Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas: 2Teilbd. 1


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German Pages 441 [452] Year 2008

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
A. Textteil
Einleitung
Erstes Buch
Kapitel I: Vorbereitungen - Instrumente - Abreise von Spanien - Aufenthalt auf den Canarischen Inseln
[Liste der physikalischen und astronomischen Instrumente]
[Meeresströmungen im Atlantik]
[Über Medusen]
[Auf welche Entfernungen kann man Berge auf dem Meer erkennen?]
Kapitel II: Aufenthalt auf Teneriffa - Reise von Santa Cruz nach Orotava-Reise auf den Gipfel des Pico de Teide
[Die Besteigung des Pico de Teide]
[Naturgemälde, Gesteine und Struktur des Pico de Teide]
[Über den Obsidian]
[Mineralogische und geologische Probleme]
[Zur älteren Kenntnis der Canarischen Inseln]
[Die Ausbrüche des Pico de Teide]
[Über den brennbaren Stoff, der das vulkanische Feuer unterhält]
[Zur pflanzengeographischen Gliederung Teneriffas]
[Über die Guanchen]
[Über die augenblickliche Bevölkerung der Canarischen Inseln]
Kapitel III: Überfahrt von Teneriffa nach den Küsten des südlichen Amerika - Sichten der Insel Tobago- Ankunft in Cumana
[Über den Meertang]
[Über fliegende Fische]
Zweites Buch
Kapitel IV: Erster Aufenthalt in Cumaná - Ufer des Manzanares
[Zur Beschreibung von Cumaná]
[Über Erdbeben]
Kapitel V: Halbinsel Araya - Salzsümpfe - Ruinen des Schlosses Santiago
[Zur Halbinsel Araya]
[Vom Geist der spanischen Kolonien]
Drittes Buch
Kapitel VI: Berge von Neu-Andalusien - Tal von Cumanacoa - Gipfel des Cocollar - Missionen der Chaimas-Indianer
[Über stillende Männer]
[Zum Tabakanbau im Tal von Cumanacoa]
[Zur Indigoerzeugung]
Kapitel VII: Das Kloster Caripe - Höhle des Guácharo - Nachtvögel
[Physischer Zusammenhang der Höhlen]
Kapitel VIII: Abreise von Caripe - Gebirge und Wald von Santa Maria - Mission von Catuaro - Hafen von Cariaco
Kapitel IX: Physische Constitution und Sitten der Chaimas - Ihre Sprachen - Abstammung der Bevölkerung, die Neu-Andalusien bewohnt - Pariagotos von Columbus gesehen
[Naturgemälde der Chaimas-Indianer]
[Über Lebensart und Sitten der Chaimas-Indianer]
[Indianerstämme in den Provinzen von Cumaná und Barcelona]
Viertes Buch
Kapitel X: Zweiter Aufenthalt in Cumaná - Erdbeben - Außerordentliche Meteorfälle
[Beobachtung des Himmels - Zusammenhänge zwischen Erdbeben und magnetischer Inklination?]
[Feuerkugel- und Sternschnuppenfall]
[Wo der Meteorfall vom November 1799 überall gesehen wurde]
Kapitel XI: Überfahrt von Cumaná nach La Guaira - Morro de Nueva Barcelona - Vorgebirge Codera - Route von La Guaira nach Caracas
[Über La Guaira und sein Klima]
[Über das Gelbe Fieber]
Kapitel XII: Allgemeine Übersicht der Provinzen Venezuelas - Verschiedenheit ihrer Interessen - Stadt und Tal von Caracas - Klima
[Zum Klima von Caracas]
Kapitel XIII: Aufenthalt in Caracas - Gebirge in der Nachbarschaft der Stadt - Exkursion zum Gipfel der Silla - Hinweise auf Bergwerke
[Beobachtungen und Gedanken während des zweimonatigen Aufenthaltes in Caracas]
[Die Besteigung der Silla von Caracas]
[Spuren des Bergbaus]
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Das von A. v. Humboldt für seinen Reisebericht vorgesehene Frontispiz, ein Kupfer­ stich von Barthelemy Roger nach einer Zeichnung von Frans;ois Gerard, wurde im Groß-Folio-Format entweder dem >Atlas geographique et physique du Nouveau Con­ tinent< oder dessen Textband, dem >Examen critiqueRelation Historique< . b) Die beiden Atlanten der >Relation Historique< und ihre Textbände . c) Die Oktav-Ausgabe der > Relation Historique< in 13 Bänden d) Die einzige vollständige deutsche Übersetzung der >Relation Historique< e) Die verkürzte deutsche Teilübersetzung der > Relation Historique< Hermann Hauffs f) Die Lieferungsausgabe des Hauffschen Textes g) Die endgültige Form der Ausgabe Hermann Hauffs und spätere teilweise Bearbeitungen . 4. Zur Textgestalt dieses Bandes . 5 . War Humboldt Historiker auch i n seinem Reisebericht und anderen geographischen Werken? 6. Zur Verkennung von Humboldts geographischer Leistung und ihren Folgen auch für die Beurteilung des amerikanischen Reiseberichtes 7 . Das Problem der speziellen Vorbereitung Humboldts auf die Tropen Südamerikas 8. Zur Entstehung des amerikanischen Reiseberichtes und den Ursachen seiner Nichtvollendung 9 . Zur Erläuterung des amerikanischen Reiseberichtes a) Voraussetzungen des amerikanischen Reiseberichtes b) Blick auf die Route und ihre Probleme . c) Zur Erläuterung der beiden Atlanten der >Relation Historique< und ihrer Textbände 10. Zur Wirkungsgeschichte des Reiseberichtes

Dank des Herausgebers

XI

371 371 375 380 380 381 382 383 387 391 393 395 399 405 414 435 441 441 450 462 471

A Textteil

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802 , 1803 und 1804. [ Relation Historique]

Verfaßt von

Alexander von Humboldt und

A. Bonplandt [Bonpland]. * [Übersetzt aus dem Französischen von Paulus Usteri u . a . ]

Erster Theil. Mit einem Kupfer.

Stuttgart und Tübingen , in der J . G. Cotta'schen Buchhandlung . 1815 .

*

Alleiniger Autor war A. v. Humboldt

Einleitung Zwölf Jahre sind nun verflossen , seitdem ich Europa verließ , um das In­ nere des Neuen Kontinents zu durchreisen. Von Jugend auf mit dem Stu­ dium der Natur beschäftigt, empfänglich für die wilde Schönheit eines mit Gebirgen und alten Wäldern bedeckten Bodens , fand ich auf dieser Reise Genüsse genug, die mich für die Entbehrungen, die mit einem arbeitsamen, oft unruhigen Leben verbunden sind, entschädigt haben. Jene Genüsse , die ich mit den Lesern meiner Betrachtungen >Über die Steppen< und meiner >Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse< [so Studienausgabe Band V] , zu teilen versucht habe , waren indessen nicht die einzigen Früchte einer Un­ ternehmung, deren Zweck auf die Erweiterung der physikalischen Wissen­ schaften gerichtet war. Seit langer Zeit hatte ich mich auf die Beobach­ tungen vorbereitet, die das Hauptziel meiner Reise in die heiße Zone waren. Ich war mit Instrumenten der vorzüglichsten Meister, die sich geschwind und leicht handhaben ließen , versehen; ich genoß den besonderen Schutz einer Regierung, die mir, weit davon entfernt, meinen Forschungen Hinder­ nisse entgegenzusetzen, beständige Beweise von Anteilnahme und Ver­ trauen gab ; ich wurde endlich durch einen Freund voll Mut und Kenntnissen unterstützt, und - was ein seltenes Glück für den Erfolg eines gemeinschaft­ lichen Unternehmens ist - dessen Eifer und gleichbleibender Charakter mitten unter Strapazen und Gefahren, denen wir uns zuweilen ausgesetzt sahen, niemals widerlegt worden sind. Während wir auf diese Art unter solch günstigen Umständen Regionen durchreisten, die seit Jahrhunderten den meisten Völkern Europas, ja ich möchte sagen, selbst Spanien fast unbekannt geblieben waren, brachten wir, Herr Bonpland und ich , eine beträchtliche Menge Materialien zusammen, deren Publikation für die Historie der Völker und die Kenntnis der Natur einiges Interesse zu bieten schien. Da aber die Gegenstände unserer For­ schungen sehr mannigfaltig gewesen waren, konnten wir die Resultate nicht in der gewöhnlichen Form eines Tagebuches mitteilen. Wir taten es daher in mehreren einzelnen Werken , die aber in einem Geiste bearbeitet und durch die Natur der darin abgehandelten Phänomene miteinander verbunden sind. Diese Art der Redaktion, bei der die Unvollkommenheit der einzelnen Arbeiten eher sichtbar wird, ist für die Eigenliebe des Reisenden nicht eben vorteilhafter; aber sie ist bei allen physischen und mathematischen Wissen­ schaften vorzuziehen , weil selten dieselbe Klasse von Lesern deren verschie­ dene Zweige zu betreiben pflegt.

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Einleitung

Ich hatte mir bei der Reise, deren >Relation Historique< [den historischen (= erzählenden) Bericht] ich heute veröffentliche, ein doppeltes Ziel gesetzt. Ich wünschte, die Länder, die ich besuchte, kennenzulernen und charakteristi­ sche Tatsachen zur Erhellung einer Wissenschaft zu sammeln, die noch kaum skizziert ist und unbestimmt genug Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie genannt wird. Von diesen beiden Zielen schien mir das zweite das bedeutendste zu sein. Ich liebte die Botanik und einige Teile der Zoologie leidenschaftlich; ich durfte mir schmeicheln, daß unsere Forschun­ gen neue Arten den schon beschriebenen hinzufügen würden. Da ich aber die Verknüpfung längst beobachteter der Kenntnis isolierter, obgleich neuer Tatsa­ chen immer vorgezogen hatte, schien mir die Entdeckung eines unbekannten Geschlechtes weit minder wichtig als eine Beobachtung über die geographi­ schen Beziehungen der Vegetabilien, über die Wanderungen der gesellschaft­ lichen Pflanzen und über die Höhengrenze, zu der sich ihre verschiedenen Stämme gegen den Gipfel der Cordilleren erheben [Hervorhebung vom Hrsg.] . Die physikalischen Wissenschaften sind durch die gleichen Bande ver­ knüpft, die alle Erscheinungen der Natur verbinden . Die Klassifikation der Arten, die man als den grundlegenden Teil der Botanik betrachten muß und deren Studium durch die Einführung natürlicher Methoden anziehender und schöpferischer geworden ist, verhält sich zur Geographie der Pflanzen wie die beschreibende Mineralogie zum Verzeichnis der Gesteine , welche die äußere Kruste der Erde zusammensetzen. Will der Geologe die Gesetze aufstellen, welchen diese Gesteine in ihrer Lagerung folgen , will er das Alter ihrer allmählichen Bildung und ihrer Identität in den entferntesten Re­ gionen bestimmen, so muß er vor allen Dingen die einfachen Fossilien [= Minerale] kennen, welche die Masse der Gebirge bilden, deren Cha­ rakter und Nomenklatur die Oryktognosie lehrt . Ebenso ist es mit dem Teil der Physik der Erde , der von den Beziehungen handelt, die - sei es zwischen den Pflanzen untereinander selbst, sei es zwischen ihnen und dem Boden, worauf sie wachsen , sei es zwischen ihnen und zwischen der Luft, die von ihnen eingeatmet und verändert wird - bestehen. Die Fortschritte der Geo­ graphie der Pflanzen hängen größtenteils von den Fortschritten der beschrei­ benden Botanik ab . Man schadet der Erweiterung der Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen erheben will und dabei die einzelnen Tat­ sachen vernachlässigt. Diese Betrachtungen haben mich im Lauf meiner Forschungen geleitet. Immer sind sie meinem Geist in der Zeit meiner vorbereitenden Studien ge­ genwärtig gewesen . Als ich die große Zahl von Reisen, die einen solch inter­ essanten Teil der modernen Literatur ausmachen, zu lesen anfing, bedauerte ich, daß die gebildetsten Reisenden selten in den isolierten Zweigen der Na­ turgeschichte genügend vielfältige Kenntnisse vereint hatten, um aus allen

Einleitung

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Vorteilen den Nutzen zu ziehen, den ihre Lage ihnen darbot. Es schien mir, daß die Bedeutung der bis jetzt erhaltenen Resultate nicht gänzlich den un­ geheuren Fortschritten entspräche , die in mehreren Wissenschaften , und na­ mentlich in der Geologie , in der Geschichte der Modifikation der Atmo­ sphäre , in der Physiologie der Tiere und der Pflanzen zu Ende des 18. Jahr­ hunderts gemacht worden waren. Ich bemerkte schmerzlich , und alle Ge­ lehrten teilen dieses Gefühl mit mir, daß, während sich die Anzahl genauer Instrumente täglich vermehrte , uns doch die Höhe so vieler Gebirge und Plateaus, die periodischen Schwingungen des Luftmeers, die Grenze des ewigen Schnees unter dem Polarkreis und an den Rändern der heißen Zone , die variable Intensität der magnetischen Kraft und so viele andere gleich wichtige Erscheinungen noch völlig unbekannt geblieben waren. See-Expeditionen , Reisen um die Welt haben mit Recht die Namen der Naturforscher und Astronomen verherrlicht , welche die Regierungen be­ rufen haben, um die Gefahren zu teilen. Allein wenn diese Reisen auch noch so genaue Nachrichten über die äußere Bildung der Länder, über die physi­ sche Geschichte des Ozeans , über die Produkte der Inseln und der Küsten liefern, so scheinen sie gleichwohl für die Erweiterung der Geologie und an­ derer Teile der allgemeinen Naturkunde überhaupt weniger charakteristisch zu sein als Reisen in das Innere eines Kontinents . Bei einer Seereise wird das Interesse der Naturwissenschaften dem Interesse der Geographie und der nautischen Astronomie untergeordnet. Während einer Seefahrt von meh­ rern Jahren bietet sich die Erde dem Reisenden nur selten zum Beobachten dar, und wenn er ihr nach langen Wartezeiten begegnet, ist sie oft ihrer schönsten Produkte entblößt. Zuweilen bemerkt er jenseits einer kahlen Küste eine grüne Gebirgswand, deren Entfernung sie seinen Nachfor­ schungen entzieht, und dieses Schauspiel vergrößert nur sein Bedauern. Landreisen bieten große Schwierigkeiten für den Transport der Instru­ mente und Sammlungen. Aber diese Schwierigkeiten werden von reellen Vorteilen aufgewogen, deren Aufzählung hier überflüssig ist . Auf einer bloßen Küstenreise kann man gar nicht die Richtung der Gebirge und ihre geologische Constitution , weder das eigentümliche Klima jeder Zone noch seinen Einfluß auf die Formen und Gewohnheiten organisierter Wesen [Pflanzen und Tiere] erkennen . Je breiter Kontinente sind, desto mehr findet man auf der Oberfläche des Bodens den Reichtum der vegetabilischen und animalischen Hervorbringungen entwickelt; je mehr der zentrale Kern der Gebirge von den Ufern des Ozeans entfernt ist , desto mehr beobachtet man im Innern der Erde diese Mannigfaltigkeit von Gesteinsschichten, deren re­ gelmäßige Folge uns die Geschichte unseres Planeten enthüllt. Ebenso wie jedes Wesen , isoliert betrachtet, von einem eigentümlichen Typus geprägt ist, so wird ein solcher in gleicher Weise in der Anordnung des in den Ge­ steinen vereinigten Rohstoffes in der Verteilung und den Wechselbezie-

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Einleitung

hungen der Pflanzen und Tiere wiedererkannt. Die Bestimmung der Form dieser Typen, der Gesetze dieser Wechselbeziehungen und der ewigen Bande , welche die Erscheinungen des Lebens mit denen der unbelebten Natur verknüpfen: das ist das große Problem der Physik der Erde . Wenn ich die Motive darlege , die mich zur Unternehmung einer Reise in das Innere eines Kontinents bewegt haben , gebe ich nur die allgemeine Richtung meiner Ideen in einem Alter an, wo man seine Kräfte noch nicht richtig zu beurteilen vermag. Indes wurden die Pläne meiner frühen Jugend nur sehr unvollkommen ausgeführt. Meine Reise erhielt nicht die gesamte Ausdehnung, die ich ihr bei meiner Abreise nach Südamerika zu geben ge­ dachte ; ebensowenig lieferte sie die Anzahl allgemeiner Resultate , die ich zu sammeln gehofft hatte. Der Hof zu Madrid hatte mir 1799 die Erlaubnis ge­ währt, mich nach vollendeter Reise durch die Kolonien des Neuen Konti­ nents auf der Galeone von Acapulco einzuschiffen, um auch die Mariani­ schen und Philippinischen Inseln zu besuchen . Ich nahm mir damals vor, durch den großen asiatischen Archipel [Insulinde ] , über den Persischen Meerbusen und Bagdad nach Europa zurückzukehren. Man wird in der Folge erfahren, warum ich meine Rückreise zu beschleunigen gezwungen war. Was die von Herrn Bonpland und mir herausgegebenen Werke betrifft, so schmeicheln wir uns, daß ihre Unvollkommenheit, die wir nicht ver­ kennen , weder dem Mangel an Eifer während der Durchführung unserer Forschungen noch der zu großen Eile bei ihrer Publikation zugeschrieben werden wird. Ein starker Wille und eine aktive Ausdauer genügen nicht immer zur Überwindung der Hindernisse . Nachdem ich an das allgemeine Ziel erinnert habe , das ich mir auf meiner Reise gesteckt hatte , werde ich noch einen schnellen Blick auf das Ganze unserer Sammlungen und Beobachtungen werfen, die wir zurückgebracht haben und welche die doppelte Frucht jeder scientifischen Reise sind. Da der Seekrieg während unseres Aufenthaltes in Amerika die Verbindung mit Europa äußerst erschwerte, sahen wir uns, um die Möglichkeiten des Verlu­ stes zu vermindern, genötigt, drei verschiedene Sammlungen anzulegen . Die erste schickten wir nach Spanien und Frankreich, die zweite nach den Vereinigten Staaten und England, die dritte blieb fast ständig unter unseren Augen. Sie war die beträchtlichste von allen und bestand gegen das Ende un­ serer Reise aus zweiundvierzig Kisten , mit einem Herbar von sechstausend Äquinoktialpflanzen , Sämereien, Muscheln, Insekten, und, was noch gar nicht nach Europa gekommen war, geologischen Suiten vom Chimborazo , von Neu-Granada und von den Ufern des Amazonenflusses . Nach der Ori­ noco-Reise ließen wir einen Teil dieser Sammlung auf der Insel Cuba, um sie bei unserer Rückkehr von Peru und Mexico wieder mitzunehmen. Der Rest begleitete uns fünf Jahre lang, auf der Andenkette wie durch Neu-Spanien, von den Küsten des Pazifischen Ozeans bis zu denen des Antillenmeeres.

Einleitung

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Der Transport dieser Objekte und die minutiöse Sorgfalt, die sie erfor­ derten, verursachte uns Beschwerden, von denen man sich unmöglich eine genaue Idee bilden kann , selbst wenn man die unkultiviertesten Teile Euro­ pas durchreist hat. Unser Reiseweg ist verzögert worden durch die dreifache Notwendigkeit, während fünf- bis sechsmonatigen Reisen zwölf, fünfzehn und manchmal über zwanzig beladene Maultiere hinter uns her zu ziehen ; alle acht bis zehn Tage durch den Wechsel dieser Tiere und schließlich durch die Überwachung der Indianer, die als Führer einer solch großen Karawane dienten. Oft, wenn wir unseren Sammlungen neue Mineralsubstanzen hin­ zufügen wollten, sahen wir uns gezwungen , andere längst gesammelte zu­ rückzulassen. Diese Opfer waren uns nicht weniger schmerzlich wie man­ cher zufällige Verlust. Eine unangenehme Erfahrung belehrte uns ziemlich spät, daß wir wegen der Hitze des feuchten Klimas und den häufigen Stürzen der Saumtiere weder die in der Eile präparierten Tierhäute noch die Fische und die Reptilien in den mit Alkohol gefüllten Flaschen konservieren konnten. Diese an sich sehr wenig interessanten Umstände glaubte ich an­ führen zu' sollen, um zu erweisen, daß es es nicht von uns abhing, mehrere zoologische und anatomische Objekte , die wir beschrieben und abgebildet haben, in natura mitzubringen. Trotz dieser Hindernisse und der Transportkosten für die Sammlungen habe ich mich zu diesem vor meiner Abreise gefaßten Entschluß zu beglück­ wünschen gehabt, nur die Doubletten unserer Naturalien nach und nach nach Europa abgehen zu lassen . Man kann es nicht genug wiederholen: Wenn die Meere mit bewaffneten Schiffen zur Kaperfahrt bedeckt sind, darf der Reisende nur auf die Gegenstände zählen , die er mit sich führt. Von allen Doubletten, die wir während unseres Aufenthaltes in Amerika nach dem alten Kontinent absandten, wurde nur eine kleine Zahl gerettet. Der größte Teil fiel in die Hände von Personen, denen die Wissenschaften fremd waren; denn wenn ein Schiff in einem Überseehafen festgehalten wird, werden die Kisten mit getrockneten Pflanzen oder Mineralien keineswegs den Gelehr­ ten zugesandt, an die man sie adressiert hat, sondern geraten in Vergessen­ heit . Einige unserer geologischen Sammlungen, die in der Südsee gekapert wurden , hatten indessen ein glücklicheres Schicksal. Wir verdanken ihre Er­ haltung der großzügigen Tätigkeit des Ritters Banks, Präsident der Königli­ chen Sozietät der Wissenschaften zu London , der inmitten der politischen Stürme Europas nie aufgehört hat, die Bande, wodurch die Gelehrten aller Nationen vereinigt sind, immer enger zu knüpfen. Dieselben Ursachen , die unsere Verbindungen erschwerten , waren auch seit unserer Heimkehr der Herausgabe eines Werkes, das seiner Natur nach mit vielen Karten und Kupferstichen begleitet sein muß , in hohem Grade hinderlich. Wenn sich diese Schwierigkeiten manchmal selbst bei solchen Unternehmungen zeigten, die auf Kosten und von der Freigebigkeit von Re-

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Einleitung

gierungen durchgeführt wurden , um wieviel größer mußten sie nicht für ein­ fache Privatpersonen sein? Es würde uns unmöglich gewesen sein , sie zu überwinden, wäre der Eifer der Verleger nicht von einem ungewöhnlichen Wohlwollen des Publikums unterstützt worden . Über zwei Drittel unseres Werkes sind schon veröffentlicht worden. Die Karten des Orinoco , des Casi­ quiare , des Magdalenenflusses, auf meine astronomischen Beobachtungen gegründet, und mehrere hundert Platten einfachen Kupferstichs sind der Vollendung nahe ; ich werde meine Reise nach Asien nicht eher antreten , als bis das Ganze der Resultate meiner ersten Expedition in den Händen des Publikums ist . In den Abhandlungen , die zur Vertiefung der verschiedenen Gegenstände unserer Forschungen bestimmt sind, haben Herr Bonpland und ich die Be­ trachtung jeder Erscheinung unter verschiedenen Aspekten und die Einord­ nung unserer Beobachtungen nach den Beziehungen, die sie untereinander darboten , versucht. Um eine richtige Idee des Weges zu geben , den wir be­ folgt haben, werde ich mit wenigen Worten die Aufzählung der Materialien darlegen , die wir zur Kenntnis der Vulkane Antisana und Pichincha sowie des Jorullo besitzen , desselben, der in der Nacht zum 29. September 1759 zum Vorschein kam und 263 Toisen über die benachbarten mexicanischen Ebenen erhaben ist. Die Lage dieser bemerkenswerten Berge wurde nach Länge und Breite durch astronomische Beobachtungen bestimmt. Die ver­ schiedenen Teile haben wir mit Hilfe des Barometers nivelliert, wir haben die Inklination der Magnetnadel und die Intensität der magnetischen Kräfte bestimmt . Unsere Sammlungen enthalten die Pflanzen , die den Abhang dieser Vulkane bedecken, und die verschiedenen übereinander liegenden Gesteine, welche die äußere Hülle bilden. Hinlänglich genaue Messungen erlauben uns für jede Pflanzengruppe und für jedes vulkanische Gestein die Angabe der Höhe , in der man sie über dem Niveau des Meeres findet . Beob­ achtungsserien über die Feuchtigkeit , die Temperatur, die elektrische La­ dung und den Grad der Durchsichtigkeit der Luft an den Kraterrändern des Pichincha und Jorullo sind enthalten in unseren Tagebüchern. Man findet dort auch topographische Pläne und geologische Profile dieser Berge , die zum Teil auf Messungen vertikaler Basen und auf Höhenwinkel gegründet sind. Jede Beobachtung ist nach Tafeln und Methoden berechnet worden, die bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse als die exaktesten gelten . Um den Grad des Vertrauens, den diese Resultate verdienen, beur­ teilen zu können, haben wir jedes Detail der partiellen Operationen aufge­ hoben . Es wäre möglich gewesen, diese verschiedenen Materialien in einem Werk aufgehen zu lassen, das ausschließlich der Beschreibung der Vulkane Perus und Neu-Spaniens gewidmet wäre . Im Naturgemälde einer einzigen Provinz hätte ich, was Geographie , Mineralogie und Botanik betrifft, für sich behan-

