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German Pages 116 [120] Year 1959
DIE GEBURT DER APHRODITE
DIE GEBURT DER APHRODITE VON
ERIKA SIMON
M I T 53 T E X T A B B I L D U N G E N
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG Ç E O R G REIMER
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BERLIN
J. G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG
KARL J. TRÜBNER
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VEIT & COMP.
Printed in Germany Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35. Druck: Otto von Holten GmbH. Berlin W 35 Archiv-Nr. 3515 59
ROLAND
HAMPE
ZUM FÜNFZIGSTEN 2. DEZEMBER
GEBURTSTAG 1958
INHALT I. DER LUDOVISISCHE THRON Beschreibung der Hauptseite
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Aufsteigende Göttinnen auf attischen Vasen
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Beschreibung der Nebenseiten
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Aphrodite Urania
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Andere Darstellungen der Aphroditegeburt
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Die besondere Fassung der Aphroditegeburt am ludovisischen Thron
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II. DER BOSTONER THRON Beschreibung der Nebenseiten
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Ergänzung der Seite mit der Greisin
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Beschreibung der Hauptseite
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Schicksalswägung auf attischen Vasen
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Deutung der Hauptseite
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Vergleich der Hauptseite mit dem 5. homerischen Hymnus
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Aphrodite und Eos
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III. DIE BEIDEN T H R O N E Ihr gegenseitiges Verhältnis
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Frage ihrer ursprünglichen Anbringimg
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Ihre Wiederaufstellung in Rom
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Verzeichnis der Abbildungen und der wissenschaftlichen Literatur
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Register
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Das meiste nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl der Dem Neugebornen begegnet. Hölderlin
Im Gelände der ehemaligen Villa Ludovisi, einem heute dicht besiedelten römischen Stadtteil am Pincio, kam in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein antikes Marmorwerk ans Licht. Niemand hatte ähnliches gesehen. Einem Triptychon glich das Ganze, oder, wie man glaubte, den Lehnen eines Götterthrones. Die beiden seitlichen, nach hinten stehenden Flügel waren gut erhalten. Vom Hauptbild fehlte nur der obere Abschluß mit den Köpfen und den Schultern der beiden Frauen, die über eine aus der Tiefe emporstrebende weibliche Gestalt gebeugt sind. Das Relief, das aus einem einzigen Block griechischen Inselmarmors gewonnen ist, wurde glücklicherweise in einer Zeit gefunden, als man antike Oberfläche nicht mehr putzte und die Bruchstellen nicht mehr glättete, um Ergänzungen anzubringen. So kann es ungestört von modernen Eingriffen im Thermenmuseum betrachtet werden (Abb. ι—4). Aber der Thron, wie er der Einfachheit halber genannt sei, hat bereits in der Antike Veränderungen erleiden müssen. An allen drei Seiten fehlen unten die Ornamente. Bei den Gestalten der Nebenflügel (Abb. 3, 4) ist jeweils die vordere Hand abgearbeitet, um nur einiges zu nennen. Dies mag mit dem Entfernen des Denkmals von seinem ursprünglichen Standort zusammenhängen, den wir nicht kennen. An seinem römischen Fundplatz war es in zweiter Verwendung aufgestellt. Die Villa Ludovisi lag dort, wo in der Antike die Gärten des Sallust sich dehnten. Sie hatten ursprünglich dem bekannten Historiker gehört und waren zur Zeit des Tiberius in kaiserlichen Besitz übergegangen. Erlesene Kunstwerke waren darinnen versammelt. So wurde zwanzig Jahre nach dem ludovisischen Thron in demselben Gelände die Statue der sterbenden Niobide gefunden, die heute ebenfalls im Thermenmuseum steht. Seit seiner Entdeckung hat es dem ludovisischen Thron an Bewunderern nicht gefehlt. Die fünf dargestellten Frauen haben nie danach gefragt. Sie Geburt der Aphrodite
