeit der Völkerwanderung und ihre Bedeutung für die Geschichte Europas. Von Alexander Häusler
XII.
638 638 640 642 643 647
1. Der Vorstoß der Hunnen nach Europa und die Auseinandersetzungen mit Germanen und Römern 2. Die Bedeutung des beginnenden Prozesses der endgültigen Uberwindung der Sklavenhalterordnung 3. Bildung germanischer Staaten auf römischem Reichsgebiet 4. Der Untergang des Römischen Reiches und die Entstehung des Feudalismus XI.
632
647 650 652 655
Die gesellschaftliche Entwicklung bei den germanischen Stämmen in der Endphase der Gentilordnung und am Übergang zum Feudalismus 660 1. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse. Von Bruno Krüger und Siegrid Weber 2. Die „ L e x Salica" zum Prozeß der Ansiedlung in provinzialrömischen Gebieten. Von Siegrid Weber 3. Der Stand der sozialen Differenzierung im 5. und 6. Jahrhundert. Von Bruno Krüger und Siegrid Weber 4. Früheste Gesetzessammlungen. Von Burkhard Rode 5. Zur frühen Staatsbildung im 5. und 6. Jahrhundert. Von Bruno Krüger . . .
667 670 676
Anhang
682
1. Nachweise a) Abkürzungsverzeichnis b) Sigelverzeichnis c) Quellenverzeichnis und Literaturausweis d) Ergänzung zu den Abbildungsnachweisen 2. Register a) Ortsnamen b) Personen-, Stammes- und Götternamen 3. Anschriften der Autoren
660 666
683 .683 684 685 692 693 693 705 -712
Ï.
Die historische Situation zu Beginn des 3. Jahrhunderts
i.
Die Herausbildung der Stammesverbände
In den ersten beiden Jahrhunderten vollzog sich nach Zurückdrängung der römischen Legionen hinter die Rheingrenze und nach Errichtung des obergermanischen und rätischen Limes eine kaum durch kriegerische Einflüsse und Störungen gekennzeichnete Entwicklung. Sie förderte eine kontinuierliche, eigenständige Integration der germanischen Stämme, die teils auch über deren Grenzen hinausging. Gestützt auf die eigenen Erfahrungen konnten sich in den verschiedenartigsten Wirtschaftsgemeinschaften die Produktivkräfte entwickeln und weiter entfalten. Bei der Extensivität der Produktion, die primär auf die eigene Versorgung der jeweiligen Gemeinschaften ausgerichtet war, verlief der Fortschritt jedoch nur langsam; das betraf sowohl den Bereich der Nahrungsmittelbeschaffung als auch die handwerkliche Betätigung. Letztere war aber von entscheidender Bedeutung, weil sie bessere Voraussetzungen für eine arbeitsteilige Beschäftigung und damit für Spezialisierungen bot, die wiederum eng mit erhöhter Produktivität verbunden waren. Leider ist die Forschung noch immer nicht in der Lage, Einzelheiten dieser Entwicklung nachzuweisen. Andererseits zeigen die Quellen jedoch, daß insbesondere in den metallverarbeitenden Bereichen werkstattähnliche Zentren bestanden haben müssen, die für den Austausch im Sinne der einfachen Warenproduktion tätig waren. Die Loslösung dieser handwerklichen Produzenten aus dem Bereich der Nahrungsmittelproduktion setzte nicht nur die Erzeugung eines Mehrproduktes im handwerklichen Sektor, sondern auch in der Nahrungsmittelproduktion voraus. Fördernd mußte sich die zunehmende Bindung der Siedler an bestimmte Siedlungsareale auswirken. Die Stammesgebiete blieben konstant und ließen keine größeren Verschiebungen der jeweiligen Grenzen, auch nicht unter dem Druck des Bevölkerungszuwachses, zu. Zum allgemeinen Fortschritt, der lokal zwar unterschiedlich gefärbt war, insgesamt aber die gleiche Tendenz zeigte, gehörten auch die weitere soziale Differenzierung der Bevölkerung und damit eng verbunden die Festigung der nunmehr bereits seit Jahrhunderten bestehenden Adelsschicht. Sie erweckte das besondere Interesse Roms, was sich in der Vergabe von Geschenken und Geldzuwendungen und auch in der Unterstützung bei der Durchsetzung politischer Zielstellungen ausdrückte. Ihre Vertreter waren vorrangig diejenigen, die das in den jeweiligen Stammesgebieten und darüber hinaus von der Bevölkerung geschaffene Mehrprodukt gewaltsam an sich brachten. Sie standen auch an der Spitze von kriegerischen Aufgeboten, die seit dem Beginn des 3. Jh. die römischen Provinzen an Rhein und Donau zum Ziel von Eroberungs- und Beutezügen machten.
12
HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3 . JH.
Das politische Machtinstrument als Folgeerscheinung dieser Entwicklung und direkter Bestandteil derselben waren die Gefolgschaften und das sich mit ihnen herausbildende Gefolgschaftswesen. Der Anschluß von Angehörigen des Stammes an eine, sicher auch mit Führungsaufgaben beauftragte Person war aber keineswegs neu. Schon Ariovist wurde von ständigen Getreuen umgeben (Caesar, Bell. Gall. 6, 23), die zumindest den Charakter von Gefolgsleuten gehabt haben können. Ausführliche Berichte für die Zeit des 1. J h . u. Z. gibt es zur Gefolgschaft durch Tacitus (Germ. 13—15). Allein die T a t sache, daß er in seiner „ G e r m a n i a " ein selbständiges Kapitel dafür vorsah (s. B d . 1, S. 50/50*), belegt die inzwischen wohl gewachsene Bedeutung dieser gesellschaftlichen Einrichtung bei den germanischen S t ä m m e n . 1 Obwohl Tacitus lediglich auf junge Adlige hinweist, die nicht nur im eigenen S t a m m , sondern auch in fremden Stämmen einem Gefolgsherrn den Treueid leisteten, steht bei der im 3. J h . für den alamannischen Bereich überlieferten Zahl von 300 und mehr Gefolgsleuten außer Zweifel, daß auch nichtadlige junge Männer einer solchen Gemeinschaft angehört haben werden. Der auf den Herrn geleistete Treueeid verpflichtete zwar zum Gehorsam; er muß andererseits aber noch genügend Spielraum für Forderungen an den Gefolgsherrn gelassen haben. Denn wenn dieser von seinen Anhängern gezwungen werden konnte, sogar gegen Androhung der Auflösung des Gefolgschaftsverhältnisses — von Ammianus Marcellinus (28,5,14) für die Burgunden überliefert —, Krieg zu führen und B e u t e zu machen, scheint sich hier ein gegenseitiges Verhältnis anzudeuten, das, auf den Gefolgsherrn bezogen, streckenweise wohl mit der Stellung eines Primus inter pares verglichen werden kann. Dieses Verhältnis m u ß t e sich mit fortschreitender Verselbständigung des Gefolgswesens sowie mit zunehmenden Aktivitäten der Gefolgschaften bezüglich geführter Kriegszüge insbesondere außerhalb der Stammesgebiete — dip Einfälle in die römischen Provinzen sind unter diesem Gesichtspunkt zu sehen — zugunsten des Herrn verändern und festigen. J e länger der Gefolgsmann von der Familiengemeinschaft getrennt war, und j e mehr er sich vom bäuerlichen Lebensstil entfernt hatte, desto abhängiger mußte er werden. So wird verständlich, daß mit den beginnenden Einfällen dieser K a m p f gemeinschaften in das römische Reichsgebiet Bedingungen herangereift waren, die die Festigung der politischen Stellung der Gefolgsherrn m i t sich brachten und in der Völkerwanderungszeit zur Herausbildung des Heerkönigtums beitrugen (W. Schlesinger 1956, S. 105ff.). 2 Die seit dem 3. J h . einsetzende neue Phase der Beziehungen zwischen dem Römischen Reich und den germanischen Stämmen schuf im Gegensatz zur Berichtszeit des Tacitus nunmehr auch ganz neue Bedingungen. Die Gefolgschaft operierte häufiger weitab vom Stammesgebiet und war auf die eigene Versorgung angewiesen. Die Beute, durch kriege* Die zweite Seitenangabe bezieht sich auf die 4. Aufl. 1983. Daß Cäsar in seinem Germanenexkurs in der Beschreibung des Gallischen Krieges keine entsprechende spezielle Darlegung bringt, kann natürlich verschiedene Ursachen haben. Wahrscheinlich war aber das Gefolgschaftswesen noch zu wenig ausgebildet und demzufolge auch ihm noch unbekannt geblieben. 2 Probus verhandelte z. B. in der zweiten Hälfte des 3. Jh. mit neun Reguli der Alamannen (SHA, Vita Probi 14, 1). Maximian gelang es, 291/92 einen Adligen in dieser politischen Stellung gefangenzunehmen (Pan. Lat. 8, 2, 1). Ammianus Marcellinus (16, 12, 60) berichtet darüber, daß mit Chnodomar „comitesque eius ducenti numero et tres amici iunctissimi" in römische Gefangenschaft gerieten. 1
HERAUSBILDUNG DER STAMMESVERBÄNDE
13
rische Aktionen erworben, wurde zu einer Notwendigkeit, wollte man existieren. Daß diese Kampfgruppierungen beritten waren (Aurelius Victor 21, 2), erklärt sich u. a. auch aus der rechtlichen Seite, die z. B. das Pferd als Gabe an den Gefolgsmann erforderte. Die Gefolgschaften waren dadurch nicht nur sehr beweglich, sondern in der Auseinandersetzung auch kampfstark. Die Kampfkraft wurde offensichtlich aber auch durch Disziplin bestimmt, deren Ursachen in ethischen Vorstellungen der noch urgesellschaftlichen Gemeinde wurzelten. Sowohl für den Gefolgsmann als auch für den Gefolgsherrn galten Mut und Tapferkeit als unbedingte Bestandteile ihrer Kampfeshaltung. Diese subjektiven Werte dienten aber mehr und mehr objektiv einer Entwicklung, die den Krieg als alleinige Möglichkeit der Lebenserhaltung ansah. Denn nur so wird uns Tacitus verständlich, der überliefert, daß es den Gefolgsleuten trag und lässig erscheint, mit Schweiß zu verdienen, was man mit Blut erwerben kann (Germ. 13; 14). Nicht mehr Aufgebote des Stammes, an denen auch Frauen und Kinder beteiligt waren,3
Abb. 1. Die germanischen Stammesgebiete seit dem 3. Jh. und die Grenzsituation zum Römischen Reich. 8
Erinnert sei an die Kimbern und Teutonen, aber auch an die Sueben unter Ariovist; in beiden Fällen waren neben waffenfähigen Männern auch Frauen und Kinder unter den neues Land suchenden Germanen.
H
HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3 . JH.
sondern ausschließlich von Männern gebildete mobile Kriegergruppen, die sich unter Umständen aus Angehörigen mehrerer Stämme zusammensetzen konnten, nahmen nunmehr aktiv teil am Geschehen, das auf Auflösung der urgesellschaftlichen Gemeinschaft, der sozialökonomischen Formation Urgesellschaft, ausgerichtet war. Zu diesem Prozeß gehörte neben der ökonomischen Entwicklung mit Arbeitsteilung und dadurch bedingter besserer Produktion, mit zunehmender Seßhaftigkeit und damit verbundenem Landesausbau, mit der weiteren sozialökonomischen Differenzierung bei weiterer Stärkung der Adelsschicht, mit militärdemokratischen Verhältnissen bei gleichzeitigem Abbau derselben durch die wachsende Bedeutung • der Gefolgschaften auch die Tendenz der überstammlichen Bindungen mit dem Ergebnis, daß die Stämme als die klassischen, ethnischen und politischen Gemeinschaften der urgesellschaftlichen Ordnung anfingen, sich zugunsten neuer und größerer Gemeinschaften, der Stammesverbände, zu verändern und schließlich vereinzelt auch aufzulösen. Noch ist dieser lang andauernde Prozeß kaum in seinen Grundäußerungen bekannt. Am Ende dieser Entwicklung standen aber im allgemeinen Stammesverbände und Großstämme wie u. a. Alamannen, Franken, Sachsen, Thüringer, Bajuwaren und auch Friesen (Abb. 1).
2.
Die Stammesverbände — eine neue politische Kraft
Vieles spricht dafür, daß die neuen Verbandsbezeichungen zunächst nicht die Gesamtheit der später in den Verbänden integrierten Stämme repräsentierten. Sowohl die erste Erwähnung der Alamannen als auch der Franken läßt bei Berücksichtigung des Zusammenhanges, aus dem heraus die Überlieferung erfolgte, viel eher an kleinere Gruppen denken, die — zieht man die erwähnten Fürsten sowie den Charakter der Einfälle in das Provinzialgebiet des Römischen Reiches und die Beweglichkeit der Kriegergruppen mit zur Deutung heran — Gefolgschaftscharakter gehabt haben werden. Sie operierten vorwiegend in unmittelbarer Grenznähe sowie in den Grenzprovinzen des Römischen Reiches, ohne daß in den ersten Jahrzehnten ein auch im archäologischen Quellenmaterial spürbarer Nachstoß von Stammesangehörigen mit dem Ziel der Landnahme und Bebauung des Landes erfolgte. Es war also keineswegs so, daß diese Kriegerkontingente von vornherein das abgestimmte Ziel hatten, römisches Provinzialgebiet für eine bewußt geplante Aufsiedlung freizumachen. Die Möglichkeit, daß stammesfremde Personen in der Gefolgschaft Aufnahme fanden, war z. B. ein wichtiger Schritt zu einer festen überstammlichen Bindung. Durch Aktionen stärkerer gegen schwächere Stämme, die sicher mit Hilfe der Gefolgschaften als Machtinstrument vorgenommen wurden, schuf man ebenfalls Bedingungen, hier allerdings zwangsweise, die zur Überwindung des eigentlichen Stammeswesens beitrugen. So ist z. B. von den Chauken überliefert, daß sie gegen Ende des 2. Jh. nach Unterwerfung der Angrivarier und Cherusker in Richtung Süden ihren politischen Einflußbereich soweit ausgedehnt hatten, wie später auch das Stammesverbandsgebiet der Sachsen reichte (s. hierzu Bd. 1, S. 535/550f.)- 4 • 4
E s ist sehr wahrscheinlich, daß die Chauken mit zu den führenden Kräften im Verband der Sachsen gehörten. Deshalb ist deren politische Machtausdehnung für den Werdegang der Sachsen von entscheidender Bedeutung.
H
HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3 . JH.
sondern ausschließlich von Männern gebildete mobile Kriegergruppen, die sich unter Umständen aus Angehörigen mehrerer Stämme zusammensetzen konnten, nahmen nunmehr aktiv teil am Geschehen, das auf Auflösung der urgesellschaftlichen Gemeinschaft, der sozialökonomischen Formation Urgesellschaft, ausgerichtet war. Zu diesem Prozeß gehörte neben der ökonomischen Entwicklung mit Arbeitsteilung und dadurch bedingter besserer Produktion, mit zunehmender Seßhaftigkeit und damit verbundenem Landesausbau, mit der weiteren sozialökonomischen Differenzierung bei weiterer Stärkung der Adelsschicht, mit militärdemokratischen Verhältnissen bei gleichzeitigem Abbau derselben durch die wachsende Bedeutung • der Gefolgschaften auch die Tendenz der überstammlichen Bindungen mit dem Ergebnis, daß die Stämme als die klassischen, ethnischen und politischen Gemeinschaften der urgesellschaftlichen Ordnung anfingen, sich zugunsten neuer und größerer Gemeinschaften, der Stammesverbände, zu verändern und schließlich vereinzelt auch aufzulösen. Noch ist dieser lang andauernde Prozeß kaum in seinen Grundäußerungen bekannt. Am Ende dieser Entwicklung standen aber im allgemeinen Stammesverbände und Großstämme wie u. a. Alamannen, Franken, Sachsen, Thüringer, Bajuwaren und auch Friesen (Abb. 1).
2.
Die Stammesverbände — eine neue politische Kraft
Vieles spricht dafür, daß die neuen Verbandsbezeichungen zunächst nicht die Gesamtheit der später in den Verbänden integrierten Stämme repräsentierten. Sowohl die erste Erwähnung der Alamannen als auch der Franken läßt bei Berücksichtigung des Zusammenhanges, aus dem heraus die Überlieferung erfolgte, viel eher an kleinere Gruppen denken, die — zieht man die erwähnten Fürsten sowie den Charakter der Einfälle in das Provinzialgebiet des Römischen Reiches und die Beweglichkeit der Kriegergruppen mit zur Deutung heran — Gefolgschaftscharakter gehabt haben werden. Sie operierten vorwiegend in unmittelbarer Grenznähe sowie in den Grenzprovinzen des Römischen Reiches, ohne daß in den ersten Jahrzehnten ein auch im archäologischen Quellenmaterial spürbarer Nachstoß von Stammesangehörigen mit dem Ziel der Landnahme und Bebauung des Landes erfolgte. Es war also keineswegs so, daß diese Kriegerkontingente von vornherein das abgestimmte Ziel hatten, römisches Provinzialgebiet für eine bewußt geplante Aufsiedlung freizumachen. Die Möglichkeit, daß stammesfremde Personen in der Gefolgschaft Aufnahme fanden, war z. B. ein wichtiger Schritt zu einer festen überstammlichen Bindung. Durch Aktionen stärkerer gegen schwächere Stämme, die sicher mit Hilfe der Gefolgschaften als Machtinstrument vorgenommen wurden, schuf man ebenfalls Bedingungen, hier allerdings zwangsweise, die zur Überwindung des eigentlichen Stammeswesens beitrugen. So ist z. B. von den Chauken überliefert, daß sie gegen Ende des 2. Jh. nach Unterwerfung der Angrivarier und Cherusker in Richtung Süden ihren politischen Einflußbereich soweit ausgedehnt hatten, wie später auch das Stammesverbandsgebiet der Sachsen reichte (s. hierzu Bd. 1, S. 535/550f.)- 4 • 4
E s ist sehr wahrscheinlich, daß die Chauken mit zu den führenden Kräften im Verband der Sachsen gehörten. Deshalb ist deren politische Machtausdehnung für den Werdegang der Sachsen von entscheidender Bedeutung.
' SITUATION IM RÖMISCHEN REICH
15
Die bestehenden Verfassungseinrichtungen mußten, obwohl quellenmäßig von der Sache her nicht zu belegen, einer solchen Entwicklung ihren Tribut zollen. Dazu gehörte sicher auch die Einschränkung der Bedeutung der Volksversammlung, was allein schon durch die Aktionen der Gefolgschaften außerhalb der Stammesgebiete, aus denen sie kamen, bedingt war. Nicht mehr der Stammesrat, sondern die führenden Vertreter der Gefolgschaftsverbände trafen Entscheidungen, was nicht zuletzt zur Stärkung ihrer Positionen beigetragen hat. So ist „die Grundlage des Erbkönigtums und des Erbadels gelegt. So reißen sich die Organe der Gentilverfassung allmählich los von ihrer Wurzel im Volk, in Gens, Phratrie, Stamm, und die ganze Gentilverfassung verkehrt sich in ihr Gegenteil: aus einer Organisation von Stämmen zur freien Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten wird sie eine Organisation zur Plünderung und Bedrückung der Nachbarn, und dementsprechend werden ihre Organe aus Werkzeugen des Volkswillens zu selbständigen Organen ihrer Herrschaft und Bedrückung gegenüber dem eigenen Volk" (F. Engels 1962, S. 160). Aus der innergermanischen sozialökonomischen Entwicklung heraus wird also spätestens seit Beginn des 3. Jh. mit den Stammesverbänden eine neue Kraft wirksam, die die Endphase der urgesellschaftlichen Ordnung mit noch entsprechenden Organisationsformen und auch demokratischen Rechten einleitete. Obwohl durch den Zusammenschluß unter einer gemeinsamen politischen Führung die Stammesauseinandersetzungen sicher reduziert worden sind, ist andererseits nicht zu übersehen, daß durch gewaltsame Integration neue Abhängigkeitsverhältnisse entstehen mußten, die zum Fortschreiten der sozialen Differenzierung und damit auch zum weiteren Verfall der urgesellschaftlichen Ordnung im allgemeinen beitrugen. Neue Organe waren also entstanden, auf denen spätere staatliche Organisationsformen aufbauen konnten. Mit den Stammesverbänden war aber auch eine neue Kraft in der Auseinandersetzung mit der durch innere Widersprüche, Unruhen und Kriege gekennzeichneten und bereits geschwächten römischen Sklavenhalterordnung entstanden. Diese Auseinandersetzungen beschleunigten nicht nur den Zerfall der Urgesellschaft, sie trugen auch zur Überwindung der Sklavereigesellschaft bei gleichzeitiger Herausbildung feudaler Produktionsverhältnisse bei. 3.
Die Situation im Römischen Reich gegen Ende des 2. und zu Beginn dès 3. Jahrhunderts
Die innenpolitische Krise, die durch die Markomannenkriege (s. Bd. 1, S. 536/5 51) in den Jahren 166—180 noch verschärft wurde, brachte nach Beendigung derselben in den 80er Jahren des 2. Jh. wiederum Unruhen in verschiedenen Provinzen mit sich. Um die Kaiserwürde entbrannten Machtkämpfe, die vor allem von der Senatspartei, von der Prätorianergarde und von den führenden Vertretern der Legionen geführt wurden. Kaiser Commodus, der Nachfolger des durch die Markomannenkriege besonders bekannt gewordenen Marcus Aurelius, wurde ein Opfer solcher Auseinandersetzungen. Aus diesen Kämpfen gingen schließlich Septimius Severus, Statthalter der Provinz Pannonia superior, und mit ihm die Vertreter des mittleren Grundeigentums und damit auch die Anhänger der Sklaverei als Sieger hervor. In bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen baute er mit Hilfe der Armee seine machtpolitische Situation gegenüber
' SITUATION IM RÖMISCHEN REICH
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Die bestehenden Verfassungseinrichtungen mußten, obwohl quellenmäßig von der Sache her nicht zu belegen, einer solchen Entwicklung ihren Tribut zollen. Dazu gehörte sicher auch die Einschränkung der Bedeutung der Volksversammlung, was allein schon durch die Aktionen der Gefolgschaften außerhalb der Stammesgebiete, aus denen sie kamen, bedingt war. Nicht mehr der Stammesrat, sondern die führenden Vertreter der Gefolgschaftsverbände trafen Entscheidungen, was nicht zuletzt zur Stärkung ihrer Positionen beigetragen hat. So ist „die Grundlage des Erbkönigtums und des Erbadels gelegt. So reißen sich die Organe der Gentilverfassung allmählich los von ihrer Wurzel im Volk, in Gens, Phratrie, Stamm, und die ganze Gentilverfassung verkehrt sich in ihr Gegenteil: aus einer Organisation von Stämmen zur freien Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten wird sie eine Organisation zur Plünderung und Bedrückung der Nachbarn, und dementsprechend werden ihre Organe aus Werkzeugen des Volkswillens zu selbständigen Organen ihrer Herrschaft und Bedrückung gegenüber dem eigenen Volk" (F. Engels 1962, S. 160). Aus der innergermanischen sozialökonomischen Entwicklung heraus wird also spätestens seit Beginn des 3. Jh. mit den Stammesverbänden eine neue Kraft wirksam, die die Endphase der urgesellschaftlichen Ordnung mit noch entsprechenden Organisationsformen und auch demokratischen Rechten einleitete. Obwohl durch den Zusammenschluß unter einer gemeinsamen politischen Führung die Stammesauseinandersetzungen sicher reduziert worden sind, ist andererseits nicht zu übersehen, daß durch gewaltsame Integration neue Abhängigkeitsverhältnisse entstehen mußten, die zum Fortschreiten der sozialen Differenzierung und damit auch zum weiteren Verfall der urgesellschaftlichen Ordnung im allgemeinen beitrugen. Neue Organe waren also entstanden, auf denen spätere staatliche Organisationsformen aufbauen konnten. Mit den Stammesverbänden war aber auch eine neue Kraft in der Auseinandersetzung mit der durch innere Widersprüche, Unruhen und Kriege gekennzeichneten und bereits geschwächten römischen Sklavenhalterordnung entstanden. Diese Auseinandersetzungen beschleunigten nicht nur den Zerfall der Urgesellschaft, sie trugen auch zur Überwindung der Sklavereigesellschaft bei gleichzeitiger Herausbildung feudaler Produktionsverhältnisse bei. 3.
Die Situation im Römischen Reich gegen Ende des 2. und zu Beginn dès 3. Jahrhunderts
Die innenpolitische Krise, die durch die Markomannenkriege (s. Bd. 1, S. 536/5 51) in den Jahren 166—180 noch verschärft wurde, brachte nach Beendigung derselben in den 80er Jahren des 2. Jh. wiederum Unruhen in verschiedenen Provinzen mit sich. Um die Kaiserwürde entbrannten Machtkämpfe, die vor allem von der Senatspartei, von der Prätorianergarde und von den führenden Vertretern der Legionen geführt wurden. Kaiser Commodus, der Nachfolger des durch die Markomannenkriege besonders bekannt gewordenen Marcus Aurelius, wurde ein Opfer solcher Auseinandersetzungen. Aus diesen Kämpfen gingen schließlich Septimius Severus, Statthalter der Provinz Pannonia superior, und mit ihm die Vertreter des mittleren Grundeigentums und damit auch die Anhänger der Sklaverei als Sieger hervor. In bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen baute er mit Hilfe der Armee seine machtpolitische Situation gegenüber
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HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3 . JH.
seinen Hauptrivalen Clodius Albinus und C. Pescennius Niger aus; die ihm gefügigen Soldaten erhielten Sold in vorher nie gekannter Höhe und zahlreiche andere Vergünstigungen. Daß mit Krieg, mit Verfolgungen und mit harten Bestrafungen und schließlich mit einem Sieg der militärisch stärkeren Partei die sozialen Spannungen keineswegs beseitigt werden konnten, zeigten erneute Unruhen im 1. Jahrzehnt des 3. Jh. in Gallien und in Britannien. Wie stark die Reichsführung an der Unterdrückung dieser Unruhen interessiert war, belegt die Tatsache, daß Septimius Severus in den Jahren 208 bis 211 selbst am Feldzug in Britannien teilgenommen hat. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen verbrauchten wesentliche Kräfte und schwächten das Imperium. Zu Beginn des 3. Jh. kamen nun noch die Einfälle germanischer Stammesgruppen hinzu. Sie verlangten eine weitere stärkere. Orientierung der Kräfte auf außenpolitische Aufgaben. Sie wurden mehr und mehr durch kriegerische Auseinandersetzungen zunächst mit germanischen Kampfverbänden im Bereich des obergermanisch-rätischen Limes, später jedoch im Bereich der gesamten Nord- und Nordwestgrenze des Reiches gekennzeichnet. Der Nachfolger von Severus, sein Sohn Caracalla, schaltete sich selbst von der Gallia Narbonensis und von Rätien aus in die Vorbereitungen für die Kämpfe gegen die Germanen ein. Wie wir durch Cassius Dio wissen (77,13,4), entstanden entlang des bedrohten Grenzabschnittes zahlreiche Kastelle, darunter wohl auch das bekannte Kastell Saalburg (s. Bd. i , Taf. 28b). Trotz einer seit Ende des 1. Jh. nie gekannten Truppenkonzentration und trotz Vorstöße in germanisches Siedlungsland gelang kein entscheidender Sieg. Es wurde aber eine Periode kriegerischer Auseinandersetzungen eingeleitet, an deren Ende der Fall Galliens und schließlich auch der Untergang der antiken römischen Klassengesellschaft stand.
Die Ersterwähnung der germanischen Stammesverbände seit dem 3. Jahrhundert und der unmittelbare Anlaß hierzu „Als Antoninus (Caracalla) gegen die Alamannen zu Felde zog, gab er, wenn er eine zur Besiedlung geeignete Stelle sah, Befehl: Hier soll ein Kastell erbaut oder dort soll eine Stadt errichtet werden". Diese, aus dem Jahre 213 stammende Erwähnung des Cassius Dio (77, 13, 4) ist die älteste Überlieferung des Alamannennamens; sie ist gleichzeitig auch die erste sichere Erwähnung eines Stammesverbandsnamens im Darstellungsgebiet. Auf das 3. Jh. geht eine Bemerkung des Asinius Quadratus zurück, die von Agathias im 6. Jh. aufgenommen und dadurch überliefert wurde;, nach der die Alamannen eine zusammengewürfelte und gemischte Schar seien. Die Ersterwähnung der Franken reicht ebenfalls in das 3. Jh. zurück. Wohl für das Jahr 258 heißt es in derEpitome deCaesaribus (33, 3), daß „ . . . fränkische Stämme ... nach Plünderung Galliens Spanien in Besitz (nahmen), nachdem sie die Stadt Tarraco verheert und beinahe ausgeplündert hatten ...". Die als Germanen bezeichneten Franken sind offensichtlich nach Durchbruch durch die Grenzsicherungsanlagen des Römischen Reiches auf so wenig Widerstand gestoßen, daß ihnen der Weg bis an die spanische Mittelmeerküste möglich war. Obwohl über die Größe der als Franken bezeichneten Schar nichts angegeben ist,
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HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3 . JH.
seinen Hauptrivalen Clodius Albinus und C. Pescennius Niger aus; die ihm gefügigen Soldaten erhielten Sold in vorher nie gekannter Höhe und zahlreiche andere Vergünstigungen. Daß mit Krieg, mit Verfolgungen und mit harten Bestrafungen und schließlich mit einem Sieg der militärisch stärkeren Partei die sozialen Spannungen keineswegs beseitigt werden konnten, zeigten erneute Unruhen im 1. Jahrzehnt des 3. Jh. in Gallien und in Britannien. Wie stark die Reichsführung an der Unterdrückung dieser Unruhen interessiert war, belegt die Tatsache, daß Septimius Severus in den Jahren 208 bis 211 selbst am Feldzug in Britannien teilgenommen hat. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen verbrauchten wesentliche Kräfte und schwächten das Imperium. Zu Beginn des 3. Jh. kamen nun noch die Einfälle germanischer Stammesgruppen hinzu. Sie verlangten eine weitere stärkere. Orientierung der Kräfte auf außenpolitische Aufgaben. Sie wurden mehr und mehr durch kriegerische Auseinandersetzungen zunächst mit germanischen Kampfverbänden im Bereich des obergermanisch-rätischen Limes, später jedoch im Bereich der gesamten Nord- und Nordwestgrenze des Reiches gekennzeichnet. Der Nachfolger von Severus, sein Sohn Caracalla, schaltete sich selbst von der Gallia Narbonensis und von Rätien aus in die Vorbereitungen für die Kämpfe gegen die Germanen ein. Wie wir durch Cassius Dio wissen (77,13,4), entstanden entlang des bedrohten Grenzabschnittes zahlreiche Kastelle, darunter wohl auch das bekannte Kastell Saalburg (s. Bd. i , Taf. 28b). Trotz einer seit Ende des 1. Jh. nie gekannten Truppenkonzentration und trotz Vorstöße in germanisches Siedlungsland gelang kein entscheidender Sieg. Es wurde aber eine Periode kriegerischer Auseinandersetzungen eingeleitet, an deren Ende der Fall Galliens und schließlich auch der Untergang der antiken römischen Klassengesellschaft stand.
Die Ersterwähnung der germanischen Stammesverbände seit dem 3. Jahrhundert und der unmittelbare Anlaß hierzu „Als Antoninus (Caracalla) gegen die Alamannen zu Felde zog, gab er, wenn er eine zur Besiedlung geeignete Stelle sah, Befehl: Hier soll ein Kastell erbaut oder dort soll eine Stadt errichtet werden". Diese, aus dem Jahre 213 stammende Erwähnung des Cassius Dio (77, 13, 4) ist die älteste Überlieferung des Alamannennamens; sie ist gleichzeitig auch die erste sichere Erwähnung eines Stammesverbandsnamens im Darstellungsgebiet. Auf das 3. Jh. geht eine Bemerkung des Asinius Quadratus zurück, die von Agathias im 6. Jh. aufgenommen und dadurch überliefert wurde;, nach der die Alamannen eine zusammengewürfelte und gemischte Schar seien. Die Ersterwähnung der Franken reicht ebenfalls in das 3. Jh. zurück. Wohl für das Jahr 258 heißt es in derEpitome deCaesaribus (33, 3), daß „ . . . fränkische Stämme ... nach Plünderung Galliens Spanien in Besitz (nahmen), nachdem sie die Stadt Tarraco verheert und beinahe ausgeplündert hatten ...". Die als Germanen bezeichneten Franken sind offensichtlich nach Durchbruch durch die Grenzsicherungsanlagen des Römischen Reiches auf so wenig Widerstand gestoßen, daß ihnen der Weg bis an die spanische Mittelmeerküste möglich war. Obwohl über die Größe der als Franken bezeichneten Schar nichts angegeben ist,
ERSTERWÄHNUNG DER STAMMESVERBÄNDE
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wird sie zumindest sehr beweglich und demzufolge auch nicht zu umfangreich gewesen sein. Wie weit ihr die Unsicherheit in Gallien, hervorgegangen aus den inneren Widersprüchen, die hier auf die Abtrennung des gallischen Sonderreiches hinausliefen (s. S. 42L), zugute kam, oder ob diese nicht sogar bewußt ausgenutzt wurde, ist nicht eindeutig zu belegen; sie muß aber in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Viel schwieriger zu beurteilen und nach wie vor nicht überzeugend geklärt ist die früheste Erwähnung der Sachsen. Die Unklarheit ergibt sich aus einer sog. Ersterwähnung bei Ptolemaios aus der Mitte des 2. Jh., nach der die Sachsen auf dem Nacken des Kimbrischen Chersones gesiedelt hätten (2, 7, 9—16), deren Echtheit wiederholt mit der Begründung angezweifelt wurde, daß der im allgemeinen sehr glaubwürdige Tacitus bei Aufzählung der Stämme bis hinauf auf die kimbrische Halbinsel die Sachsen nicht genannt hat (U. Kahrstedt 1934, S. 18ff.). 5 Aus diesem Grunde wird häufig die aus dem Jahre 285/86 stammende Erwähnung der Sachsen (Eutrop 9, 21), die gemeinsam mit den Franken die Küste des Römischen Reiches vom Kanal aus angegriffen haben, als erste sichere Überlieferung des Sachsennamens angesehen. Ob die versuchte Erklärung, daß die Sachsen Träger des einschneidigen, messerähnlichen Kurzschwertes, des Sax, waren, das auf den römischen Gladius zurückgeht, richtig ist, konnte bisher nicht bewiesen werden. Ein derartiger Interpretationsversuch des Namens würde auf ähnliche Kräfte orientieren, die bei der Bildung der anderen Stammes verbände von entscheidender Bedeutung waren: die bewaffneten Kontingente, aus mehreren Stämmen erwachsen, die dann auch im Falle der Sachsen in kriegerische Auseinandersetzungen mit dem Römischen Reich verwickelt waren. Wesentlich später, erst um das Jahr 400, erfahren wir durch Vegetius in seiner Schrift „Mulomedicina" (3, 6,3) vonToringi, worunter anerkanntermaßen die im Stammesverband der Thüringer integrierten Stämme verstanden werden müssen. Dieser Name scheint ebenfalls eine Neubezeichnung zu sein, wenngleich andererseits auch Versuche unternommen wurden, „Toringi" vom Namen des wahrscheinlichen Hauptstammes der Thüringer, von dem der Hermunduren, abzuleiten (s. S. 504f.). Anlaß für die Ersterwähnung war eine Betrachtung über die Qualitäten der Pferde in Europa und außerhalb desselben, die für Wirtschaft und Ausrüstung des römischen Militärs von Bedeutung waren. Die frühesten namentlichen Nennungen der Bajuwaren stammen aus noch jüngerer Zeit. Sicher erwähnt erst Jordanes in seiner 551 entstandenen Gotengeschichte6 die „Baibari", die als östliche Nachbarn der Suavi zu bezeichnen sind (H. Ditten 1975, S. 1—24). Auch die Erwähnung durch Venantius Fortunatus, der während einer Pilgerreise zwischen 565 und 571, die ihn u. a. durch die Gebiete nördlich der Alpen führte, Bajuwaren bei Augsburg und am Lech antraf (De excidio Thoringiae), fällt nahezu in die gleiche Zeit. Die Bedeutung des Namens ist ebenso unbefriedigend geklärt wie die Herkunft der Bajuwaren selbst. Beide Dinge sind eng miteinander verbunden, so daß die Lösung des einen Problems gewissermaßen ein gangbarer Weg zur Lösung des anderen bedeutet. Ob die Bajuwaren bzw. Bayern aus dem Lande Baia kamen, wie 5
S. hierzu eingehendere Ausführungen bei M. Lintzel 1 9 6 1 , S. 3 7 ff., w o auf Möglichkeiten der Verschreibung v o n Axonen und sazonischen Inseln auf Sachsen hingewiesen wird.
6
Jordanes 5 5 , 280. Sollte dieses W e r k auf die verlorengegangene Gotengeschichte des Cassiodor zurückgehen, dann würde die Ersterwähnung bereits in die Zeit v o n 5 2 6 — 5 3 3 fallen.
2 Germanen —Bd. 2
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aus der Bezeichnung „Baiwari" gefolgert wurde (R. Much 1895, S. 1—19), bleibt eine Frage an die Forschung, gleichermaßen aber auch die Lokalisierung dieses mit „Baia" bezeichneten Gebietes. Ahnlich wie die Thüringer sind auch die Friesen außerhalb stärkerer Gebietsverlagerungen geblieben. Letztere hatten im Gegensatz zu den Thüringern mehr den Charakter eines Großstammes als den eines Stammesverbandes. Der Name der Friesen ist uns bereits seit dem Jahre 12 vor Beginn u. Z. bekannt (Plinius d. Ä. 4,101). Ihre Siedlungsgebiete gehörten mit zu den ersten, die im Rahmen der großangelegten Germanienoffensive des Römischen Reiches im gleichen Jahre von den Truppen unter Drusus angegriffen wurden (s. Bd. 1, S. 269/278f.). Denselben kriegerischen Ereignissen verdanken auch die Chatten ihre erste Erwähnung. Die unter Drusus stehenden römischen Truppen zogen nach erfolgreichen Kämpfen gegen Usipeter und Sugambrer in den Jahren 10 und 9 vor Beginn u. Z. auch gegen die Chatten (Cassius Dio 54, 33, 2);7 sie wurden seinerzeit ebenfalls unterworfen und haben sich in den folgenden Jahrzehnten aber wieder befreien können. Chatten, das sind, obwohl sprachlich nicht eindeutig zu belegen, die späteren Hessen, deren Ersterwähnung aus dem 8. Jh. stammt. Diese Ableitung erhält eine wesentliche Stütze durch den nahezu gleichbleibenden Siedlungsraum bis in die Neuzeit hinein.8 Neben diesen direkt oder stärker an der späteren Herausbildung des deutschen Volkes beteiligten germanischen Stammesverbänden, Großstämmen und Stämmen sind für die Darstellung aber auch diejenigen zu nennen, die mit ihrer Stammesgeschichte wenig oder doch nur mittelbar an dieser Entwicklung beteiligt waren, weil sie in der Völkerwanderungszeit nur episodenhaft das Herausbildungsgebiet durch frühzeitige Abwanderung bedeutender Stammesteile beeinflußten, wie etwa die Langobarden, oder weil sie — auf der Wanderung befindlich — hier historisch nur vorübergehend wirksam wurden, wie etwa die Burgunden. Letztere verdanken ihre früheste Erwähnung dem römischen Geschichtsschreiber Plinius, der für die zweite Hälfte des 1. Jh. im Rahmen einer Aufzählung, „die germanischen Völker bildeten fünf Gruppen: 1. die Vandilier, von denen Teile Burgunden, Variner, Chariner und Gutonen sind" (4, 96—106), neben anderen also auch Burgunden nennt. Für die Mitte des 2. Jh. werden dann durch den griechischen Geographen Ptolemaios auf der von ihm erarbeiteten Weltkarte die Siedlungsgebiete der „Burguntes" östlich der Semnonen und östlich der Oder vermutet. Die Ersterwähnung der Langobarden wird Vellerns Paterculus verdankt. Als Teilnehmer an den Feldzügen des Tiberius gegen germanische Stämme im näheren Nordseeküstenbereich erfuhr er in den Jahren 4 bis 6 u. Z. auch von den Angehörigen dieses Stammes, die im unteren Elbegebiet lebten (2,105, s. Bd. 1, S. 270/280). Nach der Stammessage, durch Paulus Diaconus überliefert, nannten sie sich ursprünglich Winniler, was soviel wie „Streiter" heißt. 7
8
Ob die im Jahre 15 v. u. Z. in die römischen Vorbereitungen zur Germanienoffensive einbezogenen Mattiaker bereits auf eine wenig ältere Ersterwähnung auch der Chatten hinweisen, bleibt ungeklärt, weil deren Einbeziehung in das Verbandsgebiet, hieraus wäre die Bezeichnung chattische Mattiaker abzuleiten, zeitlich nicht näher festgelegt werden kann. Vgl. eine Zusammenfassung der Erklärungsversuche bei A. Bach, Chatti-Hassi. Zur Deutung des Namens der Hessen. In: Hess. Jb. f. Landesgesch. 4, 1954, S. 1 — 20.
ERSTERWÄHNUNG D E R STAMMESVERBÄNDE
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Die schriftliche Überlieferung erfaßte natürlich nicht alle Stämme. So bleibt bereits für das 3. Jh., aber auch für die Zeit danach, vor allem das Gebiet zwischen Elbe und Oder nahezu erwähnungsfrei. Die Ursachen hierzu sind wahrscheinlich verschiedenartiger Natur. Sicher hatten die Römer hier wenig Einblick. Sie liegen letztendlich aber im konkreten Siedlungsablauf begründet, der durch die starke Ausdünnung der Besiedlung infolge von Abwanderungen gekennzeichnet war. Neben Warnen, die zum Stammesverband der Thüringer gehörten, sind lediglich im alten Stammesgebiet der Semnonen die Nordschwaben zu nennen. Sie werden in einem Brief des Frankenkönigs Theudebert I. an den oströmischen Kaiser Justinian aus dem Jahre 534 oder 535 unter dem Namen „Norsavi" erstmals genannt. Die Vielschichtigkeit des Stammesverbands- und Großstammbildungsprozesses mit der Grundfrage, welche Einzelstämme in die größeren politischen Organisationsformen Eingang gefunden haben, läßt an dieser Stelle nur einen Überblick für möglich erscheinen; er findet im nachfolgenden Text seine erforderliche Ergänzung. Wenngleich die Verbandsbildung durch Spezifika im jeweiligen Herausbildungsgebiet durchaus verschiedenartig verlaufen sein kann und sicher auch verschieden verlaufen ist, muß andererseits die Entstehung größerer politischer Gemeinschaften, in denen der Einzelstamm nach wie vor noch von Bedeutung war, als eine gesetzmäßige Erscheinung des allgemeinen historischen Entwicklungsprozesses angesehen werden, der den späten Abschnitt der Gentilordnung mitbestimmte. Während z. B. für die Franken mit den Amsivariern, Brukterern, Chamavern, Chattuariern, Hasuariern, Usipetern, Saliern, Tenkterern und Tubanten eine doch relativ sichere Zuordnung zum Stammesverba!nd möglich ist (E.Zöllner 1970, S. 2—4), muß für die Alamannen bereits der allgemeine Hinweis genügen, daß elbgermanische Stammessplitter, wohl vorwiegend Semnonen, nicht näher namentlich bekannte Bevölkerungsteile aus dem Gebiet zwischen Elbe und Oder sowie seit dem späten 3. Jh. auch Juthungen zum Verband gehört haben werden. Ob auch Stammessplitter der Burgunden sowie die Südhermunduren (s. Bd. 1, S. 388/400) Anteil an der Verbandsbildung hatten, bleibt fraglich. Diskussionen hat nicht nur die Entstehung des Verbandes der Sachsen, sondern auch die Zuweisung der zum Verband gehörenden Einzelstämme hervorgerufen. Sicher ist, daß zu ihm die Chauken — zumindest die Großen Chauken —, die Reudigner, Angrivarier, Cherusker und auch die in ihren ursprünglichen Wohnsitzen verbliebenen Langobarden gehörten. Die Kleinen Chauken sind dagegen möglicherweise von den Friesen aufgenommen worden. Das aus dem Jahre 802 bzw. 803 überlieferte Gesetz der Thüringer belegt, daß zum Verband neben den Hermunduren auch Angeln und Warnen gehört haben. Nahezu unbeantwortet ist dagegen bis heute die Frage nach der stammlichen Zusammensetzung der Bajuwaren. 9 Andere Stämme, wie etwa Burgunden und Langobarden, sind in ihrem Grundbestand wohl Einzelstämme geblieben, was nicht ausschließt, daß si* auf ihren weiten Wanderungen bis nach Südfrankreich und Italien andere Stammessplitter und Bevölkerungsteile der von ihnen durchwanderten Gebiete aufgenommen haben. Neben Markomannen, Alamannen, Sueben, aber auch Langobarden sind schließlich noch
9
Quaden und Heruler bei der Behandlung der Frage nach der Stammeszusammensetzung in Betracht gezogen worden. S. hierzu den zusammenfassenden Überblick bei K . Reindel, Die politische Entwicklung. In: Handbuch der bayerischen Gesch., München 1967, S. 75 bis 84. 2*
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HISTORISCHE SITUATION ZU BEGINN DES 3. JH.
Literaturverzeichnis Bach, A. 1954: Chatti-Hassi. Zur Deutung des Namens der Hessen. In: Hess. Jb. f. Landesgesch. 4, S. 1 — 20. Ditten, H. 1975: Zu Prokops Nachrichten über die deutschen Stämme. In: Byzantinoslavica 36, S. 1 — 24. Engels, F. 1962: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: MEW 21, S. 25—173. Kahrstedt, U. 1934: Die politische Geschichte Niedersachsens in der Römerzeit. In: NNU 8, S. 1 - 2 0 . Lintzel, M. 1961: Zur altsächsischen Stammesgeschichte, Berlin. Much, R. 1895: Die Deutung der germanischen Völkernamen. In: Beiträge zur Gesch. der dt. Sprache und Literatur 20, S. 1 — 19. Reindel, K. 1967: Die politische Entwicklung. In: Handbuch der bayerischen Gesch., München, S. 75—84. Schlesinger, W. 1956: Über germanisches Heerkönigtum. In: Vorträge und Forsch. 3, S. 105 — 141. Zöllner, E. 1970: Geschichte der Franken, München.
II.
Zur Quellensituation 6. Jahrhundert
i.
Archäologische Quellen
in der Zeit vom 3. bis zum
Wie bereits bei der Erarbeitung des l. Bandes stellen die archäologischen Quellen auch für die Ausführungen im 2. Band eine ganz wesentliche Quellenkategorie dar. Naturgemäß sind sie auch für den hier zu behandelnden Darstellungszeitraum in erster Linie für die Beantwortung von Fragen zur Wirtschaft, zum Siedlungswesen, zur materiellen und auch zur geistigen Kultur und, hier aber bereits mit Einschränkungen, zu Fragen der sozialökonomischen Differenzierung, der ethnischen Entwicklung und zu einigen Fragen aus dem politischen Bereich heranzuziehen bzw. allein zuständig. Stärker als es für die Jahrhunderte vor Beginn u. Z. möglich war, konnten für den im Band 2 zur Darstellung kommenden Zeitraum auf Grund einer breiteren Quellenbasis Aussagen zur Umwelt sowohl im botanischen als auch im zoologischen Bereich gemacht werden. Trotzdem haben verschiedenartige Gründe zu einem ganz unterschiedlichen Stand sowohl gegenüber den Quellen aus den Jahrhunderten vor Beginn u. Z. bzw. aus den ersten Jahrhunderten u. Z. als auch gegenüber den einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der Stämme, Großstämme und Stammesverbände geführt. Insbesondere sind es regionale Unterschiede bei der Forschungsintensität und •bei den Forschungszielstellungen, die zu einer ungleichen Menge des Quellenmaterials und zu einer oft sehr andersartigen Quellenauswahl geführt haben. Waren vor allem für die Jahrhunderte um die Wende u. Z. durch mehrere Ausgrabungen von Siedlungen wichtige Quellen zu Hausbau, Siedlungsform und Wirtschaft vorhanden, sie wurden durch drei zielgerichtete Problemgrabungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie weiter angereichert, ist gleiches für die Zeit vom 5 . - 6 . Jh. nicht zu sagen. Der derzeitige Forschungsstand auf dem Gebiet der speziellen Siedlungsforschung ist gerade hier weitaus schlechter, so daß ähnliche Aussagen mit Wertcharakter für diese Zeit nicht gemacht werden können. Die Zahl der bisher untersuchten Siedlungskomplexe ist so gering, daß weder regionale Überblicke zu Hausbau und Siedlungswesen noch Aussagen mit mehr verallgemeinerndem Charakter gegeben werden können. Die im entsprechenden Kapitel hierzu gemachten Angaben geben deshalb nur mögliche Tendenzen wieder, deren Richtigkeit weiter zu verfolgen, zu überprüfen und vor allem weiter zu festigen ist. Bis zu einem gewissen Grade liegen hier aber auch objektive Schwierigkeiten bei der Quellenbergung vor, die sich aus zu vermutenden kontinuierlichen Siedlungsabläufen bis in die Dorflagen des frühen Mittelalters erklären. Dadurch sind mögliche Siedlungshinweise aus den unmittelbar davorliegenden Zeiträumen nicht
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QUELLENSITUATION VOM 3 . - 6 . JH.
nur in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch ganz zerstört worden. Untersuchungen mit Komplexcharakter werden weiter durch die Bebauung erschwert, so daß Hausbau und Siedlungsformen zumindest an diesen Orten kaum in ihrer Entwicklung verfolgt werden können. Sicher liegen in dieser möglichen Kontinuität nicht die alleinigen Gründe für nach wie vor noch nicht ausreichendes Quellenmaterial. Die Tendenz zur weiteren Zergliederung der Siedlungsstrukturen, in deren Folge der Einzelhof an Bedeutung gewann, dürfte ebenfalls für die derzeitige Quellensituation von Bedeutung sein. Hinzu kommt, daß sich in der Periode der sog. Völkerwanderung starke Siedlungsverlagerungen von örtlich ganz unterschiedlichem Ausmaß vollzogen, die bis zur nahezu völligen Aufgabe bestimmter Siedlungsareale führen konnten. Der insgesamt also nicht befriedigende Stand zu Fragen der Siedlungsforschung macht sich deshalb auch auf die Darstellung von großräumigen Besiedlungsabläufen erschwerend bemerkbar. Erst an der Schwelle zum frühen Mittelalter trat mit der Entstehung von Dorflagen eine Verbesserung der Quellensituation ein, auf die im entsprechenden Kapitel des Bandes eingegangen wird. Die mangelnde Kenntnis einer Quellengruppe, die vor allem und insbesondere zur Darlegung von wichtigen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens erforderlich ist, zwang — wie beispielsweise bei den Ausführungen zur Verhüttungstechnik und Eisenerzeugung — zu Ausgriffen auf Fundmaterial, das zwar entwicklungsgeschichtlich in den gleichen Darstellungszeitraum, aber nicht unmittelbar in das Verbreitungsgebiet gehört, das vorrangig bei der Herausbildung der späteren deutschen Volksstämme berücksichtigt werden mußte. Da sich die gesellschaftliche Entwicklung hier nicht losgelöst von der in weiter entfernt liegenden Gebieten vollzogenhat, war es weiterhin notwendig, durch die Vorlage von archäologischen Quellen wenn auch nur sporadisch vorhanden gewesene Beziehungen zu jenen Gebieten und deren Bewohnern herzustellen, aus denen zeitweilig entsprechende Materialien bzw. Einflüsse kamen. Hierzu gehörten die außerhalb des Darstellungsraumes lebenden Goten, Hunnen und namentlich nicht näher bekannte Bevölkerungsgruppen zwischen Weichsel und Oder sowie auch jene, die über das Byzantinische Reich Brücken von Kleinasien bis nach Mitteleuropa, vor allem durch Lieferung von Schmuck und Kleidung, schlugen. Die weitreichenden Beziehungen gewannen vor allem in der Spätphase der Gentilordnung an Bedeutung, weil die sich inzwischen etablierende Adelsschicht, namentlich deren führende Vertreter, sozialökonomisch einen Stand erreicht hatte, der diese Beziehungen über die eigentlichen Stammesgebiete hinweg ermöglichte. Mit dem allmählichen Übergang zur Körperbestattung und der damit teilweise verbundenen reichen Grabausstattung stehen seit etwa der ersten Hälfte des 5. Jh. nicht nur dem Anthropologen bessere Quellen im Gegensatz zum früher vorhandenen Leichenbrand zur Verfügung. Auch andere Lebensbereiche können jetzt, wenn auch nur indirekt, besser erschlossen und dargestellt werden. In den Gegenständen spiegelt sich vor allem die handwerkliche Produktion wider, die gerade in der Endphase der Gentilordnung eine stärkere Arbeitsteilung und Spezialisierung erkennen läßt. Dies ist um so bedeutungsvoller, als es bisher nur vereinzelt gelungen ist, direkte Werkplätze durch den Ausgrabungsbefund nachzuweisen. Obwohl die Grabausstattung nach wie vor stark durch den Bestattungskult bestimmt wurde, ergeben die Funde aus den Gräbern einen relativ guten Einblick in die materielle und geistige Kultur dieser Zeit.