Einleitung

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deIn können. Aber wie lassen sich die Erzählung einer Reise , Betrachtungen über die Sitten , die Ansichten der Natur oder die großen Erscheinungen der allgemeinen Naturkunde überhaupt durch die ermüdende Aufzählung der Landesprodukte , durch die Beschreibung neuer Tier- und Pflanzenarten und das trockene Detail astronomischer Beobachtungen unterbrechen? Bei einer Art der Redaktion , die in ein und demselben Kapitel alle über einen und denselben Punkt der Erdkugel gemachten Beobachtungen vereinigte , hätte ich ein unmäßig langes Werk verfassen und besonders auf jene Klarheit verzichten müssen , die großenteils aus der methodischen Anordnung der Materien entsteht. Trotz der Anstrengungen , die ich in dieser >Relation< meiner Reise zur Vermeidung der Klippen , die ich zu fürchten hatte , unter­ nommen habe, fühle ich lebhaft, daß ich nicht immer erfolgreich die Detail­ beobachtungen von ebendiesen allgemeinen Ergebnissen trennte , die alle aufgeklärten Menschen interessieren. Diese Resultate umfassen zu gleicher Zeit das Klima und seinen Einfluß auf organisierte [gestaltete] Wesen [Pflanzen und Tiere] , die Ansicht der Landschaft, wie sie nach der Natur des Bodens und der vegetabilischen Bekleidung variiert ist , die Richtung der Gebirge und Flüsse , die ebenso die Menschengeschlechter wie die Pflanzen­ stämme trennen. Endlich die Modifikationen , die der Zustand der Völker unter verschiedenen Breiten und unter mehr oder weniger günstigen Um­ ständen zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten erleidet. Ich fürchte nicht, der Aufmerksamkeit derart würdige Gegenstände zu sehr vermehrt zu haben. Denn einer der schönen Charakterzüge , welche die gegenwärtige Zivilisa­ tion von der entfernter Zeiten unterscheiden, ist es, die Masse unserer Ideen vergrößert und eine bessere Wahrnehmung der Bezüge zwischen der physi­ schen und intellektuellen Welt bewirkt zu haben sowie ein allgemeines Inter­ esse für Gegenstände , die früher nur eine kleine Zahl von Gelehrten be­ schäftigten, weil man sie isoliert und nach beschränkten Ansichten betrach­ tete , ausgebreitet zu haben . Wahrscheinlich wird das Werk, das ich heute erscheinen lasse , die Auf­ merksamkeit einer größeren Zahl von Lesern fesseln als das Detail meiner rein scientifischen Beobachtungen oder meine Untersuchungen über die Be­ völkerung, den Handel und die Bergwerke Neu-Spaniens. Es sei mir infolge­ dessen erlaubt, hier an die Arbeiten , die Herr Bonpland und ich bereits früher publiziert haben, zu erinnern . Wenn mehrere Werke eng miteinander verbunden sind, ist es immer für die Leser von einigem Interesse, die Quellen zu kennen , aus denen er ausführlichere Belehrung schöpfen kann . In der Reise von Pallas, die durch Genauigkeit und Tiefe der Untersuchun­ gen bemerkenswert ist, enthält ein und derselbe Atlas geographische Kar­ ten , Trachten verschiedener Völker, Reste des Altertums , Gestalten von Pflanzen und Tieren. Nach dem Plan unseres Werkes fanden diese Kupfer­ stiche notwendig in den verschiedenen Abteilungen Platz. So sind sie auf die

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Einleitung

beiden physisch-geographischen Atlanten , welche die >Relation< dieser Reise und den >Essai politique sur le royaume de La Nouvelle-Espagne< be­ gleiten, und die > Vues des Cordilleres et monumens des peuples indigenes de l'Amerique< , die >Plantes equinoxiales< , die >Monographie des Melastoma­ cees< und den >Recueil d'observations zoologiques< verteilt. Da ich zur An­ führung dieser verschiedenen Werke ziemlich oft gezwungen sein werde , will ich in Anmerkungen die Abkürzungen angeben, deren ich mich be­ diene, um an die [vollständigen] Titel zu erinnern . [Es folgt an dieser Stelle Humboldts kurze Besprechung einiger zu seinem Reisewerk gehörenden Bände: 1. Recueil d'observations astronomiques ; 2. Plantes equinoxiales; 3 . Monographie des Melastomacees ( 2. u. 3 . hrsg. v. Aime Bonpland) ; 4. Essai sur la geographie des plantes ; 5 . Recueil d'obser­ vations et d' anatomie comparee ; 6. Essai politique sur le royaume de la Nou­ velle-Espagne ; 7. Vues des Cordilleres . - Er nennt dann einen >Essai sur la pasigraphie geologique< , der nicht mehr erschienen ist. - Zur genauen Bi­ bliographie der angeführten Werke s. Studienausgabe Band I, S . 26-28. Zur Kürzung des Textes s. Relation Historique (in Zukunft abgekürzt: RH) , I , S . 16-26; bei Paulus Usteri und anderen ( in Zukunft abgekürzt: P. U. u. a. ) , Erster Teil, S . 17 unten bis S . 30 oben. Es sei darauf hingewiesen, daß die unter 3. und 5. angeführten Werke erst 1823 bzw. 1833 abgeschlossen vor­ lagen; zur Datierung s. Ulrike Leitner: Alexander von Humboldts Werk . Probleme damaliger Publikation und heutiger Bibliographie , Berlin 1992 , S . 36-37. ] Die astronomischen, geodätischen und barometrischen Beobachtungen, die ich von 1799-1804 machte , wurden gleichmäßig nach korrespondie­ renden Beobachtungen und nach den genauesten Tafeln von Herrn Olt­ manns, Professor der Astronomie und Mitglied der Akademie der Wissen­ schaften zu Berlin , berechnet. Dieser tätige Gelehrte hatte die Güte , die Herausgabe meines astronomischen Tagebuchs zu übernehmen, das er mit den Resultaten seiner Forschungen über die Geographie Amerikas , über die Beobachtungen der spanischen, französischen und englischen Reisenden und durch die Wahl der von den Astronomen benutzten Methoden be­ reichert hat. Ich hatte während meiner Reise zwei Drittel meiner eigenen Beobachtungen selbst berechnet, deren Resultate teilweise vor meiner Heimkehr in der >Connoissance des temps< und in den >Ephemeriden< des Baron von Zach publiziert worden sind. Die unbedeutenden Unterschiede , die sich zwischen diesen Resultaten und denen Oltmanns finden, rühren daher, daß Oltmanns meine sämtlichen Beobachtungen einer strengen Be­ rechnung unterwarf und sich der Burgschen Mondtafeln sowie korrespon­ dierender Beobachtungen von Greenwich bediente , während ich nur die >Connoissance des temps< nach Massons Tafeln benutzt hatte . Die Beobachtungen über die Inklination der Magnetnadel, die Intensität

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der magnetischen Kräfte und die kleinen stündlichen Variationen der Dekli­ nation werden in einer besonderen Abhandlung erscheinen, die meinem >Essai sur la pasigraphie geologique< beigefügt werden soll . Dieses Werk, das ich 1803 in Mexico zu redigieren begann, wird Profile enthalten, welche die Lagerung der Gesteine betreffen, deren Typus Herr Leopold v. Buch und ich in beiden Kontinenten zwischen 120 südlicher und 710 nördlicher Breite beobachtet haben. Indem ich aus den Erkenntnissen dieses großen Geo­ logen Nutzen zog, der Europa von Neapel bis zum Nordkap in Lappland durchreist hat und mit dem ich das Glück hatte, auf der Bergakademie zu Freiberg meine ersten Studien zu betreiben, konnte ich den Plan eines Werkes ausweiten, das zur Verbreitung einigen Lichtes über die Konstruk­ tion der Erde und über das relative Alter der Formationen bestimmt ist . Nachdem alles zur Astronomie , Botanik, Zoologie , der politischen Be­ schreibung Neu-Spaniens und der Geschichte der alten Zivilisation einiger Völkerschaften des Neuen Kontinents Gehörige in einzelnen Werken für sich abgehandelt worden war, blieb doch noch eine große Anzahl allge­ meiner Resultate und Ortsbeschreibungen übrig, die ich in besonderen Ab­ handlungen hätte mitteilen können. Im Verlauf meiner Reise hatte ich meh­ rere davon vorbereitet: über die Menschenrassen des Südlichen Amerika , über die Mission am Orinoco , über die Hindernisse , die Klima und Kraft der Vegetation den Fortschritten der Gesellschaft in den Äquinoktialregionen entgegensetzen, über den Charakter der Landschaften in der Andenkette , verglichen mit dem der Alpen der Schweiz, über die Beziehungen zwischen den Gesteinen in beiden Hemisphären, über die physische Constitution der Luft in den Äquinoktialregionen usw. Ich hatte Europa mit dem festen Ent­ schluß verlassen, nicht zu schreiben, was man übereingekommen ist, eine relation historique [den historischen Bericht] einer Reise zu nennen, son­ dern die Frucht meiner Untersuchungen in rein beschreibenden Werken zu publizieren. Ich hatte die Tatsachen nicht in der Ordnung, in der sie sich nach und nach präsentierten , sondern nach den Beziehungen , die sie unter­ einander hatten, angeordnet . Inmitten einer erhabenen Natur, lebhaft mit den Erscheinungen beschäftigt, die sie bei jedem Schritt bietet, ist der Rei­ sende kaum versucht, in seinen Tagebüchern das, was sich auf ihn selbst be­ zieht, und minutiöse Einzelheiten des Lebens aufzuführen. Während unserer Fahrt auf den südamerikanischen Flüssen und auf un­ seren langen Landreisen führte ich allerdings ein sehr gedrängtes Itinerar. Auch beschrieb ich ziemlich regelmäßig und fast immer an den Orten selbst die Exkursionen zum Gipfel eines Vulkans oder irgendeines durch seine Er­ hebung bemerkenswerten Berges. Aber die Niederschrift eines Tagebuches ist jedesmal unterbrochen worden, wenn ich mich in einer Stadt aufhielt oder mir andere Geschäfte die Fortsetzung einer Arbeit nicht erlaubten , die damals nur von untergeordnetem Interesse für mich war. Indem ich mich

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Einleitung

voll und ganz der Sache ergab, hatte ich kein anderes Ziel, als einige dieser vereinzelten Ideen zu bewahren, die sich einem Naturforscher präsentieren, der fast sein ganzes Leben im Freien verbringt, und vorläufig eine Menge von Tatsachen, die ich aus Mangel an Zeit nicht ordnen konnte , aufzu­ zeichnen und endlich die ersten angenehmen oder widrigen Eindrücke , die ich von der Natur und den Menschen empfangen hatte, zu beschreiben. Da­ mals war ich weit davon entfernt zu glauben, daß diese in großer Eile ge­ schriebenen Blätter einmal die Grundlage eines ausführlichen, dem Pu­ blikum vorzulegenden Werkes bilden würden ; denn es schien mir, daß meine Reise , wenn sie auch einige nützliche Daten für die Wissenschaften lieferte , indessen viel zu wenige dieser Zwischenfälle enthielt, die eigentlich den wesentlichen Charme einer Route ausmachen. Die Schwierigkeiten, die ich seit meiner Rückkehr bei der Ausarbeitung einer beträchtlichen Zahl von Beiträgen erlebte, die dazu bestimmt waren, gewisse Klassen von Phänomenen bekanntzumachen , haben mich meinen äußersten Widerwillen bei der Niederschrift der Relation meiner Reise über­ winden lassen . Als ich mir diese Aufgabe auflud, ließ ich mich von den Rat­ schlägen einer großen Zahl achtbarer Persönlichkeiten führen, die mich mit einer besonderen Anteilnahme ehren. Ich glaubte , sogar eine so entschie­ dene Vorliebe für dieses Genre zu bemerken, daß Gelehrte , nachdem sie ihre Untersuchungen über Produkte, Sitten und politische Verhältnisse der von ihnen durchreisten Länder einzeln mitgeteilt haben, keine Genugtuung in ihrer Verpflichtung dem Publikum gegenüber empfinden , wenn sie nicht ihre Reisebeschreibung veröffentlicht haben. Eine Relation Historique umfaßt zwei sehr verschiedene Gegenstände : die mehr oder weniger wichtigen Ereignisse , die mit dem Ziel des Reisenden in Verbindung stehen, und die Beobachtungen , die er während seiner Reisen gemacht hat. Die Einheit der Komposition , welche die guten Werke von den schlecht durchdachten unterscheidet, kann nicht strikt bewahrt werden, als insofern man mit Lebhaftigkeit beschreibt , was man mit eigenen Augen sah, und insofern als die Hauptaufmerksamkeit weniger auf wissen­ schaftliche Beobachtungen als auf Völkersitten und die großen Phänomene der Natur gerichtet worden ist. Das treueste Sittengemälde ist das, welches die Beziehungen der Menschen untereinander am besten erkennen läßt. Der Charakter einer wilden oder kultivierten Natur zeigt sich lebendig, sei es in den Hindernissen, die sich dem Reisenden entgegenstellen, sei es in den Empfindungen, die er fühlt. Er selbst ist es, den man unaufhörlich mit den Gegenständen, die ihn umgeben , in Berührung sehen will, und sein Be­ richt interessiert uns um so mehr, als eine lokale Färbung der Beschreibung der Landschaft und der Bewohner ausgebreitet ist. Hierin liegt der Grund des großen Interesses, das die Geschichte der ersten Seefahrer darstellt, die , weniger von ihrer Wissenschaft als durch edle Unerschrockenheit geleitet,

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gegen die Elemente kämpften und in unbekannten Meeren eine neue Welt suchten. Das ist der unwiderstehliche Charme , der uns mit dem Schicksal des unternehmenden Mungo Park verbindet, der, groß an Begeisterung und Willen, allein in das Zentrum Afrikas eindringt , um inmitten der Barbarei der Völker die Spuren einer alten Zivilisation zu entdecken. In dem Maß, wie die Reisen von unterrichteteren Personen unternommen oder auf beschreibende naturgeschichtliche Untersuchungen, auf Geogra­ phie oder politische Ökonomie gerichtet wurden, haben die Reisebeschrei­ bungen teilweise diese Einheit der Komposition und diese Unbefangenheit verloren, die sie von denen früherer Jahrhunderte unterscheiden. Es ist fast nicht mehr möglich , soviel verschiedene Materialien mit der Erzählung der Ereignisse zu verbinden , und der Teil, den man den dramatischen nennen kann, wird von rein beschreibenden Textstücken ersetzt. Die große Zahl der Leser, die eine angenehme Entspannung einer soliden Unterrichtung vor­ ziehen, hat bei diesem Tausch nicht gewonnen , und ich fürchte, man wird wenig Lust haben, Reisende auf ihren Wegen zu folgen, die einen beträcht­ lichen Apparat von Instrumenten und Sammlungen mit sich herum­ schleppen. Um meinem Werk mehr Mannigfaltigkeit in der Form zu geben, habe ich häufig den erzählenden Teil mit einfachen Beschreibungen unterbrochen. Zuerst stelle ich die Erscheinungen in der Ordnung dar, wie sie sich dar­ boten; dann betrachte ich sie im ganzen ihrer individuellen Verbindungen. Dieser Weg ist in der Reise Herrn de Saussures mit Erfolg beschritten worden, in seinem vortrefflichen Werk, das mehr als irgendein anderes zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen hat und das inmitten der oft trok­ kenen meteorologischen Diskussionen mehrere Gemälde voller Charme enthält, wie die vom Leben der Gebirgsbewohner, von den Gefahren der Gemsenjagden oder von den Gefühlen, die man auf dem Gipfel der hohen Alpen hat. Es gibt Details des alltäglichen Lebens , deren Aufzeichnung in Reisebe­ schreibungen von Nutzen ist, weil sie denen zur Ordnung der Ausführung dienen, welche die gleichen Gegenden nach uns durchreisen. Ich habe eine kleine Anzahl mitgeteilt; aber ich habe die meisten dieser persönlichen Zwi­ schenfälle unterdrückt, die keine wahrhafte Anteilnahme an der Lage der Dinge darstellen und auf die allein die Perfektion des Stils Anmut verbreiten kann. Was die Länder betrifft, die den Gegenstand meiner Untersuchungen aus­ gemacht haben, verberge ich nicht die großen Vorteile , die gegenüber den Amerika-Reisenden die haben, welche Griechenland , Ägypten, die Ufer des Euphrats und die Inseln des Pazifischen Ozeans beschreiben . In der Alten Welt sind es die Völker und die Abstufung ihrer Zivilisation , die dem Gemälde seinen Hauptcharakter geben; in der Neuen hingegen ver-

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schwindet , sozusagen, der Mensch mit seinen Hervorbringungen inmitten einer wilden und gigantischen Natur. Das menschliche Geschlecht bietet hier nur einige Überreste eingeborener, wenig in der Kultur fortgeschrit­ tener Horden oder diese Einförmigkeit der Sitten und Institutionen, die von europäischen Kolonisten an fremde Ufer verpflanzt worden sind. Was uns zur Geschichte unserer Gattung, zu den mannigfaltigen Regierungsformen, zu den Kunstdenkmälern , zu den Landschaften, die große Erinnerungen ins Gedächtnis rufen, hinzieht, berührt uns weit lebhafter als die Beschreibung dieser weiten Einsamkeit, die nur zur Entwicklung des vegetabilischen Lebens und zur Herrschaft der Tiere bestimmt scheint . Die amerikanischen Wilden, die der Gegenstand so vieler systematischer Träumereien gewesen sind und über die in unseren Tagen Beobachtungen voller Weisheit und Gerechtigkeit Herr de Volney veröffentlicht hat, flößen weit geringere Anteilnahme ein , seit berühmte Reisende uns mit den Ein­ wohnern der Inseln der Südsee bekanntmachten, deren Charakter eine er­ staunliche Mischung von Sanftheit und Lasterhaftigkeit zeigt. Der Zustand der Halbzivilisation, in dem man diese Insulaner antrifft , gibt der Beschrei­ bung ihrer Sitten eine besondere Anmut ; bald ist es ein König, der, von einem zahlreichen Gefolge begleitet, selbst die Früchte seines Gartens dar­ bringt , bald eine Totenfeier, die mitten in einem Walde bereitet wird . Unbe­ zweifelt reizen diese Gemälde weit mehr als die düstere Schwermut der Indianer am Missouri oder Marafion . Wenn indessen auch Amerika keinen ausgezeichneten Platz i n der Ge­ schichte des Menschengeschlechtes und in den alten Revolutionen, die diese belebt haben, behauptet, so bietet es den Arbeiten des Physikers [Naturfor­ schers] ein desto weiteres Feld. Nirgends anderswo ruft ihm die Natur so leb­ haft zu, sich zu allgemeinen Ideen über die Ursache der Erscheinungen und ihre gegenseitige Verknüpfung zu erheben [Hervorhebung vom Hrsg.] . Diese Kraft der Vegetation, diese ewige Frische des organischen Lebens, diese in Stockwerken am Abhang der Cordilleren angeordneten Klimate und diese ungeheuren Ströme , die ein berühmter Schriftsteller, Chateaubriand , uns mit bewundernswürdiger Treue beschrieben hat, werde ich nicht anführen. Längst ist bekannt, wieviel für Geologie und allgemeine Naturkunde in der Neuen Welt gewonnen werden kann. Glücklich der Reisende , der sich schmeicheln kann, seine Lage genutzt und zur Masse der vorhandenen einige neue Wahrheiten hinzugefügt zu haben ! In der >Geographie der Pflanzen< und in der Einleitung zu den >Plantes equinoxiales< habe ich bereits darauf hingewiesen , daß alle Werke , welche die Frucht unserer Arbeit sind, von Herrn Bonpland und mir gemeinschaft­ lich herausgegeben werden, wie wir denn sowohl während des Verlaufes un­ serer Reise als auch späterhin durch die innigsten Freundschaftsbande ver­ bunden gewesen sind . Daran hier zu erinnern, ist fast zwecklos. Ich habe ver-

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sucht, die Tatsachen so , wie wir sie zusammen beobachtet haben, darzu­ stellen. Da aber diese >Relation< nach den Aufzeichnungen , die ich vor Ort geschrieben habe , redigiert worden ist , sollten die Ungenauigkeiten, die sich in meinem Bericht finden können, mir allein zugeschrieben werden. Die während unserer Reise gemachten Beobachtungen wurden auf sechs große Abteilungen verteilt . Die erste umfaßt die >Relation Historique< ; die zweite Zoologie und vergleichende Anatomie; die dritte den >Essai poli­ tique sur le royaume de la Nouvelle Espagne< ; die vierte Astronomie ; die fünfte Naturkunde und Geologie ; die sechste die Beschreibung der in beiden Amerika neu gefundenen Pflanzen. Die Verleger haben einen lobens­ werten Eifer entfaltet, diese Werke der Nachsicht des Publikums würdiger zu machen. Anführen muß ich besonders das Frontispiz dieser Reisebe­ schreibung. Es ist von Herrn Gerard, mit dem ich seit fünfzehn Jahren be­ freundet bin, der die Güte hatte, sich um meinetwillen einige Augenblicke seinen Arbeiten zu entziehen . Ich fühle die ganze Bedeutung dieser öffentli­ chen Bezeugung seiner Achtung und seiner Freundschaft [s . in diesem Band das Frontispiz] . Ich habe in diesem Werk sorgfältig die Gelehrten angeführt, die mir gü­ tigst ihre Beobachtungen mitgeteilt haben . Den Herren Gay-Lussac und Arago, meinen Kollegen im Institut [Institut de France] , kann ich nicht umhin , meine D ankbarkeit gleich in der Einleitung abzustatten. Beide haben ihren Namen mit bedeutenden Arbeiten verbunden ; beide besitzen jene Erhabenheit des Charakters , zu der stets eine brennende Liebe für die Wissenschaften führen muß . Da ich in der glücklichen Lage bin, mit ihnen in innigstem Kontakt zu leben, so konnte ich sie täglich mit Nutzen über Ge­ genstände aus der Chemie , Naturlehre und mehreren Zweigen der ange­ wandten Mathematik befragen. Was ich der Freundschaft von Herrn Arago schulde , habe ich bereits in der Sammlung meiner >Observations astronomi­ ques< angeführt. Es ist derselbe , der nach Vollendung der spanischen Meri­ dianmessung so viel Gefahren ausgesetzt gewesen und zugleich talentvoller Astronom, Geometer und Naturforscher ist. Mit Herrn Gay-Lussac disku­ tierte ich im Augenblick meiner Heimkehr besonders die verschiedenen Er­ scheinungen der Meteorologie und physikalischen Geologie , die ich auf meinen Reisen gesammelt hatte . Seit acht Jahren wohnten wir in Frank­ reich, Deutschland oder Italien beinahe fast ständig unter demselben Dach . Wir beobachteten zusammen eine der größten Eruptionen des Vesuvs [12. 8. 1805] ; wir stellten mehrere gemeinschaftliche Versuche über die chemische Analyse der Atmosphäre und über die Veränderungen des Erdmagnetismus an. So war ich in der Lage , die tiefen und ingeniösen Ansichten dieses Che­ mikers oft zu benutzen, und meine Ideen über Gegenstände , die ich in dieser >Relation Historique< behandle , zu berichtigen. Seit ich Amerika verlassen habe , ist in den spanischen Kolonien eine