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sind ganz mit sich selbst beschäftigt. Kein Blick dringt nach außen. N u r der Körper der Hauptgestalt ist dem Betrachter voll zugewandt (Abb. i , 2.). Aber ihr Antlitz hebt sich anderen Sphären entgegen, entrückt auch den Körper. Dieser steckt bis über die Knie in der Tiefe und wird im unteren Teil durch ein dichtes T u c h jedem Blick entzogen. Die beiden seitlichen Frauen halten es. Sie kreuzen außerdem die Hände im Rücken der Mittelgestalt und berühren sie leicht unter den Achseln. Sie selbst hebt die Arme ausgebreitet nach oben. Ihre Hände sind durch die Schultern der beiden verdeckt. Ihr Brustkorb ist weit gedehnt, so daß sich der Rand des Rippenbogens deutlich abhebt über dem zarten, eingezogenen Leib. Die Körpergebärde läßt uns gleichsam fühlen, daß sie einatmet. Es ist ihr erster Atemzug im Licht, dem sie mit allen Sinnen entgegenstrebt. Das Gewand der beiden Frauen zur Seite ist verschieden: links der schwere, dichte Peplos, rechts der dünne, fließende Chiton. Aber ebenso stark wie die Unterschiede wirkt das Gemeinsame: der symmetrische Rhythmus der Bewegung, die Teilung des Kleides in der Mitte, die herabfallenden Falten. Beim Chiton stauen sie sich über dem Bausch in leichten Wellen und versprühen sich dann frei bis hin zum gestuften Saum. Die Peplosfalten folgen bereits von der Schulter an der Schwere des Stoffes. Das natürliche Fallen der Gewandbahnen ist zugleich ein Kunstmittel. Es läßt das wunderbare, senkrechte Aufsteigen in der Mitte so überzeugend wirken. Denn der Chiton der Hauptgestalt ist nicht durch Gürtung unterbrochen. Seine Falten ziehen nicht nach unten, sondern kleben wie feucht an der Haut. Dem Heben des Blickes und der Arme antwortet rechts und links das Senken der Köpfe und der Hände. Wie gespannt der Körper der mittleren ist, wie stark ihr Drang nach oben, wird durch den Gegensatz zu der gelockerten, geneigten Haltung der beiden Seitenfiguren doppelt deutlich. Durch Versuche am Modell hat man festgestellt, daß die beiden „Dienerinnen" bei solcher Bewegung die Gestalt nur leicht stützen, nicht aber emporziehen können. Das hat sie auch gar nicht nötig. Sie wächst aus eigener Kraft empor. Wie eine Pflanze entfaltet sie sich zum Licht. Doch das Ganze geschieht als Wunder, in einem großen, göttlichen Augenblick. Es ist jedoch kein öffentliches Wunder wie das Aufschießen des Ölbaums im Westgiebel des Parthenon. Dort sind die Geschlechter des attischen Landes als erregte Zeugen zugegen. Das Aufwachsen hier scheint sich geheim zu vollziehen, als Mysterion. Die beiden Begleiterinnen, die es schauen, berühren, mit dem T u c h umhüllen, sind selbst ein Teil davon. Durch ihre Gegenwart wird uns das Verschwiegene des Vorgangs überhaupt erst bewußt.
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A b b . 2. Ludovisischer T h r o n , Hauptseite. Aphrodite
Es ist aufschlußreich, die drei Gestalten der Hauptseite des ludovisischen Thrones mit einer sicheren Mysteriengruppe zu vergleichen : mit dem großen eleusinischen Relief (Abb. 5). Dort gehen die Impulse von den Seiten aus, von Demeter und Kore, während der Knabe Triptolemos in der Mitte passiv bleibt. Hier dagegen strahlt alle Kraft aus der Mittelgestalt, der sich die beiden seitlichen unterordnen. Verwandt aber ist die Feierlichkeit der StimII