SCHRIFTLICHE QUELLEN
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Das Fundmaterial ist hier nahezu gleichmäßig über das ganze Darstellungsgebiet verteilt, so daß ein breiter Überblick gegeben werden kann. Der Mangel an sicher nachgewiesenen Siedlungen macht sich auch bei der Darstellung des Verhältnisses von Gräberfeld und Siedlung bemerkbar. Dies trifft sowohl für das 3. und 4. Jh. als auch für die Zeit bis zum 6. Jh. zu. Nur in Ausnahmefällen war es möglich, beide Komplexe als Einheit im Siedlungswesen nachzuweisen. Der Mangel wird insbesondere für das 5. und 6. Jh. spürbar. Auf die Gründe ist weiter oben bereits hingewiesen worden. Die allseitige Deutung der Quellen, die dem Boden entnommen wurden, ist eine Grundvoraussetzung moderner Geschichtsdarstellung. Bei der Spezifik der einzelnen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind neben Gesellschaftswissenschaftlern in immer stärkerem Maße auch Naturwissenschaftler bei der Auswertung erforderlich. Der gegenwärtige Forschungsstand hierzu ist geographisch unterschiedlich, insgesamt jedoch noch immer nicht befriedigend. Fragen der Technologie, der Arbeitsprozesse, der Arbeitsorganisation sowie auch des Austausches und des Handels, um nur einige wichtige Komplexe zu nennen, müssen nach wie vor von einer noch immer zu geringen Quellenbasis beantwortet werden und haben deshalb streckenweise hypothetischen Charakter. Es ist aber auch ein Anliegen dieses Handbuches, auf eben diese Mängel hinzuweisen und die künftige Forschung zu Untersuchungen spezieller Fragen anzuregen.
2.
Schriftliche
Quellen
a) Die antike und frühmittelalterliche Geschichtsschreibung In den ersten fünf Jahrhunderten u. Z. vollzog sich die Entwicklung zahlreicher germanischer Stämme in engem Kontakt mit dem römischen Imperium, gegen Ende der Periode sogar vielfach auf dessen Territorium. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich diese Beziehungen in den Werken der römischen Literatur, seien sie lateinisch oder griechisch geschrieben, widerspiegeln. Gerade diese schriftlichen Äußerungen bildeten in der frühen Neuzeit den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Germanen; auch heute dürfen sie keineswegs vernachlässigt werden. Es sind die schriftlichen Überlieferungen, die Einblicke in Lebensbereiche liefern, die mittels archäologischen Fundgutes entweder gar nicht oder nur andeutungsweise möglich sind. Da die römische Geschichtsschreibung sowohl über Germanen im allgemeinen als auch im Detailbereich berichtet, ist ihre Berücksichtigung bei kritischer Betrachtung von großem Wert. So sind Namen von Stämmen, die Erwähnung bestimmter Stammesangehöriger, insbesondere die Erwähnung von Vertretern des führenden Adels, Angaben zur politischen Struktur der Stämme, zu Auseinandersetzungen innerhalb der Stämme, aber auch über Kriegszüge in das provinzialrömische Gebiet ebenso vorhanden wie ergänzende Ausführungen zu Hausbau und Siedlung, zur materiellen und geistigen Kultur. Letztere ergänzen oft entscheidend den archäologischen Befund bzw. können durch diesen erst interpretiert werden. Neben historischen Werken im engeren Sinne, denen die Sammlungen von Kaiserbiographien verwandt sind, und literarisch anspruchslosen Chroniken können auch
SCHRIFTLICHE QUELLEN
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Das Fundmaterial ist hier nahezu gleichmäßig über das ganze Darstellungsgebiet verteilt, so daß ein breiter Überblick gegeben werden kann. Der Mangel an sicher nachgewiesenen Siedlungen macht sich auch bei der Darstellung des Verhältnisses von Gräberfeld und Siedlung bemerkbar. Dies trifft sowohl für das 3. und 4. Jh. als auch für die Zeit bis zum 6. Jh. zu. Nur in Ausnahmefällen war es möglich, beide Komplexe als Einheit im Siedlungswesen nachzuweisen. Der Mangel wird insbesondere für das 5. und 6. Jh. spürbar. Auf die Gründe ist weiter oben bereits hingewiesen worden. Die allseitige Deutung der Quellen, die dem Boden entnommen wurden, ist eine Grundvoraussetzung moderner Geschichtsdarstellung. Bei der Spezifik der einzelnen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind neben Gesellschaftswissenschaftlern in immer stärkerem Maße auch Naturwissenschaftler bei der Auswertung erforderlich. Der gegenwärtige Forschungsstand hierzu ist geographisch unterschiedlich, insgesamt jedoch noch immer nicht befriedigend. Fragen der Technologie, der Arbeitsprozesse, der Arbeitsorganisation sowie auch des Austausches und des Handels, um nur einige wichtige Komplexe zu nennen, müssen nach wie vor von einer noch immer zu geringen Quellenbasis beantwortet werden und haben deshalb streckenweise hypothetischen Charakter. Es ist aber auch ein Anliegen dieses Handbuches, auf eben diese Mängel hinzuweisen und die künftige Forschung zu Untersuchungen spezieller Fragen anzuregen.
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Schriftliche
Quellen
a) Die antike und frühmittelalterliche Geschichtsschreibung In den ersten fünf Jahrhunderten u. Z. vollzog sich die Entwicklung zahlreicher germanischer Stämme in engem Kontakt mit dem römischen Imperium, gegen Ende der Periode sogar vielfach auf dessen Territorium. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich diese Beziehungen in den Werken der römischen Literatur, seien sie lateinisch oder griechisch geschrieben, widerspiegeln. Gerade diese schriftlichen Äußerungen bildeten in der frühen Neuzeit den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Germanen; auch heute dürfen sie keineswegs vernachlässigt werden. Es sind die schriftlichen Überlieferungen, die Einblicke in Lebensbereiche liefern, die mittels archäologischen Fundgutes entweder gar nicht oder nur andeutungsweise möglich sind. Da die römische Geschichtsschreibung sowohl über Germanen im allgemeinen als auch im Detailbereich berichtet, ist ihre Berücksichtigung bei kritischer Betrachtung von großem Wert. So sind Namen von Stämmen, die Erwähnung bestimmter Stammesangehöriger, insbesondere die Erwähnung von Vertretern des führenden Adels, Angaben zur politischen Struktur der Stämme, zu Auseinandersetzungen innerhalb der Stämme, aber auch über Kriegszüge in das provinzialrömische Gebiet ebenso vorhanden wie ergänzende Ausführungen zu Hausbau und Siedlung, zur materiellen und geistigen Kultur. Letztere ergänzen oft entscheidend den archäologischen Befund bzw. können durch diesen erst interpretiert werden. Neben historischen Werken im engeren Sinne, denen die Sammlungen von Kaiserbiographien verwandt sind, und literarisch anspruchslosen Chroniken können auch
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Werke anderen Charakters herangezogen werden: Wegekarten und geographischchorographische Aufzeichnungen, am Kaiserhof gehaltene Prunkreden, Werke der Poesie und schönen Literatur, Briefe, Urkunden und für die spätere Zeit Werke der kirchlichen Literatur, gelegentlich auch Fachschriftsteller. Die erste Erwähnung des Thüringernamens verdanken wir z. B. einem Werk über Veterinärmedizin. Eine sehr ungleichmäßige Verteilung der Nachrichten über die einzelnen Zeitabschnitte ergibt sich nicht nur aus der Überlieferungslage, d. h. dem Verlust wichtiger Werke, sondern auch aus den Veränderungen in der innen- und außenpolitischen Situation des Reiches. Den größten Informationszuwachs über die hier interessierenden Gebiete erbrachten die anderthalb Jahrhunderte zwischen Caesar (gest. 44 v. u. Z.) und Domitian (gest. 96), in denen das Reich zumeist eine aktive Politik an Rhein und Donau betrieb. Aber nicht nur Kriege, sondern auch rege diplomatische und Handelskontakte bestimmten das Bild. So konnte Tacitus (etwa 55—120) in seiner „Germania" eine Fülle wertvollster Nachrichten zusammenfassen und in seinen großen reichshistorischen Werken, den „Historien" und den „Annalen", den römisch-germanischen Beziehungen auf Grund zuverlässiger Quellen, darunter den heute verlorenen „Germanenkriegen" des Plinius, breiten Raum widmen. Eine Konzentration des Interesses auf die Person des Herrschers, die bereits bei Tacitus zu beobachten ist, setzte sich bei dessen etwas jüngerem Zeitgenossen Sueton voll durch: Er schreibt Kaiserbiographien (von Caesar bis Domitian), und für einen Blick auf die Nachbarvölker bleibt bei dieser Literaturgattung wenig Platz. Das Auftreten des Kaisers gegenüber den „Barbaren" war für den Biographen nur ein Kriterium neben anderen, um diesen als „guten" oder „schlechten" Herrscher zu charakterisieren. Die Art Suetons ist für die spätere lateinische Geschichtsliteratur der Kaiserzeit bestimmend geworden, und dies ist neben den verminderten Informationsmöglichkeiten der Berichterstatter und deren veränderter, zunehmend von Furcht und Haß bestimmter Einstellung zu den „Barbaren" ein Grund dafür, daß uns die literarischen Quellen für so wichtige Vorgänge wie die sozialökonomischen Umschichtungen und die Herausbildung von Stammes verbänden im 3-/4. Jh. bei den Germanen weitgehend im Stich lassen oder uns nur zufällige, oft schwer zu interpretierende Nachrichten bieten. Fast das ganze 2. Jh. ist durch keinen zeitgenössischen Historiker dokumentiert. Erst in der Zeit der Severer erscheinen wieder Geschichtswerke: Ein Marius Maximus, vermutlich mit einem durch Inschriften gut bekannten hohen Reichsbeamten identisch, schreibt im Anschluß an Sueton Kaiserbiographien von Nerva bis Elagabal (96—222). Sein Werk ist jedoch nur durch die Benutzung bei späteren Historikern und besonders in der „Historia Augusta" kenntlich. Entsprechend der sich bereits jetzt abzeichnenden ökonomischen und kulturellen Überlegenheit des Ostens gewinnt nun auch in der Historiographie die griechische Sprache die Oberhand: Cassius Dio Cocceianus aus Nikaia in Bithynien, unter Commodus in den römischen Senat eingeführt und 229 zum zweiten Mal Konsul, verfaßte in 80 Büchern eine ausführliche „Römische Geschichte", die von den Anfängen bis in seine Gegenwart reichte. Leider liegen von den letzten, seit der Zeit Mark Aurels weitgehend auf selbständiger Erfahrung und Erkundung beruhenden Büchern nur byzantinische Exzerpte bzw. Bearbeitungen (Ioannes Xiphilinos, Zonaras) vor. Sie vermitteln uns u. a. Nachrichten über die Markomannenkriege Mark Aurels und die Aktivitäten Caracallas am Rhein. Bei dieser Gelegenheit fällt zum ersten Mal der Name der Alamannen (77, 13 ff. zum Jahre 213).
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Ein unvollkomtnener Ersatz für die verlorenen Teile des Werkes von Cassius Dio sind die um 240 entstandenen acht Bücher des subalternen Beamten Herodianos, die die Jahre 180—238 abdecken. Rhetorischer Schwulst sowie Ungenauigkeiten in Chronologie und Geographie machen das Werk zu einer mit Vorsicht zu benutzenden Quelle. Anläßlich des Millenniums der Stadt Rom (248) versuchte sich ein Asinius Quadratus gar im ionischen Dialekt des alten Herodot und verfaßte ein i5bändiges Kompendium der römischen Geschichte. Agathias überliefert daraus ein vereinzeltes Fragment (F Gr Hist 2 A 97 F 21), in dem eine Etymologie des Alamannennamens gegeben wird, welche auch die moderne Forschung akzeptieren kann. Ein bedeutender Historiker war offenbar Dexippos, der uns u. a. wissen läßt, daß er sich bei der Abwehr eines Barbarenüberfalls auf seine Heimatstadt Athen (267?) rühmlich hervortat. Seine „Chronik" reichte von der „Urzeit" bis 269/70 (Tod des Claudius Gothicus), während eine Spezialschrift „Skythika" die Abwehrkämpfe vor allem gegen die Goten ( = „Skythen") zwischen 238 und der Regierungszeit Aurelians (270—275) behandelte. Die Werke sind bis auf einige Bruchstücke (F Gr Hist 2 A 100) verlorengegangen, haben aber sowohl die griechisch-byzantinische als auch die lateinische Überlieferung zur Krise des 3. Jh. maßgeblich beeinflußt. Mit Dexippos bricht aber auch die Tradition der griechischsprachigen Reichsgeschichte für ein Jahrhundert ab. Kein zeitgenössischer Historiker berichtet uns über die Konsolidierungsphase unter Diokletian und Konstantin. Die „Lebensbeschreibung Konstantins" (Vita Constantini) und die „Kirchengeschichte" (Historia ecclesiastica) des Bischofs Eusebios von Kaisareia geben für unsere Zwecke wenig her. Wichtig als Ausgangspunkt für spätere Bearbeitungen und Fortsetzungen bis in die mittelalterliche Literatur hinein ist seine verlorene, aber zum großen Teil rekonstruierbare „Chronik". In Tabellenform werden jahrweise die für wichtig gehaltenen Ereignisse in knappster Art zusammengestellt (von „Abraham" = 2016 v. u. Z. bis 324/25). Eine bereits erweiterte Fassung lag Hieronymus von Stridon vor, der sie ins Lateinische übersetzte und bis zum Jahre 378 fortführte. Eine nicht unproblematische, aber angesichts des Mangels an sonstigen Quellen besonders für die Zeit Diokletians und Konstantins bedeutsame Quellengattung ist das Corpus der Panegyrici Latini, eine Sammlung von 12 meist zu Ehren des regierenden Kaisers gehaltenen, z. T. anonymen Festreden aus den Jahren 100 (Plinius d. J. auf Trajan), 289—321 (auf Maximian, Constantius d. Ä. und Konstantin), 362 (Mamertinus auf Julian) und 389 (Pacatus auf Theodosius). Trotz ihrer oft unklaren Ausdrucksweise und ihrer Tendenz, dem jeweiligen Adressaten zu schmeicheln, vermitteln sie vor allem über die Verhältnisse in Gallien und an der Rheingrenze wertvolle Aufschlüsse zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte. Um die Mitte des 4. Jh. erwacht in der konservativen, dem Christentum zum großen Teil ablehnend gegenüberstehenden römischen Senatsaristokratie, die ihre ökonomischen Positionen noch einmal stabilisiert hat, wieder ein gewisses historisches Interesse. Es entstehen mehrere kurze Abrisse, die sich z. T. auf eine gemeinsame Quelle, eine uns nicht mehr faßbare Sammlung von Kaiserbiographien, zurückführen lassen. Das noch anspruchsvollste dieser bescheidenen Werke,- für die nach der Art Suetons die Person des Kaisers im Mittelpunkt steht, ist der Liber de Caesaribus des S. Aurelius Victor, der für die Zeit von Augustus bis zum Jahre 360 zuständig ist. Die sog. Epitome de Caesaribus stammt nicht, wie die Textüberlieferung nahelegen könnte, von Aurelius Victor und ist auch nicht, wie die moderne Bezeichnung erwarten läßt, ein Auszug aus dessen Buch,
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sondern das Werk eines unbekannten, aus der gleichen Quelle schöpfenden Autors. Sie schließt mit dem Tode des Theodosius (395). Kurzgefaßte Gesamtdarstellungen der römischen Geschichte, in denen die Kaiserzeit noch mehr zusammengedrängt wird, sind die Breviarien des Eutrofiius (bis 364) und des Festus (bis 369). Solche Faktenskelette erfreuten sich großer Beliebtheit. Eutrops Werk wurde auch von christlichen Autoren benutzt (Hieronymus, Orosius) und sogar ins Griechische übersetzt. Wesentlich ausführlicher als die soeben genannten Werke ist die sog. Historia Augusta („Kaisergeschichte"), eine Sammlung von 30 Biographien römischer Kaiser und Usurpatoren von Hadrianus (117—138) bis Carinus (283—285). Sie gibt sich als das Werk von 6 Autoren (Scriptores Historiae Augustae: Aelius Spartianus, Iulius Capitolinus, Vulcacius Gallicanus, Aelius Lampridius, Trebellius Pollio und Flavius Vopiscus) aus der Zeit zwischen 293 und 330. Doch seit einem Aufsatz von Hermann Dessau (Hermes 24, 1889, 337—392) hat sich, wenn auch nach kontroversen Diskussionen, allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß das Werk nach einem einheitlichen Plan und vermutlich auch von nur einem Autor verfaßt wurde, und zwar erst um die Wende vom 4. zum 5. Jh. Die literarische Fälschung erklärt sich aus der politischen Tendenz des Autors: Er propagiert die Geschichtsauffassung der altgläubigen stadtrömischen Aristokratie gegenüber dem spätantik-christlichen Kaisertum, und ein Kampf mit offenem Visier war spätestens seit 394, als Theodosius über Eugenius siegte, nicht mehr ratsam. Das angebliche Alter sollte zugleich dem Werk höhere Autorität verleihen und die zahlreichen bewußten Verdrehungen und Erfindungen decken, die eingeweihte Zeitgenossen zweifellos mit einem Augurenlächeln zur Kenntnis nahmen. An sich ist der Autor nämlich gut orientiert und benutzt hervorragende Quellen, darunter Marius Maximus und Dexippos, allerdings auf sehr eigenwillige Art, wie sich durch den Vergleich mit einer erhaltenen Quelle, nämlich Herodian, zeigen läßt. Es muß stets mit Fälschungen und Anachronismen gerechnet werden, und keine Nachricht darf ungeprüft übernommen werden. Die Forschung zur Historia Augusta ist gegenwärtig ein Schwerpunkt der Alten Geschichte und Altphilologie. Die subtile Auswertung all dieser dürren Quellen würde sich vermutlich erübrigen, wenn noch die ersten 13 Bücher der „Res gestae" des Ammianus Marcellinus (etwa 330 bis etwa 395) vorlägen. Ammian, dessen Muttersprache das Griechische war, der sich aber in seinem großen Geschichtswerk des Lateinischen bedient, knüpfte bewußt an Tacitus an und schilderte die Geschichte des Reiches von Nervas Regierungsantritt (96) bis zum Tode des Valens in der Schlacht bei Adrianopel (378). Erhalten sind die Bücher 14—31 mit den Ereignissen der Jahre 353—378. Der Autor, durch Militärdienst, Reisen und Beziehungen zu höchsten Kreisen ein hervorragender Sachkenner, stützt sich in ihnen auf eigenes Erleben, Berichte von Gewährsmännern, auch auf Urkunden und andere offizielle Dokumente. Sein kritisches Urteil bewährt sich sogar gegenüber seinem Helden, dem Kaiser Julian (361—363), für dessen erfolgreiche Tätigkeit als Caesar an der Rheingrenze (357—360) er unsere wichtigste Quelle ist. Wir verdanken ihm eine Fülle wertvollster Nachrichten über germanische Stammesverbände, hauptsächlich Alamannen (Schlacht bei Strasbourg 358), Franken, Sachsen und Burgunden, am Vorabend der Völkerwanderungszeit. Ergänzendes Material liefern Briefe und Reden des Kaisers Iulianus (geb. 331) selbst, ferner als griechisches Gegenstück zu den lateinischen Panegyrikern die Reden des Libanios (314—393), eines engen Vertrauten Julians, und seines Konkurrenten The-
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mistios (etwa 317—nach 393), der zu allen Kaisern von Constantius bis Theodosius in guten Beziehungen stand. Ein heute verlorener Bericht Julians über die Schlacht bei Strasbourg hat sowohl Ammian als auch Libanios als Vorlage gedient. Der gallische Rhetor Ausonius (etwa 310—nach 393) preist in Gedichten die Reize des Barbarenmädchens Bissula, das ihm bei dem Alamannenfeldzug des Jahres 368 als Beute zugefallen war, und in seinem berühmten Lobgesang auf die Mosel („Moseila", geschrieben in Trier nach 371) schildert er in idyllischen Farben das Leben im Grenzland, als gäbe es keine Bedrohung durch die unruhigen Nachbarn im Osten. In das Jahrzehnt zwischen 395 und 404 werfen die Gedichte des weströmischen Hofpoeten Claudius Claudianus (gest. 404), eines gebürtigen Ägypters, einiges Licht. Er wirbt für die Politik des in den ersten Regierungsjahren des Honorius allmächtigen „Beraters" Stilicho (gestürzt 408). Nicht nur aus diesem Grunde sind seine Aussagen mit Vorsicht zu benutzen: Er hält z. B. die Elbe für einen Nebenfluß des Rheins, und wenn er Cherusker oder gar Kimbern aufmarschieren läßt, dann stammen diese natürlich nicht aus der Realität, sondern aus der antiquarischen Belesenheit des Dichters. Die Katastrophen folgten im Jahre 406, als barbarische Scharen in breitem Strom Gallien und darauf auch Spanien überschwemmten, und — für das Bewußtsein der Zeitgenossen noch einschneidender — im Jahre 410, als Alarichs Westgoten Rom einnahmen und plünderten. Es gab nicht wenige, die den Grund für solches Unheil im Abfall vom althergebrachten Götterglauben sahen. Ihnen stellte sich, vom Kirchenvater Augustinus beeinflußt, Orosius mit seiner „Antiheidnischen Geschichte" (Historia adversus paganos) entgegen, als Spanier selbst ein Betroffener. Die Darstellung führt von den biblischen Anfängen bis in seine Gegenwart (417). Nach seiner Auffassung besteht die Geschichte im wesentlichen aus Verbrechen, Kriegen, Naturkatastrophen und sonstigen Unglücksfällen, doch zeige sich seit dem Auftreten von Jesu Christus und vollends seit der Christianisierung des Reiches eine merkliche Besserung. Auch mit den eingedrungenen Barbaren werde man sich arrangieren, ihre Anführer vielleicht eines Tages sogar „große Könige" nennen. Bei ihm muß also stets die Tendenz berücksichtigt werden, die für einen Angehörigen seiner Gesellschaftsschicht — er stand spanischen Großgrundbesitzern nahe — so betrübliche Gegenwart in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen. Einzelheiten über die Verwüstungen Galliens in dieser Zeit sind dem Gedicht „Über seine Rückkehr" (De reditu suo) des Rutilius Namatianus zu entnehmen, in dem der Dichter seine Reise von Rom nach seinen südgallischen Besitzungen im Jahre 416 beschreibt. Die Schuld für die Barbareneinbrüche schiebt er auf Stilicho. Noch unbeeinflußt vom Christentum blieb zunächst die griechische Geschichtsschreibung, die Ende des 4. Jh. wieder erwachte. Eunafios (etwa 345—nach 414) schloß sich an Dexippos an und führte sein Werk bis zum Jahre 404, und sein Fortsetzer Olympiodoros beschrieb die weströmische Geschichte bis zum Jahre 425. Von beiden Werken existieren nur Fragmente. Fast vollständig erhalten und wegen der benutzten Quellen von beträchtlichem Wert ist die bis 410 reichende, wohl erst gegen 500 entstandene „Neue Geschichte" des Zosimos, die hauptsächlich auf Dexippos, Eunapios und Olympiodoros beruht. Von den Arbeiten anderer griechischer Historiker des 5. Jh. — Priskus, Malchos und Candidus — sind wiederum nur Bruchstücke erhalten. Von einiger Bedeutung für die erste Hälfte des 5. Jh. sind ferner die zeitgenössischen Kirchenhistoriker Philostorgios, Sokrates, Sozomenos und Theodoretos.
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Wie die griechischen, so können auch die lateinischen Quellen nach 406 fast nur noch über fremde Völkerschaften berichten, die ins Reich eindrangen oder sich dort seßhaft machten; ihr Herkunftsgebiet gerät mehr und mehr aus dem Blickfeld. Überhaupt werden die lateinischen Quellen immer ärmlicher. Die Geschichtswerke des Sulpicius Alexander und des Renatus Profuturus Frigeridus (beide erste Hälfte 5. Jh.) sind nur durch einige Zitate bei Gregor von Tours bekannt. Einiges Matérial, vor allem für die Geschichte Galliens, liefern Chroniken wie die des Aquitaniers Prosper Tiro (bis 455) und seiner Fortsetzer, des Hydatius von Limia in Spanien (bis 468) und das anonyme Chronicon imperiale (bis 452). Nicht historisch, sondern theologisch orientiert ist die etwa 440—450 entstandene Abhandlung „Über die Regierung Gottes" (De gubernatione Dei) des Presbyters Salvianus aus Massilia. Die Überflutung des Reiches durch die Barbaren ist für ihn die göttliche Strafe für den Sittenverfall in der herrschenden Klasse Roms. Er wird nicht müde, der raffinierten Unmoral und Dekadenz der Römer die Natürlichkeit und Unverdorbenheit der Barbaren gegenüberzustellen. Trotz mancher grellen Überzeichnung ist Salvians Schrift von hohem kulturhistorischem Wert. Ferner kann auf Briefliteratur, Dichtung und Gelegenheitsschriftstellerei zurückgegriffen werden, darunter vor allem die umfangreiche Produktion des Sidonius Apollinaris (etwa 433 bis etwa 483), eines gallischen Hocharistokraten, seit 469/70 Bischof von Clermont. Schließlich gewinnen allmählich Klerikerviten und Heiligenlegenden an Bedeutung, die selbstredend einer besonders sorgfältigen Interpretation bedürfen. Einen Ehrenplatz in dieser sonst oft wenig aussagekräftigen Literatur kann die um 511 entstandene „Lebensbeschreibung des hl. Severin" (Vita Sancti Severini) des Eugippius beanspruchen, die lebendig und anschaulich von der aufopferungsvollen Tätigkeit ihres Helden in Ufernoricum während des endgültigen Zusammenbruchs der Römerherrschaft (um 480) berichtet. Im 6. Jh. wird die an den Konsularfasten orientierte Chronikliteratur fortgeführt, so von Marcellinus Comes bis 534 und seinem Fortsetzer bis 548. Auch Cassiodorus Senator (vor 490—nach 580), als hoher Würdenträger längere Zeit verantwortlich für den Schriftverkehr des ostgotischen Hofs und später Gründer des Klosters von Vivarium, verfaßte auf Wunsch Theoderichs eine Chronik. Wichtiger sind die von ihm stilisierten amtlichen Schreiben der ostgotischen Könige, die er in die 537 publizierte Sammlung seiner „Vermischten Schriften" (Variae) aufnahm, allerdings in einer Auswahl, die ihn bei dem sich abzeichnenden Sturz des Ostgotenreiches nicht kompromittieren konnte. Sie erhellen die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Hof von Ravenna, den übrigen Germanenreichen und Byzanz. Seine „Gotengeschichte" (um 530), die erste spezielle Darstellung der Geschichte eines germanischen Stammes, verfolgte im Sinne der Politik Theoderichs und seiner ersten Nachfolger die Tendenz, zum Ausgleich zwischen den Romanen und den neuen Herren beizutragen, und dichtete folglich den Goten eine ruhmreiche, der römischen ebenbürtige Vergangenheit an. Neben griechischen und römischen Autoren benutzte er auch wertvolle Volksüberlieferungen. Das Werk liegt nur in der verkürzenden Bearbeitung des Jordanes, eines in Konstantinopel lebenden Ostgoten, vor (um 551). Die Rückeroberung Italiens durch Justinians Feldherrn Beiisar schildert Prokopios von Kaisareia, der bedeutendste Historiker des 6. Jh. Seinem „Gotenkrieg" (554) wie auch den Werken seiner Fortsetzer Agathias und Menander Protector und dem kriegswissenschaftlichen Werk des Maurikios verdanken wir einige wichtige Angaben zur
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Geschichte und Lebensweise der Franken und ihrer Nachbarstämme. Von den späteren byzantinischen Autoren verdient hier vor allem Zonaras (12. Jh.) Erwähnung, dessen Werk sich vor allem für das 3 . - 5 . Jh. auf wertvolle, sonst oft verlorene Quellen stützt. Die Hauptquelle für die fränkische Geschichte bis 591 ist die „Historia Francorum" des Gregor von Tours (gest. 594). Ergänzend sind die Gedichte des Venantius Fortunatas heranzuziehen, ferner Chroniken, Heiligenviten, Briefe und Urkunden. Bereits dem 7. Jh. gehört die unter dem Namen eines Fredegar bekannte Darstellung der fränkischen Geschichte an, dem 8. Jh. der anonyme Liber historiae Francorum. Gut, wenn auch erst relativ spät dokumentiert ist die Geschichte der Langobarden durch die in der Origo gentis Langobardorum (Ursprung des Langobardenstammes, um 670) festgehaltene Überlieferung, zu der die Historia Langobardorum codicis Gothani (9. Jh.) einige Zusätze bringt. Höchstes Interesse beansprucht die Langobardengeschichte des Paulus Diaconus (um 790) als die erste Darstellung der Geschichte eines germanischen Stammes durch einen seiner Angehörigen. Einige verstreute Nachrichten über den hier interessierenden Zeitraum haben in frühmittelalterlichen Chroniken Eingang gefunden. In die gleiche Zeit gehört die erste Fixierung des Sagenschatzes, der ebenfalls einer sorgfältigen Auswertung bedarf. Seit ihren Anfängen im 6-/5. Jh. v. u. Z. ist die antike Geschichtsschreibung eng mit der Ethnographie und Geographie bzw. Chorographie verbunden gewesen. In der Regel wurden ethnographisch-geographische Exkurse in die historischen Werke eingestreut, so u. a. von Cassius Dio, Ammian und Prokop. Orosius stellte seinem Werk z. B. einen geographischen Überblick voran. Die einzige ethnographisch orientierte Spezialschrift der Antike blieb jedoch die „Germania" des Tacitus. Geographische Hinweise spiegeln nicht immer den aktuellen Stand der Kenntnisse zur Zeit der Abfassung der Texte wider. Man übernahm oft ältere Quellen oder vermischte solche aus verschiedenen Zeitebenen. Das trifft bereits für Strabon und Klaudios Ptolemaios (vgl. Bd. 1) zu. Für die hier interessierende Zeit fallen auch die Quellen zur Geographie ärmlich aus. Ein Reisehandbuch mit Entfernungsangaben und Vermerken von Rastplätzen ist das tinerariurn Antonini, das Anfang des 3. Jh. z. T. nach älteren Vorlagen entstand und Im das Jahr 300 überarbeitet wurde. Die mittelalterliche Kopie einer römischen Straßenkarte des 3-/4. Jh. ist die nach ihrem einstigen Besitzer, dem Augsburger Ratsherren Konrad Peutinger, benannte Tabula Peutingeriana. Sie besteht aus 11 früher zu einer Rolle verklebten Pergamentblättern, auf denen das Römische Reich in seiner WestOst-Ausdehnung, also in nord-südlicher Richtung stark zusammengedrückt, dargestellt ist. Diese Straßenkarte nennt auch Namen germanischer Stämme; auf ihr werden z. B. die Chamaven mit den Franken gleichgesetzt. Aus einer, ähnlichen Karte bzw. aus deren Begleittext hat ein Anonymus, der sog. Geograph von Kavenna, im 8. Jh. eine Erdbeschreibung zusammengestellt. Auf ähnlichem Material basiert die in drei Rezensionen vorliegende Kosmographie des Iulius Honorius (4-/5. Jh.). Schließlich sind die Dimensuratio provinciarum (Vermessung der Provinzen) und die Divisio orbis terrarum (Einteilung des Erdkreises) zu erwähnen (beide erste Hälfte 5. Jh.), ferner die Notitia dignitatum (Verzeichnis der Würden), das Staatshandbuch des Reiches, das für das Militärwesen wichtige Angaben enthält.
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b) Die Volksrechte der Germanen Ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. traten im Siedlungsraum der germanischen Stämme die ersten Gesetzessammlungen, deren Aufzeichnung mit dem Codex Euricianus bei den Westgoten ihren Anfang genommen hatte, als eine neue Quellengattung neben die bereits erwähnten schriftlichen Quellen. Die frühesten Gesetzessammlungen (ausführlich S.Ö7of.), die in der wissenschaftlichen Literatur auch als Volksrechte, Stammesrechte oder Leges Barbarorum bezeichnet werden, enthalten in erster Linie Informationen zu Eigentumsfragen, zu sozialer Differenzierung und zur politischen Geschichte wie etwa der Entstehungsprozesse von Klassen und Staat. Darüber hinaus geben die Leges sporadisch Auskunft über Erscheinungen der materiellen und geistigen Kultur und der Wirtschaft. Wenn hier der Begriff „Gesetz" auf die Leges Anwendung findet, so nicht in dem modernen Sinne, daß es sich bei den germanischen Stammesrechten um eine ausgewogene, auf Vollständigkeit bedachte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse handelt. Vielmehr tragen die Leges einen ursprünglichen Charakter, der sich in der katalogartigen Zusammenstellung von Streitfällen mit sowohl sozialökonomischem als auch politischem Inhalt und deren einheitlicher Lösung offenbart. Diese Ursprünglichkeit wurde lediglich durch die römische Sklavereigesellschaft beeinträchtigt. So wurden nahezu alle Leges, die in dem hier zu behandelnden Zeitraum schriftlich fixiert worden sind — mit Ausnahme der angelsächsischen Kodifikation —, in lateinischer Sprache abgefaßt. Insgesamt muß man zum Charakter der germanischen Stammesrechte sagen, daß sie in sich sowohl bereits vorhandene, mündlich tradierte Normen und solche, die der Sicherung von neuen gesellschaftlichen Verhältnissen dienten, vereinigten. Insofern geben die Leges Auskunft über einen historischen Zeitraum, der vor der jeweiligen Kodifizierung lag, und über den Zeitabschnitt, in dem die Kodifizierung erfolgte. Die Leges enthalten damit auch Informationen über den historischen Entwicklungsprozeß von der Gentilordnung zur frühen Klassengesellschaft.
3.
Sprachwissenschaftliche
Quellen
Das Germanische gehört zu den großen Gruppen der verwandten indoeuropäischen Sprachen. Noch heute weisen z. B. Flußnamen, wie Main, Rhein, Donau aber auch Oder und Neiße, auf entsprechende Verwandtschaft in Europa hin. Mit Hilfe dieser alteuropäischen Flußnamen lassen sich deshalb Rückschlüsse auf frühere kulturelle Verhältnisse und^deren Beziehungen zueinander vornehmen. Während es z. B. noch ein gemeinsames WoVt für Kupfer (lat. aes, ahd. er — erhalten in ehern) gab, fehlte dieses bereits für die Bezeichnung des Eisens. Es ist also anzunehmen, daß hier die Gemeinsamkeiten bereits soweit aufgegeben waren, daß es zu keiner einheitlichen sprachlichen Bildung für Eisen kommen konnte. In das Germanische flössen nach dessen Herausbildung auch Sprachreste aus anderen Gebieten ein. So fanden nach der Kontaktaufnahme mit den Kelten auch deren Bezeichnungen für bestimmte Dinge in das Germanische Eingang, die sich bis heute erhalten haben. Es sind vor allem Wörter aus dem politischen Bereich, der bei den Kelten zur Zeit der Kontaktaufnahme weiter entwickelt war als bei den germanischen Stämmen.
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b) Die Volksrechte der Germanen Ab der zweiten Hälfte des 5. Jh. traten im Siedlungsraum der germanischen Stämme die ersten Gesetzessammlungen, deren Aufzeichnung mit dem Codex Euricianus bei den Westgoten ihren Anfang genommen hatte, als eine neue Quellengattung neben die bereits erwähnten schriftlichen Quellen. Die frühesten Gesetzessammlungen (ausführlich S.Ö7of.), die in der wissenschaftlichen Literatur auch als Volksrechte, Stammesrechte oder Leges Barbarorum bezeichnet werden, enthalten in erster Linie Informationen zu Eigentumsfragen, zu sozialer Differenzierung und zur politischen Geschichte wie etwa der Entstehungsprozesse von Klassen und Staat. Darüber hinaus geben die Leges sporadisch Auskunft über Erscheinungen der materiellen und geistigen Kultur und der Wirtschaft. Wenn hier der Begriff „Gesetz" auf die Leges Anwendung findet, so nicht in dem modernen Sinne, daß es sich bei den germanischen Stammesrechten um eine ausgewogene, auf Vollständigkeit bedachte Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse handelt. Vielmehr tragen die Leges einen ursprünglichen Charakter, der sich in der katalogartigen Zusammenstellung von Streitfällen mit sowohl sozialökonomischem als auch politischem Inhalt und deren einheitlicher Lösung offenbart. Diese Ursprünglichkeit wurde lediglich durch die römische Sklavereigesellschaft beeinträchtigt. So wurden nahezu alle Leges, die in dem hier zu behandelnden Zeitraum schriftlich fixiert worden sind — mit Ausnahme der angelsächsischen Kodifikation —, in lateinischer Sprache abgefaßt. Insgesamt muß man zum Charakter der germanischen Stammesrechte sagen, daß sie in sich sowohl bereits vorhandene, mündlich tradierte Normen und solche, die der Sicherung von neuen gesellschaftlichen Verhältnissen dienten, vereinigten. Insofern geben die Leges Auskunft über einen historischen Zeitraum, der vor der jeweiligen Kodifizierung lag, und über den Zeitabschnitt, in dem die Kodifizierung erfolgte. Die Leges enthalten damit auch Informationen über den historischen Entwicklungsprozeß von der Gentilordnung zur frühen Klassengesellschaft.
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Sprachwissenschaftliche
Quellen
Das Germanische gehört zu den großen Gruppen der verwandten indoeuropäischen Sprachen. Noch heute weisen z. B. Flußnamen, wie Main, Rhein, Donau aber auch Oder und Neiße, auf entsprechende Verwandtschaft in Europa hin. Mit Hilfe dieser alteuropäischen Flußnamen lassen sich deshalb Rückschlüsse auf frühere kulturelle Verhältnisse und^deren Beziehungen zueinander vornehmen. Während es z. B. noch ein gemeinsames WoVt für Kupfer (lat. aes, ahd. er — erhalten in ehern) gab, fehlte dieses bereits für die Bezeichnung des Eisens. Es ist also anzunehmen, daß hier die Gemeinsamkeiten bereits soweit aufgegeben waren, daß es zu keiner einheitlichen sprachlichen Bildung für Eisen kommen konnte. In das Germanische flössen nach dessen Herausbildung auch Sprachreste aus anderen Gebieten ein. So fanden nach der Kontaktaufnahme mit den Kelten auch deren Bezeichnungen für bestimmte Dinge in das Germanische Eingang, die sich bis heute erhalten haben. Es sind vor allem Wörter aus dem politischen Bereich, der bei den Kelten zur Zeit der Kontaktaufnahme weiter entwickelt war als bei den germanischen Stämmen.
SPRACHWISSENSCHAFTLICHE
QUELLEN
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Weitaus stärker als es die Kelten vermochten, haben Angehörige des Römischen Reiches auch im Sprachbereich der germanischen Stämme Einfluß ausgeübt. Wörter wie Kaufmann, Wein, Lampe, Kaiser (kaisar = Caesar), aber auch solche aus dem Handwerk, dem Ackerbau und dem Handel wurden übernommen und haben sich, wenn auch in veränderter Form, bis heute erhalten. Obwohl bekannt ist, daß Angehörige der Stämme auch die lateinische Sprache beherrschten, sind die frühesten Rechtsaufzeichnungen (s. S. 673) nicht von diesen, sondern sehr wahrscheinlich von schreibkundigen Provinzialrömern angefertigt worden. Sie geben deshalb nicht nur Einbück in die Rechtsauffassungen der führenden Stammesvertreter, sondern eröffnen auch über den Abfassungsductus den Zugang zu römischen Rechtsgepflogenheiten. Mit Hilfe sog. alter Orts- und Flurnamen ist sowohl von der Sprachwissenschaft als auch von der archäologischen Forschung versucht worden, historische Interpretationsmöglichkeiten zu erschließen und diese in siedlungsgeschichtliche Betrachtungen einfließen zu lassen. Ortsnamen auf -leben, -stedt, -ingen und -heim, um nur die wichtigsten zu nennen, sind deshalb gerade für den Übergang zur frühmittelalterlichen Dorfentwicklung von Bedeutung und wurden auch entsprechend berücksichtigt. Schließlich sei auf die Runen, die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Germanen überhaupt, verwiesen. Sie geben Besitz an und deuten auf Magie und Kult hin (s. S. 321). Sie bieten aber auch dem Sprachwissenschaftler Anhaltspunkte für das Verfolgen der Sprachentwicklung. So zeigt z. B. die Runenschrift auf dem Horn von Gallehus (Jütland/Dänemark) noch die vollen Endsilben beim Maskulinum der a- und i-Deklination. Der Wegfall des auslautenden m wiederum läßt darauf schließen, daß hier noch altes germanisches Sprachgut zum Ausdruck gebracht wurde.
III.
Römisch-germanische
i.
Zur Lage an Rhein und oberer Donau, auf dem Balkan und im Osten des Imperiums
Beziehungen
im 3. Jahrhundert
Die seit dem Ende der Republik von inneren Krisen kaum nachhaltig berührte römische Klassengesellschaft wurde erstmals unter Marcus Aurelius (161—180) erschüttert. Erfolgreiche Angriffe der Parther (162 — 165) führten zum zeitweiligen Verlust von Armenien, Kappadokien und Syrien. Vor allem aber die Einbrüche der Markomannen, Quaden und Jazygen über die Donaugrenze hinweg nach Noricum und Pannonien, mit Vorstößen bis zur Adria (167) schufen eine bis dahin nicht gekannte militärische Gefahr. Zur selben Zeit entvölkerte die aus dem Orient nach Italien eingeschleppte Pest (165) weite Landgebiete. Am stärksten davon war die Agrarwirtschaft betroffen. Hungersnöte zehnteten die Reichsbevölkerung. Der römischen Gesamtwirtschaft erwuchs eine durch den zunehmenden Währungsverfall sich noch verschärfende Krise, die den Boden für Unruhen und soziale Kämpfe,2/So besonders in den östlichen Provinzen und in Gallien, bereitete. In diesen Zusammenhang gehören auch jene bis Diokletian (285—305) andauernden, Wirtschaft und Fiskus bis zum äußersten belastenden Rivalitätskämpfe zwischen den seit Septimius Severus (193—211) vom Heer bestimmten, unterschiedlichen Interessengruppen verpflichteten Soldatenkaisern. Der auch nach außen hin sichtbare Machtverfall des Imperiums ermunterte dessen Nachbarn immer häufiger zu Angriffen auf das Reichsgebiet. Ursprünglich kaum bedachte Folgen hatten die seit den Markomannenkriegen (166 bis 180) erstmals von Marcus Aurelius vorgenommenen Zwangsansiedlungen germanischer Kriegsgefangener, im 3. und 4. Jh. ganzer Stammesteile auf Reichsboden. Von den als dediticii (Unterworfene), tributarii (Zinspflichtige)3 oder Kolonen (s. Bd. 1, S. 297/307, Anm. 87) Angesiedelten zogen vor allem Großgrundbesitzer und kaiserliche Domänen (saltus) Nutzen. Zur primären Absicht, dem zunehmenden Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften zu begegnen, kam immer dringlicher hinzu, jene in das Reichsgebiet eingebrochenen germanischen Stämme oder Stammesteile seßhaft zu machen Ein markomannisch-quadisches Heer überquerte 166 bei Carnuntum die Donau und schlug die Römer unter Furius Victorinus im östlichen Noricum, während die Chatten die Alpen überschritten, Norditalien plünderten und Aquileia belagerten (s. Bd. 1, S. 294/305). 2 Dazu zählt im gewissen Sinne auch das Latrocinium (organisierte Straßenräuberei). In den Banden, die es niemals ganz auszuschalten gelang, sammelten sich verschiedene Randgruppen der sozialen Unterschicht. Ihre Aktionen sind als eine niedere Form des Klassenkampfes zu verstehen. ® Diese von der Verleihung des römischen Bürgerrechtes ausgeschlossenen Gruppen durften jedoch nicht versklavt werden; für das Heer hatten sie Rekruten zu stellen. 1
LAGE AN RHEIN UND DONAU, BALKAN
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und so zu „neutralisieren".4 Gleichzeitig gelangten ständig mehr germanische Adlige und andere Nichtrömer in führende militärische und politische Stellungen des Reiches. Ergebnis dieser Vorgänge war die fortschreitende Barbarisierung des Imperiums, die zum Entstehen feudaler Produktionsverhältnisse beschleunigend beitrug. In seiner historischen Tragweite von den Römern erst spät erkannt war der hunnische Vorstoß nach Westen. Um 374 überschritten die Hunnen5 die Wolga und zerstörten das Ostgotenreich6 (Greutungen) unter Ermanerich. Schon 375 waren die Westgoten (Visigoten) an der Donau Ziel hunnischer Angriffe. Im Verlauf dieser Vorgänge wurden die zwischen Schwarzem Meer und Ostsee siedelnden Stämme nach Westen, an die Grenzen des Imperiums gedrängt. In einem 376 von Valens (364—378) abgeschlossenen Vertrag erhielten 70000 Westgoten als foederati in Mösien Land. Bereits im folgenden Jahr kam es zum Aufstand dieser inzwischen mit Ostgoten, Alanen und Hunnen verbündeten Föderaten. Der vernichtenden römischen Niederlage des Jahres 378 bei Hadrianopolis (Adrianopel/Edirne), bei der Kaiser Valens und vier seiner höchsten Generäle fielen, gingen Kämpfe in Thrakien voraus. Der Eindruck dieses Ereignisses erschütterte für immer das römische Bewußtsein von der Sicherheit und Ewigkeit des Reiches. Militärpolitisch wandelte sich die bis dahin im wesentlichen erfolgreiche Grenzverteidigung nunmehr zum Abwehrkampf um das Überleben des Imperiums. Dem beginnenden Niedergang der römischen Macht im Rhein- und oberen Donaugebiet ging die gefährliche innenpolitische Krise des Vierkaiserjahres 193 voraus. Mit dem gewaltsamen Tod des Commodus7 endete die antoninische Dynastie und der über ein Jahrhundert währende „Kaiserfrieden" im Reichsinnern. Daß es sich lediglich um einen Abschnitt relativer Ruhe handelte, unterstrichen Aufstände in den Provinzen, so auch in Obergermanien. Um 185/86 setzten sich im Dekumatland Teile der Zivilbevölkerung gegen das Commodus-Regime zur Wehr; dabei wurden Einheiten der in Argentoratum (Strasbourg) garnisonierten Legio VIII Augusta belagert.8 Nachfolger des Commodus wurde Pertinax (Taf. 1a). 9 Nach seinem Tode machte die Garde den 4
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Claudius II. (268 — 270) siedelte nach seinem Sieg (269) über Ost- und Westgoten, Heruler und Gepiden bei Naissus (Ni§, S F R Jugoslawien) Teile dieser Stämme als Kolonen im Grenzgebiet des Reiches an (SHA, Vita Claudii 9, 3—6). Um 280 erhielten von Probus (276 — 282) Bastarner in Thrakien, Ostgoten, Gepiden und Wandalen in Mösien Land zugewiesen. Schon zuvor werden Germanen als Kolonen in Gallien erwähnt (SHA, Vita Probi 1 8 , 1 : 1 5 , 6 ) . Nach 286 siedelte Maximian (285 — 305) Franken aus dem ostrheinischen Gebiet bei Trier, Constantius I. (293 — 306) an der unteren Somme, in der Champagne sowie zwischen oberer Seine und Saône an. Noch im Jahre 370 gab Valentinian I. (364—375) alamannischen Gefangenen als tributarii Land in der Poebene (Amm. Marc. 28, 5, 15). Zur Herkunft dieses Reiternomadenvolkes s. ausführliche Darlegungen auf S. 648. Die Grenze zwischen Ost- und Westgoten bildete der Dnestr. Commodus (geb. 161) wurde am 3 1 . 12. 192 von Angehörigen seiner nächsten Umgebung umgebracht. Zum Geschehen selbst sagen die dürftigen Quellen wenig aus (vgl. R. Egger 1958, S. 3 7 3 f f . ; H. Nesselhauf 1959, S. i7off.; G. Alföldy 1971, S. 370L ; dazu auch R. Günther. In: Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 354). Publius Helvius Pertinax (126—193), Sohn eines Freigelassenen, zeichnete sich unter Marcus Aurelius als Offizier aus. Um 175 und im Jahre 192 war Pertinax Konsul und Stadtpräfekt. Als Großgrundbesitzer zählte er zu den Anhängern der Senatspartei. Pertinax wurde am 28. 3. 193 von Prätorianern ermordet. Germanen-Bd. 2
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meistbietenden Senator, Didius Julianus (Taf. 1 b)10, zum Kaiser. Dagegen wandten sich vor allem die Grenzlegionen, welche ihre Generäle, besonders die Statthalter der militärisch stärksten Provinzen, an die Macht zu bringen versuchten. So wurden Septimius Severus (Taf. i c ) u Anfang April 193 inCarnuntum (Pannonien) undPescennius Niger (Taf. ld) in Antiochia (Syrien) annähernd gleichzeitig als Gegenkaiser ausgerufen. Über die größere Macht verfügte Severus, dem sich sämtliche an der Donau und die vier am Rhein stehenden Legionen (XXX, I, XXII, VIII) anschlössen. Ihm gelang es, Rom zu besetzen, Didius Julianus zu stürzen und die Anerkennung vom Senat zu erwirken. Dem Feldzug des Severus nach Kleinasien, der mit dem Sieg über seinen östlichen Rivalen Pescennius Niger endete (194), ging, um den Statthalter Clodius Albinus18 zu beschwichtigen, dessen Adoption und Ernennung zum Cäsar durch Severus voraus. Anfang 196 riefen die britannischen Legionen Clodius Albinus (Taf. le) zum Gegenkaiser aus. Damit war der Bruch zu Septimius Severus vollzogen — der entscheidende Kampf um die alleinige Macht im Reiche begann. Clodius Albinus setzte in der ersten Jahreshälfte 196 mit der Armee nach Gallien über und machte Lugdunum (Lyon) zu seiner Residenz. Außer Britannien umfaßte sein Herrschaftsgebiet besonders Gallien und Spanien. Hinter ihm standen vor allem die provinzialen Großgrundbesitzer und der gallische und spanische Adel, während die Senatoren dieser Provinzen meist Severus unterstützten. Den Ausschlag gab, daß die starke Rheinarmee stets zu Severus hielt, von dem sie sich, als dem Vertreter der Soldaten und des kleinen und mittleren städtischen Grundbesitzes, die meisten Vorteile versprach. Trotz anfängücher Erfolge in Untergermanien gelang es den Truppen des Albinus nicht, die östliche Belgica und Obergermanien zu besetzen.18 Überliefert sind Kämpfe in der Germania superior und der Entsatz Triers von Einheiten der XXII. Legion aus Mainz. Die Donauarmee des Severus, aus dem Osten zurückgekehrt, drang im Winter 196/97 von Rätien und Obergermanien aus in Gallien ein. In der Schlacht bei Lugdunum im Februar 197 wurde Clodius Albinus besiegt und beging Selbstmord. Damit war die mögliche, ein halbes Jahrhundert später von Postumus (259—268) tatsächlich vollzogene Trennung der westlichen Provinzen vom Reich (s. S. 43 ff.) vereitelt. Nach dem Ende des offiziell als 10
D a s Donativversprechen betrug 6125 Denare je Mann. Marcus Didius Severus Julianus (geb. 133) war unter Marcus Aurelius L e g a t der X X I I . Primigenia in Mogontiacum (etwa 1 7 0 — 1 7 5 ) , um 176/77 befehligte er in Dalmatien und 178 in Niedergermanien. U m 189/90 war Didius Julianus Prokonsul in Afrika. Septimius Severus ließ ihn am 2. 6. 193 in R o m hinrichten.
