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German Pages 264 Year 2006
Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientalismus
Die französische Literatur des 19. Jahrhunderts und der Orientalismus Herausgegeben von Michael Bernsen und Martin Neumann
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bearbeiter: Roland Ißler, Lisa Springstub, Herrad Schmidt und Nadja Shakroun Titelbild: Jean-Leon Jerome, CEdipe, 1867-1868; Hearst Memorial Castle, San Simeon; Photograph by Victoria Garagliano / © Hearst Castle® / CA State Parks
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-50718-0
ISBN-10: 3-484-50718-7
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Druckerei Lapp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
Michel Delon Despotisme, luxure et cruaute
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Jacques Domenech Le Cousin de Mahomet de Nicolas Fromaget: un cousin du Candide de Voltaire
19
Bernhard Huss Die Grenze zum Orient in Chateaubriands Ltineraire de Paris ä Jerusalem und Lamartines Voyage en Orient
37
Peter Ihring Orientalistische Poesie - Victor Hugo, das Morgenland und die Elementarsymbolik
63
Franziska
Meier
Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Pean de Chagrin von 1830 . . . . Kirsten Dickhaut >Le vrai est ce qu'il peut< - Zur (De-)Konstruktion des Orients in Gerard de Nervals Werk
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93
Helmut Meter Asthetisierte Alterität — Theophile Gautiers Orientalismus im Spiegel seiner Frauengestalten
113
Martin Neumann Le Roman de la momie: Ägyptische Kunst und Kultur als Konkretisation eines ästhetischen Ideals
133
V
Dagmar Reichardt Voir l'Orient - Flauberts Tentation de Saint Antoine und das Phantastische als Intermedialitätsphänomen
151
Michael Bernsen Sprechende Hieroglyphen: Erinnerungsbilder Ägyptens bei Charles Baudelaire
177
Frank Estelmann >Aller chercher l'Orient en £gypte< - Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts
189
Klaus-Dieter Ertler Orientalismus als axologisches System: Darstellung und Funktion des Orients in Emile Zolas Roman L'Argent
209
Kian-Harald Karimi »Au temps oü ils taillaient leurs idoles« - Die Wiederkehr des Gleichen und des Anderen im spätantik-orientalischen Pastiche von Anatole France' Thai's
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Register
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VI
Einleitung
Die Literatur des französischen 19. Jahrhunderts ist nahezu durchgängig geprägt von einem Phänomen, für das sich der Begriff Orientalismus durchgesetzt hat. Für Edward Said 1 ist der Orientalismus ein durch die Wissenschaft, den Reisebericht und die fiktive Literatur elaborierter Diskurs, durch den sich Europa seiner politischen, sozialen, militärischen, wissenschaftlichen und kulturellen Überlegenheit über den Orient versichert, der als das grundsätzlich Fremde stilisiert wird. In der Begegnung mit ihm wird das Bewusstsein für die eigene Realität geschärft und ihre Erkenntnis vorangetrieben. Mit dem Beginn der großen Entdeckungsreisen seit der Renaissance nimmt der Orientalismus Gestalt an und erreicht seinen Höhepunkt in der Hochphase des Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Das idealtypische Modell einer solchen diskursiven Erfassung des Anderen ist für Said die Expedition Napoleons nach Ägypten, in deren Gefolge zahlreiche Wissenschaftler und Künstler die natürlichen und kulturellen Gegebenheiten des Landes flächendeckend in Wort und Bild festhielten. Hier handelt es sich, so Said, um die erste methodisch-systematische, wissenschaftliche Aneignung der vergangenen und gegenwärtigen Kultur eines Landes durch ein anderes. Diese Thesen haben im Zuge der seit den achtziger Jahren einsetzenden Globalisierung eine erhebliche Verbreitung gefunden. Mit ihren strukturalistischen Implikationen, insbesondere der binären Unterscheidung von >Okzident< und >Orient< haben sie verwandten Konzepten wie Samuel Huntingtons These vom >clash of civilisations< Vorschub geleistet. Problematisch an der Position Saids ist denn auch vornehmlich seine ausgesprochene Neigung zu Essentialisierungen. Die Diskurse der Orientwissenschaften, der Politik und der Literatur lassen sich nicht problemlos auf eine Stufe stellen. Die Literatur und die Bildende Kunst des 19. Jahrhunderts, in denen der Orientalismus eine herausragende Rolle spielt, sind polyvalenter Natur und durchweg multifunktional, weshalb der Diskurs des Orientalismus sich eher als heterogen und oftmals ambivalent erweist. In jedem Fall verweigert er sich unidirektionellen Leitkonzepten, wofür schon die Dominanz piktoraler Elemente spricht. Man könnte die These aufstellen, dass im Orientalismus der im 19. Jahrhundert zu beobachtende >iconic turnlibertinage< betrachtet, lässt der Roman seinen Helden wie einen Candide avant la lettre gleichsam einen Garten in Konstantinopel bestellen und liefert ein von Toleranz bestimmtes Bild des kulturellen Kontaktes mit dem Orient. Im ersten Beitrag über das 19. Jahrhundert untersucht Bernhard Huss »Die Grenze zum Orient in Chateaubriands Itineraire de Paris ä Jerusalem und Lamartines Voyage en Orient« und stellt damit die für die Epoche zentrale Frage nach dem Ursprung des Okzidents, der sich ja im Orientalismus laut Said kategorial vom Orient abzugrenzen sucht. Huss weist nach, dass Chateaubriands Reisebericht ganz von der Vorstellung geprägt ist, dass die Wiege der abendländischen Kultur in Griechenland liegt, wo der Reisende jedoch trotz der gewählten gräzisierenden Perspektive nur Ruinen und Leere vorfindet, die zu ästhetisierenden Selbststilisierungen des einsamen Solitärs genutzt werden. Dagegen verabschiedet sich Lamartine gänzlich vom hellenozentrischen Kulturdiskurs und sucht schon in Griechenland den Orient als Stätte einer Ursprünglichkeit, deren Vorstellungen sich aus frühen Lektüren der biblischen Poesie des Alten Testaments speisen. Victor Hugos für die Programmatik der gesamten Romantik bedeutender Gedichtsammlung Les Orientales nimmt sich Peter Ihring an. Sein Beitrag »Orientalistische Poesie — Victor Hugo, das Morgenland und die Elementarsymbolik« 2
macht plausibel, dass der Orient bei Hugo Ziel einer lyrischen Sehnsucht ist, die sich stets in den Koordinaten der Axiologie des Orientalismus Saidschen Typs bewegt und das Denkmuster des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Orient und Okzident nicht übersteigt. Hugo bedient sich einer Elementarsymbolik, die dem Orient die Rolle der Erdhaftigkeit zuweist, wodurch der in der Sammlung so gefeierte Aufstieg der dichterischen Kreativität nur in die luftigen Höhen vertrauter okzidentaler Denkstrukturen stattfinden kann. Auf die bislang stark vernachlässigte Beschäftigung mit dem Orient durch Honore de Balzac geht Franziska Meier in ihrem Beitrag »Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830« ein. Balzacs Vorstellungen vom Orient als einer Stätte des Despotismus, der Leidenschaft und der Grausamkeit bewegen sich, so Meier, nicht ausschließlich in den Bahnen des Imaginären. Der Autor baut ausgehend von diesen Vorstellungen eine mitten in Paris liegende, orientalisch geprägte Welt auf mit dem Ziel, die Verflechtung fremder Welten, speziell das Vordringen des Orients nach Frankreich ins Bild zu setzen. Am Beispiel der Peau de chagrin, jedoch mit einem Ausblick auf die gesamte Comedie humaine, sucht Meier zu belegen, dass dem Orient im 19. Jahrhundert wenn nicht die Rolle des Ursprungs, so doch zumindest die einer Vorstufe der französischen Zivilisation zukommt. Als ein Wechselspiel zwischen einer Differentsetzung des Anderen und einer persönlichen Assimilation sieht Kirsten Dickhaut Gerard de Nervals Auseinandersetzung mit dem Orient in ihrem Beitrag »>Le vrai est ce qu'il peut< - Zur (De-)Konstruktion des Orients in Gerard de Nervals Werk«. Insbesondere Nervals Voyage en Orient ist demnach ein Versuch der Annäherung an ein durch eine Fülle von Texten und Gemälden gewonnenes Idealbild einer kulturellen Landschaft, welches sich dem Betrachter im Verlauf der Reise jedoch stets entzieht. Am Beispiel des Verweisungszusammenhangs von Bildern Gentile Bellinis und dem Voyage en Orient verfolgt Dickhaut die Bewegung des Textes von Nerval als eine der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion des Orients als des Quasi-Orientalischen. Einen zentralen Text des Orientalismus rücken unter ganz verschiedenen Gesichtpunkten Helmut Meter und Martin Neumann in den Blick. Meter konzentriert sich in seinem Beitrag »Asthetisierte Alterität - Theophile Gau tiers Orientalismus im Spiegel seiner Frauengestalten« auf die >histoire< der Erzählungen U)ie nnit de Cleopätre und Le pied de momie sowie des Roman de la momie. Die jeweiligen Protagonistinnen der Texte erscheinen als aus ganz unterschiedlichen Facetten der Literatur und bildenden Kunst zusammengesetzte Figuren, die bei aller schillernd inszenierter Alterität in die Zivilisation des 19. Jahrhunderts zurückführen. In ihrem >ennui< und ihrer Sehnsucht nach dem >etrange< suchen die deutlich aristokratisch gezeichneten Frauenfiguren das, was laut Gautier seinen von denselben Gefühlen betroffenen Zeitgenossen gerade in der fiktionalen Erzählwelt Ägyptens zu finden möglich sein soll: Eine Flucht aus den Fesseln zivilisatorischer Konditionierung. So gesehen erweist sich Gautiers Orientalismus als ein palimpsestartig konzipiertes Wiederfinden des im Grunde
Einleitung Geflohenen. Neumanns Beitrag »Le Roman de la momie: Ägyptische Kunst und Kultur als Konkretisation eines ästhetischen Ideals« fokussiert dagegen die von Meter nur als dem Hintergrund zugehörig betrachtete Inszenierung der altägyptischen Kultur im Mumienroman, durch die der Text verschiedentlich in die Nähe des historischen Romans gerückt worden war. Ausgehend von Gautiers kunsttheoretischen Überlegungen, in denen er ein klares Plädoyer dafür abgab, dass Kunst der Darstellung von Schönheit dienen sollte, kann Neumann herausarbeiten, inwiefern die monumentale Kunst des alten Ägypten sowie zahlreiche im Roman beschriebene Facetten seiner reichen Kultur eine geradezu prototypische Verkörperung dieses Schönheitsideals darstellen, das Gautier in ebenso schwärmerischen wie detaillierten Beschreibungen genussvoll auslebt. Ein zweiter expressis verbis intermedial ausgerichteter Vortrag von Dagmar Reichardt, »Voir l'Orient — Flauberts Tentation de saint Antoine und das Phantastische als Intermedialitätsphänomen«, beschäftigt sich mit der dritten Fassung dieses Textes von 1872. Michel Foucaults Einschätzung der gezielt intertextuellen Anlage der Tentation um eine intermediale Dimension erweiternd, interpretiert Reichardt Flauberts Heiligen Antonius als einen Mann, der mit den Dämonen seiner Phantasie ringt und der so zu einem Sinnbild des einsamen, in Bildern befangenen Künstlers wird. Dies versucht Flaubert in einer Art narrativ gestalteter Poetik des Sehens zu fassen, wobei besonders in der dritten Fassung des Textes der Orient als Enigma des Fremden sowie als undurchdringliches Geheimnis des Selbst eine große Rolle spielt, was mittels einer exemplarischen Auswahl künstlerischer Darstellungen aus der achthundertjährigen Bildtradition des Antonius-Motivs aufgezeigt wird. Michael Bernsen geht in seinem Beitrag über »Sprechende Hieroglyphen: Erinnerungsbilder Ägyptens bei Charles Baudelaire« vor allem auf das Schlusstableau des Gedichts Spleen //(»J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans«) ein, wo eine alte Sphinx mitten in der staubigen Sahara bei Einbruch der Nacht zu singen beginnt. Bernsen interpretiert dieses Bild, in dem der Mythos von Memnon und Sphinx verschmelzen, im Zusammenhang mit zahlreichen weiteren poetologischen Äußerungen Baudelaires zum künstlerischen Schöpfungsakt als Dekomposition und dichterische Rekomposition, als Versuch, in bewusst verfremdender Weise die gedächtnisgeschichtlichen Gründe der europäischen Kultur auszuleuchten; allerdings mit dem Ergebnis, dass die lange Zeit dort vermutete metaphysische Tiefendimension abhanden gekommen ist und die Erinnerung an Ägypten nicht mehr den Ursprung der in einer Geheimschrift verborgenen Weisheit entbirgt. Frank Estelmann konzentriert sich in »Aller chercher l'Orient en Egypte< — Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts« auf die Entwicklung von Ägyptenreiseberichten. Als ein strukturelles Merkmal des französischen Orientreiseberichts im 19. Jahrhundert weist er die quete d'images nach, deren unterschiedliche Etappen im einzelnen verfolgt werden. Anhand zahlreicher Beispiele kann er zeigen, wie die zunächst akademisch-objektivistisch intendierte Bildersuche in Ägypten im 4
Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach von einer romantisch-pittoresk gefärbten quete de l'Orient überlagert wird. Beide Sichtweisen weichen um die Jahrhundertmitte einem neuartigen >Realismusbiblischen Poesie< heranrücken möchte u n d besonders David zu seiner Identifikationsfigur m a c h t . 1 0 2 Dass n u n aber das ersehnte Land jener Ursprungsdichtung nicht der Okzident, sondern der Orient ist, bedingt eine Selbststilisierung des okzidentalen Reisenden als Orientale: Sein Körper wie seine Seele entstammen der Sonne u n d sehnen sich nach dem Licht des O r i e n t s ; 1 0 3 er k a n n also ausrufen: »Mes yeux sont de l'Orient, mon ä m e est a m o u r « . 1 0 4 U n d an einem b e r ü h m t e n Kulminationspunkt des Voyage bestätigt i h m die spiritistisch umwitterte >Wüstenkirke< Lady Hester Stanhope seine orientalische H e r k u n f t 1 0 5 bei der Betrachtung seines Fußes:
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Lamartine, Voyage en Orient, S. 56. Lamartine, Voyage en Orient, S. 308. »Cette terre a dü etre la premiere, la terre de la poesie terrible et des lamentations humaines; l'accent pathetique et grandiose des propheties s'y fait sentir dans sa sauvage, pathetique et grandiose nature. Toutes les images de la poesie biblique sont gravees en lettres majuscules sur la face sillonnee du Liban et de ses cimes dorees [...]. L'esprit divin, l'inspiration surhumaine qui a souffle dans les ämes et dans les harpes du peuple poetique ä qui Dieu parlait par symboles et par images, frappait ainsi plus fortement les yeux des bardes sacres des leur enfance, et les nourissait d'un lait plus fort que nous, vieux et päles heritiers de la harpe antique.« (Lamartine, Voyage en Orient, S. 182). Lamartine, Voyage en Orient, S. 253 (»Jamais la poesie proprement dite n'a joue un si grand role dans le drame politique, dans les destinees de la civilisation. [...] le prix des poetes alors, c'etait la societe meme.«). Zu Lamartines programmatischer Verbindung von Politik und Poesie vgl. Paul Benichou, Les mages romantiques, Paris, Gallimard, 1988, S. 19—109. Vgl. neben dem zuvor Zitierten auch Lamartine, Voyage en Orient, S. 224f. Vgl. bes. Lamartine, Voyage en Orient, S. 295f. mit Anm. 313; vgl. ferner S. 216 und S. 279, wo der Reisende sich jeweils prophetisch-divinatorische Fähigkeiten zuschreibt. Zum Lamartineschen Konzept des Priester-Poeten vgl. Benichou, Les mages romantiques, S. 102-109. Lamartine, Voyage en Orient, S. 56. Lamartine, Voyage en Orient, S. 82f. Diese ist in ihrer Stilisierung ganz wörtlich zu nehmen. An anderer Stelle (Lamartine, Memoires politiques, in: A. de L., CEuvres completes, 41 Bde., Paris, Chez l'auteur, 1860-1866, Bd. 37-40, hier: Bd. 37, S. 65-71) lässt sich Lamartine von zwei jungen Zigeunerinnen, die sich durch einen »charactere etrange et oriental« auszeichnen und deren eine »avec un accent arabe ou italien« (S. 66) spricht, bestätigen: »Vous vous croyez peutetre Fra^ais d'origine, mais vous ne l'etes pas. Si vous remontez un peu loin dans votre genealogie, vous decouvrirez certainement que vous etes Sarrasin.« (S. 67). Wieder spielen 57
Bernhard Hass Vous retoumerez dans FOccident, mais vous ne tarderez pas beaucoup ä revenir en Orient: c'est votre patrie. — C'est du moins, lui dis-je, la patrie de mon imagination. - Ne riez pas, reprit-elle; c'est votre patrie veritable, c'est la patrie de vos peres. — J'en sui süre main tenant; regardez votre pied! - Je n'y vois, lui dis-je, que la poussiere de vos sentiers qui le couvre, et dont je rougirais dans un salon de la vieille Europe. - Rien, ce n'est pas cela, reprit-elle encore: — regardez votre pied. - Je n'y avais pas encore pris garde moi-meme. - Voyez: le coude-pied est tres eleve, et il y a entre votre talon et vos doigts, quand votre pied est ä terre, un espace süffisant pour que l'eau y passe sans vous mouiller. - C'est le pied de l'Arabe; c'est le pied de l'Orient; vous etes un fils de ces climats, et nous approchons du jour oü chacun rentrera dans la terre de ses peres.106 Somit muss der Reisende des Voyage zu keinem Zeitpunkt eine Grenze z u m Orient überschreiten — u n d dadurch verliert Griechenland i m oben beschriebenen Sinn jedes Interesse —, weil er den Orient schon vor seiner Abfahrt in sich trägt. Durch die Stilisierung des eigenen Schreibens als >orientalisches< Schreiben wird die konstitutive, von Said festgestellte Opposition z u m Orient als Schreibobjekt überspielt u n d die diesbezügliche Grenze zwischen >West< u n d >Ost< programmatisch kassiert. Nicht nur hinsichtlich des Text-Ichs u n d seines Schreibens, sondern in verschiedenen Sektoren fällt die Grenze. So w i r d d e m bewunderten H o m e r durch Singularisierung ähnlich wie d e m mystischen Eremiten von Kap M a l i a die griechische Nationalität gleichsam aberkannt u n d er durch seine biographische Verbindung m i t S m y r n a über seinen kleinasiatischen Ursprung orientalisiert. 1 0 7 U n d so werden im Gegenzug die bei C h a t e a u b r i a n d als Volk orientalischer Despoten u n d Sklaven gezeichneten T ü r k e n u n d generell die M u s l i m e z u m »peuple de la priere«, 1 0 8 zu »le seul peuple tolerant«, 1 0 9 zu einem Volk von »charite« u n d
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hier die »arabischen Füße< des Dichters eine Rolle. Lamartine, »frappe [...] de la miraculeuse intelligence des signes corporels de ces deux jeunes filles« (ebd.), spekuliert in diesem Kontext über eine arabische Bevölkerungsgruppe des Mäconnais, von der er abstammen könnte. Außerdem gibt er seinen ursprünglichen Familiennamen mit »Allamartine« an (ebd.) — »etymologie fantaisiste, mais qui a Favantage de faire resonner le nom d'Allah« (Moussa in seiner Ausgabe von Lamartines Voyage en Orient, S. 173, Anm. 171; vgl. dazu auch Benichou, Les mages romantiques, S. 39, Anm. 2). Ahnlich verfährt Lamartine auch in seinem Nouveau Voyage en Orient von 1852/53: vgl. Jean Bruneau, »Le mythe oriental d'Alphonse de Lamartine«, in: Simone Bernard-Griffiths/Christian Croisille (Hrsg.), Relire Lamartine aujourd'hui. Actes du Colloque International, Mäcon, juin 1990, Paris, Nizet, S. 267-273, hier: S. 269 (mit ausführlichem Originalzitat). Lamartine, Voyage en Orient, S. 173. Diese Erzählung mitsamt ihrem Kontext ist eine tendenziöse Verdrehung des tatsächlichen Gesprächs, wie verschiedentlich kolportierte spätere Äußerungen Lady Stanhopes nahelegen (Benichou, Les mages romantiques, S. 33—35). Lamartine, Voyage en Orient, S. 5l4f. (demgegenüber ist die für Chateaubriand prekär wichtige - und für ihn aus äußerlichen Gründen scheiternde - Betrachtung trojanischer Landschaft in situ für den Reisenden des Voyage völlig ohne Interesse (Lamartine, Voyage en Orient, S. 519); vgl. allgemein zu Lamartine und Homer Sarga Moussa, »Lamartine, nouvel Homere«, in: Fran£oise Letoublon/Catherine Volpilhac-Auger (Hrsg.), Homere en France apres la Querelle (1715—1900), Actes du colloque de Grenoble (23—25 octobre 1995), Paris, Honore Champion 1999, S. 379-389. Lamartine, Voyage en Orient, S. 128, vgl. S. 549. Lamartine, Voyage en Orient, S. 301, vgl. S. 229 und S. 537.
Die Grenze zum Orient in Chateaubriands
Itineraire de Paris ä Jerusalem
»misericorde« 1 1 0 u n d zu e i n e m Volk voll philosophisch-kontemplativ konturierter N a t u r n ä h e , 1 1 1 die in geradezu r o m a n t i s c h e m G e d a n k e n s c h w e i f e n k u l m i n i e r e n k a n n . 1 1 2 D i e daraus resultierende N i v e l l i e r u n g nicht n u r der konfessionellen U n t e r s c h i e d e , 1 1 3 sondern ü b e r h a u p t der i m westlichen >imaginaire< verankerten Differenz von O r i e n t u n d O k z i d e n t situiert sich i m Kontext von L a m a r t i n e s politischem Projekt einer E n g f ü h r u n g der beiden Sphären i m S i n n e eines »inevitable r a p p r o c h e m e n t de ces d e u x parties d u m o n d e se d o n n a n t m u t u e l l e m e n t de l'espace, d u m o u v e m e n t , de la vie et de la l u m i e r e « , 1 1 4 e i n e m Projekt, das u n ü b e r s e h b a r der Sphäre von L a m a r t i n e s geschichtsphilosophischem D i s k u r s angehört, für den m a n hat sagen k ö n n e n , dass in i h m - anders als in C h a t e a u b r i ands Itineraire — klassizistische P a r a d i g m e n gegenüber der spezifisch L a m a r t i n e schen Heilsvision hinfällig w e r d e n . 1 1 5 So fehlt L a m a r t i n e C h a t e a u b r i a n d s livreske O r i e n t i e r u n g zur K o m p e n s a t i o n der >Enttäuschungen< der faktischen Reisewelt nicht so sehr - 1 1 6 er braucht sie nicht mehr, d e n n seine Konzeption des O r i e n t a lischen ist so verschieden von der C h a t e a u b r i a n d s , dass alle Versuche, diese Texte einlinig m i t e i n a n d e r zu verrechnen, a m T e x t b e f u n d scheitern müssen.
Bibliographie Antoine, Philippe, Les recits de voyage de Chateaubriand. Contribution a l'etude d'un genre, (Romantisme et modernites. 10), Paris, Champion, 1997. Augustinos, Olga, French Odysseys. Greece in French Travel Literature from the Renaissance to the Romantic Era, Baltimore/London, The Johns Hopkins University Press, 1994.
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Lamartine, Voyage en Orient, S. 561 und S. 591. Lamartine, Voyage en Orient, S. 563. Vgl. mit dem Beginn von L'Isolement, Lamartines berühmtem Einleitungsgedicht der ersten Meditationspoetiques, Folgendes: »S'asseoir ä l'ombre, en face d'un magnifique horizon, avec de belles branches de feuillage sur la tete, une fontaine aupres, la Campagne ou la mer sous les yeux, et lä, passer les heures et les jours ä s'ennuyer de contemplation vague et inarticulee, voilä la vie du musulman.« (Lamartine, Voyage en Orient, S. 575) - Übrig bleibt für Lamartine an negativer Wertung des Türkischen und Islamischen nur die Kritik an öffentlicher Verwaltung und politischer Organisation (z.B. Lamartine, Voyage en Orient, S. 424f. und S. 589), wie sie dann in das von Said als >imperialistisch< verurteilte »Resume politique« des Voyage einmünden wird. Vgl. bes. noch Lamartine, Voyage en Orient, S. 228f. und S. 386 mit Anm. 419, S. 447, S. 453 und S. 593. Lamartine, Voyage en Orient, S. 457f. (vgl. ebd. Moussas Anm. 476); vgl. Moussa, La relation Orientale, S. 85-139. Wolfzettel, Ce desir de vagabondage cosmopolite, S. 213. So Michel, »>Vivons, voyons, voyageonsVivons, voyons, voyageonsc Lamartine, du voyage ä l'ecriture«, in: BernardGriffiths, Simone/Croisille, Christian, Relire Lamartine aujourd'hui. Actes du Colloque International, Mäcon, juin 1990, Paris, Nizet, 1993, S. 2 7 5 - 2 8 3 . Montalbetti, Christine »Les representations du >lecteur< dans VItineraire de Paris ä Jerusalem (ou pour une theorie non substitutive de la figure du narrataire)«, Bulletin de la Societe Chateaubriand Bd. 4 1 / 1 9 9 8 , S. 1 2 2 - 1 2 8 . Mourot, Jean, »Introduction«, in: Chateaubriand, Frangois-Rene de, Itineraire de Paris ä Jerusalem, hrsg. von J . M . , Paris, Garnier-Flammarion, 1968, S. 11—30. Moussa, Sarga, »Le debat entre philhellenes et mishellenes chez les voyageurs f r a ^ a i s de la fin du XVIIIe au debut du X I X e siecle«, Revue de litterature comparee Bd. 2 7 2 , H . 4 / 1 9 9 4 , S. 4 1 1 - 4 3 4 . — La relation Orientale. Enquete sur la communication dans les recits de voyage en Orient ( 1 8 1 1 - 1 8 6 1 ) , Paris, Klincksieck, 1995. — »Lamartine, nouvel Homere«, in: Letoublon, Fran^oise/Volpilhac-Auger, Catherine (Hrsg.), Homere en France apres la Querelle (1715—1900), Actes du Colloque de Grenoble ( 2 3 - 2 5 octobre 1995), Paris, C h a m p i o n , 1999, S. 3 7 9 - 3 8 9 . — »La mer Morte dans Γ Itineraire de Paris h Jerusalem«, in: Montalberti, Christine (Hrsg.), Chateaubriand. La Fabrique du texte, Rennes, Presses Universitaires, 1999, S. 111—124. — »Usages de la fiction dans le recit de voyage: l'episode de la mer Morte chez Lamartine«, in: Philippe Antoine/Marie-Christine, Gomez-Geraud (Hrsg.), R o m a n et recit de voyage, Paris, Sorbonne, 2 0 0 1 , S. 4 7 - 5 4 . Richard, Jean-Pierre, Paysage de Chateaubriand, Paris, Seuil, 1967. Said, Edward W., T h e World, the Text, and the Critic, London, Vintage, 1991. — Orientalism. Western Conceptions of the Orient. With a N e w Afterword, L o n d o n u.a., Penguin, 1995. Tatsopoulos-Polychronopoulos, Helene: »Le voyage en Grece, quete d un Paradis perdu«, in: Droulia, Loukia/Mentzou, Vasso (Hrsg.), Vers l'Orient par la Grece: avec Nerval et d'autres voyageurs, Paris, Klincksieck, 1993, S. 4 7 - 5 5 . Wolfzettel, Friedrich, C e desir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen, Niemeyer, 1986.
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Orientalistische Poesie Victor Hugo, das Morgenland und die Elementarsymbolik
Orientalistische Poesie — unter diesem Etikett, so scheint es, ist Victor Hugos Gedichtsammlung Les Orientales zw rubrizieren. Sie schreibt sich ganz offensichtlich in den orientalistischen Diskurs ein und führt ihn weiter. Das gilt zunächst und vor allem für die darin verarbeiteten Sachinformationen und fur die Strukturen, nach denen diese Informationen organisiert sind. Die drei großen Quellen, aus denen sich im 19. Jahrhundert das abendländische Wissen über den Orient speist, haben in der Sammlung ihre Spuren hinterlassen. Erstens die Bibel und näherhin das Alte Testament als Repertoire für vermeintlich charakteristische Modellsituationen der orientalischen Welt wie etwa derjenigen des strafenden und eben nicht barmherzigen Gottes in Le Feu du ciel1 (S. 57-69) oder derjenigen der badenden Batseba, die als Inspirationsquelle für Sara la baigneuse (S. 137-142) gedient haben dürfte. Zweitens die speziell französischen Orientdichtungen des 17. und 18. Jahrhunderts, fur die hier stellvertretend die Namen Racine oder Montesquieu genannt seien; und drittens die im engeren Sinne wissenschaftliche Forschungsliteratur zur orientalischen Welt, die Victor Hugo für seine Sammlung auswerten konnte. Auch was die ambivalenten Konnotationen angeht, die sich mit dem Morgenland verbinden, so scheinen sich Hugos Gedichte bruchlos in die überkommene Stofftradition einzufügen: Der Autor der Orientales begegnet der von ihm dargestellten Welt wie die meisten seiner Vorgänger in einer merkwürdigen Mischung aus selbstgefälliger Erkenntnisgewissheit und fasziniertem Staunen angesichts eines unverständlich bleibenden Restes an enigmatischen Bestandteilen der fremden Wirklichkeit. Für den Topos der Rätselhaftigkeit des Orients, der als eines der neuralgischen Elemente des orientalistischen Diskurses gelten darf, hat Edward Said die schöne Formel vom »mutisme oriental« 2 gefunden. Im Topos des »mutisme oriental« scheint sich eine Art Respekt vor einer letztlich doch irgendwie als ebenbürtig erfahrenen Alterität geltend zu machen, wie sie etwa in den frühneuzeitlichen Kolonialberichten über das Leben der Ureinwohner des amerikanischen Kontinents normalerweise nicht spürbar wird.
Die Gedichte der Sammlung werden im Folgenden nach der Ausgabe: Victor Hugo, Les Orientales — Les Feuilles d'automne, hrsg. von Franck Laurent, Paris, Librairie Generale Fra^aise, 2002 im laufenden Text zitiert. Edward W. Said, L'Orientalisme. L'orient cree par l'occident, Paris, Seuil, 1980, S. 113.
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Der Dichter Victor Hugo jedoch interessiert sich begreiflicherweise gerade nicht für die Stummheit der fremden Welt, sondern für ihre Sprache. Und so verdanken die Orientales ihren besonderen Charakter natürlich zunächst den darin thematisierten exotischen Inhalten, daneben aber auch dem ebenso klangwie geheimnisvollen Sprachmaterial, über das diese Inhalte mitgeteilt werden. Die fremden Vokabeln, die überwiegend aus dem Türkischen, seltener hingegen aus dem Arabischen und dem Persischen stammen, zeichnen sich durch einen ausgeprägten Vokalreichtum aus, sowie durch Konsonantenverknüpfungen, wie sie im Französischen unüblich sind. Die Verwendung eines solchen Vokabulars durch den Autor der Orientales ist eine Sünde wider den Geist der klassizistischen Poetik, die in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch eine autoritative Geltung für sich beanspruchen konnte. Abgesehen von dieser Tatsache steht die Art, wie Hugo den entsprechenden Wortschatz gebraucht, mindestens ebenso sehr im Zeichen orientalistischer Vereinnahmung wie sein Umgang mit der stofflichen Realität der morgenländischen Welt. Denn die von dem Dichter eingesetzten orientalischen Sprachelemente werden ja dadurch, dass sie sich dem klanglichen Kontext des Französischen anpassen müssen, ihrer ursprünglichen linguistischen Identität mehr oder weniger radikal entfremdet. Hinzu kommt, dass Hugo bei der Auswahl und bei der Positionierung der exotischen Vokabeln keine Rücksicht darauf nimmt, welcher Sprache die betreffenden lexikalischen Einheiten nun wirklich genau entstammen. Die in irgendeinem Harem gefangengehaltene Christin etwa, der er im Rollengedicht La Captive (S. 109-111) das Wort zu einem langen lyrischen Monolog erteilt, wechselt in einem Atemzug von türkischem, über alttestamentlich hebräisches und fernöstlich tartarisches zu spanischem Wortmaterial. Ergebnis ist ein sprachliches Konglomerat aus den unterschiedlichsten Territorien einer orientalischen Welt, die in den Gedichten als kulturelle Einheit erscheint, obwohl sie aus sich selbst heraus eigentlich völlig heterogen ist. Dieses sprachliche Konglomerat verdankt seine hybride Identität ausschließlich dem poetischen Willkürakt des Dichters. Ähnliches gilt für La Sultane favorite (S. 117-120): Darin ist von einem Serail die Rede, in dem Frauen aus nahezu allen Mittelmeerländern versammelt sind; außerdem werden die unterschiedlichsten Territorien des Orients erwähnt, das Zweistromland ebenso wie Kleinasien, Zypern und wie die Stadt Fes am nordwestlichen Ende Afrikas. Wenn Victor Hugo in seiner Gedichtsammlung orientalisches Sprachmaterial auf die beschriebene Weise einsetzt, um sich die Volltönigkeit dieses Materials in ästhetischer Absicht zunutze zu machen, dann unterwirft er sein dichterisches Handeln den Prinzipien eines poetischen Orientalismus, und zwar insofern, als er sich bei seiner Verarbeitung linguistischer AJterität ausschließlich von den strukturellen Mustern der französischen Muttersprache leiten lässt und auf die differenzierte kulturelle Eigenart des Fremden nicht wirklich Rücksicht nimmt. Es entsteht der paradoxe Eindruck, als würde der Autor der Orientales aus postkolonialer Perspektive auch und gerade da angreifbar, wo er sich in scheinbarer 64
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dichterischer Unschuld auf das konzentriert, was sein primäres lyrisches Arbeitsinstrument ist, auf seine poetische Sprache nämlich. Dabei ist Hugos Gedichtsammlung in den letzten Jahren aus zwei verschiedenen Richtungen gegen den Orientalismusvorwurf in Schutz genommen worden. Sarga Moussa hat 1999 in einem Beitrag für Lendemains betont, es gehe darin gar nicht um den Orient als solchen, [s.o.] sondern um ein »fantasme de totalite«,3 in dem die Grenzen zwischen abendländischer und morgenländischer Welt durchlässig würden. Und dem Herausgeber der hier konsultierten Textausgabe der Orientales, Franck Laurent, hat es sehr gut gefallen, dass in zahlreichen Stücken der Sammlung ein erkennbar orientalischer Sprecher das Wort ergreift. Er spricht im entsprechenden Kontext von einer »orientalisation du je« 4 und beruft sich dabei auf das, wie er es empfindet, intime Verhältnis der sprechenden und sogar auch der wahrnehmenden Instanzen zur orientalischen Welt. Die Art, wie diese Welt beschrieben sei, mache deutlich, dass die Unterschiede zwischen Identität und Alterität zum Verschwinden gebracht werden sollen. Im Gegensatz zu Franck Laurent bin ich der Meinung, dass der Autor der Orientales den diskursiven Herrschaftsanspruch des Okzidents gerade da ganz besonders deutlich zur Geltung bringt, wo er ein orientalisches Sprecher-Ich zu Wort kommen lässt, wo also der westliche Dichter den Anspruch erhebt, nach eigenem Gutdünken für das Fremde sprechen zu dürfen. Es zeichnet sich schon in der Preface zu den Orientales ab, dass das in den Gedichten entworfene Bild des Morgenlands den orientalistischen Strukturgesetzen folgen wird. Denn die geschichtsphilosophische Konzeption, die in dieser Preface erläutert wird und der Sammlung ihr ästhetisches Fundament gibt, stellt einen diskursiven Rahmen dar, der die fremde Wirklichkeit in die Ketten okzidentaler Denkstrukturen legt. Dort heißt es nämlich mit Bezug auf die orientalische Welt: La, en effet, tout est grand, riche, fecond, comme dans le moyen-äge, cette autre mer de poesie. Et, puisqu'il [Fauteur] est amene ä le dire en passant, pourquoi ne le dirait-il pas? II lui semble que jusqu'ici on a beaucoup trop vu Fepoque moderne dans le siecle de Louis XIV, et l'antiquite dans Rome et la Grece; ne verrait-on pas de plus haut et plus loin, en etudiant l'ere moderne dans le moyen-äge et l'antiquite dans l'Orient. (S. 52f.)
Was hier zunächst wie eine ästhetische Nobilitierung des Orients anmutet, erscheint im Lichte von Saids These als willkürliche Integrierung einer fremden Realität in die überkommenen Strukturmuster des abendländischen Geschichtsdenkens. Diese Muster waren von Hugo bekanntlich schon im Jahre 1827 für
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Sarga Moussa, »L'CEuvre mosquee«, Lendemains Bd. 24/1999, H. 95/96, S. 6—19, hier: S. 9. Franck Laurent, »Presentation«, in: Hugo, Les Orientales - Les Feuilles d'automne, S. 5—43, hier: S. 14.
Peter Ibring seine Preface de Cromwell wieder aufgegriffen worden, und zwar auf differenziertere Weise als in der hier zitierten Äußerung. In dem älteren Text hatte er die geschichtsphilosophische Perspektive bis hin in seine eigene Gegenwart verlängert, bis in eine Epoche, die, wie es sinngemäß heißt, im Zeichen prosaischer Modernität steht. Insofern ist das historische Modell, das diesem Entwurf zu Grunde liegt, nicht zwei- sondern dreistufig. Im primitiven Zeitalter, dessen angemessenes literarisches Medium die Lyrik sei, dominiere als künstlerische Ausdrucksweise das Erhabene; es folge die Antike als Ära des Schönen, das für Hugo durch die epische Form vermittelt wird; im christlichen Mittelalter beginnt sich die dritte Periode abzuzeichnen, die eine poesie complete hervorgebracht habe und in ästhetischer Hinsicht einzig dem Prinzip des reel verpflichtet sei. Victor Hugo will also offenbar im Orient ein Bild jenes primitiven Zeitalters erkennen, von dem die Geschichte der Poesie ihren Ausgang genommen hat. Er weist ihm damit eine ganz besondere, durchaus privilegierte Position im Rahmen seines historischen Modells zu. Das bedeutet aber, dass er dem Orient selbst das Recht auf eine eigene Geschichtlichkeit gewissermaßen implizit absprechen muss. Vor einem solchen Hintergrund ist es nur konsequent, dass die in den Orientales versammelten Gedichte weder als einzelne noch in ihrer Gesamtheit eine historische Perspektive eröffnen. Symptomatisch dafür ist das erste Stück der Sammlung Le Feu du ciel (S. 57-69), eine Art Ballade, die den alttestamentlichen Stoff um den Untergang der Städte Sodom und Gomorrha in eine um kurze Dialogpassagen erweiterte Erzählung übersetzt. Szenischer Hintergrund ist der Weg, den die von Gottvater ausgesandte Feuerwolke durchs Heilige Land macht. Die Redeteile setzen immer dann ein, wenn die Wolke eine neue Lokalität erreicht hat und eine nicht weiter bezeichnete, wohl in göttlichem Auftrag sprechende Stimme fragt, ob sie ihre Flammen genau über der jeweils erreichten Stelle auf die Erde senden soll. Die Reise berührt fünf Stationen, bis die Wolke schließlich über den beiden verfluchten Städten ankommt und dort ihren mörderischen Feuerregen entlädt. Die fünf Stationen sind exemplarisch für Hugos Bild von der frühen Geschichte der Erde und ihrer Besiedlung. Beim ersten Schauplatz handelt es sich um eine Meereslandschaft. Hier treten keine Menschen auf, die junge Schöpfung ist also gewissermaßen noch mit sich selbst allein. Die zweite Szene zeigt ein Hirtenvolk, das seinen einfachen Arbeiten nachgeht und Lieder singt; es folgen die emblematischen Monumente der ägyptischen Kultur, die Pyramiden von Gizeh und die dazugehörige Sphinx; eine Wüstenlandschaft schließt sich an, ergänzt durch das Bild einer ruhig dahinschreitenden Händlerkarawane; die letzte Szene vor der Ankunft in Sodom und Gomorrha wird ausgefüllt durch die Ruine des unvollendeten Turms von Babel, Zeugnis eines früheren Konflikts zwischen Gott und den Menschen. Diese Szene leitet auch durch ihre metaphorische Qualität auf die den Erzählteil abschließende Darstellung des göttlichen Angriffs auf die beiden Städte über. Die letzte Strophe des Gedichts lautet:
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Aujourd'hui le palmier qui croit sur le rocher Sent sa feuille jaunir et sa tige secher A cet air qui brüle et qui pese. Ces villes ne sont plus; et, miroir du passe Sur leurs debris eteints s'etend un lac glace, Qui fume comme une fournaise.
Die Schlussstrophe von Le Feu du del scheint durch ihr einleitendes »Aujourd'hui« den narrativen Inhalt mit der Gegenwart des Sprechers in Verbindung setzen zu wollen: Noch heute, so suggeriert der Sprecher, leidet die Natur in der Gegend der versunkenen Städte an dem Pesthauch, der von dem untergegangenen Sündenpfuhl auch nach seiner Zerstörung durch den Feuerregen immer noch ausgeht. Andererseits legt die von Hugo eröffnete Assoziationsperspektive auch die Deutung nahe, dass hier die absolute Vergangenheit des Vorgefallenen betont werden soll: Uber die moralische Verkommenheit der Bewohner von Sodom und Gomorrha und ihr existentielles Leiden im Augenblick der göttlichen Strafe hat sich als »miroir du passe« der »lac glace« des toten Meeres gelegt, als Zeugnis dafür, dass das durch die beiden Städte repräsentierte Höchstmaß an Sündhaftigkeit eine endgültig abgeschlossene Episode war, die tatsächlich keinerlei Spuren hinterlassen hat. Aber wie auch immer man die ätiologische Metaphorik der salzschweren Luft und des dampfenden Wassers5 verstehen will, die Aussagekraft der Strophe für die hier vertretene These dürfte unstrittig sein: Die orientalische Welt erscheint als poetische Totalität, der keine historische Tiefe zugestanden wird. Das »Aujourd'hui«, mit dem die Strophe beginnt und das von der historischen Erzählung zum Augenblick des lyrischen Sprechens überleitet, fasst die vieltausendjährige Geschichte des Orients von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts souverän in einen lapidaren Gegensatz von Gestern und Heute zusammen, wobei das Heute in keinem wirklich bedeutungsträchtigen Verhältnis zum Gestern steht. Auf der einen Seite zögert Victor Hugo nicht, den Orient als historische Größe an privilegierter Position in sein geschichtsphilosophisches Modell einzubauen, auf der anderen jedoch hat er kein Interesse daran, die orientalische Welt selbst zu historisieren. Weil diese Welt für ihn poetisch ist, so könnte man sagen, darf sie nicht historisch sein. Das zeigt sich in fast allen Gedichten der Sammlung auf die eine oder andere Weise. Die in den Orientales enthaltene Serie der Stücke um den griechischen Befreiungskampf gegen die osmanischen Besatzer, die sich an das einleitende Feu du del anschließt und ihrerseits durch einen Hymnus auf den Kriegshelden Canaris (S. 70-74) eröffnet wird, widerspricht dieser These nur scheinbar. Denn in dieser Serie geht es zwar um geschichtliche Inhalte, aber aus Hugos Perspektiven gewinnen diese Inhalte ihre geschichtliche Qualität
Diese Metaphorik findet sich schon im biblischen Bericht über den Untergang von Sodom und Gomorrha, Genesis 19, 27—28, und schon da hat sie einen ätiologischen Sinn.
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Peter Ibring nicht vom Orient, sondern vom Okzident her. Das gilt übrigens für die meisten Orientales, die einen historischen Erzählhintergrund haben. Aus diesen Gedichten lassen sich drei mehr oder weniger klar eingegrenzte Geschichtsszenarien herausdestillieren: erstens der bereits genannte seit 1823 tobende Krieg zwischen Griechen und Türken; zweitens der Teil der spanischen Historie, der durch die Präsenz islamischer Völkerschaften auf der iberischen Halbinsel bestimmt ist, also die Zeit bis 1492; 6 und drittens diejenigen Jahrhunderte, in denen die westeuropäischen Mittelmeerländer zum Ziel von Seeräubern orientalischer Herkunft wurden. Von den 41 Gedichten, die in den Orientales enthalten sind, können immerhin 18 aufgrund der jeweils darin gegebenen Sachinformationen einem der drei Geschichtsszenarien zugeordnet werden. Wenn man bedenkt, dass in zwei Stücken der Mythos Napoleon thematisiert ist, dann lässt sich errechnen, dass die Orientales etwa zur Hälfte historisch mehr oder weniger eindeutig situiert sind. Dass diese Situierung einer okzidentalen Perspektive verpflichtet ist, ergibt sich aus der Gegenprobe in Bezug auf die Gedichte ohne erkennbaren historischen Rahmen: Diese haben teils erzählenden, teils kontemplativen Charakter. Nun ist es nicht verwunderlich, dass eine lyrische Kontemplation nicht in einen bestimmten Geschichtsmoment eingebettet sein muss. Dass aber auch die Erzählgedichte dieser Gruppe in Bezug auf ihren geschichtlichen Hintergrund völlig unbestimmt bleiben, ist symptomatisch dafür, dass Hugo in seiner Sammlung den Orient als einen Kulturraum behandelt, der, für sich selbst genommen, ganz und gar ohne historische Tiefe ist. Die genannten Erzählgedichte entfalten zwar einen ebenso plastischen wie lebendigen Handlungsraum. Geschichtliche Konkretheit dagegen können sie nicht gewinnen, und zwar deshalb nicht, weil keine europäischen Akteure darin auftreten. Die Dignität des Historischen, so wäre zu folgern, wird dem Orient bei Hugo ausschließlich da zuteil, wo er in Kontakt mit dem Okzident tritt. Wo das nicht der Fall ist, wo die orientalische Welt gleichsam mit sich selbst allein bleibt, etwa in der Haremsepisode La Sultane favorite (S. 117-120), in dem blutigen Familiendrama Le Voile (S. 114-116) oder in der erotischen Vision Sara la baignen.se (S. 137-142), kann der erzählte Plot keine historische Dimension eröffnen, weil keine chronologischen Koordinaten zur Verfügung stehen, keine Geschichtsdaten, in Bezug auf die eine solche Dimension konkret werden könnte. Dessen ungeachtet wird in Hugos Sammlung mitunter durchaus erkennbar, dass die darin enthaltenen Gedichte die diskursiven Strukturen des Orientalismus auch übersteigen können. Entscheidend hierfür ist aber nicht, in welches Verhältnis der Dichter die von ihm eingesetzten Rede- und Wahrnehmungsinstanzen zu ihrer jeweiligen Umgebung rückt, sondern vielmehr die Tatsache, dass in vie-
Hier ist freilich anzumerken, dass Hugo mit der für ihn spezifischen, poetischen Wahrnehmungsweise auch das Spanien seiner eigenen Zeit noch als orientalisches Land empfindet.