mung und der Gebärden. Sie wird an beiden Werken durch ein gewisses Bewahren altertümlicher Ausdrucksweise gesteigert. Denn der strenge, symmetrische Bau der Gruppen wirkt „archaisch" in einer Umgebung, die sonst Stilmerkmale der Klassik trägt. Am ludovisischen Relief springt die Symmetrie sofort in die Augen, während sie am eleusinischen gemildert ist. Das liegt sowohl an der etwas späteren Entstehung als auch an der anderen künstlerischen Landschaft des Triptolemos-Reliefs. Es wurde in der Zeit des Parthenonfrieses in Athen geschaffen. Der Thron ist um die Mitte des 5. Jahrhunderts entstanden, und man konnte ihn überzeugend mit der Kunst Großgriechenlands verbinden. Strenger Bau im Verein mit unmittelbarem, starkem Ausdruck scheint auch sonst für Bildwerke typisch zu sein, die Griechen während des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Italien hervorgebracht haben. Für das Relief aus Eleusis bestehen thematische Parallelen in der Vasenmalerei Athens. Aber so viele Aussendungen des Triptolemos die Vasen bringen, keine kommt in Form und Gehalt der plastischen Gestaltung gleich. Nirgends sonst ist diese Konzentration der Aussage, diese schwebende Stimmung erreicht. Man darf deshalb auch für Gehalt und Form des ludovisischen Reliefs nichts genau Vergleichbares auf Vasen erwarten, obwohl wir hier viel stärker darauf angewiesen wären. Denn die Bilder könnten zur Deutung des Vorgangs beitragen, der bei der Sendung des Triptolemos kein Problem, hier aber ein großes Rätsel ist. Wegen des Fehlens überzeugender Parallelen haben manche Gelehrte hier die Vasenbilder ganz beiseite gelassen. Wenn wir uns der Grenzen dieser Malerei bewußt bleiben und ihre Aussage nicht überfordern, vermag sie uns dennoch manche für die Interpretation wichtige Einzelheit zu vermitteln. Auf attischen Gefäßen des 5. Jahrhunderts gibt es aus der Tiefe auftauchende göttliche Frauen in Fülle. Ge, die Erdgöttin, kann aus ihrem Elemente ragen, wenn sie den kleinen Erichthonios in die sorgsamen Hände der Athena legt (Abb. 6, 31). Das berückende Kunstgebilde Pandora erscheint so vor Epimetheus, aus der unterirdischen Schmiede des Hephaistos emporgesandt (Abb. 7). Unter dem Stabe des Hermes teilt sich die Erde und Persephone entsteigt dem Hades, ihren Jahresteil bei der Mutter im Lichte zu verbringen (Abb. 8). Das Aufsteigen, die „Anodos" dieser Gestalten war durch den Zusammenhang oder durch Inschriften längst bekannt. Als letzte kam die emportauchende Aphrodite hinzu (Abb. 24, 25). Sie ist jetzt dreimal durch Beischrift gesichert. Weitere Vasenbilder ohne Inschriften, doch mit verwandter Darstellung, lassen sich anschließen. Alle stammen aus dem
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Abb. 6. Geburt des Erichthonios. London
mittleren 5. Jahrhundert. Sie sind dem ludovisischen Relief aus derselben Zeit näher verwandt als die übrigen Anodos-Bilder. Ge, Pandora, Persephone entsteigen dem Grunde so, daß sie sich sofort auf einem Götterthrone niederlassen könnten. Meist tragen sie einen Chiton und den Mantel darüber. Aphrodite dagegen erscheint im einfachen Chiton oder im Peplos (Abb. 24, 28, 29). Wenn ihre Haare nicht in einer Haube geborgen sind, wallen sie in langen, gelösten Locken auf Schultern und Rükken. Auch der Hauptgestalt unseres Reliefs fallen zwei schön gravierte Strähnen lose auf die Brust. Ihr feines Ohr ist durch das lange, wellige Haar in der oberen Hälfte entblößt, wie es bei keiner geordneten Frisur zu sein pflegt. Sie trägt ein einfaches Band um das Haupt. Die anderen aufsteigenden Frauen sind reich geschmückt. Das ist bei Pandora selbstverständlich. Bei Persephone handelt es sich um die alljährliche feierliche Wiederkehr, von der Erdgöttin ganz zu schweigen. Aphrodite wird auf den Vasen oft von Gestalten empfangen, die ihr Schmuck und Gewänder entgegentragen, denn sie erscheint als Neugeborene. Ihre Geburt aus dem Schaum des Meeres, die
Abb. 7. Pandora taucht vor Epimetheus aus der Tiefe. Oxford
der 6. homerische Hymnus feiert, ist dargestellt. Die gelösten Haare passen zu diesem Geschehen. Sie sind in späteren Fassungen der Aphroditegeburt gleichsam zum Thema geworden. Die berühmte auftauchende Aphrodite des Apelles, die Anadyomene, wand sich mit beiden Händen das Meerwasser aus dem Haar. Botticellis Venus auf der Muschel wird von einer Fülle goldener Locken umwogt, wie von einem anderen Meer (Titelbild). Der Westwind spielt mit ihren gelösten Flechten. Eine fällt auf die rechte Schulter, liegt wie Geschmeide an ihrem Hals wie bei der Gestalt am ludovisischen Thron. 17
Abb. 8. Persephone entsteigt dem Erdspalt. New York