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Lucius Septimius Severus wurde 146 in L e p t i s Magna (Nordafrika) geboren. N a c h seinem Sieg über Clodius Albinus (197) ging Severus nach dem Osten, schlug die Parther und eroberte Mesopotamien (197). 202 kehrte er nach R o m zurück. N a c h Britannien zog er 208, besiegte die Caledonier und verstärkte den Hadrianswall. Severus ordnete V e r w a l t u n g und Rechtswesen neu. E r entfaltete, besonders in Nordafrika, eine rege B a u t ä t i g k e i t . Severus vertrat vor allem die Interessen der Soldaten sowie der kleinen und mittleren Grundbesitzer. E r starb 2 1 1 in E b u r a c u m (York), Britannien.
12
Clodius Albinus entstammte
einer in Nordafrika
(wahrscheinlich
Hadrumetum,
dem
heutigen Sousse, Tunesien) begüterten Familie. Ü b e r seinen A u f s t i e g ist wenig bekannt. Unter Commodus k ä m p f t e er 1 9 2 — 1 8 4 in Dakien. Seit 193 war Clodius Albinus S t a t t halter in Britannien, zuvor Konsul. 13
N a c h Cassius Dio (75, 6, 2) erlitt der untergermanische P r ä f e k t Virius L u p u s eine offenbar folgenlose Niederlage.
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eine „Expedition nach Gallien" geltenden Bürgerkrieges erhielten die siegreichen Truppen, darunter auch die Rheinlegionen,14 außer erhöhtem Sold viele rechtliche Vergünstigungen. Die teils von Severus selbst geleiteten Verfolgungen 15 richteten sich vor allem gegen die gallische und spanische Provinzaristokratie, deren Güter eingezogen wurden. Darin äußerte sich nicht zuletzt eine Form erbitterter Klassengegensätze. Die Oberhand behielten nochmals jene sozialen Gruppen, die, wie die städtischen Mittelschichten, daiiach strebten, die bestehenden, auf Sklaverei begründeten Produktionsverhältnisse zu bewahren und zu festigen. Ein Jahrzehnt später flammte der von ehemaligen Anhängern des Albinus getragene Widerstand erneut auf. Einheiten der Rheinarmee befanden sich zwischen 205 und 208 abermals in Gallien, um Unruhen zu unterdrücken. Dagegen blieb es im gesamten obergermanisch-rätischen Limesbereich ruhig. Das änderte sich schon kurz nach dem Tode des Septimius Severus (211). Bereits in den ersten Regierungsjahren Caracallas (Taf. l f ) (211—217) 16 rückten die Nordprovinzen des Reiches wieder in den Mittelpunkt militärpolitischen Interesses. Von Rätien und Obergermanien aus betrieb Caracalla Angriffsvorbereitungen über den Limes hinaus nach Innergermanien. Dem gingen die Anlage zahlreicher Kastelle, 17 die Verstärkung des obergermanischen Limesabschnittes durch Wall und Graben sowie der Bau der rätischen Mauer aus Bruchstein voraus. Es wurden starke, seit den Vorstößen Domitians (s. Bd. 1, S. 288/298.) im späten 1. Jh. zahlenmäßig nicht mehr erreichte Truppenverbände zusammengezogen, darunter, neben den Legionen aus Mogontiacum, Argentoratum und Castra Regina, auch Einheiten aus Britannien, Pannonien und Ägypten (Legio II Traiana). Grund dafür war das Auftauchen der Alamannen (s. S. 338) im Limesvorfeld. Anzunehmen ist, daß die in der ersten Jahreshälfte 213 ausgebrochenen Feindseligkeiten von den Römern begonnen wurden, Einzelheiten des Geschehens sind kaum bekannt. Kämpfe fanden im Maingebiet statt,
14
Truppenteile aus der Germania stellten die Besatzung v o n L u g d u n u m . Die in Vetera stehende Legio X X X erhielt nach 197 von Severus den Ehrennamen Pia Fidelis verliehen (vgl. K . - P . Johne. I n : Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 64).
16
A l s Parteigänger des Clodius Albinus wurden 29 Senatoren, darunter der spanische S t a t t halter N o v i u s Rufus, hingerichtet.
16
Kaisername: Marcus Aurelius Severus Antoninus, älterer Sohn des Septimius Severus und der Julia Domna, geboren a m 4. 4. 176 in L u g d u n u m , v o m Volk Caracalla genannt (nach dem mantelartigen Überwurf mit Kapuze, den Antoninus trug und im römischen Heer einführte). Caracalla n a h m 197 am Partherfeldzug des Septimius Severus teil und erhielt 199 den Siegernamen Parthicus maximus. N a c h dem T o d e des Septimius Severus übernahm er gemeinsam mit seinem Bruder G e t a 2 1 1 die Herrschaft. 212 ließ er G e t a (wie zuvor schon seine Frau Plautilla und andere Verwandte)
umbringen. D u r c h die Constitutio
Antoniniana (212) erhielten fast alle Reichsbewohner das römische Bürgerrecht (Erhöhung der Steuereinnahmen). Caracalla versuchte, gegen den senatorischen A d e l vor allem das Militär und die niederen Schichten für sich zu gewinnen (Thermenanlagen in Rom). 213 begann er die wenig erfolgreichen K ä m p f e mit Alamannen und Chatten. A n der unteren D o n a u weilte er 214, in Kleinasien 215 und seit 216 an der Euphratgrenze. D a s Partherreich griff er 216 an. A u f einem erneuten Vorstoß wurde Caracalla
bei
Carrhae/Meso-
potamien auf Geheiß des Gardepräfekten Macrinus a m 8. 4. 217 umgebracht. 17
D a z u gehörten Holzhausen a. d. Haide (Rhein-Lahn-Kreis), die Steinbauten der Saalburg (Hochtaunuskreis) und Faimingen/Donau (Kr. Breisgau-Hochschwarzwald).
3*
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
wo die Römer im Spätsommer 213 gegen die alamannische Reiterei siegreich blieben.18 Größere Erfolge gelangen ihnen, auch wenn sie gefeiert wurden, 19 offenbar nicht. So mußten sich die Eindringlinge auf chattischem Gebiet den Rückzug zum Rhein erkaufen (Cassius Dio 77,14, 3). In Niedergermanien vermochte Caracalla den Grenzfrieden durch Geldzuwendungen, so an Stämme im Elbmündungsgebiet (Cassius Dio 77, 14), zu erhalten. Zu dieser Zeit bestanden rege diplomatische Kontakte mit den Germanen (Herodian 6, 7, 3).20 Obwohl in den folgenden zwei Jahrzehnten über größere alamannische Angriffe nichts bekannt ist, blieben die Alamannen der gefährlichste Gegner an der Nordflanke des Imperiums. Inzwischen kam es im Osten mit dem wiedererstarkten Neupersischen Reich (seit 227) zu schweren Grenzkämpfen. Dafür wurden auch Streitkräfte aus dem Rheingebiet und Rätien abgezogen. Die teilweise von Truppen entblößten Gebiete, besonders die Germania inferior, waren bald darauf (231) das Ziel germanischer Einfälle. 21 Dafür kommen wahrscheinlich die Chatten und vielleicht auch die sich als Stammesverband formierenden, erstmals 253 erwähnten Franken in Betracht. In den Jahren 231—233 tief nach Obergermanien und Rätien geführte alamannische Vorstöße zeigen die Schwäche der linearen römischen Grenzverteidigung. Auch hier bleibt das Einzelgeschehen im Dunkeln. Bekannt ist aber, daß die Germanen den Limes in breiter Front durchstießen, vom Dekumatland und Nordrätien her Rhein und Donau überschritten und Italien bedrohten.22 Archäologisch lassen sich Zerstörungen im gesamten Limesbereich, so im Kastell Holzhausen a. d. Haide, bei Anlagen in der Wetterau, wie Butzbach, Echzell und Altenstadt, aber auch im rätischen Limesabschnitt, so Pfünz a. d. Altmühl, erkennen (W. Schleiermacher 1951, S. 148, 153; H. Schönberger 1969, S. 175f.). Wichtige Aufschlüsse ergeben die Münzfunde, die in 13 Kastellen des obergermanisch-rätischen Limes mit Geprägen des Severus Alexander (Taf. ig) enden (W. Schleiermacher 1950, S. 152, Beil. 1; H.-J. Kellner 1953, S. 174, Beil.; K. Christ i960, S. 1 4 2 ! , Diagr. 2). Jüngere Funde beschränken sich auf stark befestigte Plätze wie Niederbieber, Saalburg und Zugmantel (Taunus), Osterburken und Weißenburg (Rätien), die dem Ansturm widerstanden. Den Römern gelang es in den folgenden Jahren nicht mehr, die gesamte Verteidigungslinie nochmals aufzubauen, wie es mit einzelnen Kastellen geschah. Was blieb, war eine im wesentlichen offene, von einzelnen Anlagen gedeckte Grenze, die für das Hinterland keinen sicheren Schutz mehr bot und zum wirtschaftlichen Stillstand in dem zunehmend gefährdeten Gebiet zwischen Germania libera und Rhein beitrug. Um die bedrohte Nordflanke des Reiches zu stärken und die Germanen im eigenen Lande anzugreifen, beendeten die Römer 233 den Krieg mit den Persern. Als erste
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Den Ehrentitel Germanicus maximus besaß Caracalla schon am 20. 5. 213. Für Oktober 213 ist ein Siegesopfer bezeugt. Wahrscheinlich ging der Feldzug noch im gleichen Jahre, ohne entscheidende Vorteile für die Römer, zu Ende. Darauf weist auch die aus Germanen gebildete Leibwache Caracallas hin. Inschriften sprechen von siegreichen Kämpfen der in Bonna stationierten Legio I Minervia und der X X I I Primigenia aus Mogontiacum (vgl. K.-P. Johne. In: Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 70 Anm. 2). SHA, Vita Alexandri Severi 59, 2.
LAGE AN RHEIN UND DONAU, BALKAN
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wurden die aus Germanien und Rätien stammenden Einheiten zurückgeführt. 23 Ende 234 folgte Severus Alexander mit dem Gros des Heeres, darunter auch orientalische und nordafrikanische Verbände, wie mesopotamische Bogen- und mauretanische Speerschützen. Auch spanische, thrakische und pannonische Kontingente wurden an die Rheingrenze verlegt. Das kaiserliche Hauptquartier befand sich bei Mogontiacum, in dessen Nähe auch eine Schiffsbrücke über den Rhein entstand. Offenbar fanden schon begrenzte Kämpfe mit den Germanen statt, die den unfähigen Kaiser bewogen, den Frieden durch Geld zu erkaufen (Herodian 6, 7, 9—10). Unter den pannonischen Einheiten in Obergermanien kam es zur Meuterei.24 Diese riefen ihren Präfekten Maximinus25 zum Kaiser aus, der mit ihnen nach Mainz marschierte. Dort schloß sich ihm das Heer sofort an. Severus Alexander und seine Mutter Julia Mammaea wurden Mitte März 235 im Feldlager umgebracht. Mit ihm endete die severische Dynastie. Bereits am 25. 3. 235 erkannte der römische Senat Maximinus (235—238) (Taf. lh) als Kaiser an. Damit begann die Epoche der Soldatenkaiser und Usurpatoren als auch der allgemeine wirtschaftliche Verfall im Innern und die wachsende militärische Schwäche des Reiches, seine Grenzen gegen die verstärkt anrennenden Germanen und andere Stämme zu behaupten. Im Frühjahr 235 überschritt Maximinus mit den um Mainz zusammengezogenen Streitkräften den Rhein und warf die Alamannen hinter den Limes zurück. Es gelang, die römische Herrschaft im Dekumatland und zwischen Rhein und Limes nochmals zu sichern. Im Sommer folgte ein Vorstoß weit in alamannisches Gebiet, das verheert wurde. Die Germanen zogen sich in die Wälder und unwegsamen Sumpfgebiete zurück, wo es zu erbitterten, für die Römer siegreichen Kämpfen, wahrscheinlich im heutigen Württemberg, kam (Herodian 7 , 1 , 3—8).26 Im nahenden Winter zog Maximinus mit dem Heer nach Pannonien; Standlager war Sirmium (Sremska Mitrovica/Save, SFR Jugoslawien).27 Im nächsten Jahr sollte Germanien erneut angegriffen und bis zur Nordsee unterworfen werden — ein im Hinblick auf die militärische Gesamtlage des Reiches nahezu abenteuerliches Vorhaben. Denn schon 236/37 mußten sich die Römer, auf deren Seite verstärkt germanische Verbände, vor allem berittene Einheiten kämpften, an der mittleren Donau eingebrochener Sarmaten und Daker erwehren. Im germanischen Grenzgebiet wurden kurz zuvor zerstörte Kastelle, wie Kleiner Feldberg, Saalburg, Kapersburg (Taunus) und Echzell, Butzbach (Wetterau), wieder 23
Diese bestanden vorwiegend aus „limitanei" (nahe ihrer Garnison angesiedelten Grenzsoldaten mit Landbesitz), die ihre Heimkehr forderten. Der ihnen v o m S t a a t anstelle v o n Sold übereignete B o d e n konnte nur dann vererbt werden, wenn auch der Sohn Grenzsoldat wurde.
24
Vordergründiger A n l a ß waren die auf Betreiben der Julia M a m m a e a verweigerten mate-
25
Gaius Iulius Verus Maximinus wurde i73(?) in Thrakien geboren und diente sich in der
riellen Leistungen und die U n t ä t i g k e i t der T r u p p e (Herodian 6, 7, 10). Armee hoch. U m 232/33 hatte er eine wichtige Kommandostelle im Osten inne. D a s E n d e seiner v o m Militär begründeten Herrschaft leitete der A b f a l l des Gordianus in A f r i k a ein, der, v o n der Senatsmehrheit unterstützt, auf Italien übergriff. Maximinus drang v o n Pannonien aus nach Italien vor, belagerte erfolglos Aquileia, w o er, zusammen m i t seinem gleichnamigen Sohn, 238 v o n den eigenen T r u p p e n getötet wurde. 26 27
Maximinus trug den Siegesnamen Germanicus maximus. E s ist anzunehmen, d a ß auf dem W e g e dorthin auch die Verhältnisse in R ä t i e n wieder im römischen Sinne geordnet wurden.
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
aufgebaut. Dennoch kamen Obergermanien und Rätien nicht mehr zur Ruhe; der endgültige Zusammenbruch des Limes war lediglich um zwei Jahrzehnte verzögert worden. Gegen Maximinus, der sich vorwiegend auf die Donaulegionen stützte, brach eine vom Großgrundbesitz in Nordafrika angezettelte Erhebung aus.28 Im Rhein- und oberen Donaugebiet hinterließ der nachfolgende, sich auch auf Italien erstreckende Bürgerkrieg, bei immer spärlicher werdenden Schriftquellen, keine Spuren. Nachfolger des 238 umgekommenen Maximinus war Gordianus III. (238—244) (Taf. li). 2 ' Noch im Jahre 238 überschritten die Goten in der Provinz Mösien erstmals die untere Donau. Ihr Abzug wurde mit zugesicherten Jahresgeldern erkauft, während es gelang, die eingedrungenen Karpen 239 zurückzuwerfen. Zu den wichtigsten Frontabschnitten des Reiches — Rhein- und Ostgrenze — kam ein neuer hinzu. Bald drohte dem Imperium von der unteren Donau her die größte Gefahr. In den folgenden Jahren verlagerte sich das Schwergewicht der Kämpfe in diesen Raum. Schon 242 kam es an der Donau erneut zum Krieg mit Goten, Sarmaten und Alanen. In einem für die Römer siegreichen Feldzug gegen die Perser (242—244) wurde Gordianus III. auf Betreiben seines Nachfolgers Marcus Iulius Philippus I. (244—249) (Taf. lj) 3 0 ermordet. Dieser kämpfte 245—247 gegen Quaden und Karpen. Ein Jahr später brachen Goten, Karpen, Wandalen und Gepiden in Mösien und Thrakien ein. Der Stadtpräfekt C. Messius Quintus Decius, danach zum Gegenkaiser ausgerufen, schlug sie zurück. Zu Usurpationen kam es auch in Mösien, Kappadokien und Syrien. Philippus I. fiel 249 bei Verona im Kampf gegen Decius. Unter Kniva brachen die Goten erneut in Thrakien ein. Decius (249—251) (Taf. lk) und sein zum Mitkaiser ernannter Sohn Herennius traten ihnen bei Abrittus (Mösien) entgegen und verloren Schlacht und Leben. Zum ersten Male fand ein römischer Kaiser im Kampf gegen die Barbaren den Tod (Jordanes 18). Als Nachfolger wurde der Statthalter von Mösien, Trebonianus Gallus (251—253) (Taf. ll), zum Kaiser ausgerufen. Für den Frieden mit den Goten zahlte Rom Jahresgelder, dennoch fielen diese 252 nach Kleinasien ein und plünderten Ephesos. Im Osten kam es auch mit den Persern zu neuen Kämpfen. Inzwischen (253) wurde in Mösien Marcus Iulius Aemilius Aemilianus zum Gegenkaiser ausgerufen, der die Goten im gleichen Jahr nördlich der Donau schlug. Aemilianus wandte sich nach Italien, wo er Gallus und dessen zum Mitkaiser ernannten Sohn Volusianus besiegte. Bald darauf kam auch Aemilianus um. Zuvor waren aus den Rheinprovinzen und Rätien Truppen für Gallus zusammengezogen worden (253), die der Statthalter der Raetia, P. Licinius Valerianus, befehligte. Nach dem Tode des Gallus riefen diese in Rätien stehenden Einheiten Valerianus (253—260) (Taf. 1 n)
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Die zu Maximinus stehende afrikanische Legio I I I Augusta (Lambaesis, Mauretania) schlug den Aufstand nieder. In den Kämpfen des Jahres 238 kamen der Gegenkaiser M. Antonius Gordianus I., sein Sohn, der zum Mitkaiser gemachte Gordianus II., und die vom Senat ernannten Kaiser Pupienus und Balbinus um. Maximinus wurde bei der Belagerung von Aquileia ermordet.
29
M. Antonius Gordianus III., geboren 225, war der Enkel von Gordianus I. (geb. 159) und ein Schwestersohn des Gordianus II. Im März unter den Kaisern Pupienus und Balbinus zum Cäsar ernannt, gelangte er nach deren Ende im Sommer 238 zur Macht. Der Präfekt und spätere Kaiser M. Iulius Philippus .ließ ihn im Frühjahr 244 töten.
80
M. Iulius Philippus wurde um 204 im späteren Philippopolis, Arabien, geboren. U m 243 war er praefectus praetorius. Im März 244 wurde Philippus zum Kaiser ausgerufen.
ZUSAMMENBRUCH DES LIMES
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zum Kaiser aus. Die militärisch geschwächte Rheinfront31 sollte schon bald wieder im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Valerian sah sich sofort einer vom Rhein bis nach Persien reichenden militärischen Bedrohung gegenüber. Den Schutz der Rhein-Donau-Grenze übernahm sein 253 zum Mitregenten ernannter Sohn Gallienus32 (Taf. 1 o), während er selbst die Ostflanke des Imperiums verteidigte. Nach anfänglichen Erfolgen gegen die zuvor in Kleinasien und/ Syrien eingedrungenen Perser33 wurde Valerian 260 bei Edessa (Mesopotamien) besiegt; er starb in persischer Gefangenschaft. Kaum weniger kritisch war die Lage an der unteren und mittleren Donau. Goten und Karpen34 durchstreiften Mösien und Thrakien und stießen bis nach Griechenland vor. Markomannen, Quaden und Sarmaten brachen in Pannonien ein. 256 besetzten Goten und Karpen die Provinz Dakien. In den Jahren 253 ynd 256 unternahmen Goten, Boraner35 und Heruler36 von der nördlichen Schwarzmeerküste aus zu Schiff Beutezüge an die kleinasiatischen Gestade (Abb. 2). 2.
Der Zusammenbruch des Limes
Örtlich begrenzte germanische Einfälle in das Limesgebiet sind auch zwischen den Jahren 238 und 254 anzunehmen; dafür sprechen die Münzschätze. Es fällt auf, daß zwischen den Hortfunden des obergermanischen und rätischen Limesabschnittes keine wesentlichen, vom Prägedatum der Schlußmünze erhellten Zeitunterschiede zu bestehen scheinen. In dem nahe der Lahnmündung gelegenen Kastell Marienfels enden die Münzhorte mit Maximinus, in Saalburg und Zugmantel (Taunus) mit Gordianus III. oder Decius und in Osterburken (nördlich der Jagst) mit Trebonianus Gallus. Mit Münzserien zwischen 235 und 253 enden die Kastelle Heddesdorf (Rhein), Bad Ems (Lahn), Holz31
A l s letzte kehrten auch die v o n 238 — 253 in R ä t i e n stehenden Einheiten der ehemaligen Legio I I I A u g u s t a in ihren alten Standort Lambaesis zurück, nachdem Valerianus zuvor die Legion neuaufgestellt h a t t e (s. K . - P . Johne. I n : Die R ö m e r an R h e i n und D o n a u 1975, S. 75)-
32
Publius Licinius E g n a t i u s Gallienus wurde u m 218 bei Mediolanum geboren. Mitregent seit 253, übernahm er 260 die Alleinherrschaft. Gegen ihn erhoben sich in mehreren Prov i n z e n (Gallien, Pannonien, Syrien, Ä g y p t e n ) zahlreiche Gegenkaiser. Die so bedrohte Reichseinheit vermochte er nicht wiederherzustellen. M i t der Verwaltungs- und Heeresreform (263) schuf der griechisch gebildete Gallienus wichtige Grundlagen für die diokletianisch-konstantinische Reichsverfassung. E r wurde 268 bei der Belagerung des Aureolus in Mediolanum ermordet.
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Valerianus eroberte 257 Antiochia zurück.
34
Ihre ursprünglichen Sitze lagen östlich des Karpatenbogens zwischen Seret und
Prut.
Gemeinsam m i t den Goten und anderen S t ä m m e n fielen sie häufig in Dakien, Moesien und Thrakien ein. I m späten 3. Jh. wurde ein großer Teil der „ C a r p i " auf Reichsgebiet angesiedelt, s. Y i c u s Carporum, nahe Carsium, d e m heutigen Hlrsova/Donau (Dobrudscha, S R Rumänien). 35
Die ethnische H e r k u n f t des ursprünglich im Schwarzmeergebiet siedelnden Stammes ist
36
Die Heruler saßen bis u m die Mitte des 3. Jh. in Südschweden und wanderten dann nach
unbekannt. dem Niederrhein- (Westheruler)
und
dem
Schwarzmeergebiet
(Ostheruler)
aus.
Nach
dem Zerfall des Hunnenreiches in Nordungarn schufen sie ein Reich, das u m 505 den Langobarden erlag.
ZUSAMMENBRUCH DES LIMES
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zum Kaiser aus. Die militärisch geschwächte Rheinfront31 sollte schon bald wieder im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Valerian sah sich sofort einer vom Rhein bis nach Persien reichenden militärischen Bedrohung gegenüber. Den Schutz der Rhein-Donau-Grenze übernahm sein 253 zum Mitregenten ernannter Sohn Gallienus32 (Taf. 1 o), während er selbst die Ostflanke des Imperiums verteidigte. Nach anfänglichen Erfolgen gegen die zuvor in Kleinasien und/ Syrien eingedrungenen Perser33 wurde Valerian 260 bei Edessa (Mesopotamien) besiegt; er starb in persischer Gefangenschaft. Kaum weniger kritisch war die Lage an der unteren und mittleren Donau. Goten und Karpen34 durchstreiften Mösien und Thrakien und stießen bis nach Griechenland vor. Markomannen, Quaden und Sarmaten brachen in Pannonien ein. 256 besetzten Goten und Karpen die Provinz Dakien. In den Jahren 253 ynd 256 unternahmen Goten, Boraner35 und Heruler36 von der nördlichen Schwarzmeerküste aus zu Schiff Beutezüge an die kleinasiatischen Gestade (Abb. 2). 2.
Der Zusammenbruch des Limes
Örtlich begrenzte germanische Einfälle in das Limesgebiet sind auch zwischen den Jahren 238 und 254 anzunehmen; dafür sprechen die Münzschätze. Es fällt auf, daß zwischen den Hortfunden des obergermanischen und rätischen Limesabschnittes keine wesentlichen, vom Prägedatum der Schlußmünze erhellten Zeitunterschiede zu bestehen scheinen. In dem nahe der Lahnmündung gelegenen Kastell Marienfels enden die Münzhorte mit Maximinus, in Saalburg und Zugmantel (Taunus) mit Gordianus III. oder Decius und in Osterburken (nördlich der Jagst) mit Trebonianus Gallus. Mit Münzserien zwischen 235 und 253 enden die Kastelle Heddesdorf (Rhein), Bad Ems (Lahn), Holz31
A l s letzte kehrten auch die v o n 238 — 253 in R ä t i e n stehenden Einheiten der ehemaligen Legio I I I A u g u s t a in ihren alten Standort Lambaesis zurück, nachdem Valerianus zuvor die Legion neuaufgestellt h a t t e (s. K . - P . Johne. I n : Die R ö m e r an R h e i n und D o n a u 1975, S. 75)-
32
Publius Licinius E g n a t i u s Gallienus wurde u m 218 bei Mediolanum geboren. Mitregent seit 253, übernahm er 260 die Alleinherrschaft. Gegen ihn erhoben sich in mehreren Prov i n z e n (Gallien, Pannonien, Syrien, Ä g y p t e n ) zahlreiche Gegenkaiser. Die so bedrohte Reichseinheit vermochte er nicht wiederherzustellen. M i t der Verwaltungs- und Heeresreform (263) schuf der griechisch gebildete Gallienus wichtige Grundlagen für die diokletianisch-konstantinische Reichsverfassung. E r wurde 268 bei der Belagerung des Aureolus in Mediolanum ermordet.
33
Valerianus eroberte 257 Antiochia zurück.
34
Ihre ursprünglichen Sitze lagen östlich des Karpatenbogens zwischen Seret und
Prut.
Gemeinsam m i t den Goten und anderen S t ä m m e n fielen sie häufig in Dakien, Moesien und Thrakien ein. I m späten 3. Jh. wurde ein großer Teil der „ C a r p i " auf Reichsgebiet angesiedelt, s. Y i c u s Carporum, nahe Carsium, d e m heutigen Hlrsova/Donau (Dobrudscha, S R Rumänien). 35
Die ethnische H e r k u n f t des ursprünglich im Schwarzmeergebiet siedelnden Stammes ist
36
Die Heruler saßen bis u m die Mitte des 3. Jh. in Südschweden und wanderten dann nach
unbekannt. dem Niederrhein- (Westheruler)
und
dem
Schwarzmeergebiet
(Ostheruler)
aus.
Nach
dem Zerfall des Hunnenreiches in Nordungarn schufen sie ein Reich, das u m 505 den Langobarden erlag.
40
RÖMISCH-GERMANISCHE
BEZIEHUNGEN
hausen a. d. Haide, Alteburg-Heftrich, Feldberg, Butzbach (Taunus), Großkrotzenburg, Stockstadt und Obernburg (Main) und weiter südlich Murrhardt. Im rätischen Limesteil schließen die Münzhorte der Anlagen von Günzenhausen (Altmühl) und Kösching/ Donau (Germanicum) mit Gordianus III. Etwas später, zwischen Maximinus und Valerianus, liegen die jüngsten Fundmünzen von Haiheim (Ostalbkreis) und Ruffenhofen (Wörnitz). Spätester Hortfund ist der von Weißenburg (Biriciana) mit Schlußmünzen der Jahre 251—253. 37 Diesen Aufschlüssen entsprechen die Inschriften des Limesgebietes nach 235. Danach war 237/38 Zugmantel noch mit der Cohors I Treverorum, 244—249 Osterburken (Coh. III Aquitanorum Philippina), Öhringen 241 (Coh. I Septimia Belgarum) und Jagsthausen 244—247 (Coh. I Germanorum) belegt. Aus Jagsthausen stammt auch die jüngste Inschrift des Limes, eine Fortuna-Weihung des Jahres 248. Ein 249 von der Civitas Taunensium in Friedberg (Wetterau) errichteter Meilenstein zeigt, daß zumindest gebietsweise leidlich geordnete Verhältnisse im unmittelbaren Grenzbereich fortbestanden. Das Ende des Limes kündigte der alamannische Vorstoß zum Rhein im Jahre 254 an.' Die Alamannen überschritten den Fluß und konnten nur mit Mühe und germanischen Hilfstruppen zurückgeworfen werden.38 Zur Verstärkung der Rheinfront zog Gallienus Einheiten der Legio X X Valeria Victrix aus Britannien39 heran, die 255 für Mogontiacum belegt sind. Diese und andere Verbände der Rheinfront finden sich wenig später bereits in Sirmium/Save (Ostpannonien) an der bedrohten Donaulinie. Das militärisch geschwächte Rheingebiet war schon um 257 das Ziel neuer, vor allem in den niederrheinischen Raum geführter Angriffe. 40 Als Gegner erstmals erwähnt, erschien der im östlichen Niederrheingebiet entstandene Stammesverband der Franken (Aurelius Victor 33, 3) (s. S. 380), gegen den Gallienus zunächst die Oberhand behielt. Der endgültige Verlust des Provinzialgebietes östlich des Rheines und nördlich der oberen Donau erfolgte im Jahre 259, als der Limes auf breiter Front von den Alamannen durchbrochen41 und die letzten Kastelle zerstört oder von den Römern verlassen wurden.42 Als Beweis hierfür kann der 258 schließende Münzschatz vom Kastell Niederbieber (Neuwieder Becken) gelten, der für den Verlust der Anlage im darauffolgenden Jahre spricht. Auch an anderen Plätzen des Limesabschnittes enden die Münzreihen mit Gallienus. Nach 259 verließ die römische Besatzung endgültig das Dekumatland, während ein Teil der gallo-römischen Bevölkerung zurückblieb. Der Durchbruch am Niederrhein 37 38
39 40
41 42
Vgl. dazu W. Schleiermacher 1951, S. 152 (Beil.); H.-J. Kellner 1953, S. 174 (Beil.). Bekannt ist, daß Gallienus 254 von der unteren Donau an den Rhein eilte. Auf Siege über die Germanen deuten Münzlegenden wie V I C T O R I A G E R M A N I C A (seit 256) hin (RIC 5, 1, 1927, 32 f.). Den Ehrennamen Germanicus führte Gallienus seit 255 (s. u. a. K.-P. Johne. In: Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 80). Standort war Deva Legionis, das heutige ehester an der Deemündung (Mittelengland). Das kaiserliche Hauptquartier befand sich seitdem in Köln. Aus der Provinz Moesia superior, von Viminacium (Kostolac/Donau, S F R Jugoslawien), wurde die Münzstätte nach Köln verlegt; 257/58 erfolgten die ersten Prägungen (G. Elmer 1941, S. loff.). Die über den Niederrhein vorstoßenden Franken besetzten den nördlichen Gebietsteil. Im Dekumatland datieren die letzten Inschriften, zwei Meilensteine an der Straße Ladenburg (Lopodunum)—Heidelberg, um die Mitte der 50er Jahre; im rätischen Limesgebiet nördlich der Donau enden diese Zeugnisse 256/57 (Hausen bei Heidenheim a. d. Brenz).
ZUSAMMENBRUCH DES LIMES
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kam einer Katastrophe gleich. Fränkische Verbände durchzogen plündernd Gallien und die Tarraconensis (Nordostspanien), wo sie Tarraco (Tarragona) zerstörten, mit erbeuteten Schiffen die mauretanische Küste erreichten und Tamuda (Tetuan, Marokko) bedrängten (O. Fiebiger 1940, S. 145f.)- Zur selben Zeit brachen die Alamannen über Obergermanien in Rätien ein. In der Westschweiz zerstörten sie Aventicum (Avenches, Kt. Waadt), 43 um dann von Südfrankreich aus die Westalpen zu überqueren und in die Poebene einzufallen. Von der östlichen Raetia her zogen andere alamannische Verbände durch Noricum und Pannonien. Gemeinsam mit markomannischen Stammesteilen drangen sie in das nordöstliche Oberitalien ein und bedrohten Ravenna. Einzelne alamannische Scharen stießen 261 sogar bis in die Nähe Roms vor (Zosimos 1, 37,2; Eutrop 9,7). Bei Mediolanum (Mailand) bezwang Gallienus 261 mit einem aus Rhein- und Donaulegionen gebildeten Heer die Alamannen entscheidend, dem folgte ein weiterer Sieg über Alamannen und Markomannen nahe Ravenna. Die Alamannen wichen über die Alpen zurück. In ihrer Hand blieben Rätien nördlich der Donau und für Jahrzehnte auch weite Provinzteile südlich davon, vor allem aber das Dekumatland. Mit ihm ging erstmals römisches Reichsgebiet für immer verloren. Endgültig in die Defensive gedrängt und außerstande, die Gebiete östlich des Rheins zurückzuerobern, begannen die Römer schon im Jahre 260 eine neue Verteidigungslinie am Oberrhein aufzubauen,44 um einen erneuten alamannisehen Vorstoß nach Oberitalien zu vereiteln. Im westlichen Rätien bildete etwa die Linie Bodensee—Argen—Iiier die Grenze. An der Donau waren das Kastell Abusina (Eining) und die Festungen Castra Regina (Regensburg) und Castra Batava (Passau) Eckpunkte römischer Macht. Im Innern der Raetia gelegene Ortschaften wurden befestigt — das Land war zum Kampfgebiet geworden. Alamannische Einfälle erfolgten stets dann, wenn die starken dort stationierten Truppenverbände an die bedrohten Balkangrenzen abgezogen wurden oder an den Machtkämpfen rivalisierender Kaiser in Oberitalien (s. S. 43) teilnahmen. Ziel der alamannisch-juthungischen Angriffe war Italien. Im Jahre 268 zogen die Alamannen über den Brenner zum Gardasee, wo sie Claudius II. besiegte und über die Alpen zurückwarf. Wenig später (270) brachen die Alamannen zusammen mit den Juthungen 46 erneut in Oberitalien ein. Bei Placentia (Piacenza/Po) schlugen sie die Römer unter Aurelianus 43
Schon vor Cäsar war Aventicum (auf Inschriften Colonia Iulia Aventicorum) die Hauptstadt der Hei veter; um 70 u. Z. besaß sie etwa 60000 Einwohner.
44
So wurde das seit 100/01 nicht mehr besetzte Legionslager Vindonissa erneut belegt und befestigt. I m Zuge der gallienischen Heeresreform entstand eine bewegliche, nicht im unmittelbaren Grenzgebiet stationierte Reservearmee mit starken Reiterverbänden, die rasch an besonders gefährdete Punkte geworfen werden konnte. Die gegen den Großgrundbesitz zielende Politik des Gallienus wird deutlich, als er den meist dieser Schicht entstammenden Senatoren die Befehlsgewalt vornehmlich über solche Legionen entzog, die im Brennpunkt militärischen Geschehens standen, und diese Kommandostellen mit Berufsoffizieren besetzte.
45
Der suebische Stamm siedelte nördlich der Donau bis zum Main. Mit den Römern bestanden offenbar schon frühzeitig Verträge; die Juthungen stellten Hilfstruppen. Juthungische Einfälle in das Reichsgebiet, meist mit den Alamannen zusammen, sind für die Jahre 270, 271, 297 und 358 überliefert. Nach ihrer Niederlage gegen Aetius werden die Juthungen 430 letztmals erwähnt. Sie gingen in den westlich benachbarten Alamannen auf.
42
RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
und drangen südwärts bis nach Umbrien vor. Rom, von ihnen unmittelbar bedroht, schützte sich durch den Bau der „aurelianischen Mauer". Im Jahre 271 gelang es, die Germanen zurückzudrängen und nahe Ticinum (Pavia/Ticino, Lombardei) entscheidend zu besiegen. Das führte auch dazu, daß die römische Macht in Rätien in den folgenden Jahrzehnten nochmals erstarkte. 3.
Das gallische Sonderreich (259—274)
Weitreichende historische Folgen hatte die von der Germania inferior (Köln) ausgehende Usurpation des Postumus (Tai. lp) im Sommer 259, die zur Abspaltung des sog. gallischen Reiches (259—274) führte.46 In ihm nahm der gallische Großgrundbesitz den gesellschaftlich beherrschenden Rang ein.47 Aus dieser verhältnismäßig festen sozialökonomischen Grundlage erklärt sich auch seine Dauer gegenüber anderen, meist kurzzeitigen Abspaltungen von Reichsgebieten (s. S. 47, Anm. 66). Vorwiegend zwei Ursachen lagen dem Abfall der römischen Westprovinzen zugrunde. Als erstes erwarteten breite Schichten der westrheinisch-ostgallischen Bevölkerung von einer nahe der bedrohten Grenze errichteten Teilgewalt besseren Schutz vor germanischen Angriffen, als ihnen die überforderte Zentralgewalt des Reiches bieten konnte. Dabei spielten die im Jahre zuvor mit dem Fall des Limes, dem Verlust des Dekumatlandes und den großen germanischen Einbrüchen nach Gallien und Rätien gemachten Erfahrungen sicher keine geringe Rolle. Zugleich aber war die gallische Usurpation Ausdruck der Gesamtkrise des Reiches um die Mitte des 3. Jh. Der westliche Teilstaat war bestrebt, möglichst viele Provinzen seinem Machtbereich einzugliedern. Binnen kurzem erweiterte er sich von Niedergermanien aus weit nach Süden und Westen. Kerngebiet waren die vier gallischen Provinzen (Aquitania, Belgica, Gallia Lugdunensis und Gallia Narbonensis). Darüber hinaus zählten seit 280 auch Spanien und Britannien zum gallischen Reich (s. Abb. 3), dessen innere Struktur dem Imperium Romanum glich.48 Hauptstadt und Münzstätte war Köln; 271 wurde die kaiserliche Residenz nach Trier verlegt. Dringlichste militärische Aufgabe war es, die Rheingrenze wirksam zu verteidigen. Dabei spielten germanische Hilfstruppen eine bedeutsame Rolle (s. S. 56). Im Innern versuchte die herrschende Schicht, der gallische Großgrundbesitz, ihren Einfluß auszudehnen. Spannungen zwischen Kaiser und Armee, 16
47
48
Die Ereignisse hingen mit den germanischen Angriffen über Rhein und oberer Donau zusammen. Während Gallienus in Oberitalien die eingebrochenen Alainannen bekämpfte, übernahm dessen Sohn Saloninus den Schutz der Rheinfront. Postumus, vermutlich Statthalter oder Legionsbefehlshaber gallischer Abkunft — die Quellen sagen dazu wenig aus —, schlug eine über den Rhein gekommene Germanenschar und verteilte die ihnen abgenommene Beute an seine Soldaten. Saloninus mißbilligte diese Zuwendung und forderte ihre Rückgabe. Daraufhin meuterte die Truppe und rief Postumus zum Kaiser aus Den inzwischen zum Mitregenten erhobenen Saloninus belagerte Postumus 260 in Köln Die Besatzung lieferte Saloninus aus und ergab sich. Postumus machte die Stadt zur Residenz des gallischen Reiches. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten dieselben Kräfte Clodius Albinus (s. S. 34 f.) unterstützt. Postumus' verstand sich als römischer Kaiser. Von ihm ernannte Konsuln sowie ein eigener Senat übten Verwaltung und Regierung aus.
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
und drangen südwärts bis nach Umbrien vor. Rom, von ihnen unmittelbar bedroht, schützte sich durch den Bau der „aurelianischen Mauer". Im Jahre 271 gelang es, die Germanen zurückzudrängen und nahe Ticinum (Pavia/Ticino, Lombardei) entscheidend zu besiegen. Das führte auch dazu, daß die römische Macht in Rätien in den folgenden Jahrzehnten nochmals erstarkte. 3.
Das gallische Sonderreich (259—274)
Weitreichende historische Folgen hatte die von der Germania inferior (Köln) ausgehende Usurpation des Postumus (Tai. lp) im Sommer 259, die zur Abspaltung des sog. gallischen Reiches (259—274) führte.46 In ihm nahm der gallische Großgrundbesitz den gesellschaftlich beherrschenden Rang ein.47 Aus dieser verhältnismäßig festen sozialökonomischen Grundlage erklärt sich auch seine Dauer gegenüber anderen, meist kurzzeitigen Abspaltungen von Reichsgebieten (s. S. 47, Anm. 66). Vorwiegend zwei Ursachen lagen dem Abfall der römischen Westprovinzen zugrunde. Als erstes erwarteten breite Schichten der westrheinisch-ostgallischen Bevölkerung von einer nahe der bedrohten Grenze errichteten Teilgewalt besseren Schutz vor germanischen Angriffen, als ihnen die überforderte Zentralgewalt des Reiches bieten konnte. Dabei spielten die im Jahre zuvor mit dem Fall des Limes, dem Verlust des Dekumatlandes und den großen germanischen Einbrüchen nach Gallien und Rätien gemachten Erfahrungen sicher keine geringe Rolle. Zugleich aber war die gallische Usurpation Ausdruck der Gesamtkrise des Reiches um die Mitte des 3. Jh. Der westliche Teilstaat war bestrebt, möglichst viele Provinzen seinem Machtbereich einzugliedern. Binnen kurzem erweiterte er sich von Niedergermanien aus weit nach Süden und Westen. Kerngebiet waren die vier gallischen Provinzen (Aquitania, Belgica, Gallia Lugdunensis und Gallia Narbonensis). Darüber hinaus zählten seit 280 auch Spanien und Britannien zum gallischen Reich (s. Abb. 3), dessen innere Struktur dem Imperium Romanum glich.48 Hauptstadt und Münzstätte war Köln; 271 wurde die kaiserliche Residenz nach Trier verlegt. Dringlichste militärische Aufgabe war es, die Rheingrenze wirksam zu verteidigen. Dabei spielten germanische Hilfstruppen eine bedeutsame Rolle (s. S. 56). Im Innern versuchte die herrschende Schicht, der gallische Großgrundbesitz, ihren Einfluß auszudehnen. Spannungen zwischen Kaiser und Armee, 16
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Die Ereignisse hingen mit den germanischen Angriffen über Rhein und oberer Donau zusammen. Während Gallienus in Oberitalien die eingebrochenen Alainannen bekämpfte, übernahm dessen Sohn Saloninus den Schutz der Rheinfront. Postumus, vermutlich Statthalter oder Legionsbefehlshaber gallischer Abkunft — die Quellen sagen dazu wenig aus —, schlug eine über den Rhein gekommene Germanenschar und verteilte die ihnen abgenommene Beute an seine Soldaten. Saloninus mißbilligte diese Zuwendung und forderte ihre Rückgabe. Daraufhin meuterte die Truppe und rief Postumus zum Kaiser aus Den inzwischen zum Mitregenten erhobenen Saloninus belagerte Postumus 260 in Köln Die Besatzung lieferte Saloninus aus und ergab sich. Postumus machte die Stadt zur Residenz des gallischen Reiches. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten dieselben Kräfte Clodius Albinus (s. S. 34 f.) unterstützt. Postumus' verstand sich als römischer Kaiser. Von ihm ernannte Konsuln sowie ein eigener Senat übten Verwaltung und Regierung aus.
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GALLISCHES SONDERREICH
aber auch zur städtischen Bevölkerung, lagen in den unterschiedlichen sozialen und politischen Interessen begründet. Zu größeren Aktionen des Gallienus gegen das gallische Sonderreich kam es erst um 265.49 In den Jahren zuvor hatte sich Rom in ständigen Grenzkriegen äußerer Feinde80 aber auch Usurpatoren51 im Innern zu erwehren. Trotz eines Sieges über Postumus und der nachfolgenden Belagerung des Gegenkaisers in einer nicht genauer bekannten gallischen Stadt verfehlte der Feldzug sein Ziel.52 Im Jahre 268 erhob sich Aureolus in Rätien gegen Gallienus. Nachdem Aureolus besiegt, in Mailand eingeschlossen und belagert wurde,53 fand Gallienus durch einen Mordanschlag den Tod. Postumus war es gelungen, die bedrohte Rheingrenze zu sichern. Münzlegenden deuten auf mehrere Feldzüge gegen die Germanen hin (s. Abb. 2).54 Römische Quellen erwähnen nicht näher genannte Stützpunkte im germanischen Gebiet.5S Auch der rechtsrheinische Brückenkopf Castellum Mogontiacense blieb in römischer Hand. Auf die erfolgreiche Verteidigung Galliens weist der Ehrentitel Restitutor Galliarum (s. Taf. l p ) aus den Jahren 260 und 267 hin. Unter Postumus spielten, wie auch später, germanische, besonders fränkische Hilfstruppen — ingentia Germanorum auxilia — eine hervorragende Rolle. Der hohe Anteil germanischer Söldner stellte wohl ein Gegengewicht zu den Kerntruppen des Oberrheinheeres dar, das lange zu Gallienus hielt. Im Rheingebiet brach dann auch die Militärrevolte aus, in deren Verlauf Postumus im Jahre 268 umkam. Ihren Anführer, Ulpius Cornelius Laelianus64 (Taf. l q ) , erhob die in Vetera stationierte Legio X X X Ulpia Victrix zum Kaiser.67 Sozialökonomischer Hintergrund dieses Vorganges war das Aufbegehren der rheinischen Legionen gegen die Macht des gallischen Landadels. Das Herrschaftsgebiet des Laelianus lag um Mogontiacum, wo er sich auf die Truppen der Legio X X I I Primigenia und die Einwohnerschaft stützte. Er galt als Vertreter der städtischen Sklavenhalter, deren ökonomisches System um die Mitte des 3. Jh. im Rheingebiet nochmals erstarkte. Im Kampf mit Postumus kam Laelianus nahe Mainz 49
Eine politische Lösung war seit 261 k a u m noch gegeben, nachdem P o s t u m u s den gefange-
50
A b w e h r k ä m p f e fanden vor allem gegen die Perser in Kilikien (260) und Mesopotamien (ab
nen Saloninus und dessen Berater Silvanus hinrichten ließ. 262) sowie 263 gegen die Goten im kleinasiatischen Küstenbereich (Ephesos) bis nach Galatien und K a p p a d o k i e n (264) statt. 51
In Syrien erhob sich 260 M. Fulvius Macrianus zusammen mit seinen Söhnen Macrianus I I . und Quietus, in Ä g y p t e n der Prokonsul L . Mussius Aemilianus (261) und in Pannonien (Carnuntum) Quintus Nonius Regalianus (261 — 264).