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dieser großen Revolutionen ausgebrochen , die von Zeit zu Zeit die Mensch­ heit bewegen. Sie scheint, indem sie sich aus einer Hemisphäre in die an­ dere , von den Ufern des La Plata und von Chile bis in das nördliche Mexico fortpflanzt, zur Vorbereitung eines neuen Loses von vierzehn Millionen Ein­ wohnern bestimmt . Tiefer Haß, von der kolonialen Gesetzgebung erweckt und von einer mißtrauischen Politik unterhalten, ließ in Ländern , die drei Jahrhunderte lang, ich sage nicht Glück , aber einen ununterbrochenen Frieden genossen, Blut fließen . Schon fielen in Quito die tugendhaftesten und aufgeklärtesten Bürger als Opfer ihrer Ergebenheit für das Vaterland ; und bei der Beschreibung der Regionen , deren Andenken mir so teuer ge­ worden ist, begegne ich in jedem Augenblick Orten, die mich an den Verlust einiger Freunde erinnern . Wenn man über die großen politischen Bewegungen der Neuen Welt nach­ gedacht hat, bemerkt man , daß sich die spanischen Amerikaner nicht in einer ebenso günstigen Lage befinden wie die Bewohner der Vereinigten Staaten, die durch den langen Genuß einer wenig beschränkten konstitutio­ nellen Freiheit zur Unabhängigkeit vorbereitet waren. In Ländern , wo die Zivilisation noch keine tiefen Wurzeln geschlagen hat und wo durch den Einfluß des Klimas Wälder bald wieder ihre Herrschaft über urbar gemachte Böden zurückgewinnen, sind immer innere Zwistigkeiten besonders zu fürchten. Ebenso ist zu besorgen, daß eine lange Reihe von Jahren hindurch kein ausländischer Reisender die sämtlichen von mir besuchten Provinzen werde betreten können. Dieser Umstand vermehrt vielleicht das Interesse an einem Werk, das den Zustand des größeren Teiles der spanischen Kolo­ nien zu Anfang des 19 . Jahrhunderts darstellt. Indem ich mich schöneren Hoffnungen überlasse , schmeichle ich mir sogar, daß es auch dann noch der Aufmerksamkeit würdig sein werde , wenn die Leidenschaften besänftigt sein und diese Länder unter dem Einfluß einer neuen gesellschaftlichen Ord­ nung schnelle Fortschritte zur öffentlichen Wohlfahrt gemacht haben werden. Wenn dann noch einige Seiten meines Werkes das Vergessen über­ lebt haben, so werden die Uferbewohner des Orinoco und Atabapo mit Ent­ zücken sehen, daß volkreiche Handelsstädte , daß von freien Händen be­ stellte Felder die Stelle der undurchdringlichen Wälder und des über­ schwemmten Geländes einnehmen, die ich zur Zeit meiner Reise allein dort vorfand. Paris, im Februar 1812

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Erstes Buch Kapitel I

Vorbereitungen - Instrumente - Abreise von Spanien Aufenthalt auf den Canarischen Inseln

Wenn eine Regierung eine jener Seereisen anordnet , die bestimmt sind, einen Beitrag zur genauen Kenntnis der Erde und zur Förderung der Natur­ wissenschaften zu liefern , so setzt sich nichts der Ausführung ihrer Ab­ sichten entgegen . Der Zeitpunkt der Abreise und die Richtung des Weges können festgesetzt werden, sobald die Ausrüstung der Schiffe beendet ist und die Astronomen und Naturforscher ausgewählt sind, die unbekannte Meere durchfahren sollen. Die Inseln und Küsten , deren Produkte diese Reisenden untersuchen wollen , sind dem Einfluß der europäischen Politik nicht unterworfen. Wenn langwierige Kriege die Freiheit der Meere ge­ fährden , so werden von den kriegführenden Mächten wechselweise Pässe bewilligt; der Haß schweigt, wenn es sich um die Förderung der Wissen­ schaften handelt, welche die allgemeine Angelegenheit aller Völker ist. Anders verhält es sich , wenn ein einfacher Privatmann auf seine Kosten eine Reise in das Innere eines Kontinents unternimmt , über den sich Europas Kolonisationssystem erstreckt. Der Reisende mag einen für den Gegenstand seiner Nachforschungen und für den politischen Zustand der zu durchreisenden Länder noch so zweckmäßigen Plan aus sinnen und mag noch so sehr die Hilfsmittel sammeln, die ihm , entfernt von seinem Vater-

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land , seine Unabhängigkeit sichern ; unvorhergesehene Hindernisse setzen sich seinen Absichten selbst in dem Augenblick entgegen , wo er sie auszu­ führen imstand zu sein glaubt. Wenige Reisende haben größere Schwierig­ keiten zu überwinden gehabt , als die waren, die sich mir vor meiner Abreise ins spanische Amerika entgegenstellten ; ich hätte sie gern mit Stillschweigen übergangen und meine Erzählung mit der Reise auf den Gipfel des Pies von Teneriffa angefangen , wenn nicht meine ursprünglichen , fehlgeschlagenen Pläne deutlich die Richtung beeinflußt hätten, die ich seit meiner Rückkehr vom Orinoco meinen Unternehmungen gab . Ich werde daher flüchtig diese Begebenheiten erzählen , die zwar kein Interesse für die Wissenschaften haben , die ich aber doch in ihrem wahren Licht zu zeigen wünsche. Da die öffentliche Neugier oft mehr Anteil an den Personen der Reisenden als an ihren Werken nimmt, so hat man auf eine sonderbare* Art das entstellt, was sich auf die ersten Pläne bezieht , die ich mir gemacht hatte . Ich hatte seit meiner ersten Jugend den glühenden Wunsch nach einer Reise in entfernte und von den Europäern wenig besuchte Länder. Dieser Wunsch charakterisiert einen Zeitraum unseres Lebens , in dem uns dieses wie ein Horizont ohne Grenzen erscheint, wo nichts größeren Reiz für uns hat als die starken Bewegungen der Seele und das Bild physischer Gefahren. In einem Land erzogen, das keine unmittelbare Verbindung mit den Kolo­ nien beider Indien unterhält, und nachher Bewohner von Gebirgen, die , entfernt von den Küsten , durch ausgebreiteten Bergbau berühmt sind , fühlte ich in mir die lebhafte Leidenschaft für das Meer und für lange See­ fahrten sich fortschreitend entwickeln . Die Gegenstände , die wir nur durch die belebten Schilderungen der Reisenden kennen, haben einen besondern Reiz ; unsere Einbildungskraft gefällt sich in allem , was undeutlich und unbe­ grenzt ist; die Genüsse , welche wir entbehren müssen , scheinen uns größere Vorzüge zu haben als die , welche uns täglich im engen Kreis einer sitzenden Lebensweise zuteil werden . Der Geschmack an botanischen Wanderungen , das Studium der Geologie , eine flüchtige Reise nach Holland, England und Frankreich, die ich mit einem berühmten Mann machte , Georg Forster, der das Glück gehabt hatte , den Kapitän Cook auf seiner zweiten Reise um die Welt zu begleiten - alles dieses trug dazu bei, den Reiseplänen , die ich in * Ich muß bei dieser Gelegenheit bemerken, daß ich nie Kenntnis von einem Werk hatte , das in sechs Bänden bei Vollmer in Hamburg unter dem bizarren Titel einer Reise um die Welt und ins südliche Amerika, von A. v. Humboldt , herauskam . Dieser in meinem Namen gemachte Bericht wurde , wie es scheint , nach den in den öffentli­ chen Blättern erschienenen Notizen und nach den einzelnen Abhandlungen bear­ beitet , die ich der ersten Klasse des Instituts vorlas . Der Sammler glaubte , um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, einer Reise in einige Teile des Neuen Kontinents den anziehenderen TItel einer Reise um die Welt geben zu müssen .

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einem Alter von 18 Jahren gemacht hatte, eine bestimmte Richtung zu geben. Es war jetzt nicht mehr das Streben nach Bewegung und nach einem Wanderleben , sondern der Wunsch, eine wilde , erhabene und in ihren Her­ vorbringungen mannigfaltige Natur aus der Nähe zu sehen; es war die Hoff­ nung, einige für die Fortschritte der Wissenschaften nützliche Tatsachen zu sammeln, was meine Wünsche zu diesen schönen Ländern hintrieb , die unter der heißen Zone liegen . Da meine persönliche Lage mir damals nicht erlaubte , die Pläne auszuführen, die meinen Geist so lebhaft beschäftigten, so hatte ich Muße , mich während sechs Jahren auf die Beobachtungen vor­ zubereiten, die ich in dem Neuen Kontinent anstellen sollte, verschiedene Teile Europas zu durchreisen und die hohe Kette der Alpen zu durchwan­ dern, mit deren innerem Bau ich nachher den der Anden von Quito und Peru vergleichen konnte . Da ich nach und nach mit Instrumenten von ver­ schiedener Konstruktion arbeitete , so richtete ich meine Wahl auf die , welche mir zugleich die genaueren und beim Transport am wenigsten zer­ brechlichen schienen ; ich hatte Gelegenheit , Messungen zu wiederholen , die nach den strengsten Methoden angestellt waren , und selbst die Grenze der Irrtümer kennenzulernen, denen ich ausgesetzt sein konnte . Ich hatte im Jahr 1795 einen Teil Italiens durchwandert, aber ich hatte den vulkanischen Boden von Neapel und Sizilien noch nicht besuchen können. Ich verließ ungern Europa, ohne Vesuv, Stromboli und Ätna gesehen zu haben; ich erkannte wohl , daß , um einen großen Teil des geologischen Phä­ nomens und insbesondere die Natur der Gebirgsarten der Trapp-Formation richtig beurteilen zu können, man die Erscheinungen vor Ort untersuchen müßte , welche die noch jetzt tätigen Vulkane darbieten. Ich entschied mich deshalb, im November 1797 nach Italien zurückzukehren. Ich hielt mich lange in Wien auf, wo die prächtigen Sammlungen exotischer Gewächse und die Freundschaft der Herren v. Jacquin und Josef van der Schot mir für meine vorbereitenden Studien nützlich waren ; ich durchreiste mit Herrn Leopold v. Buch , der seitdem ein vortreffliches Werk über Lappland veröf­ fentlicht hat, mehrere Distrikte des Salzburgischen und der Steiermark, zwei Länder, die für den Geologen und den Landschaftsmaler gleich interes­ sant sind; aber in dem Augenblick, als ich über die Tiroler Alpen gehen wollte , nötigten mich die Kriege , die damals ganz Italien erschütterten , auf meine Absicht, nach Neapel zu reisen, zu verzichten . Kurze Zeit vorher hatte mir ein Mann, der ein leidenschaftlicher Freund der schönen Künste war und der, um ihre Denkmale zu beobachten , die Kü­ sten von Illyrien und von Griechenland bereist hatte , vorgeschlagen , ihn auf einer Reise nach Ober-Ägypten zu begleiten. Diese Reise sollte nicht länger als acht Monate dauern; mit astronomischen Werkzeugen versehen und von geschickten Zeichnern begleitet, wollten wir den Nil bis Assuan hinauf-

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reisen und dabei im Detail den Teil von Sai"d [arab . Name für Ober-Ägypten] untersuchen , der zwischen Tentyris [bei Dendera, nö von Theben] und den Katarakten liegt . Obgleich bis jetzt meine Aufmerksamkeit nicht auf eine Gegend gerichtet war, die außerhalb der Wendekreise lag , so konnte ich doch der Versuchung nicht widerstehen , Gegenden zu besuchen, die in den Annalen der menschlichen Kulturgeschichte so berühmt geworden sind . Ich nahm diesen Vorschlag an, aber unter der ausdrücklichen Bedingung , daß es mir freistehen sollte, nach der Rückkehr von Alexandria meine Reise allein durch Syrien und Palästina fortzusetzen . Ich richtete von nun an meine Stu­ dien dem neuen Plan gemäß ein, wovon ich nachher den Vorteil hatte , die Denkmäler aus der rohen Vorzeit der Mexicaner mit denen der Völker der Alten Welt vergleichen zu können. Ich hielt den Augenblick für nahe , wo ich mich nach Ägypten einschiffen könnte , als die politischen Ereignisse mich nötigten , einen Plan aufzugeben, der mir so viel Vergnügen versprach . Die Lage des Orients war so, daß ein einzelner Privatmann nicht hoffen konnte , Arbeiten verfolgen zu können, die selbst mitten im Frieden den Reisenden dem Mißtrauen der Regierungen aussetzen. Man rüstete sich damals in Frankreich zu einer Entdeckungsreise ins Süd­ meer, deren Oberbefehl dem Kapitän Baudin anvertraut werden sollte . Der erste Plan, den man entworfen hatte , war groß, kühn und würdig, von einem einsichtsvollen Anführer ausgeführt zu werden. Man sollte die spanischen Besitzungen im südlichen Amerika von der Mündung des La-Plata-Stroms bis ins Königreich Quito und bis an die Landenge von Panama besuchen. Nach einer Fahrt durch den Archipel des großen Weltmeeres und der Besich­ tigung der Küsten von Neu-Holland [Australien] , Vandiemensland [Tasma­ nien] bis zum Land von Nuyts [sü Westaustralien] sollten die beiden Kor­ vetten in Madagaskar anhalten und über das Kap der Guten Hoffnung zurückkehren. Ich war gerade in Paris angekommen, als man die Vorberei­ tungen zu dieser Reise anfing. Ich hatte wenig Zutrauen zu dem persönli­ chen Charakter des Kapitäns Baudin , der dem Wiener Hof Ursache zur Un­ zufriedenheit gegeben hatte, als er beauftragt war, einen meiner Freunde , den jungen Botaniker van der Schot, nach Brasilien überzuführen ; aber da ich nicht hoffen konnte , aus meinen eigenen Mitteln eine so umfassende Reise zu machen und einen so bedeutenden Teil der Erde zu sehen , beschloß ich, mich auf gut Glück anzuschließen. Ich erhielt die Erlaubnis, mich mit den Instrumenten, die ich zusammengebracht hatte , auf eine der Korvetten, die ins Südmeer bestimmt waren, einzuschiffen , und ich behielt mir das Recht vor, mich, wenn ich es für ratsam hielt, von dem Kapitän Baudin zu trennen. Herr Michaux, der schon Persien und einen Teil des nördlichen Amerikas besucht hatte , und Herr Bonpland, mit dem ich Bande der Freundschaft knüpfte, die uns seitdem vereinigen , waren bestimmt , als Naturforscher die Gesellschaft zu begleiten.

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Während mehrerer Monate beschäftigte ich mich mit dem Gedanken , an Arbeiten teilzunehmen , die einen so großen und ehrenvollen Zweck hatten, als der in Deutschland und Italien wieder ausgebrochene Krieg die französi­ sche Regierung bestimmte , die zu dieser Entdeckungsreise bewilligten Summen zurückzuziehen und die Reise selbst auf unbestimmte Zeit zu ver­ schieben. Grausam betrogen in meinen Hoffnungen, indem ein einziger Tag die Pläne zerstörte , die ich während mehrerer Jahre meines Lebens ent­ worfen hatte , überließ ich mich beinahe dem Zufall, das schnellste Mittel aufzufinden, um Europa zu verlassen und mich in eine Unternehmung zu stürzen, die mich über den Verlust, den ich empfand, trösten konnte . Ich machte die Bekanntschaft eines schwedischen Konsuls, Herrn Skiöl­ debrands, der, beauftragt von seinem Hof, dem Bey von Algier Geschenke zu bringen , durch Paris ging, um sich in Marseille einzuschiffen . Dieser wak­ kere Mann war lange Geschäftsträger an den Küsten Afrikas gewesen, und da er eine besondere Achtung bei der Regierung Algiers genoß , konnte er mir die Hilfsmittel verschaffen , um frei diesen Teil der Kette des Atlas zu durchwandern, der bis dahin noch nicht der Gegenstand der anziehenden Nachforschungen des Herrn Desfontaines gewesen war. Er schickte jährlich ein Schiff nach Tunis , auf dem sich die Pilger von Mekka einschifften , und er versprach mir, mich auf dem gleichen Weg nach Ägypten zu bringen. Ich zö­ gerte keinen Augenblick, mir eine so günstige Gelegenheit zunutze zu ma­ chen, und glaubte im Begriff zu sein, einen Plan auszuführen , den ich vor meiner Ankunft in Frankreich entworfen hatte . Kein Mineraloge hatte noch die hohe Kette von Bergen untersucht, die sich im Königreich Marokko bis an die Grenze des ewigen Schnees erhebt. Ich konnte versichert sein, daß ich , nach Vollbringung einiger möglichen Untersuchungen in den Alpen­ höhen der Berberei, in Ägypten von den schätzbaren Gelehrten , die seit einigen Monaten in dem Institut von Kairo vereinigt waren, dieselbe freund­ schaftliche Teilnahme genießen würde , womit sie mich während meines Auf­ enthalts in Paris überhäuft hatten. Ich vervollständigte in der Eile die Samm­ lung meiner Instrumente und schaffte mir die anderen an , die sich auf das Land bezogen, das ich besuchen wollte . Ich trennte mich von einem Bruder, der durch seinen Rat und durch sein Beispiel einen großen Einfluß auf die Richtung meiner Gedanken ausgeübt hatte. Er billigte die Gründe , die mich bestimmten, Europa zu verlassen; eine geheime Stimme sagte uns , daß wir uns wiedersehen würden . Diese Hoffnung, die nicht getäuscht wurde, ver­ süßte den Schmerz einer langen Trennung. Ich verließ Paris in der Absicht, mich nach Algier und Ägypten einzuschiffen: Und durch den Wechsel der Begebenheiten, der über alle menschlichen Dinge herrscht, sehe ich meinen Bruder bei meiner Rückkehr vom Amazonenstrom und von Peru wieder, ohne das feste Land von Afrika berührt zu haben . Die schwedische Fregatte, die Herrn Skiöldebrand nach Algier führen

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sollte , wurde zu Marseille in den letzten Tagen des Oktobers erwartet. Herr Bonpland und ich begaben uns um diese Zeit dahin und beeilten uns um so mehr zu der Reise , als wir beständig befürchteten, zu spät anzukommen und unsere Einschiffung zu verfehlen . Damals sahen wir die neuen Hindernisse nicht voraus , denen wir in kurzem ausgesetzt werden sollten. Herr Skiöldebrand war ebenso ungeduldig wie wir, an dem Ort seiner Bestimmung anzukommen . Wir bestiegen mehrere Male des Tags den Berg Notre Dame de la Garde , von wo aus man eine weite Aussicht über das Mit­ telländische Meer hat. Jedes Segel, das man am Horizont erblickte , erregte in uns eine lebhafte Bewegung ; aber nach zwei Monaten von Unruhe und vergeblicher Erwartung erfuhren wir aus den öffentlichen Blättern, daß die schwedische Fregatte , auf der wir reisen sollten , an den Küsten von Portugal viel durch Stürme gelitten hatte und daß sie zum Ausbessern genötigt worden war, in den Hafen von Oldiz einzulaufen . Privatbriefe bestätigten diese Nachricht und gaben uns die Gewißheit, daß die "Jaramas" (dies war der Name der Fregatte) vor dem Anfang des Frühjahrs nicht in Marseille ankommen würde . Wir fühlten uns nicht ermutigt, unseren Aufenthalt in der Provence so lange zu verlängern . Das Land und besonders das Klima gefiel uns herrlich , aber der Anblick des Meeres erinnerte uns ständig an unsere gescheiterten Pläne . Bei einem Ausflug, den wir auf die Hyeren und nach Toulon machten, sahen wir in diesem letzten Ort die Fregatte "La Boudeuse" , die Herr v. Bou­ gainville auf seiner Reise um die Welt befehligt hatte , ihre Segel nach der Insel Korsika lichten. Dieser berühmte Seefahrer hatte mich während meines Aufenthalts in Paris mit seinem besonderen Wohlwollen beehrt, als ich mich rüstete , den Kapitän Baudin zu begleiten. Es würde mir schwer sein, den Eindruck zu beschreiben, den der Anblick eines Schiffs auf mich machte , auf dem Commerson auf die Inseln der Südsee geführt worden war. Es gibt Gemütszustände , in denen sich allen unseren Empfindungen ein schmerzhaftes Gefühl beimischt. Wir beharrten immer noch auf dem Plan , uns an die Küsten von Afrika zu begeben, und wenig hätte gefehlt , so wäre uns diese Beharrlichkeit verderb­ lich geworden. Es war um diese Zeit in dem Hafen von Marseille ein kleines Schiff, das bereit war, nach Tunis unter Segel zu gehen. Es schien uns vorteil­ haft, eine Gelegenheit zu nutzen , die uns Ägypten und Syrien näher brächte . Wir kamen mit dem Kapitän über den Überfahrtspreis überein : Die Abreise war auf den morgigen Tag bestimmt; aber ein an sich unbedeutender Umstand verspätete glücklicherweise unsere Abreise . Das Vieh, das wäh­ rend der Reise zu unserer Nahrung bestimmt war, befand sich in der großen Kajüte . Wir verlangten , daß man einige für die Bequemlichkeit der Rei­ senden und für die Sicherheit unserer Werkzeuge höchst notwendige Ein­ richtungen treffe . Während dieser Zwischenzeit erfuhr man zu Marseille ,

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daß die Regierung von Tunis gegen die in der Berberei angesiedelten Fran­ zosen wüte und daß alle Individuen , die von einem französischen Hafen kämen , in die Gefängnisse geworfen würden. Diese Nachricht rettete uns von einer nahen Gefahr; wir sahen uns genötigt, die Ausführung unserer Ab­ sichten aufzuschieben, und entschlossen uns , den Winter in Spanien zuzu­ bringen in der Hoffnung, uns im künftigen Frühjahr, wenn es der politische Zustand des Orients erlaubte , entweder in Cartagena oder C:idiz einzu­ schiffen. Wir durchreisten Katalonien und das Königreich Valencia, um uns nach Madrid zu begeben . Wir besuchten die Ruinen von Tarragona und die des alten Sagunts. Wir machten von Barcelona einen Ausflug auf den Mont­ serrat , * dessen schroffe Gipfel von Eremiten bewohnt sind und der durch den Kontrast einer kräftigen Vegetation und nackter, dürrer Felsmassen eine Landschaft von eigenem Charakter darstellt . Ich hatte Gelegenheit , die Lage mehrerer für die Geographie Spaniens wichtiger Punkte astronomisch zu bestimmen; ich maß mittels des Barometers die Höhe des zentralen Pla­ teaus und machte einige Beobachtungen über die Neigung der Magnetnadel und über die Stärke der magnetischen Kraft. Die Resultate dieser Beobach­ tungen wurden separat publiziert, und ich werde mich nicht auf das Detail der physischen Geschichte eines Landes einlassen , in welchem ich mich nur sechs Monate aufhielt und das von so vielen unterrichteten Reisenden durchwandert wurde . Als ich in Madrid ankam, hatte ich bald Ursache , mich über den Ent­ schluß , die Halbinsel zu besuchen, zu beglückwünschen. Der Baron von Fo­ rell, sächsischer Gesandter am Hofe Spaniens, schenkte mir seine Freund­ schaft, die mir unendlich nützlich wurde. Er vereinigte ausgebreitete Kennt­ nisse in der Mineralogie mit dem reinsten Interesse für Unternehmungen, die geeignet sind , die Erweiterung unserer Kenntnisse zu fördern . Er ließ mich ahnen, daß ich unter der Administration eines aufgeklärten Ministers , des Chevalier Don Mariano Luis de Urquijo, hoffen könnte , die Erlaubnis zu erhalten, auf meine Rechnung das Innere des spanischen Amerikas zu be­ reisen. Nach allen Widerwärtigkeiten, die ich erfahren hatte, zauderte ich keinen Augenblick , diese Idee zu verfolgen. Ich wurde im März 1799 dem Hofe von Aranjuez vorgestellt. Der König würdigte mich einer gütigen Aufnahme . Ich setzte ihm die Gründe ausein­ ander, um derentwillen ich eine Reise in die Neue Welt und nach den Philip­ pinen antreten wollte , und überreichte dem Staatssekretariat eine Abhand­ lung über diesen Gegenstand. Der Chevalier d'Urquijo unterstützte meine * Herr Wilhelm von Humboldt, der bald nach meiner Abfahrt von Europa ganz Spanien durchreist hat, hat eine Beschreibung dieser Gegend in den >Geographi­ schen Ephemeriden< (Weimar 1803) gegeben.