Die Kiesel, auf denen die zwei „Dienerinnen" stehen, weisen auf Wassernähe (Abb. 9). Da Landschaft in der griechischen Kunst jener Zeit nur sehr zurückhaltend dargestellt wird, müssen sie von besonderer Bedeutung sein. Der Maler Polygnot hatte in seinem großen delphischen Wandbild, das Trojas Zerstörung zeigte, den Meeresstrand durch Kiesel angedeutet (Paus. 10, 25, 11). Die Steinchen waren so gemalt, daß sie unter dem Wasser hervorschimmerten. Denkt man sich am ludovisischen Thron die verlorene Bemalung hinzu, so wirkte das Kieselgeschiebe wohl ähnlich feucht bespült. Die Vasenmaler jener Zeit haben das Wasser so wenig angedeutet wie sonst die Erde. Nur einmal entsteigt Persephone einem richtigen Spalt, dem Schlund des Hades (Abb. 8). Auf der weißgrundigen Pyxis in Ancona ist die auftauchende Aphrodite von Kieseln umgeben (Abb. 24). In den anderen Fällen bildet der Ornamentstreifen der Vasen die abstrakte Basis, die je nachdem Erdoberfläche oder Meeresspiegel sein kann. Unser Relief wird an der 18
Abb. 9. Ludovisischer Thron. Fuß der linken Dienerin und Kieselstrand
Stelle, wo sich die Göttin erhebt, ebenfalls von einer einfachen Leiste abgeschlossen. Daß die Gestalt aus dem Wasser kommt, ist aber an ihrem naß am Körper liegenden Gewände zu spüren. Das Thema „Wasser" wird auch vom Chiton der rechten Dienerin aufgegriffen und variiert: Das Faltengeriesel am Oberkörper und der kaskadenähnliche Gewandfall unterhalb der Gürtung rufen unwillkürlich den Eindruck strömender Fluten hervor. Es ist daher kein Zufall, wenn die Auftauchende nicht der Chitonträgerin ihr 19
Haupt zuwendet, sondern der anderen Helferin im strengen Peplos. Was in der Vertikale „real" geschieht, der Übergang vom Feuchten zum Festen, wiederholt sich für das Auge in der Horizontale in freiem künstlerischem Spiel. Unsere Interpretation des ludovisischen Reliefs neigt also der von verschiedenen Gelehrten und Laien längst ausgesprochenen Meinung zu, es sei das Aufsteigen einer Göttin aus dem Meere dargestellt, die Geburt der Aphrodite. Vor wenigen Jahren hat jedoch E. Langlotz eine andere Erklärung vorgeschlagen: „Die Mittelgestalt ist im kultischen Bad eben aufgetaucht und streckt sich zum Licht empor, während die Ministrantinnen das letzte Eintauchen in das reinigende Wasser zu vollziehen sich anschicken". — Wäre dies haltbar, so hätten wir etwas völlig Neues gewonnen. Mit der Tradition der Anodos-Bilder auf den Vasen wäre gebrochen. Wir hätten die kühne, für frühklassische Plastik bezeichnende Gestaltung eines transitorischen Augenblicks. Die Interpretation geht von der somatischen Erfassung der beiden Dienerinnen aus. Ihr Griff könne nicht heben, sondern nur stützend halten. Die Beobachtung der Körperfunktion wird aber mit der Bemerkung eingeschränkt, daß es sich nicht um ein wirkliches Stützen handele, sondern um ein kultliches Berühren. Ist ein solcher Gestus nicht ebenso bei einer neugeborenen Göttin möglich? Langlotz hat der Auftauchenden keinen Namen gegeben. Er hält sie für eine „tellurische Allgottheit". Rituelles Baden ist uns in der Tat für so viele und so grundverschiedene Kulte überliefert, daß das Raten jeden Sinn verlöre. Doch nicht die Göttinnen selbst, sondern ihre Bilder pflegten gebadet zu werden. Man müßte am ludovisischen Thron also eine Verlebendigung der Kultstatue annehmen oder das stellvertretende Bad einer Priesterin. Beides wurde erwogen und beides wirkt gezwungen. Vor allem: Wie harmonieren damit die Gestalten auf den Nebenflügeln? Langlotz hat sie absichtlich zur Seite gelassen, obgleich sie auch für ihn „wirklichkeitsnäher als die Ministranten" sind. Von ihnen her wird sich das Rätsel der Hauptseite lösen. Die nackte Flötenbläserin des linken Schmalflügels hat gewiß auch den antiken Betrachter durch die atmende Lebendigkeit ihres Körpers entzückt (Abb. 4). Es ist hier gelungen, den Marmor trotz strenger Stilisierung völlig zu beseelen. Selbst ein totes Ding wie das zarte, schwellende Kissen hat an dieser Belebung teil. Es war gewiß mit bunten Mustern bemalt, wie wir sie von Vasenbildern kennen (Abb. 10). Dasselbe gilt für die Haube, die das Haar des Mädchens bis auf einige weiche Lockenbögen an der Schläfe fest umschließt. Die feinen Webmuster an Kissen und Kopftuch bildeten ursprünglich wohl einen reizvollen Rahmen zur sanften Glätte ihrer Haut.