62
Aureolus, Führer einer Reiterarmee und heimlicher Parteigänger des Postumus, verhalf diesem zur Flucht.
53
Claudius II. (268 — 270), Nachfolger-des Gallienus, warf den A u f s t a n d endgültig nieder.
54
Den Siegernamen Germanicus maximus besaß P o s t u m u s seit 260.
65
Vgl. dazu S H A , V i t a tyr. trig. 5, 4. Gesicherte Aufschlüsse fehlen, doch könnte dieser Zeit die Befestigung v o n S c h n e p p e n b a u m — Q u a l b u r g ,
K r . K l e v e , angehören (H. Schön-
berger 1969, S. 177 ff.). 56
Zu H e r k u n f t und A u f s t i e g des Laelianus ist wenig bekannt. Vermutlich war er S t a t t h a l t e r der Germania superior.
67
Darauf weisen Münzbilder hin. So zeigt der in Mainz geprägte Aureus des Laelianus ( R I C 5,2, 1933, 372 Nr. 2) mit der Legende V I R T V S M I L I T V M eine Standarte und die Zahl XXX.
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RÖMISCH-GERMANISCHE
BEZIEHUNGEN
um, während die siegreichen Truppen Postumus töteten, der ihnen die Plünderung der Stadt verweigerte. Nachfolger war der vorwiegend von seinen in Köln und Trier geprägten Münzen her bekannte Marcus Aurelius Marius58 (Taf. lr), der nur kurze Zeit im Herbst des Jahres 268 regierte und aus der gleichen Schicht wie Laelianus stammte. Ihm folgte Marcus Piavonius Victorinus (268—270)58 (Taf. is), der Offizier in der Prätorianergarde des Postumus war und dem reichen gallischen Provinzadel angehörte. Die Machtkämpfe des Jahres 268 leiteten den Niedergang des Imperium Galliarum ein. So schlössen sich die spanischen Provinzen und das östliche narbonensische Gallien Claudius II. (268—270)60 (Taf. lu), dem Nachfolger des Gallienus, an. Auch im obergermanischen Bereich gibt es Hinweise für einen Machtverfall des gallischen Reiches.81 Unter Victorinus kam es erneut zu Kämpfen am Rhein. Römische Vorstöße zielten auch in ostrheinisches Gebiet.62 Im mittleren Gallien fiel Augustodunum (Autun, Dep. Saöne-et-Loire) ab, das daraufhin belagert und zerstört wurde. Bezeichnend ist, daß auch Victorinus durch eine in Köln ausgebrochene Militärrevolte endete. Durch bestochene Truppen gelang es, C. Pius Esuvius Tetricus (270—274)®® (Taf. l t ) , einen Verwandten des Victorinus, in Köln zum Kaiser ausrufen zu lassen. Tetricus vermochte das von zunehmenden inneren Unruhen64 geschwächte und schon unter seinem Vorgänger geschwundene Imperium Galliarum nur mühevoll bis 274 zu halten. Um die Erblichkeit seiner Macht dynastisch zu verankern, erhob er seinen gleichnamigen Sohn zum Caesar und Mitregenten. An der Rheingrenze fanden Kämpfe mit nach Gallien eingebrochenen Germanen statt, die vermutlich dazu zwangen, die Residenz von Köln nach Trier zu verlegen. Seine Lebensdaten sind unbekannt. Nach Eutrop 9, 9, 2 war Marius ein gallischer Schmied. Die zahlreichen in Köln und Trier ausgebrachten Marius-Münzen widersprechen der Version, daß dieser schon wenige Tage nach seiner Erhebung getötet worden sei. 59 Lebensdaten des Victorinus fehlen. Seine Mutter war Victoria. 267 kämpfte er als Konsul gegen die gallienischen Generäle Aureolus und Claudius. 60 Marcus Aurelius Claudius wurde 219 in Dalmatien geboren. E r war unter Decius Militärtribun, unter Valerianus Tribun der Legio V Martia, dann „Oberkommandierender aller Balkantruppen". Im Sommer 268 riefen ihn die Soldaten zum Kaiser aus. Im gleichen Jahr besiegte Claudius die Alamannen am Gardasee (Germanicus max.) und 269 bei Naissus (NiS, S F R Jugoslawien) Goten, Heruler und Gepiden (Gothicus max.). E r starb 270 in Sirmium/Pannonien an der Pest. 61 Es scheint so, als wäre die seit dem Jahre 70 in Argentoratum (Strasbourg) stehende Legio V I I I Augusta 268 nicht in ihrem Standort gewesen. Dafür nennen in dem Steinbruch jener Einheit gefundene Ziegelstempel eine bislang unbekannte Legio V I I Victrix. Möglicherweise war die V I I I . Legion abgezogen, um sich Claudius II. anzuschließen oder aber war von Victorinus wegen ihrer antigallischen Haltung aufgelöst worden. In der neu aufgestellten, später nicht mehr erwähnten Legio V I I Victrix dürften germanische Kontingente überwogen haben. 62 Ein im Jahre 269 oder 270 aufgestellter Meilenstein bei Illingen, Enzkreis (H. Nesselhauf 1962, S. 79 ff.), zeigt, daß, Rückeroberung und Besitz rechtsrheinischen Landes noch immer Ziel römischer Politik waren, auch wenn militärtaktische Überlegungen dabei im Vordergrund standen. 63 Tetricus befand sich als Statthalter der Provinz Aquitania in Burdigala (Bordeaux). 64 Ursächliche, in den Bagaudenaufstand des' Jahres 283 einmündende Spannungen kündigten sich schon geraume Zeit vorher an. 58
D E R N O R D E N D E S IMPERIUMS
45
D e n letzten A b s c h n i t t des gallischen Sonderreiches leitete eine wohl v o m S t a t t h a l t e r der Belgica Faustinus ausgehende Meuterei in Trier ein. O b w o h l die Einzelheiten im D u n k e l n bleiben, ist sicher, d a ß hierbei das Militär eine gewichtige Rolle spielte. So offenbarte sich der alte Gegensatz z u der v o m gallischen Großgrundbesitz getragenen Regierung, der es niemals gelang, das aufsässige, weil aus einer anderen sozialökonomischen Position handelnde Militär g a n z hinter sich z u bringen. F ü r Aurelian (270—27s) 6 5 (Taf. l v ) , den Kaiser des Gesamtreiches, b o t sich nunmehr eine günstige L a g e , die abgefallenen westlichen Provinzen gewaltsam wieder anzuschließen. 6 6 N a c h seinem Einmarsch in Gallien (274) k a m es auf den K a t a l a u n i s c h e n Feldern 6 7 z u m K a m p f , in dessen Verlauf Tetricus z u Aurelianus überging. D a m i t endete die 14 Jahre währende A b s p a l t u n g des gallischen Reiches. 6 8
4.
Der Norden
des Imperiums
bis zur Reichsreform
des Diokletian
(293)
N a c h d e m T o d e des Aurelianus (275) nutzten A l a m a n n e n u n d F r a n k e n das Interregnum 6 9 z u verstärkten Einfällen in das Rhein-Mosel-Gebiet, so v o r allem in den Jahren 275/76, bei denen u. a. auch Trier verwüstet wurde. Fränkische Vorstöße im Bereich der Straße K ö l n — T o n g e r e n — B a v a i machen die Münzverwahrfunde deutlich. I m L a u f e des Jahres 277 gelang es M. Aurelius Probus (276—282) 7 0 (Taf. l w ) , die Germanen aus 65
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Lucius Domitius Aurelianus wurde 214 bei Sirmium (Pannonien) geboren. Aus niederen Verhältnissen stammend, diente ersieh in der Armee hoch. N a c h d e m Tode Claudius' II. riefen ihn die Legionen in Pannonien (270) zum Kaiser aus. An der Donaugrenze schlug er Juthungen, Wandalen und Goten zurück, während er Dakien aufgab. 271 vertrieb er die in Oberitalien eingebrochenen Alamannen und Markomannen und begann die von Probus (276—282) beendete Ummauerung Roms. Nach der Unterwerfung des palmyrenischen Reiches (271 — 273) stellte Aurelianus mit dem Sieg über Tetricus die Reichseinheit wieder her (274) und ordnete im Innern Verwaltung und Münzwesen neu. Auf einem Feldzug gegen die Perser.wurde er bei Byzanz 275 ermordet. Zuvor war es Aurelianus gelungen, die Grenzen auf dem Balkan und in Vorderasien zu sichern und das in Syrien entstandene palmyrenische Reich der Kaiserin Zenobia — eine in wesentlichen Zügen vergleichbare Parallelentwicklung zum Imperium Galliarum — dem Römischen Reich wieder einzuverleiben (272). — Septimia Zenobia (syr. Bathzabbai) war Fürstin von Palmyra. U m 266 übernahm sie für ihren minderjährigen Sohn Vabalathus die Regierung. Sie unterwarf Ägypten und Teile Kleinasiens. Gegen ihre von Gallienus und Claudius II. geduldete Herrschaft schritt Aurelianus ein, der bei Antiochia und Emesa siegte und Zenobia auf der Flucht gefangennahm. Im Triumphzug des Aurelian von 274 in Rom wurde Zenobia mitgeführt und später nach Tibur verbannt. Lat. Campi Catalaunici in der heutigen Champagne nahe Chälons-sur-Marne. Möglicherweise näherten sich schon vorher die Interessen der herrschenden Offiziersschicht, aus der auch Claudius II. und Aurelianus kamen, denen der gallischen Großgrundbesitzer an. Die Wahl des Kaisers überließ das Heer dem Senat, der den Konsul M. Claudius Tacitus (275/76) zum Kaiser ernannte. Tacitus kämpfte in Kleinasien gegen Goten und Alanen. M. Aurelius Probus wurde am 19. 8. 232 in Sirmium (Sremska Mitrovica/Save, S F R Jugoslawien) als Sohn eines Soldaten geboren. Unter Tacitus war Probus „ d u x Orientis". Im Sommer 276 riefen ihn seine Truppen, die Tacitus töteten, zum Kaiser aus. A n Rhein und oberer Donau kämpfte er siegreich gegen Alamannen, Franken, Burgunden und
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D e n letzten A b s c h n i t t des gallischen Sonderreiches leitete eine wohl v o m S t a t t h a l t e r der Belgica Faustinus ausgehende Meuterei in Trier ein. O b w o h l die Einzelheiten im D u n k e l n bleiben, ist sicher, d a ß hierbei das Militär eine gewichtige Rolle spielte. So offenbarte sich der alte Gegensatz z u der v o m gallischen Großgrundbesitz getragenen Regierung, der es niemals gelang, das aufsässige, weil aus einer anderen sozialökonomischen Position handelnde Militär g a n z hinter sich z u bringen. F ü r Aurelian (270—27s) 6 5 (Taf. l v ) , den Kaiser des Gesamtreiches, b o t sich nunmehr eine günstige L a g e , die abgefallenen westlichen Provinzen gewaltsam wieder anzuschließen. 6 6 N a c h seinem Einmarsch in Gallien (274) k a m es auf den K a t a l a u n i s c h e n Feldern 6 7 z u m K a m p f , in dessen Verlauf Tetricus z u Aurelianus überging. D a m i t endete die 14 Jahre währende A b s p a l t u n g des gallischen Reiches. 6 8
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des Imperiums
bis zur Reichsreform
des Diokletian
(293)
N a c h d e m T o d e des Aurelianus (275) nutzten A l a m a n n e n u n d F r a n k e n das Interregnum 6 9 z u verstärkten Einfällen in das Rhein-Mosel-Gebiet, so v o r allem in den Jahren 275/76, bei denen u. a. auch Trier verwüstet wurde. Fränkische Vorstöße im Bereich der Straße K ö l n — T o n g e r e n — B a v a i machen die Münzverwahrfunde deutlich. I m L a u f e des Jahres 277 gelang es M. Aurelius Probus (276—282) 7 0 (Taf. l w ) , die Germanen aus 65
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Lucius Domitius Aurelianus wurde 214 bei Sirmium (Pannonien) geboren. Aus niederen Verhältnissen stammend, diente ersieh in der Armee hoch. N a c h d e m Tode Claudius' II. riefen ihn die Legionen in Pannonien (270) zum Kaiser aus. An der Donaugrenze schlug er Juthungen, Wandalen und Goten zurück, während er Dakien aufgab. 271 vertrieb er die in Oberitalien eingebrochenen Alamannen und Markomannen und begann die von Probus (276—282) beendete Ummauerung Roms. Nach der Unterwerfung des palmyrenischen Reiches (271 — 273) stellte Aurelianus mit dem Sieg über Tetricus die Reichseinheit wieder her (274) und ordnete im Innern Verwaltung und Münzwesen neu. Auf einem Feldzug gegen die Perser.wurde er bei Byzanz 275 ermordet. Zuvor war es Aurelianus gelungen, die Grenzen auf dem Balkan und in Vorderasien zu sichern und das in Syrien entstandene palmyrenische Reich der Kaiserin Zenobia — eine in wesentlichen Zügen vergleichbare Parallelentwicklung zum Imperium Galliarum — dem Römischen Reich wieder einzuverleiben (272). — Septimia Zenobia (syr. Bathzabbai) war Fürstin von Palmyra. U m 266 übernahm sie für ihren minderjährigen Sohn Vabalathus die Regierung. Sie unterwarf Ägypten und Teile Kleinasiens. Gegen ihre von Gallienus und Claudius II. geduldete Herrschaft schritt Aurelianus ein, der bei Antiochia und Emesa siegte und Zenobia auf der Flucht gefangennahm. Im Triumphzug des Aurelian von 274 in Rom wurde Zenobia mitgeführt und später nach Tibur verbannt. Lat. Campi Catalaunici in der heutigen Champagne nahe Chälons-sur-Marne. Möglicherweise näherten sich schon vorher die Interessen der herrschenden Offiziersschicht, aus der auch Claudius II. und Aurelianus kamen, denen der gallischen Großgrundbesitzer an. Die Wahl des Kaisers überließ das Heer dem Senat, der den Konsul M. Claudius Tacitus (275/76) zum Kaiser ernannte. Tacitus kämpfte in Kleinasien gegen Goten und Alanen. M. Aurelius Probus wurde am 19. 8. 232 in Sirmium (Sremska Mitrovica/Save, S F R Jugoslawien) als Sohn eines Soldaten geboren. Unter Tacitus war Probus „ d u x Orientis". Im Sommer 276 riefen ihn seine Truppen, die Tacitus töteten, zum Kaiser aus. A n Rhein und oberer Donau kämpfte er siegreich gegen Alamannen, Franken, Burgunden und
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
Gallien zu vertreiben und auf ostrheinisches Gebiet zurückzuwerfen. Auf dem Ostufer des Rheins entstanden Brückenköpfe, von denen die Römer Angriffe weit in das Dekumatland hinein unternahmen und Teile des Neckargebietes besetzten. Wie schon bei früheren römischen Siegen wurden auch hier Germanen in das Heer aufgenommen. Auch in Rätien, aus dem Probus im Jahre 278 Burgunden und Wandalen 71 vertrieb, gelang es, die römische Herrschaft neu zu befestigen. Damit war ein verstärkter Ausbau der Grenzbastionen an Rhein und oberer Donau verbunden. Wie sehr germanische Stämme die labilen innerrömischen Machtverhältnisse stören konnten, wird um die Jahre 279—281 deutlich, als es erneut zu kurzlebigen Usurpationen in Gallien kam. Nach einem Vorstoß der Alamannen in das Rhönegebiet wurde Proculius72 in Lugdunum zum Gegenkaiser ausgerufen. Der neue „Teilstaat" umfaßte außer Gallien, Britannien und Spanien auch die beiden germanischen Provinzen. Nach einem fränkischen Handstreich auf die vor Köln liegende römische Rheinflotte erhob sich annähernd zur gleichen Zeit deren Kommandant Bonosus73, um einer Bestrafung zu entgehen. Probus gelang es mit germanischer Hilfe, beide Usurpatoren nahe Köln entscheidend zu schlagen und den Abfall zu beenden. Daß diese quellenmäßig nur spärlich belegten Vorgänge keine mit dem gallischen Sonderreich vergleichbaren Folgen hatten, lag wohl daran, daß der gallische Großgrundbesitz das bedingte Einvernehmen mit der Zentralgewalt suchte, um sich so der verschärfenden, zum späteren Bagaudenaufstand (283)74 führenden Unruhen im Landesinneren besser erwehren zu können. Erste Ansätze dieser in den Quellen als „latrocinium" (s. S. 32, Anm. 2) bezeichneten sozialen Bewegung reichen bis zum Aufstand des Maternus (i86)7S zurück. Die Bagaudenerhebung brach 283 in der Regierungszeit des auf Probus folgenden M. Aurelius
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Wandalen (Gothicus und Germanicus). A u s Gallien vertrieb er die eingedrungenen germanischen Stammesteile (SHA, V i t a P r o b i 13, 6ff.). 279 warf er in Kleinasien die Usurpation des Saturninus nieder und b e k ä m p f t e Bergstämme. Die Perser zwang Probus z u m Frieden (Parthicus und Persicus). 281 bezwang er Proculius und Bonosus am Rhein. In R o m erhielt er 281 den Triumph. Probus wurde 282 in Sirmium vor Beginn eines Perserfeldzuges (Erhebung des Carus) umgebracht. Seit e t w a Mitte des 3. Jh. waren ostgermanische Stammesteile in das einst alamannische Siedlungsgebiet eingesickert; östliche Nachbarn waren die Juthungen. Proculius, Stammesführer der Ingauni, w a r ligurischer H e r k u n f t und lebte in A l b i g a u n u m (Albenga, nahe Genua). E r hatte im römischen Heer gedient. Die Einwohner v o n Lugdunum holten ihn gegen die eingedrungenen Alamannen zu Hilfe. E r besiegte diese und wurde auf Betreiben seiner Frau Viturgia, einer Keltin, zum Kaiser ausgerufen. N a c h seiner Niederlage bei K ö l n floh er zu den Franken, wurde aber ausgeliefert und 282 umgebracht. Bonosus stammte aus einer westlichen P r o v i n z und war F l o t t e n k o m m a n d a n t in K ö l n (Münzbild: R I C 5,2, 1933, 592 T a f . 20, 15 — 16). E r rebellierte 281. N a c h der Niederlage gegen Probus tötete er sich selbst. Seine Frau, eine Gotin namens Hunila, und deren Söhne verschonte Probus. Der N a m e ist keltisch und wird als die „ S t r e i t b a r e n " oder „ K ä m p f e r " , aber auch als „ V a g a b u n d e n " oder „ F l ü c h t l i n g e " gedeutet. Vorwiegend waren es Kleinbauern und Kolonen, die unter der Steuerlast und dem übermächtigen Grundbesitz am meisten litten. Maternus w a r Deserteur und Anführer einer starken Räuberbande in Gallien und Nordspanien. Angeblich plante Maternus 188 die Ermordung des Commodus in Italien und wollte sich selbst z u m Kaiser ausrufen lassen. E r wurde verraten und hingerichtet (Herodian 1, 10, i i , 5; S H A , V i t a Commodi 16, 2).
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DER NORDEN DES IMPERIUMS
Carus (282/83)'® i n Gallien aus. Anführer der mehrere Jahre währenden Unruhen waren Cn. Salvius Amandus und Lucius Pomponius Aelianus.77 Betroffen davon war sicher das Moselgebiet; für das Rheingebiet fehlen eindeutige Hinweise. Der gallische Provinzadel vermochte es nicht, die letztlich gegen den römischen Staatsapparat gerichtete Bewegung allein zu unterdrücken. Erst 286 gelang es dem von Diocletianus (284—305) (Taf. l y ) entsandten General und späteren Mitkaiser M. Aurelius Valerius Maximianus (285—305)78 (Taf. lz), den Aufstand nach langwierigen Kämpfen niederzuschlagen. Um die Mitte des 5. Jh. flammten in Gallien und Nordspanien die Bagaudenunruhen abermals auf.79 Spätestens seit den schweren inneren Krisen in der ersten Hälfte des 3. Jh. zeigte sich, daß die bisherige Regierungsform des Reiches nicht mehr den militärischen und verwaltungstechnischen Erfordernissen entsprach. Kaiser Diocletianus vollzog dann den Übergang des römischen Staates in eine nahezu absolutistisch regierende Monarchie (Dominat) (s. S. 632). Sinn dieser Reformen (s. S. 634ff.) war es, das Imperium im Innern zu festigen und nach außen — der sich zuungunsten Roms entwickelnden Gesamtlage angepaßt — auch in einem Mehrfrontenkrieg verteidigungsfähig zu erhalten. In diesem Zusammenhang gilt es, die administrativen und militärpolitischen Veränderungen zu erwähnen, soweit sie die dem freien Germanien benachbarten Provinzen Germania: superior und inferior und die Raetia betrafen. Das Gebiet beider Germanien zählte nunmehr zur Diözese Gallia. Germania inferior, jetzt als Germania I bezeichnet, mit Colonia als Hauptstadt, blieb in ihren Grenzen, auch zur Germania superior, der jetzigen erheblich verkleinerten Germania II (s. Abb. 3), erhalten. Hauptstadt blieb auch hier die Civitas Mogontiacensium (Mainz) mit dem Status eines Munizipiüms80 (s. H. v. Petrikovits 1963, S. 30). In die inzwischen 76
Carus stammte aus Narbo (Narbonne, Dep. Aude), war Offizier und wurde unter Probus praefectus praetorio. 282 riefen ihn die Truppen in Noricum und R ä t i e n z u m Kaiser aus. Seine Söhne Carinus und Numerianus ernannte er zu Mitregenten. Carus k a m 283 in Persien um.
77
A m a n d u s und Aelianus waren keine Gegenkaiser im herkömmlichen Sinne, auch wenn v o n A m a n d u s geprägte Antoniniane mit verwilderter U m s c h r i f t (RIC 5, 2, 1933, 595) vorliegen. In den antiken Quellen (Aurelius Victor 39, 17, 19; E u t r o p 9, 20, 3) ist stets v o n „ d u c e s " die R e d e (s. auch K . - P . Johne. I n : D i e R ö m e r an R h e i n und D o n a u 1975, S. 93).
78
M. Aurelius Valerius Maximianus wurde u m 240 nahe Sirmium
(Pannonien)
geboren.
Unter Aurelianus und Probus diente er sich v o m einfachen Soldaten hoch. E r war mit Diokletian befreundet, der ihn 285 zum Cäsar und 286
zum Mitkaiser der westlichen
Reichshälfte machte. Beide A u g u s t i d a n k t e n a m 1. 5. 305 ab. Maximian t r a t 307 wieder als A u g u s t u s hervor, als 306 die Prätorianer in R o m seinen Sohn Maxentius z u m Kaiser bestimmten. E r verfeindete sich mit ihm, flüchtete zu Constantinus nach Gallien, der v o n ihm zum A u g u s t u s ernannt und mit seiner T o c h t e r F a u s t a verheiratet war. Diokletian zwang ihn 308, erneut abzudanken. Maximianus versuchte, Constantinus in Gallien zu stürzen, geriet in Massilia in dessen G e w a l t und starb 310, angeblich durch Selbstmord. 79
N o c h für die Mitte des 5. Jh. verglich Salvian 5, 5, 22 die politische Organisation der Bagauden mit den germanischen Staaten in Gallien.
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Der Begriff geht auf eine in den römischen Staatsverband eingebürgerte, ehedem a u t o nome italische S t a d t zurück. Seine Bewohner standen in einem bestimmten verhältnis zu R o m (munere capera =
Rechts-
Übernehmen v o n Pflichten). E s g a b Munizipien,
deren Bürger alle politischen Rechte eines Römers besaßen und andere, denen Stimmrecht
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
ummauerte Stadt wurde das Legionslager einbezogen; ähnliches gilt auch für die Civitas Argentoratensium (Strasbourg). Einen bedeutenden Aufschwung nahm Treveris (Trier)81, das nach Teilung der Provinz Belgica Hauptstadt der neugeschaffenen Diözese Belgica I wurde. In ihr residierte seit 293 Maximianus, der von Diocletianus ernannte Mitkaiser des westlichen Reichsteiles. Trier war eine der neuen Metropolen, die im folgenden Rom als alleiniges Machtzentrum ablösten. Auch Rätien wurde, und zwar im frühen 4. Jh., in zwei Provinzen geteilt, die beide zur Diözese Italia annonaria82 gehörten, die räumlich etwa dem heutigen Oberitalien entsprach. Mit der verwaltungsmäßigen Neugliederung der Gebiete ging ein verstärkter Ausbau der Rhein-Donau-Grenze einher. Neben befestigten Städten, Kastellen, Wehrtürmen (burgii) wurden im Rückraum besonders gefährdeter Abschnitte neue Legionslager, wie das Castrum Räuracense83 bei Kaiseraugst, Kt. Basel (Schweiz), errichtet, das die neuaufgestellte Legio I Martia aufnahm. Die Nordschweiz als bevorzugtes Einfallstor in das südliche Gallien wurde stärker abgesichert.84 An Rhein und Donau blieben die Legionen von Vetera, Bonna, Mogontiacum, Argentoratum sowie Castra Regina85 bis über das Jahr 400 hinaus stationiert. 5.
Innergermanien und das Römische Reich im 3. Jahrhundert
Seit der „Germania" des Tacitus gibt es keine auf uns gekommenen römischen Schriftquellen, die sich vorwiegend mit den Stämmen Innergermaniens und ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen befassen.86 Das gilt auch für die beiden Rheinprovinzen und Rätien.87 So fehlen antike Nachrichten über den Zusammen-
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sowie aktives und passives Wahlrecht fehlten. Die Verwaltungsstruktur des Munizipiums, von dessen Größe die Zahl der Ratsmitglieder (Dekurionen) abhing, war unterschiedlich. Die öffentlichen Ausgaben (munera) der Munizipien trugen die Bürger, besonders die Dekurionen. Seit sich das römische Bürgerrecht über die Provinzen ausbreitete, gab es sie auch dort, besonders in Spanien. A n der Nordgrenze des Imperiums traten Munizipien, die erheblich zur Romanisierung und Urbanisierung im Westen des Reiches beitrugen, erst spät auf. Die kulturelle und städtebauliche Blüte fiel in die erste Hälfte des 4. Jh., in konstantinische Zeit. Die Diözese (dioecesis) Italia mit der Hauptstadt Mediolanum (Mailand) gliederte sich in eine pars urbicaria (verpflegt Rom) und eine pars annonaria (verpflegt den kaiserlichen Haushalt). Beide unterstanden einem „corrector utriusque Italiae". Die neue Anlage befand sich auf dem Gelände der einstigen Colonia Augusta Raurica, die um 259/60 zerstört wurde. In der neueingerichteten Provinz Maxima Sequanorum, die das Gebiet der Westschweiz bis zur Saöne umfaßte (s. Abb. 3), wird eine weitere Legion vermutet; ihr Standort ist unbekannt (D. Hoffmann 1969/70, S. 188f. Anm. 589). Ob um diese Zeit eine zweite Legion in Rätien stand (K.-P. Johne. In: Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 96), muß offenbleiben. Dem entspricht eine sehr lückenhafte Quellenlage für das gesamte Reichsgebiet. Im besonderen gilt das für die nördlichen Grenzprovinzen, und zwar ab Mitte des 3. Jh. Römische Inschriften erhellen meist nur einen räumlich begrenzten Sachbereich. Dennoch erlaubt die Summe von Einzelfakten wertvolle Rückschlüsse auf das zivile und militärische Geschehen dieser Zeit.
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
ummauerte Stadt wurde das Legionslager einbezogen; ähnliches gilt auch für die Civitas Argentoratensium (Strasbourg). Einen bedeutenden Aufschwung nahm Treveris (Trier)81, das nach Teilung der Provinz Belgica Hauptstadt der neugeschaffenen Diözese Belgica I wurde. In ihr residierte seit 293 Maximianus, der von Diocletianus ernannte Mitkaiser des westlichen Reichsteiles. Trier war eine der neuen Metropolen, die im folgenden Rom als alleiniges Machtzentrum ablösten. Auch Rätien wurde, und zwar im frühen 4. Jh., in zwei Provinzen geteilt, die beide zur Diözese Italia annonaria82 gehörten, die räumlich etwa dem heutigen Oberitalien entsprach. Mit der verwaltungsmäßigen Neugliederung der Gebiete ging ein verstärkter Ausbau der Rhein-Donau-Grenze einher. Neben befestigten Städten, Kastellen, Wehrtürmen (burgii) wurden im Rückraum besonders gefährdeter Abschnitte neue Legionslager, wie das Castrum Räuracense83 bei Kaiseraugst, Kt. Basel (Schweiz), errichtet, das die neuaufgestellte Legio I Martia aufnahm. Die Nordschweiz als bevorzugtes Einfallstor in das südliche Gallien wurde stärker abgesichert.84 An Rhein und Donau blieben die Legionen von Vetera, Bonna, Mogontiacum, Argentoratum sowie Castra Regina85 bis über das Jahr 400 hinaus stationiert. 5.
Innergermanien und das Römische Reich im 3. Jahrhundert
Seit der „Germania" des Tacitus gibt es keine auf uns gekommenen römischen Schriftquellen, die sich vorwiegend mit den Stämmen Innergermaniens und ihren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen befassen.86 Das gilt auch für die beiden Rheinprovinzen und Rätien.87 So fehlen antike Nachrichten über den Zusammen-
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sowie aktives und passives Wahlrecht fehlten. Die Verwaltungsstruktur des Munizipiums, von dessen Größe die Zahl der Ratsmitglieder (Dekurionen) abhing, war unterschiedlich. Die öffentlichen Ausgaben (munera) der Munizipien trugen die Bürger, besonders die Dekurionen. Seit sich das römische Bürgerrecht über die Provinzen ausbreitete, gab es sie auch dort, besonders in Spanien. A n der Nordgrenze des Imperiums traten Munizipien, die erheblich zur Romanisierung und Urbanisierung im Westen des Reiches beitrugen, erst spät auf. Die kulturelle und städtebauliche Blüte fiel in die erste Hälfte des 4. Jh., in konstantinische Zeit. Die Diözese (dioecesis) Italia mit der Hauptstadt Mediolanum (Mailand) gliederte sich in eine pars urbicaria (verpflegt Rom) und eine pars annonaria (verpflegt den kaiserlichen Haushalt). Beide unterstanden einem „corrector utriusque Italiae". Die neue Anlage befand sich auf dem Gelände der einstigen Colonia Augusta Raurica, die um 259/60 zerstört wurde. In der neueingerichteten Provinz Maxima Sequanorum, die das Gebiet der Westschweiz bis zur Saöne umfaßte (s. Abb. 3), wird eine weitere Legion vermutet; ihr Standort ist unbekannt (D. Hoffmann 1969/70, S. 188f. Anm. 589). Ob um diese Zeit eine zweite Legion in Rätien stand (K.-P. Johne. In: Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 96), muß offenbleiben. Dem entspricht eine sehr lückenhafte Quellenlage für das gesamte Reichsgebiet. Im besonderen gilt das für die nördlichen Grenzprovinzen, und zwar ab Mitte des 3. Jh. Römische Inschriften erhellen meist nur einen räumlich begrenzten Sachbereich. Dennoch erlaubt die Summe von Einzelfakten wertvolle Rückschlüsse auf das zivile und militärische Geschehen dieser Zeit.
INNERGERMANIEN
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bruch des Limes und die nachfolgende Aufgabe des Dekumatlandes, ebenso über die beiden Jahrzehnte88 vor diesem historischen Einschnitt. Dagegen gelang es, gestützt auf eine Fülle archäologischer Funde und Befunde, die zeitliche Abfolge der Ereignisse hinreichend genau zu fixieren sowie ein breites Spektrum geschichtlicher Zusammenhänge sichtbar zu machen. Ohne Zweifel bestanden auch im 3. Jh. Verbindungen zwischen dem Römischen Reich und den Stämmen im Innern der Germania libera. Aufschlüsse hierüber geben allein die Bodenfunde, vor allem der römische Import, dessen Sachgruppen unterschiedliche Aussagen zulassen. So weist gehäuftes Vorkommen von Terra sigillata auf stärkere Nahhandelsbeziehungen hin, wie sie im römisch-germanischen Kontaktbereich wohl auch für das 3. Jh. zeitweilig noch fortbestanden. Besonders die im freien Germanien weit verbreiteten Bilderschüsseln (Dragendorff 37) (s. Die Römer an Rhein und Donau 1975, S. 2Ö4ff.) aus den Manufakturen von Rheinzabern (s. Abb. 4), aber auch späte rädchenverzierte Ware (R. Laser 1977, S. 185 Anm. 12) sprechen für diese Annahme. Im germanischen Binnenland kommt vor allem im westlichen Thüringen und dem mittleren Elbgebiet (s. Bd. 1, S. 300/313) römische Keramik zahlreich vor. Meist findet sich Terra sigillata in den Siedlungen des späten 3. und frühen 4. Jh., die mit dem Horizont reicher Adelsgräber (Taf. 2) vom Typ Leuna—Haßleben—Emersleben zeitgleich sind. Offenbar war hier Terra sigillata nicht selten und wurde allgemein gebraucht (s. R. Laser 1977, S. 185). Ähnliches gilt für die römischen Münzen (s. R. Laser 1980, S. 37f.), die im gleichen Gebiet, gegenüber anderen Landschaften, ebenfalls dominieren (Abb. 5). Gründe hierfür waren die Nähe zum Reich und die alte, Westthüringen durchquerende, vom Rhein-Main-Gebiet in den Saale-Elbe-Raum führende Verbindungslinie. Nicht zuletzt diese Faktoren sicherten der Landschaft zwischen Thüringer Becken, Saale und Nordharz eine sozialökonomisch fortgeschrittenere Entfaltung. Bezeichnend für das umschriebene Gebiet sind bestimmte Formen römischen Einfuhrgutes, von denen die wichtigsten genannt seien: 1. ovale Bronzetabletts mit volutenverzierten Griffenden (Eggers Typ 121) (Taf. 2 und Abb. 6); 2. Bronzeteller mit gegossenem oder angelötetem Fuß (Eggers Typ 116—119) (Taf. 3 und Abb. 6); 3. Aurei von Kaisern des gallischen Sonderreiches (259—274) (Abb. 7). Die Verbreitung der Tabletts (s. Abb. 6) zeigt, daß alle Fundplätze ausnahmslos im Raum zwischen Thüringer Becken, Saalemündung und Nordharzgebiet liegen. Ein ähnliches Verbreitungsbild, mit nur einer Ausnahme, lassen die späten Bronzeteller erkennen (s. Abb. 6). Sämtliche Formen gehören der späten römischen Kaiserzeit (Stufe C 2) an. Mit dieser auffallenden Erscheinung befaßte sich zuerst J . Werner (1938, S. 259ff.). Seine Meinung, daß es, sich um Beutegut jener an Einfällen in römisches Provinzialgebiet beteiligten und in ihre Heimat zurückgekehrten germanischen Krieger handelt, blieb lange Zeit unangefochten. Einig ist man sich aber darüber, daß die in das letzte Drittel des 3. Jh. zu datierenden Fundstücke, wegen der Kämpfe im römischgermanischen Grenzbereich, schwerlich durch Fernhandel nach Innergermanien ge88
4
Letzte ausführliche Nachrichten über römisch-germanische Kämpfe im Rhein-Main-Gebiet liegen aus dem Jahre 238 (Herodian 7, 4—7; 2, 1—9) vor. Germanen — Bd. 2
Abb. 4. Verbreitung der Terra-sigillata-Funde zwischen Ostsee und Thüringer Wald.
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50 km
Abb. 5. Römische Fundmünzen des späten 3. bis 6. Jh. auf dem Gebiet der D D R . 4*
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
0 Abb. 6. Verbreitung spätrömischer Bronzegefäße im mittleren Innergermanien.
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Abb. 7. Verbreitung der Aurei des gallischen Sonderreiches (259—274) im mittleren Innergermanien.
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RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
langten. Eine andere, besonders von A. Radnoti 1967 vertretene Auffassung sieht in den genannten Importfunden vom Reich an verbündete Stämme gezahlte Subsidien, Jahrgelder oder Tribute.89 Die außergewöhnliche Häufung von Aurei der gallischen Gegenkaiser (Postumus — Tetricus) (Abb. 6), die im Rheingebiet und Ostgallien weit seltener vorkommen, lassen darauf schließen, daß die Empfänger besondere Verbindungen zum gallischen Separatstaat besaßen. In diesem Zusammenhang interessiert zu wissen, welcher elbgermanische Stamm als „Verbündeter des Reiches" in Betracht käme. Da die Gruppe Leuna—Haßleben—Emersleben mit ihren reich ausgestatteten Adelsgräbern einheimischer Herkunft ist (zuletzt G. Mildenberger 1970, S. 87f.),90 kann es sich nur um die Thüringer oder einen thüringischen Teilstamm handeln. Wie wir wissen, beruhte die Macht der gallischen Kaiser nicht zuletzt auf den Kontingenten freier germanischer Stämme.91 N Dabei ist an die „ingentia auxilia Germanorum" 92 zu denken, die 265, anläßlich der Kämpfe zwischen dem gallischen Usurpator Postumus und seinem General und späteren Nachfolger Victorinus gegen den rechtmäßigen Kaiser Gallienus, genannt werden. Wahrscheinlich bewirkten diese Beziehungen eine Zeit relativer Ruhe in Niedergermanien, da nach G. Elmer (1941, S. iff.) die Münzstätte des gallischen Reiches in Köln von 260 bis zum Frühjahr 274 offenbar ungestört Aurei und Antoniniane93 prägte, ohne von den östlich des Rheins siedelnden Franken bedrängt worden zu sein. Erst nach dem Ende des Imperium Galliarum, das auch für die germanischen Auxilien das Ende ihres Dienstes bedeutete, begannen, so in den Jahren 275 und 278, die verheerenden fränkischen Angriffe über den Rhein (s. S. 45). Ähnlich verworren wie für die Juthungen im rätischen Donaugebiet94 dürfte auch die Lage der innergermanischen Hilfstruppen gewesen sein, die nach dem Siege Aurelians im Frühjahr 274 über Nacht von Verbündeten zu Feinden des Imperiums wurden. 89
Anlaß zur erneuten Diskussion dieser strittigen, aber wichtigen Fragen gab A. Radnoti 1967. Seiner These, daß es sich dabei um die Juthungen handelt, die mit den gallischen Kaisern gegen die Alamannen verbündet waren, ist zumeist widersprochen
worden
(J. Werner 1973, S. 6f.). Vgl. Anm. 94. 90
Die Brandgräber des ausgehenden 2. und frühen 3. Jh. gehören der gleichen Bevölkerung an wie jene im letzten Drittel des 3. Jh. aufkommenden Körpergräber, die zu Bestattungssitten des 4. und 5. Jh. überleiten.
91
Die beigemessene Bedeutung zeigt der Aureus des Laelianus (Taf. 1 q) mit der personifizierten Germania und der Zahl X X X , die sich auf die in Vetera stationierte Legio X X X Ulpia Victrix bezog.
92
„Cumque adhibitis ingentibus Germanorum auxiliis diu bella traxissent, victi
sunt"
(SHA, V i t a tyr. trig. 6, 2 — Vita Victorini). 93
Während die wertbeständigen Goldmünzen vor allem zur Besoldung des Heeres gebraucht wurden, dienten die massenhaft ausgebrachten, kaum npch Silber enthaltenden Antoniniane dem kleinen Zahlungsverkehr.
94
Publius Herennius Dexippos schildert als Zeitgenosse das Zusammentreffen einer juthungischen Gesandtschaft mit Aurelianus im Jahre 273 ( F H G 3, 682 ff. — Fragm. 6). Die geschlagenen Juthungen, welche den Kaiser um Frieden bitten, rühmen sich ihrer militärischen Stärke und früheren Taten, so mehrerer
Uberfälle
auf römische Städte an der
Donau. Außerdem behaupten sie, alte Verbündete der Römer zu sein, Truppen gestellt und Subsidien empfangen zu haben. So verlangen sie die Anerkennung der früheren Vertragsverhältnisse, von denen Aurelianus nichts weiß und die er ablehnt; das gilt auch für die Aufnahme juthungischer Verbände in das römische Heer (s. A. Radnoti 1967, S. iff.).
LITERATURVERZEICHNIS
55
So kommen nach 275 geschlagene Aurei zwischen Thüringer Wald und Ostsee nur noch selten vor (R. Laser 1980, S. 431 ff.), obwohl die Prägeziffern schwerlich geringer waren. Es liegt daher nahe, daß in den mit Aurei, gallischen Silber-, Bronze- und Glasgefäßen versehenen mitteldeutschen Körpergräbern Angehörige und nächste Verwandte jener auxilia Germanorum des gallischen Sonderreiches bestattet wurden.95 Zweifellos erwuchsen aus den mehrjährigen Kontakten der germanischen Führer und ihrer Gefolgsleute zur römischen Klassengesellschaft und deren Einrichtungen neue sozialökonomische Strukturen innerhalb des thüringischen Stammes. Wahrscheinlich bildeten sich um diese Zeit jene von reguli geführten gentes heraus, wie sie für die Alamannen im Jahre 278 (SHA, Vita Probi 14,1) überliefert sind.
Literaturverzeichnis Alföldy, G. 1 9 7 1 : Bellum desertorum. In: B J B 171, S. 367 — 376. Christ, K . i960: Antike Münzfunde Südwestdeutschlands (Vestigia. Beiträge zur A l t e n Gesch. 3/I), Heidelberg. Czuth, B . 1965: Die Quellen zur Geschichte der Bagauden, Szeged. Egger, R . 1958: Die Wachstafel von Rottweil. I n : Germania 36, S. 373—385. Eggers, H . J. 1951: Der römische Import im freien Germanien (Atlas der Urgesch., B d . 1) Hamburg. Elmer, G. 1941: Die Münzprägung der gallischen Kaiser in Köln, Trier und Mailand. I n : B J B 146, S. 1 - 1 0 6 . Fiebiger, O. 1940: E i n Frankeneinfall in Nordafrika. I n : Germania 24, S. 145 f. Hoffmann, D. 1969/70: D a s spätrömische Bewegungsheer und die Notitia Dignitatum (Epigraph. Stud. 7), Düsseldorf, S. 1 — 2 . Johne, K . - P . 1975: B . Die Krise des 3. Jahrhunderts (193—306). I n : Die Römer a n R h e i n und D o n a u ( R R D ) . Zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen E n t w i c k l u n g in den römischen Provinzen an Rhein, Mosel und oberer D o n a u im 3. und 4. Jahrhundert (Veröff. d. Zentralinst. f. A l t e Gesch. u. Arch. d. A k a d . d. Wiss. d. D D R 3), Berlin, S. 5 9 - 9 8 . Kellner, H.-J. 1953: Ein neuer Münzschatz beim Kastell Günzenhausen und der Fall des raetischen Limes. I n : Germania 31, S. 168 — 177. Laser, R . 1977: E i n Terra sigillata-Gefäß aus Wandersleben, K r . Gotha. In: A u F 22, S. 183 bis 185. — 1980: Die römischen und frühbyzantinischen Fundmünzen auf dem Gebiet der D D R (Sehr. z. Ur- u. Frühgesch. 28), Berlin. Mildenberger, G. 1970: Die thüringischen Brandgräber der spätrömischen Zeit (Mitteidt. Forsch. 60), K ö l n — W i e n . Nesselhauf, H. 1959: 129. Schreibtafel (aus Tannenholz). I n : 40. Ber. R G K , S. 1 7 0 — 1 7 2 . — 1962: E i n Leugenstein des Kaisers Victorinus (Illingen, Ldkrs. Rastatt). I n : Badische Fundber. 22, S. 79—84. Petrikovits, H. v . 1963: Mogontiacum — das römische Mainz. I n : Mainzer Zschr. 58, S. 27 bis 36. Radnoti, A . 1967: Die germanischen Verbündeten der Römer. V o r t r a g v . 3.11.1967 (DeutschItalienische Vereinigung Frankfurt/Main, H . 3). 95
D a m i t ergibt sich gleichzeitig ein bedeutsamer chronologischer F i x p u n k t für diese aber auch f ü r jene mit ihr in K o n n e x stehenden Gruppen, die am ehesten dem letzten Viertel des 3. Jh. angehören.
56
RÖMISCH-GERMANISCHE BEZIEHUNGEN
Schleiermacher, W . 1951: Der obergermanische Limes und spätrömische Wehranlagen am Rhein. In: 33. Ber. R G K 1943 — 1950, S. 133 — 184. — 1959: Der römische Limes in Deutschland, (West-)Berlin. Schönberger, H. 1969: The Roman Frontier in Germany: an Archaeological Survey. In: The Journal of Roman Studies 59, S. 144—197. Schtajerman, E . M. 1964: Die Krise der Sklavenhalterordnung im Westen des römischen Reiches. Ubers, u. hrsg. v. W. Seyfarth, Berlin. Werner, J. 1938: Die römischen Bronzegeschirrdepots des 3. Jahrhunderts und die mitteldeutsche Skelettgräbergruppe. In: Marburger Studien, hrsg. v. E . Sprockhoff, Darmstadt. — 1973: Bemerkungen zur mitteldeutschen Skelettgräbergruppe Haßleben-Leuna. Zur Herkunft der ingentia auxilia Germanorum des gallischen Sonderreiches in den Jahren 259 — 274 n. Chr. In: Mitteldeutsche Forsch. 74/I (Festschr. f. Walter Schlesinger), S. 1 - 3 0 .
IV.
Zur Bevölkerungsgeschichte aus anthropologischer Sicht in der Zeit vom 3. bis zum 6. Jahrhundert
i.
Zur Quellensituation
Bei Kontinuität der Bevölkerung setzte etwa im 374. Jh. der Übergang von Brandbestattung zur Körperbestattung ein. In Mecklenburg reicht jedoch das Brandgräberfeld von Pritzier, Kr. Hagenow (E. Schuldt 1955), bis zum 5. Jh. In Niedersachsen hielt sich die Sitte der Verbrennung der Toten bis in das 7. Jh. (W. Nowothnig 1964). Anthropologische Untersuchungen dieser späten Brandbestattungen liegen bisher nicht vor. Durch die Veränderung der Quellensituation, hervorgerufen durch den Wechsel im Bestattungsritus, können Aussagen nun besser fundiert werden. Damit treten nun auch diesbezügliche antike Literaturberichte, Plastiken und Reliefdarstellungen in den Hintergrund. Sie hatten sich ohnehin für anthropologische Fragestellungen als nur bedingt brauchbar erwiesen. Die frühesten Funde menschlicher Skelettreste für diesen Darstellungsabschnitt sind noch als Leichenbrände erhalten. Sie treten in ihrer Bedeutung aber weit hinter die Skelettfunde aus Körpergräbern zurück, nicht zuletzt auch deshalb, wejl die Anzahl der untersuchten Leichenbrände im Gegensatz zu der der bekannten Brandgräberfelder gering ist. Chronologisch werden im folgenden drei Stufen unterschieden: 1. Leichenbrände, 374. Jh. 2. Körpergräber, 4-/5. Jh. 3. Körpergräber, 5-/6. Jh.
2.
Leichenbrände
Zur Auswertung liegen aus der DDR nur sechs untersuchte Serien mit insgesamt 372 Individuen vor. Aus der ÖSSR stehen zwei Serien mit zusammen 1 1 6 Individuen (Fundorte in Tab. 1 A des Anhangs) für die Auswertung zur Verfügung. Diese acht Serien sind z. T. unvollständig. In der B R D besteht eine Forschungslücke. Die Menge der in einem Leichenbrand enthaltenen Knochenfragmente, ihre durchschnittliche Größe wie auch der Verbrennungsgrad sind unterschiedlich. Schichtungen in anatomischer Anordnung treten in der Urne gelegentlich auf. So fand z. B. R. Laser (i960) in drei von ihm untersuchten Serien, daß bei 3,7—17,2% der Gräber die Schädelteile obenauf lagen. Da aber nur gut erhaltene Gräber — also ein Teil von ihnen — für eine solche Prüfung geeignet sind, erscheint dieser Anteil recht hoch. Bei den Funden von Zauschwitz, Kr. Borna (H. Grimm 1969, S. 195—221), und
IV.
Zur Bevölkerungsgeschichte aus anthropologischer Sicht in der Zeit vom 3. bis zum 6. Jahrhundert
i.
Zur Quellensituation
Bei Kontinuität der Bevölkerung setzte etwa im 374. Jh. der Übergang von Brandbestattung zur Körperbestattung ein. In Mecklenburg reicht jedoch das Brandgräberfeld von Pritzier, Kr. Hagenow (E. Schuldt 1955), bis zum 5. Jh. In Niedersachsen hielt sich die Sitte der Verbrennung der Toten bis in das 7. Jh. (W. Nowothnig 1964). Anthropologische Untersuchungen dieser späten Brandbestattungen liegen bisher nicht vor. Durch die Veränderung der Quellensituation, hervorgerufen durch den Wechsel im Bestattungsritus, können Aussagen nun besser fundiert werden. Damit treten nun auch diesbezügliche antike Literaturberichte, Plastiken und Reliefdarstellungen in den Hintergrund. Sie hatten sich ohnehin für anthropologische Fragestellungen als nur bedingt brauchbar erwiesen. Die frühesten Funde menschlicher Skelettreste für diesen Darstellungsabschnitt sind noch als Leichenbrände erhalten. Sie treten in ihrer Bedeutung aber weit hinter die Skelettfunde aus Körpergräbern zurück, nicht zuletzt auch deshalb, wejl die Anzahl der untersuchten Leichenbrände im Gegensatz zu der der bekannten Brandgräberfelder gering ist. Chronologisch werden im folgenden drei Stufen unterschieden: 1. Leichenbrände, 374. Jh. 2. Körpergräber, 4-/5. Jh. 3. Körpergräber, 5-/6. Jh.