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Bitte , und es gelang ihm, alle Hindernisse zu beseitigen . Das Verfahren dieses Ministers war um so großmütiger, als ich in keinen persönlichen Ver­ hältnissen mit ihm stand. Der Eifer, den er fortdauernd für die Ausführung meiner Pläne zeigte , hatte keinen anderen Grund als seine Liebe zu den Wissenschaften. Es ist ebensowohl Erfüllung einer Pflicht wie Vergnügen für mich , in diesem Werke das Andenken an die Diens�e , die er mir leistete , hochzuachten . Ich erhielt zwei Pässe , einen von dem ersten Staatssekretär, den anderen vom Rat von Indien. Nie wurde einem Reisenden unumschränktere Er­ laubnis bewilligt, nie wurde ein Fremder mit mehr Zutrauen von der spani­ schen Regierung geehrt. Um jeden Zweifel , den die Vizekönige und Gene­ ralkapitäne , welche die königliche Gewalt in Amerika repräsentieren, über die Natur meiner Beschäftigungen erheben könnten , unmöglich zu machen, lautete der Paß der primera secretaria de estado , ich hätte das Recht, mich frei aller meiner physikalischen und geodätischen Instrumente zu bedienen; ich könnte in allen spanischen Besitzungen astronomische Beobachtungen machen, die Höhe der Berge messen, die Produkte des Bodens sammeln und alles vornehmen , was ich für die Fortschritte der Wissenschaften für möglich hielte . Diese Befehle des Hofs wurden genau befolgt , selbst nach den Ereignissen, die Herrn d'Urquijo nötigten, das Ministerium zu ver­ lassen. Von meiner Seite suchte ich den Beweisen einer derart beständigen Teilnahme zu entsprechen . Ich teilte während meines Aufenthalts in Ame­ rika den Gouverneuren der Provinzen Doubletten der Naturalien mit, die ich gesammelt hatte und welche, die die Hauptstadt interessieren konnten, indem sie einiges Licht über die Geographie oder Statistik der Kolonien ver­ breiteten. Dem Versprechen gemäß , das ich vor meiner Abreise gegeben hatte , schickte ich mehrere geologische Sammlungen dem Naturalienkabi­ nett zu Madrid. Da der Zweck unserer Reise rein wissenschaftlich war, so glückte es Herrn Bonpland und mir, uns das Wohlwollen der Kolonisten wie der Europäer zu erwerben, die mit der Verwaltung dieser großen Lände­ reien beauftragt waren. Während der fünf Jahre , in denen wir den Neuen Kontinent durchwanderten, bemerkten wir nie das geringste Zeichen von Mißtrauen. Es ist mir eine süße Erinnerung , daß wir unter den schmerzlich­ sten Entbehrungen und im Kampf mit Hindernissen, die der wilde Zustand dieser Länder hervorruft , uns nie über die Ungerechtigkeit der Menschen zu beklagen hatten . Mehrere Betrachtungen hätten uns verleiten sollen, unseren Aufenthalt in Spanien zu verlängern. Der Abbe Cavanilles, ebenso interessant durch die Mannigfaltigkeit seiner Kenntnisse wie durch die Freiheit seines Geistes, Hr. Nee , der, mit Herrn Haenke vereint , der Expedition Malaspinas als Botaniker gefolgt war und der allein eine der größten Pflanzensammlungen zusammengebracht hat, die man je in Europa sah, Don Casimir Ortega , der

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Abb6 Pourret und die gelehrten Herausgeber der Flora von Peru , die Herren Rufz und Pavon, öffneten uns ohne Rückhalt ihre reichen Sammlungen. Wir untersuchten einen Teil der mexicanischen Pflanzen, die durch die Herren Sess6 , Mocifto und Cervantes entdeckt und wovon Zeichnungen in das Mu­ seum der Naturgeschichte zu Madrid geschickt worden waren. Diese große Sammlung, deren Aufsicht Herrn Clavijo anvertraut ist , dem man eine schöne Übersetzung der Werke von Buffon verdankt , bot uns , ich muß es ge­ stehen, keine geologische Suite der Gebirgsarten der Cordilleren dar; aber Herr Proust , der infolge der Genauigkeit seiner chemischen Untersuchun­ gen so bekannt ist, und ein ausgezeichneter Mineraloge , Herr Herrgen, gaben uns bemerkenswerte Aufschlüsse über mehrere amerikanische Fossi­ lien [Minerale] . Es wäre uns nützlich gewesen , längere Zeit die Produkte der Länder zu studieren, die der Zweck unserer Untersuchungen sein sollten; aber wir waren zu ungeduldig, uns die vom Hof bewilligte Erlaubnis zunutze zu machen, um unsere Abreise länger zu verschieben. Seit einem Jahr war ich so vielen Schwierigkeiten begegnet, daß ich mich nur mit Mühe von der endlichen Erfüllung meiner sehnlichsten Wünsche überzeugen konnte . Wir verließen gegen Mitte Mai Madrid. Wir durchreisten einen Teil von Altkastilien, die Königreiche Leon und Galicien und begaben uns nach Co­ rufta, wo wir uns nach der Insel Cuba einschiffen sollten. Da der Winter sehr streng und lang war, so genossen wir während der Reise die milde Wärme des Frühjahrs, die unter einer solch südlichen Breite sonst nur dem Mai und April eigen ist. Der Schnee bedeckte noch die hohen Granitspitzen von Gua­ darrama; aber in den tiefen Tälern Galiciens , die an die malerischen Land­ schaften der Schweiz und Tirols erinnern, überzogen mit Blüten beladene Ciströschen und baumartige Heidekräuter alle Felsen. Man verläßt gern die Hochebene von Kastilien , die fast überall von Vegetation entblößt ist und auf der man im Winter eine ziemlich strenge Kälte und im Sommer eine drük­ kende Hitze leidet. Nach den wenig zahlreichen Beobachtungen , die ich selbst machen konnte , bildet das Innere von Spanien eine weite , 548 m über die Oberfläche des Meeres erhabene Ebene , die mit sekundären Gebirgs­ arten, Sandstein, Gips , Steinsalz und Jurakalkstein bedeckt ist . Das Klima Kastiliens ist weit kälter als das von Toulon und Genua; denn seine mittlere Temperatur erhebt sich kaum auf 15° des hundertteiligen Thermometers . Man muß sich wundern , daß in der Breite von Kalabrien , von Thessalonien und Kleinasien die Orangen noch nicht im Freien vorkommen . Die Gebirgs­ fläche, die den Mittelpunkt einnimmt , ist von einem niederen und schmalen Gürtel umgeben, wo an verschiedenen Stellen der ChamRecueil d'obervations astronomiques< publiziert . Ein Halb-Chronometer von Seyffert, das zum Übertragen der Zeit in kurzen Zwischenräumen dient. Ein achromatisches Fernrohr von Dollond von drei Fuß , zur Beobachtung der Jupiter-Trabanten bestimmt . Ein kleineres Fernrohr von CarocM , mit einer Vorrichtung, um das In­ strument in Wäldern an einen Baumstamm befestigen zu können. Ein Prüf-Fernrohr mit einem auf Glas gravierten Mikrometer, von Köh-

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ler, Astronom zu Dresden . Dieser Apparat, der auf die Fläche des künstli­ chen Horizonts gelegt wird , dient zur Nivellierung der Grundlinien , zur Messung des Fortschritts einer Sonnen- oder Mondfinsternis und zur Be­ stimmung der Größe sehr kleiner Winkel, unter denen sehr entfernte Berge erscheinen. Ein Sextant von Ramsden von zehn Zoll Halbmesser, mit silbernen Kreis­ bogen und Fernrohren, die um das Sechzehnfache vergrößern. Ein Dosensextant ( Snuffbox-Sextant ) von Troughton von zwei Zoll Halb­ messer, mit einem in Minuten eingeteilten Nonius, mit Fernrohren, die viermal vergrößern , und mit einem künstlichen Horizont von Kristallglas . Dieses kleine Instrument ist für solche Reisende sehr nützlich , die ge­ zwungen sind, im Kahn die Krümmungen eines Flusses zu beobachten, oder die zu Pferd Winkel messen wollen. Ein Multiplikationsspiegelkreis von Le Noir, zwölf Zoll im Durchmesser, mit einem großen Platinaspiegel. Ein Theodolit von Hurter, dessen Azimutalkreis acht Zoll im Durch­ messer hatte . Ein künstlicher Horizont von Caroche von plangeschliffenem Glas, von sechs Zoll Durchmesser, mit einer Wasserwaage, deren Einteilungen zwei Sexagesimalsekunden entsprachen . Ein Quadrant von Bird von 1 Fuß Halbmesser, mit doppelter Einteilung des Bogens in 90 und 96 Grad, wo die Mikrometerschraube zwei Sexagesi­ malsekunden anzeigt, und dessen senkrechte Lage mittels eines Bleilots und einer großen Wasserwaage bestimmt werden kann . Ein auf einem Stock befestigtes Graphometer von Ramsden mit einer Magnetnadel und einem Meridianfaden, um die magnetischen Azimute zu messen . Eine Inklinationsbussole von zwölf Zoll Durchmesser, nach den Grund­ sätzen von Borda , von Herrn Le Noir verfertigt. Dieses Instrument von sehr vollkommener Arbeit wurde mir bei meiner Abreise von dem «Bureau des Longitudes» in Frankreich abgetreten. Man findet eine Abbildung in der Reisebeschreibung von d'Entrecasteaux, deren astronomischen Teil man der Sorgfalt eines gelehrten Seefahrers, des Herrn de Rossei, verdankt. Ein Azimutalkreis dient dazu, die Ebene des magnetischen Meridians zu finden, entweder durch korrespondierende Neigungen oder indem man die Lage sucht, in der die Nadel senkrecht ist, oder indem man das Minimum der Nei­ gungen beobachtet. Man verifiziert das Instrument , indem man es um­ wendet und die Pole wechselt . Eine Deklinationsbussole von Le Noir nach den Grundsätzen von Lam­ bert, mit einem Meridianfaden . Der Nonius war von zwei zu zwei Minuten geteilt. Eine Magnetnadel von zwölf Zoll Länge , mit Dioptern [Visiergeräten]

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versehen und an einem torsionsfreien Faden aufgehängt , nach der Methode von Coulomb . Diese Vorrichtung , die dem magnetischen Fernrohr von Prony ähnlich ist , diente mir zur Bestimmung der kleinen stündlichen Ab­ weichungen der Magnetnadel und zur Messung der Intensität der magneti­ schen Kraft , die sich mit der Breite verändert . Die Schwingungen der großen Inklinationsnadel von Herrn Le Noir gaben für dieses letztere Phä­ nomen ebenfalls einen sehr gen auen Maßstab. Ein Magnetometer von Saussure , von Herrn Paul in Genf verfertigt, mit einem Limbus , der einem Halbmesser von drei Fuß entspricht. Ein invariables Pendel, von Herrn Megnie in Madrid verfertigt . Zwei Barometer von Ramsden. Zwei barometrische Vorrichtungen, mit deren Hilfe man die mittlere Barometerhöhe finden kann, indem man zu verschiedenen Zeiten mehrere Glasröhren in ein Gefäß eintaucht. Diese Röhren transportiert man mit Quecksilber gefüllt , indem sie an dem einen Ende mit einer stählernen Schraube verschlossen und in metallenen Etuis eingeschlossen sind. Mehrere Thermometer von Paul, von Ramsden, von Megnie und von Fortin . Zwei Hygrometer von Saussure und von Deluc , mit Haaren und mit Fisch­ bein ausgestattet. Zwei Elektrometer von Bennet und von Saussure , mit Goldblechen und Korkkügelchen, mit vier Fuß hohen Konduktoren, um nach der Methode von Volta die atmosphärische Elektrizität mittels einer brennbaren Sub­ stanz, die Rauch ausströmt , zu vereinen . Ein Cyanometer von Paul . Um mit einiger Genauigkeit die Bläue des Himmels, wie sie auf dem Rücken der Alpen und der Cordilleren erscheint, vergleichen zu können, hatte Herr Pictet die Gefälligkeit , dieses Cyano­ meter nach demjenigen färben zu lassen, dessen sich Herr de Saussure auf dem Gipfel des Montblanc und während seines denkwürdigen Aufenthalts auf dem Col du Geant bediente . Ein Eudiometer von Fontana, mit Salpetergas . Ohne gen au zu wissen, wieviel Teile dieses Gases nötig sind, um einen Teil Sauerstoff zu saturieren, kann man immer noch mit Genauigkeit die Menge von atmosphärischem Stickstoff und mithin die Reinheit der Luft bestimmen, wenn man außer dem Salpetergas noch oxygenierte Salzsäure oder eine Lösung von Eisen­ sulfat anwendet. Das Eudiometer Voltas , das unter allen das genaueste ist , hat für Forscher, die in humiden Gegenden reisen , wegen der schwachen elektrischen Entladung , welche die Entzündung des Sauerstoff- und Wasser­ stoffgases erfordert , viele Schwierigkeiten. Der tragbarste eudiometrische Apparat , der am leichtesten zur Hand und in jeder Hinsicht der empfehlens­ werteste ist, ist der von Herrn Gay-Lussac in den > Memoires de la Societe d'Arcueil< beschriebene .

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Ein Phosphor-Eudiometer von Reboul. Nach den schönen Unter­ suchungen des Herrn Thenard über die Vermischung von Kohle mit Phos­ phor ist es erwiesen, daß die langsame Wirkung dieser in Säure umwandel­ baren Base weniger genaue Resultate gibt als ein lebhaftes Verbrennen . Ein Apparat von Paul , um mit einer außerordentlichen Genauigkeit die Hitze des siedenden Wassers bei verschiedenen Erhebungen über die Oberfläche des Meeres zu bestimmen. Das Thermometer mit doppeltem Nonius war nach der Vorrichtung angefertigt, die Herr Saussure auf seinen Reisen angewendet hat. Eine thermometrische Sonde von Dumotier, die aus einem zylindrischen Gefäß mit zwei konischen Ventilen besteht, worin ein Thermometer einge­ schlossen ist . Zwei Aräometer [zur Bestimmung der Dichte von Flüssigkeiten] von Nicholson und Dollond . Ein zusammengesetztes Mikroskop von Hoffmann, beschrieben in der Geschichte der kryptogamischen Gewächse von Herrn Hedwig . Ein Normalmeter von Le Noir. Eine Meßkette ; eine Probierwaage ; ein Hyetometer [Regenmesser] ; Ab­ sorptionsröhren , um mittels Kalkwassers kleine Mengen von Kohlensäure oder Sauerstoff zu bestimmen; die elektroskopischen Vorrichtungen von Haüy; Gefäße, um die Menge der Verdunstung von Flüssigkeiten an der freien Luft zu messen; ein künstlicher Quecksilberhorizont, kleine Leidener Flaschen, die durch Reiben geladen werden konnten ; ein galvanischer Ap­ parat ; Reagenzien, um einige chemische Versuche über Mineralwasser an­ stellen zu können, und eine große Anzahl kleiner Werkzeuge , die Reisenden notwendig sind, um die Instrumente wieder in Ordnung zu bringen, die durch das häufige Hinstürzen der Lasttiere gelitten haben . *

Getrennt von unseren Instrumenten , die an Bord der Korvette waren, brachten wir noch zwei Tage in Corufia zu. Ein dichter Nebel, der den Hori­ zont bedeckte , verkündigte endlich die sehnlichst erwartete Veränderung des Wetters . Am 4. Juni 1799 abends drehte der Wind nach Nordost, welche Richtung an den Küsten Galiciens während der schönen Jahreszeit für sehr beständig gehalten wird . Die "Pizarro" lichtete wirklich am 5. die Anker, ob­ gleich man wenige Stunden vorher die Nachricht erhalten hatte, daß ein eng­ lisches Geschwader auf dem Wachtturm von Sisarga signalisiert worden sei und daß sie ihren Weg gegen die Mündung des Tajo zu nehmen scheine . Die Personen, die zusahen, als man die Anker unserer Korvette löste , sagten laut, daß wir längstens binnen dreier Tage gekapert und gezwungen, dem Schiff zu folgen, auf dem wir uns befänden, nach Lissabon geführt werden

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würden. Diese Prophezeiung beunruhigte uns um so mehr, als wir in Madrid Mexicaner gekannt hatten, die sich zu drei wiederholten Malen zu CFlora von Peru< ver­ dankten . Als wir beide mit dem Mikroskop untersuchten , fanden wir, daß diese angeblichen Befruchtungsteile , diese Staubfäden und Pistille , einer neuen Gattung der Familie der Ceratophyten angehören . Die Kelche , die Herr Ruiz für Pistillen [Stempel] hielt , entspringen den hornartigen , abge­ platteten Stangen, die mit der Substanz des Fucus so fest verbunden sind , daß man versucht wäre , sie für bloße Rippen zu halten ; mit Hilfe einer sehr dünnen Klinge kann man sie ablösen , ohne das Parenchym zu verletzen . Die nicht gegliederten Stengel sind anfangs braunschwärzlich , aber sie werden mit der Zeit durch Vertrocknen weiß und zerreiblich : In diesem Zustand brausen sie mit den Säuren wie die kalkartige Substanz der Sertularia, deren Enden den Kelchen des Fucus des Herrn Ruiz ziemlich gleichen . Wir fanden im Südmeer, als wir von Guayaquil nach Acapulco reisten , diese gleichen Anhänge der Tropentraube , und die genaueste Untersuchung ließ uns keinen Zweifel über ein Zoophyt , das sich an die Tange heftet , wie der Efeu die Bäume umschlingt . Die unter dem Namen von weiblichen Blüten be­ schriebenen Organe sind mehr als zwei Linien lang, und diese Größe allein hätte die Vermutung aufheben sollen , daß diese Organe wahre Pistille seien . Die Küste von Paria verlängert sich gegen Westen , indem sie eine Mauer von nicht sehr hohen Felsen mit zugerundeten Gipfeln und wellenförmigen

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Umrissen bildet. Wir sahen lange die hohen Küsten der Insel Margarita nicht, wo wir anhalten mußten, um über das Kreuzen der englischen Schiffe und über die Gefahr, Guaira zu berühren, Erkundigungen einzuziehen. Son­ nenhöhen, die unter sehr günstigen Umständen genommen wurden, lehrten uns , wie fehlerhaft um diese Zeit die von den Seeleuten begehrtesten Karten waren. Am 15 . Juli morgens , als wir uns nach dem Chronometer in 66° l ' 15" Länge befanden , waren wir noch nicht im Meridian der Insel Margarita , ob­ wohl wir nach der >Carte reduite de I'Ocean Atlantique< schon an dem west­ lichen , sehr hohen Kap dieser Insel vorbeigesegelt sein mußten, das in 66° 0 ' Länge angezeigt ist . Der Mangel a n Genauigkeit , womit vor den Arbeiten der Herren Fidalgo , Noguera und Tiscar und , ich wage es hinzuzusetzen , vor den astronomischen Beobachtungen, welche ich zu Cumami anstellte , die Küste der Tierra Firme abgebildet wurde , hätte für die Seefahrer gefährlich werden können , wenn nicht das Meer in diesen Gegenden beständig ruhig wäre . Die Irrtümer in der Breite übertrafen noch die in der Länge , weil sich die Küsten von Neu-Andalusien westwärts vom Cabo de Tres Puntas 15 bis 20 Meilen weiter nordwärts erstrecken , als die vor dem Jahr 1800 publi­ zierten Karten angeben . Gegen 11 Uhr nahmen wir eine sehr niedere kleine Insel wahr, auf der sich einige Sanddünen erhoben . Indem wir sie mit Fernrohren untersuchten, ent­ deckte man dort keine Spur von Bewohnung oder Kultur. Zylindrische Kak­ teen erhoben sich da und dort in der Form von Kandelabern . Der Boden , von Vegetation entblößt, schien wegen der außerordentlichen Reflexion , welche die Sonnenstrahlen erleiden , wenn sie durch Luftschichten gehen , die in Berührung mit stark erhitzten Ebenen sind, in einer wellenförmigen Bewegung zu sein . Es ist eine Wirkung der Spiegelung, daß unter allen Zonen die Wüsten und die ständigen Steppen das Ansehen eines bewegten Meeres darbieten . Der Anblick eines solch ebenen Landes entsprach nicht den Vorstel­ lungen , die wir uns von der Insel Margarita gemacht hatten . Indem man be­ schäftigt war, die Berechnungen unserer Lage mit den Karten zu verglei­ chen, ohne sie in Übereinstimmung bringen zu können , signalisierte man von der Höhe der Masten einige kleine Fischerboote . Der Kapitän der "Pi­ zarro" rief sie mit einem Kanonenschuß herbei ; aber dieses Zeichen ist in Gegenden unnütz , wo der Schwächere nur dem Stärkeren zu begegnen glaubt, um von ihm beeinträchtigt zu werden. Die Fahrzeuge ergriffen die Flucht nach Westen , und wir befanden uns in derselben Ungewißheit wie in Betreff der kleinen Insel Graciosa bei unserer Ankunft auf den Canarischen Inseln . Niemand erinnerte sich, in diesen Gegenden je gelandet zu sein . Ob­ wohl das Meer sehr ruhig war, so schien doch die Nähe einer Insel , die sich kaum einige Fuß über die Oberfläche des Ozeans erhebt, Maßregeln der Klugheit vorzuschreiben . Man hörte auf, gegen das Land zu fahren, und da