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len Stücken der Sammlung eine elementarsymbolische Bedeutungsebene an die Seite des dominanten orientalistischen Diskurses tritt. Die vier Naturelemente, Wasser, Luft, Erde und Feuer, haben seit Gaston Bachelard 7 vor allem in der französischen Literaturtheorie einen kategorialen Status. Als nahezu unhintergehbare inhaltliche Komponenten des poetischen Bezugs auf die Wirklichkeit spielen diese Elemente im Rahmen der von Bachelard inaugurierten tiefenpsychologischen Betrachtung von Literatur eine wichtige Rolle, und zwar in dem Sinn, dass der Umgang eines Autors mit ihnen darüber Auskunft gibt, aus welchen elementaren Archetypen sich dessen dichterische Einbildungskraft speist. Was nun konkret den Autor der Orientales angeht, so ist festzuhalten, dass in seinem Fall zwei Bedingungsfaktoren konvergieren, ein kollektiver und ein individueller: Während der orientalistische Diskurs, von dem die Sammlung bestimmt ist, den überkommenen Wahrnehmungsstrukturen des Okzidents unterliegt und insofern seinen Ursprung gewissermaßen im Unbewussten einer Kulturgemeinschaft hat, ergibt sich die elementarsymbolische Bedeutungsebene aus dem persönlichen Unbewussten des Dichters. Die Argumentation, die ich im Folgenden entfalten will, läuft auf die These hinaus, dass der orientalistische Diskurs in den Orientales von elementarsymbolischen Signalen durchsetzt ist und von ihnen, wenn auch selten, in seiner ideologischen Geschlossenheit erschüttert wird. Häufiger dagegen kommt es vor, dass seine signifikanten Komponenten auf der elementarsymbolischen Ebene in bildhaft verschlüsselter Form wiederkehren, dass also im Falle Hugos die individuelle Tiefenpsychologie bis zu einem gewissen Grad den axiologischen Vorgaben der kollektiven Vorurteilsstruktur des Orientalismus folgt. Zunächst jedoch sei das Gedicht Enthousiasme {S. 86-88) 8 vorgestellt, in dem der Gegensatz zwischen Orient und Okzident programmatisch in den Hintergrund gerückt wird. An signifikanter Stelle im Rahmen der militanten Gedichtserie über den griechischen Befreiungskampf gegen die türkische Besatzungsmacht hält das sprechende Ich, das gerade noch über fünf Strophen hinweg zum erbitterten Kampf gegen »ces tigres ottomans« aufgerufen hatte, plötzlich inne und fragt sich nach seiner eigenen Identität: »Que suis-je - Esprit qu'un souffle enleve [...]« (S. 87). Damit ist ein Leitmotiv des metaphorischen Feldes benannt, mit dem Hugo in seiner Sammlung immer wieder die Überschreitung der Grenzen des Orientalismus im Zeichen poetischer Souveränität signalisiert: die Bewegung
Von den zahlreichen literaturtheoretischen Werken Bachelards seien hier nur diejenigen genannt, die sich auf diese vier Naturelemente beziehen: Gaston Bachelard, La Psychanalyse du feu, Paris, Gallimard, 2 1958 ('1938); L'Eau et les reves. Essai sur l'imagination de la matiere, Paris, Corti, 1942; L'Air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement, Paris, Corti, 2 1970 ( 1 1943); LaTerre et les reveries de la volonte, Paris, Corti, 2 1968 ( 1 1948); La Terre et les reveries du repos, Paris, Corti, 2 1969 ('1948). Der Titel des Gedichts, Enthousiasme, ist doppelsinnig. Er lässt an militant kämpferische Begeisterung ebenso denken wie an poetisch kreative.
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Peter Ibring in die Lüfte. Das sprechende Ich ist zwar in Bezug auf seine Wahrnehmungsweise in die Fesseln gelegt, die ihm aus seiner okzidentalen Herkunft erwachsen; es kann sich aber aus diesen Fesseln lösen, und zwar durch den erhebenden Sog seiner Imagination. Von diesem Sog kann es sich jederzeit davontragen lassen und indem es sich der daraus resultierenden Dynamik unterwirft, entgeht es der Gefahr, den Orient diskursiv zu vereinnahmen, wie es sich umgekehrt damit auch der eigenen Autonomie gegenüber orientalischen Zumutungen versichert. Die Metapher des vom W i n d davongetragenen Blattes als positiv konnotiertes Bild für die Souveränität der poetischen Imagination gegenüber kulturellen und politischen Bindungen kehrt in einem anderen Stück der Sammlung wieder: Das Gedicht Veen (S. 148—150) wird durch die folgende hypothetische Selbstaussage des lyrischen Ichs eröffnet: »Si j'etais la feuille que roule/L'aile tournoyante du vent [...]«. In Enthousiasme und in Voeit ist das Postulat von der fundamentalen Andersartigkeit des Orients nicht impliziert. Ein Blick auf den Gesamttext der Sammlung lehrt freilich, dass Victor Hugo sich nur sehr selten von der orientalistischen Vorurteilsstruktur wirklich freizumachen versteht. Das zeigt sich zumindest in den Gedichten, wo die darin auftretenden okzidentalen Sprecher ihrer fremdartigen Umgebung in jeweils unterschiedlichen Rollen, aber auf jeden Fall aus einer Position radikaler Alterität gegenübertreten. Dabei werden die wichtigsten Modellsituationen des west-östlichen Kulturkontakts evoziert. In La Captive (S. 109-111), einem der berühmtesten Stücke der Sammlung, bildet die Situation einer in orientalische Sklaverei geratenen Christin den Rahmen fur den lyrischen Monolog eines weiblichen Ichs. Die Sprecherin beklagt zwar einleitend die Repressionen, die sie in ihrem Serail zu ertragen hat; aber in ihren Äußerungen bekundet sich auch, und zwar fast von Anfang an, ein heimliches Einverständnis mit der Welt, in der sie gefangen ist. Dieses Einverständnis hat seine Ursache darin, dass die faszinierende Atmosphäre, die von den orientalischen Schauplätzen ausgeht, für das sprechende Ich unwiderstehlich ist. Gleichwohl verbindet sich mit diesen Schauplätzen, ganz im Sinne der Axiologie des Orientalismus, ein Klima brutaler Unterdrückung, während der Okzident als Heimat der Freiheit erscheint: »Au pays dont nous sommes [...]«, so stellt die christliche Sprecherin fest, »Avec les jeunes hommes/On peut parier le soir [...]«. Das Bild des Morgenlands, das in La Captive entworfen wird, verweist insofern auf den orientalistischen Diskurs, als es seine Identität ausschließlich aus seiner Gegensätzlichkeit zum Abendland bezieht. Dies lässt sich auch für die Gedichte zum griechischen Befreiungskampf gegen die Türken sagen, obwohl in diesen Gedichten ein ganz anderer, ein kämpferischer Ton angestimmt wird. Hier stellt sich der Orient für den okzidentalen Sprecher nicht als faszinierendes Objekt der ästhetischen Anschauung dar, im Gegenteil: Die Türken, so heißt es in Canaris (S. 7 0 - 7 4 ) , in Les Tetes du serail (S. 7 5 - 8 5 ) und in Navarin (S. 8 9 - 1 0 1 ) , sind die brutalen Unterdrücker des mit Europa kulturell verbundenen Volks der Griechen und müssen daher erbittert 70
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bekämpft werden. 9 Aber auch die genannten Beiträge zur philhellenischen Propaganda beziehen ihre argumentative Logik aus dem orientalistischen Postulat, wonach zwischen Orient und Okzident ein unversöhnlicher Gegensatz besteht. Das Gleiche gilt für das Gedicht Adieux de l'hotesse arabe (S. 153—155), wo der Antagonismus zwischen den beiden Kulturkreisen latent bleibt, aber darum nicht minder intensiv zu spüren ist. Als lyrisches Ich fungiert eine orientalische Sprecherin, die »hotesse arabe«, die sich an einen europäischen Reisenden wendet, der eine zeitlang in ihrem Dorf geblieben war und sich nun wieder auf Wanderschaft begeben will. Sie klärt ihn darüber auf, dass so manche Frau aus dem Dorf ihn wohl gerne als Ehemann bei sich aufgenommen hätte und dass ihn auf jeden Fall viele sehnsüchtige Gedanken auf seinem Weg in die Ferne begleiten werden. Hier wird ein männlich okzidentaler Wunschtraum in lyrischer Rede durch eine weibliche Stimme orientalischer Herkunft erfüllt. Die erotische Spannung des Ganzen speist sich ganz wesentlich aus der kulturellen Antinomie zwischen Abendland und Morgenland, die der entfalteten Situation darüber hinaus ein im Gedicht selbst freilich nur indirekt angesprochenes 10 Konfliktpotential unterlegt. Als Autor der zuletzt genannten Gedichte demonstriert Hugo seine Befangenheit in okzidentalen Denkstrukturen durch die Klischeehaftigkeit der darin evozierten Heterostereotypen, wobei die jeweils vorherrschende monologische Redeweise natürlich auch nicht dazu angetan ist, diese Klischeehaftigkeit aufzubrechen. Das Morgenland erscheint zum einen als bedrohlicher Feind der abendländischen Kulturgemeinschaft, es ist zum anderen eine Sphäre brutaler Repression, die sich nicht nur gegen Christen richtet, sondern genauso gegen die Angehörigen der orientalischen Völker selbst; die orientalische Welt stimuliert mit ihren exotischen Geheimnissen aber auch die Sinnlichkeit und intellektuelle Neugier des westlichen Betrachters. Die Orientales bieten also auf ihrer Textoberfläche ein sehr konventionelles Bild der dargestellten Alterität. Dieser Befund wird verfestigt durch einen Blick auf die entsprechenden Elemente der elementarsymbolischen Tiefenstruktur, die sich bei einem Vergleich zwischen dem ersten und dem letzten Stück der Sammlung identifizieren lassen. Das hier schon behandelte Einleitungsgedicht Le Feu du del (S. 57-69) steht in einem signifikanten Kontrast zu Novembre (S. 217-219), der letzten Orientale. Es lebt in thematischer Hinsicht von der Figur des alttestamentlichen, unbarmherzig strafenden Gottes, der aus okzidentaler Sicht gewissermaßen als Urtyp aller späteren Tyrannen des Orients zu begreifen wäre. Wichtig im hier entfalteten Zusammenhang sind aber die elementarsymbolischen Accessoires, mit denen
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Österreich, das während des griechisch-türkischen Krieges den osmanischen Feind Europas unterstützt hatte, wird dafür in der letzten Strophe von Navarin scharf kritisiert (S. 101). Die orientalische Sprecherin gibt d e m von ihr angeredeten Fremdling den Rat, sich auf seinem Weg durch das Morgenland vor feindseligen Attentaten in Acht zu nehmen (S. 155).
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Hugos balladenhafter Bericht vom Untergang der Städte Sodom und Gomorrha ausgestattet wird, wobei man allerdings zugestehen muss, dass diese Ausstattung, freilich weniger detailliert, schon durch die biblische Quelle vorgegeben ist. Die einschlägige Textstelle, Genesis 19, 24, bildet das Motto des Gedichts: »Alors le Seigneur fit descendre du ciel sur Sodome et sur Gomorrhe une pluie de soufre et de feu.« Hugo baut das Paradox des Feuerregens zum Bild einer ausführlich beschriebenen und durch Vergleich charakterisierten Feuerwolke aus: La voyez-vous passer, la nuee au flanc noir? Tantöt pale, tantöt rouge et splendide ä voir, Morne comme un ete sterile? On croit voir ä la fois, sur le vent de la nuit, Fuir toute la fumee ardente et tout le bruit De l'embrasement d'une ville. (S. 57)
Zunächst ist festzuhalten, dass hier kein lyrisches Subjekt, sondern ein epischer Sprecher das Wort ergreift, das heißt, es geht um ein kollektives, ein ganzes Volk, ja eigentlich die gesamte Menschheit betreffendes Geschehen und nicht um individuelle Selbstaussprache. »La voyez-vous passer [...]«, die fragende Anrede an die sonst nicht genauer identifizierbaren Zuhörer, unterstreicht diesen Eindruck der Kollektivität und hat außerdem dramatisierende Wirkung. Was die elementarsymbolische Seite des Gedichts betrifft, so dominiert natürlich das Feuer, aber wenn man den gesamten Text betrachtet, tritt diesem Element ein zweites zumindest gleichberechtigt an die Seite, nämlich die Luft: Die Wolke muss nämlich — wie schon erwähnt — in großer Höhe einen weiten Weg über die Landschaften des Orients hinweg zurücklegen, bevor sie ihre tödliche Last auf die beiden frevlerischen Städte nieder senden kann. Schon hier zeichnet sich ab, dass die Luft über dem Morgenland ein gefahrenträchtiges Element ist, während sie, wie sich weiter unten zeigen wird, in einigen Gedichten der Sammlung von okzidentalen Sprechern als grenzenloser Entfaltungsraum poetischer Imagination positiv konnotiert werden kann. Es ist auffällig, dass Hugo in Le Feu du ciel das Element des Wassers noch konsequenter eliminiert als seine Vorlage, der französische Bibeltext, der immerhin noch das Wort »pluie« verwendet und dadurch die Assoziation mit den ja unvermeidlicherweise wasserartigen Tropfen ermöglicht. Wenn man den Gedichten der Sammlung glauben darf, dann ist das einzige Wasser, das sich im Orient denken lässt, das Wasser des Meeres,11 das ja nach einer Beobachtung von Gaston
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Immerhin ist auch in Sara la baigneitse und in Ciaire de Lüne vom Wasser die Rede, von einem Wasser, das zwar dem Typ der »eau violente« im engeren Sinn nicht entspricht, das aber dennoch keinen eindeutig positiven Assoziationsraum eröffnet, weil es mit dem Thema der selbstgefälligen Überheblichkeit bzw. mit demjenigen menschenverachtender Mordlust konnotiert ist.
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Bachelard überall da keine wohlige Sympathie hervorrufen kann, wo es den von ihm so genannten Typus der »eau violente« repräsentiert.12 Für die Elementarsymbolik des Orients, so wie sie bei Hugo erscheint, ist es aber auf jeden Fall symptomatisch, dass Wasser und Luft keine innige Verbindung miteinander eingehen können. Dunst und Nebel sind nur im Abendland vorstellbar, und so erstaunt es nicht, dass diese atmosphärischen Erscheinungen erst am Ende der Sammlung evoziert werden, in einer Phase also, da sich der Sprecher von der orientalischen Welt zu verabschieden beginnt. Neben Reverie (S. 203-204) 1 3 ist hier vor allem ein Gedicht zu nennen, das den bezeichnenden Titel Novembre (S. 217—219) trägt und den Abschluss der Orientales bildet. Es unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von seinem Gegenstück Le Fett du ciel, mit dem der Zyklus eröffnet worden war. Während das Einleitungsgedicht episch-kollektiven Charakter hatte, ist Novembre ganz und gar durch eine monologisch intimistische Redesituation bestimmt. Das sprechende Ich sitzt allein am Fenster, vor sich die Dächer von Paris, und hält Zwiesprache mit seiner Muse. Es ist ein Abend im Spätherbst: Quand l'Automne, abregeant les jours quelle devore, Eteint leurs soirs de flamme et glace leur aurore, Quand Novembre de brume inonde le ciel bleu, Que le bois tourbillonne et qu'il neige des feuilles, Ο ma muse! En mon ame alors tu te recueilles, Comme un enfant transi qui s'approche du feu. Devant le sombre hiver de Paris qui bourdonne, Ton soleil d'orient s'eclipse, et t'abandonne, Ton beau reve d'Asie avorte, et tu ne vois Sous tes yeux que la rue au bruit accoutumee, Brouillard ä ta fenetre, et longs flots de fumee Qui baignent en fuyant Tangle noirci des toits. (S. 217)
Le Feu du ciel und Novembre, die beiden Gedichte, die den Zyklus der Orientales eröffnen und beschließen, akzentuieren den Gegensatz zwischen Orient und Okzident durch ihre inhaltliche, aber auch durch ihre elementarsymbolische Aussage. Mit der mit großer Geschwindigkeit über die Wüste dahin jagenden Feuerwolke am Beginn der Sammlung korrespondiert die träge dahinziehende Dunstwolke über der spätherbstlich grauen Großstadt Paris an ihrem Ende. Im Einleitungsgedicht war der luftige Himmel hell und klar, er war aber auch der Ort, von dem der furchtbare Angriff herkam. Im Schlussgedicht dagegen ist der Himmel düster und von unzähligen Wassertropfen durchtränkt. Er birgt keine tödliche Gefahr, legt sich aber auf die Stimmung. Im okzidentalen Umfeld hat das lyrische Subjekt keine bedrohliche Aggressivität von außen zu fürchten, sondern
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Vgl. Bachelard, L'Eau et les reves, Kap. 8: »L'eau violente«, S. 213—249. In inhaltlicher Hinsicht ist Reverie eine Art Prolepse zu Noi>embre.
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nur die eigene Schwermütigkeit, den Spleen, den es mit sich selbst ausmachen muss. Die elementarsymbolische Opposition von Wasser und Luft ist aufgehoben. Das dämpft die Gegensätze, so dass es nicht zum offenen Ausbruch von Gewalt kommt. Geist und Glieder hingegen sind dadurch so sehr beschwert, dass sich das Ich selbst zum Feind werden kann. Das eigentliche Thema von Novembre ist jedoch weniger der Gegensatz zwischen Orient und Okzident als vielmehr die Frage nach der dichterischen Imagination. Aber auch diese Frage hat ihre elementarsymbolischen Implikationen. Denn der Himmel über Paris legt sich ja nur deshalb beschwerend auf die Kreativität des lyrischen Ichs, weil er von kalten Wassertropfen durchtränkt ist und daher dem freien Flug der schöpferischen Phantasie keinen Raum bietet. Ein Ich, das dem französischen Umfeld und den darin herrschenden atmosphärischen Bedingungen verhaftet bleibt, kann sich nicht in den offenen Raum poetischer Visionen erheben. Wenn in den weiter oben erwähnten Gedichten Enthoiisiasme und Vceu die produktive Entfaltung schöpferischer Einbildungskraft in das Bild des vom Wind davongetragenen Blattes gefasst wird, dann ist dies ja nur deshalb möglich, weil in diesen Gedichten der jeweilige lyrische Monolog vor dem weiten Horizont der orientalischen Welt steht. Es ist freilich bezeichnend, dass das genannte Bild in den Orientales nur von solchen Sprechern formuliert wird, die ihre Heimat im Okzident haben. Die Stimmen des Morgenlands dagegen scheinen vor allem durch ihre Erdhaftigkeit gekennzeichnet zu sein. Erde und Luft sind zwei Elemente, die, was ihre symbolische Besetzung angeht, in Hugos Sammlung antithetisch aufeinander verweisen. Als charakteristisches Element des Orients sorgt die Erde dafür, dass die orientalischen Sprecher, die in den einzelnen Gedichten zu Wort kommen, nicht wirklich dem offenen Horizont dichterischer Kreativität entgegenfliegen können. Die Luft dagegen ist der grenzenlose Raum, den das okzidentale Genie braucht, um seiner schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen. Der Gegensatz, den die beiden Elemente Luft und Erde bilden, wird in den Gedichten Les Tronqons du serpent (S. 159-160), Nourmahal la Rousse (S. 161— 162) und Les Djinns (S. 163-167) aus jeweils besonderer Perspektive beleuchtet. Im ersten Text besetzt das zur Allegorie ausgebaute Thema künstlerischer Kreativität eine Position zwischen Himmel und Erde. Die Rede ist von dem schöpferischen »genie au vol large, eclatant, gracieux« (S. 160), das freilich im Augenblick der lyrischen Aussage bereits der Vergangenheit angehört. Von ihm heißt es, dass es »mieux que l'hirondelle/Tantot rasait la terre et tantöt dans les cieux/Donnait des grands coups d'aile.« Dem »genie«, dessen Untergang hier verkündet wird, ist seine Abhängigkeit von einem orientalischen Sujet zum Verhängnis geworden: Weil es seine poetische Inspiration ausschließlich von der schönen Albayde bezogen hat, kann es den Tod dieser morgenländischen Muse nicht überleben. Für den Sprecher dieses Gedichts ist die befreiende Kraft der dichterischen Imagination nur eine schöne Erinnerung. Er spricht mit der zerstückelten Schlange,
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Orientalische Poesie — Victor Hugo, das Morgenland lind die Elementarsymbolik die dem Gedicht seinen Titel gegeben hat und die schon aus sich selbst heraus ein Symbol für die Verstrickung der menschlichen Existenz in die Erdhaftigkeit ist. Diese Schlange sagt ihm, dass er hinfort kein homogenes Kunstwerk mehr zustandebringen werde: W i e ihr eigener Körper, so sei auch sein »genie« durch den Tod der schönen Albayde in isolierte Einzelteile zerschlagen, die sich nicht mehr zu einer kreativen Ganzheit würden zusammenfinden können. Der elementarsymbolische Bezug auf die Erde, der in Les trongons du serpent über die Figur der Schlange metaphorisch veranschaulicht worden war, deutet sich in Nourmahalla Roussedurch die inhaltliche Ausstattung des Schauplatzes an: Dort ist nämlich die Rede von einem »sombre hallier«, von einer »ombre non frayee« und von einer ganzen Reihe wilder Dschungelraubtiere (S. 161), unter denen sich wiederum ein »serpent« und eine »boa« befinden. Hier fehlt das zu diesem bedrängenden Szenario komplementäre Motiv der luftigen Weite ganz und gar. Das sprechende Ich konstatiert lediglich, dass es sich in der beschriebenen höhlenartigen Umgebung immer noch wohler fühlen würde als im Angesicht der schönen Orientalin Nourmahal la Rousse. Das Gedicht Les Djinns, das in der Abfolge der Orientales auf Les trongons du serpent und auf Nourmahal la Rousse folgt, führt eine Bewegung durch die Luft in präsentischer Form vor und bildet insofern einen Gegensatz zu den beiden anderen Stücken. Dem lyrischen Ich aber kommt diese Bewegung gerade nicht zugute. Die bedrängende Atmosphäre, die in dem berühmten Werk spürbar wird, resultiert vielmehr daraus, dass sich der Sprecher mit einem nächtlichen Angriff der im Titel benannten orientalischen Luftgeister auseinandersetzen muss. Während sich in der Lyrik Victor Hugos normalerweise der Vertreter des dichterischen Subjekts erhebt, um fernen Horizonten entgegenzufliegen und dabei das entfaltete Szenario imaginativ zu umgreifen, ist die Situation hier umgekehrt: Das sprechende Ich sieht sich einer bösartigen Macht ausgeliefert, die von oben auf die Erde herabzukommen droht. Von souveräner Entfaltung poetischer Imagination kann unter solchen Umständen keine Rede sein: Das Gedicht beginnt mit dem Wort »Murs«, das den ganzen Eingangsvers ausfüllt und in dieser Hinsicht besonders viel sagt, weil es dazu geeignet ist, alle Formen visionärer Entgrenzung von vornherein auszuschließen. Der - nebenbei bemerkt: orientalische — Sprecher schwingt sich nicht empor in die Lüfte, sondern muss im Gegenteil Unterschlupf in abgeschlossenen Schutzräumen suchen und sich dabei in immer engere Behältnisse zurückziehen: Er flieht »sous la spirale de l'escalier profond« (S. 164), wo das Kerzenlicht, das er in der Hand hält, durch die von den Djinnen ausgehende Luftströmung erlischt, so dass die Dunkelheit bis zum »plafond« aufsteigt. Die Zimmertür ist fest verschlossen. Die achte der insgesamt fünfzehn Strophen des Gedichts markiert den dramatischen Höhepunkt der Handlung:
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Peter Ibring L'horrible essaim, pousse par l'aquilon, Sans doute, ό ciel! s'abat sur ma demeure. Le mur flechit sous le noir bataillon. La maison crie et chancelle penchee, Et Ton dirait que, du sol arrachee, Ainsi qu'il chasse une feuille sechee, Le vent la roule avec leur tourbillon! (S. 165)
Die Metapher vom Blatt, das durch den Wind in die Ferne davongetragen wird, die in Enthousiasme und in Veeu die Erfahrung dichterischer Kreativität positiv versinnbildlicht hatte, ist hier unter dem Eindruck der bösen Luft des Orients ins Negative gewendet. Dem elementarsymbolischen Subtext von Les Djinns ist zu entnehmen, dass die orientalische Luft der poetischen Einbildungskraft ebenso gefährlich werden kann wie die orientalische Erde. Der despotische Charakter dieses zuletzt genannten Elements deutet sich, freilich auf dezente Weise, auch in den Wüstengedichten der Sammlung an. Ihre unbezwingbar erscheinende Stärke verdankt die orientalische Erde einer erratischen Festigkeit, an der, so sollte man meinen, alle Formen offensiver Dynamik zuschanden kommen müssten. Und doch muss auch sie sich in einem Fall der Überlegenheit eines konkurrierenden Elements beugen, nämlich dem unablässigen Ansturm der Wellen des Meeres vor dem türkischen Festland. In dem Gedicht Le Chäteau-fort (S. 124—125) heißt es, dass das vom Seewind bewegte Wasser eine dort befindliche Insel, auf der sich der osmanische Stammesfurst Ali-Tepeleni eine Festung gebaut hatte, davonspülen und damit die ganze Gegend von dessen blutrünstiger Tyrannei befreien würde. Das genannte Gedicht bildet im Kontext der Orientales insofern eine Ausnahme, als es demonstriert, dass sogar die despotische Erde des Morgenlands mitunter vor einem übermächtigen Gegner kapitulieren muss, in diesem Fall vor dem dynamisch umwälzenden Element des Wassers, das mit seiner unerschöpflichen Energie auch den stabilsten Widerstand irgendwann einmal zu brechen vermag. Die orientalische Erde, die in Le Chäteau-fort den vereinten Kräften von Wind und Wasser weichen musste, bleibt in den Orientales normalerweise unerschüttert. Dies gilt vor allem für jene Gedichte, in denen es um die existentiellen Rahmenbedingungen poetischer Kreativität unter den atmosphärischen Bedingungen des Morgenlands geht. Wer diese Gedichte, vor allem Les trongons du serpent und Nourmahal la Rousse, auf ihre elementarsymbolische Bedeutungsebene hin befragt, der muss zu dem Ergebnis kommen, dass die orientalistische Vorurteilsstruktur, jedenfalls tendenziell, auch das individuelle Unbewusste des Dichters infiltriert hat. Dem okzidentalen Dichter-Ich, solange es, wie in Enthousiasme und in Vceu, bei sich selbst bleibt und nicht wirklich zum integralen Bestandteil eines orientalischen Szenarios wird, steht der Luftraum der poetischen Imagination offen, jedenfalls geht das aus der positiv konnotierten Metapher des vom Wind davongetragenen Blattes hervor. Demgegenüber lässt das düstere Stück Les trongons du
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Orientalische Poesie — Victor Hugo, das Morgenland lind die Elementarsymbolik serpent erkennen, dass der durch seine Erdhaftigkeit gekennzeichnete morgenländische Kontext, der das Sprecher-Ich im Augenblick seiner Aussage umgibt, die produktive Entfaltung der Kreativität eher zu hemmen scheint. Und auch der Himmel über dem Orient fordert, wie sich in Les Djinns zeigt, nicht zum freien Flug der Phantasie auf, sondern ist von bedrohlichen Luftgeistern bevölkert. Das Gedicht der Sammlung, das die Frage nach den existentiellen Rahmenbedingungen dichterischen Tuns am ausführlichsten behandelt, ist die Ballade Mazzeppa (S. 191-197), die in eine allegorische Auslegung des narrativ entfalteten Szenarios mündet: Der Titelheld, eine emblematische Figur der Romantik, liegt rücklings gebunden auf einem Pferd, das, durch den rachsüchtigen Peiniger Mazzeppas angetrieben, von der Ukraine aus in wildem Galopp durch die zentralasiatische Ebene prescht. Während der wilden Jagd blickt der gefesselte Reiter immer wieder entsetzt gen Himmel, weil ihm dort ganze Scharen von Aasgeiern folgen, die offensichtlich nur daraufwarten, sich an dem gütlich zu tun, was nach dem teuflischen Ritt von ihm übrig geblieben sein wird. Sie können indes ihren Hunger nicht stillen. Nach vielen Tagen kommt das Pferd endlich zur Ruhe und Mazzeppa ist gerettet, allerdings in einem erbärmlichen Zustand und dem Tode nah. Dieser aufwühlende Stoff, der erstmals von Lord Byron literarisch verarbeitet worden war, erfährt im zweiten Teil der Ballade eine allegorische Auslegung, die ihm eine poetologische Dimension abgewinnt: Das rasende Pferd steht für das dichterische Genie, das demjenigen, der von ihm bewegt ist, in gewisser Weise Gewalt antut, ihn jedenfalls ganz und gar überwältigt und dabei keine Rücksicht auf sein Wohlbefinden nimmt. Der Text betrifft also die Frage nach den existentiellen Rahmenbedingungen dichterischer Genialität, und er verknüpft diese Frage über seine elementarsymbolische Bedeutungsebene mit dem Gedanken von der Erdhaftigkeit des Orients, der dem luftigen Okzident als repressive Antithese entgegengesetzt ist. Das jedenfalls zeigt ein vergleichender Blick auf Mazzeppa und auf die beiden Gedichte Enthonsiasme und Veeu, die ihrerseits auch von der Geniethematik beherrscht sind. Während in diesen Gedichten das jeweilige, ganz offensichtlich okzidentale lyrische Ich, das diese Genialität repräsentiert, als federleichtes Blatt vom sanft wehenden W i n d davongetragen worden war, reibt sich Mazzeppa an der Steinwüste Zentralasiens auf. Dabei wirkt, und darauf kommt es an, der orientalische Himmel nicht weniger grausam als die orientalische Erde. Denn er ist verdunkelt von beutegierigen Raubvögeln, die den Protagonisten der Ballade in ähnlicher Weise bedrohen wie die Djnnen das sprechende Ich aus dem Gedicht, das ihren Namen trägt. Die hier interpretierte Gedichtsammlung Victor Hugos ist auf zwei Ebenen der orientalistischen Axiologie verpflichtet, auf der diskursiven und auf der elementarsymbolischen. Dabei könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass der Dichter den diskursiven Orientalismus häufig überstiegen hat, nämlich überall da, wo er die von ihm dargestellte fremde Welt mit Elementen des Eigenen, des Vertrauten, produktiv durchsetzt. Immer wieder sind die Orientales von einem 77
Peter Ibring Impuls bestimmt, der über die im engeren Sinn morgenländischen Sujets hinausweist. Aber das bedeutet nicht, dass die Sammlung deshalb weniger orientalistisch wäre. Denn das lyrische Ich, das in den entsprechenden Fällen als okzidentales Ich erkennbar ist und das den Orient mit seinem elementarsymbolischen Aufstieg in luftige Höhen hinter sich lässt, bringt ja dadurch den despotischen Charakter der auf eine niederdrückende Erdhaftigkeit reduzierten orientalischen Gegenwelt nur umso deutlicher zum Ausdruck. Und wenn Edward Said bemerkt, fur Hugo sei die literarische Beschäftigung mit dem Orient eine »forme de liberation« 14 gewesen, so trifft das nur in einem sehr oberflächlichen Sinn zu, nämlich insofern, als sich der Dichter in mehreren Stücken der Sammlung einem stark konventionalisierten Bild exotischer Sinnlichkeit hingegeben hat. Wer sich dagegen auf die elementarsymbolisch vermittelten Aussagen konzentriert, und zwar besonders auf diejenigen, die in einem poetologischen Kontext stehen, wird schnell feststellen, dass sich dichterische Kreativität nach diesen Aussagen in der orientalischen Welt nicht frei emporschwingen kann, weil sie durch die repressive Atmosphäre ihrer Umgebung am Boden gehalten wird. An dieser Stelle sei noch das Gedicht Extase (S. 2 0 5 - 2 0 6 ) vollständig zitiert, weil es den eben formuliert Befund insofern ex negativo belegt, als es exemplarisch zeigt, dass in den Orientales eine kosmische Übereinstimmung von Ich und Welt nur da zur Sprache gebracht wird, wo der Orient ausgeblendet ist. Und das heißt letztlich nichts anderes, als dass man, offenbar auch in lyrischer Rede, aus okzidentaler Perspektive dem Orientalismus nur dadurch entgehen kann, dass man gar nicht vom Orient spricht: Extase J'etais seul pres des flots, par une nuit d'etoiles. Pas un nuage aux cieux, sur les mers pas de voiles. Mes yeux plongeaient plus loin que le monde reel. Et les bois, et les monts et toute la nature, Semblaient interroger dans un confus murmure Les flots des mers, les feux du ciel. Et les etoiles d'or, legions infinies, A voix haute, ä voix basse, avec mille harmonies, Disaient, en inclinant leurs couronnes de feu; Et les flots bleus, que rien ne gouverne et n'arrete, Disaient, en recourbant l'ecume de leur crete: — C'est le Seigneur, le Seigneur Dieu!
Das Gedicht steht ganz und gar im Zeichen poetischer Entgrenzung. Ein inhaltlicher Bezug auf die orientalische Welt wäre dieser Entgrenzungsdynamik aus den hier dargelegten Gründen zuwider gelaufen: Er hätte das sprechende Ich auf eine okzidentale und das heißt auch: auf eine partikulare Rolle festgelegt. Aber wenn
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Said, L'Orientalisme, S. 193.
Orientalische Poesie — Victor Hugo, das Morgenland und die Elementarsymbolik es so ist, dass das lyrische Ich der Orientales den morgenländischen Bezugsrahmen übersteigen muss, um sich als poetisches Ich aus allen nichtpoetischen Verstrickungen lösen zu können, worin liegt dann der literarische Sinn der Orientthematik? Zur Beantwortung dieser Frage sind noch einmal die beiden Stücke Voeu und Enthousiasme
in Erinnerung zu rufen. Denn darin wird der Orient zwar the-
matisiert, aber nicht als kulturelle Gegenwelt sondern als unbestimmtes Fernziel, von dem sich das Ich in eine schwungvolle Bewegung versetzen lässt. Dabei geht es nicht so sehr um die Alterität dieses Fernziels als vielmehr darum, dass sich das sprechende Ich davon faszinieren und in eine imaginäre Bewegung versetzen lässt. Die poetische Qualität des Orients, die in Hugos Sammlung aufscheint, hat also nichts mit den inhaltlichen Ingredienzen des darin entworfenen Orientbilds zu tun. Sie resultiert vielmehr aus der räumlichen Spannung, die sich zwischen dem okzidentalen Standort des Dichters und seinen orientalischen Gegenständen aufbaut und aus der sich ein Impuls zu poetischer Entgrenzung ableiten lässt. Dieser wird freilich überall da auf das banale Niveau des Orientalismus heruntergezogen, wo die vermeintliche kulturelle Identität des Morgenlands selbst den stofflichen Inhalt der poetischen Aussage bildet. Das bedeutet: Der Orient ist in den Orientales Ziel einer lyrischen Sehnsucht, aber ein Ziel, das nicht wirklich erreicht werden darf, und zwar deshalb nicht, weil jegliche Literarisierung des Orients nicht anders sein kann als orientalistisch. Insofern lässt sich
Novembre,
das Abschlussgedicht der Sammlung, auch als D o k u m e n t eines souveränen Bekenntnisses zu genuin okzidentalen Inhalten lesen: Weil der Orient nicht aus sich selbst heraus als poetischer Gegenstand originell zu thematisieren ist, sondern nur als Katalysator einer entgrenzenden Aufbruchsbewegung in die Ferne dienen kann, fällt die Rückkehr zu einer Poesie des Vertrauten leicht, und dies umso mehr, als nur die vertrauten Gegenstände dem sprechenden Ich jene kulturelle Freiheit lassen, die es braucht, um sich zu einem wirklich unbeschwerten Flug dichterischer Imagination erheben zu können.
Bibliographie Bachelard, Gaston, L'Air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement, Paris, Corti, 21970 (11943). La Psychanalyse du feu, Paris: Gallimard, 2 1 9 5 8 ( ^ ί δ ) . — L'Eau et les reves. Essai sur l'imagination de la matiere, Paris, Corti, 1 9 4 2 . LaTerre et les reveries de la volonte, Paris, Corti, 2 1 9 6 8 ( ' 1 9 4 8 ) . — La Terre et les reveries du repos, Paris, Corti, 2 1 9 6 9 ( 1 1 9 4 8 ) . Hugo, Victor, Les Orientales — Les Feuilles d'automne, hrsg. von Franck Laurent, Paris, Librairie Generale Frangaise, 2 0 0 2 . Laurent, Franck, »Presentation«, in: Hugo, Les Orientales — Les Feuilles d'automne, S. 5 - 4 3 . Moussa, Sarga, »L'CEuvre mosquee«, Lendemains Bd. 2 4 / 1 9 9 9 , H . 9 5 / 9 6 , S. 6 - 1 9 . Said, Edward W., L'Orientalisme. L'orient cree par l'occident, Paris, Seuil, 1 9 8 0 .
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Franziska
Meier
Orient in Paris Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830
In der Forschung ist die Frage nach Balzacs Umgang mit dem Orient bisher auf wenig Interesse gestoßen. Bekanntlich unternahm Balzac keine Orientreise und scheint sich auch sonst nicht weiter mit dem Orient beschäftigt zu haben. Wenngleich Fernand Baldensperger schon in den zwanziger Jahren auf Balzacs prägende Lektüre der Geschichten aus 1001 Nacht verwies, so ging es ihm dabei doch lediglich um eine Rekonstruktion der Quellen. 1 Erst Pierre Citron ging 1968 über ihn hinaus, gleichwohl beschränkte er sich darauf, Balzacs rekurrente Orientmotive unter dem Titel »Le Reve asiatique« zusammenzustellen, eine Auseinandersetzung mit dem Orient wollte aber auch er bei dem Autor der Comedie humaine nirgends erkennen. 2 Auf seinen Spuren lasen Pierre Saint-Amand 3 und Colette Juilliard später die Orientmotive in Balzacs Erzählung La fille aux yeux d'or als sogenanntes »dispositif« des Textes. Juilliard kam indes lediglich zu dem Schluss, dass der Orient hier eine »necessite textuelle« sei, »puisqu'il est le lieu de tous les possibles: amour, claustration et mort«. 4 Ansonsten sprach sie Balzac jegliche »pretention orientaliste« ab. Das Verhältnis von Orient und Okzident habe außerhalb seiner Interessen gelegen. Nach den bisherigen Forschungen zu urteilen, scheint sich somit die Rolle des Orients in der Comedie humaine ausschließlich in den Bahnen des Imaginaire zu bewegen, womit sich Balzac freilich schon einmal als Gewährsmann für Saids These eines >orientalistischen Diskurses< als Projektion westlicher Phantasien und Machtansprüche auf den Orient erwiese. Indem sich Balzac zentrale Aspekte des Orientalismus wie Despotismus, Leidenschaft und Grausamkeit in seinen Erzählungen zunutze macht, wird sein Werk zu einem eindrücklichen Fallbeispiel dafür, wie man bar jeder Kenntnis über den Orient und vor allem über das, was orientalisch sein soll, zu schreiben vermag und wie jedem im Okzident all diese Klischees zugänglich waren.
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Vgl. dazu Fernand Baldensperger, L'appel de la fiction Orientale chez Balzac, Oxford, Clarendon Press 1927, sowie ders., Orientations etrangeres chez Balzac, Paris, Champion, 1927. Pierre Citron, »Le Reve asiatique«, Annee balzacienne 1968, S. 303—336. Pierre Saint-Amand, »Balzac oriental: La fille aux yeux d'or«, Romanic Review, Bd. 53, März 1988, S. 3 2 8 - 3 4 0 . Colette Juilliard, Imaginaire et Orient. L'ecriture du desir, Paris, L'Harmattan, 1996, S. 82.
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Schon an der erwähnten Erzählung Lafille auxyeux d'or lässt sich freilich deutlich machen, dass die Rolle des Orients im Werk Balzacs komplexer sein muss. In der Erzählung kommen zwar jene Klischees von orientalischem Despotismus, Leidenschaft und Grausamkeit vor, aber sie stehen bezeichnenderweise erstens in einem Zusammenhang zu der berühmten Schilderung der Höllenkreise von Paris. Balzac begab sich daran, mitten in Paris - und zwar als Beispiel für die nach Gold und Lüsten gierenden Metropolenbewohner - eine orientalisch geprägte Welt aufzubauen. Zweitens schreibt er interessanterweise westlichen Figuren >orientalische< Verhaltensweisen zu. Despotisch wollen die unehelichen Kinder des Lord Dudley das Mädchen Paquita in eine Art Harem sperren, verlangen von ihr jeweils eine absolute Leidenschaft, was schließlich im Mord gipfelt. Anders formuliert: Die Orientmotive werden nicht von dem halb spanischen, halb georgischen Mädchen mit den Goldaugen ins Spiel gebracht, sondern im Gegenteil ihr von den beiden distinguierten westlichen Figuren aufgebürdet. Was sich in Balzacs Erzählung La fille auxyeux d'or somit hinter den Anklängen an den >orientalistischen Diskurs< abzeichnet, ist die erste Diagnose einer Art Orientalisierung der französischen Gesellschaft oder zumindest eines Teils von ihr. Die Erzählung nimmt darin zugleich einen Aspekt der Comedie humaine vorweg. Balzac inszeniert in seiner ausgreifenden Schilderung der französischen Sitten mehrfach das Vordringen des Orients nach Paris, das er implizit als charakteristisch für die postrevolutionäre und postnapoleonische Gesellschaft hinstellt. Der selbsternannte Sekretär der französischen Gesellschaft zeichnet einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen Orient und Okzident nach, der sich offenbar Anfang des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. Er beobachtet, wie sich die einander fremden Welten miteinander zu verflechten begannen, wie sie in ein dynamisches Wechselverhältnis gerieten und welche fragwürdigen Früchte das schon 1830 trieb. Anspielungen auf den Orient und orientalische Motive ziehen sich durch das gesamte Werk Balzacs bis hin zu Splendetirs et miseres des courtisanesGleichwohl lässt sich fur die frühen Jahre - in etwa von 1829 bis 1837 - von einer Hochphase sprechen, die sich mit dem Aufkommen der Orientmode im Gefolge des griechischen Unabhängigkeitskampfes und vor allem der Versdichtungen Lord Byrons sowie Victor Hugos Gedichtsammlung Les Orientales deckt. Offenkundig nutzte der von den Einnahmen seiner Bücher lebende Balzac eine schon etablierte Mode, als er seine orientalischen Geschichten verfasste: 1830—1831 den Roman La Peau de Chagrin, wenig später La Fille aux yeux d'or und La Ducbesse de Langeais aus der Histoire des Treize, sowie 1836 die Erzählung Une Passion dans le Desert, die er 1845 übrigens in seinem Konzept zur Comedie humaine noch unter der Rubrik »Scenes de la vie militaire - Les Francis en Egypte« einordnete,
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Vgl. dazu die umfangreichen Belege in Citrons zitiertem Aufsatz.
Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830
obwohl sie in Inhalt und Stil so eindeutig von den anderen Romanen abweicht. 6 Bis zum Schluss war Balzac darauf bedacht, den Orient in dem Romanzyklus als Thema zu konstituieren. Hier soll es jedoch nur um den Roman La Peau de chagrin gehen, der auf den ersten Blick in der Tat geradezu un-orientalisch wirkt. Er spielt in Paris, in einer genuin französischen Gesellschaft, die mit ihrer hohlen, menschenverachtenden Arroganz unbeschadet die Julirevolution 1830 überstanden und die junge Generation damit zur Verzweiflung gebracht hatte. Die Anspielungen auf den Orient sind auf den ersten Blick geringfügig. Die kühle Foedora, Allegorie der oberflächlichen Gesellschaft, etwa besitzt ägyptisch ornamentierte Möbel und in ihrem »boudoir gothique« 7 steht ein Divan, wie es dem eklektizistischen Geschmack des Empire entsprach. Genuin orientalisch ist eigentlich nur die >peau de chagrins die Eselshaut oder das Chagrinleder, wie sie ins Deutsche übersetzt wird. Aber mit ihr ist man eben auch im Herzen des Romans und damit im Herzen dieser ersten Gesellschaftsdarstellung von Balzac angelangt. 8 In der ersten Notiz, die sich Balzac machte, heißt es: »L'invention d'une peau qui represente la vie. Conte oriental.« (S. 8) Offensichtlich wollte er an die Tradition des »conte oriental« aus dem 18. Jahrhundert anknüpfen. Sei es, dass er wie Voltaire im orientalischen Gewand eine philosophische Einsicht vermitteln wollte, wobei sich bei ihm allerdings das orientalische Gewand auf eine Eselshaut zusammenzog. Sei es, dass er sich an William Beckford orientierte, dessen moralisch-phantastische Geschichte vom Kalifen Vathek seit Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und England Furore machte und mit der sich die Mischung von Orient und Phantastik in Balzacs Roman erklären ließe. Gegenüber Voltaire und Beckford nahm Balzac indes eine wesentliche und, wie ich meine, für das 19. Jahrhundert charakteristische Änderung vor. Mit ihr hängt auch zusammen, dass Balzac den Roman später zwischen die »etudes des moeurs« und die »etudes philosophiques« einordnete. 9 Denn philosophische Einsicht und Realismus gehen hier — anders als bei Voltaire und Beckford — mitein-
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Vgl. dazu den »Catalogue de 1845«, in: Honore de Balzac, La Comedie humaine, 12 Bde., hrsg. von Pierre-Georges Castex, (Bibliotheque de la Pleiade. 26. 27. 30. 31. 32. 35. 38. 39. 41. 42. 141. 292), Paris, Gallimard, 1976-1981, Bd. 1: Etudes de Mceurs. Scenes de la vie privee, S. 125. Zitierte Ausgabe: Balzac, La Peau de Chagrin, hrsg. von Sylvestre de Sacy, (Collection Folio), Paris, Garnier, 1975, S. 213. Die Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Wie die beiden Kapitel zum Chagrinleder den Rückblick auf Foedora, die Allegorie der französischen Gesellschaft, umfassen, so erschließt sich von dem Chagrinleder aus ein neuer Blick auf Frankreich. Vgl. dazu Balzac, »Avant-propos«, in: H. d. B., La Comedie humaine, Bd. 1, S. 7 - 2 0 , bes. S. 19: »[...] le premier ouvrage, La Peau de chagrin, relie en quelque sorte les Etudes de moeurs aux Etudes philosophiques par l'anneau d'une fantaisie presque Orientale oü la Vie elle-meme est peinte aux prises avec le Desir, principe de toute Passion [...]«.
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ander einher. Der Orient ist bei Balzac nicht mehr lustbesetzter und dem Autor Freiheit gewährender Dekor, sondern ein Gegenstand in französischen Händen und in einem französischen Umfeld. Der Orient liegt nicht mehr in der Ferne, sondern er befindet sich mitten in Paris und entfaltet seine Wirkung in westlichen Händen, noch dazu zu deren Lasten. Das heißt, der Orient schafft gerade nicht mehr die nötige Distanz, um über Frankreich zu sprechen, sondern er nistet sich im Westen ein und gewährt Einblick in einen verwandelten Okzident. Dieser veränderte Ort des Orients gegenüber dem Okzident lässt sich unter anderem an der Einführung des Talismans anschaulich machen und in seinen Implikationen präzisieren. Der Roman La Peau de Chagrin beginnt in einer Spielhölle, in der Raphael am frühen Morgen sein letztes Geld verspielt. Er beschließt daraufhin, sich am Abend in die Seine zu werfen. Bei seinen Irrungen durch Paris geht er, um die Zeit besser totzuschlagen, in ein riesiges Antiquitätengeschäft am Quai Voltaire, das der Erzähler detailliert beschreibt und mit einer vielzitierten Hommage an Cuvier, dem Rekonstrukteur vergangener Welten, versieht (S. 47f.). Für die Frage nach dem Orient ist daran aufschlussreich, dass Balzac in diesem Fundus der Menschheitsgeschichte den orientalischen Talisman piaziert. Das Chagrinleder ist der geheimnisvolle Höhepunkt auf Raphaels langem Weg durch die kostbaren Trümmer aus zwanzig Kulturen oder auch durch den »bazar des folies humaines«, als den Balzac die Weltgeschichte auffasst. Der Alte Orient stellt darin einen beträchtlichen Anteil. Wenn man den Talisman erst einmal beiseite lässt, dann beschreibt Balzac den Orient zunächst allgemein als großartige Kultur und als Teil einer gigantischen Menschheitsgeschichte, deren Ruinen soweit möglich in Frankreich zusammengetragen sind - hier übrigens nicht zu musealen Zwecken, wie das Vivant Denon unter Napoleon vorschwebte, 10 sondern zum Verkauf, damit die eklektizistischen Interieurs der französischen Gesellschaft ausgeschmückt werden. Der Orient ist bloßer Herkunftsort kostbarer Kuriositäten, unter denen Frankreich nach Belieben auswählen kann. Insofern ist der Antiquitätenladen auch ein Bild für Frankreichs Inbesitznahme, Unterwerfung, ja Verscherbelung des Orients, wie sie Edward Said als charakteristisch für den westlichen OrientDiskurs herausgearbeitet hat. Balzacs Deskription ist indes vielschichtiger. Über das Erleben seines Helden Raphael flößt er den Antiquitäten ein bizarr-phantastisches Leben ein, aufgrund dessen das Vergangene merkwürdig gegenwärtig, halblebendig erscheint. Voraussetzung dafür war, dass Raphaels Zustand als Selbstmordkandidat einer langgezogenen Agonie gleichkommt, in der die individualisierenden Grenzen und das Nervensystem für die »fluidite« eines alles hervorbringenden und wieder zerstörenden
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Vgl. dazu Norbert Miller, »Vivant Denons Reise ins Unheimliche oder die Entdeckung des Fremden im Eigenen«, in Ν. M., Von Nachtstücken und anderen erzählten Bildern, München, Hanser, 2002, S. 11-23.
Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830
»courant de vie« (S. 36) durchlässig werden. 11 Dieser Zwischenzustand erschließt dem Helden und dadurch wiederum dem Leser das phantastische >Leben< der in dem Laden versammelten Trümmer untergegangener Welten: Poursuivi par les formes les plus etranges, par des creations merveilleuses assises sur les confins de la mort et de la vie, il marchait dans les enchantements d'un songe. Enfin, doutant de son existence, il etait comme ces objets curieux, ni tout ä fait mort, ni tout ä fait vivant. (S. 44)
Mit Hilfe der Phantastik vergegenwärtigt Balzac hier erstmals sein Konzept eines Lebensstroms, der sämtliche Erscheinungen der Welt aus sich heraus entlässt und wieder absterben lässt, eines »courant de vie«, der offenbar die gesamte Geschichte der Menschheit durchzieht - wobei an dieser Stelle nicht klar wird, wie sich diese Konstante des Lebensstroms zu großen Umbrüchen wie der Revolution verhält. Dem Leser eröffnet sich jedenfalls über den Blick des sterbenden Raphael, wie die historischen Überreste vor sich hinvegetieren, in phantastischer Weise immer noch aktiv sind und den angeschlagenen Zeitgenossen Raphael so ausfüllen, ja bedrängen können, dass er schließlich unter ihrem Druck zu ersticken, sich in seiner Individualität aufzulösen meint. Damit aber kommt in der Deskription nicht nur Balzacs Vorstellung eines Lebensstroms zum Ausdruck, wie sie für den Avant-Propos bezeichnend sein wird, sondern es klingt obendrein ein neues Geschichtsbewusstsein an. Ein Geschichtsbewusstsein, in dem die Menschheitsgeschichte nicht mehr als Sammlung von Exempla und Gegenständen, von >Geschichten< betrachtet und auf einem Tableau wie im 18. Jahrhundert ausgebreitet wird, sondern in dem ihr eine Art Tiefendimension zukommt, in der die Gegenwart fest verankert ist. 12 Die Vergangenheit wird damit als Wurzel, ja als ein unheimlich lebendiger Teil der Gegenwart etabliert. Und das wirkt sich natürlich auch auf den Alten Orient, genauer auf seine Stellung zum modernen Okzident aus. Dieser Wandel in der Geschichts- und indirekt in der Orientauffassung lässt sich an einem Vergleich mit Volney vielleicht klarer machen. Die Trümmer von Palmyra hatten seinerzeit Volney zu einer Meditation über die Gründe für den Verfall blühender Zivilisationen angeregt. Entsprechend diente im 18. Jahrhundert der Alte Orient als ein Exemplum unter anderen, an dem sich die Ursachen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen studieren und für die Zukunft vermeiden ließen. Auch wenn viel vom Orient als Wiege der Zivilisation die Rede war,
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Vgl. zu Bedeutung und epistemologischem Ort des Lebensstroms die Ausführungen von Rainer Warning, »Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comedie bumaine«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.), Honore de Balzac, (UTB. 977), München, Fink, 1980, S. 9-55, bes. S. 44-52. Vgl. dazu auch die begriffsgeschichtlichen Forschungen zum Aufkommen des Kollektivsingulars >Geschichte< Ende des 18. Jahrhunderts, Reinhart Koselleck, Geschichte. Ereignis und Erzählung, München, Fink, 1973.
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bestand im 18. Jahrhundert doch keine lineare Beziehung zwischen Orient und Okzident. Die Geschichte war die große Lehrmeisterin des Lebens und in dieser Geschichte war der Orient eine in sich geschlossene Facette. Wenn Balzac die Ruinen vergangener Kulturen schildert, wendet er sich ihnen nicht mehr als einer lehrreichen Beispielsammlung zu. Vielmehr greift er sie als Gegenstände jenes Lebensstroms auf und beschwört die ihnen durch diesen Lebensstrom zukommende grundlegende Einheit. Hinter den so unterschiedlichen Kulturen stehen für Balzac offenbar dieselben Triebkräfte, die auch Gegenwart und Zukunft bestimmen, aber die sich nun - anders als im 18. Jahrhundert - zu einer großen dynamischen Bewegung verknüpfen. In La Peau de Chagrin deutet sich somit eine Geschichtsauffassung an, in der die Gegenwart mit der Vergangenheit eng verflochten ist, gewissermaßen intrinsisch aus ihr hervorgeht. Und für die Stellung des Orients bedeutet das: Nachdem der Orient im 18. Jahrhundert unter den vielfältigen Geschichten und Kulturen seinen Ort fand, kommt ihm im 19. Jahrhundert auf einmal die Rolle des Ursprungs, oder zumindest einer Vorstufe zur französischen Zivilisation zu. Orient und Okzident reiben sich folglich nicht mehr wie in Montesquieus Les Lettres persanes aneinander, sondern sie sind in einen Bedingungszusammenhang geraten. Auf die Horizontale des Tableaus folgt die Vertikale der historischen Entwicklung. Als fortgeschrittenste Zivilisation stellt sich der Okzident dabei über den zurückgebliebenen Orient, aber er begreift ihn eben zugleich als ewig lebendige Grundlage der eigenen Existenz, des eigenen Selbstverständnisses.Die Überbietung und gewaltsame Unterwerfung des Orients geht mit der Vorstellung seines - phantastisch dargestellten — Fortwirkens in der Tiefe einher. Die Unterwerfung des Orients wird damit als zweischneidig erfahren. Nun zum Talisman selbst. In das Chagrinleder ist eine Zauberformel eingeprägt, die Balzac interessanterweise erst arabisch druckt und danach in der französischen Fassung dem Original anfügt. Soweit ich sehe, ist das das erste Mal, dass arabische Schrift in einen französischen Roman aufgenommen wird.
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Die Besonderheit von Balzacs Geschichtsbewusstsein lässt sich in einem Vergleich zu Chateaubriand genauer bestimmen. Auch Chateaubriand ist von der Suche nach den Ursprüngen, von einer vertikalen Geschichtsauffassung geprägt. Aber er leitet daraus vor allem die Mission Frankreichs ab. Auf seiner Orientreise beruft er sich erst auf das antike Griechenland, dann auf das christliche Jerusalem als Ursprung westlicher Zivilisation, die unter der Tyrannei der Osmanen litten und verfielen. Er selbst lässt sich zum Ritter vom heiligen Grab schlagen und will damit der französischen Verpflichtung gerecht werden. Aber das geht bei Chateaubriand mit einem Lob der französischen Zivilisation und mit einer Aufforderung einher, an dem Ursprung der eigenen Kultur für Ordnung zu sorgen. Bei Balzac hingegen findet die Geschichte insgesamt Eingang in den Fundus. Er leitet daraus keinen Führungsanspruch ab. Bei Balzac erscheint die Geschichte nicht mehr wie bei Chateaubriand als beherrsch- und konstruierbar, sondern sie verbindet sich eher mit der Vorstellung einer unauslotbaren Tiefe oder eines >infinieffet du reel·, der kurz darauf allerdings durch die fälschliche Bezeichnung als Sanskrit (S. 61) - der Ursprache, für die sich die Romantiker begeisterten - zumindest für heutige Leser wieder aufgehoben wird. Damals freilich war eine solche Vermischung von arabischem Orient und Indien gang und gäbe. Rein graphisch ist also bemerkenswert, dass Balzacs Anspruch, realistisch die französische Gesellschaft zu schildern, sich 1830 mit der Aufnahme der arabischen Schrift verbindet. Ein weiteres kleines Indiz für die verstärkte Präsenz des Orients im Frankreich des 19. Jahrhunderts. 14 Worin aber besteht nun die Zauberkraft des Chagrinleders genau? Si tu me possedes, tu possederas tout. Mais ta vie m'appartiendra. Dieu l'a Voulu ainsi. Desire, et tes desirs Seront accomplis. Mais regle Tes souhaits sur ta vie. Elle est lä. A chaque Vouloir je decroitrai Comme tes jours. Me veux-tu ? (S. 60)
Die Formel unterscheidet sich klar von denen der vielen Talismane aus Tausend und einer Nacht. Sie verspricht zwar auch die Erfüllung aller Wünsche, aber sie knüpft daran nicht nur eine Bedingung, sondern verlangt obendrein einen hohen Preis dafür: Die Erfüllung der Wünsche verhält sich indirekt proportional zur Lebenskraft des Besitzers. Da der Talisman in der Fiktion des Romans im
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Darüber hinaus ließe sich die arabische Schrift — freilich nur für den des Arabischen unkundigen Leser, mit dem Balzac jedoch rechnete — graphisch mit dem Motto des Romans verbinden, jener geschwungenen Linie aus Laurence Sternes Tristram Shandy, die ursprünglich als Kommentar zur Ehe gedacht war. Nach einer Äußerung Balzacs zu urteilen, sollte ihre serpentinenhafte Bewegung ein Bild des Lebens zeichnen. Da die arabische Zauberformel Balzacs Lebenskonzept wiedergibt, dürfte die graphische Verwandtschaft nicht zufällig sein. Ins Auge sticht zudem, dass das Motto horizontal geformt und nach den Seiten hin offen ist, während die Zauberformel vertikal aufgebaut ist und sich trichterförmig nach unten verjüngt (graphisch wird das in der französischen Ubersetzung noch deutlicher) — ein eindrückliches Bild für die versiegende Lebenskraft. Es fragt sich also, ob man darin nicht einen Hinweis auf den Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert erkennen kann, von einem ausgeglichenen Leben zu einem Leben im Zeichen des Verschleißes und damit noch ein weiteres Indiz dafür, dass der Orient mit diesem Eindruck des Verschleißes von Lebenskraft für Balzac und Frankreich verknüpft ist.
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Franziska Meier Orient hergestellt wurde, war er natürlich von A n f a n g an so konzipiert. N u r fragt m a n sich, w a r u m Balzac ausgerechnet einen solchen Talisman aus d e m Orient nach Frankreich gelangen ließ. Soll m a n das so verstehen, dass der Orient für Balzac lediglich ein Instrument ist, u m das Lebenshygiene-Prinzip zu vermitteln? Oder aber könnte m a n in der W a h l des Talismans doch mehr sehen, etwa einen Hinweis darauf, wie das Unendliche des Orients in westlichen H ä n d e n zwangsläufig endlich wird, wie sich das Prinzip der Zerstörung in jede westliche A n e i g n u n g des Fremden einschleicht? Inwieweit diese Zerstörung von Balzac als ein Universalprinzip oder eher als M e r k m a l des 19. Jahrhunderts i m Okzident angesehen wurde, ergibt sich aus der Lektüre des Romans nicht. Sowohl der junge Raphael, der Gescheiterte von 1830, als auch der hundertjährige Antiquitätenhändler, eine Figur des 18. Jahrhunderts, kommentieren den Talisman. Für den Antiquitätenhändler handelt es sich u m eine kostbare Rarität, die er aus der Distanz bewundert. Er erläutert daran Raphael - im Einverständnis mit dem Erzähler - einerseits die Gefahren eines Lebens im Zeichen von »Vouloir« u n d »Pouvoir«, das heißt einer gewaltsamen W e l t a n e i g n u n g , die einen raschen Verschleiß der Lebenskraft bedeutete, andererseits die Vorzüge eines Lebens i m Zeichen des »Savoir«, in d e m sich die W e l t a n e i g n u n g auf das Wissen, auf die Imagination beschränkt u n d in der das Unheimliche des Talismans gebannt ist. Diesen letzten aufopferungsvollen W e g der Arbeit hatte Raphael jedoch schon verlassen. Für den Helden wiederum ist der Talisman zunächst nur eine Kuriosität, deren orientalische Kunstfertigkeit er bewundert, an deren magischen Zauber er aber, als Vertreter europäischer Ratio, nicht glauben kann. Trotz der W a r n u n g e n des Antiquitätenhändlers meint er schließlich, sich auf den H a n d e l mit d e m Talism a n einlassen zu können, ohne die angekündigten >Kollateralschäden< fürchten zu müssen. Er entscheidet sich also gegen die Lebenshygiene des »Savoir« u n d für ein intensives Leben i m Zeichen von »Vouloir« u n d »Pouvoir«. 1 5 Aufschlussreich ist nun, dass und wie Balzac in die Lebensvorstellungen beider Figuren den Orient einbringt. Der Antiquitätenhändler hat den Orient wie auch andere Länder bereist, er kennt die ganze Welt. W i e im 18. Jahrhundert ist der Orient für ihn Teil eines großen u n d vielfältigen Zusammenhangs, der erkundet wird. Vielleicht nur, u m Raphael seine distanzierte Lebensform schmackhafter zu machen, aber i m m e r h i n , der alte M a n n setzt jedenfalls hinzu, dass er in seinem Kopf despotisch über die Welt, ja über H a r e m s d a m e n , über einen Serail verfüge. Das heißt, der Alte greift ebenfalls Orientmotive auf, bedient sich ihrer aber n u r als Metaphern für die ersehnte Lebensfülle, die sich i h m i m Kopf bietet.
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Es wäre noch zu verfolgen, wie sich der bei Balzac mehrmals vorkommende Traite de ία Volonte zum Mesmerismus verhält und inwieweit in der Romanhandlung die Thesen des Traktats umgesetzt werden.
Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Peau de Chagrin von 1830
Raphaels Wünsche werden von Balzac dagegen noch stärker mit dem Orient in Zusammenhang gebracht. Nachdem der Held das Chagrinleder an sich genommen hat, erfährt er zum Beispiel, dass zu seinem Namen der Zusatz »de Valentin« gehört (S. 82). Raphael steht, wie es heißt, in der Nachfolge des Kaisers Valentin, er ist der »heritier legitime de l'empire d'Orient«, ähnlich beschwor Chateaubriand übrigens 1811 im Itineraire de Paris ä Jerusalem die früheren französischen Feudalsitze im Orient als politische Verpflichtung Frankreichs. Die Gegenwart öffnet sich auf die Tiefe der Vergangenheit und bezieht daraus ihre politischen Ansprüche. Allein weder Raphael noch sein zynischer Freund Emile haben mehr als Hohn dafür übrig. Was das Chagrinleder sozusagen von sich aus seinem Besitzer zuspielt, wird von ihm gar nicht beachtet. Womöglich hängt das damit zusammen, dass Balzac implizit auf das politische Unvermögen Frankreichs anspielen, vielleicht sogar auf die verpasste Chance, im Orient politisch aktiv zu werden, auf die französische Ignoranz, was es mit Algier anfangen soll. 16 Raphaels »Vouloir« ist - darin typisch für seine Generation - einzig auf die Befriedigung seiner eigenen Lüste aus, und die sind vorwiegend orientalisch konnotiert, als wäre ein lustvoll ausschweifendes Leben in genuin französischen Kontexten nicht denkbar. Raphael vergeudet, wie es heißt, die Zauberkraft des Talismans für ein Leben in Saus und Braus, in Reichtum und Luxus, für eine perennierende Debauche. Und die erste Debauche, die er sich wünscht, zaubert sogleich orientalische Exzesse nach Paris. Sowohl die französischen Kurtisanen als auch das Gelage werden als orientalisch beschrieben, bezahlt werden sie übrigens von einem Pariser Großmogul, dem Mörder Taillefer. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der Orient sowohl als Instrument oder Metapher, um französische Sehnsüchte auszudrücken, als auch als neu adaptiertes Moment in Frankreichs Gesellschaft, als neues Element der westlichen Realität. Merkwürdigerweise sagt die Zauberformel des Talismans freilich nichts anderes aus, als was in dem Roman auch Figuren wie Rastignac, Emile oder der Antiquitätenhändler mit unterschiedlicher Wertung äußern. 17 Der orientalische Talisman bringt somit nichts anderes zum Vorschein, als was Frankreich längst weiß. Ein wichtiger Unterschied besteht freilich darin, dass der Orient das, was bei den Franzosen leeres Gerede bleibt, erbarmungslos realisiert. Denn lange vor
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Als Journalist hat sich Balzac zu der »expedition d'Alger« schon 1830 kritisch geäußert. Innerhalb der Comedie bumaine geht er vor allem in der Cousine Bette von 1847—1848 auf die Missstände der französischen Militärverwaltung in Algerien ein, die sich gegen die Gesetze der Zivilverwaltung mit Spekulationen zu bereichern versucht. Vgl. etwa das bon mot von Raphaels Freund Emile S. 62f.: »En un mot, tuer les sentiments pour vivre vieux, ou mourir jeune en acceptant le martyre des passions, voilä notre arret.« Oder auch Rastignacs Apercu, S. 221: »Qui de nous, ä trente ans, ne s'est pas tue deux ou trois fois? Je n'ai rien trouve de mieux que d'user l'existence par le plaisir. Plonge-toi dans une dissolution profonde, ta passion ou toi, vous y perirez. L'intemperance, mon eher, est la reine de toutes les morts.«
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dem Besuch des Antiquitätenladens hatten Raphael und Rastignac versucht, sich in wilden Ausschweifungen langsam umzubringen, nur dass am Ende ihr Geld zwar ausgegeben, aber ihr Leben nicht zu Ende war.18 Diesen Vorsatz umzusetzen gelingt Raphael erst mit Hilfe des Chagrinleders und dann wider seinen Willen. Insofern steuert der Orient nicht nur die Metaphern, den Maßstab für jenes im 19. Jahrhundert erstrebenswerte »vivre avec exces« bei, sondern in Gestalt des Talismans leistet er dem der Debauche verfallenen Frankreich Sterbehilfe. Er trägt sein Scherflein zum französischen Prozess der Selbstzerstörung bei - dem großen Thema Balzacs. Aus dem Gegensatz zwischen dem hundertjährigen Antiquitätenhändler und dem früh gealterten Raphael geht außerdem hervor, dass dieser tiefsitzenden Orientalisierung, dieser frenetischen Preisgabe Frankreichs an Leidenschaften und Zerstörung, offenbar ein historischer Umbruch vorausgegangen ist. Die Koordinaten, in denen sich die Orientmotive, das Orientalische im 19. Jahrhundert bewegen, haben sich dabei geändert. Die Agonie Raphaels ist für die Frage nach dem Orient insofern relevant, als die Symptome von Raphaels »Vitalite attaquee« in einer seltsamen Beziehung zu der Lungenkrankheit des Vaters von Raphaels Geliebten Pauline stehen: Beide leiden an einem tödlichen, kurzen trockenen Husten (S. 316). Während sich Raphaels Krankheit nicht recht erklären lässt, wird die des Vaters ausdrücklich auf dessen Indienaufenthalt zurückgeführt. Der Vater, der sonst keine Rolle spielt, war als napoleonischer Soldat in russische Gefangenschaft geraten, hatte von dort nach Indien fliehen können und war im Orient zu märchenhaftem Reichtum gelangt (S. 282). Dabei hatte er sich jedoch eine tödliche Lungenkrankheit eingehandelt. Auch Paulines als napoleonischer Soldat schon leidgeprüfter Vater zahlt also für die verschwenderischen Gaben des Orients einen hohen Preis: sein Leben. Dieses kleine Detail lässt sich sicherlich mit Edward Said als Dämonisierung des Orients auslegen, ähnlich jenem »Fluch der Pharaonen«, der manchen Ägypten-Reisenden noch heute überfällt. Doch betont Balzac dafür zu sehr die Schuld Raphaels. Interessanter - wenn auch spekulativer - wäre es, wenn man in dem Detail einen versteckten Hinweis auf Napoleons Ägyptische Expedition und dessen legendären Plan sehen würde, gleich Alexander dem Großen bis nach Indien zu ziehen. Daraus ergäbe sich dann, dass Balzac in der Ägyptischen Expedition den Auslöser für die äußerliche und innerliche Orientalisierung der französischen Gesellschaft ausmachte. Bestätigt würde diese Deutung weniger durch La Peau de Chagrin als durch das Gesamtkonzept der Comedie hmnaine von 1845, in dem — wie schon erwähnt — eine Reihe von Erzählungen zum Thema »Les Fra^ais en Egypte« vorgesehen war, die Balzac offenbar für die Schilderung des Mili-
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Vgl. S. 2 3 7 : »Galerien du plaisir, je devais accomplir ma destinee de suicide. Pendant les derniers jours de ma fortune, je fis chaque jour des exces incroyables; mais, chaque matin, la mort me rejetait dans la vie.«
Orient in Paris — Zu Balzacs Roman La Peau de C h a g r i n von
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tärlebens und damit für das Sittengemälde Frankreichs wichtig fand. Realisiert hat er davon einzig: Une Passion dans le desert. Wie schon bei der französischen Revolution hat sich Balzac indes über die historischen Ursachen und Umbrüche immer nur sehr vage geäußert. Um die Ergebnisse nochmals kurz zusammenzufassen: Balzacs Orient-Reminiszenzen sind nicht nur ein »bric-a-brac oriental«, und auch nicht nur Element in seinem »imaginaire«. Sie sind vielmehr eine charakteristische Facette in seinem französischen Sittengemälde. Balzac nimmt zentrale Aspekte des >orientalistischen Diskurses< auf, um den eingetretenen Prozess einer Orientalisierung Frankreichs zu beschreiben. Implizit stellt sich der beobachtete Wandel als eine unbeabsichtigte Rückwirkung des neuen französischen Gebarens im Orient heraus. Wenn man schließlich den Antiquitätenladen selbst als Ausdruck der westlichen Beherrschung des Orients liest, die sich durch die ägyptische Expedition noch verschärfte, so lässt sich die merkwürdige Pervertierung des Talismans vom Glücksbringer zum Fluch wohl auch als Metapher für die Folgen der gewaltsamen Aneignung des Orients durch den Okzident lesen. Wie das Geschichtsbewusstsein vertikale Beziehungen schuf und den Orient in einer weiterwirkenden Tiefe ansiedelte, so haftet den geraubten Trümmern eine unheilvolle Wirkung an, durch die sich im nationalen Paris< immer tiefere Abgründe auftun. An dem Talisman wird die Orientalisierung Frankreichs von Balzac in einem tieferen Sinne illustriert. Der Lebensnerv selbst ist getroffen und weiht Frankreich dem Untergang, der Selbstzerstörung. Mit dem Aufgreifen des >orientalistischen Diskurses< redet Balzac somit nicht dem beginnenden Imperialismus in Frankreich das Wort, sondern er spürt dessen problematischen Auswirkungen auf Frankreich nach. In solcher Feinfühligkeit war Honore de Balzac seiner Zeit sicherlich voraus. Kurz: Hinter den Orient-Motiven zeichnet sich also eine geistig vielleicht diffuse, aber bildlich spannende und weitreichende Reflexion über das gewandelte Verhältnis zwischen Orient und Okzident im 19. Jahrhundert ab, die das gesamte Werk durchzieht.
Bibliographie Balzac, H o n o r e de, La C o m e d i e h u m a i n e , 12 Bde., hrsg. von Pierre-Georges Castex, (Bibliot h e q u e de la Pleiade. 26. 27. 30. 31. 32. 35. 38. 39. 41. 4 2 . 141. 292), Paris, Gallimard, 1976-1981. — La Peau de C h a g r i n , hrsg. v o n Sylvestre de Sacy, (Collection Folio), Paris, Garnier, 1975. Baldensperger, Fernand, L'appel de la fiction Orientale chez Balzac, O x f o r d , C l a r e n d o n Press, 1927. — O r i e n t a t i o n s etrangeres chez Balzac, Paris, C h a m p i o n , 1927. C i t r o n , Pierre, »Le Reve asiatique«, A n n e e balzacienne 1968, S. 3 0 3 - 3 3 6 . Juilliard, Colette, Imaginaire et O r i e n t . L'ecriture d u desir, Paris, L ' H a r m a t t a n , 1996. Koselleck, Reinhart, Geschichte. Ereignis u n d Erzählung, M ü n c h e n , Fink, 1973.
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Franziska Meier Miller, Norbert, »Vivant Denons Reise ins Unheimliche oder die Entdeckung des Fremden im Eigenen«, in: Ν. M., Von Nachtstücken und anderen erzählten Bildern, München, Hanser, 2002. Saint-Amand, Pierre, »Balzac oriental: La fille aux yeux d'or«, Romanic Review März Bd. 53/1988, S. 328-340. Warning, Rainer, »Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comedie humaine«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hrsg.), Honore de Balzac, (UTB. 977), München, Fink, 1980, S. 9 - 5 5 .
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>Le vrai est ce qu'il peutOrient< und >Okzident< in der Lage ist, gerade das von Siegfried Schmidt als »Differenzmanagement«8 Bezeichnete offen zu legen. Maßgeblich betrieben wurde gerade dieser konstruktivistische Ansatz in Bezug auf Morgen- und Abendlanddarstellungen durch die frühe diskursarchäologische Publikation Edward W. Saids Orientalism von 1978. Die 1980 erschienene französische Ubersetzung hat sich dem französischen Lesepublikum angepasst, indem sie amerikanische Spezifika durch französische literarhistorische Details ersetzt oder ergänzt hat, deshalb habe ich meiner Analyse diese Ausgabe zugrunde gelegt. Saids bekannte zentrale These, die er umfassend belegt und deren Radikalität er zuweilen zu differenzieren oder auch stellenweise etwas zurückzunehmen versteht,9 formuliert er wie folgt: L'Orient a presque ete une invention de l'Europe, depuis l'Antiquite lieu de fantaisie, plein d'etres exotiques, de souvenirs et de paysages obsedants, d'experiences extraordinaires. [...] L'essentiel, pour le visiteur europeen, c'est la representation que l'Europe se fait de l'Orient et de son destin present, qui ont Tun et l'autre une signification toute particuliere. 10
Die Repräsentation des Orients zu betrachten heißt bei Said also, eine oder mehrere Wirklichkeitskonstruktionen des Morgenlandes zu beschreiben, die deshalb wichtig sind, weil erst der Okzident den Orient zu dem gemacht hat, was er sein soll. D.h. also theoretisch, dass die Beobachterposition dazu führt, einen Kulturkreis als anders zu setzen und zu emblematisieren. Die entdeckten Gemeinsamkeiten in den >westlichen< Repräsentationen des Orients hat Said systematisch zusammengestellt. Sein Fokus liegt dabei deutlich auf dem 19. und 20. Jahrhundert. Ausgehend von Said möchte ich einige Konstruktionsverfahren zur Setzung des Anderen im Voyage en Orient betrachten und anschließend die in Saids L'Orient cree par l'occident wesentlich weniger deutlichen Strategien der Dekonstruktion ebenfalls am Text Nervals nachvollziehen. D.h. mein Fokus zielt darauf darzustellen, inwieweit der Voyage en Orient sowohl ein Text ist, der das Andere des Orients durch die Differentsetzung im Sinn Saids betont und etabliert, und zugleich auch eine persönliche Assimilation an den Gegenstand gestaltet, mit der in diesem Sinn eine Dekonstruktion des Orients notwendig einhergeht. Daran anschließend möchte ich erläutern, inwiefern diese Fiktion zeigt, dass es möglich
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Schmidt, Kalte Faszination, S. 45—47. Schmidt, Kalte Faszination, S. 21. »Cela dit, il parait raisonnable de faire quelques reserves. En premier lieu, on aurait tort de conclure que l'Orient etait essentiellement une idee, ou une construction de l'esprit ne correspondant ä aucune realite.« (Said, L'Orientalisme, S. 17). Said, L'Orientalisme, S. 13.
•Le vrai est ce qn'ilpeut< — Zur (De-)Konstruktion
des Orients in Gerard de Nervals Werk
ist, die Bewegung von Konstruktion und Dekonstruktion in eins zu denken, möglich ist, wenn diese beiden Strategien im Zeichenbegriff miteinander verschränkt werden. Dazu bedarf es dann eines kurzen Exkurses zur intermedialen Rezeption des Orients. 1. Viele Autoren des beginnenden 19. Jahrhunderts, Dichter und Historiographien gleichermaßen, haben den seit der Antike existierenden Orient-Diskurs reaktualisiert.11 Wichtige Prätexte des Voyage en Orient Gerard de Nervals, mit dessen Werk ich mich im Folgenden beschäftigen möchte, wurden von Fra^ois Rene de Chateaubriand, Victor Hugo und Alphonse de Lamartine, aber auch von Jean-Frangois de Bastide Vivant Denon und Edward William Lane verfasst,12 die in ihren Versuchen, den zeitgenössischen Orient und seine kulturelle Praxis zu beschreiben, auch durch ihre breite Rezeption insgesamt herausragen.13 Das Besondere des Voyage en Orient Nervals ist jedoch vor allem der Versuch, nicht ein bestimmtes Land zu finden, sondern »cet ideal, qui a seduit tant d'Europeens« (S. 371), das im Text auch als »l'Orient c'est le bei instant de la vie« (S. 505) bezeichnet wird und über den es heißt: »En Orient tout devient conte« (S. 525). Dessen Funktion liegt deshalb vielmehr im Bereich der eigenen Identitätssuche des Erzählers als in der Identifizierung eines spezifisch anderen Kulturkreises.14 Die Suche nach dem eigenen Ich führt Gerard jedoch immer über den oder das Andere.15
Siehe dazu die Bouquin-Ausgaben zum Voyage en Orient some zum Voyage en Grece: JeanClaude Bereitet (Hrsg.), Le Voyage en Orient. Anthologie des voyages francjais dans le levant au XIXe siecle, Paris, Robert Laffont, 1985; Herve Duchene (Hrsg.), Le Voyage en Grece. Anthologie du Moyen Age ä l'epoque contemporaine, Paris, Robert Laffont, 2003. 12 In der Nerval-Forschung sind die Differenzen zu Lamartine und Chateaubriand sowie die intertextuelle Verarbeitung besonders des Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians (1837) von Edward William Lane gerade in den letzten beiden Jahrzehnten ausführlich analysiert worden (vgl. Gerard de Nerval, Giuvres completes, Bd. 2, S. 1373). ^ In der inzwischen nahezu unübersichtlichen Nerval-Forschung gibt es immer noch einige Standardwerke, die nach wie vor die Lektüre lohnen, so etwa Ross Chambers, Gerard de Nerval et la poetique du voyage, Paris, Corti, 1969; Michel Butor, »Le voyage et l'ecriture«, Romantisme 4/1972, S. 4-19; Michel Jeanneret/Camille Aubaude, Le Voyage en Egypte de Gerard de Nerval, Paris, Kime, 1997. Vgl. auch den Sammelband von Loukia Droulia/Vasso Mentzou (Hrsg.), Vers l'Orient par la Grece. Avec Nerval et d'autres voyageurs, Saint-Julien-du-Sault, Klincksieck, 1993, sowie neuerdings Michel Brix, »Nerval et le reve egyptien«, Romantisme 120/2003, S. 37—46; vgl. auch Hisashi Mizuno, Nerval, l'ecriture du voyage. L'expression de la realite dans les premieres publications du Voyage en Orient et de Lorely. Souvenirs d'Allemagne, Paris, Champion, 2003. 14 Exemplarisch für dieses häufig in der Nerval-Forschung diskutierte Motiv sei hier Jeanneret zitiert: »Ecrire le Voyage, sera done, pour Nerval, continuer l'exploration des profondeurs inauguree par la folie et, sous pretexte d'activite litteraire, donner forme ä ce parcours ä l'interieur de soi qui, depuis 1841, commande sa vie spirituelle.« (Jeanneret/Aubaude, Le Voyage en Egypte de Gerard de Nerval, S. 38). 15 Außerdem ist in Nervals Voyage en Orient, wie auch in vielen anderen seiner Prosatexte, die Selbstreflexivität ein wichtiger Faktor, mit der — modern gesprochen — die Texte die eigene 11
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Gerard Labrunie, der schon f r ü h begann, u n t e r seinem P s e u d o n y m de Nerval zu publizieren, hat i m Kontext des O r i e n t a l i s m u s einen der zentralen Texte des 19. J a h r h u n d e r t s geschrieben. D e r Voyage en Orie?itwurde nicht als R o m a n konzipiert, sondern 1 8 5 1 als G e s a m t p u b l i k a t i o n , besonders von älteren eigenen Texten vorgelegt, die sich aus einer Reise nach W i e n von 1839—1840 u n d vor allem einer Reise nach Ä g y p t e n , 1 6 Konstantinopel u n d in den L i b a n o n von 1 8 4 3 sowie vielen imaginären, aus ( i m doppelten Sinn) Fiktionen gespeisten Elementen zusammensetzt.17 W e n n Gerard de Nerval den Begriff des Orients in seiner Reisebeschreibung in funktionalisierter oder in erläuternder W e i s e verwendet, so greift er dabei jeweils auf b e k a n n t e Stereotypen z u r ü c k : So h e i ß t das M o r g e n l a n d klischeehaft »pays d'aventure« (S. 2 5 6 ) , »L'Orient de nos reves« oder »le pays des reves et de l'illusion« (S. 2 6 2 ) . D a m i t v e r m e i d e t der Text sowohl jegliche geographische D e m a r k a t i o n als auch die V e r w e n d u n g eines historischen oder wissenschaftlichen Begriffs, j a selbst die Z u w e i s u n g eines islamisch geprägten Kulturkreises k o m m t in solchen Beschreibungen nicht vor. D e r O r i e n t ist für Nerval das L a n d der Sehnsucht, Hoffnungsträger für die Realisierung eigener Vorstellungen. L a n d u n d L e u t e n w i r d die Bürde des Ideals auferlegt, die sie nie g a n z tragen u n d erfüllen
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Konstruktion des Orients teilweise besonders beobachten. Deshalb sind metatextuelle Passagen besonders aussagekräftig für die Konturierung des Orientbildes Nervals. Für die Metatextualität ist gerade auch die Funktion von Bibliotheken besonders relevant. Vgl. dazu Dietmar Rieger, »Inventer au fond c'est se ressouvenir. Remarques sur quelques bibliotheques classiques et romantiques [...]«, Lendemains Bd. 23/1998, S. 40—56. Vgl. neuerdings auch Dietmar Rieger, Imaginäre Bücherwelten. Bücherwelten in der Literatur, München, Wilhelm Fink, 2002, bes. S. 287—332, sowie Kirsten Dickhaut, Verkehrte Bücherwelten. Eine Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur, München, Wilhelm Fink, 2004, S. 223-264. Siehe zu den frankophonen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts nach Ägypten den kommentierten »repertoire« von Friedrich Wolfzettel/Frank Estelmann (Hrsg.), L'Egypte »apres bien d'autres«. Repertoire des recits de voyage de langue fran£aise en Egypte. 1797—1914, Moncalieri, Cirvi, 2002. Bereits 1841 wurde der erste Teil als Les Amours de Vienne veröffentlicht, der dann zur Dokumentation des Beginns der Reise Nervals, die erst zwei Jahre später stattfand, stilisiert wurde. Ab dem 11. Februar 1841 erschienen viele Artikel in L'Artiste, die später einen weiteren wichtigen Pfeiler seines Voyage en Orient bilden sollten. Der letzte Beitrag wurde am 15. März 1846 herausgegeben, und erst später figuriert eine ergänzte und korrigierte Zusammenstellung mit den Scenes de la vie Orientale als seine einzige Orientreise. Eine erste Fassung der zusammengestellten Feuilletonartikel erscheint dann unter dem Titel Les Femmes du Caire in der Revue des Deux Mondes 1847 und ein zweiter Band als Les Femmes du Liban spätestens im Sommer 1850. Nachdem die Publikation erneut durch die politischen und ökonomischen Veränderungen in dieser postrevolutionären Phase beeinträchtigt wurde, wird der Voyage en Orient schließlich im Frühjahr 1851 bei Charpentier in voller Länge und in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht. Zu diesen Angaben vgl. Nerval, CEuvres completes, Bd. 2, S. 1369-1376.
•Le vrai est ce qn'ilpeut< — Zur (De-)Konstruktion
des Orients in Gerard de Nervals Werk
können. Deshalb ist der Voyage en Orient, wie auch Nervals andere Texte, von einem signifikanten Desillusionierungsprozess geprägt. 18 Einer expliziten Antwort auf die Frage, was orientalisch bedeutet, verweigert sich der Text, auch um dem Leser in subtil ironischer Manier zu bedeuten, dass auf diese Frage zu antworten, heißen würde, die Erkenntnissuche zu beenden. Die Offenheit aber, die der Erzähler deshalb braucht, um seine Sinnsuche weiterhin zu motivieren, wird damit auch zum bedeutsamen Merkmal des eigenen Textes. So heißt es etwa über die Reiseroute, die der Erzähler seinem Brieffreund und damit auch dem Leser beschreibt: »Oü vais-je? Oü peut-on souhaiter d'aller en hiver? Je vais au-devant du printemps, je vais au-devant du soleil [...] II flamboie a mes yeux dans les brumes colorees de l'Orient - L'idee m'en est venue en encadrant une sorte de jardin suspendu [...]« (S. 182). 19 Am Ufer des Genfer Sees, im Blick auf einen Garten, der den Erzähler an das Weltwunder der Semiramis denken lässt, wird die Entscheidung zur Orientierung seiner Reise, die längst begonnen hat, gefällt. Von Beginn an steht der Voyage en Orient im Zeichen der Ungewissheit. Der Text wird mit »J'ignore« eingeleitet und endet mit verschiedenen Appendices und Nachworten, also polyphon, und überlässt es damit dem Leser selbst, seine eigenen Orient-Vorstellungen zu suchen und sowohl Neues als auch Altbekanntes im Text zu finden. Was aber verbirgt sich hinter den Idealvorstellungen dieses Erzählers, und wie wird der Beobachtungsprozess im Orient von Gerard diegetisch organisiert? Vers l'Orient heißt symptomatisch der erste lange Abschnitt der Reise, der labyrinthisch von Paris über Genf, Konstanz und München 2 0 nach Wien führt, bis schließlich in Triest ein Schiff in Richtung Griechenland den Weg des Erzählers etwas >orientieren< wird. Diese Einleitung ist dementsprechend gekennzeichnet durch eine langsame Annäherung an den Orient, eine Textbewegung, die sich in subtiler Art des Gegenstands annimmt: Um das Ziel bereits sprachlich in erreichbare Nähe zu rücken, hebt der Erzähler auf diesem ersten Reiseabschnitt bautechnische Analogien zu Byzanz hervor. So heißt es etwa in einer den Leser einstimmenden Weise über Bourg-en-Bresse: »Bourg merite surtout d'etre remarque par son eglise, qui est de la plus charmante architecture byzantine [...]« (S. 175). In München gefällt Gerard ebenfalls gerade eine Kirche, die »[...] fort petite d'ailleurs,
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Siehe dazu Paul Benichou, L'ecole du desenchantement, Paris, Gallimard, 1992, sowie Friedrich Wolfzettel, Ce desir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert. Tübingen, Niemeyer, 1986. Vgl. dazu die Ausführungen Wolfzettels, Ce desir de vagabondage cosmopolite, S. 274-292. Siehe zu München als besondere Station dieser Reise: Francis Claudon, »Munich vue par Nerval et Judith Gautier. Qu'est-ce qu'une capitale artistique?«, in: Roger Bauer (Hrsg.), Proceedings of the Xllth Congress of the International Comparative Literature Association, 2 Bde., München, Judicium, 1990, Bd. 1, S. 167-175. Johannes von Schlebrügge, >»On est tellement grec ä Munich...< Die falsche Stadt in Gerard de Nervals Voyage en Orient«, in: Bauer (Hrsg.), Proceedings, Bd. 1, S. 161—164.
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est un veritable bijou; construite sur un modele byzantin [...]« (S. 195). 21 Da die Architektur eine der wichtigsten Künste des Orients darstellt, lenkt der Text hier die Perspektive auf die altchristliche Baukunst, die eine in Konstantinopel entwickelte und durch syrische und alexandrinische Elemente angereicherte Stilrichtung ist. Dass dann Konstanz gleich zweimal mit Konstantinopel in eins gesetzt wird (Paranomasie), 22 zeigt, wie der Leser bereits vor der Ankunft im Morgenland über die Wegstationen rhetorisch auf das Ziel eingestimmt wird und damit auch an der Konstruktion des Fremden schon im Eigenen teilhat. Deshalb kann dann auch Wien als »avant-goüt de l'Orient« (S. 201) bezeichnet werden. Es sind die Selektion der historischen Bauten und ihre allgemeine Kennzeichnung als byzantinisch oder orientalisch, die sie über sich hinausweisen und zu programmatischen Zeichen werden lassen. Während die beschriebene Annäherung insgesamt über ca. 150 Seiten erfolgt, wird der Eintritt in das Morgenland selbst aber abrupt herbeigeführt. Ein Kapitelsprung markiert den Kulturwechsel. Ganz in der von Edward Said beschriebenen Weise verstärken sich nun die Differenzen zum eigenen Herkunftsland. Sie werden verbalisiert und im Verhältnis zum eigenen Erfahrungshintergrund eingeordnet. Exemplarisch seien hier die Fremdsprachen, Griechisch, Türkisch und Arabisch, aber auch Deutsch und Italienisch, die Gerard immer wieder als Authentizitätsmarker des Fremden in den Text einfließen lässt, und nicht zuletzt die Esskultur genannt. Wenn sich ein Ägypter wundert, dass der Erzähler noch nie Zikaden gegessen hat, so wird zugleich der fremde Blick des Anderen narrativ integriert »[...] ces enormes cigales [...] - Vous n'en avez jamais mange?« (S. 302). Die vielen einzelnen Verweise, wie etwa diejenigen auf den immer blauen Himmel des Orients (S. 234), dessen verschleierte Frauen und Pfeife rauchenden Männer, die Moscheen und ihre Muezzins sowie die Ursprünglichkeit werden als Zeichen der Differenzierung eingesetzt, und das Bild des Orients wird beispielhaft kontrastiv mit folgendem Satz entworfen: »un monde qui est la parfaite antithese du nötre« (S. 301). Die Negation bzw. Abgrenzung wird ästhetisch stilisiert, indem subtil der Begriff des Gegensatzes mit dem Gedanken der Perfektion verknüpft wird - »la parfaite antithese« - , 2 3 um die andersartige Schönheit dieser exotischen Welt zu betonen. Während in der Introduction vor allem Byzanz als Begriffsspender gedient hat, um die allmähliche Hinwendung zum Anderen, die kontinuierliche Textbewegung in Richtung Orient zu stimulieren, wird im Gegensatz dazu in der Beschreibung beispielsweise Ägyptens selbst vor allem das Europäische oder
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Eine synkretistische Assimilation im Sinn der Aufhebung der Ich-Identifikation, wie sie im Buddhismus vorherrscht, wird im Text durch die tendenzielle Grenzverschiebung des eigenen Selbst gedanklich aufgenommen. »Constance est une petite Constantinople« (S. 187f.) und »comme une Stamboul d'Occident« (S. 189). Hierbei handelt es sich um eine oxymorale Darstellung.
•Le vrai est ce qn'ilpeut< — Zur (De-)Konstruktion des Orients in Gerard de Nervals Werk das Französische bemüht, u m wiederum anhand des für Nerval so typischen Vergleichs 24 die Differenz zu markieren und aufrechtzuerhalten. Zugleich legen diese Verfahren den eigenen Beobachterstandpunkt offen. Immer wieder nimmt der Erzähler Gerard das >alte Europa< in seiner Sprache und in seinen Vorstellungen mit, wenn er versucht, das so genannte Orientalische in seinen Deskriptionen zu fassen. So wird beispielsweise der dekorierte Speisesaal des Hotels in Kairo durch einen Vergleich mit den Palästen Genuas und Venedigs plastisch heraufbeschworen (S. 272). Auch die Beschreibung eines agilen Puppenspielers lädt den Beobachter in Ägypten dazu ein, die Erinnerung an die Fähigkeiten der Savoyer wachzurufen: »Un vieillard jovial fait danser avec le genou de petites figures dont le corps est traverse d'une ficelle comme Celles que montrent nos Savoyards [ . . . ] « (S. 280). Solche Sätze sind getränkt mit Gewohnheiten und vermischt mit einem Fundus an europäischen Kulturkenntnissen, die dem Leser bei der Lektüre helfen sollen, von den Analogien auf ein Ganzes zu schließen, »dessen wahre Proportionen jedoch verborgen bleiben«. 2 5 Bei diesen Einzelaspekten und Erzählerkommentaren zeigt sich gleichermaßen deutlich die Faszination durch das Fremde und die Kritik am Anderen - »comme au Moyen Age« 2 6 heißt es zuweilen symptomatisch über die orientalische Kultur (S. 262, S. 287, S. 307). Beide textstrategischen Elemente - Faszination und Kritik — heben die kulturelle Grenze hervor und markieren sie kontinuierlich. Der Ich-Erzähler Gerard verhält sich jedoch auch integrativ und benutzt seine reflektierende Beobachterposition, u m sich selbst nicht nur in Negation zum sogenannten >Orientalen< zu begreifen: »Mais j'etais encore trop fran9ais pour ne pas insister [ . . . ] « (S. 294), sondern um zugleich einen Prozess der Assimilation einzuleiten, der vielleicht seiner Sinnsuche ein glückliches Ende bereiten und die etablierten Unterschiede wieder etwas verringern könnte. So beginnt der Erzähler, die eigene europäische Identität insofern in Frage zu stellen, als er sich als Orientale verkleidet (»le deguisement«, S. 264; »Satisfait d'avoir figure comme un veritable habitant du Caire«, S. 2 6 7 ) . 2 7 Als Gerards Nachbarn es z.B. nicht zulassen wollen, dass er in Kairo als Junggeselle in einem gemieteten Haus lebt, entschließt er sich sofort, seine Lebensumstände den
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Der Vergleich ist nach Sarah Kofman für Nerval typisch, denn diese Stilfigur » [ . . . ] permet dans un mouvement de renvoi et de deport d'assimiler les lieux, les epoques, les personnes.« (Sarah Kofman, Nerval. Le charme de la repetition, Paris, L'Age d'homme, 1979, S. 67). Franz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M „ Syndikat, 1977, S. 84. Der Rekurs auf das Mittelalter ist jedoch nicht immer pejorativ. Oder Gerard entschließt sich, Arabisch zu lernen (S. 305), selbst wenn er dies nicht wirklich umsetzt, aber doch vereinzelt Worte aufgreift und auch dem Leser neben einem Glossar immer wieder besonders technische und andere spezifische Begriffe mit einem didaktischen Gestus zur Kenntnis gibt. Das Theaterhafte — typisches Element seiner Texte — wird auch hier funktional eingesetzt, u m das Spiel mit den Identitäten in einer differenzierten Vielschichtigkeit zu betonen.