2.
Leichenbrände
Zur Auswertung liegen aus der DDR nur sechs untersuchte Serien mit insgesamt 372 Individuen vor. Aus der ÖSSR stehen zwei Serien mit zusammen 1 1 6 Individuen (Fundorte in Tab. 1 A des Anhangs) für die Auswertung zur Verfügung. Diese acht Serien sind z. T. unvollständig. In der B R D besteht eine Forschungslücke. Die Menge der in einem Leichenbrand enthaltenen Knochenfragmente, ihre durchschnittliche Größe wie auch der Verbrennungsgrad sind unterschiedlich. Schichtungen in anatomischer Anordnung treten in der Urne gelegentlich auf. So fand z. B. R. Laser (i960) in drei von ihm untersuchten Serien, daß bei 3,7—17,2% der Gräber die Schädelteile obenauf lagen. Da aber nur gut erhaltene Gräber — also ein Teil von ihnen — für eine solche Prüfung geeignet sind, erscheint dieser Anteil recht hoch. Bei den Funden von Zauschwitz, Kr. Borna (H. Grimm 1969, S. 195—221), und
5«
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Tisice, Kr. Stredoöesky (J. Chochol 1963, S. 465—466), sind Schichtungen mit 1 , 5 % und 3 % am Gesamtmaterial etwas seltener. Tierknochen (beigaben) bleiben ziemlich selten. a) Geschlechtsauf bau und A Itersstruktur Abweichungen vom Geschlechtsverhältnis 1 : 1 sind im wesentlichen auf den Erhaltungszustand und auf die Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit der einzelnen Serien zurückzuführen. Leider ist nicht für alle Fundkomplexe eine Geschlechtsbestimmung durchgeführt worden. Jedoch überwiegt häufig die Anzahl der Frauen. Männer- und Frauenfriedhöfe oder eine Geschlechtertrennung auf ein und demselben Gräberfeld wurden nicht beobachtet. Wegen der bevölkerungsgeschichtlichen Bedeutung des Altersaufbaues muß seiner Analyse eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zunächst einige Bemerkungen zur Kindersterblichkeit: Serie
Anzahl der bestimmbaren Individuen
Möthlitz, Kr. Rathenow Dessau-Großkühnau Preußlitz, Ot. Plemnitz, Kr. Bernburg Großbadegast, Kr. Kothen Wulfen, Kr. Kothen Zauschwitz, Kr. Borna Zusammen Tisice, okr. Stredoöesky Luöeö, okr. Melnik Zusammen
3
nichterwachsene Individuen 1
% 33,0
210
81
38,6
67
17
26,2
280
99
35.4
78 38
11
13.7
4
10,5
116
15
12,9
N =
(Unbestimmbare Leichenbrandreste aus Dessau-Großkühnau, Wulfen wurden nicht berücksichtigt.)
Preußlitz,
Großbadegast,
Die Serien aus der D D R enthalten über ein Drittel Skelette von Nichterwachsenen. Die Abweichung bei den mit herangezogenen und oben ausgewiesenen Serien aus der ÖSSR dürfte mit deren Unvollständigkeit zu erklären sein. Der hohen Gefährdung der Individuen des frühen Kindesalters entsprechend ist unter den Skeletten der Nichterwachsenen die Altersstufe 0—6 Jahre am stärksten vertreten (wenn auch evtl. immer noch unvollzählig). Das stimmt mit früheren Beobachtungen überein und ist trotz der geringen Individuenzahl erkennbar: inf. I 0 — 6 Jahre
inf. II 6—14 Jahre
juv. 14 — 18 Jahre
N
16
6
9
%
5°
18,8
28,1
nur ,,inf." 1
(insges. 32)
3,1
(Unterteilung der kindlichen Altersklassen nur bei den Funden von Möthlitz, Zauschwitz, Tisice, Luöeö.)
KÖRPERGRÄBER
59
Bei der niedrigen Lebenserwartung sind unter den Erwachsenenskeletten solche des frühen Erwachsenenalters (adultus, 20—40 Jahre) die häufigsten. Altersangaben der Erwachsenen in Jahren sind nur bei den Funden von Tiiice und Luöeö publiziert worden. Da es sich dabei um sekundäre Berechnungen aus den Altersklassen handelt, wollen wir ihnen nur entnehmen, daß das Sterbealter der Frauen um einige Jahre unter dem der Männer lag. Zusammenfassend ergibt sich, daß die Kindersterblichkeit ziemlich hoch war, daß aber auch die Erwachsenen nicht alt wurden. Die Frauen starben etwas früher als die Männer. Die gleichen Feststellungen wurden schon an den Skelettresten aus der vorrömischen Eisenzeit gemacht (vgl. Bd. 1, S. i66f./i7of.). Soweit die Lückenhaftigkeit des Materials aus der römischen Kaiserzeit diese Schlußfolgerung zuläßt, haben sich die Lebensbedingungen nicht oder nur geringfügig verändert. b) Konstitution Unsere Kenntnisse über den Körperbau brandbestatteter Populationen sind gering. Am ehesten läßt sich etwas über den Robustizitätsgrad aussagen, auch einige Vergleiche sind möglich. So waren in den Jahrhunderten vor Beginn u. Z. zum Beispiel die Bewohner von Kemnitz, Kr. Potsdam, offenbar graziler als andere Bevölkerungsgruppen (vgl. Bd. l , S. 167f./173f.)- Ein Analogon dazu finden wir in den beiden aus der ÖSSR stammenden Serien. Im Material von Tisice, Kr. Stredoöesky, konnten Reste von vielen grazilen Individuen nachgewiesen werden. Die Männer waren zu 60% mäßig robust, die Frauen zu 90% grazil. Damit war diese Population evtl. etwas graziler als die von Luceö, Kr. Melnik. Dort waren die Männer robust und die Frauen mäßig robust bis grazil. Schätzungen zur Körperhöhe liegen nur für die Serie von Zauschwitz, Kr. Borna, vor (nach H. Grimm 1969, S. 195—221): Geschlecht
Anzahl
Mittelwert
Min.
Max.
Männer Frauen
7 3
156,3 cm 149,5 cm
150,0 146,6
158,4 153,0
Der Geschlechtsunterschied ist deutlich erkennbar. Sämtliche Schätzwerte liegen unter 160 cm.
c) Krankheitsbelastung Über die Krankheitsbelastung wissen wir infolge der ungünstigen Materialbasis wenig. R. Laser (i960, S. 15) fand unter den Funden von Dessau-Großkühnau, Preußlitz, Großbadegast und Wulfen zwei verheilte Ulnabrüche, Karies bei drei Individuen und mehrfach spondylotische Wirbelveränderungen. Es ist interessant, daß unter den Leichenbränden von Zauschwitz (H. Grimm 1969, S. 195—221) trotz intensiver Suche keine pathologischen Erscheinungen aufgefunden werden konnten. 3.
Körpergräber
Wie schon erwähnt, verbessert sich mit der Zunahme der Körperbestattungen etwa vom 4. Jh. an die Quellengrundlage erheblich. Aus zahlreichen Fundorten liegen Untersuchungen an den Skelettresten von mehreren tausend Individuen vor. In die Fundort-
KÖRPERGRÄBER
59
Bei der niedrigen Lebenserwartung sind unter den Erwachsenenskeletten solche des frühen Erwachsenenalters (adultus, 20—40 Jahre) die häufigsten. Altersangaben der Erwachsenen in Jahren sind nur bei den Funden von Tiiice und Luöeö publiziert worden. Da es sich dabei um sekundäre Berechnungen aus den Altersklassen handelt, wollen wir ihnen nur entnehmen, daß das Sterbealter der Frauen um einige Jahre unter dem der Männer lag. Zusammenfassend ergibt sich, daß die Kindersterblichkeit ziemlich hoch war, daß aber auch die Erwachsenen nicht alt wurden. Die Frauen starben etwas früher als die Männer. Die gleichen Feststellungen wurden schon an den Skelettresten aus der vorrömischen Eisenzeit gemacht (vgl. Bd. 1, S. i66f./i7of.). Soweit die Lückenhaftigkeit des Materials aus der römischen Kaiserzeit diese Schlußfolgerung zuläßt, haben sich die Lebensbedingungen nicht oder nur geringfügig verändert. b) Konstitution Unsere Kenntnisse über den Körperbau brandbestatteter Populationen sind gering. Am ehesten läßt sich etwas über den Robustizitätsgrad aussagen, auch einige Vergleiche sind möglich. So waren in den Jahrhunderten vor Beginn u. Z. zum Beispiel die Bewohner von Kemnitz, Kr. Potsdam, offenbar graziler als andere Bevölkerungsgruppen (vgl. Bd. l , S. 167f./173f.)- Ein Analogon dazu finden wir in den beiden aus der ÖSSR stammenden Serien. Im Material von Tisice, Kr. Stredoöesky, konnten Reste von vielen grazilen Individuen nachgewiesen werden. Die Männer waren zu 60% mäßig robust, die Frauen zu 90% grazil. Damit war diese Population evtl. etwas graziler als die von Luceö, Kr. Melnik. Dort waren die Männer robust und die Frauen mäßig robust bis grazil. Schätzungen zur Körperhöhe liegen nur für die Serie von Zauschwitz, Kr. Borna, vor (nach H. Grimm 1969, S. 195—221): Geschlecht
Anzahl
Mittelwert
Min.
Max.
Männer Frauen
7 3
156,3 cm 149,5 cm
150,0 146,6
158,4 153,0
Der Geschlechtsunterschied ist deutlich erkennbar. Sämtliche Schätzwerte liegen unter 160 cm.
c) Krankheitsbelastung Über die Krankheitsbelastung wissen wir infolge der ungünstigen Materialbasis wenig. R. Laser (i960, S. 15) fand unter den Funden von Dessau-Großkühnau, Preußlitz, Großbadegast und Wulfen zwei verheilte Ulnabrüche, Karies bei drei Individuen und mehrfach spondylotische Wirbelveränderungen. Es ist interessant, daß unter den Leichenbränden von Zauschwitz (H. Grimm 1969, S. 195—221) trotz intensiver Suche keine pathologischen Erscheinungen aufgefunden werden konnten. 3.
Körpergräber
Wie schon erwähnt, verbessert sich mit der Zunahme der Körperbestattungen etwa vom 4. Jh. an die Quellengrundlage erheblich. Aus zahlreichen Fundorten liegen Untersuchungen an den Skelettresten von mehreren tausend Individuen vor. In die Fundort-
6o
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
liste (Tabelle 1, B und C) wurde daher nur ein Teil der neueren Bearbeitungen aufgenommen, unterteilt in die Zeitstufen 2 (4-/5. Jh.) und 3 (5-/6. Jh.). a) Geschlechtsaufbau
und
Altersstruktur
Das theoretisch zu erwartende Geschlechtsverhältnis (etwa 1:1) spiegelt sich in den einzelnen Fundserien meist nicht wider. Eine befriedigende Erklärung dafür wurde bisher noch nicht gefunden. Erwachsene (über 2500 Individuen) in Prozent aus Tab. 2. Die Fundorte sind aus den Tabellen 1 und 2 zu entnehmen. Gruppe
männl.
weibl.
unbest.
4-/5. Jh., Bez. Halle ( D D R ) 4./5- Jh., Schweiz, Gruppe A
43,2
45,5
n,3
55,6
42,2
2,2
5./6. Jh., Bez. Halle ( D D R )
48,3
42,1
9,6
5-/ö- J h -
53,8
38,5
7,7
B R D , nördlich
60,0
40,0
0,0
B R D , südlich
50,2
45,8
4,0
Bez
- Magdeburg ( D D R )
Meist überwiegt die Zahl der männlichen Skelette; bei den Leichenbränden überwog die der weiblichen. b) Altersaufbau
(Tab. 2)
Dem Altersaufbau kommt, wie erwähnt, eine große Bedeutung in der Rekonstruktion der Lebensbedingungen vergangener Populationen zu. Der Anteil der Nichterwachsenen (Tab. 2b) beträgt in den einzelnen Serien 14,3% bis 58,5%. Das entspricht zumindest z. T. nicht den tatsächlichen Sterblichkeitsverhältnissen. insgesamt
d a v o n Nichterwachsene
N
N
%
.
DDR 4-/5. Jh., Bez. Halle
59
5-/6. Jh., Bez. Halle
170
15 25
34
6
24.4 14.7 23.5
5-/6. Jh., Bez. Magdeburg Bez. Gera, Erfurt, Suhl 4 größere Serien aus den beiden ersten Gruppen B R D (S) 9 große Serien (N = 77 bis 689)
96
23
24,0
115
28
24.4
2878
618
21,5
Die Altersstufe infans I (0—6 Jahre) war in den Skelettresten von Kindern aus den Jahrhunderten vor und zü Anfang u. Z. mit etwa 60% am stärksten vertreten. Bei den oben genannten Funden sind Kinder dieser Altersstufe seltener (0—44% der Nichterwachsenen).1 Das ist biologisch aber nicht möglich. Neugeborene finden sich mit 25,6% Anteil nur in der Serie von Mühlthal, Kr. Wolfratshausen (G. Ziegelmayer 1968, 1
Kinderskelette aus Brandbestattungen haben günstigere Erhaltungsaussichten, weil durch die Hitzeeinwirkung die Löslichkeit der Mineralsubstanz des Knochens vermindert wird.
6l
KÖRPERGRÄBER
S. 103—131), in größerer Menge. Die Altersstufe infans I macht hier mit 69 Individuen etwa 65% der Kinderskelette aus. Den Absterbeordnungen der 1. Hälfte des 19. Jh. entsprechend (G. Kurth 1965) müßten etwa 50% der Individuen eines Gräberfeldes aus Kindern bestehen. 2 Als Ursache für das „Kinderdefizit" können schlechte Erhaltungsaussichten im Boden für die noch kalkarmen Knochen angenommen werden. Auch wurden eventuell nicht alle gestorbenen Kleinkinder beerdigt. So sind theoretisch mögliche „echte" Unterschiede in der Kindersterblichkeit nicht nachweisbar. Der Altersaufbau der Erwachsenen ist aus Tab. 2 a zu ersehen. Auch hier ist die Altersstufe adultus (20—40 Jahre) am häufigsten vertreten; das Greisenalter wurde dagegen nur selten erreicht. Altersschätzungen in Jahren werden nur in einem Teil der Arbeiten angegeben: Funde
Bez. 4-/5- Jh., Halle 5-/6. Jh., Halle 5-/6- Jh., Magdeburg
insges.
davon Erw.
N
N
Sterbealter in Jahren a) m
w
?
b) Erw. insges.
c) ganze Serien
35 38 39
37 34 33
35 32 -
35,5 36,5 38
29
47 43 38 31
— —
45 34
36,2 26
DDR
59 170
43 145
34
26
Weingarten, Kr. Ravensburg 669 Sontheim, Kr. Heidenheim 77
560 63
31 32,5
B R D (S) 5-/7. Jh.
Das Durchschnittsalter einer Serie ist u. a. abhängig vom Anteil an Kinderskeletten. Wegen dessen Variabilität wird daher das Sterbealter der Erwachsenen gesondert angegeben. Diese starben etwa in der Mitte des vierten Lebensjahrzehnts. D a keine größeren Differenzen erkennbar sind, sind wir zu der Annahme berechtigt, daß die Lebensverhältnisse in biologischer Hinsicht einigermaßen gleich gewesen sein müssen. Die deutliche Abweichung bei den Funden von Weingarten läßt sich gegenwärtig kaum erklären. Das Sterbealter der Frauen liegt meist einige Jahre niedriger als das der Männer. Ein Vergleich der Altersstrukturen zwischen der Bevölkerung der vorrömischen Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit ergibt Anhaltspunkte für eine Konstanz oder eine Veränderung der Lebensbedingungen im Verlaufe von etwa einem Jahrtausend und ist aus diesem Grunde wichtig. Die bisherigen Analysen machten recht ungünstige Umweltverhältnisse wahrscheinlich. Die Frage ist jedoch, ob sich daran während des genannten Zeitabschnittes etwas geändert hat. Wir dürfen annehmen, daß die Kindersterblichkeit hoch war und auch blieb, wenngleich sich die Unvollständigkeit einiger Serien sowie ihre manchmal geringe Individuenzahl bei derartigen Kalkulationen störend bemerkbar machen können. Bei den Erwachsenen sind mit Ausnahme der Serie von Mannheim (Tab. 2 a) die adulten Individuen überall am stärksten vertreten. 2
Bei den sehr verdienstvollen Versuchen der Rekonstruktion der „wahren" Individuenzahl (s. P. Donat u. H. Ullrich 1971, S. 234—265) darf nicht übersehen werden, daß es sich nur um Schätzungen handelt.
62
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Erwachsene (m. u. w.) ad.
mat.
sen.
60,4%
17.8%
0
64,1%
33,4%
2,6%
71.8% 76,7%
25,2%
23,3%
3,o% 0
5-/6. Jh., Schweiz
66,7%
18,7%
6,3%
BRD (S) Sontheim, Kr. Heidenheim Mannheim
7i.4% 37,6%
23,8%
4,8%
45.9%
16,5%
6.
Jh. v. u. Z. bis
2.
Jh. u. Z.
4-/5. Jh., Bez. Halle 5-/6. Jh., Bez. Halle 5-/6. Jh., Bez. Gera, Erfurt, Suhl
(Die oberste Reihe — Leichenbrände — enthält diejenigen Individuen nicht, deren Altersdiagnose lediglich „erwachsen" lautet.) Diese Liste ließe sich noch fortsetzen, ohne daß sich das Bild ändern würde. Unabhängig von Zeit und Ort gehören etwa 2/3 bis 3/4 der Erwachsenen zu den adulten (früherwachsenen), 1/6 bis 1/4 zu den maturen (reifen, 40—60 J.), während senile (greisenhafte) Leute (über 60 J.) meist nur in geringer Anzahl gefunden wurden. Das Durchschnittssterbealter der Erwachsenen blieb konstant, die Frauen wurden nicht so alt wie die Männer; eine Beobachtung, die für einen langen Zeitraum gilt. c) Körperbau Zu den wichtigsten Anliegen der historischen Anthropologie gehören Aussagen zum Körperbau und der typologischen Zuordnung. Ein morphologischer Vergleich der Skelettreste aus den Körperbestattungen mit den zeitlich vorhergehenden Leichenbränden ist kaum oder nicht durchführbar; und die nicht verbrannten Skelettfunde aus der Zeit vor dem 4. Jh. sind zu selten, als daß sie verallgemeinert werden könnten. 3 Zunächst sind einige Bemerkungen zur Typologie erforderlich. Die Gesamtzahl der Menschen auf der Erde und ihr verschiedenartiges Aussehen verlangen eine Einteilung nach gemeinsamen Merkmalen. Eine solche morphologische Gliederung stellt keine Bewertung, keine Einteilung in höher- und minderwertige Menschen, wie es mißbräuchlich z. B. in Deutschland vor allem zwischen 1933 und 1945 getan wurde, dar. Der Skeletthabitus der Germanen wird meist als „germanischer (oder nordider) Reihengräbertyp" bezeichnet. Dieser Terminus wurde 1865 von A. Ecker eingeführt 3
Die große Variabilität lebender (oder ehemals belebter) Materie erfordert große Individuenzahlen zur statistischen Behandlung. Weiterhin ist für eine zuverlässige Beschreibung wie auch systematische Einordnung eine große Anzahl von Merkmalen des Schädels und des postkranialen Skelettes erforderlich. In diesem Punkte unterscheidet sich die heutige anthropologische Forschung grundlegend von der älteren „klassischen", die sich meist mit einigen wenigen Schädelmerkmalen begnügte. Die moderne Anthropologie ist bestrebt, das ganze Skelett in seiner Variabilität zu erfassen. Nicht mehr das Individuum steht im Mittelpunkt, sondern die Population. Nicht der Typ hat den Vorrang, sondern die Konstitution, auch wenn wir u. U. auf eine Typologie nicht verzichten können.
KÖRPERGRÄBER
63
und ist seitdem ein feststehender Begriff in der anthropologischen Forschung. Das Aussehen dieses Typs soll am Beispiel der Funde vorwiegend aus den Bezirken Halle und Magdeburg (Teilgebiet des Verbandsgebietes der Thüringer) dargestellt werden. Die Skelette der Bezugsgruppen (Tab. l B u. C, 4 . - 6 . Jh., Bez. Halle u. Magdeburg) stammen aus zahlreichen Fundorten eines größeren Gebietes. Durch die systematische Aufnahme aller Funde wird der Einfluß einer zu geringen Zahl und einer zu eng begrenzten Region auf die statistische Auswertung verringert (siehe dazu Typenkonturen u. Tabellen im Anhang). Die Schädel sind ziemlich groß und schwer, sie haben ein stark entwickeltes Oberflächenrelief, das auf eine kräftige Muskulatur schließen läßt, die Warzenfortsätze sind groß. Diese allgemeine Beschreibung läßt sich detaillieren: Frontalansicht: Das Gesicht ist hoch und meist schmal; sein Umriß überwiegend rechteckig bis pentagonoid (fünfeckig); die Stirn ist hoch und breit (auch mittelbreit) und am Scheitel meist abgerundet; gelegentlich besteht auch Firstbildung; bei fast 20% ließ sich eine offene Stirnnaht beobachten, die Augenhöhlen sind überwiegend rechteckig und wenig nach seitlich unten geneigt; die Überaugenbögen sind stark ausgeprägt. Die Nasenwurzel ist schmal bis mittelbreit und meist stärker eingezogen; die Kieferpartie ist überwiegend hoch und schmal bis breit. Seitenansicht: Die Nasenbeine stehen meist stärker nach vorn und sind häufig gekrümmt (Adlernase). Die Stirn ist oft stärker zurückgeneigt, die mediansagittale Umrißlinie ist am Scheitel gestreckt bis leicht gewölbt, das Hinterhaupt ist mittelhoch und stärker vorgewölbt. Aufsicht: In der Aufsicht ist ein ellipsoider Umriß (aber auch birsoid oder pentagonoid) häufig. Hinterhauptsansicht: Der Umriß der Hinterhauptsansicht ist überwiegend hausförmig. Dieser Grundtypus der Schädel bleibt trotz aller Variabilität von Einzelmerkmalen erhalten. Von einem anderen Typ könnte man nur bei Abweichung ganzer Merkmalkomplexe sprechen. Der Sexualdimorphismus ist groß (Tab. 3). Die weiblichen Schädel sind kleiner und leichter als die männlichen, der Gehirnschädel ist stärker abgerundet, das Muskelrelief schwächer, die Warzenfortsätze sind kleiner. Trotzdem ist die Zugehörigkeit zum Reihengräbertyp gut erkennbar. Indices: Die Schädel der Frauen sind im Verhältnis zur Länge schmal und mittelhoch, im Verhältnis zur Breite hoch. Die Stirn ist mittelbreit, das Gesicht ist relativ mittelhoch, das Obergesicht (ohne Unterkiefer) ist relativ mittelhoch, die Augenhöhlen sind mittelhoch, die Nase ist schmal bis mittelbreit, der Zahnbogen des Oberkiefers ist im Verhältnis zur Länge breit. Die Geschlechtsunterschiede der Indices sind unregelmäßiger als die der Maße. Das postkraniale Skelett ist gleich dem Schädel robust und massiv, die Muskulatur ist kräftig entwickelt. Die Langknochen (Tab. 4) sind groß. Sexualunterschiede und Variabilität sind stärker ausgeprägt. Die aus den langen Röhrenknochen berechnete Körperhöhe (nach Pearson. In: K. Salier 1957, S. 594/95) beträgt für die Männer etwa 170 cm und für die Frauen etwa 158 cm. Männer: Mittelwert 169,6 c m ; min. 159, max. 183 cm Frauen:
Mittelwert 157,8 c m ; min. 147, m a x . 1 6 9 c m .
04
Typenkonturen, männlich N. l a t e r a l i s
Abb. 8. Typenkonturen (männlich). Seitenansicht (Ia, Ib).
Typenkonturen, männlich N . verticali:
Abb. 9. Typenkonturen (männlich). Aufsicht (Ia, Ib).
65
KÖRPERGRÄBER
Die aus den Beinknochen errechnete Körperhöhe ist häufig größer als die aus den Armknochen, und die Körperhöhe aus den distalen Extremitätenabschnitten ist häufig größer als die aus den proximalen (iin männlichen Geschlecht deutlicher ausgeprägt). Die Darstellung der Extremitätenproportionen in den Extremitätenindices, d. h. Länge des einen Langknochens in Prozenten des anderen, sieht wie folgt aus: m
w
Humero-Radial-Index
76,0
76,0
Femoro-Tibial-Index
81,8
83,2
Intermembral-Index
69,7
68,5
Femoro-Humeral-Index
71,7
71,7
Tibio-Radial-Index
66,2
65,5
Geschlechtsunterschiede bestehen somit praktisch nicht. Die genannten Extremitätenproportionen können typenspezifische Unterschiede aufweisen und sind u. U. dann für Typensonderungen verwendbar. d) Typensonderung Der Reihengräbertyp hat verschiedene Wurzeln und war in Europa weit verbreitet. Schon die Größe des Verbreitungsgebietes läßt eine Einheitlichkeit nicht sehr wahrscheinlich erscheinen. Zudem ist in Randgebieten immer mit fremden Einflüssen zu rechnen. Der Begriff der Einheitlichkeit ist aber auch eine Frage der Definition. Es kommt darauf an, nach wieviel Merkmalsdifferenzen neue Typen aufgestellt werden. Das sollte nur bei Unterschieden zwischen ganzen Merkmalsgruppen bzw. -komplexen erfolgen. Meist wird von zwei Formen des Reihengräbertyps gesprochen.4 Die Forderung, eine Typensonderung nur nach möglichst vielen metrischen und nichtmetrischen Merkmalen des Schädels und des postkranialen Skelettes durchzuführen, ist am besten am Material aus dem Siedlungsgebiet der Thüringer (Bez. Halle u. Magdeburg, 4 . - 6 . Jh.) erfüllt. Diese Funde sollen daher als Beispiel dienen. An ihnen lassen sich zwei Formen oder Untertypen der Reihengräberbestattung voneinander trennen. Sie unterscheiden sich in einer Reihe von Merkmalen, ohne daß jedoch ihre Zusammengehörigkeit dadurch in Frage gestellt würde. Sie sind mit I a und I b bezeichnet (Tab. 5, Typenkonturen Abb. 8 u. 9, Taf. 4). Seitenansicht: Bei I b ist die Vorderstirn stärker zurückgeneigt, und die Scheitelkontur steigt langsamer an als bei Ia, das Hinterhaupt fällt bei I a steiler ab. Vertikalansicht: Es bestehen Unterschiede in der Verbreiterung des Umrisses hinter der postorbitalen Einschnürung (hinter den Augenhöhlen Hegend); beide Geschlechter haben die gleichen Differenzen. Der Gesichtsumriß ist bei I a mehr elliptisch, bei Ib mehr rechteckig. Bei I a sind die Überaugenbögen etwas stärker ausgeprägt und die Nasenwurzel stärker eingezogen, die Kieferpartie i6t höher und der Hinterhauptsumriß im Durchschnitt höher als bei Ib. 4
K . Salier (1933, S. 249—293) unterscheidet zwischen dem Groner und dem Nordendorfer T y p . Danach entspricht die erste Form mehr der Cromagnon-Rasse, die zweite der von Brünn oder Chancelade.
5
Germanen — Bd 2
66
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Metrische Unterschiede (in beiden Geschlechtern ausgeprägt): Der Gehirnschädel von I b ist in einigen Maßen etwas größer als der von I a und anscheinend etwas schmaler. Am Gesichtsschädel sind bei I b die Augenhöhlen höher, die Kondylenbreite (Gelenkköpfe) und die Winkelbreite des Unterkiefers geringer. Die Schädel v o n l a sind im Verhältnis zur Länge breiter und höher und haben schmalere Kiefer als die von Ib. Die Langknochen sind nur im männlichen Geschlecht bei I a größer. Die Körperhöhe ist bei I a größer (in cm):
m w
Ia
Ib
Diff.
175.6 159.5
168,6 158,0
7,0, stat. gesichert 1,5, nicht gesichert
In den Extremitätenproportionen treten nur bei männlichen Skeletten Unterschiede auf. Der Humero-Radialindex hat bei Ia einen höheren Wert als bei Ib, die Unterarme sind im Verhältnis zu den Oberarmen länger. Weiterhin ist die aus den Beinen berechnete Körperhöhe, verglichen mit der aus den Armen, bei I b etwas größer als bei Ia, d. h., die Beine sind relativ länger. Es ist durchaus denkbar, daß regionale Unterschiede zwischen verschiedenen Serien auch ihre Ursache in einer unterschiedlichen Zusammensetzung des Skelettmaterials aus diesen beiden Formen haben könnten. 4.
Stammesunterschiede
Der Frage nach der Einheitlichkeit des Körperbaues und nach Unterschieden zwischen den Stämmen galten schon viele Bemühungen. Von den Arbeiten, die sich bisher damit befaßten, sind diejenigen älteren auszusondern, deren Materialbasis zu gering war oder die die Germanen einseitig überbewerten. Tacitus leitete in seiner „Germania" (4) das einheitliche Aussehen der Germanen z. B. aus deren gemeinsamer Abstammung ab. Trotzdem spricht er aber auch von Stammesunterschieden (vgl. Bd. 1, S. 169/174). Anthropologischerseits konnte für die vorrömische Eisenzeit dazu aus Materialgründen (Brandbestattungen) nichts gesagt werden. Für das 4.—5. Jh. ist die Quellengrundlage günstiger. P. Kramp (1939, S. 126—204), um nur einen Autor zu nennen, untersuchte je eine bajuwarische, alamannische, fränkische und sächsische Serie und konstatierte eine weitgehende Einheitlichkeit der Angehörigen dieser Stammesverbände. So war bei Angehörigen aus dem fränkischen Gebiet die Jochbogenbreite größer. Für das bajuwarische Gebiet fielen im Gegensatz zum sächsischen breitere und kürzere Gehirnschädel sowie ein größeres Gesichtsskelett auf. Als Ursache dafür führt Kramp einen dinariden Einschlag an. In der Körperhöhe fand er keine oder nur geringe Differenzen. Genaugenommen gleicht keine Skelettserie der anderen. Zur Feststellung morphologischer (und metrischer) Unterschiede oder Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Germanenstämmen müßten ganze Gruppen von Fundserien aus den einzelnen Stammesgebieten verglichen werden. Ein Großteil der Germanen sollte auf Grund ihrer gemeinsamen Herkunft aus einem begrenzten, wenn auch größeren Gebiet einander ähnlich sein. Das ist auch der Fall, und gerade dieses Forschungsergebnis ist wichtig. Die von G. Asmus (1939 a u. b) untersuchten Skelettfunde der Bevölkerung aus den heutigen Nordgebieten der DDR ähneln denen aus dem Stammesgebiet der Thüringer
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BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Metrische Unterschiede (in beiden Geschlechtern ausgeprägt): Der Gehirnschädel von I b ist in einigen Maßen etwas größer als der von I a und anscheinend etwas schmaler. Am Gesichtsschädel sind bei I b die Augenhöhlen höher, die Kondylenbreite (Gelenkköpfe) und die Winkelbreite des Unterkiefers geringer. Die Schädel v o n l a sind im Verhältnis zur Länge breiter und höher und haben schmalere Kiefer als die von Ib. Die Langknochen sind nur im männlichen Geschlecht bei I a größer. Die Körperhöhe ist bei I a größer (in cm):
m w
Ia
Ib
Diff.
175.6 159.5
168,6 158,0
7,0, stat. gesichert 1,5, nicht gesichert
In den Extremitätenproportionen treten nur bei männlichen Skeletten Unterschiede auf. Der Humero-Radialindex hat bei Ia einen höheren Wert als bei Ib, die Unterarme sind im Verhältnis zu den Oberarmen länger. Weiterhin ist die aus den Beinen berechnete Körperhöhe, verglichen mit der aus den Armen, bei I b etwas größer als bei Ia, d. h., die Beine sind relativ länger. Es ist durchaus denkbar, daß regionale Unterschiede zwischen verschiedenen Serien auch ihre Ursache in einer unterschiedlichen Zusammensetzung des Skelettmaterials aus diesen beiden Formen haben könnten. 4.
Stammesunterschiede
Der Frage nach der Einheitlichkeit des Körperbaues und nach Unterschieden zwischen den Stämmen galten schon viele Bemühungen. Von den Arbeiten, die sich bisher damit befaßten, sind diejenigen älteren auszusondern, deren Materialbasis zu gering war oder die die Germanen einseitig überbewerten. Tacitus leitete in seiner „Germania" (4) das einheitliche Aussehen der Germanen z. B. aus deren gemeinsamer Abstammung ab. Trotzdem spricht er aber auch von Stammesunterschieden (vgl. Bd. 1, S. 169/174). Anthropologischerseits konnte für die vorrömische Eisenzeit dazu aus Materialgründen (Brandbestattungen) nichts gesagt werden. Für das 4.—5. Jh. ist die Quellengrundlage günstiger. P. Kramp (1939, S. 126—204), um nur einen Autor zu nennen, untersuchte je eine bajuwarische, alamannische, fränkische und sächsische Serie und konstatierte eine weitgehende Einheitlichkeit der Angehörigen dieser Stammesverbände. So war bei Angehörigen aus dem fränkischen Gebiet die Jochbogenbreite größer. Für das bajuwarische Gebiet fielen im Gegensatz zum sächsischen breitere und kürzere Gehirnschädel sowie ein größeres Gesichtsskelett auf. Als Ursache dafür führt Kramp einen dinariden Einschlag an. In der Körperhöhe fand er keine oder nur geringe Differenzen. Genaugenommen gleicht keine Skelettserie der anderen. Zur Feststellung morphologischer (und metrischer) Unterschiede oder Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Germanenstämmen müßten ganze Gruppen von Fundserien aus den einzelnen Stammesgebieten verglichen werden. Ein Großteil der Germanen sollte auf Grund ihrer gemeinsamen Herkunft aus einem begrenzten, wenn auch größeren Gebiet einander ähnlich sein. Das ist auch der Fall, und gerade dieses Forschungsergebnis ist wichtig. Die von G. Asmus (1939 a u. b) untersuchten Skelettfunde der Bevölkerung aus den heutigen Nordgebieten der DDR ähneln denen aus dem Stammesgebiet der Thüringer
KRANKHEITEN
67
weitgehend. Sie können insgesamt als germanische (nordide) Reihengräberleute angesehen werden. Auch bei den Serien aus einem größeren Gebiet (Polen und ÖSSR — soweit bisher dazu Publikationen vorliegen — ferner B R D und Schweiz) handelt es sich im wesentlichen tun den bereits beschriebenen grobdolichomorphen Reihengräbertyp. Das wird nicht nur am Schädel deutlich, sondern auch in der Körperhöhe und den Extremitätenproportionen. Lediglich die von C. Schneiter (1939) bearbeiteten alamannischen Skelette aus der Schweiz weichen von dem allgemeinen Bild stärker ab. Mit der Behandlung von Funden aus England, der Normandie, West- und Ostfranken, Thüringen, Schweiz, Österreich, Italien, Ungarn und Spanien hat F. Rösing (1975) sein Arbeitsgebiet noch weiter ausgedehnt. Er fand mehr oder weniger enge morphometrische Beziehungen zwischen den meisten merowingerzeitlichen Fundgruppen, zum mindesten innerhalb eines größeren Kerngebietes, zu dem auch der in diesem Handbuch abzuhandelnde Raum zu rechnen ist. Einige Fundgruppen, die nach Rösing „morphometrische Nichtgermanen" sind, haben im Verlauf ihrer Geschichte zahlreiche Fremdstämme aufgenommen, auch liegt ihr Wohngebiet relativ abseits. Zu den stärker abweichenden Serien rechnen solche aus der Schweiz (Alamannen), aus Ungarn und Jugoslawien (Langobarden) und aus Spanien (Westgoten).5 Abgesehen von auszusondernden Randgebieten sprechen neuere Untersuchungsgebiete somit gegen Stammesunterschiede.
5.
Krankheiten
Die Ursache für die niedrige Lebenserwartung haben wir in ungünstigen Lebensbedingungen und einer als Folge davon hohen Krankheitsbelastung zu sehen. Daß Infektionskrankheiten, auch seuchenartige, eine ganz besondere Rolle spielten, ist anzunehmen, auch wenn wir sie am Skelettmaterial nicht nachweisen können. Weichteile stehen nicht zur Verfügung, unsere palaeopathologischen Kenntnisse bleiben somit lückenhaft. Weiterhin dürften Verwundungen und Verletzungen nicht selten gewesen sein. Über die Todesursache lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die Todesquote lag bei den damaligen Hygieneverhältnissen sicher viel höher als heute. Vergleiche hinsichtlich der Krankheitshäufigkeit mit der Bevölkerung früherer Jahrhunderte sind wegen des unterschiedlichen Erhaltungszustandes des Untersuchungsmaterials (Brandbestattungen — Körperbestattungen) nicht möglich. Pathologische Erscheinungen sollen am Beispiel der Funde des 4 . - 6 . Jh. der Bezirke Halle und Magdeburg demonstriert werden, da von diesem Gebiet eine systematische Aufnahme aller einschlägigen Skelette vorhegt. Pathologische Veränderungen können an allen größeren Serien beobachtet werden. Es ist jedoch wichtig, daß alles registriert wird und nicht nur schwere Fälle. Eine Verallgemeinerung erscheint auf Grund der Ähnüchkeit mit Befunden aus anderen Gebieten gerechtfertigt. 6 Von 263 Individuen (aus über 40 Fundorten) weisen 138, also etwa die Hälfte (52,5%), pathologische und anatomisch auffällige Erscheinungen auf. Da ein Teil der Skelette unvollständig er5
Stammesnamen nach F. Rösing.
6
Eine Reihe von Serien, in denen offenbar in unzureichendem Maße nach pathologischen Erscheinungen gesucht wurde, mußten ausgeschieden werden.
5*
KRANKHEITEN
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weitgehend. Sie können insgesamt als germanische (nordide) Reihengräberleute angesehen werden. Auch bei den Serien aus einem größeren Gebiet (Polen und ÖSSR — soweit bisher dazu Publikationen vorliegen — ferner B R D und Schweiz) handelt es sich im wesentlichen tun den bereits beschriebenen grobdolichomorphen Reihengräbertyp. Das wird nicht nur am Schädel deutlich, sondern auch in der Körperhöhe und den Extremitätenproportionen. Lediglich die von C. Schneiter (1939) bearbeiteten alamannischen Skelette aus der Schweiz weichen von dem allgemeinen Bild stärker ab. Mit der Behandlung von Funden aus England, der Normandie, West- und Ostfranken, Thüringen, Schweiz, Österreich, Italien, Ungarn und Spanien hat F. Rösing (1975) sein Arbeitsgebiet noch weiter ausgedehnt. Er fand mehr oder weniger enge morphometrische Beziehungen zwischen den meisten merowingerzeitlichen Fundgruppen, zum mindesten innerhalb eines größeren Kerngebietes, zu dem auch der in diesem Handbuch abzuhandelnde Raum zu rechnen ist. Einige Fundgruppen, die nach Rösing „morphometrische Nichtgermanen" sind, haben im Verlauf ihrer Geschichte zahlreiche Fremdstämme aufgenommen, auch liegt ihr Wohngebiet relativ abseits. Zu den stärker abweichenden Serien rechnen solche aus der Schweiz (Alamannen), aus Ungarn und Jugoslawien (Langobarden) und aus Spanien (Westgoten).5 Abgesehen von auszusondernden Randgebieten sprechen neuere Untersuchungsgebiete somit gegen Stammesunterschiede.
5.
Krankheiten
Die Ursache für die niedrige Lebenserwartung haben wir in ungünstigen Lebensbedingungen und einer als Folge davon hohen Krankheitsbelastung zu sehen. Daß Infektionskrankheiten, auch seuchenartige, eine ganz besondere Rolle spielten, ist anzunehmen, auch wenn wir sie am Skelettmaterial nicht nachweisen können. Weichteile stehen nicht zur Verfügung, unsere palaeopathologischen Kenntnisse bleiben somit lückenhaft. Weiterhin dürften Verwundungen und Verletzungen nicht selten gewesen sein. Über die Todesursache lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die Todesquote lag bei den damaligen Hygieneverhältnissen sicher viel höher als heute. Vergleiche hinsichtlich der Krankheitshäufigkeit mit der Bevölkerung früherer Jahrhunderte sind wegen des unterschiedlichen Erhaltungszustandes des Untersuchungsmaterials (Brandbestattungen — Körperbestattungen) nicht möglich. Pathologische Erscheinungen sollen am Beispiel der Funde des 4 . - 6 . Jh. der Bezirke Halle und Magdeburg demonstriert werden, da von diesem Gebiet eine systematische Aufnahme aller einschlägigen Skelette vorhegt. Pathologische Veränderungen können an allen größeren Serien beobachtet werden. Es ist jedoch wichtig, daß alles registriert wird und nicht nur schwere Fälle. Eine Verallgemeinerung erscheint auf Grund der Ähnüchkeit mit Befunden aus anderen Gebieten gerechtfertigt. 6 Von 263 Individuen (aus über 40 Fundorten) weisen 138, also etwa die Hälfte (52,5%), pathologische und anatomisch auffällige Erscheinungen auf. Da ein Teil der Skelette unvollständig er5
Stammesnamen nach F. Rösing.
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Eine Reihe von Serien, in denen offenbar in unzureichendem Maße nach pathologischen Erscheinungen gesucht wurde, mußten ausgeschieden werden.
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BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
halten war, dürfte der tatsächliche Anteil an Erkrankungen noch höher gewesen sein. Bei über der Hälfte der Erwachsenen fanden sich pathologische Veränderungen: (i°3) (9i)
männlich weiblich unbestimmt
N = 64 = N =
(21)
62,2%
N = 54 = 59,4% 9 = 4 2 , 9 % (z. T . schlecht erhalten)
Unterschiede in bezug auf das Geschlecht scheinen nicht zu bestehen. Mit steigendem Alter nimmt die Krankheitsbelastung zu: Nichterwachsene (48)
N =
5 =
10,4%
Erwachsene, 20 — 40 Jahre (135)
N = 74 =
54,8%
40-60
„
(54)
über 60
,,
(5)
N = 42 =
77,8%
N =
80,0%
4 =
Lokalisation der Befunde: Schädel
N
Postkr. Skelett
Gebiß
sonst.
Rumpf
113
25
23
E x t r e m i tätengü rtel
A r m e u. Beine
15
Pathologische Veränderungen am Schädel überwiegen bei weitem. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß bei älteren Grabungen oft nur die Schädel geborgen wurden. Andererseits können mehrere Befunde an einem Skelett auftreten. Der Gebißzustand war nicht gut. Von 179 Erwachsenen mit erhaltenen Gebissen hatten 111 (62%) Karies und Kiefererkrankungen. Derartige Schäden des Kauapparates sind also bereits in früherer Zeit ziemlich häufig. Länger dauernde schwere Fälle konnten weit ernstere Folgen haben als heutzutage. Sogar ein tödlicher Ausgang war durchaus möglich. Paradentose wurde ebenfalls beobachtet. Zahnsteinansatz unterschiedlichen Ausmaßes fand sich 34mal. Auf Verwundungen und auf Unglücksfälle am Gehirnschädel weisen drei Impressionsfrakturen, zwei durchgängige Verletzungen und eine Hiebnarbe hin. Die meisten dieser Beschädigungen wurden überlebt und verheilten. Einen mäßig schweren Fall von Hadrocephalus (Wasserkopf) belegt das Individuum Nr. 34/24, männlich, adult, von Görzig, Kr. Kothen. Ein Gehirnschädel (Mertendorf, Kr. Naumburg, Nr. 56:283) hat fleckenförmige Aufhellungen des Stirnbeins und der frontalen Abschnitte der Scheitelbeine (Syphilis?). Am postkranialen Skelett überwiegen Exostosen (Knochenwucherungen) der Gelenkenden von Extremitätenknochen und der Extremitätengürtel (Arthritis) sowie der Wirbel (Spondylose). Diese sind zwar nicht lebensbedrohend, unter Umständen jedoch sehr schmerzhaft und bewegungsbehindernd und daher von Bedeutung. Da die postkranialen Skelette z. T. unvollständig erhalten sind bzw. geborgen wurden, sind die nachstehenden Werte eventuell zu niedrig: Exostosen a n : Schultergürtel Beckengürtel Arme
4
X
3X, 11 X (Hum. 3, R a d . 4, U l n a 5)
Beine
12 x
(Fem. 7, Patella 1, T i b . 3, Fib. 2)
Wirbel
39 x
(Hals 6, B r u s t 15, L e n d e 18)
69
EINWOHNERZAHL UND SIEDLUNGSGRÖSSE
Wirbelschäden stehen an erster Stelle. Von 105 Erwachsenen mit Wirbel (resten) haben 33 ( = 31,4%) Spondylose. Diese nimmt mit steigendem Alter zu: Alter
Individuen mit erhaltenen Wirbeln
mit Wirbelschäden
N
%
20 — 40 J.
68
10
14,7
4 0 - 6 0 J.
32
19
59,4
5
4
80,0
über 60 J.
Frakturen traten bei fünf Individuen auf: Clavicula 2, Radius und Ulna 1 (zusammengewachsen), Femur 2, ein perforiertes Corpus sterni einmal, Schaftkrümmungen der Langknochen an vier Individuen (Humerus 1, Femur 1, Tibia 2). Bei zwei Individuen war der Wirbelkanal des Kreuzbeines nicht verschlossen (spina bifida). 6.
Künstliche
Schädelverbildung
Einige Individuen fallen durch eine eigentümliche Form ihres Gehirnschädels auf (Taf. 55). Wird im frühen Kindesalter das normale Knochenwachstum durch eine um Stirn, Schläfen und Hinterhaupt gelegte Binde behindert, entsteht ein sog. Turmschädel. Die Schädelknochen wachsen nach oben-hinten in eine Richtung, in der keine Behinderung vorlag (B. Schmidt, L. Schott u. G. Schröder 1961, S. 247—251). Verschiedene Ausprägungsgrade der Deformation lassen darauf schließen, daß manchmal die Bandage abgenommen wurde, bevor stärkere Formveränderungen eingetreten waren. Der Sitz der Binden läßt sich an leichten Eindellungen und Abplattungen der umwickelten Knochen erkennen. Zu einem Intelligenzdefekt kam es nicht. Nach J. Werner (1956, S. 5—18) war die Sitte der künstlichen Schädeldeformation vom Tienschan bis zum Genfer See verbreitet (s. Abb. 166). Die ältesten Schädel dieser Art werden in das 8. Jahrtausend v. u. Z. datiert. Nach Mitteleuropa kam dieser Brauch erst in der Völkerwanderungszeit. Funde vom Territorium der UdSSR lassen uns die Deformation in Zusammenhang mit reiternomadischen Sitten bringen. Ob in jedem Falle Angehörige einer sozialen Oberschicht gekennzeichnet werden sollten, ist nicht ganz sicher. Die Häufigkeit derartiger Schädel in manchen Gräberfeldern spricht dagegen. In unserem Gebiet war die künstliche Verbildung des Schädels anscheinend nur auf das weibliche Geschlecht beschränkt, wobei z. B. die Frau von Sittichenbach, Kr. Querfurt (B.Schmidt, L.Schott u. G.Schröder 1961, S. 247 ff.), dem germanischen Reihengräbertyp entspricht, während zum mindesten bei einem der beiden Turmschädel von Obermöllern, Kr. Naumburg (Ch. Müller 1961, S. 136), eher an ein Individuum hunnischmongolischer Herkunft zu denken ist.
7.
Einwohnerzahl und. Siedlungsgröße
Zum Studium der Siedlungen und deren Bewohnerzahl ist auch die Kenntnis und entsprechende Auswertung der Gräberfelder von Bedeutung. Neuerdings wird eine „demographische Repräsentanz" gefordert, d. h., Alters- und Geschlechtsaufbau einer Serie
69
EINWOHNERZAHL UND SIEDLUNGSGRÖSSE
Wirbelschäden stehen an erster Stelle. Von 105 Erwachsenen mit Wirbel (resten) haben 33 ( = 31,4%) Spondylose. Diese nimmt mit steigendem Alter zu: Alter
Individuen mit erhaltenen Wirbeln
mit Wirbelschäden
N
%
20 — 40 J.
68
10
14,7
4 0 - 6 0 J.
32
19
59,4
5
4
80,0
über 60 J.
Frakturen traten bei fünf Individuen auf: Clavicula 2, Radius und Ulna 1 (zusammengewachsen), Femur 2, ein perforiertes Corpus sterni einmal, Schaftkrümmungen der Langknochen an vier Individuen (Humerus 1, Femur 1, Tibia 2). Bei zwei Individuen war der Wirbelkanal des Kreuzbeines nicht verschlossen (spina bifida). 6.