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Abb. io. Flötenblasende Hetäre. Madrid
Durch die Vasen (Abb. 10—12) steht auch der Beruf des Mädchens fest. Sie ist eine Hetäre .Mit dem Hinweis auf die Hetären der großen Vasenmaler des ausgehenden 6. Jahrhunderts v. Chr. wird man ihr aber nicht gerecht. Zwar geben sich auch jene fröhlichen, robusten Wesen von den Spitzen der Finger bis zu denen der Zehen den Flötenklängen hin. Doch bei ihnen fehlt das verinnerlichte Lauschen auf die Musik, das die Hetäre in dem Relief auszeichnet. Es prägt sich besonders in der weiten, sensiblen Muschel des Ohres aus. Ihr versunkenes Musizieren erschließt auch die Art der anderen Hingabe, die das Kissen andeutet. Es ist das „liebliche Lager", das Pindar bei den korinthischen Hierodulen besingt (S. 25) und gehört zu ihr als „Attribut" wie die Doppelflöte. Auf der anderen Nebenseite sitzt eine junge Frau mit verschleiertem Haupt (Abb. 3). Um ihren schlanken Körper und den dünnen Chiton hat sie den Mantel so gelegt, daß von ihren Händen nur soviel freibleibt, als zu der heiligen Handlung nötig ist. Sie hat nämlich einer runden Büchse Weihrauchkörner entnommen und ist im Begriff, sie auf ein Thymiaterion zu streuen. Auf hohem, pflanzenartigem Ständer steht es vor ihr wie eine geöffnete Blüte. Sein glockenförmiger Deckel hängt rechts herab. Es ist wohl aus edlem Metall zu denken. Nach Cicero gab es in Sizilien kein nur etwas wohlhabendes 21
Abb. I i . Hetären beim Gelage. Leningrad
Haus, das nicht ein silbernes Thymiaterion besessen hätte (Verr. 2,4,46). Die Verhüllte ist ganz ihrem stillen Handeln hingegeben wie die nackte Flötenbläserin der Musik. Wie diese sitzt sie auf einem Kissen, doch nicht mit überkreuzten Beinen. Während das weiche, üppige Polster dort jedem Druck des Körpers nachgibt, handelt es sich hier um ein sprödes, matratzenähnliches Gebilde. Es muß bei der sparsamen Verwendung von Beiwerk in diesem Re-
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Abb. 12. Flötenblasende Hetäre. Leningrad
lief eine bestimmte Bedeutung haben. Symposion- und Hetärenlager scheiden bei dem strengen Charakter der verhüllten Spenderin aus. Zu ihrer bräutlichen Verschleierung aber paßt die Andeutung des Brautbettes. Das Sitzen der Braut auf dem Hochzeitslager ist ein bekanntes Motiv der antiken Kunst (vgl. Abb. 15). Durch die abgekürzte Darstellung des Lagers ist die Gestalt als Braut gekennzeichnet, die ein Weihrauchopfer darbringt. Sie vollzieht es 23
in anmutigem Ernst, nicht in schwerem Sinnen wie das Mädchen auf der gleichzeitigen Grabstele Giustiniani in Berlin: Ihm war die Erfüllung der Ehe versagt. Es starb als Braut des Hades. So gegensätzlich die Hetäre und die Braut des Reliefs auch wirken, beide stellen doch, wenn auch als Gegenbilder, Formen weiblicher Hingabe dar. Irgendwo berühren sich die Wurzeln ihres Wesens schwesterlich. Das muß daran hegen, daß beide derselben Göttin dienen, eben der, die im Hauptrelief des Thrones aus den Fluten taucht. Sie ist so groß, daß sie solche Gegensätze in sich vereinen kann. Der Zeit des Reliefs entsprechend ist sie aber keine synkretistische Allgottheit, sondern eine ganz bestimmte göttliche Gestalt. Es gibt eine Göttin, auf die all dies zuzutreffen scheint: Aphrodite Urania. Mit dem Beinamen Urania, der die „Himmlische" heißt, nannten die Griechen die Aphrodite, die zu ihnen aus dem Osten gekommen war. Aus Askalon war sie, wie Herodot weiß, nach Hellas gelangt (i, 105). Auf Kypros und auf dem Inselchen Kythera hat sie nach der Überlieferung zuerst Fuß gefaßt. Ihre Namen Kypris und Kythereia stammen daher. Noch Pausanias sah auf Kythera ihr uraltes Kultbild und bezeichnet das dortige Heiligtum als das heiligste der Aphrodite in Griechenland (3, 2 3 , 1 ) . Alle semitischen Völker des Orients mit Ausnahme der Juden verehrten dieselbe Göttin unter verschiedenen Namen. Sie war dort die Herrin der Vegetation, der weiblichen Fruchtbarkeit, der Ehe. Tempelprostitution war in ihrem Kulte üblich. Das