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die Sonde nur drei bis vier Faden Wasser anzeigte , warf man eiligst den Anker aus . Die Küsten verhalten sich , von ferne gesehen, wie Wolken , in denen jeder Beobachter die Form der Gegenstände erblickt , die seine Einbildungskraft beschäftigen . Da unsere Berechnungen und das Zeugnis des Chronometers im Widerspruch mit den Karten waren, die wir befragen konnten , verlor man sich in reinen Mutmaßungen . Die einen hielten Sandhaufen für indiani­ sche Hütten und zeigten die Stelle an, wo nach ihrer Meinung das Fort Pam­ patar lag; andere sahen die Herden von Ziegen , die in dem dürren Tal von Santiago so häufig sind : Sie bezeichneten die hohen Berge von Macanao , die ihnen zum Teil durch Wolken verborgen zu sein schienen . Der Kapitän ent­ schloß sich, einen Lotsen an Land zu schicken. Man rüstete sich , die Scha­ luppe auszuschiffen, weil das Schiffsboot auf der Reede von Santa Cruz durch das Anprallen der Wellen am Ufer stark gelitten hatte . Da die Küste sehr entfernt war, konnte die Rückkehr zur Korvette schwierig sein, wenn der Landwind abends stark geweht hätte . Im Augenblick, als wir uns anschickten , ans Land zu gehen , entdeckte man zwei Pirogen , die der Küste entlangfuhren . Man rief sie durch einen zweiten Kanonenschuß an , und obwohl man die kastilianische Flagge aufge­ steckt hatte , näherten sie sich nur mit Mißtrauen . Die Pirogen waren wie die Boote überhaupt , deren sich die Eingeborenen bedienen , aus einem ein­ zigen Baumstamm gefertigt, und auf jeder waren achtzehn Guaikeri-In­ dianer, nackt bis an den Gürtel und von sehr schlankem Wuchs . Ihr Ansehen verriet große Muskelkraft , und ihre Farbe hielt ein Mittel zwischen braun und kupferrot. Von ferne gesehen , unbeweglich in ihrer Lage , und am Hori­ zont gemalt hätte man sie für Statuen von Bronze gehalten . Dieser Anblick setzte uns um so mehr in Erstaunen, als er nicht den Vorstellungen ent­ sprach, die wir uns nach der Erzählung einiger Reisenden von den charakte­ ristischen Zügen und der großen Schwäche der Eingeborenen gemacht hatten. Wir erfuhren in der Folge und ohne die Grenzen der Provinz Cumaml zu überschreiten , wie sehr sich die Physiognomie der Guaikeri von jener der Chaimas und der Cariben unterscheidet . Trotz der engen Bande, die alle Völker Amerikas als zu einer Rasse gehörend zu vereinigen scheinen, unter­ scheiden sich doch mehrere Stämme voneinander durch die Höhe ihres Wuchses , durch ihre hellere oder dunklere Farbe , durch den Blick , welcher bei den einen Ruhe und Sanftmut, bei den anderen eine unglückliche Mi­ schung von Traurigkeit und Wildheit ausdrückt . Als wir ziemlich nahe bei den Pirogen waren, um sie spanisch anrufen zu können, verloren die Indianer ihr Mißtrauen und kamen sogar an Bord. Sie benachrichtigten uns , daß die niedrige Insel, in deren Nähe wir ankerten, die Insel Coche sei, die nie bewohnt gewesen war, und daß die von Europa kommenden spanischen Schiffe mehr nördlich , zwischen ihr und Margarita ,

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vorbeizusegeln pflegten, um einen Lotsen im Hafen von Pampatar zu nehmen . Unsere Unerfahrenheit hatte uns in den Kanal südlich von Coche geführt ; und da in dieser Epoche die englischen Kreuzer diese Passage be­ suchten, so hatten uns die Indianer für ein feindliches Schiff angesehen . Die südliche Durchfahrt ist wirklich für Schiffe sehr vorteilhaft , die nach Cu­ mana und Barcelona gehen: Sie hat weniger Wasser als die nördliche , die viel enger ist , aber man läuft nicht Gefahr anzuecken, wenn man recht nahe an den Inseln Lobos und den Moros deI Tunal vorbeifährt . Der Kanal zwischen Co ehe und Margarita ist durch die Untiefen des Nordwestkaps von Coche und durch die Bank , die Punta de Mangles umgibt , verengt . Wir werden in der Folge, unter einem rein geologischen Gesichtspunkt, diese Sandbank untersuchen , welche die Klippen von Testigos und von Margarita umgibt, und wir werden zeigen , daß diese letztere Insel ehemals durch Coche und Lobos mit der Halbinsel Chacopapa vereinigt war. Die Guaikeri gehören zu dem Stamm zivilisierter Indianer, welche die Kü­ sten von Margarita und die Vorstädte der Stadt Cumana bewohnen . Nach den Cariben des spanischen Guayana ist dies die schönste Menschenrasse Tierra Firmes. Sie genießen mehrere Vorrechte , weil sie von den ersten Zeiten der Eroberung an treue Freunde der Kastilier geblieben sind . Auch nennt sie der König von Spanien in Handschreiben "seine lieben edlen und loyalen Guaikeri" . Die Indianer der zwei Pirogen, die mir begegneten , hat­ ten den Hafen von Cumana in der Nacht verlassen . Sie holten Zimmerholz in den Zedernwäldern [Cedrela odorata , Lin . ] , die sich vom Kap San Jose bis jenseits der Mündung des Rio Canipano erstrecken. Sie gaben uns sehr fri­ sche Cocosnüsse und einige Fische vom Geschlecht Chaetodon , deren Farbe wir nicht genug bewundern konnten . Welche Reichtümer schlossen in un­ seren Augen die Pirogen dieser armen Indianer ein ! Ungeheure Blätter von Vijao [Heliconia bihaiJ bedeckten Bananenbüschel. Der schuppige Panzer des Tatou [Armadill, Dasypus , Cachicamo] , die Frucht der Crescentia cujete, welche den Eingeborenen als Trinkgefäß dient , die Produkte , die in den europäischen Kabinetten die allgemeinsten sind, hatten für uns einen beson­ deren Reiz, weil sie uns lebhaft daran erinnerten, daß wir in der heißen Zone angekommen waren und das Ziel erreicht hatten, nach welchem unsere Wünsche seit langer Zeit strebten . Der Patr6n einer der Pirogen erbot sich, an Bord der "Pizarro" zu bleiben, um uns als Lotse zu dienen . Dies war ein durch seinen Charakter empfeh­ lungswürdiger Guaikeri , voll Beobachtungsgeist, dessen tätige Neugierde ihn auf die Produkte des Meeres wie auf die einheimischen Pflanzen gelenkt hatte . Ein glücklicher Zufall wollte , daß der erste Indianer, dem wir im Augenblick unseres Anlandens begegneten, der Mensch war, dessen Kenntnis uns für den Zweck unserer Forschungen äußerst nützlich wurde . Es macht mir Vergnügen, in diesem Reisebericht den Namen des Carlos deI

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Pino nennen zu können, der uns während eines Zeitraums von sechzehn Mo­ naten bei allen unseren Exkursionen den Küsten entlang und im Inneren des Landes begleitete . Der Kapitän der Korvette lichtete gegen Abend die Anker. Ehe wir die Untiefe oder placer von Coche verließen , bestimmte ich die Länge des Ost­ kaps der Insel , welche ich 66° 11 ' 53" fand . Indem wir westwärts steuerten , fuhren wir bald an der kleinen Insel Cubagua vorbei , die gegenwärtig ganz verlassen ist , aber ehemals wegen des Perlenfischens berühmt war. Hier hatten die Spanier, unmittelbar nach den Reisen von Columbus und Ojeda, unter dem Namen Neu-Cadiz eine Stadt gegründet, deren Spuren man nicht mehr antrifft . Am Anfang des 16. Jahrhunderts waren die Perlen von Cub­ agua in Sevilla, in Toledo und auf den großen Messen von Augsburg und Brügge bekannt . Da Neu-Cadiz kein Wasser hatte , brachte man von der be­ nachbarten Küste das Wasser des Rio Manzanares dahin , ungeachtet man es, ich weiß nicht warum , beschuldigte , Augenentzündungen zu verursa­ chen. Alle Schriftsteller dieser Zeit reden vom Reichtum der ersten Koloni­ sten und dem Luxus, den sie entfalteten ; heutzutage erheben sich Dünen von fliegendem Sand auf diesem unbewohnten Erdreich , und der Name Cubagua findet sich kaum auf unseren Karten. Als wir in diesen Gegenden angekommen waren , sahen wir die hohen Berge des Kaps Macanao im westlichen Teil der Insel Margarita, die sich ma­ jestätisch über den Horizont erhoben . Nach den Höhenwinkeln zu urteilen, die in einer Entfernung von 18 Meilen genommen wurden, scheint die abso­ lute Höhe dieser Gipfel 500 bis 600 Toisen zu betragen. Nach dem Chrono­ meter Louis Berthouds ist die Länge des Kaps Macanao 66° 47 ' 5". Ich nahm die Felsen am Ende des Kaps auf und nicht die äußerst niedrige Landzunge , die sich westwärts verlängert und in einen tiefen See grund verliert. Die Lage von Macanao und die , welche ich weiter oben der Ostspitze der Insel Coche anwies , weichen nur um 4 Sekunden von den durch Herrn Fidalgo erhal­ tenen Resultaten ab . Der Wind war sehr schwach ; der Kapitän zog vor, bis Anbruch des Tages zu lavieren . Er fürchtete , während der Nacht in den Hafen von Cumana ein­ zulaufen; und diese Vorsicht schien wegen eines unglücklichen Zufalls not­ wendig, der kürzlich in diesen Gegenden vorgefallen war. Ein Paketboot hatte in der Nacht die Anker geworfen, ohne die Laternen am Hinterteil an­ zuzünden; man hielt es für ein feindliches Schiff und die Batterien von Cu­ mana gaben Feuer. Dem Kapitän des Postschiffes wurde ein Bein wegge­ schossen, und er starb wenige Tage nachher in Cumana. Wir brachten einen Teil der Nacht auf dem Verdeck zu . Der Guaikeri­ Lotse erzählte uns von den Tieren und Pflanzen seines Landes. Wir erfuhren mit großem Vergnügen , daß es wenige lieues von der Küste eine gebirgige und von den Spaniern bewohnte Gegend gebe, in der die Kälte sehr

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empfindlich sei , und daß man in den Ebenen zwei voneinander verschiedene Krokodile [ Crocodilus acutus und C. bava] , Arten von Boas , Elektrische Aale [Gymnotus electricus, Temblador] und mehrere Arten von Tigern kenne . Obgleich uns die Wörter bava, chachicamo und temblador völlig un­ bekannt waren , errieten wir leicht aus der naiven Beschreibung der Lebens­ weise und der Formen die Arten, welche die Kreolen mit diesen Namen be­ zeichnen . Indem wir vergaßen, daß diese Tiere auf einem ungeheuren Raum von Land verteilt sind , hofften wir sie in den benachbarten Wäldern von Cu­ mami beobachten zu können . Nichts reizt die Neugierde eines Naturfor­ schers mehr als die Erzählung von den Wundern einer Gegend, an deren Küste er zu landen im Begriff steht . Am 16. Juli 1799 , mit Tagesanbruch, sahen wir eine grüne Küste von pitto­ reskem Anblick. Die Berge von Neu-Andalusien , halb verschleiert von den Dünsten , begrenzten den Horizont im Süden . Die Stadt Cumana und ihr Schloß erschienen zwischen Gruppen von Cocosbäumen . Wir legten uns im Seehafen morgens um 9 Uhr vor Anker, einundvierzig Tage nach unserer Ab­ reise von Corufta ; die Kranken krochen auf das oberste Verdeck, um den An­ blick eines Landes zu genießen, welches ihren Leiden ein Ende setzen sollte . Ich wollte die Erzählung unserer Reise durch das Detail der physikali­ schen [naturkundlichen] Beobachtungen nicht unterbrechen , denen ich mich während unserer Überfahrt von den Küsten Spaniens nach Teneriffa und von Teneriffa nach Cumana unterzogen habe. Beobachtungen dieser Art gewähren nur dann ein wahres Interesse, wenn man ihre Resultate nach einer Methode zusammenstellen kann, die geeignet ist, zu allgemeinen Ideen zu führen. Die Form einer historischen Erzählung und der Gang, den sie nehmen muß, sind nicht vorteilhaft, um Erscheinungen in ihrer Gesamtheit darzustellen, die sich mit den Jahreszeiten und mit der Lage der Orte verän­ dern. Um die Gesetze dieser Erscheinungen zu studieren, muß man sie, in Gruppen vereinigt und nicht isoliert, wie sie nach und nach beobachtet wurden, vorlegen [Hervorhebung vom Hrsg.] . Man muß den Seeleuten Dank wissen , daß sie eine ungeheure Menge von Tatsachen zusammen­ brachten; aber man muß es bedauern , daß bis auf diesen Tag die Naturfor­ scher so wenig Vorteil von diesen Reisejournalen gezogen haben , die , einer neuen Untersuchung unterworfen, unerwartete Resultate gewähren könn­ ten . Ich will nun am Ende dieses Kapitels die Erfahrungen anzeigen , die ich über die Temperatur der Atmosphäre und des Ozeans, über den hygrometri­ schen Zustand der Luft , über die Stärke der blauen Farbe des Himmels und über die magnetischen Erscheinungen gemacht habe . [Es folgen an dieser Stelle im Kapitel III : Betrachtungen zur Lufttempe­ ratur, zur Meerestemperatur, zur Temperatur des Atlantischen Ozeans nach verschiedenen Längengraden , dasselbe nach verschiedenen Jahreszeiten ;

Kapitel III

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zum Vergleich der Meerestemperaturen in beiden Hemisphären ; zum hypso­ metrischen Zustand der Luft; Ergebnisse hygrometrischer Beobachtungen , im Becken des Atlantischen Ozeans ausgeführt ; Azurfärbung des Himmels und Farbe des Meeres an seiner Oberfläche ; Inklination der Magnetnadel und Intensität der magnetischen Kräfte , dasselbe im nördlichen Atlantik 1799 ; Tagebuch der Route (Physikalische Beobachtungen im Atlantik wäh­ rend der Ü berfahrt) ; Höhenbestimmung mehrerer Punkte der Insel Tene­ riffa ; Magnetische Beobachtungen von Borda . - RHI , S . 224-288; P. U. u. a . , Erster Teil, S. 338-452 . ]

Zweites Buch Kapitel IV

Erster Aufenthalt in Cumand - Ufer des Manzanares

Wir waren am Ankerplatz , der Mündung des Flusses Manzanares gegen­ über, am 16. Juli [ 1799] bei Tagesanbruch angekommen ; aber wir konnten uns erst sehr spät morgens ausschiffen, weil wir die Besichtigung der Hafen­ offiziere abwarten mußten . Unsere Blicke waren auf Gruppen von Cocos­ bäumen geheftet, die das Ufer bekränzten und deren Stämme , höher als sechzig Fuß, die Landschaft beherrschten . Die Ebene war mit Gesträuch von Cassien , Capparis und den baumartigen Mimosen bedeckt , die , den Pi­ nien Italiens ähnlich , ihre Zweige in der Form von Regenschirmen aus­ breiten . Die gefiederten Blätter der Palmbäume malten sich auf dem Blau eines Himmels ab , dessen Reinheit durch keine Spur von Dünsten getrübt war. Die Sonne stieg schnell gegen den Zenit . Ein blendendes Licht war in der Luft und auf den weißlichen Hügeln , die mit zylindrischen Kakteen be­ setzt waren , sowie auf dem stets ruhigen Meer verbreitet , dessen Ufer von Alcatras [Brauner Pelikan vom Wuchs des Schwans: Pelicanus fuscus, Lin . ] , Reihern und Flamingos bevölkert sind . Der Glanz des Tages, die Kraft der Farben der Gewächse , die Form der Pflanzen, das bunte Gefieder der Vögel , alles verkündete den großen Charakter der Natur in den Ä quinoktialgegen­ den . Die Stadt Cumami, Hauptstadt Neu-Andalusiens , liegt eine Meile vom Landungsplatz oder der Batterie de la Bocca , neben der wir an Land ge­ stiegen waren, nachdem wir die Barre des Manzanares passiert hatten . Wir hatten eine weite Ebene zu durchlaufen [EI Salado] , welche die Vorstadt der Guaikeri von der Küste trennt . Die außerordentliche Hitze der Atmosphäre wurde durch den Widerschein des Bodens vermehrt , der zum Teil von Pflanzen entblößt war. Das hundertteilige Thermometer, in den weißen Sand gesteckt , zeigte 37,7°. In den kleinen Salzwasserlachen stand es auf 30,5°, während die Temperatur des Ozeans auf seiner Oberfläche im Hafen von Cumana gewöhnlich 25 ,2 bis 26,3° beträgt . Die erste Pflanze , die wir auf dem amerikanischen Kontinent pflückten, war die Avicennia tomentosa [Mangle prieto] , welche an dieser Stelle kaum 2 Fuß Höhe erreicht . Dieser Strauch , das Sesuvium , die gelbe Gomphrena und Kakteen bedeckten die von salzsaurem Natron geschwängerten Böden; sie gehören zu der kleinen

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Anzahl von Gewächsen , die in Gesellschaft leben wie die Heiden Europas und die sich in der heißen Zone nur an den Küsten und auf den hohen Ge­ birgsplateaus der Anden finden . Die Avicennia von Cumami unterscheidet sich noch durch eine andere , nicht minder merkwürdige Eigenheit: Sie lie­ fert das Beispiel einer Pflanze , die den Erdstrichen des südlichen Amerikas und den Küsten von Malabar gemein ist . Der indianische Lotse führte uns durch seinen Garten , der mehr einem Gehölz glich als einem kultivierten Boden . Er zeigte uns als einen Beweis der Fruchtbarkeit dieses Klimas einen Käsebaum (Bombax heptaphyllum) , dessen Stamm in seinem 4. Jahr nahe an 2V2 Fuß Durchmesser erreicht hatte . Wir haben an den Ufern des Orinoco und des Magdalenenstroms beob­ achtet, daß Bombax , Carolineen , Ochroma und andere Bäume aus der Fa­ milie der Malven ein außerordentlich schnelles Wachstum haben . Ich denke indessen, daß der Indianer das Alter des Käsebaums übertrieb ; denn in der gemäßigten Zone , in den feuchten und warmen Erdstrichen des nördlichen Amerika , zwischen dem Mississippi und den Alleghenies, überschreiten die Bäume in zehn Jahren nicht einen Fuß im Durchmesser, und das Wachstum der Pflanzen ist dort im ganzen nur um ein Fünftel beschleunigter als in Europa , wenn man selbst als Beispiele den westindischen Platanus, den Tuli­ panbaum und Cupressus disticha nimmt, die 9 bis 15 Fuß Durchmesser errei­ chen . In der Gegend von Cumami sahen wir auch zum ersten Mal , im Garten des Guaikeri-Piloten , eine Guama [lnga spuriaj, mit Blüten beladen, und merkwürdig durch die außerordentliche Länge und den silberfarbenen Glanz ihrer Staubfäden . Wir gingen durch die Vorstadt der Indianer, deren Straßen sehr geradlinig und von kleinen und ganz neuen Häusern von freundlichem Anblick gesäumt sind. Dieses Stadtviertel war gerade neu ge­ baut, wegen eines Erdbebens , das Cumami achtzehn Monate vor unserer Ankunft zerstört hatte . Kaum waren wir auf einer hölzernen Brücke über den Fluß Manzanares gegangen , der einige Bavas oder Krokodile der kleinen Art ernährt , als wir überall die Spuren dieser schrecklichen Kata­ strophe erblickten ; neue Gebäude erhoben sich auf den Trümmern der alten. Wir wurden vom Kapitän der "Pizarro" zu dem Gouverneur der Provinz, Don Vicente Empanin , geführt , um ihm die Pässe vorzuweisen , die uns vom Staatssekretariat gegeben worden waren . Er nahm uns mit der Offenheit und edlen Einfachheit auf, welche die baskische Nation auszeichnet . Ehe er zum Gouverneur von Portobelo und Cumana ernannt wurde , hatte er sich als Schiffskapitän in der königlichen Marine ausgezeichnet . Sein Name erin­ nert an eines der außerordentlichsten und traurigsten Ereignisse , das die Ge­ schichte der Seekriege darbietet . Beim letzten Bruch zwischen Spanien und England kämpften zwei Brüder des Herrn Emparan nachts vor dem Hafen von Cadiz , indem der eine das Schiff des anderen für ein feindliches Fahr-

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zeug hielt. Der Kampf wurde so heftig, daß beide Schiffe fast zu gleicher Zeit sanken. Ein sehr kleiner Teil der Mannschaft wurde gerettet, und die beiden Brüder hatten das Unglück , sich kurze Zeit vor ihrem Tode zu er­ kennen . Der Gouverneur von Cumana bezeugte uns viel Vergnügen über den Ent­ schluß , den wir gefaßt hatten, einige Zeit in Neu-Andalusien zu verweilen , dessen Namen in jener Zeit in Europa beinahe unbekannt war und das auf seinen Bergen und an den Ufern seiner zahlreichen Flüsse eine große An­ zahl von Objekten aufwies , die der Aufmerksamkeit der Naturforscher wert sind . Herr Emparan zeigte uns Zeug, das mit einheimischen Pflanzen ge­ färbt , und schöne Möbel , die ausschließlich aus einheimischen Hölzern ver­ fertigt waren ; er interessierte sich lebhaft für alles, was mit Naturkunde zu­ sammenhing, und fragte zu unserem großen Erstaunen, ob wir glaubten , daß unter dem schönen Himmel der Tropen die Luft weniger Stickstoff (az6tico) enthalte als in Spanien , oder ob die Schnelligkeit , mit der das Eisen in diesen Klimaten oxydiere , einzig die Wirkung einer größeren Feuchtigkeit sei , die durch das Haarhygrometer angezeigt werde . Der Name des Vater­ lands , an einer fernen Küste ausgesprochen , kann für das Ohr eines Rei­ senden nicht angenehmer sein als für uns die Wörter Stickstoff, Eisenoxid und Hygrometer. Wir wußten , daß trotz der Befehle des Hofs und der Emp­ fehlungen eines mächtigen Ministers der Aufenthalt in den spanischen Kolo­ nien uns Unannehmlichkeiten ohne Zahl aussetzen würde , wenn es uns nicht gelänge , denen , die diese ausgedehnten Länder regieren , ein beson­ deres Interesse einzuflößen . Herr Emparan liebte die Wissenschaften zu sehr, um es sonderbar zu finden , daß wir so weit herkamen, um Pflanzen zu sammeln und die Lage einiger Orte astronomisch zu bestimmen . Er nahm keine anderen Beweggründe unserer Reise an als die in unseren Pässen an­ gegebenen , und die öffentlichen Zeichen von Achtung, die er uns während eines langen Aufenthalts in seinem Gouvernement gab , trugen viel dazu bei, uns eine günstige Aufnahme in allen Teilen des südlichen Amerikas zu ver­ schaffen . Wir ließen gegen Abend unsere Instrumente ausschiffen und hatten die Genugtuung, daß keines beschädigt worden war. Wir mieteten ein geräu­ miges Haus , dessen Lage zu astronomischen Beobachtungen vorteilhaft war. Man genoß dort eine angenehme Kühle , wenn der Seewind wehte ; die Fenster waren ohne Glasscheiben , und es fehlten selbst die Vierecke von Pa­ pier, die gewöhnlich in Cumana die Stelle der Scheiben vertreten. Alle Pas­ sagiere der "Pizarro" verließen das Schiff; aber die Erholung derjenigen , die das bösartige Fieber gehabt hatten, war sehr langsam . Wir sahen welche , die trotz der Sorgfalt , die ihre Landsleute auf sie verwendeten, nach einem Monat noch an furchtbarer Schwäche und Magerkeit litten . Die Gastfreund­ schaft ist in den spanischen Kolonien so groß , daß ein ankommender Euro-

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päer, ohne Empfehlung und Geld , beinahe gewiß ist , Unterstützung zu finden , wenn er wegen Krankheit in irgendeinem Hafen landet. Die Katalo­ nier, die Galicier und die Biscayer haben den häufigsten Verkehr mit Ame­ rika. Sie bilden gleichsam drei unterschiedliche Korporationen, die einen merkwürdigen Einfluß auf die Sitten , die Industrie und den Handel der Ko­ lonien ausüben. Der ärmste Einwohner von Sitges oder von Vigo ist sicher, in dem Hause eines katalonischen oder galicischen pulpero [kleiner Krämer] aufgenommen zu werden, er mag in Chile , in Mexico oder auf den Philip­ pinen landen . Ich sah die rührendsten Beispiele dieser Sorgfalt , die auf Un­ bekannte verwandt wurde , während ganzer Jahre und immer ohne Murren . Man hat gesagt , die Gastfreundschaft sei in einem so glücklichen Klima leicht auszuüben , wo die Nahrung im Überfluß vorhanden ist , wo die einhei­ mischen Gewächse heilsame Arzneien liefern und wo der Kranke , in einer Hängematte liegend , in einem Schuppen den Zufluchtsort findet, dessen er bedarf. Aber darf man die Last für nichts rechnen , welche die Ankunft eines Fremden in einer Familie verursacht, dessen Charakter man nicht kennt ; ist es erlaubt, die Beweise einer mitleidigen Sanftmut und die teilnehmende Sorgfalt der Frauen und jene Geduld zu vergessen, die bei einer langen und beschwerlichen Erholung nicht ermüdet? Man hat bemerkt , daß mit Aus­ nahme einiger sehr bevölkerter Städte die Gastfreundschaft seit der ersten Ansiedlung der spanischen Kolonisten in der Neuen Welt noch nicht merk­ lich abgenommen hat. Der Gedanke ist niederschmetternd , daß diese Ver­ änderung stattfinden wird, wenn die Bevölkerung und die Industrie in den Kolonien größere Fortschritte machen werden und wenn der Zustand der Gesellschaft , den man mit dem Namen einer fortgeschrittenen Zivilisation zu belegen beliebt, die "alte kastilianische Offenheit" verbannt haben wird . Unter den Kranken , die zu Cumami landeten, befand sich ein Neger, der wenige Tage nach unserer Ankunft in Wahnsinn verfiel. Er starb in diesem bejammernswürdigen Zustand , ungeachtet sein Herr, ein beinahe siebzig­ jähriger Greis, der Europa verlassen hatte , um sich zu San Blas , am Eingang des Golfes von Californien , niederzulassen , alle erdenkliche Hilfe nicht ver­ säumt hatte . Ich führe diese Tatsache an , um zu beweisen, daß bisweilen Menschen, die unter der heißen Zone geboren sind , nachdem sie die gemä­ ßigten Klimate bewohnt haben, die verderblichen Wirkungen der Hitze der Tropen erfahren. Der Neger war ein junger Mensch von achtzehn Jahren, sehr stark und an der Küste von Guinea geboren . Ein Aufenthalt einiger Jahre auf dem Gebirgsplateau von Kastilien hatte seinem Organismus den Grad von Reizbarkeit gegeben, der die Miasmen der heißen Zone so gefähr­ lich für die Einwohner der nördlichen Länder macht .