Künstliche
Schädelverbildung
Einige Individuen fallen durch eine eigentümliche Form ihres Gehirnschädels auf (Taf. 55). Wird im frühen Kindesalter das normale Knochenwachstum durch eine um Stirn, Schläfen und Hinterhaupt gelegte Binde behindert, entsteht ein sog. Turmschädel. Die Schädelknochen wachsen nach oben-hinten in eine Richtung, in der keine Behinderung vorlag (B. Schmidt, L. Schott u. G. Schröder 1961, S. 247—251). Verschiedene Ausprägungsgrade der Deformation lassen darauf schließen, daß manchmal die Bandage abgenommen wurde, bevor stärkere Formveränderungen eingetreten waren. Der Sitz der Binden läßt sich an leichten Eindellungen und Abplattungen der umwickelten Knochen erkennen. Zu einem Intelligenzdefekt kam es nicht. Nach J. Werner (1956, S. 5—18) war die Sitte der künstlichen Schädeldeformation vom Tienschan bis zum Genfer See verbreitet (s. Abb. 166). Die ältesten Schädel dieser Art werden in das 8. Jahrtausend v. u. Z. datiert. Nach Mitteleuropa kam dieser Brauch erst in der Völkerwanderungszeit. Funde vom Territorium der UdSSR lassen uns die Deformation in Zusammenhang mit reiternomadischen Sitten bringen. Ob in jedem Falle Angehörige einer sozialen Oberschicht gekennzeichnet werden sollten, ist nicht ganz sicher. Die Häufigkeit derartiger Schädel in manchen Gräberfeldern spricht dagegen. In unserem Gebiet war die künstliche Verbildung des Schädels anscheinend nur auf das weibliche Geschlecht beschränkt, wobei z. B. die Frau von Sittichenbach, Kr. Querfurt (B.Schmidt, L.Schott u. G.Schröder 1961, S. 247 ff.), dem germanischen Reihengräbertyp entspricht, während zum mindesten bei einem der beiden Turmschädel von Obermöllern, Kr. Naumburg (Ch. Müller 1961, S. 136), eher an ein Individuum hunnischmongolischer Herkunft zu denken ist.
7.
Einwohnerzahl und. Siedlungsgröße
Zum Studium der Siedlungen und deren Bewohnerzahl ist auch die Kenntnis und entsprechende Auswertung der Gräberfelder von Bedeutung. Neuerdings wird eine „demographische Repräsentanz" gefordert, d. h., Alters- und Geschlechtsaufbau einer Serie
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EINWOHNERZAHL UND SIEDLUNGSGRÖSSE
Wirbelschäden stehen an erster Stelle. Von 105 Erwachsenen mit Wirbel (resten) haben 33 ( = 31,4%) Spondylose. Diese nimmt mit steigendem Alter zu: Alter
Individuen mit erhaltenen Wirbeln
mit Wirbelschäden
N
%
20 — 40 J.
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4 0 - 6 0 J.
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59,4
5
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80,0
über 60 J.
Frakturen traten bei fünf Individuen auf: Clavicula 2, Radius und Ulna 1 (zusammengewachsen), Femur 2, ein perforiertes Corpus sterni einmal, Schaftkrümmungen der Langknochen an vier Individuen (Humerus 1, Femur 1, Tibia 2). Bei zwei Individuen war der Wirbelkanal des Kreuzbeines nicht verschlossen (spina bifida). 6.
Künstliche
Schädelverbildung
Einige Individuen fallen durch eine eigentümliche Form ihres Gehirnschädels auf (Taf. 55). Wird im frühen Kindesalter das normale Knochenwachstum durch eine um Stirn, Schläfen und Hinterhaupt gelegte Binde behindert, entsteht ein sog. Turmschädel. Die Schädelknochen wachsen nach oben-hinten in eine Richtung, in der keine Behinderung vorlag (B. Schmidt, L. Schott u. G. Schröder 1961, S. 247—251). Verschiedene Ausprägungsgrade der Deformation lassen darauf schließen, daß manchmal die Bandage abgenommen wurde, bevor stärkere Formveränderungen eingetreten waren. Der Sitz der Binden läßt sich an leichten Eindellungen und Abplattungen der umwickelten Knochen erkennen. Zu einem Intelligenzdefekt kam es nicht. Nach J. Werner (1956, S. 5—18) war die Sitte der künstlichen Schädeldeformation vom Tienschan bis zum Genfer See verbreitet (s. Abb. 166). Die ältesten Schädel dieser Art werden in das 8. Jahrtausend v. u. Z. datiert. Nach Mitteleuropa kam dieser Brauch erst in der Völkerwanderungszeit. Funde vom Territorium der UdSSR lassen uns die Deformation in Zusammenhang mit reiternomadischen Sitten bringen. Ob in jedem Falle Angehörige einer sozialen Oberschicht gekennzeichnet werden sollten, ist nicht ganz sicher. Die Häufigkeit derartiger Schädel in manchen Gräberfeldern spricht dagegen. In unserem Gebiet war die künstliche Verbildung des Schädels anscheinend nur auf das weibliche Geschlecht beschränkt, wobei z. B. die Frau von Sittichenbach, Kr. Querfurt (B.Schmidt, L.Schott u. G.Schröder 1961, S. 247 ff.), dem germanischen Reihengräbertyp entspricht, während zum mindesten bei einem der beiden Turmschädel von Obermöllern, Kr. Naumburg (Ch. Müller 1961, S. 136), eher an ein Individuum hunnischmongolischer Herkunft zu denken ist.
7.
Einwohnerzahl und. Siedlungsgröße
Zum Studium der Siedlungen und deren Bewohnerzahl ist auch die Kenntnis und entsprechende Auswertung der Gräberfelder von Bedeutung. Neuerdings wird eine „demographische Repräsentanz" gefordert, d. h., Alters- und Geschlechtsaufbau einer Serie
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
7°
müssen mit den theoretisch zu erwartenden Werten einigermaßen übereinstimmen. Das betrifft besonders die Kinderskelette, die, wie schon gesagt, manchmal offensichtlich nicht alle erhalten sind. Dann muß die Individuenzahl „korrigiert" werden. Solche „berichtigten" Individuenzahlen sind aber nur Schätzwerte und nicht mehr! Die Skelettserien aus dem Gebiet der D D R erfüllen die Voraussetzungen meist nicht. Aus der B R D liegen jedoch geeignete Funde vor. Zu den bisher publizierten kleineren Gräberfeldern des mitteldeutschen Raumes treten bei Alamannen, Franken und auch Bajuwaren große Friedhöfe mit mehreren hundert Individuen auf. Neben Einzelgehöften gab es also größere Siedlungen. Nach P. Donat und H. Ullrich (1971, S. 234—265) sind die ersteren die ältere, die letzteren die jüngere Siedlungsform. Die Siedlungen können in drei Größenklassen eingeteilt werden: 1. 21—48 Einwohner, 2. 76—92 Einwohner, 3. 126—215 Einwohner. Vom 6. zum 7. Jh. ist eine Vergrößerung eines Teils der Siedlungen wahrscheinlich. Gräberfeld
Bevölkerungszahl 6.
Hailfingen, Ot. von Rottenburg am Neckar Junkersdorf, Kr. Köln Herten, Kr. Lörrach Dülach, Kt. Zürich Marktoberdorf, Kr. Ravensburg Köln-Müngersdorf Mannheim
Jh.
47 133 47 28
(927)
7.
Jh.
278
151 138 125 90
28
44
110
160
Nach H. Ament (1973, S. 311—312) verringerte sich die Bevölkerungszunahme teilweise, ohne daß eine grundsätzliche Änderung eintrat. Als Ursachen für die nicht überall gleichmäßige Bevölkerungszunahme kommen in Frage: 1. ein zahlenmäßiger Anstieg der einheimischen ansässigen Bewohner und 2. ein Zuzug von außerhalb. Im ersten Falle müßte die Kindersterblichkeit sinken oder das Durchschnittsalter der Erwachsenen ansteigen. Die zweite Möglichkeit läßt sich anthropologisch nur dann fassen, wenn sich die zugewanderten Leute typologisch von den einheimischen unterscheiden. Welche der beiden Annahmen für obige Zusammenstellung zutrifft, läßt sich schlecht entscheiden. Mit der Schwierigkeit des Nachweises einer Bevölkerungszunahme entfällt ein anthropologischer Beitrag zur Klärung der Ursachen der Völkerwanderung zum mindesten für den Raum der DDR. Eine „relative" Bevölkerungszunahme bzw. Übervölkerung kann auch durch eine Einengung des Lebensraumes infolge von Klimaverschlechterung zustande kommen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß aus dem 3-/4. Jh. menschliche Skelettreste noch als Leichenbrände vorliegen. Nur ein geringer Teil davon ist anthropologisch untersucht. Unter den Kinderskeletten ist die Altersstufe infans I am stärksten ver-
EINWOHNERZAHL UND
SIEDLUNGSGRÖSSE
71
treten. Besonders das niedrige Sterbealter der Erwachsenen bringt die ungünstigen Lebensbedingungen zum Ausdruck. Das hat sich über Jahrhunderte hinweg offenbar nicht wesentlich geändert. Einige Angaben zur Konstitution und zu pathologischen Erscheinungen sind möglich. Etwa vom 4. Jh. an überwiegen die Körperbestattungen. Zur Auswertung stehen Skelettreste von mehreren tausend Individuen zur Verfügung. Anders als bei Brandbestattungen sind hier meist die Männerskelette in der Überzahl. Die Kindersterblichkeit bleibt offenbar hoch. Das Sterbealter der Erwachsenen ist mit etwa 36—38 Jahren gegenüber früheren Zeiten konstant geblieben. Es kann somit vermutet werden, daß die Lebensverhältnisse nicht besser wurden. Die Frauen wurden nicht so alt wie die Männer, ihr Sterbealter liegt um einige Jahre niedriger. Typologisch gehören die Skelette zum grobdolichomorphen Reihengräbertyp. Die Körperhöhe der Männer beträgt etwa 170 cm, die der Frauen etwa 158 cm. Stammesunterschiede ließen sich nicht ermitteln. Der Gesundheitszustand der Germanen war nicht gut. Über die Hälfte der Skelette wies von der Norm abweichende Befunde auf. Einige Schädel — meist von Frauen — sind durch Bandagierung im frühen Kindesalter artefiziell zu „Turmschädeln" verformt. Bei einer Anzahl von Gräberfeldern konnte die Einwohnerzahl der dazugehörigen Siedlungen geschätzt und z. T. eine Bevölkerungszunahme angenommen werden.
72
BEVOLKERUNGSGESCHICHTE
Tabelle l Funde A. Leichenbrände (3-/4. J h )
1 2 3 4 5 6 7 8 B
Fundort
Kreis
Individuenzahl
Autor
Möthlitz Dessau-Großkühnau Preußlitz, Ot. P l e m n i t z Großbadegast Wulfen Zauschwitz Tiäice Luce6 n. Vit.
Rathenow Dessau Bernburg Kothen Kothen Borna Stfedoöesky Melnik
3 210
H . Geisler 1962.. R . Laser i960 R . Laser i960 R . Laser i960 R . Laser i960 H . G r i m m 1969, J . Chochol 1963, J . Chochol 1970,
13 52 29 65 78 38
S. 1 1 7 - 122
S. 1 9 5 - 221 S. 4 6 5 - -466 S. 3 9 3 - 394
Körpergräber (4-/5. Jh.)
Bei einigen F u n d g r u p p e n w u r d e zur Vereinfachung der Ü b e r s i c h t n u r die Anzahl der F u n d orte oder „ m e h r e r e F . O . " angegeben. Die F u n d o r t e dieser m i t einem + gekennzeichneten Gruppen stehen a m Schluß von T a b . 1. 8 F.O.+ mehrere F.O.+ Häven Klein Teetzleben Berlin-Britz Schweiz
Bez. Halle Mecklenburg Sternberg Altentreptow Neukölln K t . Zürich
59 ca. 12 9 mehrere mehrere etwa 44
Ch. Müller (unveröffentl.) G. A s m u s 1939 b, S. 62 — 82 H . Ullrich 1970, S. 283 — 306 L. S c h o t t 1961, S. 1 1 3 — 1 1 7 H . G r i m m 1952, S. 89 — 100 C. Schneiter 1939
C. Körpergräber (5-/6. [7.] Jh.) ( F u n d o r t e der m i t einem + bezeichneten G r u p p e n a m Schluß von T a b . 1) Fundort
32 Fundorte+ 4
Kreis
Individuenzahl
Autor
Bez. Halle
170
Ch. Müller (unveröff.)
6 Fundorte "
Bez. Magdeburg
34
mehrere F.O.+
Bez. Schwerin, Neubrandenburg, Rostock
23
mehrere F.O.
Bez. E r f u r t
Mochov
okr. P r a h a - V y c h o d (CSSR)
16
J . Chochol 1958, S. 476 — 477
Samborcek
R a d o m (VR Polen)
47
L. S a r a m a 1956
e t w a 96
G. A s m u s 1939 b, S. 62 — 82
S. Fröhlich 1965
11 F.O.+
Schweiz
27
C. Schneiter 1939
Holle
Hildesheim
25
G. A s m u s 1938, S. 98 — 114
Grone
Göttingen
73
K
Rosdorf
Göttingen
22
K . Salier 1933
- Salier 1933, S. 249 — 293
73
BEVOLKERUNGSGESCHICHTE
Fortsetzung Tabelle l Fundort
Kreis
Individuen-Autor zahl
Sontheim Rheingau, mehrere F.O. Wetterau, mehrere F.O.+ Mühlthal Lorenzberg b. Epfach Weingarten Marktoberdorf Junkersdorf Schretzheim Herten Hailfingen Mannheim-Vogelstang
Heidenheim
42 93
N. Creel 1966, S. 73—103 K . Matthäus 1940, S. 155 — 162
Hessen
26
I. Schwidetzki 1961, S. 1 1 0 — 1 1 4
Wolfratshausen Landsberg a. Lech Ravensburg Ravensburg Köln Dillingen Lörrach
21
G. Ziegelmayer 1968, S. 103 — 131 G. Ziegelmayer 1964, S. 160—212
669 242 98 239 282
N. Huber 1967 R . Christlein 1966 W. Bauermeister 1967, S. 262—273 H.-W. Hitzeroth 1967, S. 96—107 F- Garscha 1970 H. Stoll 1939 F. Rösing 1975'
653 584
D. Fundorte einiger Gruppen von Funden aus 1 B, Körpergräber 4-/5- Jh. D D R (Bez. Halle) (Ch. Müller) Aisleben, Kr. Bernburg Görzig, K r . Kothen Leuna, Kr. Merseburg Nietleben, Kr. Halle Preußlitz, Ot. Plemnitz, Kr. Bernburg Sennewitz, Saalkreis Wulfen, K r . Kothen Zörbig, K r . Bitterfeld D D R (Bez. Rostock, Schwerin, Neubrandenburg) (G. Asmus) Bargensdorf, Kr. Neubrandenburg Häven, K r . Sternberg Gnoien, Kr. Teterow Alt Bartelsdorf, Kr. Rostock Barth, K r . Ribnitz-Damgarten Glutzow, Kr. Rügen Schweiz (C. Schneiter) F.O. aus dem K t . Zürich Bülach Lindenhof Dietikon Herrliberg Küsnacht Oberwenigen, 2 F.O. Ottikon-Illnau Uster Wetzikon, 2 F.O. Zürich-Wiedikon Zürich-Außersihl
74 Fortsetzung Tabelle l aus 1 C, Körpergräber 5-/6. (7.) Jh. D D R (Bez. Halle) (Ch. Müller) Allstedt, Kr. Sangerhausen Aschersleben, Kr. Aschersleben Bad Frankenhausen, Kr. Artern Belleben, Kr. Bernburg Ditfurt, Kr. Quedlinburg Eisleben, K r . Eisleben Gorsleben, K r . Artern Granschütz, Kr. Hohenmölsen Halle-Osendorf Halle-Wörmlitz Heiligenthal, K r . Hettstedt Kirchscheidungen, K r . Nebra Laucha, Kr. Nebra Leuna, Kr. Merseburg Lützen, Kr. Weißenfels Mertendorf, K r . Naumburg Naumburg, K r . Naumburg Niederholzhausen, K r . Naumburg Oberbeuna/Geusa, K r . Merseburg Obermöllern, K r . Naumburg Oberwerschen, K r . Hohenmölsen Osterhausen, K r . Querfurt Reuden, K r . Zeitz Rippach, Kr. Weißenfels Schkortleben, K r . Weißenfels Seeburg, K r . Eisleben Steinthaleben, K r . Artern Stößen, K r . Hohenmölsen Theißen, Kr. Zeitz Weißenfels, K r . Weißenfels Wilsleben, K r . Aschersleben Zorbau, Kr. Hohenmölsen
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
D D R (Bez. Erfurt) (S. Fröhlich) Weimar (Meyer-Fries-Str.) Weimar (Cranach-Str.) Oberweimar, Kr. Weimar Mühlhausen, Kr. Mühlhausen B R D (Wetterau) (I. Schwidetzki) Niedermörlen, Kr. Friedberg Dortelweil, Kr. Friedberg B a d Vilbel, Kr. Friedberg Schweiz (C. Schneiter) F.O. aus dem K t . Zürich Fahraltorf Horgen Küsnacht Opfikon Hämikon Ringlikon Schlieren Spreitenbach Thalwil _ Wädenswil Zürich-Wiedikon
D D R (Bez. Magdeburg) (Ch. Müller) Calbe/Saale, K r . Schönebeck Güsten, K r . Staßfurt K l . Ammensieben, Kr. Wolmirstedt K l . Quenstedt, K r . Halberstadt Krottorf, Kr. Oschersleben Schönebeck, K r . Schönebeck D D R (Bez. Schwerin, Neubrandenburg) (G. Asmus) Bargensdorf, Kr. Neubrandenburg Burg Stargard, K r . Neubrandenburg Häven, K r . Sternberg Bobbin, K r . Teterow Kittendorf, K r . Malchin
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
75
Tabelle 2 Altersaufbau a) Erwachsene, Einteilung in Altersklassen (Prozente beziehen sich auf die Anzahl der Männer bzw. der Frauen, Zahlen unter den Altersbezeichnungen geben das Alter der jeweiligen Stufe in Jahren an) Serie bzw. Gruppe
N
männlich
insges.
adult
matur senil
adult
matur
senil
20—40
40—60 ü b e r 60
20—40
40—60
ü b e r 60
*4 73,7
26,3
DDR, 4 . / 5 . Jh., Bez. Halle
59
DDR, 5 ./6. Jh., Bez. Halle
170
DDR, 5./6. Jh., Bez. Magdeburg
34
Daraus 4 größere Serien 115
Bez. Erfurt, mehrere F.O.
96
Schweiz, mehrere F.O.
44 77
B R D , Weingarten, Kr. Ravensburg
669
B R D , Mannheim
584
5
0 0
11
8 40
l 5
N
55
N
%
46
22
2
48
11
2
65.7
31.4
2,9
78,7
18,0
3,3
%
5 35,7
0 0
9
1
N
90
10
0 0
9 64.3
%
27
11
2
25
11
o
N
67.5
27,5
5,0
69,4
30.6
o
%
11
0 0
21
6
77,8
22,2
0 0
N
23,9 8
2
17 89,5
1
1
N
5,3
5,3
%
2
N
6,7
%
35
76,1
B R D , Sontheim, Kr. Heidenheim
weiblich
15
32,0
8,0
21
1
91,3
4,3
1 4,3
60,0
—
36,8 66
31,3
—
—
36,3 108
51,2
4 13,3
24 80,0
%
N
—
—
—
26,9
52,9
30,2
16,9
%
37 17-5
88 44
81
31 15,5
N
4,5
%
b) Nichterwachsene, Einteilung in Altersklassen (Zahlen unter den Klassen jeweils Alter in Jahren) Serie bzw. Gruppe
N
inf. I
inf. I I
juv.
0-6/7
7-14
14—18/20
5 33,3
5 33,3
N
DDR, 4-/5. Jh., Bez. Halle
15
5 33,3
DDR, 5-/6. Jh., Bez. Halle
25
11
DDR, 5-/6. Jh., Bez. Magdeburg
8
44,o
9 36,0
1
2
12,5
25,0
%
5
N
20,0
%
5
N
62,5
%
7
6
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Fortsetzung Tabelle 2 daraus 4 größere Serien
28
10 35.7
10 35.7
8 28,6
N
DDR, Bez. Erfurt
23
8 34.8 0 0
4 17.4
11 47.9
N
4 28,6
10 71.4
N
BRD, Sontheim, Kr. Heidenheim BRD, Weingarten, Kr. Ravensburg
14
% % %
119
40 33.6
37 31.1
42 35,3
N 0/ /o
BRD, Marktoberdorf, Kr. Ravensburg
39
17 43.6
12 30,8
N
BRD, Junkersdorf, Kr. Köln
38
10 26,3
10 25.7 12 31,6
6 15,8
N
BRD, Schretzheim, Kr. Dillingen
66
16 24.3
24 36,4
21 31,8
N
BRD, Herten, Kr. Lörrach
51
5 9,9
24 47- 1
22 43,1
103
38 36,9
65 63,1
N /o N
BRD, Hailfingen, Kr. Tübingen
Schädelmaße und -Índices {5.¡6. Jh., Bez. Halle) in mm
1 5 8 9 10 12 25 17 40 45 47 48 54
Mittelwerte
Maß-Nr.
männlich
weiblich
187 104,5 140 98 119 "7.5 383,5 138 97,5 132,5 117.5 72 25
178 97.5 135.5 94 113 110,5 362,5 132,5 94.5 129 113 67 24
Mittelwerte männlich
55 52,5 100 44 50 25.5 |-r.) 40 51 (1- H 52 35 60 54,5 61 64 64 13,5 120 65 70 64 32,5 71 68 75 66 102 69 32,5
%
%
%
Tabelle 3
Maß-Nr.
%
weiblich 49 97 23,5 39 33 52 60,5 12 115 58,5 31 73,2 97.5 31
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
77
Fortsetzung Tabelle 3 Index-Nr.
Mittelwerte männlich
Index-Nr. weiblich
Mittelwerte männlich
weiblich
1
74-9
76,3
2
73.9
74.8'
3 12
97.1 82,7
98,4 82,9
I48
13
70.3 84,8
71.2
l55 I 60
49,1
48,6
93.9
93.6 112,2
14
I 4 2 (l. + r.) I 46 a l54
82,8
84,2
24.7
47.4 116,2
48,7 117,8
155.3 88,9
148,8
I61
38
88,4
I 62
117.3 62,4
39 40
53,9 76,1
53.1 76,1
I63 I 64
51.1 86,0
37
Tabelle 4 Langknochenmaße Knochen
( 5 - / 6 . Jh., Bez. Halle) in mm
männlich Länge
Humerus
weiblich Umfang
Länge
Umfang
66
308
61
237
40,5
Radius
337 256
Ulna
285,5
46 40
Femur
474,5
92
Tibia
384
Fibula
372
251,5
37
85
435 360,5
81
47,5
340,5
41,5
75,5
85.1
25.7
63,8 53,6 85,0
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Tabelle 5 Metrische Differenzen der beiden Formen des Reihengräbertyps: nur männlich, nur größere Unterschiede; eingeklammerte Nummern (): Differenz statistisch nicht ganz gesichert Schädelmaße
Ia
Ib
1 8 10 (12)
177
25
185 H1.5 120 118,5 377
138,5 127.5 116,5 392
52 (1- + r.) 65 66
32,5 121,5 104
34 111 101
Indices I 1 I 2 (I12) I 62
76,1 73.9 81,6 60,5
73.6 70,4 83.5 62,6
Langknochenmaße Humerus, Länge Umfang Radius, Länge Umfang Ulna, Länge Umfang Femur, Länge Tibia, Länge
349 68 264,5 48,5 303.5 44 478 403.5
329 66 252 46 266 38 467 380
Literaturverzeichnis7 Ament, H. 1973: Archäologie des Merowingerreiches (Literaturbericht). In: 53. Ber. R G K , S. 311—312. Asmus, G. 1938: Reihengräberschädel des karolingerzeitlichen Gräberfeldes Holle, Kr. Marienburg. In: NNU 12, S. 98 — 114. — 1939a: Frühkaiserzeitliche Schädelfunde aus Mecklenburg und Pommern. In: Offa 4, S. 136—154. Bauermeister, W. 1967: Die Skelettfunde des fränkischen Gräberfeldes von Junkersdorf b. Köln. In: P. L a Baume, Das fränkische Gräberfeld von Junkersdorf b. Köln (Germ. Denkm. d. Völkerwanderungszeit, Serie B 3), Berlin, S. 262 — 273. Chochol, J. 1958: Die Skelettreste in den völkerwanderungszeitlichen Gräbern von Mochov. In: Pamätky Archeologicke 49, S. 476—477. — 1963: Anthropologische Untersuchung des Leichenbrandes auf der Begräbnisstätte aus der Römerzeit in Tiäice. In: Pamätky Archeologicke 54, S. 465—466. 7
Wenn keine Seitenzahlen angegeben sind, handelt es sich um Monographien und Dissertationen.
LITERATURVERZEICHNIS
79
Chochol, J. 1970: Menschliche Überreste aus dem römerzeitlichen Brandgräberfeld von Lufcec n. Vit. In: Pamätky Archeologickö 61, 2, S. 393—394. Christlein, R. 1966: Das alemannische Gräberfeld von Marktoberdorf im Allgäu (Materialhefte zur bayerischen Vorgesch. 21), Lassleben. Creel, N. 1966: Die Skelettreste aus dem Reihengräberfriedhof von Sontheim a. d. Brenz. In: Ch. Neuffer-Müller, Ein Reihengräberfriedhof in Sontheim Kr. Heidenheim (Veröff. d. Staatl. Amtes f. Denkmalpflege, A 11), Stuttgart, S. 73 — 103. — 1967: Die menschlichen Skelettreste von Niederstotzingen, Kr. Heidenheim. In: P. Paulsen, Alamannische Adelsgräber von Niederstotzingen, Kr. Heidenheim (Veröff. d. Staatl. Amtes f. Denkmalpflege, A 12), Stuttgart, S. 27—32. Donat, P. u. Ullrich, H. 1971: Einwohnerzahlen und Siedlungsgröße in der Merowingerzeit. In: Z f A 5, S. 234—265. Ecker, A. 1865: Crania Germaniae meridionalis occidentalis, Freiburg. Fröhlich, S. 1965: Anthropologische Untersuchung von Skeletten der Merowingerzeit aus Thüringen, Math.-nat. Diss. Jena. Garscha, F. 1970: Die Alamannen in Südbaden. Katalog der Grabfunde, Bd. 1 (Germ. Denkm. d. Völkerwanderungszeit, Serie A 11), (West-)Berlin. Geisler, H. 1962: Urnengräber des 5. Jahrhunderts aus Möthlitz, Kr. Rathenow. In: A u F 7, S. 119 — 122. Grimm, H. 1952: Über spätgermanische Skelettreste aus Berlin-Britz und Berlin-Neukölln. In: Zschr. f. Morphol. u. Anthropol. 44, S. 89—100. — 1953: Anthropologische Bemerkungen zu den Gräbern von Leuna. In: W. Schulz, Leuna, ein germanischer Bestattungsplatz der spätrömischen Kaiserzeit (Sehr. Akad. Berlin 1), Berlin, S. 74—84. — 1969: Anthropologische Untersuchung der Leichenbrandreste und einer Körperbestattung aus dem kaiserzeitlichen Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna. In: E. Meyer, Das germanische Gräberfeld von Zauschwitz, Kr. Borna, A F D , Beih. 6, S. 195 — 221. Hitzeroth, H.-W. 1967: Morphogenetische Untersuchung der Schretzheimer Reihengräber. In: Anthropologischer Anzeiger 29, S. 96—107. Huber, N. 1967: Anthropologische Untersuchung am alamannischen Reihengräberfeld von Weingarten, Kr. Ravensburg (Naturwiss. Untersuchungen zur Vor- und Frühgesch. in Württemberg u. Hohenzollern 3), Stuttgart. Kramp, P. 1939: Die bajuwarischen Reihengräberskelette vom Riegeranger in MünchenGiesing. In: Anthropologischer Anzeiger 15, S. 126—204. Kurth, G. 1965: Die Bevölkerungsgeschichte des Menschen. In: F. Gessner (Hrsg.), Handbuch der Biologie, Bd. 9, Potsdam, S. 461—574. Laser, R. i960: Die spätkaiserzeitlichen Brandgräber zwischen Saale und Fläming, Phil. Diss. Leipzig (ungedruckt). — 1965: Die Brandgräber der spätrömischen Kaiserzeit im nordlichen Mitteldeutschland. In: F V F 7, Teil I, Berlin. Matthäus, K . 1940: Fränkische Reihengräber aus dem Rheingau. In: Anthropologischer Anzeiger 17, S. 155 — 162. Müller, Ch. 1961: Das anthropologische Material zur Bevölkerungsgeschichte von Obermöllern, Kr. Naumburg. In: PZ 39, S. 115 — 143. — 1976: Zur Bevölkerung aus anthropologischer Sicht. In: Die Germanen. Gesch. und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa, Bd. 1, Berlin, S. 160—176. — Untersuchungen über den Gestaltwandel der mitteldeutschen Bevölkerung des 4. bis 10. Jahrhunderts (Manuskript). Nowothnig, W. 1964: Die Brandgräber der frühen Völkerwanderungszeit im südlichen Niedersachsen (Göttinger Sehr, zur Vor- und Frühgesch. 4), Neumünster.
8o
BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Preuschoft, H. 1965: Neue Befunde zur Anthropologie des frühen Mittelalters in Südwestdeutschland (Referat auf der 6. Tagung der Sektion Anthropologie der Biolog. Ges. d. DDR). Rösing, F. 1975: Die fränkische Bevölkerung von Mannheim-Vogelstang und die merowingerzeitlichen Germanengruppen Europas, Biol. Diss. Hamburg. Salier, K. 1933: Neue Gräberfunde aus der Provinz Hannover. In: Zschr. f. Anatomie und Entwicklungsgeschichte 103, S. 249—293. Salier, K., u. Martin, R. 1957: Lehrbuch der Anthropologie, Bd. 1 (Körperhöhenberechnung nach Pearson), Stuttgart, S. 594—595. Sarama, L. 1956: Crania et alia ossa Polonica (Materialy i Prace Anthropologiczne 7), Wroclaw. Schmidt, B., Schott, L., u. Schröder, G. 1961: Ein Frauengrab der späten Völkerwanderungszeit mit künstlich deformiertem Schädel von Sittichenbach, Kr. Querfurt. In: JmV 45, S. 247—251. Schneiter, C. 1939: Die Skelette aus den Alamannengräbern des Zürichsees, Phil. Diss. Zürich. Schott, L. 1961: Bemerkungen zur Anthropologie der Funde von Klein-Teetzleben, Kr. Altentreptow. In: JBM 1959, S. 113 — 117. Schuldt, E. 1955: Pritzier. Ein Urnenfriedhof der späten römischen Kaiserzeit (Sehr. Akad. Berlin 4), Berlin. Schwidetzki, I. 1961: Menschliche Überreste aus den fränkischen Reihengräbern der Wetterau. In: Fundber. aus Hessen 1, S. 110—114. Stoll, H. 1939: Die Alamannengräber von Hailfingen in Württemberg (Germ. Denkm. d. Völkerwanderungszeit 4), Berlin. Ullrich, H. 1970: Anthropologische Untersuchung der 1967 aus dem Gräberfeld von Häven, Kr. Sternberg, geborgenen menschlichen Skelettreste. In: JBM 1968, S. 283—306. Werner, J. 1956: Beiträge zur Archäologie des Attilareiches (Abh. d. Phil.-hist. Kl. d. Bayer. Akad. d. Wiss. N. F. 38 A und B), München, S. 5 — 18. Ziegelmayer, G. 1964: Die menschlichen Skelette aus den Grabungen 1953 —1957 auf dem Lorenzberg bei Epfach. In.: J. Werner (Hrsg.), Studien zu Abodiacum-Epfach (Münchener Beitr. z. Vor- u. Frühgesch. 7), München, S. 160—212. — 1968: Die menschlichen Skelette vom Friedhof bei der frühmittelalterlichen Kirche von Mühlthal. In: H. Dannheimer, Epolding-Mühlthal (Münchener Beitr. z. Vor- u. Frühgesch. 13), München, S. 103 — 131.
Tafel 1. Münzbilder der regierenden Kaiser, a) Pertinax (Aureus), b) Didius Julianus (Sesterz). c) Septimius Severus (Sesterz). d) Pescennius Niger (Aureus), e) Clodius Albinus (Sesterz). f) Caracalla (Sesterz). g) Severus Alexander (Denar), h) Maximinus (Aureus), i) Gordianus III. (Aureus), j) Philippus I. (Aureus), k) Decius (Aureus). 1) Trebonianus Gallus (Aureus), m) Aemilianus (Antoninian). n) Valerianus (Aureus), o) Gallienus (Aureus), oo) Antoninian (Rückseite) des Gallienus. Um 258. Dargestellt ist ein mit Waffen und Rüstungsteilen behängtes Siegeszeichen (Tropaion), unter dem zwei gefangene Germanen mit auf den Rücken gebundenen Händen sitzen. Umschrift: G E R M A N I C V S M A X II. Etwa 2 : 1 . p) Postumus (Aureus), q) Laelianus (Aureus), r) Marius (Antoninian). s) Victorinus (Aureus), t) Tetricus (Aureus) von Yieritz, Kr. Rathenow, u) Claudius II. (Aureus), v) Aurelianus (Aureus), w) Probus (Aureus), x) Carus (Aureus), y) Diocletianus (Aureus), z) Maximianus (Aureus). 4:5. Sämtliche, bis auf t (Mus. Potsdam), Münzkabinett Berlin. (Zu Kap. III.)
Tafel 2. a) Importbeigaben aus dem Adelsgrab (2, 1 9 1 7 ) von Leuna, K r . Merseburg, b) Bronzenes Ausgußbecken mit verziertem Halbdeckel von Grieben, Kr. Stendal. Mus. Halle (a); Mus. Tangermünde (b). E t w a 1 : 4 . (Zu K a p . III.)
Tafel 3. a) „Hemmoorer E i m e r " (Messing) mit verziertem Randfries aus einem Körpergrab des späten 3. J h . von Häven, K r . Sternberg (Mecklenburg). E t w a 1 : 2 . b) Bronzeteller mit gegossenem Standring und verzinnter Innenfläche. Aus reichem Adelsgrab (3, 1926) von Leuna, K r . Merseburg. Spätes 3. J h . 1 : 2 . Mus. Schwerin (a); Mus. Halle (b). (Zu K a p . III.)
Tafel 4. Völkerwanderungszeitliche männliche Schädel von Mertendorf, Ot. Rathewitz, Kr. Naumburg. Mus. Halle. (Zu Kap. IV.)
Tafel 6. Achseindrücke einer Drehscheibe auf Gefäßresten des 4. J h . von Schweinitz, K r . Jessen (a). Mit Einglättmustern verzierte Drehscheibenschale des 6. J h . von Obermöllern, K r . Naumburg (b). 1 : 2 . Mus. Potsdam (a); Mus. Halle (b). (Zu K a p . V.)
Tafel 7. Produktionsstellen f ü r Eisenerzeugung und Eisenverarbeitung, a) Rennofenreste aus Merzdorf, K r . Hoyerswerda (nach Archäologische Denkmale und Funde 1979, S. 9 D). b) Sog. Ausheizherde des 4. J h . von Waltersdorf, K r . Königs Wusterhausen. Mus. Potsdam (a); Z I A G A (b). (Zu K a p . V.)
Tafel 8. Holzgegenstände aus Oberflacht, Kr. Tuttlingen, und Sutton Hoo (Südengland) (nach P. Paulsen u. H. Schach-Dörges 1972, Abb. 6 u. 71). a) Leuchter. 1 : 3 . Mus. Stuttgart, b) Rekonstruierte Leier von Sutton Hoo. 1 : 5 . c) Rekonstruiertes Kistenbett. E t w a 1 : 2 0 . (Zu Kap. V.)
V.
Grundlagen
der wirtschaftlichen
Entwicklung
Die Gestaltung der Siedlungsstruktur ist ein wichtiges Kennzeichen für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungszustand. Ihre Erforschung wird von zwei Seiten her betrieben, indem zum einen aus den Befunden von Siedlungsgrabungen Schlüsse auf den Aufbau und die innere Struktur des Einzelortes gezogen werden, zum anderen aber aus der Gesamtheit aller Siedlungsnachweise (zu denen z. B. auch Gräberfelder und Ortsnamen gehören) die regionale Siedlungsstruktur einzelner Landschaften sichtbar gemacht wird. Die Verschiedenartigkeit der Quellenbasis hat auch zu einer unterschiedlichen Kenntnis der beiden Problemkreise geführt. Während in bezug auf die Einzelsiedlung die weitaus meisten Befunde aus dem 3-/4. Jh. stammen, ist dieser Zeitraum hinsichtlich seiner regionalen Siedlungsstruktur noch kaum erforscht. Vielmehr ist diese erst nach der Bevölkerungskonsolidierung in den einzelnen Stammesgebieten etwa seit dem 5. Jh. faßbar. Zudem muß hier das 7. Jh. noch in die Untersuchung einbezogen werden, weil Entwicklungstendenzen im Siedlungsablauf der vorhergehenden Zeit in vielen Fällen erst in dieser Zeit erkennbar werden und erklärlich sind.
1.
Hausbau und
Siedlung
Die aus den ersten Jahrhunderten u. Z. bekannten Hausformen bestimmten auch in der Folgezeit das Bild der Siedlungen. Im 2 . - 5 . Jh. war ebenfalls das Wohnstallhaus im größten Teil des germanischen Siedlungsgebietes verbreitet 1 und kann deshalb als die bevorzugte germanische Hausform bezeichnet werden. Nach wie vor treten die Wohnstallhäuser im norddeutsch-niederländischen Flachland auf, südlich dieser Zone dominierte das relativ kurze, rechteckige Firstpfostenhaus. Teils standen bei letzterem innerhalb des Hauses starke Firstträger, teils hat man abgefangene Firststiele eingesetzt, wie die Befunde von Düsseldorf-Stockum, Gemenrückling, Kr. Borken, Recklinghausen (Abb. 10a) und Rhade, Kr. Recklinghausen, zeigten (B. Trier 1969, S. 5iff.). Dank dieser Bauweise konnte der Innenraum von störenden Pfosten freigehalten wer1
6
Die Ausweitung der Siedlungstätigkeit hatte zur Verbreitung dieser Hausform im gesamten skandinavischen Raum geführt, wobei sich allerdings konstruktive Besonderheiten herausbildeten. Gleiches gilt für England, wo sich als Folge der germanischen Landnahme ebenfalls Wohnstallhäuser verbreiteten. Germanen — Bd. 2
83
HAUSBAU UND SIEDLUNG
den. Die kurzrechteckigen Firstpfostenhäuser sind wahrscheinlich auch von den nach Südwesten vordringenden Alamannen bevorzugt worden.2 Hingegen vollzog sich in den östlichen Siedlungsgebieten eine relativ eigenständige Entwicklung. In der Niederlausitz und dem mittleren Odergebiet gab es als Wohnhäuser teils große Firstbauten, teils etwa mittelgroße Bauten mit ovalem Abschluß an einer Schmalseite (A. Leube 1975, S. 18). Abmessungen und einige Details des Innenraumes rücken die großen Gebäude in die Nähe der Wohnstallhäuser (D. Warnke 1973, S. 142ff.). Da in Kablow, Kr. Königs Wusterhausen, sichere dreischiffige Wohnstallhäuser und diese Großbauten (Abb. 10b) auf einer Fundstelle nebeneinander gefunden wurden, stellen die zweischiffigen Bauten vermutlich eine spezifische Variante des Wohnstallhauses dar. Parallelen wurden in der V R Polen bei Wolka Lasiecka, pow. Lowicz, und Lubieszewo, pow. Gryfice, gefunden. Demnach gab es in Mitteleuropa während der jüngeren Kaiserzeit — wie vorher auch schon — drei Regionen mit unterschiedlichen Formen des Wohnhauses. Diese Kontinuität zeigte sich auch in vielen Details der einzelnen Hausformen, wie besonders gut am Beispiel des dreischiffigen Wohnstallhauses demonstriert werden kann. In der Konstruktion des Pfostengerüstes, der Aufteilung des Innenraumes, aber auch in den Einzelheiten der zimmermannstechnischen Ausführung gab es zwischen älteren und jüngeren Häusern weitgehende Übereinstimmung. Zugleich bahnten sich in einzelnen Elementen Neuerungen an, die offenbar aus fortgeschrittenen wirtschaftlichen Anforderungen heraus entstanden. Beispielsweise wurden die Häuser allmählich breiter. Seit alters her waren die Wohnstallhäuser mindestens 5 m breit, weil nur dann zwei Reihen Tierboxen und der Mittelgang Platz fanden. Andererseits hatte man sie höchstens — und das war schon selten — 7 m breit gebaut, da sonst zu große technische Schwierigkeiten für die Konstruktion des Daches entstanden. In der jüngeren Kaiserzeit nun wurde die obere Grenze von 7 m fast immer erreicht und sogar etwas überschritten.3 Das erleichterte die tägliche Viehpflege, verbesserte die Arbeitsbedingungen und brachte letztlich eine höhere Produktivität. Noch deutlicher spiegelt der große hallenartige Bau von Westick, Kr. Unna, diese Entwicklung wider. Hier waren die Innenpfosten nahe der Außenwand eingesetzt worden, um den freien Innenraum zu vergrößern. Allerdings hatte man die Pfosten schräg eingraben müssen, und sie trugen, wie üblich, in Dachhöhe einen Quer2
Mittelgroße Pfostenhäuser des 3. — 5. Jh. wurden in Forchtenberg, Kr. Öhringen, nachgewiesen (frdl. Mitteilung durch M. Schulze, Mainz).
3
Genannt seien folgende Beispiele: Dalfsen, Prov. Overijssel (8,0 m); Milte, Kr. Warendorf (6,5 m); Gristede, Kr. Ammerland (6,8 m); Paddepoel, Prov. Groningen (8,0 m); Westick, Kr. Unna (7,5 m). Natürlich gab es weiterhin auch schmalere Bauten. Insbesondere in den großflächig ausgegrabenen Siedlungen von Wijster (W. A. van E s 1967); Odoorn (H. T . Waterbolk
1973); Feddersen Wierde (W. Haarnagel
1963;
1977) und Flögeln (W. H.
Zimmermann 1978, S. 363 ff.) fanden sich schmalere und breitere Häuser nebeneinander.
Abb. 10. Grundrisse und Rekonstruktionszeichnungen kaiserzeitlicher Häuser, a) Haus von Recklinghausen-Hochlarmark (nach R. Stampfuß 1959, Taf. 32). b) Wohnstallhaus von Kablow, Kr. Königs Wusterhausen (nach G. Behm-Blancke 1958, Abb. 76). c) Waltersdorf, Kr. Königs Wusterhausen. Mögliche Rekonstruktion eines Grubenhauses aus dem 4. Jh. 6*
84
WIRTSCHAFT
balken, auf dem ein kurzer Firststiel saß. Damit zeigte sich in Westick ein erster Versuch, zu stützenlosen, freien Innenräumen überzugehen (B. Trier 1969, S. 131). Mit Ausnahme des friesischen Nordseeküstengebietes sind die Wohnstallhäuser mit innerem Pfostengerüst im 6 . - 7 . Jh. von anderen Bauformen abgelöst worden. Beispielhaft zeigt das die Siedlung Odoorn, Prov. Drenthe, die vom 5. —10. Jh. bestand (T. H. Waterbolk 1973). Die ältesten Häuser hatten nahe der Innenwand noch senkrechte Stützpfosten. In der weiteren Entwicklung ging man dann zu Häusern mit Sparrendach über. Bei ihnen waren an der Außenwand kurze schräge Pfosten eingesetzt worden, um den oberen Wandbalken abzustützen. Im Inneren des Hauses waren nun keine Pfosten mehr nötig. Gleichartige Häuser sind auf vielen frühmittelalterlichen Siedlungen beobachtet worden.4 Eine weitere Neuerung brachte die Vergrößerung der Viehbestände mit sich. Die Mehrzahl der spätkaiserzeitlichen Wohnstallhäuser besaß größere Stallteile und hatte entsprechend mehr Stallplätze (P. Donat 1977, S. 254!). Auf der Feddersen Wierde, Kr. Wesermünde, zeigt die Entwicklung des sog. Herrenhofes (Abb. 11a) aber auch gegenteilige Auswirkungen. Hier nahm die Zahl der kleinen Häuser von wahrscheinlich abhängigen Bewohnern im Laufe der 2eit zu. Ähnliche Beobachtungen wurden auch in Wijster gemacht (W. A. van Es 1967, Abb. 180). Andererseits gab es auffallend große Stallteile fast nur bei spätkaiserzeitlichen Häusern. Und selbst in Flögeln, Kr. Wesermünde, wo die Gesamtzahl der Stallplätze im Rahmen des üblichen blieb, konnte im Laufe der Jahrhunderte eine deutliche Zunahme festgestellt werden (P. Schmid u. W. H. Zimmermann 1976, S. 35). Ein Anwachsen des Viehbestandes und damit der Produktivität landwirtschaftlicher Arbeit ist also zumindest tendenziell festzustellen. Wiederum ließ die Siedlung Odoorn die Richtung der weiteren Entwicklung erkennen. Im 6. Jh. begann man dort vereinzelt, neben dem Wohnstallhaus einen zweiten, separaten Stall zu bauen. Die allgemeine Vergrößerung der Viehbestände führte dann bei den meisten germanischen Stämmen schnell zur Trennung von Stall und Wohnhaus (P. Donat 1980, S. 70ff.). Nur bei den Friesen wurde das Wohnstallhaus weiterhin genutzt und auch technisch vervollkommnet. Hier liegt eine Voraussetzung dafür, daß sich im hohen Mittelalter die Häuser vom Typ des Wohnstallhauses erneut ausbreiten konnten und — in zwar unterschiedlichen technischen und architektonischen Lösungen — nahezu im gesamten norddeutschen Flachland angewandt wurden. Während der jüngeren Kaiserzeit wurden jedoch nicht nur in der Viehzucht, sondern auch im Feldbau erkennbare Fortschritte erreicht, wie sich besonders deutlich an der Zahl der Speicherbauten ablesen läßt. Bis zum 2. Jh. befand sich fast neben jedem Haus ein Speicher. Bei nur 6 bis 8 m 2 Grundfläche zeigten z. B. die dicht gestellten, starken Pfosten, daß sie zu gestelzten Speicherbauten gehörten (Bd. 1, Abb. 70). Aus der jüngeren Kaiserzeit sind die Befunde differenzierter. In Wijster beispielsweise fanden sich in den jüngsten Siedlungsphasen des 4 . - 5 . Jh. bei vielen Wohnstallhäusern zwei bis drei in einer Reihe angeordnete Speicher. Sie wurden offenbar zu gleicher Zeit genutzt und können als Anzeichen für höhere Ernteerträge gewertet werden. Bemerkenswerterweise erhöhte sich die Speicherzahl bei dem großen Gehöftkomplex, der den 4
Diese sog. Häuser mit schrägen Außenpfosten wurden zuerst in der Siedlung Warendorf (8. Jh) beobachtet. Sie bestimmten vom 6. bis 9. Jh. den Hausbau im Gebiet zwischenEms und Niederrhein (vgl. dazu P. Donat 1980, S. 11 ff.).
HAUSBAU UND SIEDLUNG
85
Herrenhöfen vom Typ Feddersen Wierde zugerechnet werden kann, noch stärker als bei den übrigen Wohnstallhäusern (W. A. van Es 1967, S. 375f.; Plan 7). Zahlreiche Speicher wurden auch in der spätkaiserzeitlichen Siedlung Tornow, Kr. Calau, beobachtet (Abb. 11b). Demgegenüber sind in Flögeln, Odoorn und anderen Siedlungen weit weniger Speicher gefunden worden. Wahrscheinlich wurden bei günstigen Bodenverhältnissen auch sorgfältig ausgekleidete Gruben zur Lagerung von Getreide verwendet. Dennoch scheint die Anzahl der Speicher sowohl landschaftsbedingte als auch ökonomische Unterschiede widerzuspiegeln. In Wijster konnte man vereinzelt einfache Schuppen beobachten, die möglicherweise zur Lagerung von Futtervorräten gedient haben. Sicher ist das bei sechseckigen Heubergen mit'starkem Mittelpfosten. Sie wurden erstmals in einer völkerwanderungszeitlichen Siedlung von Bremen, in Siedlungen der nachfolgenden Jahrhunderte jedoch mehrfach nachgewiesen. Scheunen, möglicherweise ohne feste Wände, und offene Bergegestelle waren neue Elemente im bäuerlichen Hausbau. Allgemeine Verbreitung erlangten sie in den nachfolgenden Jahrhunderten. Wo immer es die Bodenbedingungen zuließen, baute man Grubenhäuser (Abb. 10 c). Auch sie gehörten zu den Nebengebäuden5 und waren durchschnittlich 10—12 m 2 groß. Die Wände reichten etwa 0,5 — 1,0 m in die Erde; damit ragte der größere Teil dieser Häuser über die Erde hinaus. Grubenhäuser besaßen stets rechteckigen Grundriß. In der Mitte der Schmalseite standen Firstpfosten, häufig fanden sich außerdem Eckpfosten. Stabile Flechtwerkwände konnten die Dachlast sogar dann tragen, wenn das Haus lediglich Giebelpfosten besaß. Vereinzelt konnten Türen und leiterartige Einstiege oder schräge Eingangsrampen nachgewiesen werden. Häufig fanden sich in den Grubenhäusern Webgewichte, seltener daneben die Standspuren hölzerner Webstühle. Andere Einrichtungsgegenstände ließen sich kaum beobachten, insbesondere fehlen in der Regel Herdstellen. Bereits von Plinius d. Ä. (ig, 2.9) wurde bezeugt, daß die eingetieften Bauten als Webhäuser dienten, und daran hat sich bis zum Mittelalter wenig geändert (P. Donat 1980, S. 90f.). Lediglich in ostgermanischen Siedlungen der späten Kaiserzeit wurden teilweise Herdanlagen in Grubenhäusern nachgewiesen; bezeichnenderweise fehlten dann Webgewichte. 6 In der jüngeren Kaiserzeit waren nach dem derzeitigen Kenntnisstand also mehrteilige bäuerliche Gehöfte charakteristisch. Nach wie vor stand im Mittelpunkt das Wohnhaus, meist in der besonderen Form des Wohnstallhauses. Dazu kamen Speicher und Grubenhäuser. Gehörten noch am Ende des 2. Jh. zu einem Gehöft durchschnittlich je ein Speicher und ein Grubenhaus, so hat sich deren Zahl zum 5. Jh. hin tendenziell erhöht. Etwa zur gleichen Zeit begann man, selbständige Stallanlagen, einfache Scheunen oder Schuppen und Heubergen zu errichten. Selbstverständlich gab es außerdem Brunnen und unterschiedliche Gruben, die z. T. Reste von Schmelzöfen, Brenngruben u. ä. waren. In den Siedlungen fanden sich Hinweise auf handwerkliche Produktion. Vielfach lagen die Produktionsanlagen innerhalb der bäuerlichen Gehöfte und 5
6
Zur Theorie der sog. völkerwanderungszeitlichen Grubenhaussiedlungen vgl. die ausführliche Widerlegung durch B . Trier (1969, S. 37 ff.). Entsprechende Beobachtungen liegen vor von Fichtenau, Kr. Fürstenwalde; Kliestow, Ot. von Frankfurt/Oder; Wüste Kunersdorf, K r . Seelow; Kablow und Waltersdorf, K r . Königs Wusterhausen, sowie von Tornow, K r . Calau (vgl. A. Leube 1971, S. 57 ff.; D. Warnke 1973, S. i 4 9 f f . ; J. Herrmann 1973, S. 370ff.).