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Ägyptern anzupassen: »J'epouse, je prends le turban; aussi bien il y a des choses qu'on ne peut eviter [...]« (S. 288f.). Nicht nur sein Außeres (Kleidung und ein Besuch beim Friseur) macht aus ihm immer mehr einen >Orientalenorientalische< Kunst eingesetzt. In diesen Texten wird demnach der andere Kulturkreis anhand der Malerei des Venezianers Gentile Bellini entworfen. Dieser frühe Renaissancekünstler hatte 1479 als erster Mehmet II. porträtiert. Warum aber nennt Nerval hier und an anderen Stellen ausgerechnet Bellini als Quasi-Prototyp der orientalischen Malerei? Vordergründig gilt ihm sein Gewährsmann als Beispiel, um das europäische Klischee der fehlenden Porträts von Menschen in der islamischen Welt als solches zu entlarven und um es mit einem Gegenbeispiel zu belegen. Darüber hinaus muss aber die von Nerval mehrfach herausgestellte Kunst Bellinis ihn noch aus anderen Gründen fasziniert haben. Neben der Motivik wurde Nerval vor allem von der Malweise Bellinis inspiriert, die in der Monographie Jürgen Meyer Zur Cappellens als einfühlende Darstellungsweise des venezianischen Renaissancemalers in den anderen Kulturkreis betont wird. Charakteristisch für Bellinis Arbeitsweise sei die Hervorhebung der aufwendig gestalteten Trachten und die Vernachlässigung der Gesichtszüge. 32
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Siehe neuerdings zum Blick europäischer Maler auf den >Orient< folgenden Ausstellungskatalog: Brahim Alaoui (Hrsg.), De Delacroix ä Renoir. L'Algerie des peintres; exposition presentee a l'Institut du Monde Arabe du 7 octobre 2003 au 18 janvier 2004, Villeneuvele-roi, Hazan, 2003. lürgen Meyer Zur Cappellen erkennt die Maltechnik Gentile Bellinis als eine für seine Zeit äußerst präzise und weist ihr einen hohen Grad an Wirklichkeitstreue nach: »Nur bei Gentile Bellini selbst finden sich diese genauen Kenntnisse, und nur ihn kennzeichnet das intensive Streben nach der Authentizität einer Szenerie.« Diese Präzision wird dabei vor allem anhand der dargestellten Kleidung augenfällig. Als Beispiel zieht Meyer Zur Cappellen die bekannten großformatigen Bilder, Predigt des heiligen Markus in Alexandria (hier Abb. 3, 1504-1507, Mailand, Ol auf Leinwand, 347 χ 770 cm) und Empfang einer venezianischen Gesandtschaft beim mamelukischen Sultan (die wohl beste der Kopien eines verlorenen Werks Bellinis, Paris, Louvre, Nr. 1157, 118 χ 203 cm) heran, welch letzteres im Louvre hängt und auf die auch Nerval in seinem Artikel »Peinture des turcs« anspielt (vgl. Jürgen Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, Stuttgart, Steiner, 1985, S. 96).
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In der Rezeptionsgeschichte seines CEuvres wurden deshalb viele Gemälde gar nicht als Porträts eingestuft, sondern als Kostümstudien gedeutet. Das mag daran liegen, dass der >westliche< PorträtbegrifP 3 nicht mit demjenigen des Vorderen Orients —34 in jedem Fall des ottomanischen Reichs — deckungsgleich ist: »Für den europäischen Betrachter ist ein Porträt - gleichgültig, ob es sich um ein Brustbild oder eine Ganzfigur handelt - eindeutig zu unterscheiden von einer Kostümzeichnung.« 35 Besonders in der türkischen, aber auch jeder anderen islamisch geprägten Malerei existiert diese Unterscheidung jedoch nicht. 36 Gentile Bellini hat sich als Hofmaler in Konstantinopel wohl so weit in die orientalische Gattung eingearbeitet, dass er deren ästhetische Voraussetzungen teilweise akzeptierte und schließlich Porträts und Kollektivbildnisse fertig stellte, die sowohl den kunsttheoretischen Vorstellungen des westlichem Genres entsprachen, als auch solche, die für den Sultan vielleicht Porträtcharakter haben konnten, dem Betrachter aber mehr als Kostümstudien erscheinen konnten. Dies kann man insbesondere im Blick auf das bekannte Mohametporträt Bellinis zeigen. Meyer Zur Capellen und andere Belliniforscher 37 konnten nachweisen, inwieweit sich ein islamischer Porträtkünstler und der venezianische Maler gegenseitig beeinflusst haben. Anhand des Vergleichs der beiden Porträts (vgl. dazu Abb. 1 Anonym, Bildnis eines Schreibers und Abb. 2: Gentile Bellini, Bildnis Mehmet II) lassen sich die grundsätzlich westlichem bzw. >östlichen< Merkmale aufzeigen. Die Fokussierung des Ornamentalen fällt bei beiden Porträts besonders auf. Im Vergleich der beiden Bilder bemerkt Meyer Zur Capellen über das Porträt Bellinis:
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»Der vage Gebrauch des Wortes > Porträt < für alles, was nach menschlichem Gesicht aussieht, [ist] ebenso unzureichend, wie die Annahme, Porträt sei eine, durch die Zeiten identische, historische Konstante bildkünstlerischer Arbeit.« (Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Uber den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München, Prestel, 1985, S. 19). Allerdings zeigt Boehm, bei aller historischen Differenz, dass gewisse, im Fließtext genannte Merkmale, grundsätzlich zum Porträt dazu gehören und sie auch insofern, ganz im Sinn der Arbeit Meyer Zur Capellens, zur Unterscheidung von Kostümstudien beitragen können. Siehe dazu Thomas W. Arnold. Painting in Islam. Α Study of the Place of Pictorial Art in Muslim Culture, hrsg. von B. W. Robinson, Oxford, Clarendon Press, 1928; Wiederabdruck: New York, Dover Publications, 1965. Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, S. 98. »In jedem Fall aber fehlt es der islamischen Kunst an einer Begrifflichkeit, die die Scheidung der verschiedenen Gattungen einwandfrei ermöglicht.« (Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, S. 98). Julian Raby, »A Sultan of Paradox: Mehmed the Conqueror as Patron of Arts«, Oxford Art Journal Bd. 5/1982, Η. 1, S. 3 - 8 ; Oddone Longo, »Una soasa per il conquistadore: Gentile Bellini e Maometto II«, Atti dell'Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti, Bd. 3-4/1994-1995, S. 509—530; James Byam-Shaw, »Gentile Bellini and Constantinople«, Apollo Bd. 70/1984, H. 269, S. 56-58; Ubaldo Meroni, »II vero volto di Maometto II. II ritratto antico illustrate«, Rivista di documentazione e critica Bd. 1/1983, S. 14-19.
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•Le vrai est ce qn'ilpeut< — Zur (De-)Konstruktion des Orients in Gerard de Nervals Werk Ganz offensichtlich ist es dem Künstler darum zu tun, das Verhältnis der Gliedmaßen zueinander zu klären, den Akt des Schreibens im körperlich-räumlichen Sinne anschaulich zu machen. Berücksichtigt man die äußere Form des Blattes — die kleinen Abmessungen sowie die reiche, farbige Gestaltung — so wird deutlich, daß sich Gentile Bellini mit dieser Arbeit auf das Gebiet der Miniaturmalerei begibt, das ja die eigentliche Domäne der islamischen Malerei ist. Gentile tritt damit in eine ganz direkte Auseinandersetzung mit den islamischen Künstlern, und es muß offenbleiben, ob er eigenen Intentionen folgte, oder ob er dem Wunsche des Auftragsgebers nachkam.- 58
Als zentrales Argument für die intensive Auseinandersetzung Bellinis mit der türkisch-orientalischen Kunstanschauung dient immer wieder auch die detaillierte Ausarbeitung der Kleidungsstücke, die nicht nur in den Einzelporträts, sondern ganz wesentlich in der Sonderform des Kollektivporträts, etwa in der Predigt des heiligen Markus in Alexandria (Abb. 3) zu einer authentischen Wiedergabe der verschiedenen zeitgenössischen ethnischen Gruppen führte.^ 9 Während traditionell die Kleidung in der europäischen Malerei des Orientalismus keine im engeren Sinne kulturtypische ist, sondern eine ins Phantastische gesteigerte europäische Mode, wird von Gentile Bellini Alexandria, also das mamelukische Kulturgebiet, gerade über die präzise Schilderung der Trachten entworfen. Die auffallende Gruppe der Frauen in der Mitte des Bildes erweist sich als typisch: Die Frauen tragen einen Uberwurf, der das Gesicht verschleiert und die ganze Figur verhüllt. Das weiße Tuch wird über einen breiten Kopfputz (genannt tartur) gelegt. Diese Tracht lässt sich genau als die für mamelukische Frauen in dieser Zeit übliche Kleidung identifizieren. Dies gilt mindestens im selben Maße für die reiche und differenziert dargestellte Tracht der Männer. 4 0 Wichtig ist also die Anpassung Bellinis an die typisch lokalen Gegebenheiten und seine Spezialisierung der Malweise, die dann Nerval auch in seiner Schreibweise nachstellt. Für den Dichter war Gentile Bellini deshalb nicht nur ein bekannter europäischer Maler, 4 1 der sozusagen im Orient metonymisch Europa und dessen kulturelle Werte vertrat. Wenn man die Darstellungsweise der Kleidung, die tatsächlich sowohl in der Literatur als auch in der Malerei gerne zur Markierung von Differenzen und zur Konstruktion von sogenannten orientalischen Besonderheiten benutzt wird, im Werk Bellinis mit derjenigen Nervals vergleicht, dann
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Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, S. 99f. Siehe zur Geschichte der Porträtmalerei Boehm, Bildnis und Individuum. Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, S. 87—97. Die prägnante, aber konservative Darstellungsweise der Malerei Bellinis vermittelt ein bezüglich des Orients äußerst unkritisches Verständnis, auch wenn die quasi-orientalische Malweise selbst genau und auch die einzelnen Gemälde differenzierend ausgearbeitet werden. W i e die Kunstgeschichte gezeigt hat, war Bellini aber gerade in seinem Willen der Entmythifizierung besonders herausragend. Es erscheint mir deshalb durchaus einem so belesenen wie kunstinteressierten Dichter wie Nerval zu entsprechen, wenn man sich vorstellt, dass er Bellinis Werkcharakter erkannte, und dass dessen Bilder vielmehr seinem eigenen Programm des »detruire [les] prejuges europeens« (S. 829) entsprachen.
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lässt sich abschließend zeigen, dass im Voyage en Orient die vielen auf den ersten europäischen Blick vermeintlich stereotypen Beschreibungen des >ExotischenOrientOrient< und >Okzident< durch verschiedene Verfahren auf der Zeichenebene in Kontakt treten lässt. Die von Said vor allem in Randbemerkungen vorgenommenen Differenzierungen seiner These in Richtung einer durchaus existierenden Eigenständigkeit des anderen Kulturkreises lassen sich also vielleicht gerade an der Kunst festma-
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Robert J. C. Young, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture, and Race, London, Routledge, 1995 wieder abgedruckt: London, Routledge, 2000, sowie ders., Postcolonialism. AVery Short Introduction, Oxford, Oxford Press, 2003. Siehe dazu meine Darstellung »... une priere ä la deesse Mnemosyne. Gerard de Nerval als Gedächtnisschreiber oder die mnemotechnische Raumstruktur der Texte - das Beispiel Aurelia«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte Bd. 26/1999, H. 1-2, S. 69-85.
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chen. Damit müsste schließlich auch der hier vorgestellte konstruktivistische Ansatz etwas weiter relativiert werden. Denn auch die Idee einer Beobachterposition suggeriert ja eine kohärente Einheit, die sich zumindest bei der Lektüre der Texte Nervals selbst als Konstrukt zu erkennen gibt. Zwar steuert die Beobachterperspektive die Wahrnehmung maßgeblich, jedoch sind die Produkte der literarischen oder bildkünstlerischen Betrachter selbst auch durch andere Kriterien gekennzeichnet. Die Werke Nervals und Bellinis zeichnen sich dadurch aus, dass sie manche Prinzipien, besonders die Differenz zwischen Kollektiv/Porträt und Kostümstudie, aufweichen und damit im Rahmen dieser ästhetischen Grenzziehung zu Grenzgängern werden. Ihre ästhetische Darstellung des Orientalischen bleibt zuletzt eine genuin offene (»[...] l'Orient qui m'echappe [...]«, S. 766) und eine dem im doppelten Sinn dialogischen Prinzip verhaftete (»une image aussi confuse que celle d'un songe: le meilleur de ce qu'on γ trouve, je le savais dejä par coeur«, ebd.). Die Rekonstruktion des Orients durch Nervals Text bietet deshalb hier eine systematisch nachgezeichnete, aber gerade selbst keine disziplinierbare Vorstellung, dennoch eine, die noch viele seiner literarischen Reisen in Europa und Erinnerungsreisen in den Orient motiviert und auf diese Weise die Bewältigungsarbeit in der Schrift provoziert hat.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Anonym, Bildnis eines Schreibers, Feder und Gouache auf Pergament, 18 χ 14 cm, Boston, Isabella Stewart Gardner Museum, in: Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, A 4. Abb. 2: Gentile Bellini. Bildnis Mehmet II., London, National Gallery, Nr. 3099, Leinwand 70 χ 52 cm, Inschrift links, in: Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, A 10. Abb. 3: Gentile Bellini, Predigt des heiligen Markus in Alexandria (1504-1507), Mailand, Öl auf Leinwand, 347 χ 770 cm, in: Meyer Zur Capellen, Gentile Bellini, A 14.
Bibliographie Alaoui, Brahim (Hrsg.), De Delacroix ä Renoir. L' Algerie des peintres; exposition presentee a l'Institut du Monde Arabe du 7 octobre 2003 au 18 janvier 2004, Villeneuve-le-roi, Hazan, 2003. Arnold, Thomas W., Painting in Islam. Α Study of the Place of Pictorial Art, in: Muslim Culture, hrsg. von Robinson, B. W., Oxford, Clarendon Press, 1928: Wiederabdruck: New York, Dover Publications, 1965. Benichou, Paul, L'ecole du desenchantement, Paris, Gallimard, 1992. Berchet, Jean-Claude (Hrsg.), Le Voyage en Orient. Anthologie des voyages fran£ais dans le levant au XIXe siecle, Paris, Robert Laffont, 1985. Boehm, Gottfried, Bildnis und Individuum. Uber den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München, Prestel, 1985. Brix, Michel, »Nerval et le reve egyptien«, Romantisme H. 120/2003, S. 37—46. Butor, Michel, »Le voyage et l'ecriture«, Romantisme H. 4/1972, S. 4—19. Byam-Shaw, James, »Gentile Bellini and Constantinople«, Apollo Bd. 70/1984, H. 269, S. 56-58.
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•Le vrai est ce qn'ilpeut< — Zur (De-)Konstruktion
des Orients in Gerard de Nervals Werk
Chambers, Ross, Gerard de Nerval et la poetique du voyage, Paris, Corti, 1969. Claudon, Francis, »Munich vue par Nerval et Judith Gautier. Qu'est-ce qu'une capitale artistique?«, in: Bauer, Roger (Hrsg.), Proceedings of the Xllth Congress of the International Comparative Literature Association, 2 Bde., München, Judicium, 1990, Bd. 1, S. 167-175. Dickhaut, Kirsten, »... une priere ä la deesse Mnemosyne. Gerard de Nerval als Gedächtnisschreiber oder die mnemotechnische Raumstruktur der Texte — das Beispiel Aurelia«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte Bd. 26/1999, H . 1 - 2 , S. 6 9 - 8 5 . — Verkehrte Bücherwelten. Eine Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur, München, Wilhelm Fink, 2004. Droulia, Loukia/Mentzou, Vasso (Hrsg.), Vers l'Orient par la Grece. Avec Nerval et d'autres voyageurs, Saint-Julien-du-Sault, Klincksieck, 1993. Duchene, Herve (Hrsg.), Le Voyage en Grece. Anthologie du Moyen Age ä Fepoque contemporaine, Paris, Robert Laffont, 2003. Jeanneret, Michel/Aubaude, Camille, Le Voyage en Egypte de Gerard de Nerval, Paris, Kime, 1997. Julian, Philippe, Les Orientalistes. La vision de l'Orient par les peintres europeens au XIXe siecle, Fribourg, Office du livre, 1977. Kofman, Sarah, Nerval. Le charme de la repetition, Paris, LAge d'homme, 1979. Kramer, Franz, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Syndikat, 1977. Longo, Oddone, »Una soasa per il conquistadore: Gentile Bellini e Maometto II«, Atti dell' Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Classe di scienze morali, lettere ed arti Bd. 3—4/ 1994-1995, S. 509-530. Meroni, Ubaldo, »II vero volto di Maometto II, II ritratto antico illustrato«, Rivista di documentazione e critica Bd. 1/1983, S. 14-19. Meyer Zur Capellen, Jürgen, Gentile Bellini, Stuttgart, Steiner, 1985. Mizuno, Hisashi, Nerval, L'ecriture du voyage. L'expression de la realite dans les premieres publications du Voyage en Orient et de Lorely. Souvenirs dAllemagne, Paris, Champion, 2003. Nerval, Gerard de, Voyage en Orient, in: G. de N., Giuvres completes, 3 Bde., hrsg. von Jean Guillaume und Claude Pichois, (Bibliotheque de la Pleiade. 89. 117. 397), Paris, Gallimard, 1984-1993, Bd. 2, S. 171-881. Raby, Julian, »A Sultan of Paradox: Mehmed the Conqueror as Patron of Arts«, Oxford Art Journal Bd. 5/1982, Η. 1, S. 3 - 8 . Rieger, Dietmar, »>Inventer au fond c'est se ressouvenir. Remarques sur quelques bibliotheques classiques et romantiques [...]Suggestion< zu erfassen bemüht sind, wobei konsequenterweise »Beschreibung und Kommentar« dazu tendieren, zu einem geschlossenen Ensemble zu verschmelzen. Vgl. hierzu Friedrich Wolfzettel, Ce desir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen, Niemeyer, 1986, S. 269.
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Helmut Meter Welt zu gestalten. So ist das Besondere u n d Verfremdende von Gautiers ägyptischen Gestalten - u n d zumal der Frauenfiguren — ihre eher reduzierte Psychologie, ihr weitgehendes Determiniertsein von einer äußeren Materialität. Blendet m a n diese aus, so erhält m a n Figurenentwürfe, die substantiell den zeitgenössischen Mentalitätskriterien entsprechen. Von einer anderen Seite her betrachtet, ist dies zweifellos ein latentes Interesse des Autors: unter dem Anschein des Fremden im Grunde Bekanntes zu modellieren. Dabei steht weniger eine integrative anthropologische Vorstellung i m Vordergrund als die Absicht, die zeitgenössische Welt äußerlich zu verfremden, sie i m Kern der Figurenkonzeption jedoch in verkleideter Form zu berücksichtigen. Die ästhetisierte Alterität verweist mithin in ihrer Essenz auf das Ausgangsszenario einer tristen Gegenwart zurück. 1 2 Ein treffliches Beispiel hierfür gibt gerade die Figur der Kleopatra ab. Letzten Endes lebt Kleopatra gar nicht in einem Selbstverständnis der Zufriedenheit. Die Fülle der Genüsse, an Luxus u n d an persönlichen Kapricen reicht nicht aus, sie glücklich zu stimmen. Sie sucht nach etwas jenseits des bereits Erlebten, etwas, das über das M a ß des bislang Realisierten hinausgehen könnte. Das aber ist a m Ende genau das, was in Gautiers längerem Erzählerexkurs gerade als die bedrückende Situation seiner Zeitgenossen ausgewiesen wird. Demzufolge verwundert es keineswegs, dass Kleopatra gerade das von der Erzählinstanz schmerzlich Kritisierte in eindringlicher Weise repräsentiert: ein Leiden unter d e m »ennui«, die Sättigung durch Reize u n d Erfahrungen der unterschiedlichsten Art, die Tristesse, auf eine Lebensform festgelegt zu sein, deren Grenzen nicht weiter verrückbar sind. 1 3 Der » m o n d e antique«, unter d e m Gesichtspunkt des individuellen Seelenfriedens betrachtet, ist d e m n a c h geradezu deckungsgleich mit dem, was die aktuelle zivilisatorische Lebensprägung bereitstellt. A u c h die ägyptische Welt verweist also auf die gegenwärtige Misere. Kleopatras ausgefallenes Erlebnis m i t d e m jungen Me'iamoun verschiebt n u n allerdings die Grenze des M ö g l i c h e n , weshalb die Königin zu einer psychischen Verfassung neuer Zufriedenheit findet. A m Ende aber, nach dem intensiven u n d makabren
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Damit käme verdeckt und ansatzweise das zum Ausdruck, was Gautiers Freund Nerval als Orientreisender offen bilanziert — das Bewusstsein der Desillusion: »En Afrique, on reve l'lnde comme en Europe on reve l'Afrique; l'ideal rayonne toujours au-delä de notre horizon actuel.« (Gerard de Nerval, Voyage en Orient, 2 Bde., hrsg. von Michel Jeanneret, Paris, Garnier-Flammarion, 1980, Bd. 1, S. 262). Insofern darf Kleopatras Entscheidung für die Liebesnacht mit Me'iamoun auch als ein narzisstisches Verhalten begriffen werden. So kann ihr Narzissmus bei der Keuschheit und Unschuld des jungen Mannes ansetzen, bedarf dabei aber der rigorosen Begrenzung des Abenteuers auf eine Nacht; erfordert ein »narcissisme illimite« doch seine augenblickliche — und damit zeitlich komprimierte — Befriedigung. Vgl. zu diesem Aspekt Marie Claude Schapira, Le regard de Narcisse. Romans et nouvelles de Theophile Gautier, Lyon/Paris, Presses universitaires de Lyon/Editions du Centre national de la recherche scientifique, 1994, S. 49-50.
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Ästbetisierte Alterität — Theopbile Gantiers Orientalismus
im Spiegel seiner
Frauengestalten
Abenteuer, kann die vorangehende Konstellation nur von neuem eintreten. Die plötzliche Ankunft von Markus Antonius führt offenbar zur etablierten Routine des luxuriösen Lebens zurück. Der Protagonistin abschließende Worte dokumentieren ihre Rückkehr auf die Pfade des sinnlichen Prunks und der nur oberflächlichen Außergewöhnlichkeit. Der Wunsch nach Neuem, nach Anderem wird sich - so darf geschlossen werden - wieder einstellen. Gautiers Orientalismus ist ein mitunter breiter Firnis, hinter dem sich die aktuelle soziale Unzulänglichkeit verbirgt — im Sinne des Verständnisses von Unzulänglichkeit, wie es den Lesern von Gautiers Erzähler nahegebracht wird. 14 Gemessen an dieser Erzählung schiebt sich das pharaonische Zeitalter in Le Pied de momie deutlicher in den Vordergrund. Ein erzählendes Ich erwirbt bei einem Altwarenhändler einen Mumienfuß und verwendet diesen als Briefbeschwerer. Des Nachts — und das Ereignis wird durchgängig als eine Art Traum ausgewiesen - erscheint eine hübsche junge Frau, einfüßig, offenbar auf der Suche nach ihrem zweiten Fuß, der ihr infolge einer Grabplünderung abhanden gekommen war. 15 Für das erlebende Ich präsentiert sie sich als Prinzessin Hermonthis und zugleich als »la figure la plus etrange qu'on puisse imaginer« (S. 108). Schließlich verfügt sie über eine »beaute parfaite« und erinnert an »le type egyptien le plus pur« (S. 108). Auffallend sind ihre mandelförmigen Augen und die in ihrer Feinheit fast griechische Form der Nase. Der Erzähler sieht in der Gestalt nahezu ein Analogon zu einer korinthischen Bronzestatue. Lediglich die hervorstechenden Backenknochen und der afrikanische Schnitt des Mundes weisen sie ohne Zweifel als der »race hieroglyphique« (S. 108) zugehörig aus. Das kurze Porträt der Hermonthis ist in manchem idealtypisch für Gautiers Konzeption der altägyptischen Frauengestalten. Der für die Deskription offenbar unerlässliche Bezug zur okzidentalen Kultur ist offensichtlich, aber auch der rein assertorische Hinweis auf Eigenschaften, die nicht bildkräftig zur Anschauung gebracht werden können. Hinzu kommt im vorliegenden Fall eine besondere Betonung der »etrangete«, wobei diese die positive Differenz zur Banalität des Alltagslebens meint, 16 gilt doch bereits die Verwendung des Mumienfußes als »effet [...] charmant, bizarre et romantique« (S. 106). Die altägyptische Zivilisa-
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Gautiers Erzählung hat im Übrigen die Szenenfolge des Textes Cleopätre (1847) von Madame de Girardin (Delphine Gay) inspiriert sowie lules Barbiers Operntext Une Nuit de Cleopätre (1885) mit der Musik von Victor Masse. Als >paradoxalMonotonie< bzw. »une bonne formule«, ein erprobtes Schema. Vgl. Pierre-Georges Castex, Le Conte fantastique en France de Nodier ä Maupassant, Paris, Corti, 1951, S. 231.
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tion ist mithin thematisch zugegen, wird jedoch — im Sinne der phantastischen Ausrichtung des Textes - mit einem Schleier der ironischen Perspektivierung versehen. 17 So bietet das Ich der Prinzessin ihren verlorenen Fuß, mit dem sie übrigens auf koptisch dialogisiert, wieder an, und zwar in einem »ton regence et troubadour« (S. 110), also gemäß veralteter europäischer Konversationsmuster. Und auf der Prinzessin Wunsch, den Erzähler ihrem Vater vorzustellen, geht dieser gerne ein, gewandet in ein Hauskleid, das ihm »un air tres pharaonesque« (S. 110) verleiht. Dementsprechend bietet Gautier, am Ende einer kurzen Zeitreise, die die beiden Handlungsfiguren zur versammelten Gemeinschaft der Pharaonen und ihrer Entourage führt, auch ein Bild der alten Welt in bizarrer Zurichtung, denkt man etwa nur an den Bart des Königs Xixonthios, der sieben mal um den Granittisch der versammelten Größen herum reicht. 18 Bei aller ironischen Brechung und Distanzierung des Erzählten darf freilich betont werden, dass Gautier offenbar eine enge Verschränkung von altägyptischer und aktueller Welt vornimmt. Dafür spricht auch der bizarre Wunsch des erzählenden Ichs, als Belohnung für das Bereitstellen des Fußes die Hand der Hermonthis zu erhalten - ein Ansinnen, das seitens der Betroffenen gern aufgegriffen wird, sich jedoch von ihrem Vater aufgrund des Altersunterschieds von nahezu 30 Jahrhunderten zurückgewiesen sieht. Insgesamt bietet der Autor demnach einen träumerisch-flüchtig inszenierten Einblick in das Ägypten der Pharaonen, das ihm zu einer Erzählmaterie im Zeichen der bewusst gesuchten bizarrerie gerät. 19 So vermittelt Prinzessin Hermonthis mehr per extradiegetische Deklaration denn per szenische Aura eine Impression des alten Ägyptens. Doch die Prinzessin hat ja nicht nur die Funktion, ein Bindeglied zur Präsentation der »races souterraines« (S. 112) abzugeben mit den hier bewusst klischeeartig eingesetzten Vorstellungen und Posen der
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Solcherart unterscheidet sich diese Erzählung von der Norm des phantastischen Erzählens bei Gautier, wie Gaudon sie gedrängt festhält. Zwar ist der übliche »rhythme ternaire« von »veille-sommeil-veille« durchaus vorhanden, doch nicht die letzten Endes >tragische< Dimension. Diese beruhe darauf, dass die »illusion paradisiaque« schließlich wieder durch die »resurgence brutale du temps reel« zunichte gemacht werde. Vgl. Jean Gaudon, »Preface«, in: Theophile Gautier, La Morte amoureuse, Avatar et autres recits fantastiques, hrsg. von J. Gaudon, Paris, Gallimard, 1981, S. 7-43, hier S. 25 und S. 43. Ein solches Signal der Distanzierung benimmt dem Moment des Phantastischen Ernst, aber auch Gewicht. Zu den »eindrucksvollsten phantastischen Novellen« Gautiers zählt der Text freilich für Karl Alfred Blüher, Die französische Novelle, Tübingen, Francke, 1985, S. 153. Der ironisch-distanzierte Modus in manchen phantastischen Erzählungen Gautiers kann unter anderem als Abwendung von einer modischen Nachahmung E.T.A. Hoffmanns verstanden werden, wie sie im Zuge der Ubersetzungen von Loeve-Veimars aufkam und zunächst nicht unerheblich von Gautier selbst befördert wurde. Vgl. dazu Juin, »Preface«, in: Gautier, Contes Fantastiques, S. 7—12, hier S. 9.
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altägyptischen Kunst; ihr kommt auch die Rolle zu, das Zentralelement einer phantastischen Erzählkonstruktion zu sein. 20 Denn am Ende — der Erzähler wird aus seinem Traum geweckt — ist der Mumienfuß tatsächlich verschwunden und durch die kleine Figur ersetzt, die Hermonthis — der Traumlogik zufolge — an seiner Stelle platziert hat. Die altägyptische Alterität ist demnach Material eines Spiels, eines ausgefallenen Effekts. Sie dient mehr der Ästhetik einer narrativen Kleinform in ihrem Konstruktionsmechanismus denn einer fiktionalen Sonderwelt um dieser selbst willen. 3. Die kleine Galerie der ägyptischen Frauengestalten findet ihren Höhepunkt in der Zentralfigur des Mumienromans, nämlich in Tahoser, der Tochter eines verstorbenen Hohenpriesters. Die teilweise noch mit kindlichen Zügen ausgestattete Frau wird im Erzählduktus des in eine Rahmenerzählung integrierten Binnenteils eingeführt als »jeune femme [...] d'une merveilleuse beaute, dans une gracieuse attitude de nonchalance et de melancholie« (S. 196). Ihre Gesichtszüge weisen sie aus als »le plus pur type egyptien« (S. 196), und die Bildhauer müssten sie im Sinn gehabt haben, als sie die Bildnisse der Göttinnen Isis und Hathor anfertigten. Die dunklen Augen, »alanguis d'une indicible tristesse« (S. 196), ließen eine »expression etrange« (S. 197) erkennen, umgeben von einem »sourire involontaire et presque douloureux« (S. 197), das überhaupt den Reiz der ägyptischen Gesichter ausmache. Mit der Nase wäre jede Königin zufrieden gewesen. Trotz eines »profil imperceptiblement africain« vermittele die Physiognomie insgesamt einen »charme extreme« (S. 197). Diese Grundzüge von Tahosers Porträt aus der Erzählerperspektive sehen sich in der Folge nur unerheblich erweitert. Entscheidend ist in jedem Falle, dass nahezu alle angeführten Attribute und Aspekte einer besonderen Schönheit eine imaginierbare Konstruktion der Figur an die Leser delegieren. Auch Tahoser ist keine Gestalt, die mit einem Ensemble substantieller Merkmale ausgestattet wäre, ihre »beaute surhumaine« (S. 319) ist vielmehr ein Appell an eine diffuse Vorstellungskraft, die aber letztlich nur bei einem etablierten und damit für die anvisierte Leserschaft europäischen Schönheitskanon ansetzen kann. N i m m t man die Beschreibungselemente des Rahmenteils hinzu — die Mumie der Tahoser wird von dem englischen Lord Evandale und dem deutschen Gelehrten Rumphius entdeckt sowie nach Europa verbracht, und erst die Ubersetzung einer ihr beigegebenen Papyrusrolle stellt die romaneske Binnengeschichte dar —, so präzisiert sich das bisherige Bild. 21 Da nimmt der freigelegte »corps charmant«
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Z u m Phantastischen in den Erzählungen Gautiers vgl. auch - exemplarisch - Richard Schwaderer, »Theophile Gautier, La Morte amourense«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), 19. lahrhundert. Drama u n d Novelle, (Interpretation. Französische Literatur), Tübingen, Stauffenburg, 2001, S. 2 0 3 - 2 3 0 . Kontrastiv hierzu bietet sich das initiale Porträt von Flauberts Salammbo an — laut Arsene
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eine Pose ein, die der der »Venus de Medicis« (S. 186) entspricht, u n d keine griechische oder römische Statue, so der Rahmenerzähler weiter, k ö n n e elegantere Konturen aufweisen. Im Übrigen verfüge die j u n g e Frau über »toutes les perfections de la f e m m e que Γ art egyptien exprime avec u n e suavite si tendre« (S.187). Dazu zählen n u n freilich w i e d e r u m , was die hellbraune H a u t betrifft, eine »nuance blonde d ' u n bronze florentin neuf« sowie »ce ton ambre et chaud qu'on admire dans les peintures de Giorgione ou de T i d e n , enfumees de vernis« (S. 1 8 7 ) . 2 2 Die »merveille« (S. 186) Tahoser ist also in erheblichem M a ß e nur über europäische Kulturmuster rekonstruierbar, ein Vorgehen, das, wie n u n m e h r deutlich wird, einem Grundprinzip der Modellierung Gautiers entspricht. Dies lässt k a u m auf die Absicht schließen, fremdkulturelle Spezifika ihrer Eigenart oder distinkten Qualität zu entäußern, m i t h i n eine latente Kulturhegemonie gegenüber einem ohnehin nur fiktiv vorhandenen alten Orient zu postulieren. Es ist vielmehr ein deutliches Indiz dafür, dass das Fremde, das Andere, das Ausgefallene unter d e m immer wieder isotopischen S i g n u m der »etrangete« seine literarische Existenz nur d e m Hier u n d Jetzt einer missliebigen Gegenwart verdankt, auf die in der R a h m e n e r z ä h l u n g eindringlich verwiesen wird. Die Alterität, zumal in ihrer höchsten ästhetischen Vollendung, wie sie von Tahoser verkörpert wird, stellt den aufwendigen Versuch eines imaginativen Korrektivs dessen dar, was aktuellerweise der Fall ist. 2 3 Doch selbst in einem solch breit angelegten Muster der mentalen Evasion ist es offenbar nicht möglich, die zeitgenössischen Erfahrungen u n d Lebensformen entscheidend zu eskamotieren. Im G e w a n d des Fremden, unter der ablenkenden
Houssaye soll Gautier den Roman inspiriert haben —, dessen Beschreibungsinhalte von Naturbezügen und nicht von wertenden Attributen bestimmt sind: »Sa chevelure, poudree d'un sable violet, et reunie en forme de tour selon la mode des vierges chananeennes, la faisait paraitre plus grande. Des tresses de perles attachees ä ses tempes descendaient jusqu'aux coins de sa bouche, rose comme une grenade entr'ouverte. II y avait sur sa poitrine un assemblage de pierres lumineuses, imitant par leur bigarrure les ecailles d'une murene. Ses bras, garnis de diamants, sortaient nus de sa tunique sans manches, etoilee de fleurs rouges sur un fond tout noir.« (Gustave Flaubert, Salammbo, hrsg. von Edouard Maynial, [Classiques Garnier], Paris, Garnier, 1961, S. 12). 1 1 Nicht zuletzt an solchen Beschreibungen zeigt sich Gautiers malerisches Interesse, wobei im Hinblick auf das ägyptenbezogene Sujet zuvörderst seine Begeisterung für die Bilder der peintres orientalistes, mithin von Dauzats, Decamps und Marilhat zu nennen sind. Zur Orientmalerei vgl. — immer noch aktuell — lean Alazard, L'Orient et la peinture fraiicaise au XIXe siecle de Eugene Delacroix ä Auguste Renoir, Paris, Plön, 1930. '' Dies bedeutet zugleich eine Relativierung des geographischen Aspekts im strikten Sinne. So wird gelegentlich ohnehin die Auffassung vertreten, im gesamten Werk Gautiers sei der Orient »un territoire, une notion, sans frontieres«, letzten Endes »une realite qu'il faut rechercher plus loin, ou ailleurs, que dans la realite geographique«. Vgl. Jacques Hure, »Un Orient sans frontieres«, Bulletin de la Societe Theophile Gautier Bd. 12/1990, S. 251—258, hier: S. 253.
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Maskerade einer fernen Zivilisation, treten diese dennoch zutage, zumindest partiell und in einer symptomatischen Konfiguration. In welchem M a ß e die ästhetisierte Alterität am Ende doch wieder ein gegenwartsbezogenes Bewusstsein in seinen Grundzügen einholt, ermisst sich zumal an den Handlungsweisen der die Erzählfabel bestimmenden Zentralfigur. Tahoser, die markanteste Exponentin der ägyptischen Oberschicht, hat sich zufällig verliebt in einen ihr unbekannten jungen Mann, dem sie alsbald nachspürt und der sich erst allmählich als Poeri, der hebräische Verwalter der landwirtschaftlichen Güter des Pharao herausstellt. Das Objekt der Liebe entspricht in nichts den jungen ägyptischen Aristokraten von Tahosers Lebensbereich, und zwar des angeblich eine Million Einwohner zählenden Handlungsortes Theben. Poeri, versehen mit einer »beaute rare« und voller »etrangetes« (S. 243), hat keinen erkennbaren Bezug zum »type national« Ägyptens, gehört offensichtlich nicht zur »race autochtone de la vallee du Nil« (S. 243). Eine schmale Adlernase, flache Wangen, »[des] levres serieuses et d'un dessin serre« (S. 243), eine olivenfarbene Haut sowie weiche, gewellte Haare und nicht zuletzt eine ganz und gar nicht rigide Schulterpartie verleihen ihm die Qualität des Unüblichen, des Anderen, machen ihn für die junge Frau zum Gegenstand ihrer Träume und Begierden, wobei eine melancholische Wesensart durchaus nicht den geringsten seiner Reize darstellt. Gemessen an Tahosers Erfahrungen erweist sich Poeri als »beau reveur« (S. 239), dessen Villa auf dem linken Nilufer in ihrer »elegance legere« und »gräce champetre« (S. 239) zudem »gaiete«, »repos« und »bonheur« (S. 242) verspricht und somit auf eine Lebenseinstellung schließen lässt, die sich signifikant von den Mustern im Ambiente der verliebten Priestertochter abhebt. Tahoser ordnet sich demnach in der Spontaneität ihres Gefühlslebens und ohne Ansehen ihrer besonderen Milieubindung auf den Repräsentanten einer fremden Kultur hin, ohne diese auch nur ansatzweise zu kennen. Der weibliche Idealtypus des Pharaonenreiches liebäugelt mit dem Vertreter eines der unterworfenen Völker, wie sie - machtlos einherschreitend hinter dem ägyptischen - symbolkräftig in einem besonders reich dekorierten Zimmer des Pharao bildlich festgehalten sind. 2 4 Poeri seinerseits bemerkt die Liebe der schönen Ägypterin nicht, auch nicht, als diese sich unter falscher Identität als verarmte Waise in seinem Hause aufnehmen lässt und ihm auf einem seiner heimlichen nächtlichen Besuche im hebräischen Armenviertel folgt, wo sie vor einer Lehmhütte in Ohnmacht fällt, da sie feststellt, dass der geliebte M a n n einer sehr schönen israelitischen Frau
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Vgl. S. 309. Poeri erweist sich vor diesem Hintergrund in seiner »etrangete« durchaus als exzentrisch und damit als Figur des »anti-hero'isme« (zumal - wie später ersichtlich wird — im Unterschied zum Pharao). Zum Konzept der Exzentrizität bei Gautier, freilich ohne Berücksichtigung des Mumienromans, vgl. Daniel Sangsue, Le Recit excentrique. Gautier, De Maistre, Nerval, Nodier, Paris, Corti, 1987, bes. S. 3 1 8 - 3 1 9 und S. 3 4 5 - 3 4 6 .
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verbunden ist, die sich alsbald als seine Ehefrau herausstellt. Auch in Kenntnis der wahren Identität Tahosers ändert sich Poeris Gleichmut nicht. Zwar willigt er in den Vorschlag seiner Gefährtin, der großmütigen Ra'hel, ein, die Ägypterin, bekannten Beispielen gemäß, als zweite Ehefrau anzunehmen, doch verknüpft er dies mit der Forderung, dass Tahoser ihrer Religion entsagen und sich vom Polytheismus zum Monotheismus bekehren müsse. Gautiers altägyptische Fiktionswelt präsentiert sich folglich in ihrer luxuriösen Beschaffenheit als unzulänglich fur die exponierteste Vertreterin der höheren Gesellschaft. Dies kommt ohne Zweifel einer nachdrücklich herausgekehrten »etrangete« gleich, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal auf der Ebene der Erzählfabel als solcher, darüber hinaus jedoch auch im Hinblick auf das Erzählkonzept der ästhetischen Alterität einer fernen Kultur. 25 Auch diese scheint mit sich selbst uneins zu sein, über eine repräsentative Gestalt nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, sich über die etablierten Normen hinwegzusetzen und das Andere gegenüber dem Eigenen zu bevorzugen. Gautiers zeitgeschichtlich bedingte Unzufriedenheit paust sich gleichsam in einem fiktionalen Paralleluniversum durch. Die Welt der Pharaonen dient offenbar nur unzureichend als projektiver Zufluchtsort, als imaginative Alterität, deren ausgesucht ästhetische Formung die Unzulänglichkeit des aktuell Gegebenen psychologisch mildern könnte. Die Suche des Anderen — so eine mögliche Suggestion der Erzählanlage - eignet jedweder Gesellschaft ohne Ansehen ihrer Formation. Verschärft wird dieser Aspekt noch durch den Umstand, dass der an Machtvollkommenheit, Reichtum und erotischen Angeboten übersättigte und innerlich unzufriedene Pharao Tahoser zufällig erblickt und von äußerster Liebe zu ihr erfasst wird, ohne zunächst ihre Identität zu kennen. Der coup de foudre, der ihn ereilt, entspricht genau dem, von welchem Tahoser in Hinsicht auf Poeri betroffen ist. Zwar gelingt es dem Pharao, die Priestertochter kraft seiner Macht gewaltsam an sich zu binden, doch lässt sie nur scheinbar, der Not gehorchend, von ihrem Liebeswunsch ab. Der Pharao möchte Tahoser freilich als gleichwertig neben sich stellen und konfrontiert sie mit dem Status einer über unermesslichen Reichtum und uneingeschränkte Macht verfügenden Person. Zudem zeichnet er sich durch eine
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Allein von daher schon wird man Gautiers Imagination des alten Ägyptens nicht ohne Weiteres gleichsetzen können mit seiner Auffassung des Orients schlechthin. So lässt sich offenbar nachweisen, dass der Orient der peintres orientalistes für Gautier in seinen Feuilletonartikeln und Salons zur »contree revee«, zum »paradis perdu«, zur positiv besetzten >Chimäre< an sich avanciert. Dies gilt für das Ägypten des Mumienromans wohl nur mit Einschränkungen, und so verwundert es auch nicht, dass der Aspekt der Landschaft - der zentrale in den kunstkritisch präsentierten Gemälden — hier nahezu keine Rolle spielt. Zur genannten Behandlung der Orientmaler vgl. Francis Moulinet, »Les Orients de l'art sous le regard de Theophile Gautier«, Bulletin de la Societe Theophile Gautier Bd. 12/1990, S. 91-97, hierS. 93 und S. 96.
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»beaute surhumaine« (S. 3 0 7 ) aus, ohne den geringsten M a k e l . Als Vergleichspol in der Beschreibung dienen d e m Erzähler hierbei die beeindruckenden »statues des temples« (S. 3 0 7 ) . 2 6 Dementsprechend gestaltet sich die Figur freilich als nahezu emotionslos u n d geeignet, eine »respectueuse epouvante« (S. 2 2 1 ) einzuflößen, zumal die Augen nur »l'eternite et l'infini« (ebd.) zu betrachten scheinen, ganz wie es dem »isolement d u demi-dieu« (ebd.) z u k o m m e n müsse. 2 7 Tahoser hat letztlich Angst vor dem M a n n , der die altägyptische Kultur in höchster Vollendung repräsentiert, der d e m i m m e r wieder deskriptiv entfalteten Dekor der Statuen, bildlichen Darstellungen oder mythologischen Verweise in der fiktiven Alltagswelt als belebtes Element geradezu e n t n o m m e n zu sein scheint oder aber als lebendiges M a ß für all dies begriffen ist. 2 8 D e m A u f b a u einer höchst ästhetischen Fiktionswelt ist demnach über einen Konstruktionsfaktor selbst ihre zumindest partielle Relativierung bereits eingeschrieben. Bezeichnenderweise wird das zudem über den hervorstechenden Charakterzug bedingungsloser Rigidität des Pharaos in allen Lebenslagen deutlich; handelt dieser doch, bis hin zu seiner finalen Selbstzerstörung, in einer solchen Starrheit, dass die Analogie zu einer der m o n u m e n t a l e n Tempelfiguren Thebens tatsächlich nahe liegt, ganz als wäre diese zu einem rein mechanischen Leben erweckt w o r d e n . 2 9 Die fiktional entworfene u n d ästhetisch sanktionierte Alterität entspricht d e m n a c h keinem W e r t an sich. Der alte Orient lebt nicht als historisch indiffe-
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Über die geradezu einschüchternde Wirkung der figuralen Plastik Altägyptens konnte sich Gautier bei Flaubert und Maxime Du Camp informieren. Als anschauliches Beispiel hierzu sei im Rahmen der Ägyptenreise beider auf den Anblick der Sphinx verwiesen: »[...] nous nous arretons devant Sphinx - il nous regarde d une fa9on terrifiante. Maxime est tout pale. J'ai peur que la tete ne me tourne, et je täche de dominer mon emotion. Nous repartons ä fond de train, fous, empörtes au milieu des pierres.« (Gustave Flaubert, Voyage en Egypte. Edition integrale du manuscrit original, hrsg. von Pierre-Marc De Biasi, Paris, Grasset, 1991, S. 208). So betrachtet, trifft hier Poulets kompaktes Urteil zur Figurengestaltung Gautiers mehr auf die männliche Zentralfigur denn auf die weibliche zu: »Tout finit done chez Gautier par une petrification et une deshumanisation de l'etre.« (Georges Poulet, Etudes sur le temps humain, Paris, Plön, 4 Bde., 1952-1977, Bd. 1, S. 318). In seinem längeren Artikel über Gautier entfaltet Baudelaire anhand der Szenen des Luxus um die Gestalt des Pharaos ein kurzes Konzept wahrheitsorientierten Erzählens auf der Grundlage einer »magie de la vraisemblance«. »L'imagination du lecteur se sent transportee dans le vrai; eile s'enivre d'une seconde realite creee par la sorcellerie de la Muse.« (Charles Baudelaire, »Theophile Gautier«, in: Charles Baudelaire, Giuvres completes, 2 Bde., hrsg. von Claude Pichois [Bibliotheque de la Pleiade. 1. 7]), Paris, Gallimard, 1975-1976, Bd. 2, S. 103—128, hier: S. 121). Bei aller »sorcellerie« wird man allerdings Gautiers penible Dokumentationsarbeit beim Zustandekommen eines e f f e t de reel nicht vergessen dürfen. Von einer solchen Modellierung der Figur ausgehend, sieht Fran$oise Court-Perez im gesamten Roman einen Widerstreit von »versant parnassien« und »violence de vaines passions«, der den Text zu einem »roman de la cruaute« mache (»Le Roman de la momie«, in: Jean-Pierre de Beaumarchais/Daniel Couty [Hrsg.], Dictionnaire des oeuvres litteraires de langue fra^aise, Paris, Bordas, 1994, Band Q-Z, S. 1714). 125
Helmut Meter rentes, gleichsam panchronisch konzipiertes K o n t i n u u m wieder auf, das sich i m Vorweisen vollendeter Ästhetik glücklich erschöpfte. Er k o m m t keinem ästhetisch fixierten Ausschnitt aus einer historischen Folie gleich, der i m unwandelbaren Status zeitloser Schönheit des Genusses durch eine kongenial gestimmte Leserschaft harrte. Er ist vielmehr auf dramatische Veränderung hin angelegt, letztlich auf den dynamischen Zerfall seiner konstitutiven Elemente. 3 0 Hierin k a n n wohl ein G r u n d gesehen werden, weshalb Gautiers Text des öfteren der Gattung des historischen Romans zugerechnet wurde. Was Tahosers Einstellung exemplarisch zur A n s c h a u u n g bringt, vollzieht sich i m Schlussteil des Romans auf einer breiteren Ebene der Geschehensanlage: Die altägyptische Zivilisation verliert ihren kulturellen, aber auch — vieles deutet darauf hin — politischen Primat gegenüber den anderen, zumeist unterworfenen Völkern. Gautier thematisiert dies, i n d e m er seine Romanfabel in die alttestamentliche Geschichte e i n m ü n d e n lässt. Der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten u n d die Vernichtung des den Hebräern nachsetzenden ägyptischen Heeres in den Fluten des Schilfmeeres leiten den Niedergang des Pharaonenreiches ein. 3 1 Anschaulich zeigt sich das auch an den i m Vorfeld des Exodus stattfindenden Szenen eines Wettstreits, i m d e m die ägyptischen u n d die hebräischen Gelehrten einander gegenüberstehen u n d sich wechselseitig in wissenschaftlich fundierter Kunstfertigkeit zu überbieten trachten. H i e r ist die - nicht zuletzt religiös bestimmte - jüdische Überlegenheit schließlich unabweisbar. »La Science de l'Egypte est vaincue [ . . . ] « (S. 3 3 3 ) , dekretiert a m Ende der höchste Gelehrte des Pharao u n d äußert zugleich ehrfürchtig sein Interesse an d e m in seinen Augen mächtigeren »Dieu nouveau« (S. 3 3 3 ) der Israeliten. Aus der Sicht eines fiktiven ägyptischen Erzählers mag das Eingeständnis eines Hegemonieverlusts erstaunlich sein. Doch das alte Reich wird nicht ganz und gar der Bedeutungslosigkeit preisgegeben. Dies liegt w i e d e r u m maßgeblich an der psychologischen Formung der Tahoser, deren amouröse Flucht aus d e m eigenen
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Von gänzlich anderen perspektivischen Voraussetzungen her gelangt Tortonese zu einem ähnlichen Befund. Er sieht den »ecrivain-peintre« Gautier in seiner Tätigkeit zunächst von einer Antinomie von malerischen und literarischen Impulsen, von »representation visuelle« und »ecriture« bestimmt, wobei letztere als der anderen unterlegen eingestuft werde, bis zutage trete, dass sie keineswegs nur ein Zeichensystem unter vielen ist, sondern »le systeme universel«, das alle anderen einschließt. Solche >Omnipotenz< der Literatur bewirke, dass am Ende die gesamte »surface du visible« zu einer »enorme page ecrite« mutiere. Als Bereich >skripturaler Sättigung< befinde sich das erzählte Ägypten schließlich an der Grenze zu einem Albtraumc dem Zusammenbruch aller Bedeutungen. »La redondance des signes, d'abord perdue comme une richesse exuberante, donne lieu ä un engorgement du sens.« Vgl. Paolo Tortonese, La vie exterieure. Essai sur l'oeuvre narrative de Theophile Gautier, Paris, Lettres Modernes, 1992, S. 58-61. Die biblische Motivik mag Gautier unter anderem durch die vielbeachteten Aufführungen von Rossinis Oper Mose in Egino nahegelegt worden sein, die 1837 und 1852 (in französischer Version) in Paris stattfanden.