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[Zur Beschreibung von CumanaJ

Der Grund, auf dem die Stadt Cumami steht, ist ein unter geologischem Gesichtspunkt sehr merkwürdiger Boden. Da mir seit meiner Rückkehr nach Europa andere Reisende in der Beschreibung einiger Teile der Küsten, die sie nach mir besucht haben , zuvorgekommen sind, muß ich mich darauf beschränken, die Beobachtungen zu entwickeln , auf die ihre Untersuchun­ gen nicht gerichtet waren. Die Kette der Kalk-Alpen von Bergantin und Tataracual streicht von Ost nach West vom Gipfel des Imposible bis an den Seehafen Mochima und bis Campanario. Das Meer scheint in sehr ent­ fernten Zeiten diese Kette von Bergen von der felsigen Küste von Araya und Manicuare losgetrennt zu haben . Der weite Golf von Cariaco verdankt seinen Ursprung einem Einbruch des Meeres, und man kann nicht zweifeln , daß um diese Zeit die Fluten auf dem südlichen Ufer den ganzen Boden, den der Rio Manzanares durchströmt, mit salzsaurem Natron geschwängert haben. Es genügt ein Blick auf den topographischen Plan der Stadt Cumana, um diese Tatsache zu erweisen, die ebenso unbezweifelbar ist wie die ehema1ige Existenz des Meeres im Bassin von Paris, von Oxford und von Rom. Ein langsamer Rückzug des Wassers setzte diese weite Strecke aufs Trockene, auf dem sich eine Gruppe von Hügeln erhebt , die aus Gips und Kalkbreccien der neu esten Formation bestehen . Die Stadt Cumana lehnt sich an diese Gruppe , die einst eine Insel im Meerbusen von Cariaco war. Der Teil der Ebene , der nördlich der Stadt liegt , wird die kleine Ebene [Plaga chica] genannt ; sie erstreckt sich östlich bis an Punta Delgada, wo ein enges Tal, mit Gomphrenaflava bedeckt , noch den Punkt bezeichnet , wo ehemals das Wasser abfloß. Dieses Tal , dessen Eingang durch kein Außenwerk geschützt ist, ist der Punkt, von dem aus der Platz am meisten einem militärischen Angriff ausgesetzt ist. Der Feind kann in voller Sicherheit zwischen der Spitze des Sandes des Barig6n [Punta Arenas deI Barig6n, südlich vom Schloß von Araya] und der Mündung des Manzanares durchgehen, wo das Meer nahe am Eingang des Hafens von Ca­ riaco 40 , 50 und weiter südöstlich bis 87 Faden Tiefe hat . Er kann bei Punta Delgada landen und das Fort San Antonio und die Stadt Cumana von hinten nehmen, ohne das Feuer der westlichen Batterien , die auf der kleinen Ebene , an der Mündung des Flusses und zu Cerro Colorado errichtet sind, zu fürchten . Der Hügel von Kalkbreccien, den wir eben als eine Insel im alten Meer­ busen betrachtet haben , ist mit einem dichten Wald von Fackeldisteln und Opuntien bedeckt . Es gibt darunter solche von 30 bis 40 Fuß Höhe , deren Stamm mit Flechten bedeckt, in der Form eines Kandelabers in mehrere Äste geteilt ist und einen außerordentlichen Anblick gewährt. Bei Mani­ cuare , an der Punta Araya , haben wir einen Kaktus gemessen, dessen

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Stamm mehr als 4 Fuß 9 Zoll Umfang hatte [Tuna macho] . Ein Europäer, der nur die Kakteen unserer Gewächshäuser kannte , ist erstaunt zu sehen, daß das Holz dieses Gewächses mit dem Alter außerordentlich hart wird , daß es jahrhundertelang der Luft und der Feuchtigkeit widersteht und daß die Indianer von Cumana es vorzugsweise zu Rudern und zu Schwellen im Hafen verwenden. Cumana, Coro , die Insel Margarita und Cura�ao sind die Orte des südlichen Amerikas , die den größten Überfluß an Gewächsen aus der Familie der Nopaleen haben . Hier allein könnten die Botaniker nach einem langen Aufenthalt eine Monographie der Kakteen erarbeiten, die nicht in ihren Blüten und Früchten, sondern in der Form ihres gegliederten Stammes, der Zahl der Ecken und der Anlage der Stacheln erstaunlich ver­ schieden sind. Wir werden in der Folge sehen , wie diese Gewächse , die ein heißes und außerordentlich trockenes Klima, wie das von Ägypten und Cali­ fornien , charakterisieren , allmählich in dem Maß verschwinden , wie man sich von den Küstenländern entfernt , um in das Innere der Länder zu dringen . Die Gruppen von Säulenkakteen und Opuntien sind für die dürren Strecken des am Äquator liegenden Amerika das , was die Moore , mit Binsen und Hydrocharideen bedeckt , für die Länder des Nordens sind. Man betrachtet einen Ort beinahe als undurchdringlich, wo stachlige Kakteen von der großen Art reihenweise beisammenstehen . Diese Stellen, die tuna­ les genannt werden, halten nicht nur den Eingeborenen auf, der bis an den Gürtel nackt geht; sie sind auch für die mit Kleidern versehenen Besserge­ stellten furchtbar. Bei unseren einsamen Spaziergängen versuchten wir einige Male in den tunal zu dringen, der den Gipfel des Hügels , auf dem das Schloß steht , krönt und von dem ein Teil von einem Fußweg durchschnitten wird. Hier könnte man an Tausenden die Organisation dieses sonderbaren Gewächses studieren . Bisweilen überraschte uns die Nacht plötzlich , denn die Dämmerung ist unter diesem Klima beinahe nichts . Wir befanden uns alsdann in einer um so peinlicheren Lage , als die cascabel oder Klapper­ schlange [Crotalus cumanensis und C. Löfflingii, zwei neue Arten] , der Coral und andere mit Giftzähnen versehene Schlangen zu der Zeit diese brennenden und dürren Orte besuchen, um dort ihre Eier unter dem Sand abzulegen . Das Schloß San Antonio liegt auf der westlichen Seite des Hügels. Es befindet sich nicht auf dem höchsten Punkt, indem es östlich durch einen nicht befestigten Gipfel beherrscht wird . Der tunal wird hier und überall in den spanischen Kolonien als ein wichtiges Mittel militärischer Verteidigung betrachtet. Wenn man Befestigungswerke aus Erde erbaut , so suchen die Ingenieure die stacheligen Säulenkakteen zu vervielfältigen und ihr Wachstum zu begünstigen , so wie sie Sorge tragen, die Krokodile in den Gräben der befestigten Plätze zu erhalten. In einem Klima, wo die Natur so

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tätig und so mächtig ist , ruft der Mensch die fleischfressenden Reptilien und die mit furchtbaren Stacheln bewaffneten Gewächse zu Hilfe . Das Schloß San Antonio , auf dem man an Festtagen die kastilianische Fahne hißt , erhebt sich nur 30 Toisen über die Oberfläche des Meeres im Meerbusen von Cariaco . Auf einem nackten Kalkfelsen gelegen, beherrscht es die Stadt und stellt sich den Schiffen , die den Hafen hineinfahren , sehr malerisch dar. Es bildet sich sehr hell auf der düsteren Kette dieser Berge ab , die ihre Gipfel bis in die Regionen der Wolken erheben und deren duftige und bläuliche Farbe sich mit dem Azur des Himmels vermählt. Wenn man südöstlich von Fort San Antonio hinabsteigt , findet man am Abhang des­ selben Felsen die Ruinen des alten Schlosses Santa Maria . Dies ist ein herrli­ cher Platz für die , welche beim Untergang der Sonne die Kühle des See­ winds und den Anblick der Bucht genießen wollen. Die hohen Gipfel der Insel Margarita erscheinen über der felsigen Küste der Landzunge von Araya; westwärts erinnern die kleinen Inseln Caracas , Picuita und Boracha an die Katastrophen , welche die Küsten Tierra Firmes zerrissen haben . Diese Inseln ähneln Befestigungswerken; und während die Sonne die nied­ rigen Schichten der Luft, den Ozean und den Boden ungleich erwärmt, er­ scheinen durch eine Wirkung der Spiegelung ihre Spitzen erhöht , gleich dem Ende der Kaps der Küste . Man verfolgt während des Tages gern diese unbe­ ständigen Erscheinungen; man sieht diese felsigen , in der Luft schwebenden Massen sich beim Eintritt der Nacht auf ihre Grundlagen niedersetzen ; und das Gestirn , dessen Gegenwart die organische Natur belebt , scheint durch die veränderliche Beugung seiner Strahlen dem unbeweglichen Felsen Be­ wegung zu geben und die mit dürrem Sande bedeckten Ebenen wellen­ förmig zu bewegen. Die Stadt Cumami, im engen Sinne des Worts, nimmt den zwischen Schloß San Antonio und den kleinen Flüssen Manzanares und Santa Catalina lie­ genden Raum ein. Das Delta, das durch die Teilung des ersteren dieser Flüsse gebildet wird, ist ein fruchtbarer Boden , mit Mammea , Achras , B a­ nanen und anderen Gewächsen bedeckt, die in den Gärten oder charas der Indianer angebaut werden . Die Stadt hat kein bedeutendes Gebäude , und die Menge der Erdbeben gestattet die Hoffnung nicht, daß sie deren einst besitzen werde . Es ist wahr, daß die starken Erdstöße im selben Jahr weniger häufig in Cumana wiederkehren als in Quito , wo man doch kostbare und sehr hohe Kirchen vorfindet . Aber die Erdbeben in Quito sind nur scheinbar heftig, und wegen der besonderen Art der Bewegung und des Bodens stürzt kein Gebäude zusammen. In Cumana wie in Lima und in mehreren Städten, die fern von der Mündung der brennenden Vulkane sind, wird die Reihe schwacher Erschütterungen nach einer langen Folge von Jahren durch große Katastrophen unterbrochen, die den Wirkungen der Explosion einer Mine ähnlich sind . Wir werden Gelegenheit haben , öfters auf diese Phänomene

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zurückzukommen , zu deren Erklärung man so viele vergebliche Theorien ersonnen und die man zu klassifizieren geglaubt hat, indem man sie senk­ rechten und horizontalen Bewegungen, dem Stoß und der Oszillation, zuge­ schrieben hat. Die Vorstädte von Cumami sind fast ebenso volkreich wie die alte Stadt . Man zählt deren drei: die der Serritos auf dem Wege der Plaga chica , wo man einige schöne Tamarindenbäume sieht ; die des heiligen Franziskus, gegen Südosten, und die große Vorstadt der Guaikeri . Der Name dieses indiani­ schen Stammes war vor der Eroberung völlig unbekannt. Die Eingebo­ renen , die ihn tragen, gehörten einst zu der Nation der Guaraunos, die man nur noch in den sumpfigen Erdstrichen findet, die zwischen den Armen des Orinoco liegen . Greise versicherten , daß die Sprache ihrer Vorfahren ein Dialekt des Guaniuno war, aber daß seit einem Jahrhundert zu Cumana und auf der Insel Margarita kein Eingeborener dieses Stammes vorhanden sei , der eine andere Sprache als die kastilianische sprechen könne . Die Benennung der Guaikeri sowie die Begriffe Peru und Peruanisch ver­ danken ihren Ursprung einem bloßen Mißverständnis : Die Begleiter von Christoph Columbus begegneten nämlich , als sie längs der Insel Margarita hinfuhren, wo noch an der nördlichen Küste der edelste Teil der Guaikeri­ Nation wohnt, einigen Eingeborenen , die Fische harpunierten, indem sie einen an einem Seil befestigten und mit einer äußerst scharfen Spitze verse­ henen Stock auswarfen. Sie fragten sie in der Sprache Haitis , wie ihr Name sei , und die Indianer, die glaubten , die Frage der Fremden beziehe sich auf die Harpunen , die aus dem harten und schweren Holz der Palme Macana verfertigt waren, antworteten Guaike , Guaike , was einen gespitzten Stock bedeutet. Es ist heutzutage ein bedeutender Unterschied zwischen den Guaikeri , einer geschickten und zivilisierten Fischerzunft , und den wilden Guaraunos des Orinoco , die ihre Behausungen an den Stämmen der Mo­ riche-Palme aufhängen . Die Bevölkerung von Cumana wurde in dieser letzten Zeit außerordent­ lich übertrieben . Im Jahre 1800 ließen einige Kolonisten , wenig bewandert in Untersuchungen politischer Ö konomie , diese Bevölkerung bis auf 20 000 Seelen zunehmen , während königliche Offiziere , bei der Verwaltung des Landes angestellt , der Meinung waren , daß die Stadt mit ihren Vorstädten nicht 12 000 aufweise. Herr de Pons gab in seinem schätzbaren Werk über die Provinz Caracas Cumana im Jahr 1802 nahe an 28 000 Einwohner. Andere hoben diese Zahl für das Jahr 1810 bis auf 30 000 . Wenn man die Langsam­ keit bedenkt, mit der die Bevölkerung Tierra Firmes zunimmt - nicht auf dem Lande , sondern in den Städten, muß man bezweifeln , daß Cumana schon um ein Drittel bevölkerter sei als Vera Cruz , der Haupthafen des weiten Königreichs Neu-Spanien . Es ist selbst leicht zu beweisen , daß im Jahr 1802 die Bevölkerung kaum über 18 000 bis 19 000 Seelen betrug. Es

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wurden mir mehrere Memoires mitgeteilt , welche die Regierung über die Statistik des Landes verfertigen ließ , als man die Frage erhob , ob das Ein­ kommen von der Verpachtung des Tabaks durch eine Personalsteuer ersetzt werden könnte , und ich schmeichle mir, daß meine Schätzung auf ziemlich sicheren Grundlagen beruhte . Eine Zählung, die im Jahre 1792 gemacht wurde , gab für die Stadt Cu­ mana , ihre Vorstädte und die eine lieue in der Runde zerstreuten Häuser nur 10 740 Einwohner. Don Manuel Navarete , Offizier des Schatzamtes, versi­ chert , daß der Irrtum dieser Zählung nicht über ein Drittel oder Viertel der ganzen Summe betragen könnte . Indem man die jährlichen Taufregister ver­ gleicht, bemerkt man nur eine schwache Zunahme von 1790 bis 1800 . Die Frauen sind zwar außerordentlich fruchtbar, besonders in der Schicht der Eingeborenen ; aber obwohl die Pocken in diesem Land noch unbekannt sind, ist doch die Sterblichkeit der Kinder in den ersten Jahren furchtbar wegen der außerordentlichen Vernachlässigung, in der sie leben , und ihrer schlimmen Gewohnheit , sich von grünen und unverdaulichen Früchten zu nähren. Die Zahl der Geburten steigt gewöhnlich auf 520 bis 600 , welches zum wenigsten eine Bevölkerung von 16 800 Seelen anzeigt . Man kann gewiß sein , daß alle indianischen Kinder getauft und in die Register der Pfar­ reien eingetragen werden . Und in der Voraussetzung, daß die Bevölkerung im Jahr 1800 26 000 Seelen betragen habe , wäre auf 43 Individuen nur eine Geburt gekommen, während das Verhältnis der Geburten zur Totalbevölke­ rung in Frankreich 28 : 100 und in den Äquinoktialgegenden von Mexico 17 : 100 ist. Es ist zu vermuten , daß sich allmählich die indianische Vorstadt bis zum Landungsplatz ausdehnen wird, da die Ebene , die noch nicht ganz mit Häu­ sern oder Hütten bedeckt ist , wenigstens 340 Toisen Länge hat. Die Hitze ist etwas weniger drückend auf der Seite der Ebene als in der alten Stadt, wo die Abstrahlung des Kalkbodens und die Nähe des Bergs San Antonio die Tem­ peratur der Luft außerordentlich erhöht . In der Vorstadt der Guaikeri haben die Seewinde einen freien Zugang; der Boden ist dort tonig und deswegen, wie man glaubt , weniger den heftigen Stößen der Erdbeben ausgesetzt als die Häuser, die an die Felsen und Hügel des rechten Ufers des Manzanares angelehnt sind. Das Gestade in der Nähe des kleinen Flusses Santa Catalina ist von Rhizo­ phoren [Rhizophora mangle] [Mangroven] umgeben ; aber diese manglares haben keine hinreichende Ausdehnung, um die Gesundheit der Luft in Cu­ mana zu vermindern. Der übrige Teil der Ebene ist zum Teil von Vegetation entblößt, zum Teil mit Gebüsch von Sesuvium portulaeastrum, Gomphrena fiave, Gomphrena myrtifolia, Talinum euspidatum, Talinum eumanense und Portulaea lanuginosa bedeckt. Unter diesen krautartigen Pflanzen erheben sich hie und da die Avieennia tomentosa , die Seoparia du leis , eine strauch-

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artige Mimose mit sehr reizbaren Blättern , und besonders Cassien , deren Zahl im südlichen Amerika so groß ist, daß wir auf unseren Reisen mehr als dreißig neue Arten gesammelt haben. Wenn man die Vorstadt verläßt und den Fluß südlich hinaufgeht , findet man zuerst ein Wäldchen von Kakteen , hierauf einen schönen Platz, der von Tamarinden , Brasilholzbäumen, Baumwollbäumen und anderen durch ihre Blätter und Blüten merkwürdigen Gewächsen beschattet wird . Der Boden liefert hier gute Weiden , wo Molkereien , von Schilfrohr erbaut , durch dichte Gruppen von Bäumen voneinander getrennt sind . Die Milch bleibt, wenn man sie aufbewahrt , frisch , nicht allerdings in den Früchten des Flaschenkür­ bisbaums [Crescentia Cujetej, die ein Gewebe von sehr dichten Holzfasern haben, sondern in Gefäßen von porösem Ton von Manicuare . Ein Vorurteil, das in den Ländern des Nordens verbreitet ist , ließ mich glauben, daß die Kühe in der heißen Zone keine sehr fette Milch gäben; aber der Aufenthalt in Cumaml und besonders die Reise durch die weiten Ebenen von Calabozo , die mit Gräsern und kraut artigen Mimosen bedeckt sind, belehrten mich, daß die Wiederkäuer Europas sich vollkommen an die heißesten Klimate ge­ wöhnen, wenn sie nur Wasser und eine gute Nahrung vorfinden . Die Milch ist vortrefflich in den Provinzen Neu-Andalusien , Barcelona und Venezuela , und oft ist die Butter besser in den Ebenen der Äquinoktialzone als auf dem Rücken der Anden, wo die Alpenpflanzen , die in keiner Jahreszeit eine hin­ reichend hohe Temperatur genießen , weniger aromatisch sind als in den Pyrenäen , den Gebirgen Estremaduras und Griechenlands . Da die Einwohner von Cumana die Kühle des Seewinds dem Anblick der Vegetation vorziehen , so kennen sie beinahe keine andere Promenade als die des großen Meeresgestades. Die Kastilianer, die man im allgemeinen an­ klagt, die Bäume und den Gesang der Vögel nicht zu lieben , haben ihre Ge­ wohnheiten und Vorurteile in die Kolonien verpflanzt . In Tierra Firme , in Mexico und in Peru ist es selten , einen Eingeborenen bloß in der Absicht, sich Schatten zu verschaffen , einen Baum pflanzen zu sehen ; und wenn man die Umgebungen großer Hauptstädte ausnimmt , so sind Alleen in diesem Land fast unbekannt . Die aride Ebene von Cumana bietet nach starken Regengüssen eine außerordentliche Erscheinung dar. Der befeuchtete und durch die Strahlen der Sonne erhitzte Boden verbreitet jenen Bisamgeruch, der in der heißen Zone Tieren von sehr verschiedenen Klassen , dem Jaguar, den kleinen Arten von Tigerkatzen , dem Cabiai' [ Cavia capybara , Lin. ; Chi­ guire] , dem Galinazogeier [Vultur aura , Lin.] , dem Krokodil, den Vipern und den Klapperschlangen gemeinsam ist. Die gasartigen Ausdünstungen, die das Vehikel dieses Aromas sind, scheinen sich nur in dem Maß z u entwik­ keIn , als der Boden, der die Überreste einer unzähligen Menge Reptilien , Würmer und Insekten enthält, anfängt mit Wasser geschwängert zu werden . Ich sah indianische Kinder vom Stamm der Chaimas Tausendfüßler oder