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WIRTSCHAFT
a
HAUSBAU UND
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SIEDLUNG
J
V O
' ,•' b
a = Wohnhaus b = große,ebenerdige Nebengebäude (Ställe?) c = kleine,ebenerdige Nebengebäude (Speicher, Schuppen?) d = Grubenhäuser H = Herdstellen 20 m
A b b . 11. Siedlungsgrundrisse des 2 . - 3 . Jh. a) Feddersen Wierde, K r . Wesermünde. Rechts unten der K o m p l e x des vermutlichen Herrenhofes mit W e r k s t a t t z e n t r u m (nach W . Haarnagel 1979. Beilage 28). b) Tornow, K r . Calau (nach D. W a r n k e 1973, S. 121).
88
WIRTSCHAFT
belegen so die Fortdauer selbstgenügender Wirtschaftsweise. Im Verlaufe der jüngeren Kaiserzeit haben sich darüber hinaus spezialisierte Handwerkersiedlungen entwickelt. In Westerholz, Kr. Rotenburg, und in Hemsen, Kr. Meppen, konnten in den letzten Jahren Produktionsplätze spezialisierter Eisenhandwerker untersucht werden.7 Reihen von Schmelzöfen und Ausheizherden belegen, daß hier Eisen erzeugt und zumindest zu Halbfabrikaten verarbeitet wurde. Die beiden letztgenannten Siedlungen lagen im Verbreitungsgebiet der Wohnstallhäuser. Es ist bezeichnend, daß bei ihnen wesentlich kleinere und konstruktiv abweichende Häuser gebaut wurden. Die Entwicklung der Produktivkräfte bei allen germanischen Stämmen seit dem 2. Jh. spiegelt sich also auch in den Siedlungsbefunden wider. Sie lassen wachsende Erträge im Feldbau, die Zunahme des Viehbestandes und die Ausweitung handwerklicher Produktion erkennen. Siedlungen wie Wijster, Flögeln (Abb. 12), Gristede und Qdoorn machen deutlich, wie sich seit dem 2-/3. Jh. allgemein die Abgrenzung und Einzäunung der Gehöfte durchsetzte. Einzäunungen des Hoflandes sind — nach den später überlieferten Volksrechten — ein Hinweis auf privates Eigentum, das sich auf Dauer kaum allein auf das Hofgrundstück erstreckt haben kann. Vielmehr erhalten wir damit Einblick in die allmähliche Entstehung des privaten Eigentums am Ackerland, das sich bei allen Stämmen nach dem 2. Jh. herausgebildet zu haben scheint, auch wenn die Rechtsprechung noch das gemeinschaftliche Bodeneigentum kannte. Als Folge der privaten Aneignung des Bodens vertiefte sich die sozialökonomische Differenzierung bei den germanischen Stämmen (F. Engels 1962, S. 476 ff.). Siedlungsgrabungen gaben aber bisher nur geringen Einblick in die soziale und ökonomische Entwicklung des Adels. Bereits herausgehobene Gehöfte sind, wie in der älteren Kaiserzeit, nur selten nachgewiesen worden. In Wijster und Kablow gehörten sie offenbar einem „Dorfvorsteher", der den überdurchschnittlich großen Wirtschaftshof selbst leitete. Es darf aber bezweifelt werden, daß solche führenden Personen, wie sie uns im späten 3. Jh. in den Gräbern von Haßleben, Kr. Erfurt, und Leuna, Kr. Merseburg, und im 5. Jh. in den Grabfunden mit Goldgriffspatha begegnen, auf derartigen Höfen lebten. Vielmehr muß damit gerechnet werden, daß sie ihr Eigentum bereits von Angehörigen ihres Gefolges verwalten ließen und sich selbst aus der direkten Leitung und Teilnahme, an der Produktion herausgelöst hatten. Allerdings erlaubt der gegenwärtige Forschungsstand nicht, Wohn- und Lebensweise der führenden Stammesadligen näher zu beschreiben.8 Wesentlich deutlicher lassen archäologische Forschungen die zunehmende sozialökonomische Differenzierung erkennen, die in jener Zeit unter den bäuerlichen Produzenten eingesetzt hatte. Verschiedentlich ist zunächst auf einem Hofplatz ein zweites oder sogar drittes Wohnhaus errichtet worden. In Feddersen Wierde und Flögeln gab es zwischen zeitgleichen Wohnhäusern recht beträchtliche Größenunterschiede. Vermutlich gehen sie auf Erbteilung zurück; sie zeigen aber in jedem Fall ökonomische Ungleichheit an. Weil erst in den letzten Jahrzehnten in breiterem Umfang großflächige Untersuchungen in Dorfsiedlungen vorgenommen werden konnten, läßt sich dieser Prozeß noch nicht in allen seinen Etappen überblicken. Besser belegt ist dagegen sein 7 8
R. Dehnke 1970; E. Schlicht 1969. Offenbleibt auch, inwieweit vor allem bei Franken und Alamannen der Adel bereits im 3. bis 5. Jh. eigene, befestigte Siedlungen besaß.
Abb. 12. Flögeln, Kr. Wesermünde. Hofkomplex C (2. bis 3. Jh.). a) 1. Siedlungsstadium, b) 3. Siedlungsstadium (nach P. Schmid 1977, Abb. 4 u. 6).
9o
WIRTSCHAFT
Resultat. Bis zum 6.¡y. Jh. hatten sich bei den germanischen Stämmen rechts des Rheins sehr unterschiedliche Besitzverhältnisse herausgebildet. In Odoorn, Sleen und anderen Fundstellen fand man relativ bescheidene Hofanlagen. Zwar konnte die eingezäunte Fläche mehrere tausend Quadratmeter groß sein, doch standen darauf in der Regel nur das Wohnhaus, nicht selten noch in der traditionellen Form des Wohnstallhauses, sowie nicht mehr als ein bis zwei Grubenhäuser, ein kleiner Schuppen und gelegentlich ein kleines Stallgebäude. Erheblich umfangreicher war der Baubestand bereits in der fränkischen Siedlung von Gladbach, Kr. Neuwied. Zu einem mittelgroßen Wohnhaus gehörten Stall oder Scheune, kleinere Schuppen und zahlreiche Grubenhäuser, von denen ein Teil als Vorratsgebäude gedient hat. Doch selbst diese Siedlung repräsentierte nur ein mittleres Niveau. Die allerdings ins 8. Jh. datierte Siedlung von Warendorf, Westfalen (W. Winkelmann 1958), zeigte in seltener Klarheit, daß es darüber hinaus Großgehöfte mit repräsentativen Bauten und mehr als 10000 m 2 Grundfläche gab. Sie wurden nicht mehr allein von der Familie des Hofbesitzers bewirtschaftet, sondern benötigten abhängige Arbeitskräfte. Eine Teilgrabung von Kirchheim, Kr. München, belegte diese Großgehöfte bereits für das 6./y. Jh. Das Besondere dieser Siedlung bildeten massive Scheunen und kleine, ebenfalls sorgfältig gebaute Wohnhäuser von servi. Daneben gab es die üblichen Grubenhäuser, Schuppen und Speicher. Bis zum 6. J h . hatte sich also eine tiefgreifende soziale Differenzierung der bäuerlichen Hofbesitzer herausgebildet. Die ökonomisch stärkste Gruppe verfügte über beträchtlichen Grundbesitz und über abhängige Arbeitskräfte (P. Donat 1980, S. gaff.); sie war offenbar auch zahlenmäßig stark. Dennoch darf man sie nicht dem Adel zurechnen, wie die Siedlungsbefunde und insbesondere auch die Gräberfelder erkennen lassen. Reiche Waffengräber mit zahlreichen Beigaben, mit Glas- und Bronzegefäßen und die dazugehörigen Frauenbestattungen mit goldenen Scheibenfibeln, Ohrringen und anderem wertvollem Schmuck kennzeichnen eine herausgehobene bäuerliche Schicht (R. Christlein 1973, S. 127ff.). Innerhalb der Dorffriedhöfe nehmen diese Toten oft eine zentrale Stellung ein, die wohl ihrem gesellschaftlichen Platz entsprochen haben dürfte.
2.
Zur Siedlungsentwicklung des 5.-7. in den Stammesgebieten
Jahrhunderts
Bei der Erforschung der regionalen Siedlungsstruktur sind vor allem die Besiedlungsintensität in den Stammesgebieten, das Alter der Besiedlung in den einzelnen Landschaften sowie die Größe und Struktur des einzelnen Ortes zu berücksichtigen. Zur Besiedlungsintensität lassen sich nur allgemeine Aussagen machen. Sie gehen davon aus, daß die bekannte Fundplatzdichte in großen Zügen der Siedlungsdichte eines bestimmten Zeitraumes proportional ist. 9 Sie reichen jedoch für erste Hinweise auf den Siedlungscharakter in den verschiedenen Gebieten aus und geben außerdem Vorstellungen von der (relativen) Bevölkerungsstärke in den einzelnen Stammesgebieten. Bei der Behandlung der Siedlungsentwicklung in den einzelnen Landschaften ist zu 9
Zu den methodischen Grundlagen dieses Verfahrens vgl. E . Gringmuth-Dallmer 1972, wo auf Abb. 1 eine Funddichtekarte für das 5. bis 7. Jh. auf dem Gebiet der D D R und der B R D vorgelegt wurde. Die im folgenden erwähnten Angaben zur Siedlungsdichte beziehen sich alle auf diese Arbeit.
9o
WIRTSCHAFT
Resultat. Bis zum 6.¡y. Jh. hatten sich bei den germanischen Stämmen rechts des Rheins sehr unterschiedliche Besitzverhältnisse herausgebildet. In Odoorn, Sleen und anderen Fundstellen fand man relativ bescheidene Hofanlagen. Zwar konnte die eingezäunte Fläche mehrere tausend Quadratmeter groß sein, doch standen darauf in der Regel nur das Wohnhaus, nicht selten noch in der traditionellen Form des Wohnstallhauses, sowie nicht mehr als ein bis zwei Grubenhäuser, ein kleiner Schuppen und gelegentlich ein kleines Stallgebäude. Erheblich umfangreicher war der Baubestand bereits in der fränkischen Siedlung von Gladbach, Kr. Neuwied. Zu einem mittelgroßen Wohnhaus gehörten Stall oder Scheune, kleinere Schuppen und zahlreiche Grubenhäuser, von denen ein Teil als Vorratsgebäude gedient hat. Doch selbst diese Siedlung repräsentierte nur ein mittleres Niveau. Die allerdings ins 8. Jh. datierte Siedlung von Warendorf, Westfalen (W. Winkelmann 1958), zeigte in seltener Klarheit, daß es darüber hinaus Großgehöfte mit repräsentativen Bauten und mehr als 10000 m 2 Grundfläche gab. Sie wurden nicht mehr allein von der Familie des Hofbesitzers bewirtschaftet, sondern benötigten abhängige Arbeitskräfte. Eine Teilgrabung von Kirchheim, Kr. München, belegte diese Großgehöfte bereits für das 6./y. Jh. Das Besondere dieser Siedlung bildeten massive Scheunen und kleine, ebenfalls sorgfältig gebaute Wohnhäuser von servi. Daneben gab es die üblichen Grubenhäuser, Schuppen und Speicher. Bis zum 6. J h . hatte sich also eine tiefgreifende soziale Differenzierung der bäuerlichen Hofbesitzer herausgebildet. Die ökonomisch stärkste Gruppe verfügte über beträchtlichen Grundbesitz und über abhängige Arbeitskräfte (P. Donat 1980, S. gaff.); sie war offenbar auch zahlenmäßig stark. Dennoch darf man sie nicht dem Adel zurechnen, wie die Siedlungsbefunde und insbesondere auch die Gräberfelder erkennen lassen. Reiche Waffengräber mit zahlreichen Beigaben, mit Glas- und Bronzegefäßen und die dazugehörigen Frauenbestattungen mit goldenen Scheibenfibeln, Ohrringen und anderem wertvollem Schmuck kennzeichnen eine herausgehobene bäuerliche Schicht (R. Christlein 1973, S. 127ff.). Innerhalb der Dorffriedhöfe nehmen diese Toten oft eine zentrale Stellung ein, die wohl ihrem gesellschaftlichen Platz entsprochen haben dürfte.
2.
Zur Siedlungsentwicklung des 5.-7. in den Stammesgebieten
Jahrhunderts
Bei der Erforschung der regionalen Siedlungsstruktur sind vor allem die Besiedlungsintensität in den Stammesgebieten, das Alter der Besiedlung in den einzelnen Landschaften sowie die Größe und Struktur des einzelnen Ortes zu berücksichtigen. Zur Besiedlungsintensität lassen sich nur allgemeine Aussagen machen. Sie gehen davon aus, daß die bekannte Fundplatzdichte in großen Zügen der Siedlungsdichte eines bestimmten Zeitraumes proportional ist. 9 Sie reichen jedoch für erste Hinweise auf den Siedlungscharakter in den verschiedenen Gebieten aus und geben außerdem Vorstellungen von der (relativen) Bevölkerungsstärke in den einzelnen Stammesgebieten. Bei der Behandlung der Siedlungsentwicklung in den einzelnen Landschaften ist zu 9
Zu den methodischen Grundlagen dieses Verfahrens vgl. E . Gringmuth-Dallmer 1972, wo auf Abb. 1 eine Funddichtekarte für das 5. bis 7. Jh. auf dem Gebiet der D D R und der B R D vorgelegt wurde. Die im folgenden erwähnten Angaben zur Siedlungsdichte beziehen sich alle auf diese Arbeit.
S I E D L U N G S E N T W I C K L U N G 5 . — 7 . JH.
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klären, ob die Besiedlung an die vorhergehenden Siedlungsgebiete anknüpfte, ob die Erschließung einer Landschaft flächenhaft oder punktuell vor sich ging, ob sich ein Landesausbau vollzog oder ob sich auch Wüstungsphasen nachweisen lassen.10 Der dritte Problemkreis schließlich befaßt sich mit der eigentlichen Siedlungsstruktur, indem er die Herausarbeitung von Siedlungstypen (Einzelhöfen, Weilern oder Dörfern 11 ) versucht- und die Beziehungen dieser Typen zueinander verfolgt. Auf Grund des ungleichen Forschungsstandes können nur ausgewählte Landschaften berücksichtigt werden. Durch die oben erwähnte Notwendigkeit einer Einbeziehung des 7. Jh. ergibt sich hierbei jedoch eine Schwierigkeit, die im Forschungsstand begründet ist: Die Chronologie der späten Völkerwanderungszeit im Untersuchungsgebiet beruht nach wie vor auf dem Schema, das K. Böhner (1958) in Abänderung der Einteilung von J. Werner (1935) ausgearbeitet hat. In letzter Zeit mehren sich Anzeichen, die eine Korrektur dieser Gliederung verlangen, 12 ohne daß bereits eine allgemein anwendbare neue Einteilung aufgestellt wäre. Die Kritik richtet sich vor allem gegen eine zu starke Inanspruchnahme des 7. Jh., dessen reiche Bestattungen leichter erkennbar sind als die aus der davorliegenden Zeit. Man muß deshalb vermuten, daß eine größere Anzahl ins 7. Jh. datierter Bestattungsplätze bereits im 6. Jh. einsetzt. Da jedoch eine großräumige Verfolgung der Siedlungsentwicklung eine vollständige Berücksichtigung aller Fundplätze der herangezogenen Gebiete zur Voraussetzung hat, ein einheitliches Chronologiesystem aber noch nicht vorliegt und viele der herangezogenen Arbeiten ohnehin kein Material abbilden, muß im folgenden das unkorrigierte Böhnersche System zugrunde gelegt werden. Es ist allerdings sicher, daß die fälligen Umdatierungen nicht ein solches Ausmaß annehmen werden, daß die herausgearbeiteten Grundtendenzen dadurch in Zweifel zu ziehen wären. Vielmehr ist lediglich damit zu rechnen, daß sich der im 7. Jh. abzeichnende, z. T. außerordentlich starke Zuwachs etwas vermindert und somit der Landesausbau einen etwas geringeren Umfang aufgewiesen hat, als es bisher erscheint. Der häufig gebrauchte Begriff des Landesausbaus bedeutet die Erschließung neuer Siedlungs- und Wirtschaftsräume und läßt sich in einen inneren und einen äußeren Vorgang untergliedern. Während der innere Landesausbau unmittelbar von den bestehenden Siedlungen ausgeht und sich in deren Vergrößerung oder der Anlage kleiner Tochtersiedlungen manifestiert, stößt der äußere Landesausbau in bisher unbesiedelte Gebiete vor und ist damit immer mit. Wanderungen verbunden. 13
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Auf eine Darstellung der angewandten Methoden muß hier verzichtet werden, sie sind aus führlich erörtert bei H. Jankuhn 1975. Die Begriffe Weiler und Dorf werden hier im rein formalen Sinne als Wohnplätze mit einer geringeren oder größeren Anzahl von Gehöften gebraucht, da Aussagen über ihre innere Struktur gegenwärtig nur ganz vereinzelt zu treffen sind (s. o.). Literatur zum Datierungsproblem bei H. Jankuhn 1975, Anm. 111. Kritisch zur auch im folgenden vorgenommenen Anwendung der ,,alten" Chronologie auf siedlungsgeschichtliche Fragen äußerte sich H. Ament (1973, S. 311; 1974, S. 330), der sich neuerdings (1977a; 1 9 7 7 b ) intensiv um Ansätze für ein neues System bemüht. Der archäologische Nachweis beider Vorgänge ist daher an verschiedene Bedingungen der Fundaufbereitung geknüpft. Muß er im ersten Fall kleinräumig von einer genauen topographischen Analyse in kleinsten Siedlungskammern ausgehen, so ist im zweiten eine voll-
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WIRTSCHAFT
Der fränkische Raum weist vor allem in den Flußgebieten des Rheins und seiner größeren Nebenflüsse eine relativ hohe Besiedlungsdichte auf, während die Mittelgebirge — das gilt fast allgemein — nahezu unbesiedelt sind. Auch sonst ergeben sich größere Unterschiede, die z. T. damit zu erklären sind, daß in den ehemals provinzialrömischen Gebieten in größerem Umfang romanische Bevölkerungsreste verblieben waren. Eine solche Situation liegt z. B. im relativ gut erforschten Trierer Land (K. Böhner 1958), vor. Die Siedlungen der romanischen Bevölkerung bildeten hier z. T. die Ausgangspunkte für die gegen Ende des 5. Jh. beginnende fränkische Landnahme. In der Mehrzahl der Fälle jedoch gründeten die Franken eigene Siedlungen, die das romanische Siedlungsgebiet weit überschritten und somit einen großflächigen Landesausbau dokumentieren (K. Böhner 1958, Karte 2). Hinsichtlich der Siedlungsformen rechnet K. Böhner (1958, S. 331) „mit Hofsiedlungen oder Weilern, die aus einem oder mehreren umzäunten Gehöften bzw. Gehöftgruppen bestanden". Diese Aussage dürfte allerdings nur für das 6. Jh. voll zutreffen, da nach paläodemographischen Untersuchungen (P. Donat u. H. Ullrich 1971, S. 258ff.) wohl bereits im 7. Jh. in größerem Umfang Dörfer bestanden haben. Ein starker romanischer Anteil ist auch in den Siedlungen Lothringens faßbar (F. Stein 1974), wo Franken und Romanen teils getrennt, teils aber auch zusammen wohnten, während in den Siedlungskammern jeweils eine Durchmischung beider Elemente beobachtet werden kann. Wieweit die steigende Anzahl von Gräberfeldern des 7. Jh. hier einen Landesausbau belegt, läßt sich nicht sicher sagen, da die Romanen offensichtlich erst im 7. Jh. in größerem Umfang zur Beigabensitte zurückkehrten und somit ihre älteren Gräber nicht nachweisbar sind. Am Niederrhein sind die ältesten Zeugnisse fränkischer Besiedlung bereits für das späte 4. oder frühe 5. Jh. erkennbar; sie nahmen in der zweiten Hälfte des 5. und im Verlauf des 6. Jh. zu und zeigten im 7. Jh. eine starke Ausbreitung. Ausgangspunkt waren die fruchtbaren Auelehmgebiete nahe am Strom. Vom 5. Jh. an wurde die südliche Bördenzone erfaßt, während der Landesausbau des 7. Jh. auch auf die sandigen Böden des Flachlandes übergriff (K. Böhner 1950/51, S. 26f.; 1969, Karte S. 95).14 Der Ausbauvorgang im niederrheinischen Raum ist auch pollenanalytisch faßbar. So zeigt ein Diagramm aus dem Zwillbrocker Fenn im Westmünsterland (E. Burrichter 1969; E. Lange 1976, Abb. 5/71) eine erhebliche Ausdehnung der Acker- wie auch der Weideflächen seit dem 6.¡y. Jh. an; Diagramme aus den Niederlanden (S. Jelgersma u. a. 1970; E. Lange 1976, Abb. 5/52, 58) weisen in die gleiche Richtung. Von den im südlich an den Niederrhein angrenzenden Gebiet der Zülpicher Börde und der Nordeifel bekannten 76 Fundplätzen der Merowingerzeit beginnen einer in der zweiten Hälfte des 5. Jh. und neun im 6. Jh. (H. W. Böhme 1974). Es handelt sich um frühe Bestattungsplätze, die sich mit einer Ausnahme im Norden, in der Zülpicher Börde, befinden. Die zahlreichen Funde des 7. Jh. geben somit für dieses Gebiet einen inneren Landesausbau zu erkennen, für die Nordeifel hingegen einen äußeren (Abb. 13),
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ständige Erfassung aller Fundplätze in einem größeren Gebiet vonnöten, um regionale oder gar lokale Besonderheiten und zu starke Verzerrungen auf Grund des Forschungsstandes auszuschalten. Diese Beobachtung steht allerdings im Gegensatz zu den Auffassungen der Namenkunde, die auf Grund der Verbreitung der -heim-Namen von einer Erstbesiedlung der letztgenannten Böden ausging.
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Abb. 13. Die Siedlungsentwicklung des 6. und 7. Jh. in der Zülpicher Börde und in der Nordeifel (nach H. W. Böhme 1974). Zeichenerklärung siehe Abb. 16.
wobei — wie in den meisten anderen fränkischen Gebieten (E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. 4, 8) — die im 6. Jh. besiedelten Plätze durchweg bis ins 7. Jh. weiterbestanden und eine kontinuierliche Siedlungsentwicklung belegen. Im Main-Tauber-Gebiet (R. Koch 1967) konzentrierte sich die Besiedlung auf die fruchtbaren Gaulandschaften vom Kraichgau bis ans Grabfeld heran. Einige Siedlungen befanden sich im Vorland des Fränkischen Jura im Main- und Regnitztal. Dagegen wurden die bewaldeten Berglandschaften gemieden. Im 7. Jh. läßt sich wiederum ein intensiver Landesausbau nachweisen (E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. 12). Eine vergleichbare Entwicklung mit Rodungsvorgängen im 7. Jh. ist in Mittelfranken erkennbar (H. Dannheimer 1962a; E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. 11).
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In Nordhessen, wo offenbar nach einer erheblichen Siedlungsausdünnung am Ende der Kaiserzeit (gegen 400) nur eine geringe Restbevölkerung verblieben war, begann der Landesausbau wohl erst am Ende des 7. Jh. (R. Gensen 1975). Besonders gut ist die Siedlungsgeschichte der Alamannen erforscht (H. Steuer 1973; G. Fingerlin 1974). Die Landnahme nach dem Fall des Limes (s. S. 40) knüpfte durchweg an die Siedlungsräume der galloromanischen Vorbevölkerung an, von der Reste im Lande verblieben waren, jedoch erfuhr das Siedlungsgebiet eine erhebliche Einengung. Es begann sich erst nach dem endgültigen Abzug der Römer um die Mitte des 5. Jh. in einer ersten Etappe des Landesausbaus wieder aufzufüllen, in der einzelne Siedlungskammern entstanden. Eine zweite Etappe begann um die Mitte des 6. Jh., eine dritte etwa 100 Jahre später und eine vierte um 700. Auch hier ging die Besiedlung von den schweren Löß- und Schwemmlößböden aus. In der Folge des kontinuierlichen Ausbauvorganges entstand ein großes zusammenhängendes Siedlungsgebiet, in dem nur
Abb. 14. Die Siedlungsentwicklung des 6. und 7. Jh. im Breisgau (nach H. Stoll 1942; H. Steuer 1973). T. = Gräberfeld von Tiengen, Kr. Freiburg im Breisgau, M. =
Gräberfeld von
Mengen, Kr. Breisgau-Hochschwarzwald. Zeichenerklärung siehe A b b . 16.
der Schwarzwald sowie die Höhen der Alb großflächig ausgespart blieben. Wieweit die Fundleere einiger anderer Räume, wie Oberschwabens, des Allgäus, der Iiier-WertachPlatte und der Ortenau, nur auf den Forschungsstand zurückzuführen ist, läßt sich noch nicht sagen. Ein Vergleich der Fundplätze mit dem Namen zugehöriger Orte ermöglicht eine Verbindung der -ingen- und -heim-Orte mit den ersten beiden Etappen, die der -hausen-, -hofen- und -stetten-Orte mit der dritten und die einzelner -weiler-Namen mit der vierten. Für die Siedlungen der ersten beiden Phasen rechnet G. Fingerlin (1974, S. 81) mit durchschnittlich 8—10 Höfen, wobei häufig ein Zusammenwachsen von zwei oder mehr Hofgruppen zu einem größeren Ort erfolgte, der eine Größe von mehreren hundert Einwohnern erreicht haben soll. In der dritten Phase kam es zur Anlage von kleineren Ausbauorten in den alten „Gemarkungen". Um 700 schließlich scheinen die natürlich gut ausgestatteten Altsiedelräume die Grenze der wirtschaftlichen Belastbarkeit erreicht zu haben, denn bei den meisten Siedlungen der vierten Phase handelte es sich um Einzelhöfe, die nicht mehr in Kontakt mit älteren Siedlungen standen. Als kleinräumiges Beispiel für die Ausbauphasen (außer der ersten) sei der Breisgau genannt (Abb. 14: nach H. Stoll 1942, H. Steuer 1973). In der Umgebung der beiden ältesten Siedlungen, Mengen und Tiengen, die inmitten großer Gemarkungen — ein
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Hinweis auf hohes Alter — mit guten Böden liegen und umfangreiche Bestattungsplätze aufweisen, befinden sich zunächst die im 7. Jh. entstandenen Orte. Sie werden, vor allem zum Fuß des Schwarzwaldes mit seinen wenig ergiebigen Schuttfeldern hin, durch eine größere Anzahl von Rodungsorten der Zeit um 700 ergänzt. Wie im fränkischen Raum zeigt sich ein ausgesprochen kontinuierlicher Siedlungsausbau, der mit einer beträchtlichen Bevölkerungsvermehrung verbunden gewesen sein muß. Diese Tatsache wird dadurch unterstrichen, daß auch die älteren Orte z. T. eine erhebliche Vermehrung der Einwohnerzahlen aufwiesen, wie archäologisch-anthropologische Analysen ergeben haben (P. Donat u. H. Ullrich 1971). So wuchs (bei einem angenommenen Mittelwert von 25 Personen pro Gehöft) die Siedlungsgröße von Hailfingen, Ot. von Rottenburg am Neckar, wahrscheinlich von zwei auf 14 Gehöfte an, diejenige von Bülach von einem auf fünf Gehöfte. Die Gesamtentwicklung war also durch eine Kombination von innerem und äußerem Landesausbau charakterisiert, wobei die Gründe für die auffallende Bevölkerungszunahme noch nicht im einzelnen faßbar sind. Die Schweiz wurde nach R. Moosbrugger-Leu (1971/B, S. 15) im 5. Jh. noch nicht von den Alamannen erreicht. Die Besiedlung geriet nördlich des Rheins ins Stocken, was mit der Stärke der verbliebenen romanischen Bevölkerung zu erklären sein dürfte. Dagegen rechnet H. Jänichen (1973, S. 139) schon bald nach 400 mit der alamannischen Landnahme in der Nordschweiz. Im 6. Jh. schoben sich dann die Reihengräber bis in die Gegend von Oberbuchsiten—Oensingen—Balsthal vor, während von Westen her die Ausbreitung der Burgunden erfolgte (vgl. S. 372f.). Die großräumige Ausbreitung der Alamannen erfolgte auch hier im 7. Jh., indem sie das gesamte Mittelland besiedelten und bis in das Voralpengebiet gelangten, während sich von Westen her weiterhin die Burgunden und von Süden nun auch die Langobarden vorschoben (R. Moosbrugger-Leu 1971/B, Abb. 104). Im Ergebnis der beschriebenen Vorgänge wurde bei den Alamannen eine Siedlungsdichte erreicht, die, zumindest auf dem später deutschen Boden, von keinem anderen Stammesverband erzielt wurde. Zu einer ebenfalls beträchtüchen Siedlungsintensität kam es in Bayern, was dadurch unterstrichen wird, daß hier eine besonders große Anzahl von Siedlungen erst im 7. Jh. einsetzt. Auffällig ist, daß zu dieser Zeit im Alpenvorland bereits Höhen von über 800 m aufgesucht wurden (R. Christlein 1970, Karte auf S. 49), die in anderen Landschaften unbesiedelt blieben. Erste Hinweise auf den Beginn eines Landesausbaues geben neuerdings die Ausgrabungen eines Gräberfeldes in Altenerding, Kr. Erding (W. Sage 1974; 1975), für das 5. Jh., während eine großflächige Erschließung erst im 6. Jh. einsetzte (H. Roth 1973, S. 613ff.). Zunächst wurden die Landschaften an der Donau und ihren größeren Nebenflüssen erschlossen, die Oberpfalz und Teile des Alpenvorlandes kamen im 7. Jh. hinzu. Das Naabgebiet, der Raum zwischen Altmühl und Regnitz sowie, besonders hervorstechend, Nordostbayern wurden erst vom 8. Jh. ab von einem umfangreichen Landesausbau erfaßt. Bestimmend für das völkerwanderungszeitliche Siedlungsbild in Bayern waren in jedem Fall kleine Wohnplätze, wie eine topographische Analyse der Gräberfelder ergeben hat (H. Dannheimer 1974). Dabei gab es in den heute von Dörfern eingenommenen Gebieten zwei Möglichkeiten der Siedlungsentwicklung: Entweder wuchsen die Ortschaften aus mehreren kleinen Siedlungszellen zusammen, oder im Laufe des Mittelalters setzte sich eine Siedlung durch, während die anderen wüst wurden. Demgegenüber spiegeln diejenigen Landschaften, in denen bis heute Einzelhof- und Weiler-
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WIRTSCHAFT
Siedlungen vorherrschen (z. B. im südöstlichen Oberbayern), noch jetzt diesbezügliche frühmittelalterliche Verhältnisse wider. Einen detaillierten Einblick in den Ablauf des Ausbauvorganges gewährt die Analyse des Gräberfeldes von Pulling, Kr. Freising (K. Schwarz 1958). Hier konnten für das 7. Jh. drei Grabgruppen herausgearbeitet werden, die offensichtlich zu drei Höfen gehörten, die im Verlauf von drei Generationen nacheinander angelegt wurden. Die zugehörigen Siedlungsstellen konnten bisher leider nicht entdeckt werden; sie sind aber durch Flurnamen wahrscheinlich zu machen. Die Bewohner dürften freie, wenn auch nicht sehr vermögende Bauern gewesen sein. Wie K . Schwarz anhand weiterer Beispiele wahrscheinlich machen kann, ist das frühmittelalterliche Siedlungsbild des Gebietes z. T. durch eine erheblich größere Siedlungsdichte als das heutige gekennzeichnet, zu dem es sich erst durch das Wüstwerden vieler kleiner Weiler entwickelt hat. Daneben erfolgte eine Erweiterung alter Wohnplätze durch vorgeschobene, isoliert angelegte Höfe, die im archäologischen Bild an mehreren zu einem heutigen Ort gehörigen Gräberfeldern erkennbar sind. Das Beispiel Pulling deutet auch für Bayern zwei Ausbauphasen des 7. Jh. an, die etwa der dritten und vierten Phase im alamannischen Raum parallel laufen; es gibt Hinweise, daß hier ein etwa gleicher Besiedlungsrhythmus vorliegt. So konnte H. Dannheimer (1962b) mit Hilfe einer kombinierten archäologisch-namenkundlichen Betrachtungsweise für die Kreise Landshut und Ebersberg ebenfalls einen Neusiedlungshorizont im Verlauf des 7. Jh. und einen an der Wende vom 7. zum 8. Jh belegen. Im Donautal um Regensburg (U. Koch 1968) ließ sich neben der allgemein ins 7. Jh. datierbaren Ausbauphase ebenfalls noch eine solche am Ende des 7. Jh. aussondern (E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. 13). Da die Beobachtungen in Mittelfranken
Abb. 15. Die Siedlungsentwicklung des 6. und 7. Jh. im Donautal um Regensburg (nach U. Koch 1968). Zeichenerklärung siehe Abb. 16.
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(H. Dannheimer 1962b, Tab. 3) in die gleiche Richtung weisen, dürfte ihre Verallgemeinerung möglich sein. Im einzelnen scheint die Siedlungsentwicklung in Bayern jedoch nicht ganz so geradlinig verlaufen zu sein wie bei Franken und Alamannen. Wie am Donautal um Regensburg (Abb. 15) gezeigt werden kann, lassen sich neben Gräberfeldern des 6.¡y. Jh., des 7. und des späten 7. Jh. auch solche nachweisen, die im Verlauf des 6. Jh. aufgegeben wurden, was für eine größere Mobilität der Siedler spricht. Im geringer besiedelten Oberösterreich ist mit einer Besiedlungskontinuität von der Römerzeit her zu rechnen (J. Reitinger 1969, S. 333), doch ist — bei insgesamt erheblicher Verkleinerung der Siedlungsgebiete (J. Reitinger 1969, Karte „Römerzeit und Frühgeschichte") — nur selten ein Anknüpfen an ältere Siedlungen erfolgt, weshalb die bayrische Landnahme als Ausbauvorgang gewertet werden muß. Sie erfolgte auch hier erst seit dem 7. Jh., in größerem Umfang etwa seit 630 (E. Beninger u. A. Kloiber 1962, S. 242). Besiedelt wurden geradezu keilartig die Landschaften zwischen Donau und Traun sowie das Inngebiet (E. Beninger u. A. Kloiber 1962, Karte 1 ; J . Reitinger 1969, Karte „Römerzeit und Frühgeschichte"), wobei mit Weilern und kleinen lockeren Haufendörfern entlang der noch brauchbaren Römerstraßen gerechnet wird (J. Reitinger 1969, S. 334 ff.). Eine von den übrigen Gebieten des Reihengräberkreises abweichende Entwicklung zeichnet sich in dem sehr geschlossenen Siedlungsgebiet der Thüringer ab (E. Gringmuth-Dallmer 1983, S. 22ff.), das eine ziemlich gleichmäßige mittlere bis hohe Siedlungsdichte aufweist. Während bei Franken, Alamannen und auch Bayern seit dem 5. bzw. 6. Jh. ein kontinuierlicher Ausbau der Siedlungsräume festzustellen ist, der sich in einer durchgehenden und verstärkten Belegung einmal angelegter Gräberfelder wie in einem rapiden Anwachsen ihrer Zahl niederschlägt, erfolgte in Thüringen zwischen dem 5-/6. und 7. Jh. ein Bruch, d. h. die alten Gräberfelder brachen fast alle ab und wurden durch neue ersetzt (Abb. 16; B. Schmidt 1961, Abb. 24). Zudem nimmt, im Unterschied zu den anderen Landschaften, die Zahl der Gräberfelder im 7. Jh. ab (E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. 10). Da kein Bevölkerungswechsel vorliegt, werden hier wirtschaftliche Umstrukturierungen stattgefunden haben. Über deren Charakter sind jedoch keine Aussagen möglich, zumal sich die besiedelten Räume kaum geändert haben. Sie deckten sich weitgehend mit den nährstoffreichen und gut zu bearbeitenden Lößböden, während die Sandböden gemieden wurden. Ebenfalls ausgespart blieben die Mittelgebirge sowie morphologisch wenig gegliederte Landschaften. Sie wurden erst im Zuge des karolingischen Landesausbaus in größerem Umfang in die Besiedlung einbezogen. Bei den Siedlungen dürfte es sich fast ausschließlich um weilerartige Kleinformen gehandelt haben, die mit Block- bzw. Blockgemengefluren verbunden waren. Sie wurden lediglich an einzelnen Plätzen, z. B. Weimar, durch größere Dörfer ergänzt, in denen möglicherweise frühe Formen zentraler Orte zu sehen sind. Im sächsischen Raum harrt das Problem so lange einer sicheren Lösung, bis die Frage der Siedlungskontinuität während der späten Völkerwanderungszeit gelöst ist. Der vielfach angenommene Besiedlungsabbruch im 5-/6. Jh. ist mit dem Nachweis einer Reihe von durchlaufenden Gräberfeldern, wie Liebenau (A. Genrich 1975) oder Mähndorf (E. Grohne 1953), nunmehr in Frage gestellt (A. Genrich 1959). Sowohl Fundkartierungen in systematisch durchforschten Gebieten (z. B. 0 . Harck 1972, 7
Germanen — Bd. 2
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WIRTSCHAFT
Bad ' Langensalza
Erfurt
Gotha
^
Arnstadt
5./6. Jh. 5./6.-7.Jh. 7.Jh. Siedlung Grab, Gräberfeld • Einzelfund Schatz
E.7.Jh.
1=1 A
A b b . 16. Die Siedlungsentwicklung des 6. und 7. Jh. im R a u m E r f u r t — G o t h a — A r n s t a d t B . Schmidt 1970).
(nach
SIEDLUNGSENTWICKLUNG 5 . - 7 .
JH.
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A b b . 25 — 28 für Nordostniedersachsen) als auch Pollendiagramme (E. Lange 1971, A b b . 14; 16; 21) weisen in weiten Teilen aber auf eine erhebliche Ausdünnung der Besiedlung hin. Vor allem fehlen bisher weitgehend Funde des 7. Jh. 1 5 , jedoch kann sich hierin zumindest z. T . auch die mangelnde Datierungsmöglichkeit des Materials widerspiegeln, die durch den Übergang von der Brand- zur Körperbestattung erschwert wird. 1 6 Trotzdem dürfte feststehen, daß das sächsische Stammesgebiet im Vergleich zu den bisher besprochenen verhältnismäßig dünn besiedelt war, 1 7 was weitgehend mit den Abwanderungsvorgängen seit dem 2. Jh. und mit der Übersiedlung der Angeln und Sachsen nach England im 5. Jh. zusammenhängen dürfte (vgl. S. 478). D a ß jedoch noch ziemlich erhebliche Bevölkerungsreste zurückgeblieben sein müssen, wird z. B . durch den starken Widerstand der Sachsen gegen K a r l den Großen im 8. Jh. wahrscheinlich gemacht (vgl. S. 678; W . Wegewitz 1968, S. 104). A u s dem Gesagten ergibt sich, daß detaillierte Aussagen über das Siedlungswesen der Sachsen z. Z. nicht möglich sind. Sicher ist lediglich, daß ein umfangreicher Landesausbau wie bei Franken, Alamannen und Bayern nicht stattgefunden hat, sondern daß m i t weitgehenden Wüstungserscheinungen zu rechnen ist. Zu den Trägern des Landesausbaus: Die vorstehenden Ausführungen haben ergeben, d a ß sich der Besiedlungsablauf des 5 . - 7 . Jh. in den meisten Stammesgebieten auf Grund archäologischer Funde recht gut rekonstruieren läßt. Danach erfolgte bei den Franken, Alamannen und B a y e r n im 6. und vor allem im 7. Jh. ein stetiger Landesausbau, der sich in einer Erschließung neuer Siedlungsräume, in der Anlage von Tochtersiedlungen von bestehenden Orten aus und in einer Vergrößerung alter Siedlungen niederschlägt. In Thüringen läßt sich um 600 eine Siedlungsverlegung sowie eine A b nahme der Anzahl der Fundplätze belegen, deren Ursachen noch unbekannt sind. A m unklarsten sind die Verhältnisse im sächsischen R a u m , wo, vor allem infolge der A b wanderung der Angeln und Sachsen nach England, eine erhebliche Siedlungsausdünnung eintrat. Ist somit der äußere Ablauf des Siedlungsgeschehens einigermaßen greifbar, so herrscht über die Träger des Landesausbaus weitgehend Unklarheit, zumal eine Gleichsetzung verschieden reicher Grabausstattungen auf den Reihengräberfeldern mit den Angehörigen schriftlich überlieferter sozialer Schichten sich als komplizierter erwiesen hat, als es ursprünglich schien (H. Steuer 1968). Als gleichfalls nicht beweiskräftig h a t sich der bis ins vorige Jahrhundert (W. Arnold 1875) zurückreichende Versuch herausgestellt, bestimmte Ortsnamen, vor allem auf -ingen, als Beleg für eine sippenmäßige Ansiedlung zu benutzen. Dagegen haben siedlungsgeographische Untersuchungen für eine andere Ansiedlungsart z u überraschenden Ergebnissen geführt, konnten sie doch die seit langem von der historischen Forschung erschlossene fränkische „Staatssiedlung", d. h. die Ansetzung von Kolonisten auf Königsland, auch im Siedlungsbild sichtbar 15 16
17
7*
Vgl. z. B. W. Wegewitz i960; 1968; O. Harck 1972, Karte 27; D. Zoller 1972a. Aus diesem Grund wurde auch auf eine kartographische Darstellung für das sächsische Gebiet verzichtet. Die relativ wenigen Punkte auf der Funddichtekarte bei E. Gringmuth-Dallmer 1972, Abb. l a , für den sächsischen Raum sind inzwischen durch die Arbeiten von D. Hellfaier u. M. Last (1976) über die niedersächsischen Grabfunde und von O. Harck (1972) über die Besiedlungsgeschichte Nordostniedersachsens aufzufüllen, doch bleibt auch jetzt noch die Funddichte gering.
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WIRTSCHAFT
machen. 18 Danach heben sich im südwestdeutsch-ostfranzösischen Raum einige Gruppen von Siedlungen mit auffallenden regelmäßigen Langstreifenfluren heraus, bei denen die ganze Gemarkung von einem oder auch mehreren Komplexen parallellaufender Parzellen bedeckt ist, die ursprünglich eine Breite von 40—60 m und eine Länge von bis zu 1000 m, z. T. sogar noch darüber, besessen haben. In den Gebieten mit einer derartigen Flurgestaltung konzentrieren sich in einer solchen Weise die Merkmale fränkischer staatlicher Siedlung, daß eine Verbindung mit ihr vorausgesetzt werden darf. Da außerdem für einige dieser Landschaften durch Ortsnamen und Reihengräber eine Erschließung bereits für das 6-/7. Jh. nachzuweisen ist, dürfte hier ein vom fränkischen König getragener Landesausbau als gesichert gelten. Im einzelnen sind es folgende Räume: 1. der rheinhessische Raum, wo sich drei Gruppen (zwischen Ludwigshafen und Nierstein, an der unteren Nahe und südlich von Ingelheim) in enger Nachbarschaft zueinander befinden; 2. der mittlere Elsaß, vor allem der R a u m Strasbourg—Marlenheim; 3. das Alpenvorland um Augsburg—Mindelheim; 4. der mainfränkische Raum zwischen Schweinfurt und Würzburg. Wenn auch die Forschungen zum Problem dieser Fluren noch nicht abgeschlossen sind so ist doch eines bereits deutlich: Nicht in allen Räumen, für die eine fränkische „Staatskolonisation" erschlossen werden kann, tritt die geschilderte Flurform auf. Daher kann angenommen werden, daß die konkrete Siedlungsgestaltung zweifellos nicht zentral von Seiten der Königsmacht festgelegt wurde, sondern zumindest weitgehend von der Aktivität derjenigen Adligen abhing, in deren Händen die praktische Durchführung des Landesausbaus lag. Mit ihnen ist eine weitere wichtige Gruppe faßbar, die das Rodungsgeschehen maßgeblich mitbestimmt hat. Wieweit das auch außerhalb des angesprochenen fränkischen Machtbereiches geschehen ist, kann im einzelnen noch nicht gesagt werden, doch läßt sich auch in allen anderen Stammesgebieten von den Schriftquellen wie von den archäologischen Funden her eine Adelsschicht nachweisen, 19 die auf alle Fälle bei den Ausbauvorgängen eine Rolle gespielt haben muß. Daneben hat es noch im 7. Jh. freibäuerliche Rodung gegeben, wie das Beispiel Pulling nahelegt. In welchem Verhältnis jedoch die genannten Arten der Ansiedlung zueinander standen und ob regionale und/oder zeitliche Unterschiede bestanden, ist heute noch nicht zu sagen.
3.
Die landwirtschaftliche
Produktion
a) Ackerbau Archäologische und schriftliche Quellen bezeugen für das 1./2. Jh. einen hohen Anteil der Haustierhaltung am Gesamtsystem der landwirtschaftlichen Produktion und eine vergleichsweise geringere Bedeutung des Ackerbaus (Bd. 1, S. 437/451). Unter den angebauten Getreidearten überwiegt die Gerste; ihr folgen Spelzweizenarten und der 18
Vgl. z u m folgenden mit detaillierter Begründung H . - J . N i t z 1961; 1963.
19
Beispiele für alle Stammesgebiete bei H . K u h n , R . Wenskus, K . Wührer u. G. A u t h e n Blom 1973.
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machen. 18 Danach heben sich im südwestdeutsch-ostfranzösischen Raum einige Gruppen von Siedlungen mit auffallenden regelmäßigen Langstreifenfluren heraus, bei denen die ganze Gemarkung von einem oder auch mehreren Komplexen parallellaufender Parzellen bedeckt ist, die ursprünglich eine Breite von 40—60 m und eine Länge von bis zu 1000 m, z. T. sogar noch darüber, besessen haben. In den Gebieten mit einer derartigen Flurgestaltung konzentrieren sich in einer solchen Weise die Merkmale fränkischer staatlicher Siedlung, daß eine Verbindung mit ihr vorausgesetzt werden darf. Da außerdem für einige dieser Landschaften durch Ortsnamen und Reihengräber eine Erschließung bereits für das 6-/7. Jh. nachzuweisen ist, dürfte hier ein vom fränkischen König getragener Landesausbau als gesichert gelten. Im einzelnen sind es folgende Räume: 1. der rheinhessische Raum, wo sich drei Gruppen (zwischen Ludwigshafen und Nierstein, an der unteren Nahe und südlich von Ingelheim) in enger Nachbarschaft zueinander befinden; 2. der mittlere Elsaß, vor allem der R a u m Strasbourg—Marlenheim; 3. das Alpenvorland um Augsburg—Mindelheim; 4. der mainfränkische Raum zwischen Schweinfurt und Würzburg. Wenn auch die Forschungen zum Problem dieser Fluren noch nicht abgeschlossen sind so ist doch eines bereits deutlich: Nicht in allen Räumen, für die eine fränkische „Staatskolonisation" erschlossen werden kann, tritt die geschilderte Flurform auf. Daher kann angenommen werden, daß die konkrete Siedlungsgestaltung zweifellos nicht zentral von Seiten der Königsmacht festgelegt wurde, sondern zumindest weitgehend von der Aktivität derjenigen Adligen abhing, in deren Händen die praktische Durchführung des Landesausbaus lag. Mit ihnen ist eine weitere wichtige Gruppe faßbar, die das Rodungsgeschehen maßgeblich mitbestimmt hat. Wieweit das auch außerhalb des angesprochenen fränkischen Machtbereiches geschehen ist, kann im einzelnen noch nicht gesagt werden, doch läßt sich auch in allen anderen Stammesgebieten von den Schriftquellen wie von den archäologischen Funden her eine Adelsschicht nachweisen, 19 die auf alle Fälle bei den Ausbauvorgängen eine Rolle gespielt haben muß. Daneben hat es noch im 7. Jh. freibäuerliche Rodung gegeben, wie das Beispiel Pulling nahelegt. In welchem Verhältnis jedoch die genannten Arten der Ansiedlung zueinander standen und ob regionale und/oder zeitliche Unterschiede bestanden, ist heute noch nicht zu sagen.
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Die landwirtschaftliche
Produktion
a) Ackerbau Archäologische und schriftliche Quellen bezeugen für das 1./2. Jh. einen hohen Anteil der Haustierhaltung am Gesamtsystem der landwirtschaftlichen Produktion und eine vergleichsweise geringere Bedeutung des Ackerbaus (Bd. 1, S. 437/451). Unter den angebauten Getreidearten überwiegt die Gerste; ihr folgen Spelzweizenarten und der 18
Vgl. z u m folgenden mit detaillierter Begründung H . - J . N i t z 1961; 1963.
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Beispiele für alle Stammesgebiete bei H . K u h n , R . Wenskus, K . Wührer u. G. A u t h e n Blom 1973.