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Milieu und ihrer ethnischen Einbindung schließlich doch noch relativiert wird. Zumindest eigenem Bekunden nach versucht nämlich der Pharao, sich mental besser auf seine Gefährtin einzustellen, indem er sich angesichts seiner emotionalen Abhängigkeit von dieser vom kühlen Halbgott zu einer menschlicheren Gestalt, zum schlichten Exemplar eines liebenden Mannes wandeln möchte. Das bewirkt einen Widerstreit der Gedanken in Tahoser, die durchaus über hinreichend Eitelkeit verfügt, das vitale Interesse des Pharaos an ihr zu genießen, zumal er sie als »etre [...] fatal« (S. 311) für sich betrachtet. Dies verursacht denn auch einen »trouble singulier« (S. 312) ihrerseits, der schließlich zu der Frage führt: »Pourquoi mon ame est-elle ä Poeri?« (S. 320). Anders gesagt: Der eher gleichgültige Poeri wird von der Priestertochter allmählich in seiner Bedeutung für sie gemindert, und die wachsende »tendresse de Pharaon« (S. 327) gewinnt unverkennbar an Gewicht: »[...] eile eüt desire Γ aimer, et peut-etre en etait-elle moins loin quelle ne le croyait.« (S. 327), meint dazu der Erzähler, die durchgehend entscheidende Instanz zur Wiedergabe der Bewusstseinsvorgänge von Tahoser. 32 Das Problem wird freilich nicht gelöst, und die Leser sehen sich schließlich, angesichts des toten Pharaos und des Weggangs von Poeri, in die Ungewissheit entlassen gemäß der abschließenden Frage: »Etait-ce Pharaon ou Poeri qu elle regrettait?« (S. 342) Man kann dies als romaneske Wendung des Erzählgeschehens auffassen im Sinne der Formel von: La donna e mobile. Doch eine hintergründige Logik erscheint plausibler: Wie immer Tahoser zu den beiden Männern stehen mag, eines bleibt nie im Unklaren: ihre spontane Ablehnung einer rigiden Tradition, ihre Suche neuer Lebensformen, sei es im Hinblick auf das ethnisch und religiös andere, das Poeri repräsentiert, sei es in Anbetracht eines gänzlich gewandelten, neuen Pharaos, den nichts mehr mit der Gottähnlichkeit seiner Vorgänger verbinden würde, was unweigerlich auch eine Veränderung der überkommenen Staats- und Gesellschaftsauffassung zur Folge haben müsste. Gautiers altägyptische Welt lebt also weniger von der Einverständnis und Bewunderung signalisierenden Ästhetisierung in toto denn von singulären Szenen und Aspekten sowie der Figur der Tahoser. Sie verkörpert schließlich den - ihr nur bedingt bewussten - Willen zur Veränderung, zum signifikant Anderen. Schon Poeris erstaunte Frage, weshalb sie ihre Liebe dem Angehörigen einer ihr
Im inneren Widerstreit der Figur manifestiert sich das Fehlen eines absoluten Ideals. Die gänzlich unterschiedliche Schönheit der beiden Männer führt Tahoser freilich von einem konkreten Realitätsbezug fort und verweist die Kategorie des Schönen als Ideal in den Bereich der Imagination und Abstraktion. Dies ist nicht immer so in Gautiers Erzählungen. Für Mademoiselle de Maupin etwa gilt laut Benichou, dass der Held Albert an ein »ideal incarne en une femme reelle« glaubt, worin die Ansicht zutage trete, über die »possession de la beaute visible« sei der »tourment de l'infini« zu lösen. Vgl. Paul Benichou, L'Ecole du desenchantement. Sainte-Beuve, Nodier, Musset, Nerval, Gautier, Paris, Gallimard, 1992, S. 5 2 8 - 5 2 9 .
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Helmut Meter fernen und versklavten ethnischen Gruppe zuwende, beantwortet sie mit einem prompten: »C'est precisement pour cela.« (S. 297) Aber mehr noch lässt ihr bemerkenswerter Traum, ihr »reve bizarre« (S. 303) deutlich werden, wie sehr sie von der Alterität auch als ihr nicht bewusstem Programm beherrscht ist. Denn der Traum, der in einem Tempel alle ägyptischen Götter und Dämonen vereint sieht, hat als Zentralfigur den Vater und Hohenpriester Petamounoph, der in explizit ironischer Diktion den Polytheismus verspottet und unter keiner der versammelten Wesenheiten den wahren Gott erkennen kann. Tahoser aber wird von Poeri aus dem Tempel geführt zu einem so hellen Licht hin, dass die Sonne dagegen dunkel erschienen wäre. Tahoser ist demnach ihrem Gesamtbild zufolge nur bedingt das herausragende Konstruktionselement einer historisch fernen Fiktionswelt. Ihre charakterlichen Eigenschaften weisen sie zugleich als eine moderne Figur aus, als den happy few derjenigen zugehörig, die aus einer monotonen Gegenwart unter dem Leitprinzip der »etrangete« hinausfinden möchten. Um dies in besonderer Weise zu markieren, bedient sich Gautier zweier einfacher struktureller Maßnahmen. Zum einen lässt er Tahoser in gewisser Hinsicht aktiv auf die Gegenwart einwirken, insofern der englische Lord Evandale sich nachgerade in sie verliebt und auf Distanz zu den diversesten Ladies seiner Entourage rückt. 33 Damals und Jetzt konvergieren mithin auf einer Ebene geistesaristokratischer Gemeinsamkeit. 34 Die romaneske Binnengeschichte mutiert in einem zentralen Punkt zum Gegenstand der Rahmenerzählung. Ahnlich verhält es sich mit der anderen Maßnahme Gautiers. Nur im Vermeiden offensichtlich anachronistischer Inhalte unterscheidet sich die Erzählinstanz des eigentlichen Romans von der des Rahmenteils. Im gesamten Habitus des Erzählens, in seiner weitgehend extradiegetischen Festlegung, ja im durchgängigen Modus der sympathiegeprägten Annäherung an die Materie kann letztlich kein Unterschied festgestellt werden. Mit anderen Worten: Auch die Geschichte aus der Pharaonenzeit wird perspektivisch einer modernen Verstehensform unterstellt. Somit verschränkt sich auch unter diesem Aspekt das per Fiktion Alte mit dem Gegenwärtigen. Auf solche Weise idealisiert Gautier weniger eine historische Zivilisation als fiktionales Imaginationsgebilde denn einen bestimmten aristokratischen Frauentypus. Dessen Schönheit mag als eine zeitlose intendiert sein, doch ist sie ihren abstrakten superlativischen Postulaten gemäß von historisch unterschiedlichen
• In der Figur Evandales sieht Bomati eine Analogie zum mythischen Orpheus, der sich nach dem endgültigen Verlust Eurydikes ebenfalls von allen Frauen zurückgezogen habe. Doch nicht nur das fehlende Pendant der ihn zerfleischenden Bacchantinnen aus Thrakien lässt dies wenig plausibel erscheinen, sondern auch der Umstand, dass der Lord - wenn auch im ideellen Sinne - etwas gefunden und durchaus nichts verloren hat. Vgl. Yves Bomati, Theöphile Gautier. Le Roman de la momie, Paris, Hatier, 1995, S. 22. Das Motiv der rückwärts gewandten Liebe eines jungen Mannes zu einer schönen Toten hatte Gautier bereits in Arria Marcella (1852) behandelt.
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Lesern letzten Endes immer wieder unterschiedlich konkretisierbar. Dazu fügt sich auch, dass Tahoser keine kritisch-reflexive Urteilskraft besitzt. Sie fungiert primär als Ausdruck des Sich-selbst-Vollziehens einer Ästhetik, ganz ihrer unbefragten Grunddevise des »d'abord soyons belle« (S. 2 5 0 ) entsprechend. 3 5 Der von Lord Evandale beschworene »sens de l'eternite« (S. 184) in der altägyptischen Kultur überlebt also entscheidend in einer Fiktionsgestalt, die als ästhetisches Absol u t u m ihre zeitgelöste Dimension nur über je verschiedenartige zeitspezifische Urteilsformen i m Bereich der Ästhetik behaupten kann. Klassische N o r m u n d romantisch-individualistische Denkungsart durchdringen einander. W e n n dieser Entwurf von seinem Ansatz her einem Gegenprogramm zur zivilisatorischen Gegenwart gleichkommen soll, so findet das in der R a h m e n fiktion, nahezu erwartbar, einen Reflex in einem grundsätzlichen Urteil der dominierenden Gestalt Lord Evandales. 3 6 Demzufolge ist die zeitgenössische Zivilisation, »notre civilisation« (S. 184), von einer »tiefen Dekadenz« (S. 184) erfasst, u n d ihre rezenten Erfindungen verblassten gegenüber den »enormites« einer >gigantesque societe disparue< (S. 184) wie der altägyptischen; das dampfgetriebene - also industrielle - Zeitalter sei einem solchen der »pensee« (S. 184) unabweislich unterlegen. 3 7 Gemäß der eigengesetzlichen Romangestaltung ist dies weitgehend plausibel. Gautier lässt d e m freilich den deutschen Gelehrten R u m p h i u s widersprechen, d e m Wissenschaft u n d A u f k l ä r u n g aller Geheimnisse - auch der der alten Kulturen - als höchstes Ideal erscheinen u n d damit als höchstes zivilisatorisches Kriterium gelten. Dass die Beherrschung des Alten aber auch mit seiner Entzauberung einhergeht, lässt sich schwerlich bestreiten. Andererseits könnte der M u m i e n r o m a n , seiner fiktionalen Logik entsprechend, gar nicht existieren, würde die der Toten beigegebene Papyrusrolle nicht wissenschaftlich bearbeitet, von d e m Gelehrten R u m p h i u s in jahrelanger M ü h s a l
·" Unter diesem Aspekt entspricht Tahoser durchaus dem Gautierschen Frauenbild, wie es David-Weill systematisch im Gesamtwerk zu ermitteln versucht: »La femme est une chose sacree faite pour etre belle, pour etre regardee.« Ob Tahoser freilich, der angeblichen Norm der übrigen Frauenfiguren entsprechend, als passiver, statuenhafter und ausschließlicher Gegenstand männlicher »fantasmes« und »desirs« verstanden werden kann, ist zu bezweifeln. Ihr Verhältnis zu Poeri spricht entschieden dagegen. Vgl. Natalie David-Weill, Reve de pierre. La quete de la femme chez Theophile Gautier, Geneve, Droz, 1989, S. 89 und S. 145. 36 Das argumentative und ideologische Gewicht der Figur lässt die — ansonsten nahe liegende paronomastische Entsprechung von »est vandale« kaum als intendiert erscheinen. In dieser Auffassung der altägyptischen Zivilisation zeigt sich möglicherweise nicht nur ein fiktionsgebundener Imperativ oder die Gewissheit einer konzeptuellen Überlegenheit, sondern auch die grundsätzliche Vorstellung einer »force operatrice de l'esprit«, die besser geeignet sei, gestalterisch auf die krude Materie einzuwirken denn die modernen Maschinen. Ein solch okkultistisches Substrat sieht - auch in anderen Aspekten von Gautiers Roman - Robert Baudry in seinem Aufsatz »Revelations et initiations dans Avatar et Le Roman de la momie«, Bulletin de la Societe Theophile Gautier Bd. 12/1990, S. 181—200, bes. S. 185, S. 191 und S. 194.
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unter Berücksichtigung aller verfügbaren Kenntnisse übersetzt. Hier tut sich ein gewisser Zwiespalt auf. Doch insgesamt ist Gautier wohl dem »haut dandysme« (S. 172) Evandales und dessen universeller Bildung näher als der grauen Gelehrsamkeit des »dieu ibiocephale« (S. 154), als der Rumphius zu gelten hat. Schließlich bewegt sich der weltläufige Lord elegant auf einem arabischen Pferd fort, während Rumphius, im abgeschabten Gelehrtengewand schwitzend, mit einem einfachen Esel Vorlieb nehmen muss. 4. Insgesamt kann Gautiers Orientalismus als ästhetische Versuchung bezeichnet werden, als Interesse an einer unüblichen sinnlichen Manifestation und Konstruktion. Darin ist er, gerade als stark optisch ausgerichteter Erzähler — nicht zuletzt seiner malereispezifischen Neigung entsprechend — in manchem Eugene Fromentin vergleichbar, wiewohl dessen orientalisch inspiriertes Form- und Lichtbewusstsein auf dem tatsächlichen Erleben einschlägiger Szenerien beruht. 3 8 Sicherlich nicht zuzurechnen ist Gautier hingegen jenen Zeitgenossen, die im Orient eine neue Offenbarung, eine existentielle Grundlage oder gar eine allumfassende kulturelle Matrix suchten, was exemplarisch etwa für seinen Freund Nerval gilt. So bleibt eine gewisse Mythisierung des Orients stets im Vorhof grundsätzlicher historisch-philosophischer Erwägungen oder gar der potentiellen Entwicklung eines synkretistischen Kulturmodells. Nur von den narrativen Inhaltsformen her gesehen, ist der Orient nah - als verfremdeter Vergleichspol und partielles Analogon der eigenen historischen Lebenswelt. Fern ist er, was die Wahl einer untergegangenen Kultur betrifft — eine Distanz, die in besonderer Weise mit einer von Lamartine bis zu Loti verbreiteten Tendenz kontrastiert, aus der unmittelbaren Anschauung orientalischer Lebens- und Denkweise historische und gesellschaftliche Anregungen oder gar ein neues Selbstverständnis zu beziehen. Uber das Andere wird bei Gautier das Eigene weder in Frage gestellt noch in seiner Bedeutung gemindert. Es wird letzten Endes bestätigt, da die hervorstechenden Begebenheiten der fiktionalisierten fernen Welt sich homolog zu denen der aktuellen Erfahrungswelt verhalten. So bleibt am Ende das Ideal eines historisch indifferenten Humanum, dessen höchste Vollendung die Schönheit ist, so wenig diese insgesamt nur von präskriptiven Normen bestimmt wäre.
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Vgl. dazu beispielsweise - auf Fromentins Wüstendarstellungen bezogen - Helmut Meter, »Experiences du desert dans le recit de voyage au XIXe siecle: Fromentin, Maupassant, Loti«, in: Helmut Meter/Pierre Claudes (Hrsg.), Le Genie du lieu. Experiences du ravissement, du transport, de la dispossession, (Ars Rhetorica. 12), Münster/Hamburg/London, LIT Verlag, 2003, S. 4 5 - 6 1 , hier: S. 4 9 - 5 2 .
Astbetisierte Alterität — Theophile Gantiers Orientalismus im Spiegel seiner
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Le Roman de la momie: Ägyptische Kunst und Kultur als Konkretisation eines ästhetischen Ideals
Bei den Orient-Texten des 19. Jahrhunderts kann man im Prinzip zwei Kategorien unterscheiden: Zum einen die (chronologisch meist etwas früheren) Reisebeschreibungen, die auf einem persönlichen Reiseerlebnis basieren oder dieses beschreiben wie diejenige von Volney (1787), Napoleons Berichte (1809-1828), die man unter diese Rubrik klassifizieren kann, aber natürlich vor allem die >Klassiker< von Chateaubriand (1811), Lamartine (1835) oder Nerval (1851). Diesen steht eine Klasse von Texten gegenüber, die den Orient in irgendeiner Form >verwerten, sei es als exotischer Hintergrund, als explizite Kontrastfolie, als Entwurf irgendeiner Gegenwelt usw. Gautier ist einer von den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, der in mehrfacher Hinsicht zwischen den beiden Kategorien steht. Er hat >den Orient< bereist und darüber geschrieben: 1845 und 1862 war er in Algerien, 1852 in Konstantinopel und 1869 zur Eröffnung des Suezkanals in Ägypten. Aus den ersten Reisen resultierten sowohl literarisierte Reiseberichte1 wie der Voyage pittoresqiie en Algerie von 1845, sodann dem schieren Lebensunterhalt dienende journalistische Berichte2 wie Constantinople von 1852 bis 1853 als auch literarische Texte z.B. La Juive de Constantine von 1845. Und schließlich gibt es seine gesamte schriftstellerische Karriere hindurch zahlreiche orientalistische Sujets in seinen Novellen sowie den Roman de la momie (1858). Die Ägypten-Reise trat er jedoch wohlgemerkt erst 12 Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Textes an. Wie viele seiner Zeitgenossen war Gautier offensichtlich vom Orient fasziniert. Zwei kurze Zitate mögen illustrieren, wie weit bei ihm dieser Enthusiasmus ging. 1843 schreibt er in einem Brief an Gerard de Nerval: »[...] moi, je suis turc, non de Constantinople, mais d'Egypte. II me semble que j'ai vecu en Orient [...] J'ai toujours ete surpris de ne pas entendre l'arabe couramment; il faut que je l'aie
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Vgl. Elwood Hartmann, Three 19th Century Artists and the Maghreb. The Literary and Artistic Depictions of North Africa by Theophile Gautier, Eugene Fromentin and Pierre Loti, Tübingen, Narr, 1994, S. 5. Vgl. Jean Richer, Etudes et recherches surTheophile Gautier prosateur, Paris, Nizet, 1981, S. 75ff.
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oublie.«3 Und 1848 legt er nach in einem Kommentar über das Bild La place de l'Esbekieh au Cairei von Prosper Marilhat: La vue de cette peinture me rendit malade et m'inspira la nostalgie de l'Orient, oü je n'avais jamais mis les pieds. Je crus que je venais de reconnaitre ma veritable patrie, et, lorsque je detournais les yeux de l'ardente peinture, je me sentais exile. 5
Aber je mehr er dann tatsächlich den Orient kennen lernt, ist er — beinahe ist man versucht zu sagen als prototypischer Said-Orientalist - enttäuscht. Schon Algerien ist nach seiner Andalusienreise, als er atemlos vor der Alhambra und den anderen großen Kunstzeugnissen der maurischen Besatzung stand, eine zumindest leise Enttäuschung, auch wenn wenigstens das exotische Ambiente noch stimmt; 6 aber Konstantinopel etwa bleibt weit hinter seinen Erwartungen zurück, findet er doch nicht eine verwunschene orientalische Stadt wie aus Taxisend und einer Nacht, sondern eine Kapitale, die unter der Herrschaft des Sultans Abd ül-Medjid (1839-1861), der »un paletot sac en drap bleu et une calotte grecque«7 trägt, dabei ist, sich zu modernisieren, Anschluss zu suchen an vergleichbare europäische Metropolen. Die so geschätzte Alterität verschwimmt und muss beinahe künstlich wiederhergestellt werden —8 oder wie Sarga Moussa es einmal treffend ausdrückte: »L'Orient se banalise.«9 Einen solchen direkten Vergleich zwischen seiner Imagination und der Realität hat Gautier mit Ägypten nicht, als er den Roman de la momie in Angriff nimmt. Ägypten ist für ihn in jeder Beziehung ein >pays imaginairetouristes< en Orient«, Romanische Forschungen Bd. 106/1994, S. 168-187, hier: S. 183. Brahimi, Theophile et Judith vont en Orient, S. 71.
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Le Roman de la momie: Ägyptische Kunst und Kultur
dabei sind, in die Jahrtausende alten Geheimnisse einzudringen; der Traum, eines Tages dorthin zu reisen, hatte sich jedoch noch nicht erfüllt. Das bedeutet, es geht hier nicht um eine Reisebeschreibung oder einen dokumentarischen Bericht. Thema, oder besser gesagt, Aufhänger ist das Pentateuch-Buch Exodus über den Auszug Israels aus Ägypten, sowie - was die Liebeshändel anbelangt — dessen Bearbeitung durch Rossini (bzw. dessen Librettisten Andrea Leone Tottola) in der Oper Mose in Egino (1818). Gleichwohl hat er sich für die faktischen Hintergründe seines Textes umfassend und gründlich informiert, was bereits akribisch erforscht wurde. 11 Seine bekannteste Quelle ist die Histoire des usages funebres et des sepultures despeuples anciens (1856) von Ernest Feydeau (dem der Roman gewidmet ist), aber auch solche ägyptologischen >Autoritäten< wie Champollions Lettres ecrites de lEgypte (1828-1829), G. A. Hoskins' Travels in Ethiopia (1835), Prisse dAvennes' Monuments egyptiens (1847) sowie J. G. Wilkinson Manners and Customs of the Ancient Egyptians (1854) und einige mehr. 12 Bis in kleinste positivistische Details konnte nachgewiesen werden, dass Gautier sich bei seinen Beschreibungen des Roman de la momie inhaltlich strengstens an seine Modelle hielt. Hier hat er seine dichterische Phantasie bezähmt, nichts dazu erfunden und offensichtlich auch immer wieder direkt bei Ernest Feydeau um die Korrektheit von Details nachgefragt.1-1 Es ist in der Gautier-Kritik schon fast zu einem Gemeinplatz geworden, den Text deshalb in die Nähe des historischen Romans ä la Walter Scott zu rücken. 14 Allerdings spricht einiges, ja sogar vieles gegen eine solche Einschätzung: Für einen historischen Roman ist die Handlung (eine wenig spektakuläre Kette unerwiderter Liebesgefuhle) zu dünn, die Charaktere sind zu flach, die Entwicklung in Raum und Zeit zu wenig ausgeprägt. Der Schwerpunkt liegt offenbar anderswo, und ich denke, schon der Titel gibt einen Hinweis. Hier wird der Text expressis verbis als Roman der Mumie apostrophiert. In der Binnengeschichte der Mumie Tahoser wird demnach gar nicht der reale Orient verhandelt, wie etwa im Prologue (für wie >real< man auch immer dieses >zeitgenössische< Ägypten halten mag), sondern ein vollständig künstliches (in jedem Wortsinn) Konstrukt, ein Produkt künstlerischer Imagination. Dieser >Kunstgeschaute< — Kunst und Kultur Ägyptens seinen eigenen Überlegungen zum l'art pour l'art entgegen? Aus diesem Grund sei hier auch zunächst der Versuch unternommen, die wichtigsten Elemente von Gautiers eigentlich wenig kohärenter Kunsttheorie zusammenzustellen. Bereits im Vorwort zu Albertus hatte Gautier eine recht extreme Position bezogen: »L'art c'est la liberte, le luxe, l'efflorescence, c'est l'epanouissement de Fame dans l'oisivete. — La peinture, la sculpture, la musique ne servent absolument ä rien.« 16 Bekannter ist indes die generelle Kritik des angry young man im Vorwort von Mile de Maupin (1834) gegen alle Versuche, Kunst zu instrumentalisieren und sie zu moralischen, pädagogischen, progressiven Zwecken zu missbrauchen. Einige der bekanntesten (und häufig wohl auch zu simplifizierend interpretiert) Sätze aus diesem Vorwort möchte ich schnell ins Gedächtnis rufen: »Rien de ce qui est beau η'est indispensable ä la vie.« beginnt die relevante Tirade, ein Argument, dem Blumen, die Schönheit der Frauen und die Musik als Exemplifizierung dienen. Dann fährt Gautier fort: II n'y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir ä rien; tout ce qui est utile est laid, car c'est l'expression de quelque besoin, et ceux de l'homme sont ignobles et degoütants, comme sa pauvre et infirme nature. — L'endroit le plus utile d'une maison, ce sont les latrines. 17
Schönheit hat keinen weiteren Nutzen oder Zweck als den ästhetischen Genuss, den sie auslöst; sie ist also nicht sinnlos oder Selbstzweck. In dieser Formel des >letzten Sinns< der Kunst spielt der Begriff l'art pour l'art keine Rolle, wie er übrigens auch in der Preface von Mile de Maupin nicht auftaucht. Als Terminus stammt er vielmehr von Benjamin Constant, der ihn am 11. Februar 1804 in
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Zitierte Ausgabe: Theophile Gautier, Le Roman de lamomie, Paris, Gallimard, 1986, S. 70. Die Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Vorwort zu Albertus in: Theophile Gautier, Poesies completes, hrsg. von Rene lasinski, 3 Bde., Paris, Nizet, 1970, Bd. 1, S. 82. Gautier, Mademoiselle de Maupin, Paris, Garnier-Flammarion, 1966, S. 45.
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seinen Journaux intimes gebrauchte 18 und dort eigentlich eine über die Rezeption durch Mme de Stael und ihrem Kreis sehr verflachte und vielfältig missverstandene These aus Kants Ästhetik 19 von der Autonomie der Kunst überdachte —20 ein Schlagwort, das Gautier übrigens 1856 als Direktor des L'Artiste aufnimmt: »Quant ä nos principes, [...] ils sont suffisamment connus: nous croyons ä l'autonomie de ΓArt; l'Art pour nous η'est pas le moyen, mais le but.« 21 An diese provokatorischen Ansichten anschließend stellt sich aber nun die Frage, was es bedeutet, wenn Kunst das Ziel ist, wie sie entsteht und wie sie sodann zu goutieren ist. Und mit dieser Frage hat Gautier sich nicht besonders systematisch, aber immer wieder auseinander gesetzt, zunächst in seinen Salonbesprechungen von Gemälden, wobei ihm mehrfach Delacroix als ideales Vorbild diente. Als Grundlage für jedes künstlerische Schaffen gilt Gautier eine Art persönlicher microcosme, der eine in sich geschlossene, subjektive Welt der Imagination bezeichnet. 22 Für den Künstler geht es nicht um eine mimetische Abbildung oder gar Widerspiegelung von Wirklichkeit. Letztere dient nur gewissermaßen als Ausgangspunkt, von dem aus sich der Künstler eine den eigenen Vorstellungen entspringende Welt erschafft, aus der das Kunstwerk hervorgeht. Jeder Künstler »existe, il vit par lui-meme, en un mot, il porte en lui le microcosme.« 23 Der individuelle künstlerische Mikrokosmos ist nicht nur ein Ort der Träume, Gefühle und Ideen, die durch äußere Anregungen entstehen, er ist außerdem der Ursprung für Form und Inhalt des zu erschaffenden Kunstwerks. 24 Wie es ausgehend von diesen Prämissen zum künstlerischen Akt< kommt, erklärt sich Gautier so, dass Irrationales durch das künstlerische Genie, d.h. durch seine Intuition und seine in sich kohärenten Überzeugungen im Kunstwerk rationalisiert wird; ein Vorgang, den er »creation interieure< nennt. Der Künstler muss in der Lage sein, für andere unsichtbare Verbindungen zu erkennen und sie gemäß seinen eigenen
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Vgl. Norbert Kohl, »L'art pour l'art in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Bd. 8/1978, S. 159-174, hier: S. 159. »Gautier's and Banville's theories distorted the inheritance of the German Romantic Philosophers« heißt es bei Marcel Fran^on, »Romanticism and Art for Art's Sake«, Francia Bd. 14/1975, S. 3 5 - 4 1 , hier: S. 40. Vgl. Eckhard Heftrich, »Was heißt l'art pour l'art?«, in: Roger Bauer/E. H. (Hrsg.), Fin de siecle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M., Klostermann, 1977, S. 16-29, hier: S. 23. L'Artiste vom 14.12.1856; zitiert bei Bettina Cenerelli, Dichtung und Kunst. Die transposition d'art bei Theophile Gautier, Stuttgart, Metzler, 2000, S. 150. Vgl. Cenerelli, Dichtung und Kunst, S. 56. Gautier, Critique d'Art. Extrait des Salons (1833—1872), hrsg. von Marie-Helene Girard, (Critique d'Art), Paris, Seguier, 1994, S. 165 (das Zitat stammt aus dem Jahr 1841). Vgl. dazu Cenerelli, Dichtung und Kunst, S. 56. Vgl. Cenerelli, Dichtung und Kunst, S. 64.
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Ideen und Vorstellungen zu assimilieren. 25 Die sichtbare, uns umgebende Realität ist für den Künstler ein Instrument, dessen er sich bedienen muss. Vorzustellen hat man sich das wie eine Art Lexikon, ein Wörterbuch, das dem Künstler konventionelle Zeichen liefert. Die äußere Welt ist nichts als »ein Trümmerhaufen eines auseinandergebrochenen Kosmos.« 26 Le peintre ne copie pas, son art η est pas un art d'imitation, au contraire, il »porte son tableau en lui-meme«, et les signes qu'il prend ä la nature, il les »transforme« [...] L'idee de la transformation vient sans doute du >faire< obligatoire, lorsqu'on travaille avec des formes et des couleurs. 27
Es ist auch gar nicht nötig, sklavisch die Wirklichkeit zu kopieren, denn einerseits sieht der wahre Künstler sein Werk ohnehin schon vorab vor seinem inneren Auge (>ceil de l'espritZweckfreiheit< bzw. Suche nach Schönheit betrieben, erleidet ja notgedrungen einen gewissen Praxisverlust. Sie kann und will — darauf ist des Öfteren hingewiesen worden —35 keine Antworten auf aktuelle Bedürfnisse geben, was gerade bei Gautier häufig eine Hinwendung zu vergangenen Epochen nach sich zieht. Dabei steht allerdings
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Gautier, »Guide de l'amateur au musee du Louvre, suivie de la vie et les oeuvres de quelques peintres«, i n : T h . G., CEuvres completes, 11 Bde., Paris, Charpentier, 1877—1894; Nachdruck: Geneve, Slatkine, 1978, S. 1—130, hier: S. 320f. (Vgl. auch Cenerelli, Dichtung und Kunst, S. 153). Lund, »Contes pour l'art«, S. 241. Juilliard, Imaginaire et Orient, S. 83. So im Artikel »Varietes« aus dem Monteur universelwom 20.7.1859; abgedruckt in: Th. G., Exposition de 1859, hrsg. von Wolfgang Drost und Ulrike Henninges, (Reihe Siegen Editionen. 5), Heidelberg, Winter, 1992, S. 140. Vgl. Cenerelli, Dichtung und Kunst, S. 170. Jacques Gaucheron, »Ombres et lueur de l'art pour l'art«, Europe Bd. 57/1979, S. 7 4 - 8 3 , hier: S. 80. »La politique, c'est l'histoire. Que l'art se consacre a l'eternel.« Und Henri Zalis, »L'intrusion de l'art plastique dans la vision de Gautier sur l'histoire«, in: Theophile Gautier. L'Art et l'Artiste. Actes du Colloque International, hrsg. von der Societe Theophile Gautier, 2 Bde., Montpellier, Universite Paul Valery, 1982, Bd. 2, S. 3 8 1 - 3 8 8 , hier: S. 386.
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Martin Neumann dann deren historische Bedeutung überhaupt nicht zur Debatte; die behandelte Epoche wird vielmehr aus allen Kontexten herausgelöst und ganz punktuell traktiert; sein Ägypten ist nicht an Historie interessiert. Der Roman de la momie spielt zunächst um ca. 1500 vor Christus (S. 73). 3 6 Es ist dies die Zeit des so genannten Neuen Reiches ( 1 5 5 0 - 1 0 7 0 v. Chr. umfasst es die 18. bis 20. Dynastie). In dieser Epoche steigt Ägypten zur Weltmacht auf und erreicht seine größte Ausdehnung; dies ist der Status quo - weder wie es dazu kam noch wie die Geschichte weitergeht ist im Roman von Belang. Es ist die Zeit Tutenchamuns, des Ketzerkönigs Echnaton- 17 und des großen Ramses II. Der Kunststil bevorzugt Monumentalbauten. Karnak und Luxor werden entsprechend erweitert bzw. ausgebaut, Abu Simbel entsteht, die Königsgräber im Tal der Könige werden immer prächtiger angelegt. Gautier weiß dies offenbar, lässt er doch seinen Erzähler an einer Stelle im Prologue sagen: »Toutes les peintures, par le style du dessin, la hardiesse du trait, l'eclat de la couleur, denotaient de la fa^on la plus evidente, pour un ceil exerce, la plus belle periode de l'art egyptien.« (S. 83). Die zeitliche Koinzidenz zwischen der israelitischen Gefangenschaft in Ägypten und einem Höhepunkt ägyptischer Kunstentwicklung erweist sich für Gautiers Zwecke als ideal. 38 So kann er recht präzise die Kunstformen einer Epoche präsentieren, ohne sich von der historischen Realität< - natürlich im weitesten Sinn - zu entfernen. »L'Orient est la mesure de son imaginaire.«- 59 Gleichzeitig kann er aber auch die Sinnenfreude, das Vergnügen an Farbigkeit und Formen, an Düften, an Pracht und Herrlichkeit einer nach außen gerichteten, repräsentativen Kultur zum Ausdruck bringen. Die zeitliche Entfernung rechtfertigt gewissermaßen jegliche Kühnheit der Imagination, erklärt Unterschiede oder ungewohnte Erscheinungsformen und erlaubt es, originell zu sein, ohne die Realität dabei zu sehr aus den Augen zu verlieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Beschreibung des >gynecee< des Pharaos, aus der ich kurz einen Aspekt der Wanddekoration zu Demonstrationszwecken herausgreifen will: D'autres panneaux representaient des musiciennes et des danseuses, des femmes au bain, inondees d'essence et massees par des esclaves, avec une elegance de poses, une suavite juvenile de formes et une purete de trait qu'aucun art n'a depassees. Des dessins d'ornementation d'un goüt riche et complique, d'une execution parfaite, oü se mariaient le vert, le rouge, le bleu, le jaune, le blanc, couvraient les espaces laisses vides. Dans des cartouches et des bandes allongees en steles se lisaient les titres du Pharaon et des inscriptions en son honneur. (S. 139)
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Was im Übrigen historisch, also die Anwesenheit des Volkes Israel in Ägypten betreffend, nicht ganz korrekt ist. Vgl. dazu lan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch Verlag, 1998, bes. S. 4 7 - 5 4 . Die Historiker nehmen aufgrund der so genannten Israel-Stele, die das einzige Zeugnis der Anwesenheit der Israeliten in Ägypten ist, an, dass der biblische Exodus wohl unter Ramses II. oder seinem Nachfolger Merenptah stattgefunden haben muss. luillard, Imaginaire et Orient, S. 88.
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Le Roman de la momie: Ägyptische
Kumt und
Kultur
Ägypten ist aber nun auch ein fremdes Land im Sinne eines exotischen Orientalismus. Dies ermöglicht es Gautier, sich ganz auf die von ihm bevorzugten Aspekte zu konzentrieren und dadurch bestimmte ästhetische Effekte zu erzielen. Exotismus etwa ist ihm ein probates Mittel, sowohl der Originalität, der Ausschmückung, der Fremdheit, dem Pittoresken zu huldigen als auch dem Bemühen nach Exaktheit und Wahrheit zu frönen, was ja beides hier gefordert ist. 40 Hier kann er sich ausgiebig mit einer untergegangenen Hochkultur befassen, die er für weit über der eigenen stehend hält. Lord Evandale darf wohl als sein Sprachrohr gelten, wenn er im Vorwort sagt: »Peut-etre [...] notre civilisation, que nous croyons culminante, n'est-elle qu'une decadence profonde, n'ayant plus meme le souvenir historique des gigantesques societes disparues.« Und Rumphius bemerkt kurz später: »Les Egyptiens [...] etaient de prodigieux architectes, d'etonnants artistes, de profonds savants.« (S. 86). Richer meint gar, dass es auch eine ganz spezifische Affinität gab zwischen dem Temperament Gautiers und bestimmten Aspekten des Lebens im Niltal vor 3500 Jahren, nämlich »le cote esthetique de la vie de l'ancienne Thebes, telle qu'il la concevait d'apres les monuments.« 4 1 Als Tahoser das erste M a l auftritt, wird etwa ihre Kleidung folgendermaßen beschrieben: Un large pectoral compose de plusieurs rangs d'emaux, de perles d'or, de grains de cornaline, de poissons et de lezards en or estampe couvrait la poitrine de la base du col ä la naissance de la gorge, qui transparaissait rose et blanche ä travers la trame aerienne de la calasiris. La robe, quadrillee de larges carreaux, se nouait sous le sein au moyen d'une ceinture ä bouts flottants, et se terminait par une large bordure ä raies transversales garnie de franges. [...] et ses beaux pieds etroits [...] chausses de tatbebs en cuir blanc gaufres de dessins d'or, reposaient sur un tabouret de cedre incruste d'emaux verts et rouges. (S. 103)
Die Kombination von Begriffen antik-ägyptischer Bekleidung, die dem Leser unbekannt sind (»pectoral«, »calasiris«, »tatbebs«), mit der detailreichen, prachtvoll-farbigen Ausschmückung erfüllt recht präzise den Zweck, Exotik mit historischer Exaktheit zu kombinieren. Die ägyptische Kultur als Ausgangspunkt für seinen künstlerischen Schöpfungsprozess zu nehmen, hat für Gautier aber noch weitere Vorteile, denn hier kann er seine konventionellen Zeichen, die ja jedem Künstler als Basis für sein Schaffen zur Verfügung stehen, gar nicht erst in der Natur suchen, sondern gleich in der Kunst. Denn vom wirklichen Leben im alten Ägypten erfahren wir im Roman de la momie wenig. Das >normale Volk< kommt nicht vor und wenn es an zwei, drei Stellen angesprochen wird, dient es dazu, die Pracht und Großartigkeit der Attribute der herrschenden Klassen hervorzuheben, z.B. als Tahoser inmitten einer großen Menschenmenge mit ihrem eigenen Boot den Nil überquert, dessen »force superieure« sich durch die kleineren und einfacheren »embarcations«
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41
Vgl. Albert Cassagne, La theorie de l'art pour l'art en France, Paris, Hachette & Cie., 1906; Nachdruck: Geneve, Slatkine, 1997, S. 373. Richer, Etudes et recherches, S. 105.
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einen mühe- und vor allem rücksichtslosen Weg bahnt (vgl. S. 116f£). Und was die Handlung betrifft, die dem Roman eine minimale Spannung verleiht, nämlich die unglückliche Liebesgeschichte zwischen der Ägypterin Tahoser und dem Israeliten Poeri, so wissen wir als Literaturwissenschaftler, dass unglückliche Liebesgeschichten seit dem Gilgamesch-Epos immer mehr oder weniger gleich ablaufen; auch das hat nichts mit dem Alltagsleben im alten Ägypten zu tun. Worüber der Leser etwas erfährt, ist die Kunst, Kultur, die künstlerischen Aspekte der Vorstellungswelt des Neuen Reiches, die Gautier sich angeeignet hat. Die Welt, in die er so eintaucht, ist eine Art imaginäres Museum, das mit Bildern, Menschen und Bauwerken aus einer vergangenen Epoche bevölkert ist und dessen Ordnungskriterium die Idee der Schönheit ist. 42 Im antiken Ägypten findet er eine Zivilisation, »qui accordait aux formes et aux apparences une importance telle quelle s'efforgait d'assurer leur perennite.« 4 3 Im zeitgenössischen Ägypten finden sich noch immer die monumentalen Kunstzeugnisse wie Obelisken, Paläste, Gräber, Pyramiden, die Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert haben, gerade so wie er es sich von wahrer >Kunst< verspricht. Ganz in diesem Sinne dekretiert der Erzähler an einer Stelle im Vorwort: »L'Egypte ne peut rien faire que d'eternel.« (S. 62) 4 4 Und immer wieder, vor allem wenn Bauwerke beschrieben werden, wiederholt sich dieser Aspekt, z.B. zu Beginn der Beschreibung des Pharaonenpalastes: Dans la transparence bleuätre de la nuit, {'immense edifice prenait des proportions encore plus colossales et decoupait ses angles enormes sur le fond violet de la chaine lybique avec une vigueur effrayante et sombre. L'idee d'une puissance absolue s'attachait ä ces masses inebranlables, sur lesquelles l'eternite semblait devoir glisser comme une goutte d'eau sur un marbre. (S. 137; Hervorhebungen von mir.)
W i e bereits erwähnt, ging Gautier bei seinen Schilderungen altägyptischer Wirklichkeit von sorgfältig recherchierten Fakten aus, aber es dürfte anhand der Beispiele auch schon offensichtlich geworden sein, dass das Besondere dabei ist, wie er damit umgeht. Denn eines wird schnell klar, der Text strotzt nur so vor Beschreibungen, die in dieser Massiertheit auch nicht immer leicht verdaulich sind. Der Roman beginnt etwa mit der Schilderung des Ortes der Handlung, also Theben. W i e ein Photograph, der zuerst mit einem Weitwinkelobjektiv die Szenerie betrachtet, geht Gautier aus von der gesamten Stadt, zoomt sodann nach und nach auf das Haus Tahosers (zunächst von außen), verweilt ausführlich bei den Außenanlagen, betritt es schließlich, k o m m t auf die >chambre< Tahosers
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Vgl. Natalie David-Weill, Reve de pierre. La Quete de la femme chez Theophile Gautier, Geneve, Droz, 1989, S. 17: »Theophile Gautier promene avec lui une sorte de >musee imaginaire< qui rassemble ses admirations et ses modeles en lui fournissant un cadre de vie ideal, oü regne seule la Beaute. L'art et le monde reel se trouvent meles, emmeles.« Richer, Etudes et recherches, S. 105. Vgl. auch das Gedicht L'Art aus den Emaitx et Camees.
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zu und fokussiert endlich im Detail alle Einrichtungsgegenstände des Zimmers (»lit«, »table«, »fauteuil«), bevor er zur Person Tahosers selber übergeht. Diese Beschreibung ist in der Taschenbuchausgabe sieben Seiten lang, die Schilderung Tahosers, ihres Äußeren, ihrer Kleidung, ihres Ambiente nur unwesentlich weniger. Erst mit dem letzten Satz — Tahoser beklagt sich in direkter Rede, dass sie sehr unglücklich sei - des damit endenden ersten Kapitels wird die (Liebes-) Handlung in Gang gesetzt. Diese Technik setzt sich auch in den weiteren Kapiteln fort. Es verwundert also nicht, dass schon von einer Hypertrophie der Beschreibungen im Roman de la momie die Rede war, 45 man denke etwa an die Schilderung des Einzugs des siegreichen Pharaos mit seiner gesamten Streitmacht nach Theben in Kapitel III. Aber die zahlreichen Beschreibungen von Personen, Landschaften, Bauwerken, Kunstwerken, Dekorationen, Licht- und Schattenspielen haben nichts von einem akribisch wissenschaftlichen Dilettantismus; »il [Gautier] tente de representer le visuel«, 46 d.h. sie dienen dem präzisen Zweck, das Beschriebene sinnfällig zu machen - Baudelaire z.B. war gerade von diesem Aspekt von Gautiers handwerklichem Können begeistert. Tous ces elements [der ägyptischen Kunst, die er aus Büchern und Zeichnungen kannte] il les a transposes, metamorphoses, soumis ä la verite de l'art, qui ne correspond pas necessairement ä la verite de la nature. [...] il atteint ä cette »seconde realite« qui est celle de la poesie.
So wird Baudelaire von Terrier paraphrasiert. 47 Dabei kommt der Schriftsteller Gautier der Perspektive oder der Sehweise eines Malers sehr nahe (was ja auch in seiner persönlichen Karriere begründet ist) und Sainte-Beuve hat seine Technik tatsächlich auch als »peinture ecrite« 48 bezeichnet. Allerdings handelt es sich dabei um eine Beschreibung, die auf der Oberfläche verharrt, sich mit Äußerlichkeiten begnügt und wenig in die Tiefe geht. Unter Hinweis auf den Journal der Goncourt stammt ein Satz, den Gautier diesbezüglich gesagt haben soll: »L'homme m'est parfaitement egal. Dans les drames, quand le pere frotte sa fille retrouvee contre les boutons de son gilet, ga m'est absolument indifferent; je ne vois que les plis de la robe de la fille.«49 Dass Beschreibungen trotzdem eine so wichtige Rolle spielen, hat ausschließlich etwas damit zu tun, dass durch sie die von Baudelaire angesprochene >zweite Realitätnaturbelassenen< U m g e b u n g herrscht der künstliche u n d künstlerische Einfluss des M e n s c h e n : Die Weinreben sind so angebaut u n d verflochten, dass m a n in ihrem Schatten lustwandeln kann, die Teiche sind streng geometrisch angelegt, Obst- und Ziergärten sowie Felder sind sauber voneinander geschieden, der Herr des Hauses k a n n sich sogar d e m Vergnügen des Fischfangs i m Nil hingeben, in einem Bassin, das künstlich v o m Nil abgezweigt wurde. U n d natürlich ist die Anlage so konzipiert, dass sich das Auge den ganzen Tag lang an den Licht- u n d Schattenspielen, die durch die sorgfältige Pflege aller Bestandteile (den Bäumen gibt man »une forme ronde ou ellipso'ide« [S. 156]) erreicht wird, erfreuen kann. A u c h in der Natur w i r d nichts d e m Zufall überlassen; es herrscht das Bedürfnis, Naturschönheit durch Kunstschönheit zu vervollkommnen. Das gilt i m Grunde bis zu einem gewissen Grad sogar für Menschen. Tahoser >sieht< der Leser zunächst als M u m i e , also wieder künstlich u n d kunstvoll prä-
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Hartmann, Three 19th Century Artists and the Maghreb, S. 19. Vgl. dazu Juilliard, Imaginaire et Orient, S. 87.
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pariert. Diese weibliche M u m i e ist von außergewöhnlicher Schönheit — wobei Gautier sich in diesem Punkt nun ganz entschieden von der Realität von Mumien aus der Zeit des Neuen Reiches entfernt, wohl wissend, » [ q u ] ordinairement, les momies penetrees de bitume et de natrum ressemblent ä des noires simulacres tallies dans Γ ebene.« (S. 89f.) Als Tahosers Leichnam von den Mumienbinden befreit wird, zeigt er sich in makelloser Schönheit: [...] dans la chaste nudite de ses belles formes, gardant, malgre tant de siecles ecoules, toute la rondeur de ses contours, toute la grace souple de ses lignes pures. [...] L'une de ses mains voilait ä demi sa gorge virginale, l'autre cachait des beautes mysterieuses, comme si la pudeur de la morte n'eüt pas ete rassuree suffisamment par les ombres protectrices du sepulcre. (S. 88f.)