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Scolopender von 18 Zoll Länge und 7 Linien Breite aus der Erde hervor­ ziehen und essen. Wo man immer den Boden aufwühlt , ist man über die Masse organischer Substanz erstaunt , die sich der Reihe nach entwickeln , verwandeln oder zersetzen. Die Natur scheint in diesen Klimaten tätiger, fruchtbarer, man möchte sagen , verschwenderischer mit dem Leben zu sein. Auf der Ebene und in der Nähe der Molkereien , von denen wir oben spra­ chen , genießt man, besonders beim Aufgang der Sonne , eine sehr schöne Aussicht auf eine hohe Gruppe von Kalkbergen . Da diese Gruppe in dem Haus, welches wir bewohnten, nur unter einem Winkel von drei Grad er­ scheint , so diente es mir lange Zeit, um die Veränderungen der irdischen Re­ fraktion mit den meteorologischen Phänomenen zu vergleichen . Die Stürme bilden sich im Mittelpunkt dieser Cordillere , und man sieht in der Ferne sich große Wolken in häufigen Regen auflösen , während es sieben bis acht Mo­ nate lang nicht einen Tropfen in Cumana regnet . Der Bergantin, der die höchste Spitze dieser Kette ist , stellt sich sehr malerisch hinter dem Brito und Tataracual dar. Er erhielt seinen Namen von der Form eines sehr tiefen Tales, das sich an seinem nördlichen Abhang befindet und dem Inneren eines Schiffes gleicht . Der Gipfel dieses Berges ist beinahe von Vegetation ent­ blößt und abgeplattet wie der des Moa Loa auf den Sandwich [Hawaii]-In­ sein: Es ist eine oben abgeschnittene Mauer oder, um mich eines bezeich­ nenderen Ausdrucks der spanischen Seefahrer zu bedienen , eine Tafel (mesa) . Diese besondere Physiognomie und die symmetrische Lage einiger Kegel , die den Bergantfn umgeben, ließen mich anfangs glauben , daß diese Gruppe , die ganz von Kalk ist, Felsen der Basalt- oder Trapp-Formation ent­ halte . Der Gouverneur von Cumana hatte im Jahre 1797 mutige Männer ausge­ schickt, um diese völlig öde Gegend zu erforschen und einen geraden Weg nach Neu-Barcelona über den Gipfel der Mesa zu eröffnen . Man nahm mit Recht an , dieser Weg würde kürzer und weniger gefährlich für die Gesund­ heit der Reisenden sein als der, den die Kuriere von Caracas den Küsten ent­ lang nehmen. Aber alle Versuche , die Bergkette des Bergantin zu über­ steigen, waren vergeblich . In diesem Teil Amerikas sowie in Neu-Holland [Australien] , westlich der Stadt Sydney, ist es nicht so sehr die Höhe der Cor­ dilleren als die Gestaltung der Felsen, die schwer zu überwindende Hinder­ nisse entgegensetzt. Das Längstal , das durch die hohen Berge des Inneren und den südlichen Abhang des Cerro de San Antonio gebildet wird , wird vom Fluß Manzanares durchströmt. Dies ist unter allen Umgebungen von Cumana die einzige ganz mit Wald bewachsene Partie; man nennt sie die Ebene des Charas , wegen der vielen Pflanzungen , welche die Einwohner seit einigen Jahren dem Fluß entlang begonnen haben . Ein enger Fußpfad führt vom Hügel des San Fran­ cisco quer durch den Wald, zum Hospiz der Kapuziner, einem sehr ange-

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nehmen Landhaus, das die aragonischen Geistlichen zum Aufenthalt für alle schwachen Missionare gebaut haben, die ihr Amt nicht mehr verrichten können. In dem Maß , wie man ostwärts kommt , werden die Bäume des Waldes kräftiger, und man begegnet einigen Affen [der Gemeine Machi oder Weinende Affe ] , die sonst in der Umgebung Cumamis sehr selten sind. Am Fuß der Capparis , der Bauhinien und des Zygophillum mit goldgelben Blüten verbreitet sich ein Teppich von Bromelien [ Chihuchihue , von der Fa­ milie der Ananas ] , verwandt der Bromelia karatas , die durch ihren Geruch und die Frische ihrer Blätter die Klapperschlangen anlocken. Der Fluß Manzanares hat sehr helles Wasser und gleicht glücklicherweise in nichts dem Manzanares zu Madrid, welchen eine prächtige Brücke noch schmäler erscheinen läßt. Er entspringt wie alle Flüsse Neu-Andalusiens in einem Teil der Savannen ( Llanos ) , der unter dem Namen der Plateaus von Jonoro , Amana und Guanipa bekannt ist und in der Nähe des indianischen Dorfes San Fernando die Wasser des Rio Juanillo aufnimmt . Man hat meh­ rere Male , aber immer vergeblich , der Regierung vorgeschlagen, bei dem er­ sten Ipure [ indianische Hütte von einem Garten umgeben ] ein Wehr bauen zu lassen , um künstliche Bewässerung in der Ebene des Charas zu ermögli­ chen , weil , ungeachtet der scheinbaren Unfruchtbarkeit, die Erde überall außerordentlich produktiv ist, wo sich Feuchtigkeit mit der Hitze des Klimas vereinigt . Die Landleute , die im allgemeinen in Cumami in keiner glückli­ chen Lage sind, müßten nach und nach die auf den B au der Schleuse ver­ wandten Vorschüsse zurückgeben . Bis dieser Vorschlag ausgeführt wird, hat man Räder mit Schöpfeimern und Pumpen , die von Maultieren oder hydrau­ lischen Maschinen sehr unvollkommener Einrichtung bewegt werden , er­ richtet. Die Ufer des Manzanares sind sehr angenehm und werden beschattet von Mimosen , Erythrineen , Ceiba und anderen Bäumen von riesenhafter Ge­ stalt . Ein Fluß , dessen Temperatur zur Zeit seines Hochwassers bis auf 22° abnimmt, wenn die Luft 30 und 33° hat, ist eine unschätzbare Wohltat in einem Lande , wo die Wärme während des ganzen Jahres übermäßig ist und man Lust hat, sich mehrmals des Tags zu baden . Die Kinder bringen einen Teil ihres Lebens im Wasser zu: Alle Einwohner, selbst die Frauen der reich­ sten Familien , können schwimmen ; und in einem Land, wo der Mensch dem Naturzustand noch so nahe ist , gehört es unter die ersten Fragen , die man einander stellt, wenn man sich morgens begegnet , ob das Wasser des Flusses kühler sei als den Abend zuvor. Die Art, wie man das Bad genießt , ist sehr verschieden. Wir besuchten alle Abende eine Gesellschaft sehr schätzbarer Personen in der Vorstadt der Guaikeri . Bei schöner Mondhelle stellte man Stühle ins Wasser: Männer und Frauen waren leicht bekleidet wie in einigen Bädern des nördlichen Europas , und die Familie sowie die Fremden brachten einige Stunden, Zigarren rauchend, im Fluß miteinander zu ,

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indem sie sich nach der Gewohnheit des Landes über die außerordentliche Trockenheit der Jahreszeit , den Überfluß an Regen in den benachbarten Di­ strikten und besonders über den Luxus unterhielten, dessen die Damen von Cumana die von Caracas und Havanna beschuldigten. Die Gesellschaft wurde durch die bavas oder kleinen Krokodile nicht beunruhigt, die gegen­ wärtig sehr selten sind und sich den Menschen nähern , ohne sie anzugreifen. Diese Tiere haben drei bis vier Fuß Länge . Sie begegneten uns nie im Manza­ nares , aber viele Delphine [Toninas] , die bisweilen während der Nacht den Fluß hinaufschwammen und die B adenden durch das Wasser erschreckten, das sie mit ihren Blaslöchern ausspritzten . Der Hafen von Cumana ist eine Reede , die alle Flotten Europas auf­ nehmen könnte . Der ganze Meerbusen von Cariaco , der 35 Meilen Länge und 6 bis 8 Meilen Breite hat , bietet einen vortrefflichen Ankerplatz dar. Der Große Ozean ist nicht ruhiger und friedlicher an den Küsten von Peru als das Meer der Antillen von Portocabello und besonders von Kap Code ra bis an die Spitze von Paria. Die Stürme der Antillen werden in diesen Ge­ genden nicht empfunden , wo man in Schaluppen ohne Verdeck Schiffahrt treibt. Die einzige Gefahr des Hafens von Cumana ist eine Untiefe , die des Roten Bergs [Morro Rojo] , die von Osten nach Westen 900 Toisen Breite hat und wo der Grund sich derart erhebt, daß man anstößt, ohne es gewahr zu werden . Ich habe der Beschreibung der Lage von Cumana einige Ausdehnung ge­ geben , weil mir die Kenntnis eines Orts wichtig schien, der seit Jahrhun­ derten der Brennpunkt der fürchterlichsten Erdbeben war. Ehe ich von diesen außerordentlichen Erscheinungen rede , wird es nützlich sein, die zer­ streuten Züge des Naturgemäldes zusammenzufassen, das ich soeben ent­ worfen habe . Die Stadt, am Fuß eines kahlen Hügels gelegen , wird von einem Schloß beherrscht. Kein Glockenturm, keine Kuppel zieht von ferne den Blick des Reisenden auf sich , wohl aber einige Stämme von Tamarindenbäumen , Cocos und Datteln , die sich über die Häuser erheben , deren Dächer terras­ senförmig gebaut sind. Die umgebenden Ebenen , besonders dem Meer zu , bieten einen traurigen, staubigen und dürren Anblick dar, während eine fri­ sche und kräftige Vegetation von weitem die Buchten des Flusses erkennen läßt, der die Stadt von den Vorstädten , die Bevölkerung europäischer und gemischter Rasse von den kupferfarbenen Eingeborenen trennt . Der Hügel des Forts San Antonio , isoliert, nackt und weiß , wirft gleichzeitig eine große Masse Licht und strahlende Wärme zurück. Er ist von Breccien zusammen­ gesetzt, deren Schichten Seeversteinerungen enthalten . In der Ferne gegen Süden zieht sich eine lange und düstere Bergkette hin. Dies sind die hohen Bergalpen Neu-Andalusiens , mit Sandsteinen und anderen neueren Forma­ tionen überlagert . Majestätische Wälder bedecken diese Cordillere des In-

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neren und hängen durch ein waldiges Tal mit den entblößten , tonigen und salzigen Böden der Umgebung Cumamis zusammen. Einige Vögel von be­ trächtlicher Größe tragen zur besonderen Physiognomie dieser Gegenden bei . An den dem Meer nahen Erdstrichen und im Meerbusen findet man Fischreiher und Alcatras von plumper Gestalt, die wie der Schwan mit den Flügeln rudern . Näher bei den Wohnungen der Menschen sind Tausende von Galinazogeiern, wahre Schakale unter den Vögeln , ohne Unterlaß beschäf­ tigt, die Leichname der Tiere aufzuwühlen . Ein Meerbusen, der warme Quellen unter dem Meer hat , trennt die sekundären Felsen von den pri­ mitiven und schieferartigen der Halbinsel Araya . Beide Küsten werden von einem ruhigen Meer von azurner Farbe bespült, das immer vom gleichen Wind sanft bewegt wird . Ein reiner trockener Himmel, der nur beim Unter­ gang der Sonne einige leichte Wolken zeigt, ruht auf dem Ozean , auf der von Bäumen entblößten Halbinsel und den Ebenen von Cumami, während man zwischen den Spitzen der Berge des Inneren sich Gewitterwolken bilden sieht, die sich anhäufen und in fruchtbaren Regengüssen auflösen. So zeigen an diesen Küsten , wie am Fuß der Anden, der Himmel und die Erde große Kontraste von Heiterkeit und Nebeln , von Trockenheit und Regengüssen , von absoluter Nacktheit und stets sich erneuerndem Grün. Im Neuen Kon­ tinent unterscheiden sich die niederen Seegegenden ebensosehr von den gebirgigen Ländern des Inneren wie die Ebenen Niederägyptens von den hohen Plateaus Abessiniens. Die Ähnlichkeit, welche wir eben zwischen dem Küstenland von Neu-An­ dalusien und dem von Peru angeführt haben, erstreckt sich bis auf die Häu­ figkeit der Erdbeben und die Grenzen , welche die Natur diesen Erschei­ nungen vorgeschrieben zu haben scheint . Wir haben selbst sehr heftige Stöße zu Cumami erlebt; und in dem Augenblick , wo man die kürzlich zer­ trümmerten Häuser wieder aufbaute , waren wir imstande , an Ort und Stelle die näheren Tatsachen zu sammeln , welche die große Katastrophe vom 14 . Dezember 1797 begleiteten. Diese Notizen werden um so mehr Interesse haben, als die Erdbeben bisher weniger aus einem physischen und geologi­ schen Gesichtspunkt als in Beziehung auf die traurigen Wirkungen be­ trachtet wurden, die sie auf die Bevölkerung und das Wohl der Gesellschaft haben. [Über Erdbeben]

Es ist eine an den Küsten von Cumana und auf der Insel Margarita sehr verbreitete Meinung, daß der Golf von Cariaco einem mit einem Einbruch des Ozeans verbundenen Zerreißen der Länder seinen Ursprung verdanke . Das Andenken dieser großen Revolution hatte sich bei den Indianern bis zum Ende des 15 . Jahrhunderts erhalten , und man erzählt, daß um die Zeit

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der dritten Reise des Columbus die Eingeborenen darunter wie von einem sehr neuen Ereignis sprachen. Im Jahr 1530 setzten neue Stöße die Ein­ wohner der Küsten von Paria und Cumami in Schrecken. Das Meer über­ schwemmte die Länder, und das kleine Fort, das J acob Caste1l6n bei Neu-To­ ledo erbaut hatte , stürzte ganz zusammen. Es bildete sich zu gleicher Zeit eine enorme Öffnung in den Bergen von Cariaco , an den Ufern des Meer­ busens dieses Namens, wo eine große Masse Salzwassers , mit Asphalt ver­ mischt, aus Glimmerschiefer hervorquoll. Die Erdbeben waren gegen Ende des 16 . Jahrhunderts sehr häufig ; und nach den zu Cumana erhaltenen Tradi­ tionen überschwemmte das Meer oft die Ebenen und erhob sich bis auf 15 oder 20 Toisen Höhe . Die Einwohner retteten sich auf den Cerro de San An­ tonio und auf den Hügel, wo sich heutzutage das kleine Kloster des heiligen Franziskus befindet . Man glaubt selbst , daß diese häufigen Überschwem­ mungen die Einwohner veranlaßten , das Viertel der Stadt zu bauen , das an den Hügel angelehnt ist und einen Teil seines Abhangs einnimmt. Da es keine Chronik von Cumana gibt und seine Archive wegen der be­ ständigen Zerstörungen der Termiten oder weißen Ameisen kein Dokument enthalten , das älter als 150 Jahre ist , hat man keine genaueren Zeitangaben über die alten Erdbeben. Man weiß nur, daß in den uns nächsten Zeit­ räumen das Jahr 1766 das traurigste für die Kolonisten und das bemerkens­ werteste für die Naturgeschichte des Landes war. Eine Trockenheit , der ähn­ lich , die man von Zeit zu Zeit auf den Kapverden erleidet , hatte seit fünf­ zehn Monaten geherrscht, als am 21. Oktober 1766 die Stadt Cumana völlig zerstört wurde . Das Andenken dieses Tages wird alljährlich durch ein reli­ giöses Fest mit feierlicher Prozession erneuert. Alle Häuser stürzten im Zeit­ raum weniger Minuten zusammen , und die Stöße wiederholten sich wäh­ rend vierzehn Monaten von Stunde zu Stunde . In mehreren Teilen der Pro­ vinz öffnete sich die Erde und spie schwefliges Wasser aus . Diese Ausbrüche waren besonders in einer Ebene sehr häufig, die sich nach Casanay hin , zwei lieues östlich der Stadt Cariaco , erstreckt und die unter dem Namen hohles Terrain , tierra hueca , bekannt ist, weil sie ganz von heißen Quellen untermi­ niert zu sein scheint . Während der Jahre 1766 und 1767 kampierten die Ein­ wohner von Cumana in den Straßen, und sie fingen an , ihre Häuser wieder aufzubauen , als sich die Erdbeben nur noch von Monat zu Monat wieder­ holten . Es ereignete sich damals an diesen Küsten, was man im Königreich Quito unmittelbar nach der großen Katastrophe vom 4. Februar 1797 erfah­ ren hat. Während der Boden beständig zitterte , schien sich die Atmosphäre in Wasser aufzulösen . Starke Regengüsse schwellten die Flüsse an ; das Jahr war ausnehmend fruchtbar, und die Indianer, deren schwache Hütten den stärksten Stößen leicht widerstehen , segneten , nach den Ideen eines alten Aberglaubens , mit Festen und Tänzen die Zerstörung der Welt und die nahe Epoche ihrer Wiedergeburt.

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Der Überlieferung nach waren bei dem Erdbeben von 1766 , wie bei einem anderen sehr merkwürdigen von 1794 , die Stöße einfache horizontale Schwingungen ; am Unglückstag des 14. Dezember 1797 ließ sich die Bewe­ gung in Cumana erstmals als Erhebung von unten nach oben spüren . Mehr als vier Fünftel der Stadt wurden damals völlig zerstört; und der Stoß , von einem heftigen unterirdischen Geräusch begleitet , glich wie in Riobamba der Explosion einer tief angelegten unterirdischen Mine . Glücklicherweise ging dem heftigsten Stoß eine leichte wellenförmige Bewegung voraus , so daß der größte Teil der Einwohner sich auf die Straßen retten konnte und nur eine kleine Zahl derer zugrunde ging, die in den Kirchen versammelt waren. Es ist eine in Cumana allgemein angenommene Meinung , daß die zerstö­ rendsten Erdbeben sich durch schwache Oszillationen und durch ein Sausen ankündigen , das der Aufmerksamkeit derer nicht entgeht , die an diese Art von Erscheinungen gewöhnt sind . In diesem entscheidenden Augenblick er­ tönt das Geschrei "misericordia, tembla, tembla" [Erbarmen , sie erbebt , sie erbebt] überall, und es ist selten , daß von Eingeborenen falscher Alarm ge­ schlagen wird . Die Furchtsamsten beobachten aufmerksam die Bewe­ gungen der Hunde , der Ziegen und der Schweine . Diese letzteren Tiere sind mit einem äußerst feinen Geruch begabt und gewohnt , in der Erde zu wühlen . Sie verkünden die Nähe der Gefahr durch ihre Unruhe und ihr Ge­ grunze . Wir wollen nicht entscheiden, ob sie so nahe an der Oberfläche des Bodens zuerst das unterirdische Geräusch hören oder ob ihre Organe den Eindruck einer gasförmigen Ausdünstung empfangen, die von der Erde aus­ strömt. Man kann die Möglichkeit dieser letzteren Ursache nicht leugnen . Während meines Aufenthalts in Peru beobachtete man im Landesinneren eine Tatsache , die sich auf diese Art von Erscheinungen bezieht und sich schon mehrmals ereignet hatte . Nach heftigen Erdbeben nahmen die Gräser, welche die Savannen von Tucuman bedeckten , schädliche Eigen­ schaften an ; es entstand eine epidemische Krankheit unter den Tieren, und eine große Anzahl von ihnen schien durch die Moffetten [Kohlensäure aus­ dünstungen] , die der Boden ausströmte, kopflos oder erstickt worden zu sein. Zu Cumana spürte man eine halbe Stunde vor der Katastrophe des 14. De­ zember 1797 einen starken Schwefelgeruch in der Nähe des Hügels des Klo­ sters des heiligen Franziskus . An der gleichen S telle war das unterirdische Geräusch, das sich von Südost nach Nordwest fortzupflanzen schien , am stärksten. Zur selben Zeit sah man Flammen an den Ufern des Rio Manza­ nares, beim Hospiz der Kapuziner und im Golf von Cariaco bei Mariguitar erscheinen. Wir werden in der Folge sehen , daß dieses in einem nichtvulkani­ schen Land so fremdartige Phänomen sich ziemlich häufig in den Gebirgen von Alpenkalkstein bei Cumanacoa, im Bordones-Tal, auf der Insel Marga­ rita und mitten in den Savannen oder Llanos von Neu-Andalusien ereignet.

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In diesen Savannen erheben sich Feuergarben zu einer beträchtlichen Höhe ; man beobachtet sie stundenlang an den trockensten Orten , und man versi­ chert, wenn man den Boden , der den Brennstoff liefert, untersuche, nähme man keine Spalten wahr. Dieses Feuer, das an die Wasserstoffquellen oder die Salsen von Modena und an die Irrlichter unserer Sümpfe erinnert , zündet das Gras nicht an, ohne Zweifel weil die Gassäule , die sich entwik­ kelt , mit Stickstoff und Kohlensäure gemischt ist und nicht bis zu ihrer Basis brennt . Das Volk, das sonst hier übrigens weniger abergläubisch als in Spa­ nien ist, bezeichnet diese rötlichen Flammen mit dem bizarren Namen "Seele des Tyrannen Aguirre" , indem es sich einbildet , das Gespenst des L6pez d'Aguirre , von Gewissensbissen verfolgt, irre in diesen selben Ge­ genden umher, die er durch seine Verbrechen besudelt hatte . Das große Erdbeben von 1797 brachte einige Veränderungen in der Kon­ figuration der Niederung des Roten Berges [Morro rojo] zur Mündung des Rio Bordones hin hervor. Analoge Erhebungen sind bei der völligen Zerstö­ rung Cumanas 1766 beobachtet worden . Zu dieser Zeit vergrößerte sich die Punta Delgada an der südlichen Küste des Golfes von Cariaco deutlich ; und im Rio Guarapiche , beim Dorf Maturin, bildete sich eine Klippe , ohne Zweifel durch die Wirkung elastischer Flüssigkeiten , die den Grund des Flusses verschoben und erhoben haben . Wir werden die lokalen Veränderungen, die durch die verschiedenen Erd­ beben in Cumana hervorgebracht wurden, nicht alle im einzelnen be­ schreiben. Um für das Ziel, das wir uns bei diesem Werk gesteckt haben, einen gleichförmigen Gang zu befolgen bemühen wir uns, die Ideen zu verallgemei­ nern und in ein und demselben Rahmen alles das zu vereinigen, was sich auf diese schrecklichen und so schwer zu behandelnden Erscheinungen bezieht [Hervorhebung vom Hrsg . ] . Wenn die Physiker [Naturforscher] , welche die Alpen der Schweiz oder die Küsten Lapplands besuchen , unsere Kenntnisse über die Gletscher und das Nordlicht bereichern müssen , so kann man von einem Reisenden , der das spanische Amerika durchwandert hat , erwarten , daß seine Aufmerksamkeit vorzüglich auf die Vulkane und die Erdbeben ge­ richtet sei . Jeder Teil der Erde bietet Gegenstände für besondere For­ schungen dar, und wenn man nicht hoffen kann, die Ursachen der Naturer­ scheinungen zu erraten, muß man wenigstens versuchen, ihre Gesetze zu ent­ decken und zu entwirren und durch Vergleich zahlreicher Tatsachen das, was beständig und unveränderlich ist, von dem zu trennen, was veränderlich und zufällig ist [Hervorhebung vom Hrsg.] . Die großen Erdbeben , welche die lange Reihe kleiner Stöße unterbre­ chen , scheinen in Cumana nichts Periodisches aufzuweisen. Man sah sie in achtzig, in hundert und bisweilen in weniger als dreißig Jahren Abstand auf­ einanderfolgen, während man an den Küsten von Peru, zum Beispiel in Lima, eine gewisse Regelmäßigkeit in den Epochen völliger Zerstörungen