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LANDWIRTSCHAFT
Tabelle 1
Gerste Hafer Roggen Saatweizen Emmer Einkorn Spelt Rispenhirse Kolbenhirse Grüne Hirse Mohn Lein Leindotter Ackerbohne Erbse Linse Hanf
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X X
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X X
X X
X X
Alt-Archsum (Sylt), V W Z (H.-J. Kroll 1975) Brezno (Louny), um 500 (Z. Tempir 1966; 1968) Dalfsen (Overijssel), 3 . - 5 . Jh. (W. v. Zeist 1968) Devin (Bratislava), 4 . - 6 . Jh. (E. Hajnalova 1975) Drengsted (Jütland), 3. Jh. (H. Helbaek 1974) Duel-Feistritz (Villach-Land), 5 . - 6 . Jh. (H. L. Werneck 1949) Flögeln (Wesermünde), 4 . - 5 . Jh. (K.-E. Behre 1976) Kablow (Königs Wusterhausen), 3 . - 4 . Jh. (E. Schiemann 1957) Klein Kedingshagen (Stralsund), 2 . - 4 . Jh. (K.-D. Jäger 1969) L a v a n t (Lienz), 5./6. Jh. (H. L. Werneck 1961) Nitra (Nitra), 475. Jh. (E. Hajnalova 1975) Rusovce (Bratislava), 475. Jh. (E. Hajnalova 1975) Stellfeder (Bludenz), 5 . - 6 . Jh. (H. L. Werneck 1956; M. Hopf 1970) Tofting (Eiderstedt), 2 . - 5 . Jh. (K. Scheer 1955) Wijster (Drenthe), 2 . - 5 . Jh. (W. v. Zeist 1968) Hafer. Wesentlich geringer sind die Nachweiszahlen für die Hirsearten u n d den R o g g e n . Beachtliches G e w i c h t k a m jedoch dem A n b a u v o n zwei weiteren K u l t u r p f l a n z e n a r t e n zu, dem Lein u n d dem Leindotter (Saatdotter). E r b s e n und A c k e r b o h n e n wurden ebenfalls k u l t i v i e r t und für die menschliche E r n ä h r u n g g e n u t z t .
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WIRTSCHAFT
Tabelle 2 Prozentuale Zusammensetzung des Fundgutes von Kablow (nach E. Schiemann 1Q5J) Speicher
Hordeum
Seeale
Trit. die.
Pan. mil.
(%)
(%)
(%)
(%)
A B D E/F
75.0 5°.°
25.0
—
—
0,8
56,0
1,2
29,0
37.0
34.°
0
38,7
29,5
8,8
—
—
42,0 —
23,0
Es darf wohl damit gerechnet werden, daß diese Arten auch während der späten Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit zum Kulturpflanzenbestand gehörten. Daß einige Arten für diesen Zeitraum bisher nicht belegt sind (vgl. Tab. 1), spricht kaum gegen diese Annahme, sondern findet wohl eher in der noch geringen Zahl von Kulturpflanzenfunden eine Erklärung. Bei dem gegenüber der frühen Kaiserzeit vergleichsweise geringen Quellenmaterial fällt jedoch auf, daß Saatweizen und Roggen häufiger und teilweise auch in größerer Menge im Fundgut enthalten sind. Das deutet auf eine Veränderung im mengenmäßigen Anteil der einzelnen Getreidearten im Anbau hin. Um solche Veränderungen wenigstens annähernd erfassen zu können, sind Befunde aus der vorangegangenen Zeit sowie dem frühen Mittelalter herangezogen worden. Als einziger Fundplatz bot sich dafür Archsum (Sylt) an (Abb. 17). Um die sich in Archsum abzeichnenden Veränderungen im großräumigeren Zusammenhang auf ihre Allgemeingültigkeit prüfen zu können, sind die aus dem Gesamtgebiet vorliegenden Befunde zusammengefaßt und in gleicher Form dargestellt worden (Abb. 17). Aus beiden Abbildungen ist der Anteil der Hauptgetreidearten 20 an der Zusammensetzung des Fundgutes ablesbar. 21 Bei einer vergleichenden Betrachtung beider Graphiken fällt zuerst das Fehlen der Weizenarten in Archsum auf; Emmer (Spelzweizenart) ist nur vereinzelt nachgewiesen. Auf Grund des Bearbeitungsstandes konnte die zusammenfassende Auswertung nur qualitativ erfolgen, d. h., es wurde vom Nachweis der Arten pro Fundort ausgegangen. Eine quantitative Auswertung ist nicht möglich, da der mengenmäßige Anteil der einzelnen Arten aus den Publikationen nicht vergleichbar bzw. gar nicht zu entnehmen ist (vgl. E. Lange 1976, S. 79). Für Archsum war eine quantitative Auswertung ebenso möglich wie eine qualitative. Zur Darstellung gelangte die quantitative Auswertung, um die Zunahme des Roggenanteils zu verdeutlichen. Hafer wurde in die Auswertung einbezogen, Rispenhirse jedoch nicht (vgl. E. Lange 1976, S. 78). Bei der Interpretation dieser Graphiken ist außer der unterschiedlichen Bezugsbasis (quantitativ bzw. qualitativ) sowie der unterschiedlichen statistischen Sicherung (Zahl der Fundorte) ferner zu berücksichtigen, daß für das 1./2. Jh. die Mehrzahl der Fundorte aus dem unmittelbaren Küstengebiet (Marschen- und Wurtensiedlungen) stammt, während für die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter Fundorte des Binnenlandes überwiegen. 21 Da für das 2 . - 4 . Jh. nur sechs Fundorte zur Verfügung gestanden hätten, von denen drei auch nur je zwei Arten enthielten, wurde auf die Einbeziehung der späten Kaiserzeit in die graphische Auswertung verzichtet.
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1. / 2. Jh. 100
%
Völkerwanderungszeh
frühes Mittelalter
Gerste
50
Hafer
Roggen
a
100 ; / o Gerste Hafer Spelzweizen arten Saatweizen
50 -
Roggen
n=27
Abb. 17. a) Zusammensetzung des in Archsum auf Sylt geborgenen Getreides (quantitative Auswertung nach H. J . Kroll 1975). b) Zusammensetzung der östlich des Rheines geborgenen Getreidefunde.
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WIRTSCHAFT
Er hat sich jedoch bis in die Wikingerzeit als seltenes „Unkraut" erhalten können. Saatweizen ist lediglich durch fünf Körner aus dem l. Jh. und ein Korn aus der Wikingerzeit vertreten (H.-J. Kroll 1975, S. 115/16). Weizenarten fehlen nicht nur in Archsum, sondern beispielsweise auch in Bentumersiel (Rheiderland, 1. Jh.; K.-E. Behre 1977) und Bogum (Ems, 1.—3. Jh.; ders. 1970), während Spelzweizenarten von der Feddersen Wierde (Kr. Wesermünde, 1.—3. Jh.; U. Körber-Grohne 1967) reichlich belegt sind. In binnenländischen Funden aus dieser Zeit ist Weizen fast stets vertreten, so daß seinem Erscheinen sowie dem von Roggen und Hafer in der zusammenfassenden Auswertung und dem Fehlen dieser Arten in Archsum kein besonderes Gewicht beizumessen ist. Die Zusammensetzung des Fundgutes einer Siedlung wird maßgeblich mit bestimmt von den pedologischen und klimatischen Bedingungen. Die Zusammenfassung von Funden aus gleicher Zeit, aber unterschiedlichen Gebieten, gleicht lokale Besonderheiten mehr oder weniger vollständig aus. Wesentlich wichtiger für die Beurteilung des während der Völkerwanderungszeit erreichten Entwicklungsstandes im Ackerbau sind die in der zusammenfassenden Auswertung zum Ausdruck kommende Zunahme des Anteils von Roggen und Saatweizen an den Getreidefunden und die damit verbundene Abnahme der Breigetreide (Spelzweizenarten, Hafer und Gerste). Dabei nimmt in der Gesamtauswertung, wie auch in Archsum, die Völkerwanderungszeit eine zwischen dem 1./2. Jh. und dem frühen Mittelalter vermittelnde Stellung ein. Mit einiger Berechtigung kann daraus gefolgert werden, daß in dieser Zeit Veränderungen im Ackerbau sowie im Gesamtsystem der landwirtschaftlichen Produktion ihren Anfang nahmen und sich im frühen Mittelalter durchsetzten. Sie führten zu einer wesentlichen Steigerung der Ackererträge. Ob dem Anbau des Roggens während der Völkerwanderungszeit tatsächlich bereits die Bedeutung zukam, die aus der Graphik zu erschließen wäre, kann gegenwärtig noch nicht entschieden werden. Roggen ist eine sekundäre Kulturpflanzenart, die als Unkraut in anderen Getreidearten auftritt und so in das Fundgut gelangen konnte. Am Anbau des Roggens in der spätkaiserzeitlichen Siedlung Kablow, Kr. Königs Wusterhausen, ist dagegen nicht zu zweifeln (E. Schiemann 1957; vgl. auch Tab. 1), andererseits sind in den zeitgleichen Siedlungen von Ragow und Tornow (beide Kr. Calau), die etwa 50 km südöstlich von Kablow bestanden, keine Pollenkörner des Roggens nachweisbar gewesen. Pollenanalytische Untersuchungen im Nordseeküstengebiet lassen einen völkerwanderungszeitlichen Roggenanbau sehr wahrscheinlich werden, und von Flögeln, Kr. Wesermünde, liegt ein Getreidefund aus dem 4-/5. Jh. vor, dessen Hauptbestandteil Roggen ist (K.-E. Behre 1976; 1977). Wenn auch eine sichere Aussage über den Umfang des Roggenanbaus während der Völkerwanderungszeit noch nicht möglich ist, so besteht andererseits kein Zweifel daran, daß seine Durchsetzung als wichtige Kulturpflanzenart in dieser Zeit begann. Wie an anderer Stelle (E. Lange 1976) ausführlicher dargelegt, war das Vorherrschen von Roggen und Saatweizen im Anbau mit wesentlichen Veränderungen im Gesamtsystem der landwirtschaftlichen Produktion verbunden. Beide Arten werden heute z. B. vorwiegend im Herbst zur Aussaat gebracht, und das dürfte, auch nach Aussage der in den entsprechenden Funden enthaltenen Unkrautsämereien, während der Völkerwanderungszeit ebenfalls zugetroffen haben. Bei Herbstaussaat verkürzte sich zwangsweise die Zeit zwischen Ernte und neuer Aussaat beträchtlich. Eine mögliche Folge war, daß das geerntete Getreide nicht sofort gedroschen werden konnte. Dafür
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sprechen die in dieser Zeit erstmals auftretenden größeren speicherartigen Gebäude (vgl. S. 84f.). Hinzu kommt, daß die im Herbst bestellten Ackerflächen nur noch kurzfristig für die Beweidung zur Verfügung standen. Darin könnte eine der Ursachen für die im Vergleich mit der frühen Kaiserzeit geringere Bedeutung der Haustierhaltung liegen. Obwohl Hinweise auf Wiesenwirtschaft erst vom 10./11. Jh. wirklich deutlich werden, ist nicht auszuschließen, daß die Anfänge bis in die Völkerwanderungszedt zurückgehen; denn die Quellenbasis für Arten des Grünlandes ist noch wesentlich geringer als für die Arten der Ackerflächen.
Abb. 18. Eiserne landwirtschaftliche Geräte aus einem Hortfund des 3. bis 5. Jh. von Guhrow, Kr. Cottbus, a) Symmetrisches Pflugschar, b—f) Seche, g) Kurzstielsense (nach E. Gringmuth-Dallmer 1975, Abb. 2). 1 :io. Weitere Einblicke in den Stand und die Entwicklungstendenzen der landwirtschaftlichen Produktion gestatten pollenanalytische Untersuchungen. Aber auch mit ihnen lassen sich bezüglich der Völkerwanderungszeit Aussagen nur über den Vergleich mit der Kaiserzeit und dem frühen Mittelalter gewinnen, da sich die Völkerwanderungszeit in den Pollendiagrammen in der Regel nur schwach widerspiegelt. Auch nach Aussagen der Pollenanalyse muß der Haustierhaltung während der Kaiserzeit eine höhere Bedeutung zugekommen sein als dem Ackerbau, während sich die Relationen bereits am Beginn des frühen Mittelalters eindeutig zugunsten des Ackerbaus verschoben hatten. Vermutlich nehmen die dazwischenliegenden Jahrhunderte auch in dieser Hinsicht eine vermittelnde Stellung ein. Hinsichtlich der landwirtschaftlichen Produktionsinstrumente 22 sind wir — im Gegensatz zu den Kulturpflanzen — etwas besser unterrichtet als für die beiden vorhergehenden Jahrhunderte (Bd. 1, S-426ff./44off.). Diese Tatsache ist vor allem dem Um22
Zusammenfassend und mit weiterführender Literatur E. Gringmuth-Dallmer (1982).
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WIRTSCHAFT
stand zu verdanken, daß aus dem 3. bis 6. Jh. eine Anzahl von Hortfunden mit landwirtschaftlichen Geräten bekannt ist, die sich vom Elb-Saale-Gebiet über die mittlere Oder bis nach Südpolen erstrecken (E. Gringmuth-Dallmer 1975, Abb. 5) und Aufschluß über die wichtigsten archäologisch faßbaren landwirtschaftlichen Geräte geben. Vom Pflug sind weiterhin außerhalb des römischen Gebietes ausschließlich symmetrische Hakenschare bekannt (Abb. 18), die nur eine relativ geringe Arbeitsintensität ermöglichten und zu annähernd quadratischen blockförmigen Fluren führten, die im Nordseeküstenbereich und in Skandinavien bis in die Kaiserzeit nachweisbar sind (M. Müller-Wille 1965). Neu im Fundgut ist das Sech oder Vorschneidemesser (Abb. 18), das, kombiniert mit dem Pflug, den Boden vor diesem senkrecht aufschneidet oder auch als selbständiges Gerät verwendet wurde und als Hinweis auf eine Verbesserung seit dem 3. Jh. gelten kann — vorausgesetzt, daß sein vorheriges Fehlen nicht auf eine Fundlücke zurückzuführen ist.
Traverse Lauferstein Fuhrunqszapfen Mahlbcihri
0
10 cm
Abb. 19. Steinerne Drehmühle von Waltersdorf, K r . Königs Wusterhausen. Aufbau und Funktionsweise.
Eine weitere Neuerung läßt sich bei den Erntegeräten beobachten. Während das Getreide weiterhin wohl ausschließlich mit der Sichel eingebracht wurde, fand bei der Grasmahd zumindest teilweise die Kurzstielsense (Abb. 18) Verwendung, mit der das Gras nicht geschnitten, sondern abgehauen wurde, indem der Schnitter abwechselnd nach links und nach rechts schlug und zwischen den Hieben das Gerät über dem Kopf in die andere Richtung drehte. Diese Arbeit war sehr anstrengend und hatte einen verhältnismäßig großen Verlust an verstreutem Gras zur Folge, konnte aber im Unterschied zu der noch heute gebräuchlichen Sense mit langem Baum auch auf unebenen, verkrauteten und mit Gebüsch bestandenen Flächen verrichtet werden. Damit könnte der Kurzstielsense einige Bedeutung im Landesausbau zugekommen sein, der seit dem 5. Jh. in verschiedenen Stammesgebieten einsetzte (vgl. S. g2ff.). Eine gewjsse Weiterentwicklung gegenüber der vorhergehenden Zeit zeichnet sich auch bei der Verarbeitung der Produkte ab, indem sich in Mitteleuropa die Handdrehmühle (Abb. 19) vollständig durchsetzte, während in Skandinavien daneben noch die traditionelle Schiebemühle verwendet wurde (A. Leubei.982).
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Der genannte Fundbestand zeigt nun hinsichtlich seiner Verbreitung einige Besonderheiten, die einen unterschiedlichen Entwicklungsstand in verschiedenen Siedlungsgebieten nahelegen. 2 3 E s wurde oben bereits auf die Hortfunde hingewiesen, die sich vom Elb-Saale-Gebiet über die mittlere Oder bis nach Südpolen erstrecken. D a das gleiche Gebiet auch die weit überwiegende Zahl v o n landwirtschaftlichen Geräten aus Grab- und Siedlungsfunden aufweist und auch in anderen Bereichen eine hervorgehobene Stellung zeigt, scheint sich hier eine Zone abzuzeichnen, die in der landwirtschaftlichen Produktion besonders weit fortgeschritten war, während die nördlich und westlich anschließenden Gebiete auf einem niedrigeren Niveau standen. Botanische Untersuchungen (E. Lange 1 9 7 1 ; 1976) bestätigen diese Auffassung. Die vorstehenden Ausführungen können auf Grund der schmalen Quellenbasis naturgemäß nur wenige Seiten der Agrarproduktion beleuchten, besonders wenn man bedenkt, daß gerade bei den landwirtschaftlichen Geräten Eisen nur vereinzelt angewendet wurde, so daß viele andere Formen wie Eggen, Harken, Spaten, Hacken, Dreschflegel und Worfelschaufeln aus Holz bestanden und so archäologisch nur in Ausnahmefällen faßbar sind. Zusammenfassend kann beim gegenwärtigen Forschungsstand gesagt werden, daß sich der spätkaiser-völkerwanderungszeitliche A c k e r b a u zwar noch nicht grundlegend von dem während des 1./2. Jh. erreichten Stand abhob, jedoch Veränderungen, die sich im R a h m e n des Feudalisierungsprozesses im frühen Mittelalter voll durchsetzten, ohne Zweifel hier ihren A n f a n g nahmen. b) Haustier Haltung Haustier arten: Die Quellenlage zur Beurteilung der Bedeutung der Haustiere ist in der spätrömischen Kaiserzeit ( 3 . - 4 . Jh.) und in der Völkerwanderungszeit ( 5 . - 6 . Jh.) nicht einheitlich. A u s der Kaiserzeit liegen in größerer Zahl Tierknochenuntersuchungen von Siedlungsmaterialien vor, die Rückschlüsse auf die Bedeutung der Haustiere für die Nahrungsgüterproduktion gestatten (Abb. 20). A u s der Völkerwanderungszeit stammen die Tierreste dagegen vorwiegend aus Grabfunden und geben vor allem Hinweise auf die Bedeutung der Haustiere im Totenkult. In etlichen Gräbern fanden sich einzelne Knochen von Rind, Schwein, Schaf und Ziege, die als Überreste v o n Speisebeigaben anzusehen sind. V o n Pferd, Hund, Gans und Huhn liegen dagegen meist vollständige Skelette vor, die anders zu bewerten sind. Bisher konnten Grabfunde nur aus dem Verbandsgebiet der Thüringer (S. 521 ff.) ausgewertet werden, so daß sich die Aussagen über die Haustiere der Völkerwanderungszeit vorwiegend auf dieses Material stützen (H.-H. Müller 1980). A u s anderen Gebieten liegen Untersuchungen über Tierreste nur aus Gräbern, die dem 7. —10. Jh. angehören, vor. Die bisherigen. Grabungsergebnisse lassen für die späte römische Kaiserzeit keine nennenswerten Unterschiede im Haustierbestand gegenüber der vorangegangenen Zeit 83
Die methodischen Probleme, die für eine Ausdeutung der unterschiedlichen Fundverbreitung bestehen, können hier nicht detailliert dargelegt werden (ausführlich dazu E. Gringmuth-Dallmer 1982), jedoch ist darauf hinzuweisen, daß der Forschungsstand auf der einen und die objektive Fundsituation (z. B. die Sitte, landwirtschaftliches Gerät in Gräbern und Horten niederzulegen) auf der anderen Seite Verzerrungen des Bildes ergeben können, die im einzelnen nur schwer abschätzbar sind.
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Der genannte Fundbestand zeigt nun hinsichtlich seiner Verbreitung einige Besonderheiten, die einen unterschiedlichen Entwicklungsstand in verschiedenen Siedlungsgebieten nahelegen. 2 3 E s wurde oben bereits auf die Hortfunde hingewiesen, die sich vom Elb-Saale-Gebiet über die mittlere Oder bis nach Südpolen erstrecken. D a das gleiche Gebiet auch die weit überwiegende Zahl v o n landwirtschaftlichen Geräten aus Grab- und Siedlungsfunden aufweist und auch in anderen Bereichen eine hervorgehobene Stellung zeigt, scheint sich hier eine Zone abzuzeichnen, die in der landwirtschaftlichen Produktion besonders weit fortgeschritten war, während die nördlich und westlich anschließenden Gebiete auf einem niedrigeren Niveau standen. Botanische Untersuchungen (E. Lange 1 9 7 1 ; 1976) bestätigen diese Auffassung. Die vorstehenden Ausführungen können auf Grund der schmalen Quellenbasis naturgemäß nur wenige Seiten der Agrarproduktion beleuchten, besonders wenn man bedenkt, daß gerade bei den landwirtschaftlichen Geräten Eisen nur vereinzelt angewendet wurde, so daß viele andere Formen wie Eggen, Harken, Spaten, Hacken, Dreschflegel und Worfelschaufeln aus Holz bestanden und so archäologisch nur in Ausnahmefällen faßbar sind. Zusammenfassend kann beim gegenwärtigen Forschungsstand gesagt werden, daß sich der spätkaiser-völkerwanderungszeitliche A c k e r b a u zwar noch nicht grundlegend von dem während des 1./2. Jh. erreichten Stand abhob, jedoch Veränderungen, die sich im R a h m e n des Feudalisierungsprozesses im frühen Mittelalter voll durchsetzten, ohne Zweifel hier ihren A n f a n g nahmen. b) Haustier Haltung Haustier arten: Die Quellenlage zur Beurteilung der Bedeutung der Haustiere ist in der spätrömischen Kaiserzeit ( 3 . - 4 . Jh.) und in der Völkerwanderungszeit ( 5 . - 6 . Jh.) nicht einheitlich. A u s der Kaiserzeit liegen in größerer Zahl Tierknochenuntersuchungen von Siedlungsmaterialien vor, die Rückschlüsse auf die Bedeutung der Haustiere für die Nahrungsgüterproduktion gestatten (Abb. 20). A u s der Völkerwanderungszeit stammen die Tierreste dagegen vorwiegend aus Grabfunden und geben vor allem Hinweise auf die Bedeutung der Haustiere im Totenkult. In etlichen Gräbern fanden sich einzelne Knochen von Rind, Schwein, Schaf und Ziege, die als Überreste v o n Speisebeigaben anzusehen sind. V o n Pferd, Hund, Gans und Huhn liegen dagegen meist vollständige Skelette vor, die anders zu bewerten sind. Bisher konnten Grabfunde nur aus dem Verbandsgebiet der Thüringer (S. 521 ff.) ausgewertet werden, so daß sich die Aussagen über die Haustiere der Völkerwanderungszeit vorwiegend auf dieses Material stützen (H.-H. Müller 1980). A u s anderen Gebieten liegen Untersuchungen über Tierreste nur aus Gräbern, die dem 7. —10. Jh. angehören, vor. Die bisherigen. Grabungsergebnisse lassen für die späte römische Kaiserzeit keine nennenswerten Unterschiede im Haustierbestand gegenüber der vorangegangenen Zeit 83
Die methodischen Probleme, die für eine Ausdeutung der unterschiedlichen Fundverbreitung bestehen, können hier nicht detailliert dargelegt werden (ausführlich dazu E. Gringmuth-Dallmer 1982), jedoch ist darauf hinzuweisen, daß der Forschungsstand auf der einen und die objektive Fundsituation (z. B. die Sitte, landwirtschaftliches Gerät in Gräbern und Horten niederzulegen) auf der anderen Seite Verzerrungen des Bildes ergeben können, die im einzelnen nur schwer abschätzbar sind.
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A b b . 20. Fundplätze aus germanischen und provinzialrömischen Siedlungsgebieten, von denen Tierknochenuntersuchungen vorliegen und ausgewertet wurden.
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erkennen. Nach wie vor wurde der größte Teil des Fleischbedarfes durch Haustiere gedeckt. Gleiches ist für die Völkerwanderungszeit anzunehmen. Sowohl bei den Grabfunden als auch in der Siedlung „Am Donnersberg" in der Gemarkung Gielde, Kr. Goslar, die im wesentlichen dem 5 . - 6 . Jh. angehörte (R. Thesing 1978), und in der Siedlung des 6 . - 7 . Jh. von Brebieres, Frankreich (Th. Poulain-Josien 1972), stammen die Tierreste vor allem von Haustieren. Das Rind blieb infolge seiner vielseitigen Nutzung weiterhin das wichtigste Haustier, nicht nur in den Wurten an der Nordseeküste, sondern auch im Binnenland, was entsprechende Siedlungsgrabungen ergaben.24 Der Anteil der Rinderknochen variiert in den meisten germanischen Siedlungen der Kaiserzeit zwischen 40 und 50%. Im Bentumersiel, Gemeinde Holtgaste, Kr. Leer, an der unteren Ems in Ostfriesland, betrug er nach den Angaben von D. Zawatka und H. Reichstein (1977, S. 98) sogar 58%. In der völkerwanderungszeitlichen Siedlung von Gielde waren die Knochen von Rind und Schwein mit 26,4% bzw. 27,1% in nahezu gleicher Anzahl vorhanden, dem Rind wird aber auf Grund seines höheren Körpergewichtes eine größere wirtschaftliche Bedeutung beigemessen (R. Thesing 1978, S. 179). Widerristhöhenberechnungen anhand vollständig erhaltener Extremitätenknochen ergaben für die Rinder der Kaiserzeit eine Größenvariation zwischen knapp 100 und 130 cm. In den Siedlungen bei Kablow und Waltersdorf fand man relativ kleine Hausrindknochen, die zu Tieren von 100 bis 110 cm Widerristhöhe gehörten. Neben gleichgroßen wurden im Opfermoor bei Oberdorla, Kr. Mühlhausen, und in der Siedlung bei Mühlberg, Kr. Gotha, auch wesentlich größere Rinderknochen gefunden. Hier ließen sich Tiere nachweisen, deren Widerristhöhe bis etwa 150 cm reichte. Ökogeographische Verhältnisse hatten nicht nur einen maßgeblichen Einfluß auf die quantitative Zusammensetzung der Haustierbestände, sondern wirkten sich auch auf eine unterschiedliche Größenvariation der Haustiere aus. Die Fundorte Kablow und Waltersdorf, beide Kr. Königs Wusterhausen, liegen südlich von Berlin in einer Region, wo weniger fruchtbare Böden vorkommen. Der niedrige Futterertrag dieser Flächen und die dadurch bedingte unzureichende Ernährung werden hauptsächlich das geringe Größenwachstum der Rinder dieser Gebiete bewirkt haben. In der Umgebung von Oberdorla und Mühlberg in Thüringen sowie der Wurtensiedlungen in den Küstengebieten kommen dagegen fruchtbarere Böden vor, die ein ertragreicheres Grünland garantieren. Die besseren Boden- und Futterverhältnisse können entscheidende Faktoren für die höhere Durchschnittsgröße der Rinder in diesen Gebieten gewesen sein. Doch ließen sich sowohl in Oberdorla als auch in Mühlberg zahlreiche römische Importgegenstände nachweisen, so daß auch mit dem Import größerer Hausrinder aus dem römischen Gebiet gerechnet werden kann. Denn diese Fundorte liegen im ehemaligen Stammesgebiet der Hermunduren, und nach Tacitus (Germ. 41) unterhielten gerade diese gute Handelsbeziehungen mit römischen Partnern südlich der Donau. Durch die Untersuchungen von Knochenfunden aus römischen Siedlungen in der Germania Romana sind auffallend große Rinder und auch größere Pferde belegt, die sich nach den Ausführungen von Columella hauptsächlich durch gute Pflege, Fütterung und Zuchtauswahl entwickelt haben. Für die Rinder der Römer ließ 24
M. Kubasiewicz u. J. Gawlikowski 1959, S. 1 4 7 ; G. Nobis 1955, S. 1 1 6 ; M. Teichert 1968, S. 101; 1971, S. 152; 1974, S. 13.
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sich auf Grund ganz erhaltener Extremitätenknochen eine mittlere Widerristhöhe von 124 cm berechnen (Abb. 21). Die Rinder der Germanen erreichten dagegen nur eine mittlere Widerristhöhe von 109 cm (M. Teichert 1974, S. 256). Die Rinderknochen, die sich in den völkerwanderungszeitlichen Gräbern fanden, weisen auf relativ große Tiere hin. Die bei den osteometrischen Untersuchungen festgestellten Maße liegen alle im oberen Variationsbereich der bei kaiserzeitlichen Rindern des freien Germanien ermittelten Werte. 25 Das Schwein folgte in den kaiserzeitlichen Siedlungen des Binnenlandes meist an zweiter Stelle unter den Haustieren, wie es neueste Untersuchungsergebnisse von den Siedlungen bei Waltersdorf, Kr. Königs Wusterhausen, und bei Mühlberg, Kr. Gotha, bestätigen. An der Küste in den Wurtensiedlungen nahmen dagegen Schafe und Ziegen den zweiten Platz unter den Haustieren ein; so z.B. auf der Feddersen Wierde, Kr. Wesermünde (H. Reichstein 1973, S. 111). 29 Besonders günstige Voraussetzungen für die Schweinehaltung scheinen in der am Nordrand des Harzes gelegenen Siedlung „Am Hetelberg" bei Gielde, Kr. Goslar, bestanden zu haben. Dort war das Schwein nach den Angaben von F. Schaal (1968, S. 6) mit einem Anteil von 41,3% unter den Haustierknochen vertreten. In Waltersdorf und Mühlberg waren es dagegen nur 20 bis 30%. Dieser Anteil scheint nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen für die meisten Siedlungen des Binnenlandes in Betracht zu kommen. In der Völkerwanderungszeit waren Schweineknochen nach Ausweis der wenigen bisher bekannten Siedlungsfunde zwar etwas häufiger als Rinderknochen — in Brebi6res stammte sogar fast die Hälfte der geborgenen Tierknochen vom Schwein —, und auch unter den Grabfunden traten Knochen vom Schwein etwas häufiger als solche vom Rind auf, doch muß berücksichtigt werden, daß infolge der geringeren Größe die Fleischausbeute bei der Schlachtung eines Schweines bedeutend niedriger war als bei der Schlachtung eines Rindes. Die osteometrische Analyse der Schweineknochen ergab eine Übereinstimmung der Größen Variationsbereiche der kaiserzeitlichen und völkerwanderungszeitlichen Schweine. Als Widerristhöhen ließen sich anhand vollständig erhaltener Extremitätenknochen Werte von 65 bis 80 cm ermitteln. Die nahezu gleiche Größenvariation weisen die Schweine in den römischen Siedlungen am Rhein und an der Donau auf (M. Teic-hert 1974, S. 259f.). Die Schweineknochen aus den völkerwanderungszeitlichen Gräbern belegen vorwiegend jüngere, etwa i 1 / 2 —2 x / 2 Jahre alte Tiere. Sie rühren von fleischreichen Körper25
26
Weiteren Forschungen muß es überlassen bleiben festzustellen, ob die Rinder der Völkerwanderungszeit allgemein größer waren als die der Kaiserzeit oder ob die Größenvariation der Rinder in der Völkerwanderungszeit die gleiche war wie in der Kaiserzeit und man dem Toten nur Teile von ausgewählten, relativ großen Rindern als Teil des Totenmahles mit in das Grab gegeben hatte. Beachtet man in diesem Zusammenhang die geringe Größe der mittelalterlichen Rinder, ist die zuletzt genannte Version die wahrscheinlichere. Der Grund dafür ist in den unterschiedlichen Biotopverhältnissen zu suchen. Vor der Einführung des Kartoffelanbaues in Mitteleuropa, der erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. feldmäßig erfolgte, war die Waldweide für die Schweineherden die wichtigste Futtergrundlage. Demzufolge war nur in solchen Gebieten des Binnenlandes eine umfangreiche Schweinehaltung möglich, wo sich in der Nähe der Siedlungen umfangreiche Eichen- und Buchenwälder befanden.
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111
WRH :
0
cm
32 72 63
Abb. 2 i . Mittlere Größe der Rinder und Pferde aus germanischen und römischen Siedlungen; mittlere Größe der Schweine und Schafe im Verhältnis zur mittleren Größe rezenter Haustiere (weiß = germanisch, gestrichelt = römisch, schwarz = rezent).
partien her; Teile der fleischarmen Partien fehlen dagegen. Offensichtlich gab man dem Toten nur gute Fleischstücke, meist einen Vorder- oder Hinterschinken, mit in das Grab. Schafe und Ziegen waren für die Fleischversorgung von geringerer Bedeutung; eine Feststellung, die sowohl für die Kaiserzeit als auch für die Völkerwanderungszeit
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Gültigkeit hat.27 Da sie mit Grün- und Rauhfutter ernährt werden konnten, stellten sie keine hohen Ansprüche an die Futterversorgung. Ihre Haltung war ohne Schwierigkeiten möglich. Sie erreichte in den Küstenregionen an der Nord- und Ostsee einen relativ hohen Prozentsatz, weil in diesen Gebieten der Grünlandanteil für sie recht günstige Ernährungsbedingungen bot. In gleicher Weise wie die Schweine waren Schafe und Ziegen kleiner als rezente Hochzuchttiere. Ihre Größe variierte zwischen 55 und 70 cm. Den Pferden kam nach dem Anteil ihrer Knochen in den Siedlungsfunden im allgemeinen der vierte Platz unter den Haustieren zu. Sie waren mit 5 bis höchstens 1 5 % vertreten. Unter den völkerwanderungszeitlichen Grabfunden nehmen sie allerdings eine dominierende Stellung ein (Abb. 22). Sie wurden entweder gemeinsam mit dem Toten in einer Grabgrube oder, und das sogar häufiger, gesondert auf dem Gräberfeld beigesetzt. Sie stellten keine Fleischbeigabe dar, sondern können als Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung, die der Verstorbene im Leben innehatte, gewertet werden. Bisher konnten über 50 Pferdeskelette untersucht werden. Das Fundmaterial ermöglichte eine ausführliche osteologische Analyse, die über die Reitpferde der Völkerwanderungszeit gute Anhaltspunkte gibt. Als Reitpferde verwendete man nur männliche Tiere. Die Pferde befanden sich alle in einem guten, gebrauchsfähigen Alter, wie aus der nachfolgenden Tabelle der Altersgliederung hervorgeht: bis zu 5 Jahre 5 bis 10 Jahre 10 bis 15 Jahre über 15 Jahre
ca. ca. ca. ca.
24% 33% 31% 12%
Das jüngste Tier unter den Reitpferden war 2 1 / i Jahre, das älteste etwa 18 Jahre alt, als man sie zur Mitbestattung tötete. Der Verstorbene erhielt also nicht ein altes oder unbrauchbares Pferd mit in das Grab, sondern offensichtlich sein Reitpferd. Manchem Toten waren zwei, in einem Fall sogar vier Pferde (Grab 18 des Fundplatzes in der Feldstraße von Mühlhausen) beigegeben worden. Leider ist bei den Pferdegräbern der Völkerwanderungszeit eine direkte Zuordnung zu bestimmten Toten nicht immer durchzuführen, so daß nicht festgestellt werden kann, ob ein Toter, dem zwei oder mehr Pferde beigegeben wurden, auch durch andere hervorragende Beigaben ausgezeichnet ist. Die Größenvariation der völkerwanderungszeitlichen Reitpferde war beachtlich. Die Widerristhöhenberechnungen ergaben Werte zwischen 1 1 9 und 150 cm mit einem Mittelwert von 135 cm.28 In der Größe kamen sie heutigen Islandpferden gleich. Für die Pferde der Kaiserzeit konnte eine Größenvariation von 1 1 5 bis 145 cm festgestellt werden. Ihre mittlere Widerristhöhe betrug 130 cm, die der zeitgleichen römischen Pferde jedoch 140 cm (Abb. 21). Gegenüber der Kaiserzeit scheint sich während der Völkerwanderungszeit in der Größenentwicklung der Pferde ein Fortschritt abzuzeich27
28
Das schwache Vorkommen von Schaf/Ziegen-Knochen unter den Funden in Gräbern dürfte allerdings durch andere Ursachen bedingt sein. Möglicherweise gehörten Schafe und Ziegen im allgemeinen nicht zu den Tieren, die bei einem Totenmahl verzehrt wurden. Die Widerristhöhe der Pferde wurde nach der Methode von V. O. Vitt (1952, S. 172 f.) berechnet.
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Abb. 22. Verbreitung frühgeschichtlicher Pferdegräber in Mitteleuropa. 1) 5. und 6. Jh. 2) 7. Jh. (nach M. Müller-Wille 1970/71, Abb. 20; ergänzt).
nen. Auch waren die Reitpferde der Völkerwanderungszeit kräftiger und breitwüchsiger als die Pferde der Kaiserzeit, was durch den Längenbreiten-Index der vorderen Mittelfußknochen (Metacarpen) besonders deutlich veranschaulicht werden kann (je höher der Längenbreiten-Index ist, desto breitwüchsiger waren die Pferde). Ob allerdings die Größenzunahme und die stärkere Breitwüchsigkeit der völkerwanderungszeitlichen Reitpferde tatsächlich auf echte Zuchtmaßnahmen oder eventuell nur auf die Auswahl bestimmter Pferde für Reitzwecke zurückgeführt werden kann, läßt sich erst nach einer genaueren Analyse auch der frühmittelalterlichen Pferde sagen. 8
Germanen - Bd. 2
ii4
WIRTSCHAFT
Längenbreiten-Index
kaiserzeitliche
völkerwanderungszeitliche
der Metacarpen
Pferde
Reitpferde
unter 13,5
12,5%
13,6-14,5
21,9%
14.6%
14,6-15,5
43.7%
15,6-16,5
18,8%
16,6—17,5
3.1%
4i.7% 33.3% 8,3%
über 17,5
2,1%
Obwohl die vorgenannten Kenntnisse über die Reitpferde nur auf der Untersuchung der Pferde der Thüringer beruhen, ist doch anzunehmen, daß die Pferde der anderen germanischen Stämme sich nicht von ihnen unterschieden. Diese Annahme findet eine Stütze durch die Gleichsetzung der Pferde der Thüringer und der Burgunden, die der Römer Vegetius Renatus in seinem um 400 u. Z. geschriebenen Buch über die Veterinärmedizin29 vornimmt. Eine besondere Erwähnung der Thüringer Pferde ist durch einen Brief Cassiodors überliefert, den er im ersten Jahrzehnt des 6. Jh. als Staatskanzler des Ostgotenkönigs Theoderich an den König der Thüringer, Herminafried, schrieb. Darin werden die Pferde, die Herminafried als Brautgeschenk an Theoderich gesandt hatte, besonders lobend hervorgehoben, sie hätten ein ruhiges Temperament und würden den Reiter nicht durch unsinnige Bewegungen ermüden; außerdem seien sie sehr ausdauernd.80 Im kultischen Bereich spielte das Pferd sowohl in der Kaiserzeit als auch in der Völkerwanderungszeit eine Rolle. Pferdeopfer sind von dem Gräberfeld des 4. Jh. von Leuna, Kr. Merseburg (W. Schulz 1953, S. 30f.), und aus dem Opfermoor von Oberdorla, Kr. Mühlhausen (G. Behm-Blancke 1958, S. 379 u. Taf. 22b), bekannt. Bei ihnen war der fleischreiche Teil des Pferdekörpers wohl bei einem Opfermahl verzehrt worden, während der Kopf und die unteren Teile der Extremitäten im Fell verblieben und als Pars-pro-toto-Opfer meist in einer Grube beigesetzt wurden (G. Behm-Blancke 1965, S. 234ff.). Auf dem völkerwanderungszeitlichen Gräberfeld von Oberwerschen, Kr. Hohenmölsen, waren in drei kleinen Opfergruben Schädel und die unteren Teile der Extremitäten jeweils eines Pferdes gefunden worden (B. Schmidt 1961, S. 86). Interessanterweise handelte es sich bei zwei der Tiere um Stuten von 10—11 bzw. von 29
P. Vegetius Renatus, Digestorum artis mulomedicinae libri.
30
Der Teil des Briefes, der sich auf die Pferde der Thüringer bezieht (MG A A 1 2 ; Cassiodor 4,1) lautet in der Übersetzung nach T h . Steche: „ M i t D a n k teilen wir euch mit, d a ß wir von eurem Gesandten die kostbaren Gaben angenommen h a b e n : Pferde m i t silbriger Farbe bekleidet, wie sie sich als Brautgeschenk ziemten. Ihre Brüste und Schenkel sind ansehnlich m i t rundlichem Fleisch ausgestattet. Die Rippen erstrecken sich in ziemlicher Breite, der B a u c h ist auf kurzem R a u m zusammengedrängt. Der K o p f gibt das Bild eines Hirsches wieder, mit einem solchen haben sie sichtbar Ähnlichkeit, wenn sie seine Schnelligkeit nachahmen. Sie sind bei beträchtlicher Wohlgenährtheit sanft, durch große Schwere auffallend, im Anblick erfreulich, im Gebrauch recht angenehm. Sie treten weich auf und ermüden die Reiter nicht durch unsinnige Bewegungen, man ruht sich auf ihnen mehr aus als daß m a n sich anstrengt, m i t erfreulicher R u h e versehen, haben sie gezeigt, daß sie bei anhaltender B e w e g u n g ausdauern."
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4 Jahren und bei dem dritten um einen Hengst von 10—11 Jahren. Auch dicht neben dem Reitergrab des 5. Jh. von Geusa, Kr. Merseburg, fanden sich in einer derartigen Opfergrube Schädel und die unteren Teile der Extremitäten von einem 6—7 Jahre alten Hengst (B. Schmidt 1976, S. 85). Für Opferzwecke verwendete man also sowohl männliche als auch weibliche Tiere, als Reitpferde dagegen nur männliche Tiere (vgl. S. 255). Der Hund ist unter den Nahrungsüberresten in den Siedlungen zahlenmäßig gering vertreten, sein Anteil liegt im allgemeinen unter 5%. Er wurde als Jagd-, Wach- und Hütehund gehalten, aber nur selten gegessen. In der Siedlung bei Waltersdorf, Kr. Königs Wusterhausen, fand man in einigen Häusern komplette Hundeskelette. Wahrscheinlich hatte man die Hunde als Bauopfer verwendet. Auch aus der völkerwanderungszeitlichen Siedlung „Am Donnersberg" bei Gielde, Kr. Goslar, liegen zwei vollständige Hundeskelette vor. Diese Hunde waren im Vergleich zu rezenten Rassen mittelgroß bis groß. Ihre Widerristhöhe variierte zwischen 50 und 65 cm. Die Germanen hielten meist Hunde dieser Größe. Sie waren relativ kräftig und eigneten sich gut für den Einsatz als Hirten-, Wach- und Jagdhunde. In römischen Siedlungen waren vereinzelt auch kleinere Hunde von 25 bis 35 cm nachweisbar. Möglicherweise stellten sie eine von den Römern gezüchtete besondere Hunderasse dar, wovon auch einzelne Individuen in die germanischen Stammesgebiete gelangt sind. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Skelett eines etwa 30 cm großen Hundes, das in der Siedlung bei Mühlberg gefunden wurde, auch um ein von den Römern erworbenes Tier. Unter den völkerwanderungszeitlichen Grabfunden ist der Hund nicht selten anzutreffen, bisher konnten über 20 Hundeskelette einer osteologischen Analyse unterzogen werden. Diese Hunde waren kräftige Tiere mit Widerristhöhen von 62—68 cm (Mittelwert = 64,6 cm).31 Im Skelettbau ähnelten sie unter den modernen Rassen am ehesten dem Deutschen Schäferhund. Man könnte versucht sein, diese Hunde aus der Völkerwanderungszeit auf Grund des Knochenmaterials als eine besondere Rasse anzusprechen, doch ist es ebensogut möglich, daß aus einem umfangreicheren, aber sehr variablen Bestand die größten Hunde ausgewählt und als Jagdhunde abgerichtet worden waren. Dafür spricht auch schon die Tatsache, daß die zwei Hunde aus der Siedlung „Am Donnersberg" bei Gielde nur etwa 50 bzw. 56 cm groß waren (R. Thesing 1978, S. 185f.). Zieht man außerdem die kaiserzeitlichen Hunde zum Vergleich heran, deren Widerristhöhen einen wesentlich weiteren Variationsbereich umfaßten, so ist zu erkennen, daß die Hunde aus den völkerwanderungszeitlichen Gräbern den oberen Teil dieses Variationsbereiches einnehmen. Da auch in mittelalterlichen Siedlungen die mittelgroßen Hunde überwiegen, ist es am wahrscheinlichsten, daß wir hier nicht Hunde einer besonderen, auf Größe gezüchteten Rasse vor uns haben, sondern für bestimmte Zwecke ausgewählte Exemplare einer undifferenzierten Population. Soweit das Geschlecht bei den Hundeskeletten aus den Gräbern zu bestimmen war, handelte es sich durchweg um Rüden. Wie bei den Reitpferden hatte man bei den Hunden offensichtlich männliche Individuen bevorzugt. Auch diese Tiere befanden sich in einem guten, leistungsfähigen Alter, die meisten von ihnen waren 2—3 Jahre alt, die jüngsten 1 / 2 Jahr und die ältesten nicht älter als 6—8 Jahre. 31
8*
Die Widerristhöhe der Hunde wurde nach der Methode von R. A . Harcourt (1974, S. 154) berechnet.
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WIRTSCHAFT
Die Hauskatze war in der römischen Kaiserzeit auch schon im freien Germanien verbreitet (M. Teichert 1974, S. 82), ihre Reste sind aber nur sehr vereinzelt nachweisbar. Für das 5. und 6. Jh. fehlen direkte Belege, doch war die Katze als Vertilger von Mäusen und Ratten und somit als Schützer der Getreidevorräte auch in dieser Zeit von Bedeutung. Als weitere Haustiere waren Huhn, Gans und Ente vorhanden, ihr Anteil an der Nahrungsgüterproduktion war aber sehr gering. Hühner treten jedoch verschiedentlich als Grabbeigaben auf, so in den reich ausgestatteten kaiserzeitlichen Gräbern von Leuna, Kr. Merseburg, und Haßleben, Kr. Erfurt, und in mehreren völkerwanderungszeitlichen Gräbern. Es kann sich bei ihnen um Fleischbeigaben gehandelt haben, doch muß auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß diese Tiere im Grabritus einen besonderen Symbolgehalt hatten. Während sich in Leuna in einem Grab Reste eines tischfertig hergerichteten Huhnes, d. h. ohne Kopf und Füße, fanden, lagen in einem anderen Grab, abseits des Tafelgeschirrs und der Speisebeigaben, die Skelette von zwei Hähnen, bei denen noch die Füße vorhanden waren, so daß sie als kultische Grabbeigabe angesehen werden (O.-F. Gandert 1953, S. 91). Aber auch für die als Speisebeigaben bezeichneten Hühner ist ein bestimmter Symbolgehalt nicht auszuschließen, da die Hühnerknochen zusammen mit Skelettresten von Schweinen und Fischen angetroffen wurden. In ähnlicher Weise fanden sich auch in Haßleben in den besonders herausragenden Gräbern Skelettreste von Vierfüßlern, einem Vogel und einem Fisch, die offensichtlich die Tiere der Erde, der Luft und des Wassers symbolisieren sollten (W. Schulz 1953, S. 45). In der Völkerwanderungszeit hatte man die Hühner dem Toten vollständig mit Kopf und Füßen mit in das Grab gegeben.32 Auch die nicht selten in den Gräbern gefundenen Hühnereier lassen auf einen besonderen Symbolcharakter dieser Beigaben schließen. Das Ei galt als Symbol des wiedererstehenden Lebens. Auf Grund der osteometrischen Analyse des Knochenmaterials der Hühner können diese als relativ klein bezeichnet werden. Die größten von ihnen entsprachen kleinen Exemplaren unserer modernen Legerassen, wie „Weißes Leghorn" oder „Rebhuhnfarbige Italiener", die kleinsten den heutigen Zwerghühnern. Die Eier waren durchschnittlich 5,5 cm lang und 3,3 cm breit. Die Häufigkeit der Hühnerknochen in den Gräbern ist jedoch nicht eine Widerspiegelung der Bedeutung, die das Huhn für die Nahrungsversorgung hatte. Der Fleischanteil des Hausgeflügels an der Nahrung war bis ins Mittelalter hinein von untergeordneter Bedeutung. Das schließt aber nicht aus, daß auch bei der Geflügelhaltung eine allmähliche Steigerung erfolgt ist. Gänse und Enten waren relativ klein, sie unterschieden sich kaum von ihren wilden Stammarten. Die Kenntnis, Enten zu domestizieren, wurde durch die Römer in Germanien verbreitet. Hausenten ließen sich für die späte römische Kaiserzeit im Opfermoor bei Oberdorla, Kr. Mühlhausen, und in den Niederlanden nachweisen. Für den Diebstahl einer zahmen Gans oder Ente war nach der Lex Salica, den Gesetzen der salischen Franken, eine Buße von 3 Schillingen zu zahlen (K. A. Eckhardt 1953, S. 115). Die Haustaube, die von der Felsentaube abstammt, ist im freien Germanien nicht belegbar, obwohl sie bei den Römern schon seit dem 1. Jh. wegen ihres zarten Fleisches und auch als Lieblingstier gehalten wurde (Columella 8, 8, 1 — 13). Von ihnen ist sie 32
Nach dem bisher untersuchten Material waren diese Hühner alle weiblichen Geschlechts.
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auch in die Gebiete nördlich der Alpen eingeführt worden. Die bisher ältesten Fundnachweise von Haustauben aus diesem Gebiet stammen aus einem Grab des 2. Jh., unweit der früheren römischen Siedlung Ovilava, dem heutigen Wels in Oberösterreich (O.-F. Gandert 1973), und aus der römischen Stadt Augusta Raurica (E. Schmid 1967, S. 181).33 Auch die Honigbiene zählt zu den Haustieren. Der Honig als Zuckerquelle diente zum Süßen der Speisen und Getränke sowie zur Herstellung von Met. Wir dürfen annehmen, daß auf den Wiesen und in den Wäldern günstige Trachtverhältnisse bestanden haben, so daß die Bienen stets hohe Honigerträge lieferten. In der Lex Salica wird berichtet, daß der Diebstahl von Bienenvölkern einer Bestrafung mit 45 bzw. 15 Schillingen unterlag, je nachdem, ob die Bienenkörbe aus überdachten und verschlossenen Bienenständen