U m diesen leblosen Körper zu beschreiben, fährt Gautier einen immensen Kunstkatalog auf: »Sa pose [ . . . ] etait celle de la Venus de Medicis [...]«, »Jamais statue grecque ou romaine n'offrit un galbe plus elegant [...]« (S. 89), sie besitzt die Grazilität eines Kindes und die körperliche Perfektion einer Frau und ihre Haut hat einen Teint »qu'on admire dans les peintures de Giorgione ou duTitien« (S. 90). Der Eindruck, den sie bei Lord Evandale hinterlässt, ist derjenige »qu'inspire souvent la vue d'un marbre ou d'un tableau representant une femme du temps passe, celebre par ses charmes« (S. 92). Aber natürlich war sie auch schon zu ihren Lebzeiten von allergrößter Schönheit. Schon im Vorwort wird sie bezeichnet als »le plus pure type de l'ideal egyptien« (S. 82), das auch in allen Einzelheiten ausgeführt sowie im Roman selber noch einmal ausführlichst geschildert wird. Auch hier beginnt die Beschreibung ihrer Person mit den Worten, es handle sich um eine »jeune femme ou plutot une jeune fille d'une merveilleuse beaute« (S. 191), wobei erneut auf das ägyptische Schönheitsideal angespielt wird. Denn: Es gibt auch ein jüdisches Ideal, verkörpert von Ra'hel, die ebenfalls »merveilleusement belle« (S. 195) ist: »Ra'hel etait l'ideal Israelite comme Tahoser etait l'ideal egyptien.« (S. 2 1 1 ) werden die beiden an einer Stelle gleichberechtigt nebeneinander gestellt. C'etait un groupe charmant que celui forme par ces deux femmes de races differentes dont elles resumaient la beaute. Tahoser, elegante, gracieuse et fine comme une enfant grandie trop vite; Ra'hel forte et süperbe dans sa maturite precoce. (S. 222)
Und auf dieser Ebene verstehen sich die beiden auch und schließen einander sofort ins Herz. Belle und belle verstehen sich eben, könnte man überspitzt formulieren, aber letztlich geht es darum, dass die äußere Schönheit ein Abglanz innerer Schönheit ist, was durch Ra'hels hässliche Dienerin Thamar, die ihren niedrigen Instinkten gehorcht, postwendend bestätigt wird. In dieser Idealisierung, ja Vergötterung weiblicher Schönheit (beinahe ausnahmslos alle Frauen des Romans, Tahosers Gefolge, die Frauen des Pharaos im gynecee sind alle von geradezu unglaublicher Schönheit) versteigt sich Gautier sogar dazu, die schönen (!) jungen Frauen, die der Pharao gerade von seinem Kriegszug als zukünftige Sklavinnen mitgebracht hat, folgendermaßen zu beschreiben: 145
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Elles souriaient cependant ä travers leurs larmes, car le pouvoir de la beaute est sans bornes, l'etrangete fait naitre le caprice, et peut-etre la faveur royale attendait-elle une de ces captives barbares dans les profondeurs secretes du gynecee. (S. 128)
Aber nicht nur die Frauen sind schön, auch die Männer; und wie jene auch diese in gewissen Abstufungen. Ahmosis, ein Offizier des Pharao, der Tahoser liebt, ist charmant: »[...] son profil ressemblait aux images des dieux taillees par les plus habiles sculpteurs; ses traits fiers, reguliere egalaient en beaute ceux d'une femme.« (S. 112) Poeri, der Israelit, den Tahoser liebt, ist »un beau jeune komme« (S. 122) mit blauen Augen, langen Wimpern sowie vollen roten Lippen (vgl. S. 167ff.) und der Pharao ist schließlich von einer beaute surhumaine: »Ses traits grands, purs, reguliere semblaient l'ouvrage du ciseau, et Fon n'eüt pu y reprendre la moindre imperfection.« (S. 234f.) Kurzum, die Protagonisten, die den Roman de la momie bevölkern, zeichnen sich alle durch größtmögliche Schönheit aus, die größtenteils expressis verbis von Künstlern, Malern oder Bildhauern gemacht sein könnte. Auch bei den Menschen geht es also zu keinem Zeitpunkt um eine wie auch immer geartete >realistische< Beschreibung, sondern darum, Schönheit, an der sich der Leser qua Schönheit ergötzen kann, zu evozieren, vor Augen zu führen. Neben diesen formalen Aspekten, die sich auf den Inhalt des Romans bezogen, gibt es aber noch einen letzten Punkt, der den Text auf einer nunmehr rein formalen Ebene als >Sprachkunstwerk< ausweist, was letztlich ebenfalls zu dieser Überhöhung des Roman de la momie in eine Kunst-Welt beiträgt. Es ist die Tatsache, dass Gautier sowohl formal als auch inhaltlich einen Text zweiter bzw. sogar dritter Ordnung geschaffen hat. Rein formal gesehen ist der von Gautier vorgelegte Text — das erfährt der Leser am Ende des Prologs — die französische Ubersetzung einer lateinischen Version der Geschichte, die Rumphius angefertigt hat, der seinerseits die in ägyptischen Hieroglyphen verfasste Geschichte Tahosers entziffert hat (vgl. S. 94). Die vorliegende Version befindet sich sozusagen auf einer Meta-Meta-Ebene. Und auch inhaltlich geht Gautier nicht von einer historisch beglaubigten Realität aus, sondern, indem Teile des Romans als eine reecriture der Exodus-Geschichte angelegt sind, von einem künstlerisch gestalteten Text, der über den Auszug aus Ägypten geschrieben wurde; und seine Aufgabe als Schriftsteller sieht er darin, den biblischen Text, der bekanntlich, was seine Stilistik betrifft, ganz bestimmten (z.B. mnemotechnischen) Gesetzen gehorcht, so umzuformen, dass er seinen eigenen künstlerischen Ansprüchen gerecht wird. Wiederum ist eines der schönsten Beispiele, wie er mit der Vorlage umgeht, eine Beschreibung: Als Moses seinen Stab in eine Schlange verwandelt - ein Wunder, das die Weisen Ägyptens problemlos nachmachen können - gibt das dem Erzähler die Möglichkeit, in einem »etrange et horrible spectacle« sämtliche Schlangen seiner Phantasie lebendig werden zu lassen: Les Cannes se tordirent comme des branches de bois vert sur le feu; leurs extremites s'aplatirent en tetes, s'effilerent en queues ; les unes resterent lisses, les autres s'ecaillerent selon
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l'espece du serpent. Cela grouillait, cela rampait, cela sifflait, cela s'enla^ait et se nouait hideusement. II y avait des viperes portant la marque d'un fer de lance sur leur front ecrase, des cerastes aux protuberances mena^antes, des hydres verdätres et visqueuses, des aspics aux crochets mobiles, des trigonocephales jaunes, des orvets ou serpents de verre, des crotales au museau court, ä la robe noirätre, faisant sonner les osselets de leur queue; des amphisbenes marchant en avant et en arriere; des boas ouvrant leur large gueule capable d'engloutir le boeuf d'Apis; des serpents aux yeux entoures de disques comme ceux des hiboux: le pave de la salle en etait couvert. (S. 257)
Auch etwa die Verfolgung der fliehenden Israeliten durch den Pharao und seine Streitmacht wird genüsslich in bester Abenteuerromanmanier ausgebaut: Fast erreicht der Pharao noch das Volk Israel, bevor das Rote Meer wieder in sein altes Bett zurückflutet und — Delacroix hätte es nicht besser malen können — der Pharao schwimmt mit seinem Kampfwagen sogar noch einmal kurz auf und schleudert, schon im endgültigen Untergehen begriffen, einen letzten Speer in Richtung Volk Israel. 52 Kurzum, wir haben es hier, um Genette zu bemühen, mit einem Hypertext zu tun, der den ohnehin schon künstlerisch gestalteten alttestamentlichen Hypotext im Namen eines eigenen künstlerischen Ideals umschreibt. Ich fasse kurz zusammen. Trotz aller sicher nicht geheuchelter Orientbegeisterung, die Gautier verschiedentlich an den Tag gelegt hat, wird der Leser, der sich vom Roman de la momie eine Schilderung des Lebens im alten Ägypten im Sinne eines historischen Romans oder wenigstens eines Genrebildes erwartete, enttäuscht sein. Zur Not erfährt man etwas über das Leben der Reichen und Schönen. Diese flapsige Formulierung erweist sich als treffender, als es zunächst den Anschein hat, denn die Schönen bzw. die Schönheit sind vielmehr Programm. Der Roman de la momie benutzt die Kunst und Kultur des alten Ägyptens als einen Anlass, sich dem Kult der Schönheit hinzugeben. Die beaute ist es, der Gautier mit seinen zahllosen detaillierten Beschreibungen Ausdruck zu verleihen sucht. Sie ist das Wichtigste, was ihn an der Realität Ägyptens vor 3500 Jahren interessiert; und das auch nur äußerlich. Der Leser kommt sich beinahe vor wie der Besucher einer virtuellen dreidimensionalen Darstellung des alten Ägyptens, durch die man sich mit Hilfe des blinkenden Computercursors durchklicken kann. 5 3 Aber man kann nicht ins Innere sehen, alles bleibt auf der schönen, prächtigen Oberfläche.
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»Seul Pharaon, debout dans la conque de son char surnageant, lan^ait, ivre d'orgueil et de fureur, les dernieres Seches de son carquois aux Hebreux arrivant sur l'autre rive: les fleches epuisees, il prit sa javeline, et, dejä plus q u a moitie englouti, n'ayant plus que le bras hors de l'eau, il le darda, trait impuissant, contre le Dieu inconnu qu'il bravait encore du fond de 1'abime.« (S. 277). Im Brockhaus Multimedial 2001 kann man sich in der Tat durch eine Pyramide bewegen.
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Dagmar
Reichardt
Voir lOrient - Flauberts Tentation de Saint Antoine und das Phantastische als Intermedialitätsphänomen »C'est l'oeuvre de toute ma vie.« (Flaubert ä Mademoiselle Leroyer De Chantepie, 5 juin 1872) M i t M i c h e l Foucaults D e u t u n g des Phantastischen als B i b l i o t h e k s p h ä n o m e n in Flauberts Tentation de Saint Antoine^ ist ein Rezeptionsweg beschritten, der die W a h r n e h m u n g des P h a n t a s m a g o r i s c h e n als konstitutives Textelement dieses W e r k e s hervorhebt, das Flaubert sein Leben h i n d u r c h als ein ivork in progress f o r t g e s c h r i e b e n h a t (geschrieben: 1. Fassung: 1 2 . 9 . 1 8 4 9 ; 2 . Fassung: 1 8 5 6 ; 3. Fassung: 1 8 7 2 ) . 2 M i t der d r i t t e n u n d letzten, 1 8 7 4 erstmals p u b l i z i e r t e n Version m ö c h t e ich m i c h i m Folgenden vorrangig beschäftigen, 3 u m Flauberts K o n s t r u k t i o n des Orients, die er mit H i l f e phantastischer u n d intermedialer Techniken realisiert, transparent zu m a c h e n .
Le fantastique D i e Kernaussage von Foucaults 1 9 6 7 e n t s t a n d e n e m Essay über die Tentation
als
» B i b l i o t h e q u e fantastique« zielt a u f die Intertextualität von Flauberts W e r k ab: O h n e Zweifel, so m e i n t Foucault, sei die Tentation
das erste literarische W e r k , das
Michel Foucaults Essay »La Bibliotheque fantastique« erschien erstmals unter dem Titel »Un >fantastique< de bibliotheque« im März 1967 (Cahiers Renaud-Barrault Bd. 59/1967, S. 7—30) und fand dann Aufnahme in der Flaubert-Anthologie von Raymonde DebrayGenette (Michel Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, in: Raymonde Debray-Genette [Hrsg.], Flaubert, Paris, Didier, 1970 [ 1 1967], S. 171-190). Die Zitate im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe. Zur Rekonstruktion der Abdruckfolge des Essays vgl. die ausführlichen bibliographischen Angaben in Cornelia Klettke, Simulakrum Schrift. Untersuchungen zu einer Ästhetik der Simulation bei Valery, Pessoa, Borges, Klossowski, Tabucchi, Del Giudice, De Carlo, München, Fink, 2001, S. 330. Flaubert sagt selbst über die Tentation: »C'est l'oeuvre de toute ma vie.« (Brief an Mademoiselle Leroyer De Chantepie vom 05.06.1872, in: Gustave Flaubert, Correspondance, 4 Bde., hrsg. von Jean Bruneau, (Bibliotheque de la Pleiade. 244. 284. 374. 443), Paris, Gallimard; 1973-1998, Bd. 4, S. 531). Ein erster extensiver Vergleich der drei Fassungen liegt mit Alfred Pantkes 1936 verfasster Dissertation vor (Gustave Flauberts Tentation de Saint Antoine. Ein Vergleich der drei Fassungen, Leipzig, Vogel). 151
Dagmar
Reicbardt
einzig u n d allein »dans le seul espace des livres« 4 zu situieren sei. H i e r a u s leitet Foucault seinen Begriff v o m » B i b l i o t h e k s p h ä n o m e n « 5 ab, v o m » i m a g i n a i r e [...] entre les signes«, 6 von der Tentatioii als Protokoll eines freigesetzten T r a u m s u n d zwar als d e m » T r a u m der anderen B ü c h e r « . 7 W e n n Foucault von » d e m Phantastischen« (»le f a n t a s t i q u e « ) 8 spricht, w o r i n er g a n z zu Recht Flauberts Modernitätspotenzial gespiegelt sieht, 9 d a n n hat er keine strenge literaturwissenschaftliche T e r m i n o l o g i e vor A u g e n (wie e t w a die eines Tzvetan Todorov oder Roger C a i l l o i s ) . 1 0 Foucaults Phantastikbegriff bleibt deshalb vage. Er blickt zunächst auf das Phantastische i m S i n n e des Phantasievollen (»la fantaisie«), 1 1 des I m a g i n ä r e n u n d Visionären, w o b e i sein Interesse p r i m ä r den Schriften gilt, die Flaubert in über 2 0 - j ä h r i g e r Recherche für die Tentation auswertete. 1 2 Aber Foucault verweist auch auf die in Friedrich Creuzers
Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 171. Foucaults Aufsatz ist auf Deutsch der von Barbara und Robert Picht besorgten deutschsprachigen Ubersetzung von Flauberts Tentation als Nachwort in der Ubersetzung von Anneliese Botond angefügt (Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt a. M., Insel Verlag, 1996 ^ W Ö L S . 215-251, hier: S. 222), die u.a. auch in Foucault 1988 unter dem ursprünglichen Aufsatztitel »Un >fantastique< de bibliotheque« auf Deutsch abgedruckt ist (S. 157—177). Im Original heißt es: »C'est un phenomene de bibliotheque.« (Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 174). '' Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 174. 7 Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, S. 223. Im Französischen ist von der Tentation als »le reve des autres livres« die Rede (Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 175). 8 Foucault spricht sinngleich von »le fantastique« (»La Bibliotheque fantastique«, S. 174) und »la fantaisie« (S. 173). ' »A moins que peut-etre Flaubert n'ait fait lä Γ experience d'un fantastique singulierement moderne. C'est que le XIXe siecle a decouvert un espace d'imagination dont l'äge precedent n'avait sans doute pas soup^onne la puissance.« (Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 174). 10 Die Definition des phantastischen Parameters in literarischen Texten formierte sich gerade erst im Paris jener Jahre: Bei Roger Caillois' Essay »L'image fantastique« handelt es sich ursprünglich um das erste Kapitel seines Buchs Images, Images: essais sur le röle et les pouvoirs de l'imagination (Paris, Jose Corti, 1966), das auf seine erstmals 1958 vom Club Franijais du Livre gedruckte und 1966 von Gallimard übernommene zweibändige Anthologie du fantastique, 2 Bde., Paris, Gallimard, 1977 ί 1 1958) gefolgt war (deren erster Band Caillois' Vorwort »De la feerie ä la science-fiction« enthält, in dem der Autor bereits nach einer Definition des Phantastischen sucht). Tzvetan Todorovs Introduction α la litterature fantastique, Paris, Seuil, 1970 legte eine erste systematische und literaturwissenschaftlich applikable Begriffsdefinition vor. Todorovs Anerkennung der phantastischen Literatur als einer eigenständigen Gattung zog eine Aufwertung der phantastischen Literatur sowie eine Reihe weiterer Studien (darunter Juli Kagarlizki, Was ist Phantastik? [1974], übers, von Reinhard Fischer, Berlin, Verlag Das Neue Berlin, 1979), nach sich. 11 Foucault, »La Bibliotheque fantastique«, S. 173. 12 Die Forschung hat sich mit der Verarbeitung der schriftlichen Quellen Flauberts insbesondere seit den 1940er Jahren und Jean Seznecs Erkenntnis, dass die phantastischen Details auf einem akribischen Quellenstudium von Flaubert basieren, wiederholt ausgiebig befasst; vgl. Jean Seznec, Nouvelles etudes sur La Tentation de Saint Antoine, London, The Warburg 4
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Flauberts Tentation de Saint Antoine und da! Phantastische
als
Intermedialitätsphänomen
Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen13 erschienenen Stiche und somit auf das Bildmedium, auf das Flaubert rekurriert, um Bilder heraufzubeschwören, die »völlig traumhaft zu sein scheinen« und die Foucault — unter dem Eindruck des Lissaboner Bosch-Gemäldes über Die Versuchungen des heiligoi Antonius, das er im November 1963 eigens für seinen Flaubert-Text aufgesucht hat - 1 4 in einer chiastisch umgekehrten Lektüre der von Creuzer zusammengestellten Abbildungen »Wort fur Wort, Zeile fur Zeile«15 Flauberts Text zuordnet. Mit seinem Hinweis auf das Mysterienspiel16 vom Heiligen Antonius, dessen Auffuhrungen Flaubert im Puppentheater von Eugene Legrain in Rouen beigewohnt haben soll, 17 und auf die »Theatralik«, 18 die die Tentation insbesondere
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Institute/University of London, 1949, insb. Kap. I und V). Seznec beruft sich u.a. auf eine bibliographische Auflistung von Flaubert selbst, die aus dem Jahr 1872 stammt (S. 61). Den gegenwärtigen Forschungsstand zu den Quellenstudien fasst Claudia Müller-Ebeling übersichtlich zusammen (Claudia Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >MikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposs S. 186).
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Flauberts Tentation de Saint Antoine und da! Phantastische als
Intermedialitätsphänomen
Stellung der Versuchung des heiligen Antonius«)'1*' und von einem Boschnachfolger stammt, »vermutlich aus dem Jan-Mandyn-Umkreis« (vgl. Abb. I). 27 Das Gleiche gilt für zwei weitere Toitation-Bilder, die sich in Flauberts Besitz befanden: Zunächst für den damals weit verbreiteten Stich von Jacques Callot aus dem Jahr 1635, der Flauberts Arbeitszimmer schmückte und in Flauberts Augen die ziel- und sinnlosen Machtkämpfe seiner eigenen Zeit illustrierte, die er in seinen Briefen vernichtend kommentiert hat. 28 Wie bei dem Gemälde aus Genua liegt der Akzent des Blattes auf der vielfältigen Weh der Erscheinungen, vor denen der Heilige in einer Grotte Zuflucht sucht. Callots dämonenspeiendes Ungeheuer verwandelt Flaubert in die fliegende und feuerspeiende Chimäre, deren Dialog mit der Sphinx das finale Defilee phantastischer Wesen im 7. Kapitel der definitiven Fassung einleitet (vgl. Abb. 2: Jacques Callot). Ein drittes dem Romanautor bekanntes Bildbeispiel ist der Stich von Nicolas Cochin, La Grande Tentation de Saint Antoine, entstanden um 1750. Sowohl Callot als auch Cochin zeigen geflügelte, bocksbeinige Mischwesen, die jedoch nicht als Motivanleihen zu betrachten sind: Wie Seznec nachgewiesen hat, 29 basieren Flauberts hybride Gestalten, in denen sich tierische Elemente mit menschlichen vereinen, vielmehr bis ins Detail auf schriftlichen Beschreibungen antiker Autoren sowie auf Creuzers Abbildungen zur Mythologie (vgl. Abb. 3: Nicolas Cochin). 30 Die genannten Bilder regten Flaubert in erster Linie zu weiterführender Lektüre an, 31 nicht zur Ekphrasis und nicht zu einer Adaption im Sinne des ut-pictura-poesis-Yostuhts, das ja - seit Lessings Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Differenz zwischen Wortkunst und Bildkunst aufgezeigt hatte - seine programmatische Gültigkeit ohnehin verloren hatte. Die unmittelbaren Implikationen des sogenannten >Breughel-Bildes< auf Flauberts Textgestaltung (oder auch die von Callot oder Cochin, um nur die Bilder zu nennen, von denen wir sicher wissen, dass Flaubert sie konsultiert hat) treten damit in den Hintergrund. Es war »das Thema an sich«, 32 das Flaubert interessierte, und die Eingebung, dass der Rekurs auf mittelalterlichen Mystizismus und den Bereich der Exempel- und Predigtliteratur ihm eine Tiefenstruktur eröffnen könnte, die die Transposition sowohl des Visionären als auch des Visuellen in eine künstlerische Sprache gewährleistete. Das Bild zeigte ihm dabei nur den oberflächlichen methodischen Ansatz, durch den das Vorhaben, unsichtbare
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Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >MikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposUnheimliche< gründenden phantastischen Parameter instrumentalisiert Flauberts >Poetik des SehensMikrobeneposPoetik des Sehens< benutze ich hier synonym zu den jeweiligen Begriffen Dante Alighieris und Walter Benjamins. Willi Hirdt verweist auf das Dante-Wort vom »visibile parlare« (das Hirdt mit Rekurs auf den Dantisten Giovanni Franciosi als Metapher versteht) in Dantes Divina Commedia (Purg. X, 95) (»Visibile parlare. Zur dichterischen Phantasie Dantes«, in: Lesen und Sehen. Aufsätze zu Literatur und Malerei in Italien und Frankreich. Festschrift zum 60. Geburtstag von Willi Hirdt, [Stauffenburg-Festschriften 6], hrsg. von Birgit Tappert und Willi Jung, Tübingen, Stauffenburg, 1998, S. 3-27, hier:
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Flauberts Tentation de Saint Antoine und da! Phantastische
als
Intermedialitätsphänomen
Unsichtbare ergo Fremde zu veranschaulichen u n d u m die Intermedialität i m W e r k zu generieren. W i e in der Abfolge freier Assoziationsketten erscheinen die figürlichen
G r u p p e n der einzelnen Versuchungen
des heiligen
Antonius
vor d e m
inneren A u g e des Lesers. 3 9 In W i r k l i c h k e i t weist jedenfalls die dritte Version der Tentation
eine stringente S e r i e n - S t r u k t u r auf, m i t deren H i l f e Flaubert i m Z u g e
der jahrzehntelangen Überarbeitungen seinen Stoff z u n e h m e n d k o m p r i m i e r t u n d stilisiert hat. Foucault hat diese einzelnen Reihen gruppiert u n d dargelegt, w i e sich m i t H i l f e von vier seriellen O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r e n - den kosmologischen Serien, den historischen Serien, den prophetischen u n d den theologischen Serien - die Ferne- u n d T i e f e n d i m e n s i o n der V e r s u c h u n g e n entfaltet. 4 0
Schema der Versuchungsserien in Flauberts Tentation nach Michel Foucault, »La Bibliotheque fantastique« —>
kosmologische Serien
historische Serien
prophetische Serien
theologische Serien
unendliche Reihung in die Ferne —>
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unendliche Reihung in die Tiefe
-l
S. 13). Den Begriff des »illustrativen Sehens« benutzt Walter Benjamin, um im PassagenWerk seinen Flaneur zu charakterisieren. Er notiert sich in diesem Zusammenhang, dass der Graphiker und Schriftsteller Alfred Kubin »als er die Andere Seite» verfasste, seine Träumerei als Text zu Bildern« geschrieben habe (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk [Edition Suhrkamp. 1200, Neue Folge Bd. 200], hrsg. von Rolf Tiedemann, 2 Bde., Frankfurt a. M„ Suhrkamp, 1983, Bd. 1, S. 528 [M 2,2]). Auf einer theoretischen Ebene vgl. zudem folgende Begriffsprägungen: Winfried Wehle spricht in Bezug auf Antonio Tabucchi von einer »Sehschule« (»Sehschule. Antonio Tabucchis Umkehrspiele«, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 144 vom 24.6.2000, S. V). Klettke analysiert das Konzept des »raccontare attraverso la pittura« anhand von Tabucchis Roman Requiem, in dem der piktorale Diskurs des Hieronymus Bosch den epischen Text hervorbringe, und bemerkt, dass dieses produktionsästhetische Schema »offensichtlich auf Foucaults Vorbild zurückzuführen« sei (Klettke, Simulakrum Schrift, S. 200, mit Anm. 202). Außerdem führt sie als Beispiel eines Simulakrums der Verhüllung das word-painting von Pessoa an (S. 298). Eine übersichtliche und präzise Inhaltsangabe der Tentation findet sich in Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >Mikrobeneposneue VersuchungAnderen< wie Edward Said in seinem >Partisanenbuchmodernen< Versuchung des Zweifels und der Wissenschaft (als klassischem Faust-Motiv) aus. Den Heiligen Antonius mit konkurrierenden Göttern und Glaubenssystemen zu verführen, bedeutet eine Uberwindung des bislang gültigen Stereotyps der Versuchung durch Sinnlichkeit^ die die ikonographische Tradition der AntoniusDarstellung bis dato dominiert (und auch die zeitgenössische weiterhin prägt). Hierdurch findet ein Paradigmenwechsel statt, ein Bruch mit der Ordnung der Repräsentation. Erst dieser Bruch, dieser Riss, diese rupture, bringt Flauberts von Aufklärung und Skeptizismus geprägten philosophischen Hintergrund, auf dessen Folie der Relativismus aller Religion zu lesen ist, diskursiv zum Ausdruck. Wir wissen, dass Flaubert formal eine Forschungsreise im Auftrag des französischen Landwirtschafts- und Handelsministeriums unternommen hatte, um seinen ebenfalls vom Ministerium entsandten Freund, den Photographen Maxime Du Camp, zu begleiten, der die gemeinsame Expedition mit seinen Aufnahmen dokumentierte. Und selbstverständlich lagen Flauberts Unternehmen auch Motive der Zerstreuung, Neugier, Sehnsucht, der Rebellion, des Eskapismus und des Exzesshaften zugrunde. 47 Doch was genau bedeutet der Orient summa summarum in der und für die Tentation?
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Ekkart Sauser, »Antonius Abbas«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hrsg. von Wolfgang Braunfels, 8 Bde., Rom/Freiburg/Basel/Wien, Herder, 1994 1968-1976), Bd. 5, Sp. 205-217, Sp. 205. Müller-Ebeling kommentiert, bei Flauberts synkretistischer Konstruktion des Anachronistischen handele es sich um ein »bislang unbeachtetes Moment« (Die Versuchung des heiligen Antonius als >MikrobeneposMikrobeneposMikrobenepos 60
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Said, Orientalism, S. 184. »At best, this produces a spectacular form, but it remains barred to the Westerner's full participation in it.« (Said, Orientalism, S.189). Vgl. Said, Orientalism, S. 186-187. Flaubert schrieb nicht einmal ihren türkischen Namen richtig (vgl. Andre Stoll, »Die Entführung des Eremiten in die Wüste«, S. 328). Die erste Konkretisierung dieser wissenschaftlichen Aneignung, die Said meint, ist die im Auftrag von Napoleon Bonaparte seitens Vivant Denon und seiner Mitarbeiter erstellte Publikation Description de l'Egypte, die zwischen 1809 und 1822 in Form von 36 illustrierten Bänden erschien. An Napoleons Ausspruch »Soldaten, von diesen Pyramiden schauen 40 Jahrhunderte auf Euch herab...« verdichtet sich das Ergebnis seines Ägyptenfeldzuges als »militärisches und politisches Desaster«, aber auch als »Geburtsstunde der Ägyptologie« (alle Zitate: Description de l'Egypte ou Recueil des Observations et des Recherches qui ont ete faites en Egypte pendant l'Expedition de ΓArmee Fran£aise, publie par les Ordres de sa Majeste l'Empereur Napoleon Le Grand, Paris, Imprimerie Imperiale, Paris 1809—1822; Nachdruck: Köln, Taschen, 2002 [ x 1995]). Vgl. Said, Orientalism, S. 199. Dabei bezieht sich Said auf die Rede des Antonius zu Beginn des 5. Kapitels der Tentation von 1874. »Its force [of a literary text] is in the power and vitality of words that, to mix in Flaubert's metaphor from La Tentation de Saint Antoine, tip the idols out of the Orientalists' arms and make them drop those great paralytic children — which are their ideas of the Orient - that attempt to pass for the Orient« (Said, Orientalism, S. 291). »[...] especially in an oriental work like La Tentation de Saint Antoine« (Said, Orientalism, S. 188).
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Dagmar
Reicbardt
Weder bewusst noch unbewusst kann Flaubert sich an der verführerischen Degradierung des Wissens über den Orient beteiligt haben: Ihm geht es darum, Erinnerungsbilder festzuhalten und sie in ihrer abgründigen, zerbrochenen Fraglichkeit ästhetisch zu fixieren. Wie Laurence Sterne interessiert ihn die metonymische >grün-seidene Börse eines Kammermädchens) 62 mehr als Notre-Dame, soll heißen: die Sensualisierung der Sprache mehr als die Wahrnehmung der fremden Bevölkerung in ihrer kulturellen Eigenständigkeit - ein im französischen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts ausgesprochen abwegiger Gedanke. Dabei ist es weniger der Exotismus denn die Liebe zum Detail, die Flauberts Blick lenkt: Said konstatiert, der Orient habe sich Flaubert manchmal schrecklich, jedoch immer attraktiv6-1 gezeigt. Im Rahmen seiner sexuellen Lektüre bringt Said die Annäherung des Schriftstellers Flaubert an den Orient auf die Formel der so unvergesslich kontrastreichen, genuin grotesk konnotierten Geruchsmischung von Kuchuk Hanems Bettwanzen und ihrer mit Sandelholz parfümierten Haut. 64 Doch Flaubert versucht, sich bewusst von der Versuchung fern zu halten, obgleich er sich ihr hingibt: Exakt diese Orient-Erfahrung des Hin-und-her-gerissenSeins ist der Ausgangspunkt seiner Forderung nach objectivite und impassibilite als Verfahren und Eigenschaften einer neuen Kunst, die wissenschaftlich und unpersönlich zu sein hatte, die die kühle, unparteiische und objektive Schilderung der Seelenvorgänge einer Madame Bovary hervorbringen sollte und die »die Psyche behandelt wissen wollte, wie physikalische Wissenschaften, weshalb die Literaturwissenschaft ihn zu den Hauptvertretern des Realismus zählt«. 65 Die Kunst sollte gemäß Flaubert Intensität - statt Intention bzw. Intentionalität - kommunizieren und hatte damit vorrangig »die Sinneswahrnehmung und das Gefühl« 66 zu organisieren und nicht den Intellekt anzusprechen.
Hybridität In der von Said aufgegriffenen Bettszene mit der Kurtisane liegt gleichsam das Scheitern Flauberts verborgen. 67 Der Franzose erobert Kuchuk Hanem und
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Vgl. Laurence Sterne, Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Das Tagebuch für Eliza, übers, von Friedrich Hörleck und Siegfried Schmitz, Nachwort von Joachim Krehayn, mit 21 Schabkartons von Inge Jastram, Leipzig, Reclam, 1978, S. 68 und S. 95. Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy, bγ Mr. Yorick war 1768 erschienen und fand bekanntlich auch in Frankreich umgehend weite Verbreitung. »Flaubert [....] is interested [...] in [...] the way by which the Orient, sometimes horribly but always attractively, seems to present itself to him [...]« (Said, Orientalism, S. 186). Vgl. Said, Orientalism, S. 187. Die olfaktorische Konstituente benutzt Said, um das synästhetische Schreiben Flauberts aufzuzeigen. Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >MikrobeneposRiss< und bei Todorov >Ambiguität< heißen (Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart, Metzler, 1991, S. 31). Zur Definition des Phantastischen vgl. des Weiteren Dagmar Reichardt, Das phantastische Sizilien Giuseppe Bonaviris. Ich-Erzähler und Raumdarstellung in seinem narrativen Werk, (Grundlagen der Italianistik. 2), Frankfurt a. M., Peter Lang, 2000, S. 142-144. Todorov, Introduction, S. 36. Vgl. Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >MikrobeneposMikrobeneposMikrobeneposplastisch< [...] gewesen sein mag, detaillierte Rezepte für schriftstellerische Techniken« 100 Flaubert jedoch nicht mehr an die Hand zu geben vermochte, bleibt die Epochenbegrifflichkeit Decadence versus Avantgarde in Bezug auf Flaubert in letzter Instanz unentschieden. 101 Doch gerade in seinem Lebenswerk, als das Flaubert selbst die Tentation ansah, 102 gelingt es ihm, eigentümliche Erkenntnisformen der literarischen Schreibweise für die Multireferenzialität seiner Heiligenporträtierung so nutzbar zu machen, dass sowohl affirmative 103 als auch konterdiskursive 104 Verfahren die Bildreferenzen im Text figurieren bzw. defigurieren. Flauberts spezifische Technik der Bildreferenzen schließt nicht nur die gesamte, über 800-jährige Bildtradition zum Antonius-Motiv vom 12. Jahrhundert (oder früher) bis heute ein. 105 Sie transgrediert sie, indem der Text auf eine Figur Bezug nimmt, deren historische
Mit diesen Worten, die auch sehr gut auf die Tentation zutreffen, umschreibt Klettke, Simulakrum Schrift, S. 199, Tabucchis Requiem. Mary Neiland, »La tentation de Saint Antoine and the Works of Flaubert: An Intertextual Study«, in: Tony Williams/ Mary Orr (Hrsg.), New Approaches in Flaubert Studies, (Studies in French Literature. 34), Lewistone, The Edwin Mellen Press, 1999, S. 186—190, bes. S. 189, verweist ebenfalls auf die mise-enabyme-Technik bei Flaubert. 9 6 Schulz-Buschhaus, Flaubert, S. 123. 9 7 Zur Biographie des Antonius Abbas vgl. die übersichtliche Darstellung von Gendolla, Phantasien der Askese, S. 46£, oder Müller-Ebeling, Die Versuchung des heiligen Antonius als >Mikrobeneposrire homeriqueMikrobeneposabstrakte Kunst< (»art abstrait«) begründet habe. Vgl. hierzu Müller-Ebelings Mutmaßung: »Das phantastische Sujet schien nicht so recht zum >Papst des Realismus» zu passen, zu dem sich Flaubert zu Unrecht erklärt sah« (Die Versuchung des heiligen Antonius als >Mikrobeneposcarte< den
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Zu Baudelaires Verfahren der (decomposition* und >creation< am Beispiel dieser Verse vgl. Wolfgang Theile, »>La toile oubliee*. Ästhetische Reflexion und die Idee der Modernität bei Baudelaire am Beispiel von Une charogne«, in: A. San Miguel/R. Schwaderer/M. Tietz (Hrsg.), Romanische Literaturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Franz Rauhut zum 85. Geburtstag, Tübingen 1985, S. 309-317, bes. S. 310-314. Vgl. auch bereits zuvor Alfred Noyer-Weidner, »Stilempfinden und Stilentwicklung Baudelaires im Spiegel seiner Varianten« (1964), in: A. N.-W. (Hrsg.), Baudelaire, S. 180—212, bes. S. 188-193. Charles Baudelaire, CEuvres completes, 2 Bde., hrsg. von Claude Pichois, (Bibliotheque de la Pleiade. 1.7), Paris, Gallimard, 1975-1976, Bd. 2, S. 608-682, bes. S. 625. S. 626. Vgl. Baudelaire, Les Paradis artificiels. Un mangeur d'opium, in: CEuvres completes, Bd. 1, S. 375-517, bes. S. 506.
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Sprechende Hieroglyphen:
Erinnerungsbilder
Ägyptens bei Charles
Baudelaire
>carton< bezeichnet, jenes Material, auf dem die Maler ihre Entwürfe zeichnen. 22 Das dann durch die Abendsonne und den Wüstendunst kolorierte Schlussbild des Gedichtes entpuppt sich als einer jener »reves hieroglyphiques«, die den »cöte surnaturel de la vie« spiegeln, den Baudelaire in den Paradis artificiels beschreibt.2^ Mit dem Gang auf den Boden seines Gedächtnisses vollzieht das lyrische Ich in Spleen //zugleich den Abstieg zu den gedächtnisgeschichtlichen Gründen der europäischen Kultur. Die Evokation des Memnon-Mythos, des Mythos von der singenden Kolossalstatue, scheint denn auch eine Rückkehr des lyrischen Subjekts ins Archetypische zu bekunden, sieht doch Johann Gottfried von Herder in der Altesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774-1776) in Memnon ein Orakel, dessen Laute das »Sinnbild des Welt- und Schöpfungsklanges« 24 darstellen. Für die Romantik ist es die Poesie, die wie das Morgenlicht den Memnon die versteinerten Dinge zum Sprechen bringt. Die Crux dieser Vorstellung, daraufhatte bereits Hegel verwiesen, liegt darin, dass es sich beim Tönen der Memnonstatue um ein rein physikalisches Phänomen handelt. Der in der Barockzeit bedeutendste Autor der Gedächtnisgeschichte Ägyptens, Athanasius Kircher, beschreibt im Absatz »Mechanica Aegyptiorum« seines Hauptwerks Oedipus Aegyptiacus (1653) die Konstruktion einer Maschine, die bei Sonneneinstrahlung eine Memnonfigur zum Ertönen bringt. 25 Baudelaire macht nun seinerseits auf die Künstlichkeit des vermeintlichen Schöpfungsklanges aufmerksam, wenn er den Mythos entscheidend verfremdet: Seine Statue singt nicht bei Sonnenaufgang, sondern im schwachen Licht der untergehenden Sonne. Die übernatürlichen, ganz und gar unvertraut-künstlichen Bilder seiner Poesie entstehen im Dunkel der Erinnerung, auf der Leinwand der Dunkelheit, wie es im Gedicht Obsession heißt: »[...] les tenebres sont elles-memes des toiles / Oü vivent, jaillissent de mon oeil par milliers / des etres disparus aux regards familiers.« (V. 12-14) 2 6 Ebenfalls künstlich und ohne jedwede metaphysische Tiefendimension ist
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Vgl. dazu Werner Busch, Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin, Gebr. Mann Verlag, 1985, S. 306-319. Baudelaire, Les Paradis artificiels. Le poeme du hachisch, S. 408. Sämmtliche Werke, hrsg. von Berhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877-1913; Nachdruck: Hildesheim, Olms, 1967, Bd. 6, S. 193-530 und Bd. 7, S. 1-171. Athanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus, 3 Bde., Rom, Vitalis Marcardi, 1652-1654, Bd. 2, 1653, Teil 2, Kap. 3, § 1, s' 324-327. Vgl. auch das Prosagedicht Crepuseule du soir aus dem Spleen de Pariss wo es heißt, die Abenddämmerung ließe die normalen Menschen überall »je ne sais quel insultant hieroglyphe« erkennen, während für den Künstler die »heures solonnelles de la vie« beginnen, in denen er die »profondeurs de l'Orient« erfahre (in: CEuvres completes Bd. 1, S. 312). Diese »profondeurs« sind jedoch keineswegs hinter Schleiern und Vorhängen verborgene metaphysische Tiefendimensionen, sondern »gazes transparentes«, die einen »feu d'artifice de la deesse Liberte« offenbaren. Die poetischen Erfahrungen der Abenddämmerung sind für Baudelaire reine Spiegelungen und Funkenschläge: »scintillement des etoiles, explosions des lanternes«, »feux des candelabres«, »robes etranges de danseuses«, »etoiles vacillantes
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Michael Bernsen
auch das andere Bild am Ende von Spleen II. Die in der europäischen Kulturgeschichte den Archetyp des Welträtsels darstellende Sphinx besitzt auch im Werk Baudelaires ein hohes Faszinationspotential. Immer wieder bringt Baudelaire die Katze und die Frau mit diesem Archetyp in Verbindung. In Les Chats heißt es von den Katzen, sie hätten eine noble Haltung, »Des grands sphinx allonges au fond des solitudes« (V. 10). Und die Frau wird in Avec ses vetements mit einem »sphinx antique« verglichen (V. 11). Angezogen wird der Betrachter dabei stets von den Augen, von den »prunelles mystiques« der Katzen (Les Chats, V. 14) 27 oder der »nature etrange et symbolique« des weiblichen Blicks {Avec ses vetements, V. 10). Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass Baudelaire der platonischen Irradiationslehre und damit der Vorstellung einer metaphysischen Tiefendimension eine klare Absage erteilt. Es sind stets nur optische Effekte, ein Funkeln oder Spiegelungen, die der Blick in die Augen der Katze und der Frau hervorruft. Die Augen der Frau sind »mineraux charmants« (Avec ses vetements, V. 9) oder, wie in Le serpent qui danse, »bijoux froids« (V. 15), von denen der Sprecher sagt: »Tes yeux oü rien ne se revele [...]« (V. 13). Baudelaire setzt somit in Spleen / / m i t seinem Schlusstableau den Erinnerungsbildern des Schöpfungsklangs in Gestalt von Memnon und des Welträtsels in Gestalt der Sphinx aus den ägyptischen Anfängen der europäischen Kultur ein steinernes Denkmal. 2 8 Der Gesang seiner Sphinx ist ein bloßes Echo, eine Antwort auf die schwachen Strahlen der Abendsonne. Was in Spleen //ertönt, sind jene unbestimmten, letztlich unentzifferbaren Worte des Programmgedichtes Correspondances, die in der Ferne wie Echos zusammenlaufen: »de confuses paroles [...] / Comme de longs echos qui de loin se confondent [...]« (V. 2 und V. 5). In Spleen II ist es der »vieux sphinx« »assoupis dans le fond d'un Saharah brumeux«, der wie ein Echo auf die »rayons du soleil qui se couche« antwortet, also eine Kette von S-Alliterationen, die die Flamme der Dichtung symbolisiert. Mit Baudelaires Gedicht befinden wir uns am Ende der Gedächtnisgeschichte Ägyptens als dem Ursprung der in einer Geheimschrift verborgenen Weisheit. Anders als bei Hegel resultiert daraus jedoch keineswegs die Geburtsstunde des sich seiner selbst gewissen modernen Subjekts. Wir befinden uns in jener Situation, die Hugo von Hofmannsthal in seinem berühmten Lord-Chandos-Briefvon 1902 so treffend beschrieben hat. Das moderne Subjekt ist der »Krankheit des Geistes« anheim gefallen, da die Sprache
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d'or et d'argent«. Was aussieht wie das Aufleuchten des »delicieux passe« hinter dem »noir present«, ist in Wirklichkeit nur »feux de la fantaisie« (S. 312). In Les Chats (»Dans ma cervelle se promene«) heißt es in einem Oxymoron: »Je vois avec etonnement / Le feu de ses prunelles päles« (V. 37f.). Zur Entdeckung der Versteinerung als der »identitätsauflösenden Macht des Anderen« in der deutschen Romantik bei Novalis vgl. H a r t m u t Böhme, »Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des >Menschenfremdestenaufgelesen< und zusammengestellt wurden, der sich im Sinne pittoresker Programmatik als »humble artiste« vorstellt, für den »chaque pas, chaque regard« auf der Reise ebenso ein Fortschritt im Denken wie ein »delassement agreable et facile« gewesen sei. 15 Die orientalistischen Darstellungsstandards des Orientporträts sind währenddessen unverkennbar: Odaiiskenposen, Krüge tragende Frauen, Furcht erregende Despoten und bärtige Gelehrte, Wasserpfeifen, von Palmen umrandete Ruinen, bunte Teppiche und Trachten geben im Sinne der in der romantischen Kunst allgemein beliebten Physiognomien eine typologische Wesenheit des Orients vor, in der jedes pittoreske Fragment Ausdruck des Ganzen sein soll. 16 In der Lithographie manifestiert sich also genau das, was schon Victor Hugo als »preoccupation generale« der intellektuellen Kräfte seiner Zeit angesehen hatte, ein Orient des pittoresken, poetischen Exotismus, ein »Orient, soit comme image, soit comme pensee«. 17 Dabei dokumentiert bereits diese Lithographie, dass die von der christlichen Romantik unternommene Anstrengung, das Bild auch als »instrument de connaissance metaphysique« 18 zu nutzen, für den Empirismus der meisten Reisenden des »ere du pittoresque generalise« 19 wenig Anreize bot. Nur wenige Orientreiseberichte begriffen wie noch Lamartines Voyage en Orient die Einfühlung in die orientalische Landschaft als Akt der Eucharistie. 20 Es fehlte an Reisenden wie Valerie de Gasparin, die weiterhin die quete religieuse gegenüber der weltlichen Bildersuche bevorzugte, um im »palimpseste« des Orients die Spuren der göttlichen »ecriture eternelle«21 lesen zu können. Schon die Baronin Minutoli
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Fesquet, Goupil (= Frederic Auguste Antoine Goupil), Voyage d'Horace Vernet en Orient, 2 Bde., Bruxelles/Leipzig, C. Muquardt, 2 1844 ( 1 1843). Fesquet, Goupil, Voyage d'Horace Vernet en Orient, Bd. 1, S. 5 und S. 76. Zur Physiognomik vgl. Norbert Borrmann, Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln, Dumont, 1994. Victor Hugo, Preface von Les Orientates (1829), in: V. H., Odes et ballades. Les Orientales, Paris, Garnier Flammarion, 1968, S. 322. Courtinat, Philosophie, histoire et imaginaire, S. 31. Hamon, Imageries, S. 8. Vgl. dazu Courtinat, Philosophie, histoire et imaginaire, S. 177-179. »[...] la terre, ce vaste palimpseste oil passent et s'effacent tant de caracteres divers, oü demeurent ä jamais graves les signes de la puissance divine, eternelle ecriture de l'ecrivain eternel [...]« (Valerie de Gasparin, A Constantinople. Par l'auteur des Horizons prochains, Paris, Michel Levy freres, 2 1867, S. 3).
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Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts hatte 1826 in Mes souvenirs d'Egypte die Straßen Alexandrias auf vollkommen profane Art und Weise als »magische Laterne« porträtiert, die pittoreske Bilder verströmt: II me faudrait le talent de Hogart [sic!] pour rendre les scenes variees de cette lanterne magique. Quel mouvement, quel tumulte dans ces rues etroites, continuellement embarrassees par une quantite innombrable de chameaux, de mules et de baudets; les cris de leurs conducteurs, avertissant sans cesse les passans de prendre garde ä leurs pieds nus; les vociferations et les grimaces des jongleurs; le costume brillant des fonetionnaires turcs; la draperie pittoresque des Bedouins, leur longue barbe, et la figure grave et reguliere des Arabes; la nudite de quelques santons, autour desquels la foule se presse; la multitude d'esclaves negres; les hurlemens des femmes pleureuses, accompagnant un convoi funebre en s'arrachant les cheveux et se frappant la poitrine, ä cote du bruyant cortege d'une noce; les chants des imans appelant du haut des minarets ä la priere; enfin le tableau dechirant et malheureux, mourant de faim et de misere, et les troupeaux de chiens sauvages qui vous poursuivent et vous harcelent; tout cela, dis-je, arrete ä tout moment le pas et fixe l'attention du voyageur etonne. 22
In diesem pittoresken Textbild sind es der Tumult in den Gassen, die Kamele, Esel, Maultiere und ihre schreienden Führer, die nackten Füße der Passanten, die Jongleure und »pittoresken Kleider« der Beduinen, die schwarzen Sklaven, die Klagerufe der einen Beerdigungszug begleitenden Frauen, die von den Minaretten hallenden Gebetsrufe und verhungernde Straßenhunde, die eine Goupil Fesquets Lithographie vergleichbare >Physiognomie des Orients< entwerfen. Der Verweis auf Hogarth, einen der frühen physiognomistischen Zeichner des 18. Jahrhunderts, betont die in gewisser Hinsicht karikaturale Ikonographie des gezeigten orientalistischen Bildes, das durchaus Programmatisches vertritt. Die Reiseschreiberin will nämlich zeigen, dass sich der Orient gegenüber »la meme physionomie imprimee ä tous les peuples polices«2^ eine primitive Originalität bewahrt hat, die sie folgendermaßen charakterisiert: Dans FOrient [...] qui n'a point avance avec le temps, on retrouve dans les traits, dans les costumes, dans les mceurs et les usages, beaucoup plus d'originalite [comme en Europe]; car les habitans y portent encore de nos jours l'empreinte de la haute antiquite de leur race et de leur civilisation primitive. 24
Pittoreske Bilder wie das Textbild aus den Souvenirs der Baronin Minutoli oder die Lithographie in Goupil Fesquets Voyage d'Horace Vernet en Orient gingen in ein Archiv 25 der imageries ein, das aus den illustrierten Reiseberichten und pittoresken Zeitschriften ebenso bestand wie aus den Arbeiten der orientalistischen
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Baronne Wolfradine de Minutoli, Mes souvenirs d'Egypte, 2 Bde. in einem Bd., Paris, Nepveu, 1826, Bd. 1, S. 6 - 8 . Minutoli, Mes souvenirs, Bd. 1, S. 6. Minutoli, Mes souvenirs, Bd. 1, S. 5f. Zum Begriff des kulturellen Archivs vgl. u.a. Boris Groys, Uber das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a. M., Fischer, 1999 ('1992).