bevorzugte Opfer für sie war der Weihrauch. Die Griechen haben ihn vielleicht überhaupt durch die Verehrung dieser Göttin kennengelernt. All dies hat mit der Gestalt der Aphrodite, wie Homer sie schaute, wenig zu tun. Die Göttin, die Helenas Entführung bewirkt, hat vor allem mit der Ehe nichts zu schaffen. Nur einmal, in der Odyssee 20, 74 ff. ist erzählt, daß sie sich um die Vermählung zweier Schwestern gekümmert habe, der Töchter des Pandareos. Sie tat es nur, weil sie Mutterstelle an ihnen vertrat. Die Beziehung zu Ehe und Fruchtbarkeit und die Hierodulen waren jedoch im Orient so fest mit der Göttin verbunden, daß die eingewanderte Urania auch in manchem ihrer griechischen Heiligtümer Züge bewahrte, die mit der homerischen Gestalt der Liebesgöttin nicht übereinstimmen. So soll in Athen König Aigeus den Kult der Urania wegen der Kinderlosigkeit seiner Familie gegründet haben (Paus. 1 , 1 4 , 7). Nach ihrem anderen Kultplatz in Athen brachte die Göttin aus dem Osten ihre heiligen Gärten mit (Paus. 1 , 1 9 , 2). Die Schildkröte, worauf die goldelfenbeinerne Urania-Statue in Elis den Fuß stützte, galt als Symbol der Häuslichkeit und der Schweigsamkeit der
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Ehefrauen (Plut., praec. coni. 32 p. 142D). Ihr Heiligtum in Korinth war berühmt durch seine Hierodulen. Allein hundert Mädchen hatte der Korinther Xenophon für seine olympischen Siege gestiftet, die Pindar in der 13. Ode feiert. Die korinthischen Tempelmädchen selbst hat der Dichter in einem Skolion für Xenophon so angesprochen (Fr. 122 Snell): „Vielgastliche Mädchen, Dienerinnen der Peitho ihr im reichen Korinth, die ihr vom grünen Weihrauchbaum die blonden Zähren spendet und oft die Gedanken fliegen laßt zur Mutter der Eroten, zu Aphrodite Urania : Euch gab sie, ohne Vorwurf, o Kinder, auf lieblichen Lagern die Frucht zärtlicher Stunde zu pflücken". Πολύξεναι νεάνιδες, άμφίττολοι Πειθούς έν άφνειώ Κορίνθω, αϊ τε τδς χλωρσς λιβάνου ξανθά δάκρη θυμιατε, ττολλάκι ματέρ' ερώτων Ούρανίαν πτάμεναι νοήματι προς Άφροδίταν, ύμϊν ανευθ' έπαγορίας επορεν ώ παίδες, έρατειναΐς εύυαΐς μαλθακας ώρας crrrò καρττόν δρέττεσθαι. Im Kranz des Meleager sind Weihepigramme von Ehefrauen und von Hetären erhalten, die sich an Aphrodite Urania wenden. Die Hetären tun es unbefangen, während eine Ehefrau betont, daß ihre Gabe nicht der gemeinen Aphrodite, der Pandemos, gelte, sondern eben der himmlischen. Sie unterscheidet also zwischen zwei Gestalten der Göttin wie jener sophistische Liebhaber im platonischen Symposion. Diese Differenzierung zwischen „himmlischer und irdischer Liebe" entstammt nicht der religiösen Sphäre, sondern der Reflexion. Doch in der hellenistischen Zeit, wohin die Epigramme gehören, war solche Philosophie längst in die Religion eingedrungen. Aus beiden Lagern sei je ein Beispiel in A. Oehlers schöner Übersetzung angeführt. Beide stammen von Meistern der Epigrammkunst. Theokrit läßt eine Ehefrau in ihrem eigenen Haus ein Bild der Urania weihen (AP. VI 340) : Dies hier ist nicht die Kypris aller Welt. Willst du die große Göttin dir versöhnen: Nenn' sie Urania, sprichst du von der Schönen, Die hier mit reinem Sinne aufgestellt 2
G e b u r t der Aphrodite
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Chrysogona im Hause ihres Gatten, Des Amphikles, mit dem der Kinder Schar Und den Besitz sie teilet; Jahr um Jahr Ging ihnen alles glücklicher vonstatten; Denn sie begannen jeden Tag mit dir, Du Gütige: Unsterblicher zu pflegen, Geschlecht der Menschen, und des Hauses Segen Dir selber zu vermehren — lern' es hier ! Dioskurides dagegen begleitet das Geschenk einer Hetäre mit seinem Gedicht (AP. VI. 290): Den Fächer hier hat Parmenis geweiht Als Zehent ihres Betts, der süßen Urania legt sie dies Gerät zu Füßen, Das milde Lüfte spendet allezeit. Von nun ab läßt als Dank für solche Ehre, Mag auch der Sonne Brand am Himmel stehn, Vom Westen her die Göttin Winde wehn Und sanfte Kühlung bringen der Hetäre. Die stärkste Bindung