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Maler in der Folge von Delacroix, und das auf Kunsthandwerk und Theater- oder Operndekorationen ebenso zurückgriff wie auf die »litterateurs avec des qualites de peintre«, 26 wie Gautier die künstlerisch begabten Reiseschreiber nannte. Sie besorgten einen physiognomistisch-pittoresken Orient en miniature, der das sicherlich ebenso durch zahllose zivilisations-, religions- und ästhetikgeschichtliche oder geschichtsphilosophische Diskurse geprägte imaginaire des romantischen Orients bildlich konkretisierte, >einkapselte< und aus dem Bereich persönlicher Mythenbildung heraus in das kollektive Gedächtnis überführte. Indes klagte schon ein Reisender wie der Comte d'Estourmel im Jahr 1844, dass die Suche nach der couleur Orientale schöne, aber wenig präzise oder realitätsnahe Reiseberichte zu verantworten habe: »II existe dans notre litterature une couleur de convention que nous appelons Orientale, avec laquelle on fait de la belle poesie et des voyages inexacts.« 27 Eine Klage, in die noch Lydie Paschkoff 1880 einstimmen wird und die als kritische Gegenstimme die nachromantische Entwicklung des französischen Orientreiseberichts punktuell begleitete, worauf noch zurückgekommen wird: »L'Orient, tel que nous l'ont decrit la plupart des artistes ou des poetes, est un Orient de convention, aux couleurs surchargees et souvent fausses.«28 In dem Sinne aber, wie sich mit und nach den malerischen Orientreisenden der romantischen Periode eine Tradition der quete d'images ohne metaphysischen Anspruch und Originalitätsbedürfnis bildete, trug der imaginaire des Orients zunehmend konventionelle, ikonographisch festgelegte Züge. Für viele der auf die bereits genannten folgenden und zunehmend touristischen französischen Orientreisenden nun bestand der Orient vor allem aus »images ä voir«, in der Doppeldeutigkeit des Begriffs. Er repräsentierte nicht nur eine »Galerie des Malerischen«, 29 sondern einen musealen Bildraum. Zwar wird Baudelaire im Salon de 1869 noch durchaus im Sinne Lamartines fordern, das Universum als Bild- und Zeichenmagazin müsse von der imagination des Künstlers »verdaut« und »transformiert« werden. 30 Nervals Voyage en Orient (1851)
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Theophile Gautier, »Marilhat«, Revue des Deux Mondes, 1er juillet 1848, in: Th. G., Voyage en Egypte, hrsg. von Paolo Tortonese, Paris, La Boite ä Documents, 1991, S. 101—120, hier: S. 117. Comte Joseph d'Estourmel, Journal d'un voyage en Orient, 2 Bde., Paris, Imprimerie de Crapelet, 2 1848 ('1844), Bd. 2, S. 476. Lydie Paschkoff, En Orient. Drames & paysages, Neuchätel/Geneve, Sandoz & Fischbacher, 1880, S. 6. Ulrich Erker-Sonnabend, Das Lüften des Schleiers. Die Orienterfahrung britischer Reisender in Ägypten und Arabien. Ein Beitrag zum Reisebericht des 19. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York, Georg Olms Verlag, 1987, S. 170. Charles Baudelaire, Salon de 1869, in: Ch. B„ Curiosites esthetiques. L'Art romantique et autres oeuvres critiques, hrsg. von Henri Lemaire, (Classiques Garnier), Paris, Garnier, 1962, S. 305-396, hier S. 329: »[...] Tout l'univers visible n'est qu'un magasin d'images et de signes auxquels l'imagination donnera une place et une valeur relative; c'est une espece de päture que l'imagination doit digerer et transformer.«
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Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts hatte dies durchaus befolgt, indem der Text die romantische Orienterwartung eines spätromantischen Reisehelden neu inszeniert, und zwar als ephemere und gebrochene Konkordanz von persönlichem Orientmythos und einer grundsätzlich dem Mythos entrückten Wirklichkeit. 3 1 Für die meisten Reisenden spielte die Forderung nach poetischer »Transformation« des Vorfindlichen jedoch keine ausschlaggebende Rolle. Sie hielten sich vor allem an die tradierte orientalistischpittoreske Bilderwelt und schrieben die Suche nach Bildern als Suche nach dem typischen, zeitlosen >Orient des Bildes< fort. 32 Dabei war der Einfluss der orientalistischen Malerei besonders bedeutsam. W i e viele andere Orientreisende schrieb sogar der späte Theophile Gautier in seinen 1870 erschienenen Ägyptenfeuilletons über den Esbekija-Platz in Kairo, er (re-)präsentiere das pittoreske Gemälde La Place de l'Ezbekieh au Caire des orientalistischen Malers Prosper Marilhat, das beinahe vierzig Jahre zuvor, nämlich im Pariser Salon von 1834, triumphal aufgenommen worden war: »Nous ne nous attendons pas ä trouver devant nous le tableau de Marilhat, sans cadre et seulement grandi par les proportions de la realite.« 33 Auch Gabriel Charmes notierte noch 1880 zum Hafen von Alexandria: »A la vue des ces vieilles murailles cuites et recuites par la chaleur, dont les teintes rouges rappellent les tableaux de Marilhat, on reconnait l'Orient.« 3 4 Aus dem Lamartineschen Verständnis der imagination, als zutiefst subjektiver Fakultät, die die Dinge und die Bilder »instinktiv« miteinander in Beziehung setzt, 35 bildete sich das Verhältnis von Dingen und Bildern als prästabilisierte Identität heraus. Damit wurde aus dem romantischen Orient einprägsamer Bilder, geformt von ihrer metaphysischen Tiefendimension, ihrer pittoresken Physiognomik und ihren autobiographischen Sinnzuschreibungen, auch ein Orient des Wiedererkennens, ein postromantischer Ort bildhafter retrouvaille.
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Vgl. dazu vor allem Isabelle Daunais, L'Art de la mesure ou Finvention de l'espace dans les recits d'Orient (XIXe siecle), Saint-Denis/Montreal, PUV, 1996, S. 161-192, und Joachim Küpper, »>Erlebnis< und Dichtung in Gerard de Nervals Voyage en Orient«, in: Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer (Hrsg.), Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, München, Wilhelm Fink, 1999, S. 2 5 1 - 3 0 9 .
32
Vgl. Carlos Rincön, »Exotisch/Exotismus«, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart, Metzler, Bd. Iff., 2000f£, Bd. 2, S. 3 3 8 - 3 6 6 , hier: S. 358. Gautier, Voyage en Egypte, S. 63. Vgl. dazu u.a. Denise Brahimi, »A propos de FEsbekieh ou du bon usage des places arabes«, in: L'Orient de Theophile Gautier, 2 Bde., hrsg. vom Centre d'Etudes Romantiques de FUniversite Paul Valery, (Bulletin de la Societe Theophile Gautier. 12), Montpellier, Universite Paul Valery, 1990, Bd. 2, S. 2 9 5 - 3 0 1 . Gabriel Charmes, Cinq mois au Caire et dans la Basse-Egypte, Le Caire, J. Barbier, 1880, S. 18. »L'imagination de l'homme est plus vrai qu'on ne le pense; eile ne bätit pas toujours avec des reves, mais eile procede par des assimilations instinctives de choses et d'images qui lui donnent des resultats plus sürs et plus evidents que la science et la logique [...]« (Lamartine, Souvenirs, Bd. 1, S. 332).
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Anschaulich lässt sich dieses Phänomen, das auch im genannten Zitat aus Charmes' Reisebericht auffällt, bereits in den Reiseaufzeichnungen und der Reisekorrespondenz Gustave Flauberts nachvollziehen. Flaubert bemerkte über seine Ankunft in Alexandria: »Pour qui voit les choses avec quelque attention, on retrouve encore bien plus qu'on ne trouve. Mille notions que Γοη n'avait en soi qua Γ etat de germe, s'agrandissent et se precisent, comme un souvenir renouvele.« 36 Die Erfahrung der retrouvaille, des »souvenir renouvele«, war auch bei Flaubert in besonderem Maße eine bildhafte. Dies wird nicht nur angesichts des »feu d'artifices d'images« 37 deutlich, dem er sich während der ersten Tage in Ägypten ausgesetzt fühlte, sondern wird auch anhand einer der Nilszenen erkennbar, die er in sein Reisetagebuch notierte: »Bouquets de palmiers entoures de petits murs circulaires, au pied d'un desquels fumaient deux Turcs; c'etait comme une gravure, une vue de l'Orient dans un livre.« 38 Auch Xavier Marmier veranlasste der Anblick eines Kiosks inmitten eines prächtigen Gartens - schon für Lamartine ein »element essentiel de la vie Orientale« - 3 9 im Ägyptenteil von Du Rhin au Nil{ 1847) dazu, »la vivante image des fabuleuses idees que Γοη se fait de l'Orient« 40 , anzusprechen. Fernand Schicklers En Orient, souvenirs de voyage von 1863 belegt den Wiedererkennungseffekt des konventionellen Orientbildes vor Ort nicht weniger eindrucksvoll. Allerdings fehlt ihm typischerweise ein Moment analytischer Selbstreflexion, das besonders den Flaubertschen Reiseskizzen innewohnt: »Le veritable site pour qui veut retrouver l'Orient, c'est aupres d'un cimetiere turc, le petit pont des Caravanes.« 41 Misslingt das »Wiederfinden des Orients« auf der Orientreise, wie es im nach 1850 allgemein als europäisch geltenden Alexandria des öfteren geschah, erachtet Schicklers En Orient die das Stadtbild prägenden Palmen als »la seule compensation Orientale que rencontre le voyageur«, 42 nur um später über ein oberägyptisches Dorf anzumerken: Une place oü quelques vieux arbres etendent leurs longs rameaux, un minaret dont le sommet se cache dans les branches des palmiers, un pont d'une seule arche, mais large et irregulierement pave de grosses pierres, et de l autre cöte du canal, la ville, tel est le premier coup d'ceil; il est incontestablement pittoresque et oriental. 43
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Gustave Flaubert, »Lettre au docteur Jules Cloquet (Le Caire, 15 janvier 1850)«, in: G. F., CEuvres completes de Gustave Flaubert, 16 Bde., Paris, Club de FHonnete homme, 1971-1975, Bd. 12, S. 668-671, hier: S. 669. Flaubert, Voyage en Egypte, hrsg. von Pierre-Marc de Biasi, Paris, Grasset, 1991, S. 148. Flaubert, Voyage, S. 303. Courtinat, Philosophie, histoire et imaginaire, S. 155. Xavier Marmier, Du Rhin au Nil. Tyrol, Hongrie, Provinces Danubiennes, Syrie, Palestine, Egypte. Souvenirs de voyage, 3 Bde., Brüssel, Delevingne et Callewaert, 2 1852 ('1847), Bd. 3, S. 225. Fernand Schickler, En Orient, souvenirs de voyage, 1858—1861, Paris, Michel Levy freres, 1863, S. 72. Schickler, En Orient, S. 231. Schickler, En Orient, S. 349.
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Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts
Diese Passage gibt nicht nur weitere Elemente aus dem Wörterbuch orientalistischer Ikonographie. Sie exemplifiziert auch, dass der Begriff der couleur Orientale schon in den 1860er Jahren mit dem Begriff des Pittoresken quasi synonym geworden war.
3. Die postromantische Suche nach >dem Orient< Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Suche nach der couleur Orientale, nach dem reinen, pittoresken Bild des Orients auf der Reise, langsam prekär. Grundsätzlich galt, dass die europäische Zivilisation gerade fortschrittliche Länder wie Ägypten gründlich entpoetisiert hatte. »Pour des touristes, amants du pittoresque, la civilisation europeenne a bien depoetise l'Egypte«, merkte ein Florian Pharaon zur Eröffnung des Suezkanals 1869 in seinem Reisebericht jedenfalls an. 44 Und Bois-Robert kommentierte seinen Besuch Kairos, dessen >Haussmannisierung< zunehmend sprichwörtlich wurde, in Nil et Danube (1855) mit folgenden Worten: »Si pittoresque que soit une ville de l'Orient, il faut s'en tenir ä la surface si on ne veut pas trop vite echanger ses impressions poetiques contre la desillusion et le degoüt.«45 In Anbetracht des Orient moderne und der Industrialisierung der Reise war die Orientsuche zum »solipsistischen Dennoch« 46 der nachromantischen Orientreisenden geworden. »C'etait l'Orient enfin que j'allais contempler«, heißt es in Un hiver en Egypte (1860) Eugene Poitous, kurz bevor der Reisende Kairo erreicht, »FOrient apres lequel je courais depuis trois jours, et dont je n'avais vu encore que des lambeaux epars ou des images alterees.«47 Jules de Voris erklärte 1869 den Plan zu seiner Reise damit, er habe der »fixen Idee« und dem unerklärlichen Verlangen nach den »phantastischen Visionen« und der »poetischen und parfümierten Atmosphäre« des Orients nicht länger standhalten können: L'Orient m'apparaissait avec son cortege de visions fantastiques, son atmosphere poetique et parfumee, ses palais enchantes, ses houris! — En un mot, avec tous ses seduisants mensonges. Or, ces visions se multipliant, mes desirs devenant de minute en minute plus imperieux, sentant mon imagination surexcitee et mon cerveau en proie ä l'idee fixe, j'allai sur-le-champ aux messageries arreter mon passage ä bord du premier navire en partance pour Alexandrie. 48
Voris gab die Bilder- und Orientsuche, die gleichsam dem >Ruf des Orients< folgten, ausreichend Anlass fur einen abrupten Aufbruch nach Ägypten. Sie ließ
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Florian Pharaon, Le Caire et la Haute Egypte, Paris, A. Dentu, 1872, S. 3. J. D. de Bois-Robert, Nil et Danube, souvenirs d'un touriste. Egypte, Turquie, Crimee, Provinces-Danubiennes, Paris, A. Courcier, 1855, S. 72. Wolfzettel, Ce desir de vagabondage cosmopolite, S. 27. Eugene Poitou, Un hiver en Egypte, Tours, Marne, 1860, S. 65. Jules de Voris, Fläneries orientales, Paris, A. Le Chevalier, 1869, S. 8.
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jedoch nur »seduisants mensonges«, einige jener »illusions faciles« erwarten, die Volney einst den Reiseberichten seiner Zeitgenossen austreiben wollte und die über den Umweg des pittoresken Orientbildes erneut Einzug in den französischen Reisebericht gefunden hatten. »[...] partout on cherche l'Orient reve, le veritable Orient, et on ne le rencontre nulle part [,..]« 4 9 , konnte C. E. David in seinen Reisesouvenirs sogar schreiben und damit, wie schon Poitou, noch in der um sich greifenden Ernüchterung die gleichbleibende Relevanz der zur quete de l'Orient veredelten quete d'images fur die Orientreisenden zwischen der Jahrhundertmitte und der Eröffnung des Suezkanals bestätigen: »partout on cherche«. Tatsächlich kann die Orientsuche über die Eröffnung des Suezkanals hinaus bis in den Fin de siede weiterverfolgt werden, den Jean-Paul Sartre in Qu'est-ce que la litterature? abschätzig die »epoque des impressions: impressions d'Italie, d'Espagne, d'Orient« 50 genannt hat. In dieser >Epoche< wurde die Orientsuche auf emphatische Weise, aber auch letztmals im Reisebericht, neu inszeniert. Henry Borotra gibt uns das Motto seiner Generation an Reiseschreibern. Seine Lettres orientales (1893) belegen im folgenden Zitat, dass die pittoreske Bildersuche im Orient am Jahrhundertende vollends als illusionäre Suche nach dem romantischen Orientbild aufgefasst wurde: Partons vers l'Orient des poetes, vers l'Orient reve des fleurs et des couleurs eclatantes, vers cet Orient du soleil que nous ont chante Lamartine, Chateaubriand, Th. Gautier et Ed. About, ces stylistes magiques, habiles dans l'art d'enfanter de douces chimeres ou des recits merveilleux comme le Mille et Une Nuits. Et, le premier jour, eile vogue admirablement, la coquille qui nous porte nous et nos illusions. 51
Lucien Trotignon vertrat in seinem Werk mit dem sprechenden Titel L'Orient qui sen va. Egypte, Palestine, Syrie, Constantinople — Notes de voyage (1893) die Ansicht, dass angesichts eines modernen, kosmopolitischen Kairo einzig der Besuch in den Basaren der Stadt »in den Orient zurückführen« könne: »Une visite aux bazars va nous ramener en Orient.« 52 Und auch ein weiterer der heute völlig vergessenen Orientreisenden des Fin de siede, J. de Beauregard, variierte in
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Celeste-Etienne David, Souvenirs d'un voyage dans l'isthme de Suez et au Caire, Paris, Amyot, 1865, S. 10. Jean-Paul Sartre, Qu'est-ce que la litterature?, Paris, Gallimard, 1948, S. 235—236: »Ces fastidieuses descriptions du siecle dernier sont un refus d'utilisation: on ne touche pas ä l'univers, on le gobe tout cru, par les yeux; l'ecrivain, par opposition ä l'ideologie bourgeoise, choisit pour nous parier des choses la minute privilegiee oil tous les rapports concrets sont rompus qui l'unissait ä elles, sauf le fil tenu du regard [...] C'est l'epoque des impressions: impressions d'Italie, d'Espagne, d'Orient.« Henry Borotra, Lettres orientales. Premiere serie comprenant la Turquie et partie de la Grece, Paris, H. Simonis Empis, 1893, S. 7. Lucien Trotignon, L'Orient qui s'en va. Egypte, Palestine, Syrie, Constantinople. Notes de voyage, Paris, Albert Savine, 1893; hier zitiert nach der ersten, unvollständigen Ausgabe des Reiseberichts: En Egypte - notes de voyage, Paris, Imprimerie de Marpon et Flammarion, 1890, S. 13.
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Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts
seinem 1899 publizierten Reisebericht Parthenon, Pyramides, Saint-Sepulcre (Grece, Egypte, Palestine) das zur Orientsuche veränderte chateaubriandeske Motiv der Bildersuche erneut, wenn er anlässlich seines Besuchs im inzwischen unter englischer Herrschaft stehenden Alexandria schrieb, er sei nach Ägypten gekommen, um dort den Orient zu suchen: »[...] bien qu'on soit venu chercher TOrient en Egypte, il y a un charme extreme ä y retrouver, ä la descente du bateau, comme un coin de la France.« 53 Dies obwohl, wie der Erzähler des Reiseberichts an gleicher Stelle bemerkt, Alexandria außerhalb seiner populären arabischen Viertel doch gar nicht mehr »l'impression totale de quelque chose d'inedit, de non encore vu, de vraiment original« 54 vermitteln könne. Orientsuche und pittoreskes Erlebnis drohten vollends voneinander dissoziiert zu werden. Spätestens in Pierre Lotis La mort de Phila (1908) endet dieser langsame Verfallsprozess. Über die elektrisch beleuchteten Straßen in den Vororten Kairos heißt es darin: »[...] cette electricite aveuglante fausse la note; au fond, sommes-nous bien sürs d'etre en Orient?« 55
4. Das >Debakel des Lokalkolorits< Im Seelen- oder Ichkult, dessen Konturen sich in der Belle Epoque immer deutlicher abgezeichnet hatten, wurde die Bilder- und Orientsuche schließlich nicht nur obsolet, sondern zum alles beherrschenden Feindbild antiromantischer Reisender. »Je n'y vais pas chercher des couleurs et des images [...]«, erklärte Maurice Barres im Vorwort seines 1923 erschienenen Levantereiseberichts, »mais un enrichissement de Fame«. 56 Robert deTraz schrieb in Le depaysement oriental {1926) unter der Kapitelüberschrift »Pas de Werther en Orient«: Nous sommes habitues ä voir dans l'Orient un decor romantique, ä cause de Chateaubriand, de Hugo, de Delacroix. Mais le romantisme est le contraire de l'Orient. L'Oriental η aspire pas ä reconstruire l'univers, il n'est ni revolutionnaire, ni metaphysicien. Voluptueux, il ignore toute sentimentalite. Aucun larmoiement, aueune melancolie chronique. Plein de desirs, de desirs brefs, pas de desirs immenses, il s'efforce de les satisfaire. Mais il ne mele ä cette operation si simple aueune theorie d'individualisme. 57
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J. de Beauregard, Parthenon, Pyramides, Saint-Sepulcre (Grece, Egypte, Palestine), Lyon, Emmanuel Vitte, 1899, S. 19. Beauregard, Parthenon, Pyramides, Saint-Sepulcre, S. 15. Pierre Loti, La mort de Phike, in: P. L„ Voyages (1872-1913), Paris, Robert Laffont, 1991, S. 1243-1349, hier: S. 1274. Maurice Barres, Une enquete aux pays du Levant (1923), in: Μ. B., L'Orient, hrsg. von Philippe Barres (= (Euvres Bd. 11), Paris, Club de l'honnete homme, 1967, S. 105. Robert de Traz, Le depaysement oriental, Paris, Bernard Grasset, 1926, S. 74.
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Frank Estelmann Louis Bertrand schließlich, M i t g l i e d der Academie Mirage
oriental
Frangaise,
bezichtigte in Le
seine Zeitgenossen, sich von der O r i e n t s u c h e vollends verblendet
h a b e n zu lassen: [...] nous persistons ä considerer l'Orient comme le supreme asile, — comme une sorte de conservatoire tangible, — de la couleur locale. Un bandeau a ete mis sur nos yeux par nos poetes et nos romanciers, et nous n'avons pas le courage de le soulever. Nous nous obstinons a chercher l'Orient la oü il n'est plus. 58 Solche Aussagen liefen a u f antiislamische Ressentiments hinaus, die zu analysieren H u g o Friedrich in seiner 1 9 3 4 erschienenen Studie z u m a n t i r o m a n t i s c h e n D e n k e n in Frankreich versäumt h a t . 5 9 A u c h E d w a r d Said unterschätzte in seiner B e w e r t u n g von Barres' Beitrag z u m europäischen O r i e n t a l i s m u s die politischen Konsequenzen, die a u c h ein Barres daraus zog, angeblich » m o r e prepared to i m a g i n e the O r i e n t as g o i n g its o w n w a y « 6 0 zu sein. I m Z u s a m m e n h a n g der zur Suche n a c h d e m r o m a n t i s c h e n O r i e n t v e r w a n d e l t e n Bildersuche i m O r i e n t entscheidend ist jedoch etwas anderes. Bis ikonoklastische Reisende w i e Barres, dessen Ästhetik der profondeur sich gegen den »pittoresque imbecile« 6 1 w a n d t e , oder w i e Bertrand, der die »debacle de la couleur locale« 6 2 konstatierte, u m die
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Louis Bertrand, Le Mirage oriental, Paris, Perrin, 1920, S. 2. Der Band versammelt Artikel über seine Orientreise, die Bertrand bereits 1908 und 1909 in der Revue des Deux Mondes publiziert hatte. Hugo Friedrich, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich. Sein System und seine Herkunft, (Münchner Romanistische Arbeiten. 4), München, Max Hueber, 1935. Friedrich, der sich zu weit auf das ideologisch heikle Terrain der Opposition von lateinischfranzösischem Süden und germanischem Norden festlegt (vgl. S. 195-207), vernachlässigt die anti-islamischen Elemente im französischen Selbstverständnis etwa eines Louis Bertrand: »II faut en finir avec cette adoration niaise d'un Orient romanesque et conventionnel qui na jamais existe que dans les livres. Regardez les Orientaux bien en face, les yeux dans les yeux: Ce sont nos ennemies [...]« (Louis Bertrand, Devant l'Islam, Paris, Plon-Nourrit, 1926, S. 41; die Aussage ist einem »Freund« des Reisenden in den Mund gelegt). Die von Friedrich nur angedeutete Ahndung des Lokalkolorits (S. 215) bei den antiromantischen Autoren ist jedenfalls nicht allein Ausdruck ihres philosophischen Klassizismus, sondern Teil der sogenannten >Querelle des mauvais maitres*, die, u.a. von Barres ausgehend, von reaktionären Autoren der 1920er Jahre wie auch Henry Bordeaux oder Henri Massis mit einer Neubesinnung auf >okzidentale< Werte verbunden wurde. Vgl. dazu die zahlreichen Hinweise in Gisele Sapiro, La guerre des ecrivains. 1940—1953, Paris, Fayard, 1999. Zu Bertrand vgl. auch Marguerite Lichtenberger, Ecrivains fran^ais en Egypte (de 1870 ä nos jours), Paris, PUF, 1934, S. 122-132. Edward Said, Orientalism, New York, Vintage Books, 1979, S. 245. Barres wünscht sich in der Enquete einen Zauberstab, um Alexandria aus islamischer Hand zu befreien; vgl. Barres, Une enquete, S. 123. Ihm diente die Enquete dazu, die »humanite du catholicisme« (S. 116) und die französischen und katholischen Schulen im arabischen Mittelmeerraum zu propagieren. Vgl. Ida-Marie Frandon, L'Orient de Maurice Barres. Etude de Genese, Genf/Lille, Droz/Giard, 1952. Barres, Mes Cahiers, 9 Bde., Paris, Librairie Plön, 1929-1935, Bd. 6, 1907-1908, S. 158. Bertrand, Le Mirage oriental, S. 8-21 (»La debacle de la couleur locale« heißt ein Kapitel des Werks).
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Von der Bilder- zur Orientsuche im französischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts Illusionen des »beau voyage romantique« 63 aus Gründen nationaler Hygiene aus dem französischen Geistesleben auszutreiben, 64 war der als selbst ikonophob angesehene islamische Mittelmeerraum zwischen Chateaubriand und dem Ende der Belle Epoque im Reisebericht zu einem museale Züge tragenden Bildmagazin geworden. Und zwar zu einem orientalistischen Bildmagazin, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts doch mitunter durch die immer vergeblicher werdende Suche nach ihm - die illusionäre Suche nach den reinen Bildern vom Orient und dem perfekten Bild des Orients - immer schärfere diskursive Konturen bekam.
5. Ausblick: Die Grenzen der orientalistischen Bildersuche In ihrem aus ihrer eigenen Zeit geborenen Bedürfnis, die romantische Orientvorstellung zu entzeitlichen und damit paradoxerweise >den Orient< erneut als denjenigen großen Gegenspieler der westlichen Zivilisation zu konstruieren, der er schon fur einen Chateaubriand gewesen war, vergaßen Autoren wie Bertrand jedoch etwas, was nunmehr als Ausblick dienen soll. Es ist eben belangvoll, wenn Beauregard den Orient nicht in Griechenland oder Palästina, die er ja ebenso bereiste, sondern ausgerechnet in Ägypten suchen wollte oder wenn ein durch klassische Studien geschulter Joseph Joübert in En dahabieh. Du Caire aux Cataractes (1894) von »l'Egypte, enveloppee des mirages de l'Orient« 65 sprach. Seit den mittelalterlichen Pilgerberichten hatten die Ägyptenteile in französischen Reiseberichten stets eine Sonderrolle eingenommen. Uber das Mittelalter hinaus waren sie in den meist thematisch umfangreicheren französischen Reiseberichten vor allem der systematische Ort dafür, die profane Neugier des Reisenden an den mirabilia fremder Länder abbilden zu können. 66 Darin kontrastierten sie früh mit den allegorischen Beschreibungen Jerusalems. In der Renaissance leistete die Wiederentdeckung der antiken Historiographen (15. und 16. Jahrhundert) dazu ebenso einen fortdauernden Beitrag wie der von Florenz ausgehende neuplatonische Hermetismus, die besondere geopolitische Bedeutung Alexandrias und auch Kairos für den Mittelmeerhandel und die kunstgeschichtlichen Egyptian Revivals67 bis ins 18. Jahrhundert.
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Bertrand, Devant l'Islam, S. 36: »Que devient, dans tout cela, le beau voyage romantique? [...] Helas, ce n'est plus qu'un mirage impossible. Vague souvenir des siecles revolus!« Vgl. Friedrich, Das antiromantische Denken, S. 3—46. Joseph Joübert, En dahabieh. Du Caire aux Cataractes. Le Caire, Le Nil, Thebes, La Nubie, L'Egypte ptolemai'que, Paris, E. Dentu, 1894, S. 8. Vgl. dazu vor allem Jeannine Guerin Dalle Mese, Egypte, la memoire et le reve, itineraires d'un voyage, 1320—1601, (Biblioteca dell'Archivum Romanicum. Serie 1. Storia, Letteratura, Paleografia. 237), Florenz, Leo S. Olschki, 1991. Vgl. dazu James Stevens Curl, Egyptomania. The Egyptian Revival. A Recurring Theme in the History of Taste, Manchester/New York, Manchester University Press, 1994.
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Dazu kamen im 19. Jahrhundert drei Spezifika, die den »exotisme egyptien«68 auch im Reisebericht als Spezialfall in der Geschichte der Exotismen des Jahrhunderts definieren. Zum einen die faktische politische Unabhängigkeit Ägyptens nach dem napoleonischen Ägyptenfeldzug, die mit der von Muhammad Ali verkörperten >Regeneration< Ägyptens und der von ihm instaurierten Erbmonarchie bis zur Eroberung Ägyptens durch England im Jahr 1882 währte. Das besondere, zunächst militärisch, dann diplomatisch geformte französische Interesse speziell an Ägypten hatte seit Dominique Vivant Denons Voyage dans la Basse et la Haute Egypte (1802) zur Konsequenz, dass Ägypten in Frankreich lange Zeit als potentiell zivilisierbare frühgeschichtliche Nation angesehen wurde, deren Geschick schon Denons Voyage nicht im Sinne einer politischen Geschichte des Landes mit dem Osmanischen Reich oder religionsgeschichtlich mit dem Islam, sondern geschichtsmythisch mit dem Schicksal des nachrevolutionären Frankreich verknüpfte.69 Das daraus folgende und im gesamten 19. Jahrhundert spürbare >nationale< Ägyptenbild stand jedoch quer zur Entgegensetzung von Orient und Okzident und damit zu einer Gründungsdichotomie des orientalistischen Diskurses: der von Zivilisation und Barbarei. Dies kann man etwa am stets ambivalenten Bild des ägyptischen Herrschers Muhammad Ali in französischen Reiseberichten der ersten Jahrhunderthälfte nachvollziehen — einer historischen Figur, die gerade für die französischen Ägyptenreisenden, je nach Gewichtung, ebenso einen aufgeklärt-patriotischen und zudem frankophilen Herrscher wie einen orientalischen Despoten darstellte.70 Zum zweiten setzte sich im 19. Jahrhundert ein afrikanistischer Diskurs durch, der der orientalischen Erbschaft entgegenwirkte und in Frankreich schnell Schule machte.71 Anders als Volney und die Historiker der Aufklärung, die Ägypten historiographisch und geographisch zu Asien gerechnet hatten, kam schon Anfang des 19. Jahrhunderts mehr und mehr ein Diskurs der kontinentalen Einheit Afrikas zum Tragen. Eine Einheit, die den Ägyptologen, deren Forschungsgebiet sich bis nach Nubien erstreckte, ebenso einleuchtete wie den Touristen, die sich nach 1850 in gut organisierten Nilfahrten von Kairo aus in Richtung Nubien einschifften, oder den frühen Ethnologen, die in der Nilbevölkerung einen
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Hassan El Nouty, Le Proche-Orient dans la litterature fra^aise de Nerval ä Barres, Paris, Nizet, 1958, S. 186-187. Vgl. dazu Frank Estelmann, »Nationaler Gedanke und Ägyptomanie im Voyage dans la Basse et la Haute Egypte (1802) von Dominique Vivant Denon«, in: Regina Schleicher/Almut Wilske (Hrsg.), Konzepte der Nation. Eingrenzung, Ausgrenzung, Entgrenzung. Beiträge zum 17. Forum Junge Romanistik, Bonn, Romanistischer Verlag, 2002, S. 25-33. Vgl. Sarga Moussa, »Mehemet-Ali au miroir des voyageurs fran^ais en Egypte«, in: Romantisme Bd. 120/2003, S. 15-25. Vgl. dazu vor allem Christopher L. Miller, Blank Darkness. Africanist Discourse in French, Chicago/London, University of Chicago Press, 1985, S. 14—23 (»Orientalism and Africa«).
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Überrest der primitiven Menschheitsgesellschaften vermuteten. In der Konsequenz lautete dies: »Quoi qu'il en soit, Champollion a dit et Michelet partage cet avis: >L'Egypte est toute d'Afrique et non dAsiefemmes fatalesWilden< und die >ZivilisiertenDes contes qui sont sans raison, et qui ne signifient rien< —Vom »Roman der französischen Philosophen< zum philosophischen Roman«, in: Christiane SolteGressner/Margot Brink (Hrsg.), Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, (Cahiers Lendemains), Tübingen, Stauffenburg, 2004, S. 71-88. 37 Vgl. Bresky, The Art of Anatole France, S. 43-61. 38 Ygl Diane Wolfe Levy, Techniques of Irony in Anatole France. Essay on Les septfimmes de la Barbe-Bleue, Chapel Hill, University Department of Romance Languages, 1978. 1t) Vgl. Jean Sareil, Anatole France et Voltaire, Paris, Droz, 1961, bzw. Bresky, The Art of Anatole France, S. 24ff. 40 Vgl. Rene Remond, LAnticlericalisme en France de 1815 ä nos jours, Paris, Fayard, 1976, S. 27-30. 41 Im gesamten Erzählwerk sind diese Leitmotive dem Leser ständige Begleiter, dessen ungeachtet, ob er sich dem 1903 erschienenen Erzählband Crainquebille zuwendet, in der eine erbarmungslose Staatsgewalt einen eigenwilligen Gemüsehändler um seine letzte Existenz bringt, ob er dem Wissenschaftler Sylvestre Bonnard auf seinen Lebenswegen folgt, der über seine Bücherliebe die Menschenliebe nicht vergisst oder ob er in Les Dieux ont soif Streifzüge in die Zeit der Schreckensherrschaft zwischen 1793 und 1794 unternimmt. Ob vor historischer Kulisse, in der Spätantike, im christlichen Mittelalter, im 18. Jahrhundert oder während der Französischen Revolution, die Erscheinungen der Geschichte sind vornehmlich Geschichten nobler oder infamer Exempel. Zwar verändert der Fanatismus sein Gesicht, seinem Wesen nach bleibt er jedoch eine anthropologische Konstante, wie etwa im 16
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Kian-Harald Karimi gen bis in seine letzten Lebensjahre reichende Kontinuität gewisser [antiklerikaler] Grundüberzeugungen ausgezeichnet ist«, 42 ist nicht zuletzt jenen heftigen Auseinandersetzungen zuzuschreiben, die das Verhältnis von zweiter Republik und dem Klerus zwischen 1871 und 1905 bestimmen sollten: 43 In Ereignissen wie dem Verbot des Jesuitenordens (1880), der Einführung der laizistischen Regelschule (1881-1882), der Dreyfusaffaire (1894-1906) und schließlich der völligen Trennung von Kirche und Staat (1905) 44 verdichtet sich ein unverrückbares Feindbild, das den Autor immer wieder zum >Ecrasez l'Infame< zugunsten der von ihm nicht sonderlich geliebten Republik herausfordert. In den religionskritischen Intertext des 18. Jahrhunderts mischt sich jedoch eine Vielfalt der Gattungen, vom melodramatischen bis zum historischen Roman, von der Novelle bis zur Episodengeschichte. Gerade in dieser Synchretie bestätigt sich, dass sich letztlich auch die neoklassizistische Sprachkunst von France jeden Inhalt erschließen kann, ohne sich an eine feste Form binden zu müssen. 45 Die freie Wahl der Stoffe und Themen erlaubt ein bisher ungeahntes Kursieren zwischen historischen Epochen und dem jetzigen Dasein und damit also auch ein freies Vagabundieren zwischen Orient und Okzident. Dem bibliophilen Anatole France ist durchaus bewusst, dass dieses Vermögen, ständig neue Bilder hervorzubringen, schon seit frühester Zeit auf Lektüren zurückgeht. 46 In seinen autobiographischen Aufzeichnungen Le Livre de mon ami (1885) erinnert er sich seiner anonymen Gönner: Ο vieux juifs sordides de la rue du Cherche-Midi, na'ifs bouquinistes des quais, mes maitres, que je vous dois de reconnaissance! Autant et mieux que les professeurs de l'Universite, vous avez fait mon education intellectuelle. 47
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vormals genannten Roman beschrieben: Die Stätte, an der einst die Dominikaner, »[ces] fils spirituels du grand inquisiteur de l'heresie«, ihr Regiment gegen Andersdenkende ausübten, feiert nun ihre Auferstehung als Versammlungsort der Jakobiner, »[ces] zeles inquisiteurs des crimes contre la patrie« (Anatole France, Thais, Paris, Calmann-Levy, 1976, S. 133). Gier, Der Skeptiker im Gespräch mit seinem Leser, S. 357. Die französische Kirche, die dem Papst in der Unfehlbarkeitsdiskussion des Vaticanum I überaus loyal zugetan war, lieferte ihren Feinden freilich auch die notwendigen Argumente. Vgl. Klaus Schatz, Vaticanum I, 3 Bde., Paderborn, Schöningh, 1992-1994, Bd. 3, Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption, S. 212—220. Vgl. Emile Combes, Une Campagne lai'que 1902—1903, eingel. von Anatole France, Paris, H. Simonis Empis, 1904, S. 5 - 3 6 . Hegel, Werke, Bd. 13, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 142. Vgl. Anatole France, Le Livre de mon ami, in: A. F., CEuvres, 4 Bde., hrsg. von Marie-Claire Bancquart, (Bibliotheque de la Pleiade. 315. 341. 377. 406), Paris, Gallimard 1984-1994, Bd. 1, S. 433-583, hier: S. 563. In einem Dialogue sur les contes de fees gibt ein fiktiver Sprecher zu erkennen, dass die Imagination nicht aus sich selbst hervorgeht. Vielmehr beruhe diese allein auf den sinnlichen Fähigkeiten des Menschen und sei daher nichts anderes als eine Assoziation von Ideen. France, Giuvres, S. 510.
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Aus den »bouquins ronges des vers, les ferrailles rouillees et les boiseries vermoulues« habe France erraten, »[...] que les etres n'etaient que des images changeantes dans Γ universelle illusion.« 48 So sind die seit Madame Bovary perhorreszierten romantischen Trugbilder mit ihren »dames persecutees qui s'evanouissant dans des pavilions solitaires, postilions qu'on tue ä tous les relais«, mit ihren »forets sombres, troubles du coeur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bosquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux« 4 9 keineswegs völlig abgegolten, selbst wenn sie aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen und der prosaischen Wirklichkeit des Westens nicht mehr angemessen sind. Für den vorliegenden Roman erscheint es symptomatisch, dass dem Orient und dessen berückender couleur locale eben derartige Einbildungsstrukturen zugeschrieben werden. Die romantischen Larven eines Walter Scott, Victor Hugo oder Bernardin de Saint Pierre, die die >Realisten< aus der Mimesis des nüchternen Alltags verbannt zu haben glaubten, kehren nun in den Geschichten, Visionen, Halluzinationen und Träumen der Mönche der Thebais, in den Engeln, bösen Geistern und Saturnen der Wüste wieder. W i e in Flauberts La Tentation de Saint Antonie, mit der That's den gemeinsamen historischen Horizont einer mit kulturellen Zeichen überladenen Spätantike teilt, zeigt sich, dass gerade die modernen Einbildungsstrukturen aus den in Büchern und Folianten geschaffenen Phantasmagorien hervorgehen und sich einer reduktiven Ökonomie versagen. Auch hier ist die primäre Referenz nicht mehr das Buch der Natur oder die Heilige Schrift. Vielmehr haben beide einer Bibliothek, »la proliferation indefinie du papier imprime«, Platz gemacht, 5 0 die die Träume des Ostens in abendländisches Wissen verwandelt oder diese Metamorphose nach Belieben wieder zurücknimmt. Beide Romane lösen das Verdikt Nietzsches über den bric ä brac der modernen Künste ein, die als geradezu kulinarische Reaktion auf die »sich grenzenlos aneinander (langweilend[en Menschen] [...]) prickelnde und beizende Speise auftischen« und diese »mit dem Gewürze des ganzen Orients und Okzidents« übergießen. Jeder Geschmack soll befriedigt werden, »ob ihm nun nach Wohl- oder Ubelriechendem, nach Sublimiertem oder Bäurisch-Grobem, nach Griechischem oder Chinesischem, nach Trauerspielen oder dramatisierten Unflätereien gelüstet.« 51 So wird der Orient zu einem imaginären Ort, in dem poetische Bilder noch jenseits der vom (realistischen) Erzähler reglementierten Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit frei flottieren dürfen, um den Bedürfnissen eines eher dilettantischen und halbgebildeten Lesers Rechnung zu tragen. 5 2
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Ebd. Gustave Flaubert, Madame Bovary. Mceurs de province, Paris, Gallimard, 1972, S. 64. Michel Foucault, Dits et ecrits, 2 Bde., hrsg. von Daniel Defert und Francois Ewald, Paris, Gallimard/Quarto, 2001, Bd. 1, 1954-1975, S. 338. Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, hier: S. 332. Für das literarische Feld ist es bezeichnend, dass den Erzähltexten Flauberts über die fran-
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Gegenüber dem alten contephilosophique oder conte oriental, »aussi oriental que le goüt du temps le comportait«, 53 weist die Diskursivierung des Orientalischen bei France gravierende Unterschiede auf. Mit der ausgeprägten Faszination für die Poesie des Magischen und Religiösen geht auch eine Aufwertung emblematischer Bildstrukturen einher, 54 welche die klassische Religionskritik ihres einstigen Ikonoklasmus entblößt. Anders als bei Voltaire erscheint die Transzendenz nicht mehr als Topos allen Aberglaubens. So sehr France das Ubernatürliche auch in seiner Überhöhung als Kult oder Ritus verwirft, so sehr begeistert er sich für die ästhetischen Leistungen, zu denen der Glaube in Literatur und Kunst fähig ist. Wahrheit könne es eben nicht geben, aber die Träume kranker Philosophen und die Gebilde der Menschen seien, so der skeptische Philosoph und Epikuräer Nicias im Roman, mitunter so amüsant, dass die Welt mit der Zerstörung dieses Wahns ihre Formen und Farben einbüßte »et nous nous endormirions tous dans une morne stupidite«. 55 Besonders richtet sich das Interesse von France auf jene Epochen, die im Umbruch bzw. Ubergang begriffen sind und eine Überlagerung widerstreitender religiöser Ikonen und Bilder nahe legen. 56 Im Erbe der griechischen Antike, das von France sowohl in der Spannung der Klassik Athens als auch der Dekadenz Alexandrias verortet wird, 57 ist auch die Geschichte des Ostens eingeschlossen. Diese erscheint daher nicht mehr allein aus der überlegenen Sicht einer westlichen Kultur, deren Autoritätsanspruch sich im Triumph der positiven Wissenschaften und in der Zivilisierung der allgemeinen Sitten noch über eine barbarisch empfundene Poesie erheben könnte. 58 Wie im vorliegenden Roman
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zösischen Bürger, Verführer und Spießer jeweils andere folgen oder vorausgehen, die auf eine weit entrückte (orientalisch-archaische) Vergangenheit und ferne Traumwelten zurückgreifen: Der ersten Education sentimentale folgt die erste Tentation de Saint Antoine, dieser Madame Bovary, letzterer wiederum Salammbd, der sich die Education sentimentale von 1869 anschließt. Die Reihe, die sich mit Herodias und der Legende de saint Julien l'Hospitalier fortsetzt, findet schließlich mit Boiward et Pecuchet ihr Ende. Georges Ascoli, »Introduction«, in: Voltaire, Zadig, hrsg. von G. A. und Jean Fahre, Paris, Didier, 1962, S. I-LXX, hier: S. LXVIII. Vgl. Bresky, The Art of Anatole France, S. 179ff. France, Thai's, S. 39. Exemplarisch zeigt sich dies etwa in Amyais et Celestin, einem kleinen conte philosophique, der ebenfalls 1890 veröffentlicht wird und das spätantike Ägypten als Schauplatz benennt. Was mit dem orthodoxen Glauben unvereinbar bleibt, lebt in den beiden Hauptgestalten, dem christlichen Eremiten und dem Faun als Vermächtnis einer heidnischen Kultur einträchtig nebeneinander. Als »hymne de Dieu« betet Amycus in der Sonne einen Gott an, der von den Christen auch mit Licht und Leben identifiziert wird (in: France, CEuvres, Bd. 1, S. 891-895, hier: S. 895). Gier, Der Skeptiker im Gespräch mit seinem Leser, S. 135. Auch nimmt sich der Orient nicht wie ein hermetisches Mittelalter aus, das die Enzyklopädisten in der starren Willkürherrschaft des ottomanischen Reiches noch als Vorgeschichte des aufgeklärten Europas betrachtet hatten. Im Wesentlichen war Voltaire dabei, etwa im Zadig, jenen Zuschreibungen gefolgt, wie sie in der EncyclopedieDiderots und d'Alemberts unter den entsprechenden Schlagworten niedergelegt sind. Den archaisch-orientalischen
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kann die Diskursivierung des Orients einer erweiterten historischen Kritik an der Religion Raum geben, die deren Umgang mit der Leiblichkeit einschließt und »die Fahne der Aufklärung mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire von neuen weiter [trägt]«. 59 In gewisser Hinsicht scheint der Erzähler hier ein Erbe aufzunehmen, das Foucault »auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst« in seinen Untersuchungen über die Selbstkonstitution des Subjektes in Antike und hellenistisch-römischer Spätantike vertiefen wird. 60 Auch in Thai's unterliegen Sexualität und Erotik noch nicht ausschließlich der Obhut einer christlichen Pastoralmacht. Dem Subjekt selbst bleibt es vorbehalten, die für sein Leben notwendige Ökonomie aus Askese und Lust zu erkunden. 61 Sofern es sich einer solchen Aufgabe nicht unterzieht und diese an die göttliche Instanz seines schlechten Gewissens delegiert, muss es wie der männliche Held Paphnutius scheitern und an der Überreizung des eigenen Sexus vergehen. 62 Doch erschöpft sich der contephilosophique keinesfalls in der Bebilderung des Arguments, das der Autonomie des menschlichen Gewissens gegenüber überindividuellen Mächten das Wort redete. Gegenüber dem klassischen Muster des 18. Jahrhunderts und dem >philosophischen< Roman neuen Typs nimmt Thais einen Mittelstatus ein, der den Effekt des Orientalischen auf produktive Weise entgrenzt. Nicht anders als die zuletzt genannte Diskursart generiert der Text Räume, in denen das Ringen der Signifikanten bestehende Bedeutungszusammenhänge sprengen oder sich zu
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Reichen wurde attestiert, dass sie sich dem Teufelskreis einer erstarrten Überlieferung nicht zu entziehen wüssten. So erfährt der despotisme im »gouvernement tyrannique, arbitraire & absolu d'un seul homme« nicht nur eine semantische Zuordnung, sondern auch eine Geographie: »tel est le gouvernement de Turquie, du Mogol, du Japon, de Perse, & presque de toute l'Asie.« Vornehmlich dem islamischen Orient wird eine Kultur des Krieges und der Verschwendung zugeschrieben, die auch in Zukunft keine Fortschritte erwarten lässt. (Denis Diderot, »Empire d'Orient«, in: Encyclopedie, ou dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers, par une societe de gens de lettres, 35 Bde., Paris, Brisasson/David/Le Breton/Durand, 1751-1780; Reedition CD-Rom Redon. Marsanne 1999), Bd. 5, S. 582-586). Auf dieser Linie befindet sich auch noch Hegels Philosophie der Geschichte: »Wir haben den Despotismus im Orient in glänzender Ausbildung als eine dem Morgenland entsprechende Gestaltung gesehen; nicht minder ist die demokratische Form in Griechenland die welthistorische Bestimmung.« (Werke, Bd. 12, S. 306). Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 435—1008, hier: S. 466ff. Vgl. Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt a. M„ Suhrkamp, 2 1992 ('1991). Beispielhaft ist auch hier Nicias »un homme gracieux et souriant [avec] une expression de douce ironie [...] repandue sur son visage« (vgl. France, Thai's, S. 37). Der Roman wäre ein treffliches Muster für das von Foucault in der Histoire de la sexualite untersuchte Verhältnis von Stimulation und Repression der Sexualität, das dieser auch auf den Bekenntnischarakter des Christentums zurückführt. In den genannten Quellen wie im Roman ist das Bekennertum selbst nur die hintergründige Seite des Bekehrungsmotivs (3 Bde., Paris, Gallimard, 1994, Bd. 1, La Volonte de savoir).