der Aphrodite an die Ehe scheint sich im Kulte Spartas erhalten zu haben. Im oberen Stockwerk des dortigen Aphroditetempels wurde eine Nebengestalt der Göttin, die verschleierte, an den Füßen festgebundene Aphrodite Morpho verehrt. Tyndareos soll ihr die Fesseln angelegt haben, um so die eheliche Treue der Frauen anzudeuten (Paus. 3 , 1 5 , 11). Auch gab es in Sparta ein altes Kultbild, Aphrodite Hera genannt. Die Mütter pflegten dort vor der Hochzeit ihrer Töchter zu opfern (Paus. 3, 13, 9). Die Liebesgöttin war hier mit der göttlichen Stifterin der Ehe zu einer einzigen Gottheit verschmolzen. Man hat vergeblich versucht, diese Gestalt als ursprüngliche Hera zu deuten. Die Aufspaltung in Aphrodite und Morpho und die Vereinigung der Aphrodite mit Hera sind vielmehr als analoge Vorgänge aufzufassen. Hinter beiden steht die komplexe Gestalt der Urania: Sparta war ihrem Einfluß besonders ausgesetzt. Vor den Toren Lakoniens lag die Insel Kythera, ihr ältester hellenischer Kultplatz. Das dortige Bild der Urania wird von Pausanias als bewaffnetes Xoanon bezeichnet (3,23,1). Denselben Ausdruck gebraucht er für das Kultbild im Aphroditetempel zu Sparta ( 3 , 1 5 , 1 0 ) . In der Stadt Hermione, die von Helenas Tochter den 26
Abb. 13. Iris und Zephyros am Wagen der Aphrodite. Tarentinisches Tonaltärchen. Triest
Namen hat, opferten die Mädchen und die Witwen vor ihrer Vermählung der Aphrodite (Paus. 2, 34, 12). Auch Hermione lag im Strahlungsbereich des Uraniakultes von Kythera. Reicher als im Mutterlande konnten sich die ungriechischen Züge der Aphrodite in Großgriechenland entfalten. Mancherlei Bedingungen trafen hier zusammen. So trat den ausgewanderten Griechen in den phönikischen Kolonien Italiens aufs neue die orientalische Gestalt der Urania entgegen. Ihr Heiligtum auf dem Berge Eryx in Sizilien war wie das korinthische berühmt für seine Hierodulen, die in Scharen dorthin gestiftet wurden (Strabo
Abb. 14. Iris und Zephyros ziehen Aphrodite aus dem Meer. Tarentinisches Tonaltärchen. Heidelberg
6,2,5 p. 272). Für viele Orte Großgriechenlands läßt sich eine nahe Beziehung der Aphrodite zur Ehe erschließen. Die Weihinschrift „der Hera und der Aphrodite" aus dem sizilischen Akrai steht nicht mehr allein (IG. 14, 208). Ausgrabungen in Paestum und an der Mündung des Silaris, in Foce del Sele, brachten im heiligen Bezirk der Hera Terrakotten zutage, deren aphrodisischer Charakter nicht abgestritten werden kann. Die schönsten Darstellungen der Aphrodite als hochzeitliche Göttin aber liefert Tarent. Zu der großgriechischen Atmosphäre, die dieser Vorstellung günstig war, trat hier die Kulttradition der Mutterstadt Sparta. Schriftlich ist wenig erhalten. Doch die Bildkunst spricht eine deutliche Sprache. Seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wurden in Tarent kleine kastenförmige Geräte aus Ton hergestellt (Abb. 14). Sie haben eine Öffnung an der Rückseite und keinen Boden. Man suchte, sie als Altärchen für Weihrauchopfer zu erklären. Wie es sich auch damit verhält, ihr Reliefschmuck ist ganz der Aphrodite geweiht. Die Göttin tritt in großartiger Epiphanie 28
Abb. 15. Aphrodite betritt die Hochzeitskammer. Tarentinisches Tonaltärchen. Triest
selbst zur Hochzeitskammer herein (Abb. 15). Ihr gegenüber sitzt auf hohem Lager die scheue, verhüllte Braut. Eine kleine Sklavin kauert auf dem Schemel, ihrer Herrin die Sandalen zu lösen. Die Hydria mit dem Brautbad steht am Fußende des Lagers. Die Göttin hält in ihrer Linken einen Spiegel. Von der Rechten entsendet sie mit königlicher Gebärde den Liebesgott. Er fliegt mit einem Band auf die Verschleierte zu. Aphrodite erscheint hier in der Tat als „Herrin der Brautkammern", als θαλάμων σνασσα (Hesych). Zum Repertoire dieser Altärchen gehörten ferner das Brustbild der Aphrodite, von zwei Eroten gerahmt, und Eros, der Weihrauch auf ein Thymiaterion streut. Es ist keine Frage, daß sie zugleich zu Aphrodite und zur Hochzeit Beziehung hatten. In einem der beliebtesten Reliefs dieser Gattung taucht Aphrodite auf leichtem Wagen aus dem Meer (Abb. 14). Halb ist das Rad noch von den Wogen bedeckt, über denen Fische sich tummeln. Die Deichsel wird von 29
Abb. i6. Dienerin mit Thymiaterion vor Aphrodites Schwanenwagen. Providence
einem geflügelten Paare aufwärts gezogen. Es besteht aus einem nackten Knaben und einem lang bekleideten Mädchen (Abb. 13). Die Darstellung wurde so erklärt, daß die Göttin übers Meer zu der Brautkammer fahre, die jene anderen Altärchen zeigen. Aber ihr Gefährt eilt nicht über die Wogen dahin, sondern bewegt sich in die Höhe. Das Relief gehört in einen bestimmten Kreis von Bildern, die in Variationen alle dasselbe göttliche Wunder feiern : die Geburt der Aphrodite. So ist es auf einer attischen Lekythos um 400 v. Chr. ein Schwanengespann, das die Göttin aus den Fluten zieht (Abb. 16, 17). Eine Dienerin eilt ihr mit dem Thymiaterion voraus. Meist aber ist es in dieser Zeit ein einziger großer, leuchtend gefiederter Schwan, von dem sich die Göttin aus dem Meere tragen läßt. Gemalte Wogen, Fische, Nereiden auf Delphinen oder Poseidon mit dem Dreizack deuten den Schauplatz der Handlung an. Zuweilen kann Eros, wiederum mit dem Weihrauchständer, voranschweben (Abb. 18). Diese aus dem Wasser kommende Göttin
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Abb. 17 Aphrodite fährt mit einem Schwanengespann aus dem Meer. Providence
aber ist im reinsten Sinne die Urania. Im weißen Meeresschaum hatte sie sich aus dem abgeschlagenen Glied des Himmelsgottes Uranos gebildet, wie Hesiod zu erzählen weiß (Theogonie 190 if.). Nicht nur die tönernen tarentinischen Altärchen galten der Urania. Dieselbe Göttin ist es, die im Hauptrelief des ludovisischen Thrones aus den Fluten taucht. Die Braut des Seitenflügels streut den Weihrauch, der ihr gebührt. Aber größer, umfassend zeigt sich Aphrodite hier, denn auch die Hetäre ist in die Komposition mit einbezogen. Ihr Flötenspiel erklingt gleichsam zum Weihrauchopfer der Braut. Beides ist der neugeborenen Göttin wohlgefällig, da sie beide Seiten in sich vereint.
Der Umweg über die Nebenflügel des Thrones hat die Deutung des Hauptreliefs auf die Meergeburt der Aphrodite bestätigt. Mit dieser Fest-
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A b b . i8. Geburt der Aphrodite. Berlin
Stellung stehen wir aber nicht am Schlüsse, sondern immer noch am Beginn der Interpretation. Diese wird nie zu Ende kommen, da das Werk unausschöpflich ist. Auch kann das Beste an ihm nur erfühlt, nicht in Worte gefaßt werden. Vielleicht aber können einige Vergleiche mit anderen Fassungen der Aphroditegeburt in Dichtung und Bildkunst dazu verhelfen, das Besondere dieser Schöpfung näher zu verstehen. Es gilt zunächst, die Geburt der Urania am ludovisischen Thron von späteren Bildern abzuheben. Da sind die bereits erwähnten Vasen, die von der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts bis tief ins 4. Jahrhundert v. Chr. hinabreichen, in denen der Schwan ihr zugesellt ist (Abb. 18). Diese Prägung scheint für die Urania kanonisch geworden zu sein. Eine hellenistische Weihestele mit einer Inschrift für Aphrodite Urania als der Herrin des Bosporos zeigt im Giebelfeld die Göttin zusammen mit Eros auf dem Schwan (Abb. 19). Die kühne Schwanenreiterin auf einem Fries des späten 4. Jahrhunderts v. Chr., der an der kleinen Mitropolis zu Athen eingemauert ist, stammt wohl von einem der zahlreichen attischen Heiligtümer der Aphrodite (Abb. 20). Der von unten gesehene Vogel fliegt mit der köstlichen Last im dichten Rankengeschlinge dahin. Voraus schwebt ein weiterer Schwan, um die Ecke folgt ein Böcklein, das Tier der Aphrodite Pandemos. Die vielen Bilder des Schwanenritts, zu denen sich zahlreiche Spiegelreliefs gesellen, dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Aphrodite ursprünglich nicht dieser Vogel, sondern die Gans heilig war. A u f der Gans schwebt sie im weißgrundigen Innenbild einer frühklassischen
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