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neuen gemeinsamen Sinngrößen vereinigen kann. Das Licht steht nicht in bloßer Opposition, sondern in Relation zur vermeintlichen Finsternis, so dass sich beide Seiten nicht mehr auf Taxonomien reduzieren lassen, die wie >Reinheit< und >Unreinheit< denen des von Nietzsche kritisierten Rousseau entsprechen, 6 3 oder wie >Wahrheit< und >Blendwerk< den für den (islamischen) Orient angenommenen Gegensätzen in den klassischen contes folgen. 6 4
4. Der Orient als Landschaft des Übergangs u n d der fließenden Zeit A u c h i m vorliegenden R o m a n bleibt das i m ausgehenden 19. Jahrhundert gängige Orientbild in seiner mythischen Grundstruktur weitgehend unangetastet, zumal der Erzähler zu Geschichtsverzerrungen u n d Übertreibungen neigt, sofern diese seinen pädagogischen Absichten förderlich sind. 6 5 A u f g r u n d dieses relationalen Charakters bringt es sich gleichwohl nicht als bloße Beglaubigung eines aufgeklärten Okzidents in Erinnerung. In der U m d e u t u n g von Legenden u n d Heiligenviten findet der Schüler Renans vielmehr Gelegenheit, jene Voraussetzungen bloß zu legen, die auf einer problematisch gewordenen Philologie des Christentums beruhen u n d die kulturgeschichtlichen Kontexte der kanonisierten biblischen Schriften zur Verkündigung des Glaubens auszublenden pflegen. Seine Selbstinszenierung als konsequenter Opponent »[contre] la mainmise [de l'eglise] sur toutes les consciences« 6 6 u n d seine Reputation als dilettantischer »bon petit humaniste« 6 7 u n d »neo grec« 6 8 präjudizieren eher ein dynamisches u n d unabgeschlossenes Bild vom Osten, das sich der freilich nicht unumstrittenen Tradition der historisch-kritischen Schule anschließt. 6 9 Ähnlich der Tentation in ihren drei
Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches, 1. Bd., in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 437-733, hier: S. 677. 6 4 Vgl. Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans. München, Beck, 1970, S. 345. 6 5 Vgl. Robert Laulan, »Anatole France. Thais et la vie des stylites«, in: Revue d'Histoire Litteraire de la France Bd. 65/1965, S. 220-232. Aus dieser Sicht fällt es schwer, den Text unter der Diskursart historischer Roman< zu verzeichnen, selbst unter dem Gesichtspunkt einer fiktionalen Geschichtsschreibung, wie sie in einer Reihe von neueren Romanen vertreten ist (vgl. Kian-Harald Karimi, »Die Historie als Vorratskammer der Kostüme. Der zeitgenössische spanische Roman und die Auseinandersetzung mit der Geschichte vor dem Bürgerkrieg«, Iberoamericana Bd. 23/1999, H. 3 ^ , S. 5—37, sowie ders., »Vom historischen Realismus zur historischen Fiktion. Entwicklungszüge des historischen Romans zwischen Sir Walter Scott und Jose Saramago«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift Bd. 56/2006). 66 France, »Preface«, in: Combes, Une Campagne lai'que, S. XXXIV. 67 France, Le Livre de mon ami, in: Giuvres, S. 433-583, hier: S. 507. 6 8 Vgl. Emile Zola, in: Gier, Der Skeptiker im Gespräch mit seinem Leser, S. 44. ® Vgl. Maurice Ölender, Les Langues du Paradis. Aryens et Semites: un couple providentiel, Paris, Gallimard, 1989 (über den Zusammenhang zwischen Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert).
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Versionen ist der Roman folglich auf den Untergang der heidnisch-antiken Welt an der Wende zum Christentum gerichtet. M i t der Gleichzeitigkeit von ägyptischer Zivilisation, griechischer Bildung und römischer Verwaltung eröffnet sich dem Leser eine in allen Schichten freigelegte Archäologie der Geschichte, 7 0 die sich ihm gleichviel im Orient und Okzident, in der Geschichte seiner eigenen Kultur, erschließt. Der Osten setzt sich also dem Westen nicht schlechthin entgegen, zumal er sich, den Enzyklopädien der Zeit zufolge, ohnehin nicht in festen Konturen abzubilden scheint: M a g das Morgenland zunächst noch ganz »Asien und das nordwestliche Afrika« umfassen, beschränkt sich sein Wirkungskreis im Sinne der Orientreisen auf »Unterägypten, Palästina und Syrien.« 7 1 Auch das französische Pendant nimmt Bezug auf »les delimitations geographiques de ce pays indetermine qu'on appelle l'Orient«, deren Bezeichnung sich als ebenso flüchtig, »rien de plus vague, en effet, rien de plus mal«, erweisen wie die Grenzen, die es umschließen. 7 2 Nichts entspräche dieser dehnbaren Bestimmung des Ostens (»un territoire quelconque situe ä Test«) mehr als die im Roman vorgenommene: Selbst im Zeitalter des europäischen Imperialismus, in dem schroffe Antinomien und dumpfe Feindbilder auf wissenschaftliche und philosophische Fürsprache hoffen dürfen, stellt sich der Orient hier als eine Landschaft dar, deren Geschichte uneigentliche und eigentliche Gegenwart des Westens zugleich ist. Uber seine historische Bedeutung als »a'ieule du monde civilise« 73 hinaus wird der Handlungsort Ägypten als traditionelle Drehscheibe zwischen den Religionen und Kulturen anerkannt. Auch französische Literaten wie Eugene Fromentin oder Louise Colet sind sich der geopolitischen Bedeutung dieser Region zwischen den drei Kontinenten bewusst, »[qui] modifie la conception de l'Orient traditionel en Fouvrant sur ses confins«. 7 4 Speziell die antike Metropole Alexandria verkörpert diesen Topos »[par son] importance, sa prosperite et son admirable position [qui] Font designee de tout temps l'avidite des conquerants«. 7 5 Als Hauptstadt des Ptolomäerreiches (331—30 ν. Chr.), »que les Grecs ont surnommee la belle et la doree«, 7 6 als römische Provinzhauptstadt ( 3 0 - 2 8 4 n.Chr.) oder als Sitz des Patriarchen ( 2 8 4 - 6 4 1 n. Chr.),
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Vgl. H a n n u Riikonen, Die Antike i m historischen R o m a n des 19. Jahrhunderts, Helsinki, Societas Scientitiarum Fenica, 1978, S. 133—134. »Orient«, in: Brockhaus kleines Konversationslexikon, Bd. 2, S. 3 1 7 . »Orient«, in: Grand Dictionnaire Universel de Pierre Larousse, Bd. 15, S. 1 4 6 3 - 1 4 6 6 , hier: S. 1463. »Egypte«, in: Grand Dictionnaire Universel de Pierre Larousse, Bd. 7, S. 266—276, hier: S. 2 6 8 . Peltre, Dictionnaire culturel de l'orientalisme, S. 4 9 . »Alexandrie«, in: Grand Dictionnaire universel de Pierre Larousse, Bd. 1, S. 193—194, hier: S. 194. France, Thais, S. 33.
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Kian-Harald Karimi zieht Alexandria »geradezu magnetisch Menschen aller Art aus aller Welt« an. 7 7 Selten finden Griechen, Juden, Ägypter und zahlreiche Einwanderer in Frieden zueinander. Zum Zeitpunkt des Niedergangs der antiken Welt sitzen sie auf einem Pulverfass, das sich, wie auch der Roman zeigt, gerade angesichts weitreichender religiöser Erschütterungen zu entladen droht. Gleich einem Babylon der Moderne, einer Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, setzt sich das polyglotte Alexandria als »religiöses Zentrum der östlichen Mittelmeerwelt« 7 8 jenen Wüsten des Glaubens entgegen, in dem christliche Asketen, Propheten und Mönche sich sammeln. Dem M ö n c h Paphnutius, »seduit par les mensonges des poetes«, erscheint seine Heimatstadt verlockend und gottlos zugleich. Seine Erinnerung »[de] sa premiere jeunesse« ist vom Irrtum und Zweifel, vom »erreur de son esprit et le dereglement de sa pensee« und nicht zuletzt von Thais selbst besetzt, »qui vit dans le peche et demeure pour le peuple un objet de scandale«. 7 9 In ihrer zurückliegenden Geschichte war die Stadt eine Heimsuchung für die Diaspora-Christen, für jene Migranten aus Syrien, Arabien und Mesopotamien gewesen, deren Glaube sie in den Verfolgungen römischer Imperatoren, »les basiliques [ . . . ] renversees, les livres saints brüles, les vases sacres et les chandeliers fondus« 8 0 eint. Zugleich ist Alexandria aber auch eine Stätte der Gastmahle, bei denen Philosophen, Dichter und Politiker die metaphysischen Veränderungen, die Ankunft der neuen und die Dämmerung der alten Götter erörtern: An einem Bankett nach dem »literarischen Vorbild [von] Piatons Symposium« 8 1 nehmen Gäste, wie der Stoiker Eukrit, der Ästhet Nicias, der Epikureer Dorion, der Manichäer Zenothemis und der Arianer Markus teil, die in ihrer Meinungsvielfalt den Pariser Cenacles des Fin de siecle und der Belle Epoque in nichts nachzustehen scheinen. 8 2 Im vorliegenden Roman ist der Orient vor allem ein Zeitphänomen, in dem der Ubergangscharakter des Raums umso mehr Prägnanz erhält, als hier angesichts des Epochenbruchs das Werden von Glaubensauffassungen und damit auch die Relativität von Wahrheit problematisiert wird. Obwohl im Roman keine Jahreszahlen vermerkt sind, kreist die semantisierte historische Zeit u m das Lebensende des Heiligen Antonius, also etwa u m das Jahr 356 nach Christus. Sie scheint ein neues Weltzeitalter einzuläuten. Konstantin der Große hatte das Christentum zweiunddreißig Jahre zuvor auch im Osten des Reiches zur Staatsreligion erhoben, und der heidnische Götterkult war schrittweise zurückgedrängt
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Vgl. Manfred Clauss, Alexandria. Eine antike Weltstadt, Stuttgart, Klett-Cotta, 2003, S. 8. Clauss, Alexandria, S. 255. France, Thai's, S. 14 bzw. S. 19. France, Thai's, S. 64. Riikonen, Die Antike im historischen Roman des 19. Jahrhunderts, S. 192—193. Freilich ist es bezeichnend, dass sich der Abt von Antinoe an diesem Tischgespräch mit keinem Wort beteiligt und darin geradezu ein Sinnbild für die Gesprächsunwilligkeit der Kirche nach dem Ersten Vatikanum wird.
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worden. Doch der Triumph der neuen allmächtigen Gottheit ist von zahlreichen Ereignissen verdunkelt, welche die Vielzahl der Götter auf eine Fülle von Sekten verlagert: Die ägyptischen Christen sind in blutige Auseinandersetzungen über das unitarische Wesen Gottes verstrickt, so dass sich die Koptische Kirche Ägyptens nach dem vierten ökumenischen Konzil 4 5 1 nach Christus schließlich von den übrigen christlichen Kirchen abspaltet. In der dargestellten Zeit des Romans sind es vor allem die Arianer, die Alexandria aus der Sicht des heimkehrenden Paphnutius in eine »couche impudique des gentils, chaire empestee des ariens« verwandelt hat. So ist es ihm versagt, die Kirchen zu besuchen, »parce qu'il les savait profanees par les ariens, qui y avaient renverse la table du Seigneur«. 8 3 Setzen wir die dargestellte Zeit mit dem weiteren historischen Verlauf in Bezug, ergeben sich aufschlussreiche Einblicke in die Handlung selbst: Eingesäumt von M a r k Aurel und Mohammed, beschränkt sich der christliche Orient im anachronistischen Bewusstsein des zeitgenössischen Lesers letztlich auf eine dreihundert Jahre währende Episode der Geschichte: 8 4 Werden unter Justinian I. ( 5 2 7 - 5 6 5 n.Chr.) die letzten heidnischen Schulen in Alexandria geschlossen und der Isistempel von Philae zerstört, so schlagen die Araber die byzantinisch-oströmischen Truppen im Zuge ihrer Expansion kaum hundert Jahre später. Ägypten und »die große Stadt des Abendlandes« werden zum Kalifat, wie ein arabischer Chronist schreibt. 8 5 Wieder wird das Christentum Kirche in der Diaspora. Was keine Finalität im historischen Geschehen besiegelt, wird in der Fatalität des christlichen Helden simuliert: Die Bekehrung der Thais zieht die Verdammnis ihres Retters nach sich, an dem noch die geschmähte Liebesgöttin Rache zu nehmen scheint. Nicht an der Zeitachse einer geschichtsphilosophischen Progression, auf der sich die Moderne gewissermaßen als Klimax ausnehmen könnte, orientiert sich daher der Blick des skeptischen Erzählers auf das spätantike Alexandria. Die Vergleichsgrundlage, auf die dieser rekurriert, ist - anders als etwa jene in der 1871 uraufgeführten Oper Aida — nicht jenes Ägypten, wie es Said in seiner Analyse beschreibt. 8 6 Kann sich der Fortschritt des bürgerlichen Zeitalters da an der historistischen Folie einer archaischen und musealen Zeit umso anschaulicher messen, lässt der vorliegende Roman ein eher zyklisches Zeitverständnis erkennen, wie es in Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen angelegt ist. 8 7
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France, Thai's, S. 43. Vgl. Peter Brown, The World of Late Antiquity. From Marcus Aurelius to Muhammad, London, Thames & Hudson, 1971. Clauss, Alexandria, S. 327. Said, Culture and Imperialism, London, Vintage, 1994, S. 146. Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Hamburg, Meiner, 4 1984 ('1956).
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Kian-Harald Karimi A n einer Stelle unseres Romans teilt sich dem Leser diese Rückkehr des Gleichen in den Erscheinungen des Anderen mit, wenn es über eine archaische Kultstätte heißt: »C'est la que les Egyptiens, au temps oü ils adoraient les demons, taillaient leurs idoles.« 8 8 Dieser Zyklus ist keineswegs abgeschlossen. W i e die Sonne im Osten den Tag ankündigt, um im Westen unterzugehen, so werden auch Glaube und Aberglaube von der orientalischen Spätantike an die westliche Moderne weitergegeben, die nicht auf eigene Mythen und Halbgötter zu verzichten vermag. Von dieser Zeitvorstellung bleibt die Gestalt der Thais freilich ebenso wenig ausgenommen, zumal der Autor namentlich »les personnes simples« darüber aufklärt, dass sie keine »fiction inspiree par l'amour de la sagesse« zu erwarten haben, »et qu'on risquait meme de leur deplaire«. 8 9 Eine Perspektive, wie sie sich aus der Aufklärung, der idealistischen Philosophie und dem Positivismus Comtes eröffnete, hätte den historischen Verlauf, der die Geliebte Alexanders von der Heiligen trennt, noch als realen Fortschritt im Prozess der »subordination constante de l'imagination ä l'observation« begriffen. 9 0 Die Christianisierung der Thais wäre unter diesen Voraussetzungen zumindest als notwendiger Zwischenschritt einer Vernunft zu begreifen, die sich von den dunklen Schichten der »blindesten Vielgötterei« emanzipiert und zur Erkenntnis des einen Gottes bzw. zu weiteren universal-logischen Weltprinzipien emporgearbeitet hätte. 9 1 Stattdessen spielt der vorliegende R o m a n mit den Geschichten über Thais, denen schon Johann Gustav Droysen den Charakter einer bloßen Fabel bescheinigt hatte. 9 2 So ist auf dem Bankett von einer »courtisane grecque, qui vivait au IVe siecle av. J.-C.« die Rede, die wie die unsterbliche Helena die eunoia, den Gedanken Gottes, verkörpere und dabei stets der Wiedergeburt teilhaftig werde: »Charmante comme aux jours de Priam et de FAsie en fleur, Eunoia se nomme aujourd'hui Thais.« 9 - 1 Nicht das Absterben der Metaphysik ist daher zu verkünden, um einen Leitgedanken des auch noch 1890 vielbeachteten Discours sur l'esprit positif aufzugreifen, der diese zu einer temporären historischen Erscheinung, zu »une sorte de theologie graduellement enervee par des simplifications dissolvantes« degradiert. 9 4 Selbst wenn Religionen vergehen, werfen sie noch in ihrer Agonie lange Schatten, die sich einmal einer sinnlichen Wahrnehmung entziehen, ein anderes Mal aber mit bloßem Auge erkennbar sind: Zur letzten Kategorie gehören Reliquien, die
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France, Thai's, S. 23. France, Thals, S. 872. Auguste Comte, Discours sur l'esprit positif, Paris, Imprimerie anastatique, 1995, S. 71. Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant, Werke in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M „ Suhrkamp, 1977, Bd. 4, S. 527-528. Johann Gustav Droysen, Geschichte des Hellenismus, hrsg. von Erich Bayer, 3 Bde., Tübingen, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, 1952-1953, Bd. 1, S. 231. France, Thai's, S. 127. Comte, Discours sur l'esprit positif, S. 61.
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Händler als Folklore und billige Artefakte in der Nähe eindrucksvoller Gräberstätten, der »grande necropole d'Alexandrie«, anzubieten pflegen. So sind die angrenzenden Geschäfte, »pleines de ces figurines d'argile, peintes de couleurs claires, qui representent des dieux et des deesses, des mimes, des femmes, de petits genies ailes, et qu'on a coutume d'ensevelir avec les morts«. 9 5 W i e freigeistig ein Mensch auch sein mag, diese »legers simulacres« werden auch seinen ewigen Schlaf begleiten, ohne ihm freilich mehr als schale Tröstung zu gewähren. Als solche sind sie schließlich da am überzeugendsten, wo sie, die Toten beklagend, selbst zu Symbolen absterbenden Glaubens geworden sind. Diese Indifferenz gegenüber den alten Kulten befördert einen Werterelativismus »conforme aux prejuges qui regnent ä Alexandrie« und ein Leben nach den Regeln bestehender Konventionen, denen man sich nur dem äußeren Anschein nach unterzuordnen hat. 9 6 Dennoch verläuft das Schicksal der Einzelsphärengötter auf keiner chronologischen Linie, aus der sich eine Gesetzmäßigkeit ihres Ablebens ableiten ließe. Der Gleichmut, den Epikuräer oder Libertins an den Tag legen, rivalisiert mit der Leidenschaft eines Asketen wie Paphnutius, entfacht durch die Geburt immer neuer Glaubenslehren. Nur eine Religion wie das frühe Christentum, das den »Mythos seiner Verfolgung nicht mehr aufrechterhalten kann«, bedarf auch neuer »Formen des Verzichts und der Enthaltsamkeit«. 9 7 In dieser Weltflucht verfällt der neue Glaube aber der Macht jener naturhaften Mythen, deren Hartnäckigkeit seiner Revolution notwendige Konsistenz verleiht. Denn niemals waren »die Massen abergläubischer, die Vornehmen wundersüchtiger, die Philosophen mystischer als in der Zeit der Ausbreitung des Christentums«. 9 8 Der Fall des Paphnutius, der an den Säulensteher Simeon erinnert, illustriert diese merkwürdige W i r k u n g : Auch er bewegt die Phantasie des Volkes, das »die Heraufkunft des heiligen Mannes«, eines fassbaren Erlösers, herbeisehnt. 9 9 Dem Wahn der Thais verfallen, trotzt er W i n d und Wetter auf einer Säule, die wie ein aufgerichteter Phallus Frauen dazu anregt, ihre unfruchtbaren Lenden an den Steinen zu reiben. Das zeitgenössische Beispiel Lourdes' vor Augen, lässt der Erzähler einen Wallfahrtsort entstehen, der nicht nur fromme Pilger, sondern auch Gaukler, Händler und Tänzerinnen unterschiedlicher Nationalität anlockt. Als Statthalter Roms in Syrien hatte der Flottenpräfekt Cotta schon Bekanntschaft mit ähnlichen Überlieferungen gemacht, die offenbar im gesamten Orient eine Heimat haben:
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France, Thals, S. 66. France, Thai's, S. 41. Brown, The World of Late Antiquity, S. 271. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 10 Bde., Leipzig, Brandstetter, 1873-1875, S. 943. Brown, The World of Late Antiquity, S. 131.
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[...] j'ai vu des phallus eriges sur les propylees de la ville d'Hera. Un homme y monte deux fois l'an et y demeure pendant sept jours. Le peuple est persuade que cet homme, conversant avec les dieux, obtient de leur providence la prosperite de la Syrie. 100 In dieser äußersten Steigerung des religiösen Gefühls, das alle Brücken zur Außenwelt abbricht u n d in der W ü s t e Zuflucht vor der eigenen sündigen N a t u r sucht, sind Zweifel gegenüber einem allmächtigen u n d gleichwohl gütigen Gott — in der Antike wie der Neuzeit - schon angelegt. 1 0 1 Was fast über ein Jahrtausend, »sous les formes d ' u n e theologie negative,« in der christlichen M y s t i k wirkt, verdichtet sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Nietzsche, M a l l a r m e u n d Artaud zu einem Bewusstsein von der Abwesenheit des Göttlichen, das die Kultur noch wie eine unverrückbare G r a m m a t i k zusammenhalten k ö n n t e . 1 0 2 A u c h i m R o m a n hat diese Negativität eine S t i m m e i m Freidenker Nicias, d e m die W o r t e fehlen, u m der Grenze zwischen d e m Nichts u n d d e m Ganzen eine begriffliche D e u t u n g abzuringen: L'infini ressemble parfaitement au neant: ils sont tous deux inconcevables. A mon avis, la perfection coüte tres eher: on la paye de tout son etre, et pour l'obtenir il faut cesser d'exister. C'est lä une disgrace ä laquelle Dieu lui-meme n'a pas echappe depuis que les philosophes se sont mis en tete de le perfectionner. Apres cela, si nous ne savons pas ce que c'est que de ne pas etre. Nous ignorons par la meme ce que c'est que d'etre. Nous ne savons rien.10-1
5. Der Orient als Ort der Überlagerung von Poly- u n d M o n o t h e i s m u s W i e der Orient d e m Okzident nicht länger statisch in einer semantisch-topographischen Opposition gegenüber steht, sondern die beiden sich notwendigerweise gegenseitig implizieren, so bilden sich Spätantike u n d » M o d e r n e als W o h n o r t griechischer Götter« 1 0 4 im Übergangscharakter ihrer Zeitalter ab. Der christliche Glaube, der im 19. Jahrhundert in eine religionsgeschichtliche Entwicklung eingefasst ist, 1 0 5 n i m m t nicht länger eine Sonderstellung ein u n d stellt auch keinen End- oder gar H ö h e p u n k t in der Geschichte der Religionen dar. Im Widerschein der verblichen geglaubten paganen Religionen erfährt das C h r i s t e n t u m sein eigenes historisches Schicksal:
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France, Thais, S. 182. Vgl. Oskar Köhler, »Die Ausbildung der Katholizismen in der modernen Gesellschaft«, in: Hubert Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, 12 Bde., Freiburg i. Br., Herder, 1999, Bd. 6,2, S. 195—264, hier: S. 253ff. Analogien findet dieser Glaubenseifer im verzweifelten Aufflackern des Glaubens (etwa des renonvean catholique), der France zu besonders wütenden Attacken hinriss. Michel Foucault, La pensee du dehors, Paris, Editions Fata Morgana, 1986, S. 49. France, Thai's, S. 114-115. Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionsgeschichte und Moderne, München, Beck, 1997, S. 143. Vgl. ebd.
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Apres la mort des dieux pai'ens et leur inhumation dans les trefonds de l'histoire, la fin du dix-neuvieme montre volontiers ces memes dieux prets ä ressortir des tanieres oü le christianisme desormais vacillant les avaient relegues du temps de sa gloire, pour reprendre leur place premiere et en decoudre avec cette religion du peche. Venus, longtemps ignoree, fait partie de ces dieux en colere.' 0 6
Die Moderne weist auf die Spätantike als eine Verfallszeit der Religionen und Imperien zurück. In beiden Zeitaltern, in denen Mono- und Polytheismus einander ablösen, steht das Feste in unmittelbarer Nachbarschaft zum Flüchtigen. Anders als Novalis es prophezeit hatte, 1 0 7 »wechseln Götter und Gespenster auf der Bühne gleichberechtigt ab, egalitär wie tanzender Staub, [...] da keine theologische Macht mehr [oder noch nicht] bereit steht, sie zu lenken und zu ordnen.« 1 0 8 Auch die heilige Thais ist von dieser Bewegung der Metaphysik nicht ausgenommen: Obwohl sie schon seit frühester Jugend zum Christentum konvertiert war, bedarf ihr Glaube der unvermindert wirkmächtigen Bilderwelt der Gentilen. Dass sich in ihrer religiösen Bildung die Lehren der »pretres d'Isis, de mages chaldeens, de pharmacopoles et de sorciers« mit denen des »Jesus-Christ, [de] la bonne deesse des Syriens [et de] la sombre Hecate« vermischen, spricht für das orientalische Erbe, das der neue Glaube bis in die Moderne tradiert hat. Selbst in der Zeit ihrer Bekehrung wird Thais zudem von der unreinen Verbindung eros und ecclesia bedrängt, »[quand eile,] oppressee par l'etreinte du moine, sa chair delicate froissee contre le rude cilice, sentait courir en eile les frissons de l'horreur et de la volupte.« 1 0 9 Auch der Sklave Ahmed, der die noch recht junge Thais in den christlichen Glauben einweist, kommt aus der wunderbaren Fabelwelt des Orients. In seiner Einfalt hat er sich einen geradezu apokryphen Sinn fur religiöse Erzählungen bewahrt, in denen die Passion Christi eng mit den Bildern ägyptischer Gottkönige als Widersacher römischer Fremdherrscher verknüpft ist. Der göttliche Vater, »[qui] vivait dans le ciel comme un Pharaon sous les tentes de son harem et sous les arbres de ses jardins«, habe seinen Sohn, den Prinzen Jesus, einst angewiesen, seinen Harem und Palast zu verlassen, um zu den Menschen hinabzusteigen. Als kleines Kind solle er deren Leiden teilen und mit den Armen leben. Während diese in Liebe und Glauben zu ihm aufschauten, habe er das soziale Ressentiment der Reichen auf sich gezogen, »redoutant qu'il n'elevat les pauvres
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Sophie Jeddi, »Venus pervertie, variations autour de l'anneau de Venus ou Femergence d'une Venus chretienne«, Litteratures Bd. 1/2001, S. 4 7 - 5 9 , hier: S. 47. Die Christenheit oder Europa, in: Novalis, Schriften, hrsg. von Richard Samuel und Paul Kluckhohn, 4 Bde., Leipzig, Meyers Klassiker Ausgaben, 1928, Bd. 2, S. 6 7 - 8 4 , hier: S. 80: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster, und die eigentliche Entstehungszeit der europäischen Gespenster, die auch ihre Gestalt ziemlich vollständig erklärt, ist die Periode des Uebergangs der griechischen Götterlehre in das Christenthum.« Roberto Calasso, Die Literatur und die Götter, München/Wien, Hanser, 2003, S. 75. France, Thais, S. 146.
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Kian-Harald Karimi au-dessus d'eux.« Cleopatra und Cäsar, die zu den Mächtigen der Erde gehörten, »ordonnerent aux juges et aux pretres de le faire mourir.« Die Fürsten Syriens ließen ein Kreuz auf einen hohen Berg stellen, auf dem Jesus seinen Tod erlitt, »mais des femmes laverent le corps et l'ensevelirent, et le prince Jesus, ayant brise le couvercle de son tombeau, remonta vers le bon Seigneur son pere.« 110 Diese Orientalisierung des Christentums führt das Leben Jesu auf jenes Territorium zurück, in dem es einst in den uns vertrauten Uberlieferungen gewirkt hatte. Die Demut des Sklaven korrespondiert hier, wenn wir von Zugeständnissen an einen märchenhaften Volksglauben absehen, mit dem religionsgeschichtlichen Vorgehen eines prominenten Orientalisten »im umfassendsten Sinne des Wortes: Kenner aller kleinasiatischen Sprachen, Glaubensdialekte und Lebensformen [...]«, so Egon Friedeil über Ernest Renan. 111 Obschon dieser sich mit seiner Jesus-Biographie auch als »eine Art Romancier« erweist,112 will er alles andere als eine Verklärung des Religionsstifters. Im Mittelpunkt steht dessen Humanisierung, die notwendigerweise die Lebenswelten des Nahen Ostens einschließen muss, etwa wenn er mit den Bildungsgrundlagen des jungen Nazareners, »la methode de l'orient, consistant mettre entre les mains de l'enfant un livre qu'il repete en cadence avec ses petits camarades«, erwähnt. Oder wenn Renan den Erwartungshorizont des Lesers mit der Bemerkung zurecht rückt, »[que] la delicatesse des manieres et la finesse de l'esprit n'ont rien de commun en Orient avec ce que nous appelons education.« 113 Wie sehr christliche Einbildungsstrukturen auch aus Erzählungen, Wunderglauben und kulturellen Bindungen des Orients schöpfen, so wenig kann das Christentum selbst über seine Vorgeschichte verfügen. Die spätantik-hellenistische Welt mit ihren Heroen, Gelehrten und Philosophen ist zwar auch in das christliche Bildungsgut eingegangen, letzteres ist aber nicht Voraussetzung zum Verständnis des klassischen Erbes. Dergleichen muss auch der Abt von Antinoe erfahren — allerdings im Rahmen eines Traums, den er nicht zu deuten versteht. Sein Blick fällt auf einen Abgrund, der unter dem Eindruck gepeinigter Seelen zunächst den Anschein einer Hölle erweckt, wie man sie etwa aus der Divina Commedia kennt. Doch diese Ansicht täuscht, da sich die Toten eher in einem Panoptikum der paganen Welt zu befinden scheinen und die Schläge der Dämonen ungerührt ertragen. Während der Schatten Homers, späteren Poeten zum Vorbild, noch in seinen Gesang einstimmt, zieht der Philosoph Anaxagoras, der Begründer des auch für die christliche Lehre bedeutsamen Dualismus von Geist
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France, Thals, S. 5 5 - 5 6 . Egon Friedeil, Kulturgeschichte der Neuzeit, 2 Bde., München, Beck, 2 1976 ^ m e ) , Bd. 2, S. 1186. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, S. 1184. Ernest Renan, Vie de Jesus, Paris, Gallimard, 1974, S. 130—131. Vgl. dazu auch Gier, Der Skeptiker im Gespräch mit seinem Leser, S. 148—151.
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und Materie, weiterhin seine Kreise im Staub. Dass die schlimmsten Foltern den Heidensöhnen nichts anhaben können, will dem Mönch nicht einleuchten. Selbst die Macht des christlichen Gottes stößt an Grenzen, welche die Unkenntnis der paganen Welt geschaffen haben: Tel est l'entetement de ces infideles, qu'ils demeurent dans l'enfer victimes des illusions qui les seduisaient sur la terre. La mort ne les a pas disabuses, car il est bien clair qu'il ne suffit pas de mourir pour voir Dieu. Ceux-lä qui ignoraient la verite parmi les hommes, l'ignoreront toujours. [...] C'est pourquoi ces ämes ne la voient ni ne la sentent. Etrangeres ä toute verite, elles ne connaissent point leur propre condamnation, et Dieu meme ne peut les contraindre ä souffrir. [...] II ne peut Γabsurde, repondit la femme voilee. Pour les punir, il faudrait les eclairer et s'ils possedaient la verite ils seraient semblables aux elus. 114
Diese Unverfügbarkeit der antiken Welt korrespondiert mit dem Unvermögen der Moderne, sich die Disparatheit der Erscheinungen und Überlieferungen ungeachtet eigener Systemambitionen noch im Monotheismus von religiösen und philosophischen Entwürfen vorstellbar machen zu können. So ist die Moderne »ein unermessliches Trümmerfeld religiöser Traditionen, metaphysischer Behauptungen, demonstrierter Systeme«. Möglichkeiten aller Art, den Zusammenhang der Dinge wissenschaftlich zu begründen, dichterisch darzustellen oder religiös zu verkünden, habe der Menschengeist, so Dilthey, über Jahrhunderte versucht und durchgeprobt, ohne zu einer abschließenden Wahrheit zu gelangen: »Eins dieser Systeme schließt das andere aus, eins widerlegt das andere, keines vermag sich zu beweisen«. 1 1 5 Angesichts der Fülle dieser Stimmen, die selbst im einzelnen Subjekt zu einem Gewirr anschwellen, fällt es schwer, noch einem Gott Gehör zu schenken, der sich mit einem guten menschlichen Gewissen einig wüsste. Von Trugbildern und alptraumartigen Gebilden geplagt, die seinen mühsam niedergehaltenen erotischen Phantasien immer neue Nahrung geben, verliert sich der M ö n c h von Antinoe in einer altägyptischen Gräberstadt. An diesem stummen Ort erstirbt auch jene allwissende göttliche Stimme, von der er sich sicher durch das Dickicht geschundener Leiblichkeit, erotischen Begehrens, kultureller Milieus und religiöser Lehren geführt zu haben glaubte. In einer Totenstätte weist seine innere Stimme ihn auf Wandmalereien hin, »qui representaient des scenes riantes et familieres«. M i t einem besonderen Sinn für das Authentische zeigt dieser »ouvrage tres ancien« Szenen aus dem täglichen Leben: Köche bei der Zubereitung von Speisen, Jäger nach der Pirsch, Bauern beim Einholen ihrer Ernte und schließlich ein junges Mädchen beim Flötenspiel. 1 1 6 In diesen Darstellungen
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France, Thals, S. 4 5 - 4 6 . Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: W. D., Gesammelte Schriften, 23 Bde., hrsg. von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi, Leipzig/Berlin/Stuttgart, Teubner, 1931-2000, Bd. 8, S. 75-112, hier: S. 76. France, Thais, S. 189-190.
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Kian-Harald Karimi vermag der Mönch lediglich Eitelkeiten eines heidnischen Lebens zu erkennen, das doch endgültig erloschen ist. Aber immerhin habe dieser Tote gelebt, während Paphnutius ebenfalls sterben werde, ohne sein einziges Leben jemals gelebt zu haben, gibt die vermeintlich göttliche Stimme zurück. In diese mischen sich alle dämonischen Sprachen der eigenen Gefallsucht, »Orgueil, Luxure et Doute«, die den Abt nur über die eigene Reue aufklären, sein eigenes Begehren niemals befriedigt zu haben. 117 Ob »der Glaube an Autoritäten die Quelle des Gewissens [ist]« oder ob sich in ihr die Geständnisse des Fleisches offenbaren, offensichtlich bewährt sich hier »nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.« 118 Wie wäre dies auch anders möglich bei einem Höchsten Wesen, über das gleich dem Christentum selbst so unterschiedliche religiöse Systeme und Anschauungen des Orients wie »der Judaismus (Paulus); der Piatonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus ( - Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, - Orient...).« Herr geworden sind, so Friedrich Nietzsche in seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches,119 Dem Verstummen des göttlichen Idioms als Garanten eines untrüglichen ethischen Urteils und der Entzweiung des menschlichen Gewissens vom göttlichen Uber-Ich ist ein weiteres Element, die Auflösung der christlichen Figura, zugeordnet, aus dem sich auch die Grenzen zwischen Orient und Okzident öffnen.
6. Die Auflösung der Figura-Typologie als christliche Denkform Die Dekonstruktion geht als schon klassisch gewordenes Enigma der modernen Literaturwissenschaft auf Martin Heidegger zurück, der die »Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie« ins Spiel gebracht hatte. 120 Dekonstruktionistische Verfahren sind darauf angelegt, im Namen des historischen Erbes Zweideutigkeit und Kontravalenzen in kulturellen Überlieferungen und Wertsystemen sichtbar zu machen. Zeichen werden als in sich gespaltene Einheiten begriffen, welche die Spuren anderer Zeichen erkennen lassen und damit auch Schichten abgegoltener Bedeutungsgrößen in sich tragen. Da sich der vorliegende Roman kritisch mit der christlichen Überlieferung befasst, ohne ihr durchgängig in frontaler Opposition zu begegnen, ist es durchaus gerechtfertigt, ihn im Sinne entsprechender Verfahren zu lesen. Aus diesem Grund sei uns ein kleiner Exkurs auf die Figuraldeutung erlaubt, welche die christliche Botschaft aus dem
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France, Thals, S. 2 0 6 . Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 2, S. 4 3 5 - 1 0 0 8 , hier: S. 4 6 7 . Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 3, S. 4 1 5 - 9 2 5 , hier: S. 6 4 2 . Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Niemeyer, 1 7 1 9 9 3 ( 1 1 9 2 7 ) , S. 1 9 - 2 7 .
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Kontext ihrer orientalischen Lebenswelten gelöst hatte. In einer entscheidenden Passage der Bergpredigt {Mt. 5, 17) spricht Jesus über seine Mission: »Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.« Als Gesandter des Vaters nimmt er in mündlicher Rede Bezug auf jene Weissagungen, die in den Textkorpora der Priesterschrift fur das jüdische Volk den Charakter einer göttlichen Offenbarung einnehmen. In dessen Geschichte ist die Erfüllung also auf ein zukünftiges Ziel, das Kommen des Messias, ausgerichtet. Mag die Offenbarung ihre noch so verschlüsselten Zeichen in den heiligen Erzählungen aus fernster Zeit hinterlassen haben, immer gilt es, sie in ihrem verborgenen Deutungsgehalt zu entziffern, um sie als Präfiguration (Typus) des Erlösers zu lesen. Die Erfüllung liegt dabei auf einer Achse, welche deren Wirkungskreis immer weiter ins Zukünftige verschiebt. Aus der Deutung des Menschensohns als fleischgewordenes Verbum und damit als Gottes Sohn erwächst die Bedeutung einer typologischen Hermeneutik, welche die Botschaft Jesu, anders als die jüdische Schriftauslegung, in einen weltgeschichtlichen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam umfassenden Zusammenhang stellt. Die Typologie ist also eine Form des Denkens, die sich aus der tiefsten Erniedrigung und sublimsten Erlösung Christi allgemeine Deutungskategorien nicht nur für beide Testamente aneignet, sondern auch zur Grundlage für eine mimetische Textdeutung, etwa bei Erich Auerbach, wird. 1 2 1 Diese universale Denkbewegung besetzt mit ihrer Typologie die Sinnhorizonte ausnahmslos aller Kulturen, vornehmlich natürlich die des Nahen Ostens. Das Heilsgeschehen bildet sich in figuralen Analogien ab, schreibt sich ebenso in kulturelle Uberlieferungen wie Wissensbestände ein und unterwirft Kunstwerke, Bilder und Gleichnisse seiner hermeneutischen Bewegung. So verwandeln sich diese zu Bedeutungsträgern, die Verheißung im Vergangenen und Gegenwärtigen mit Erfüllung im Zukünftigen verbinden, was Friedrich Nietzsche zur Kritik an jenem »unerhörten philologischen Possenspiel um das Alte Testament« veranlasst: [...] ich meine den Versuch, das Alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israel: während die Juden es sich nur angemalt hätten. [...] wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestierten, überall sollte im Alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein. Uberall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein
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Vgl. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/Stuttgart, Francke, 8 1988 1946). Vgl. auch Seth Lerer (Hrsg.), Literary History and the Challenge of Philology. The Legacy of Erich Auerbach, Stanford, Stanford University Press, 1996; Jörn Stückrath/Jörg Zbinden (Hrsg.), Metageschichte. Hayden White und Paul Ricoeur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft, 1997, sowie Walter Busch/Gerhardt Pickerodt (Hrsg.), Wahrnehmen, Lesen, Deuten. Erich Auerbachs Lektüre der Moderne, Frankfurt a. M., Klostermann, 1998.
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Kian-Harald Karimi Holz, eine Rute, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute dies eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz [ . . . ] ' "
Dieser Hermeneutik, die unzählige Analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos eröffnet, d.h. Ähnlichkeiten »zwischen dem Universum als Ganzem und bestimmten, in ihrer jeweiligen Einheit nach vergleichbaren Prinzipien geordneten Teilen« 1 2 3 konstituiert, folgt auch der sich als Heilsbringer verstehende Abt. Der vorliegende Roman bewegt sich hingegen am metaphysischen Horizont einer Moderne, die sich anschickt, eben diese Verstehens- und Verständigungslogik in Frage zu stellen und als trompe l'oeil aufzudecken. Der vom Glaubenseifer erfasste Paphnutius wird der Sphinx gewahr, die er zunächst als Zeichen des Teufels deutet. Gleich einem Gott, der die unmittelbare Signifikation beherrscht, glaubt er das Rudiment paganer Kultur der christlichen Figura verfügbar zu machen. Indem das halbanimalische Wesen Zeugnis vom Menschensohn, »le saint nom de Jesus Christ«, ablegt, macht es sich zum Echo des zivilisierten Menschen. 1 2 4 Es streift seine barbarische Herkunft ab, um sich im Sinne Hegels gleichsam zum Geist, präziser gesagt zum abendländischen Geist, empor zu arbeiten: Denn »der menschliche Kopf, der aus dem tierischen Leibe herausblickt, stellt den Geist vor, wie er anfängt, sich aus dem Natürlichen zu erheben.« 1 2 5 Dass diese FiguraDeutung dennoch ins Leere läuft, macht sich schon in deren Auflösung für den Leser bemerkbar: Die vermeintlich christianisierte Sphinx sollte sich im Traum des Abtes als jene verschleierte Dame erweisen, die ihn an den Rand des von Heiden bewohnten Abgrundes geleiten und zur Verkünderin götzendienerischer Weisheiten wird. Ähnliche Auflösungen der christlichen Typologie finden sich im Roman zur Genüge, so dass wir uns hier auf ein Beispiel beschränken, welches das Scheitern des männlichen Helden sinnbildlich antizipiert: Dieser beobachtet einen Vogel, der sein Weibchen aus einem Netz zu befreien sucht. Auch ihm wird dieses Erlebnis zu einem Gleichnis, in dem er sich ebenso täuscht wie in allen Erscheinungen, die ihn widersinnigerweise zu einer figural-antizipierten Deutung motivieren: Sein Double entspricht dem eines Phönix aus der Asche, der die in Sünde verstrickte Thais rettet und erlöst. Das Ergebnis ist aber eine prästabilisierte Disharmonie, deren Sinnbilder sich auf ihre Weise ins Leben zurückwerfen: W i e sich der rettende Vogel selbst im Netz verfängt, so wird dem M ö n c h der Eifer seiner eigenen Sendung zum Verhängnis. Anders als dies im Schuldrama der Hrosvit von Gandersheim veranschlagt wird, in dem Mikro- und Makrokosmos noch miteinander harmonieren, die Konversionen des einzelnen Menschen zum
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Morgenröte, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1, S. 1009-1279, hier: S. 1 0 6 7 1068. Ulrike Mörschel, »Makrokosmus/Mikrokosmos«, in: Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., Stuttgart, Metzler, 1980-1999, Bd. 6, Sp. 157-158, hier: Sp. 157. France, Thai's, S. 2 3 - 2 4 . Hegel, Werke, Bd. 12, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 2 4 4 - 2 4 5 .
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christlichen Gott also mit der der gesamten Menschheit zugedachten Erlösungstat korrespondieren, ist das Heilsgeschehen im Roman ungeschehen.
7. Schlussfolgerungen Allenfalls auf der Textoberfläche lässt sich der vorliegende Roman auf die Bekräftigung und Illustration einer These festlegen, wie man sie etwa mit der >Sinnenfeindlichkeit des Christentums vs. der Sinnenfreude der Spätantike und des Orients< umschreiben könnte. Auf dieser durchaus berechtigten Linie wäre es freilich möglich, ihn als Variante eines Orientalismus zu deuten, der den Kulturen des Ostens als Faszinosum erlegen wäre und deren Erbe gegen die Weltflucht einer diesseitsfeindlichen Religion ausspielte. Aus unserer Sicht eröffnet die Textur des Romans hingegen eine andere Lektüre, die diesen Dualismus weitgehend außer Kraft setzt, wie er namentlich von Edward Said als dominantes Urteil des Westens über den Orient beschrieben wird, »[showing] its application and existence in general culture, literature, ideology, and social as well as political attitudes«. 1 2 6 Die erzählerische Funktion des Orientalischen erfolgt hier nämlich nicht auf der Grundlage einer Opposition von Licht und Finsternis, aufgeklärtem Westen und rückständigem Osten, die noch wesentlich die contesphilosophiquesYoltairss bestimmt hatte. Vielmehr konnten in der Religionskritik, wie sie den Roman in erheblichem Maße auszeichnet, Relationen zwischen diesen Bezugspunkten verortet werden, welche den Pluralismus der religiösen, philosophischen und kulturellen Äußerungen der Spätantike als notwendige historische Voraussetzungen des Morgen- wie Abendlandes ins Spiel bringen. Dieser vorwiegend relationale Charakter, der sich aus den Beziehungen zwischen orientalischer Spätantike und europäischer Moderne im Roman erschließt, erlaubt uns, die in den letzten Jahrzehnten herrschende Theorie über den Orient als überwiegend falsches Bewusstsein der Europäer zumindest zu relativieren. Diese Revision leugnet keinesfalls den historischen Umstand, dass die Archivierung des Orients in Sprach-, Literatur und Religionswissenschaft zugleich mit gegenläufigen Tendenzen koinzidierte. So zerstörte die Industrialisierung Ägyptens nach westlichem Vorbild in erheblichem Maße Kulturdenkmäler, welche die Description de l'Egypte noch inventarisiert hatte. 1 2 7 Was fiktionale Texte sowie eine Vielzahl von Reisebeschreibungen und ethnologischen Studien dem Orient als Erinnerung in Bildern und Zerrbildern zurückgaben, sollte ihm in eben diesem 19. Jahrhundert wieder genommen werden. Doch auf einer derartigen Zerstörung des Realen und deren Konservierung im virtuellen Raum beruht die
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Said, Orientalism, S. 341. Dietrich Wildung, Ägypten von der prähistorischen Zeit bis zu den Römern, Köln, Taschen, 2001, S. 2 2 2 - 2 2 4 .
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museale Kultur des Westens, die mit dem Erbe der eigenen Geschichte nicht anders umgeht als mit dem des Orients. Der vorliegende R o m a n mag als Paradebeispiel für die Kolorite einer Bilderwelt gelten, der drei Jahre nach seinem Erscheinen die Koloraturen der gleichnamigen Oper von Jules Massenet folgen sollten. 1 2 8 Beide bilden eine historistisch geprägte Folie, auf der sich Signifikanten als exotische Einzelworte verselbständigen und wie auf den Bildern der Orientmaler den Rezipienten zu gegenläufigen Deutungen einladen. 1 2 9 So ist jeder Polytheismus als Provokation eines herrischen Willkürgottes zu verstehen, unabhängig davon, ob er sich als Erlöser am Kreuz inkarniert, im Gewände des Propheten offenbart oder sich als säkularisierte Kirche tarnt: »C'est lä que les Egyptiens, au temps oü ils adoraient les demons, taillaient leurs idoles.« Diese Wendung im Imperfekt ist der Einsicht geschuldet, dass auch das Absolute der Flucht der Erscheinungen unterliegt und dieser Zustand in den Bewegungen der Metaphysik unvermindert andauert. Bis in unsere Gegenwart verlangt es aber immer auch einen hohen Preis, der sich im Monotheismus der Anschauungen noch um ein Vielfaches erhöhen kann.
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