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der Stadt nicht verkennen kann . Der Glaube der Einwohner an das Dasein dieses Typus hat sogar glücklicherweise auf die öffentliche Ruhe und die Er­ haltung der Industrie Einfluß . Man nimmt allgemein an , daß es eines ziem­ lich langen Zeitraums bedarf, damit dieselben Ursachen mit der gleichen Energie wirken können; aber diese Folgerung ist nur insoweit richtig, als man die Stöße als eine lokale Erscheinung betrachtet und für jeden Punkt des Erdbodens, der großen Zerstörungen unterworfen ist , einen beson­ deren Feuerherd annimmt . Überall , wo sich neue Häuser auf den Ruinen der alten erheben , hört man die , welche ihre Ablehnung, wieder zu bauen, damit begründen, daß der Zerstörung von Lissabon vom 1. November 1755 bald eine zweite , am 31. März 1761, folgte , die nicht weniger verderblich ge­ wesen ist . Es ist eine äußerst alte und in Cumana, Acapulco und Lima sehr verbrei­ tete Meinung, daß eine bemerkbare Beziehung zwischen den Erdbeben und dem Zustand der Atmosphäre stattfinde , der diesen Erscheinungen voran­ gehe . An den Küsten von Andalusien ist man unruhig, wenn bei außeror­ dentlich heißem Wetter und nach langer Trockenheit der Seewind auf einmal zu wehen aufhört und der Himmel, rein und am Zenit wolkenlos, nahe am Horizont in sechs bis acht Grad Höhe einen rötlichen Dunst zeigt. Diese Vor­ boten sind indessen sehr ungewiß ; und wenn man sich zu den Zeiten, wo die Erde am stärksten erschüttert wurde , die meteorologischen Veränderungen ins Gedächtnis ruft , so findet man , daß die heftigen Stöße ebensogut bei feuchtem und trockenem Wetter, bei sehr frischem Wind und bei vollkom­ mener und erstickender Windstille stattgefunden haben . Nach einer großen Anzahl von Erdbeben , von denen ich nördlich und südlich vom Äquator, auf dem Kontinent und in dem Becken der Meere , an den Küsten und in 2500 Toisen Höhe Zeuge gewesen bin , schien es mir, daß im allgemeinen die Oszillationen ziemlich unabhängig von dem vorangehenden Zustand der At­ mosphäre sind . Diese Meinung wird von vielen unterrichteten Personen ge­ teilt , welche die spanischen Kolonien bewohnen und deren Erfahrung sich , wenn nicht über einen größeren Teil der Erdoberfläche , so doch über eine größere Anzahl von Jahren als die meinige erstreckt . Im Gegensatz dazu neigen die Naturforscher in den Teilen Europas , wo die Erdbeben im Ver­ gleich mit Amerika seltener sind, zur Annahme einer innigen Verbindung zwischen den Wellenbewegungen der Erde und irgendeiner Himmelser­ scheinung, die sich zufällig um die gleiche Zeit einstellt . So vermutet man in Italien eine Beziehung zwischen dem Schirokko und den Erdbeben , und in London betrachtete man die Häufigkeit der Sternschnuppen und die Süd­ lichter, die seitdem mehrmals von Herrn Dalton beobachtet wurden, als die Vorläufer der Erdstöße , die von 1748 bis 1756 wahrgenommen wurden. An den Tagen , wo die Erde durch heftige Erstöße erschüttert wird, ist die Regelmäßigkeit der stündlichen Variationen des Barometers unter den

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Tropen nicht gestört . Ich bestätigte diese Beobachtung zu Cumami, zu Lima und zu Riobamba; sie verdient um so mehr die Aufmerksamkeit der Phy­ siker [Naturforscher] , als man behauptet, zu Santo Domingo , in der Stadt Cap Fran\{ais, habe man ein Wasserbarometer unmittelbar vor dem Erd­ beben von 1770 um 2V2 Zoll fallen sehen . Ebenso berichtet man , daß bei der Zerstörung von Oran sich ein Apotheker mit seiner Familie rettete , weil er wenige Minuten vor der Katastrophe zufällig die Höhe des Quecksilbers in seinem Barometer beobachtete und wahrnahm , daß die Quecksilbersäule sich auf eine außergewöhnliche Weise verkürzte . Ich weiß nicht , ob man dieser Aussage Glauben beimessen darf; da es nahezu unmöglich ist , die Ver­ änderungen des Gewichts der Atmosphäre während der Stöße selbst festzu­ stellen, muß man sich begnügen , das Barometer vor und nach dem Eintritt dieser Erscheinungen zu beobachten . In der gemäßigten Zone modifizieren die Nordlichter nicht immer die Deklination der Magnetnadel und die Inten­ sität der magnetischen Kräfte . Vielleicht wirken auch die Erdbeben nicht be­ ständig auf gleiche Art auf die Luft , die uns umgibt . Es scheint kaum einem Zweifel unterworfen zu sein , daß die Erde , fern vom Schlund noch tätiger Vulkane , durch Stöße ein wenig geöffnet und zer­ rissen , von Zeit zu Zeit gasförmige Ausdünstungen in die Atmosphäre ver­ breitet. Zu Cumami erheben sich , wie wir dies oben gezeigt haben , Flam­ men und Dünste , mit Schwefelsäure vermischt, aus dem trockensten Boden . In anderen Teilen der gleichen Provinz speit die Erde Wasser und Petroleum aus . In Riobamba dringt eine schmutzige und brennbare Masse , die man Moya nennt, aus Spalten, die sich wieder schließen , und häuft sich zu hohen Hügeln an . Sieben lieues von Lissabon , bei Colares, sah man während des fürchterlichen Erdbebens vom 1. Nov. 1755 Flammen und eine dichte Rauch­ säule von der Seite der Felsen von Alvidras und, nach einigen Zeugen, vom Schoß des Meeres aufsteigen. Dieser Rauch dauerte mehrere Tage und war um so stärker, j e stärker das unterirdische Geräusch war, das die Stöße be­ gleitete . Elastische Flüssigkeiten , die sich in der Atmosphäre verbreiteten, können örtlich auf das Barometer wirken , zwar nicht durch ihre Masse, die im Ver­ gleich mit der Masse der Atmosphäre sehr gering ist , sondern weil sich im Augenblick großer Explosionen wahrscheinlich eine aufsteigende Strömung bildet , die d en Luftdruck vermindert. Ich bin geneigt zu glauben, daß sich bei den meisten Erdbeben nichts von dem erschütterten Boden erhebt und daß da, wo Entwicklungen von Gas oder von Dünsten stattfinden , sie we­ niger den Stößen vorangehen , als sie sie begleiten oder ihnen folgen. Dieser letzte Umstand erklärt eine Tatsache , die unbezweifelbar scheint ; ich meine den geheimnisvollen Einfluß , den im äquinoktialen Amerika die Erdbeben auf das Klima und auf die Ordnung der Regen- und Trockenzeit haben . Wenn die Erde in der Regel nur im Augenblick der Stöße auf die Luft wirkt,

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so sieht man ein , warum es so selten ist , daß eine merkliche meteorologische Veränderung Vorbote dieser merkwürdigen Revolutionen der Natur wird . Die Theorie, daß bei den Erdbeben zu Cumami elastische Flüssigkeiten sich von der Oberfläche des Bodens zu entwickeln streben , scheint durch die Beobachtung des heftigen Geräusches bestätigt zu werden, das man wäh­ rend der Stöße am Rand der Brunnen in der Ebene Charas wahrnimmt . Bis­ weilen wird Wasser und Sand in eine Höhe von zwanzig Fuß emporgeschleu­ dert . Ähnliche Phänomene entgingen dem Scharfblick der Alten nicht, welche die mit Höhlen, Spalten und unterirdischen Flüssen erfüllten Ge­ genden Griechenlands und Kleinasiens bewohnten. Die Natur ließ in ihrem gleichförmigen Gang überall dieselben Ideen über die Ursachen der Erd­ beben entstehen und über die Mittel, durch welche der Mensch , das Maß seiner Kräfte vergessend, behauptet , die Wirkung der unterirdischen Explo­ sionen zu vermindern . Was ein großer römischer Naturforscher [Plinius d. Ä . ] über den Nutzen der Brunnen und Höhlen gesagt hat, wird in der Neuen Welt von den unwissendsten Einwohnern von Quito wiederholt , wenn sie den Reisenden die Guaicos oder die Spalten des Pichincha zeigen . Das unterirdische Getöse , das während der Erdbeben so häufig ist , steht in den meisten Fällen zur Heftigkeit der Stöße in keinem Verhältnis. In Cu­ mami geht es ihnen beständig voran , während man in Quito und seit kurzem in Caracas und auf den Antillen lange Zeit nach dem Aufhören der Stöße ein dem Entladen einer Batterie ähnliches Geräusch gehört hat. Eine dritte Art von Erscheinungen , die merkwürdigste von allen , ist das Rollen dieser un­ terirdischen Donner, die während mehrerer Monate fortdauern, ohne von der geringsten oszillatorischen Bewegung des Bodens begleitet zu sein . In allen Ländern , die Erdbeben unterworfen sind, betrachtet man den Punkt, wo , wahrscheinlich wegen einer besonderen Lage der Gesteins­ schichten , die Wirkungen am auffallendsten sind, als die Ursache und den Herd der Stöße. So glaubt man in Cumana, daß der Hügel des Schlosses San Antonio und besonders die Erhöhung , worauf das Kloster des heiligen Fran­ ziskus liegt , eine ungeheure Menge von Schwefel und anderen brennbaren Materien einschließen . Man vergißt, daß die Schnelligkeit, mit der sich die Wellenbewegungen auf große Entferungen, selbst durch das Becken des Ozeans fortpflanzen, beweist , daß der Mittelpunkt der Wirkung sehr ent­ fernt von der Oberfläche des Erdkörpers ist. Aus dieser gleichen Ursache sind ohne Zweifel die Erdbeben nicht auf gewisse Gesteinsarten beschränkt, wie einige Physiker [Naturforscher] behaupten , sondern alle sind fähig, die Bewegung fortzupflanzen. Um nicht aus dem Kreis meiner eigenen Beob­ achtung herauszugehen, führe ich die Granite von Lima und Acapulco , die Gneise von Caracas, den Glimmerschiefer der Halbinsel Araya , den Urge­ birgsschiefer von Tepecuacuilco in Mexico , die sekundären Kalksteine der Apenninen , Spaniens und Neu-Andalusiens , endlich die Trapp-Porphyre

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der Provinzen Quito und Popayan an . An diesen verschiedenen Orten wird der Boden häufig durch die heftigsten Stöße erschüttert ; aber bis­ weilen setzen in derselben Gesteinsart die oberen Schichten der Fortpflan­ zung der Bewegung unüberwindliche Hindernisse entgegen. So sah man in den Bergwerken von Sachsen die Arbeiter, von Erschütterungen er­ schreckt , die an der Oberfläche nicht empfunden worden waren, die Gruben verlassen . Wenn in den voneinander entferntesten Gegenden primitive , sekundäre und vulkanische Gebirgsarten gleichmäßig an den konvulsivischen Bewe­ gungen des Erdkörpers teilnehmen , kann man auch nicht bestreiten, daß in einer nicht großen Erstreckung gewisse Klassen von Gesteinsarten sich der Fortpflanzung der Stöße entgegensetzen. In Cumana zum Beispiel ließen sich vor der großen Katastrophe von 1797 die Erdbeben nur längs der südli­ chen und kalkigen Küsten des Golfes von Cariaco bis an die Stadt gleichen Namens bemerken , während die Erde auf der Halbinsel Araya und im Dorf Manicuare an denselben Erschütterungen keinen Anteil hatte . Die Einwoh­ ner dieser nördlichen Küste, die aus Glimmerschiefer besteht , errichteten ihre Hütten auf einem unbeweglichen Grund; ein Golf von 3000 bis 4000 Toisen Breite trennte sie von einer mit Ruinen bedeckten und durch Erd­ beben zerrütteten Ebene . Diese Sicherheit, auf die Erfahrung mehrerer Jahrhunderte gegründet, ist verschwunden: Seit dem 14. Dezember 1797 scheinen sich neue Verbindungen im Inneren der Erde eröffnet zu haben . Heutzutage empfindet man nicht nur auf der Halbinsel Araya die Erschütte­ rungen des Bodens von Cumana; auch das Vorgebirge von Glimmerschiefer ist nun ein besonderer Mittelpunkt von Bewegungen geworden . Schon wird die Erde in dem Dorf Manicuare bisweilen heftig erschüttert, während man an der Küste von Cumana die vollkommenste Ruhe genießt . Der Golf von Cariaco hat inzwischen nur 60 bis 80 Faden Tiefe . Man hat zu beobachten geglaubt, sowohl auf Kontinenten wie auf Inseln , daß die westlichen und südlichen Küsten den Stößen am meisten ausgesetzt sind. Diese Beobachtung reiht sich an die Ideen an , welche die Geologen sich seit langer Zeit über die Lage der hohen Bergketten und die Richtung ihres steilsten Abfalls gebildet haben ; das Dasein der Cordillere von Caracas und die Häufigkeit der Erdbeben an den östlichen und nördlichen Küsten Tierra Firmes, in der Meerenge von Paria, zu Carupano, zu Cariaco und Cumana beweisen die Ungewißheit dieser Meinung. In Neu-Andalusien sowie in Chile und Peru folgen die Stöße dem Küsten­ land und erstrecken sich wenig ins Innere der Länder. Dieser Umstand zeigt , wie wir bald sehen werden, eine innige Beziehung zwischen den Ursachen an, welche die Erdbeben und die vulkanischen Ausbrüche hervorbringen . Wenn der Boden deswegen an den Küsten am heftigsten bewegt würde , weil sie die niedrigsten Teile der Erde sind, warum sollten die Erschütterungen

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nicht ebenso heftig und häufig in den weiten Savannen oder Prärien sein , die sich kaum 8 bis 10 Toisen über die Oberfläche des Ozeans erheben? Die Erdbeben zu Cumam'i stehen mit denen der Kleinen Antillen in Ver­ bindung, und man hat selbst vermutet, daß sie einige Beziehung zu den vul­ kanischen Phänomenen der Cordillere der Anden haben . Am 4. Februar 1797 wurde der Boden der Provinz Quito derart zerstört, daß trotz der sehr schwachen Bevölkerung dieser Gegenden 40 000 Eingeborene das Leben verloren , begraben unter den Ruinen ihrer Häuser, verschlungen von Spalten des Erdreichs und ertrunken in den Seen, die sich im Augenblick bil­ deten. Zur selben Zeit wurden die Einwohner der östlichen Antillen durch Stöße in Schrecken versetzt , die erst nach 8 Monaten aufhörten, als der Vulkan von Guadeloupe Bimsstein, Aschen und stoßweise schwefelige Dämpfe ausspie . Diesem Ausbruch vom 27. September, während dessen man sehr lange sich forterstreckendes unterirdisches Getöse wahrnahm, folgten am 14. Dezember die großen Erdbeben von Cumana. Ein anderer Vulkan der Antillen, der von Sankt Vincent, gab seit kurzem ein neu es Bei­ spiel dieser außerordentlichen Verbindung. Er hatte seit 1718 keine Flammen ausgestoßen , als er es von neuem 1812 tat. Der totale Untergang der Stadt Caracas ging dieser Eruption 34 Tage voran, und heftige Erdstöße wurden zu gleicher Zeit auf den Inseln und an den Küsten der Tierra Firme empfunden. Man hat seit langer Zeit beobachtet, daß die Wirkungen der großen Erd­ beben sich viel weiter erstrecken als die Erscheinungen, welche die bren­ nenden Vulkane darbieten. Wenn man die physischen Revolutionen Italiens studiert, wenn man mit Sorgfalt die Reihe der Ausbrüche des Vesuvs und des Ätnas untersucht, so hat man Mühe , trotz der Nähe dieser Berge , die Spuren einer gleichzeitigen Wirkung zu erkennen . Es ist im Gegenteil nicht zu bezweifeln , daß bei den zwei letzten Zerstörungen von Lissabon das Meer bis in die Neue Welt heftig bewegt wurde , zum Beispiel auf der Insel B arbados, die mehr als 1200 lieues von den Küsten Portugals entfernt ist . Mehrere Fakten führen zu dem Beweis , daß die Ursachen, welche die Erd­ beben hervorbringen , in einer engen Verbindung mit denen stehen, die bei den vulkanischen Ausbrüchen wirken. * Wir erfuhren zu Pasto , daß die *

Die Verbindung dieser Ursachen , welche schon von den Alten erkannt wurde ,

drängte sich von neuem zur Zeit der Entdeckung Amerikas auf (Acosta, p . 121 ) . Diese Entdeckung bot nicht allein der Neugierde der Menschen neue Produkte dar, sie gab auch den Ideen der Menschen über die Physische Geographie , über die Varie­ täten der menschlichen Gattung und über die Wanderungen der Völker neue Ausdeh­ nung. Es ist unmöglich, die ersten Berichte der spanischen Reisenden , besonders den des Jesuiten Acosta zu lesen , ohne j eden Augenblick über diesen glücklichen Einfluß zu erstaunen , welchen der Anblick eines großen Kontinents, das Studium einer wun­ dervollen Natur und die Berührung mit Menschen von verschiedenen Rassen auf die

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schwarze und dicke Rauchsäule , die 1797 seit mehreren Monaten von dem dieser Stadt nahe gelegenen Vulkan aufstieg, in derselben Stunde ver­ schwand, in der 60 lieues südlich die Städte Riobamba , Hambato und Ta­ cunga durch einen heftigen Stoß zerstört wurden. Wenn man im Inneren eines entzündeten Kraters in der Nähe der kleinen Hügel sitzt, die von den Auswürfen von Schlacken und Asche gebildet werden , so empfindet man die Bewegung des Bodens mehrere Sekunden vor jeder partiellen Eruption . Wir beobachteten dieses Phänomen auf dem Vesuv im Jahr 1805 , während der Berg glühende Asche auswarf; wir waren im Jahr 1802 Zeugen davon am Rand des großen Kraters des Pichincha, von dem indessen damals nur Dunstwolken von schwefliger Säure emporstiegen. Alles scheint bei den Erdbeben die Wirkung elastischer Flüssigkeiten an­ zuzeigen , die einen Ausgang suchen, um sich in die Atmosphäre zu ver­ breiten. Oft teilt sich an den Küsten der Südsee diese Wirkung fast in einem Augenblick von Chile bis in den Golf von Guayaquil mit, auf eine Länge von 600 lieues und, was sehr merkwürdig ist , die Stöße scheinen um so heftiger, je entfernter das Land von den tätigen Vulkanen ist . Die Granitberge von Calabrien , die Kalkkette der Apenninen, die Grafschaft Pignerol, die Kü­ sten Portugals und Griechenlands , die von Peru und Tierra Firme geben auf­ fallende Beweise dieser Behauptung . Man möchte sagen, die Erde werde um so heftiger erschüttert, je weniger Luftlöcher die Oberfläche des Bodens hat, die mit den Höhlen des Inneren in Verbindung stehen . In Neapel und in Messina, am Fuß des Cotopaxi und des Tunguragua fürchtet man die Erd­ beben nur so lange , bis die Dämpfe und Flammen aus der Mündung des Vul­ kans hervorgegangen sind. Im Königreich Quito regte selbst die Kata­ strophe von Riobamba, von der wir weiter oben gesprochen haben , bei meh­ reren unterrichteten Personen den Gedanken an , daß dieses unglückliche Land seltener zerrüttet werden würde , wenn das unterirdische Feuer dahin gelangte , die Porphyrkuppel des Chimborazo zu zertrümmern , und wenn dieser kolossale Berg ein brennender Vulkan würde . Zu allen Zeiten haben analoge Tatsachen zu denselben Hypothesen geführt. Die Griechen , die gleich uns die Erschütterungen des Erdbebens der Spannung elastischer Flüssigkeiten zuschrieben, führten zugunsten ihrer Meinung das völlige Auf­ hören der Erdbeben auf der Insel Euböa durch die Öffnung einer Spalte in der LeIantinischen Ebene an . Wir versuchten , am Ende dieses Kapitels die allgemeinen Phänomene zu­ sammenzustellen , welche die Erdbeben unter verschiedenen Klimaten darFortschritte der Aufklärung in Europa hatte . Der Keim einer großen Menge physi­ scher Wahrheiten findet sich in den Werken des 16. Jahrhunderts, und dieser Keim würde Früchte getragen haben , wenn er nicht durch Fanatismus und Aberglauben erstickt worden wäre .

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bieten . Wir haben gezeigt , daß die unterirdischen Meteore ebenso einför­ migen Gesetzen unterworfen sind wie die Mischung der gasförmigen Flüs­ sigkeiten , die unsere Atmosphäre zusammensetzen . Wir haben uns jeder Erörterung über die Natur der chemischen Wirkstoffe enthalten , welche die Ursachen der großen Zerrüttungen �nd, die von Zeit zu Zeit die Oberfläche der Erde erleidet. Es ist hinreichend, hier zu erinnern , daß diese Ursachen in einer unermeßIichen Tiefe liegen und daß man sie in den Gesteinen su­ chen muß , die wir primitiv [zum Urgebirge gehörend] nennen , vielleicht selbst unter der erdigen und oxidierten Rinde der Erde , in den Tiefen , welche die metalloidischen Substanzen des Siliziums , des Kalks , der Soda , des Kalis und der Pottasche enthalten . Man hat neuerdings versucht , die Phänomene der Vulkane und der Erd­ beben als die Wirkungen der Voltaischen Elektrizität zu betrachten , die durch eine besondere Lagerung heterogener Schichten entwickelt werde . Man kann nicht leugnen , daß oft, wenn heftige Stöße im Zeitraum einiger Stunden aufeinanderfolgen , die elektrische Spannung der Luft in dem Augenblick, wo der Boden am heftigsten erschüttert wird, merklich zu­ nimmt; aber um diese Erscheinung zu erklären, hat man nicht nötig, auf eine Hypothese zu rekurrieren , die in direktem Widerspruch mit all diesem steht, was man bis jetzt über die Struktur unseres Planeten und über die Anord­ nungen seiner Erdschichten beobachtet hat .

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Halbinsel Araya - Salzsümpje - Ruinen des Schlosses Santiago

Die ersten Wochen unsres Aufenthaltes in Cumami dienten der Berichti­ gung unserer Instrumente , der Sammlung von Pflanzen in der Umgebung und der Suche nach Spuren , die das Erdbeben vom 14 . Dezember 1797 zu­ rückgelassen hatte . Von der großen Zahl der zugleich auftretenden Objekte beeindruckt , fiel uns die Gewöhnung an einen regelmäßigen Gang der Stu­ dien und Beobachtungen schwer. Wenn alles, was uns umgab , geeignet war, uns ein lebhaftes Interesse einzuflößen , so erregten dagegen unsere physika­ lischen und astronomischen Instrumente die Neugier der Einwohner. Wir wurden durch häufige Besuche abgelenkt ; und um nicht bei Personen Unzu­ friedenheit zu erregen, die so glücklich schienen , die Mondflecken in einem Fernrohr von Dollond , die Absorption zweier Gasarten in einer eudiometri­ sehen Röhre oder die Wirkungen des Galvanismus auf die Bewegungen eines Frosches zu sehen , mußten wir uns wohl entschließen , auf verworrene Fragen zu antworten und ganze Stunden lang dieselben Beobachtungen zu wiederholen .

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Diese Szenen erneuerten sich bei uns während fünf Jahren , sooft wir uns an einem Ort aufhielten , wo man erfuhr, daß wir Mikroskope , Fernrohre und elektrisch-galvanische Apparate besäßen. Sie waren gewöhnlich um so ermüdender, als die Personen , die uns besuchten , verworrene Begriffe über Astronomie und Naturkunde hatten, zwei Wissenschaften, die man in den spanischen Kolonien mit dem bizarren Namen der neuen Philosophie , nueva filosoffa , bezeichnet. Die Halbgelehrten betrachteten uns mit einer Art Ver­ achtung, wenn sie hörten, daß wir nicht das >Spectacle de la Nature< des Abbe Pluche , den > Cours de physique< des Sigaud La Fond oder das >Dic­ tionnaire< des Valmont de Bomare bei uns hatten. Diese drei Werke und der >Traite d'Economie politique< des Baron von Bielfeld sind die bekanntesten und geschätztesten fremden Bücher im spanischen Amerika, von Caracas und Chile bis Guatemala und dem Norden Mexicos. Man erscheint nur in dem Maß gelehrt , als man deren Übersetzungen zitieren kann , und nur in den großen Hafenstädten , in Lima, in Santa Fe de Bogota und in Mexico fangen die Namen von Haller, Cavendish und Lavoisier an , die zu ver­ drängen , deren Ruf vor einem halben Jahrhundert populär geworden ist . Die Neugierde, die sich auf die Phänomene des Himmels und aufverschie­ dene Gegenstände der Naturwissenschaften richtet, nimmt einen sehr ver­ schiedenen Charakter bei Nationen an, die schon von alten Zeiten her zivili­ siert sind , und bei solchen , die nur wenige Geistesfortschritte gemacht haben. Die einen wie die anderen bieten in den ausgezeichnetsten Klassen der Gesellschaft häufig Beispiele von Personen dar, die den Wissenschaften fremd sind; aber in den Kolonien und bei allen jungen Völkern entspringt die Neugierde - weit entfernt, mäßig und vorübergehend zu sein - einer bren­ nenden Begierde , sich zu belehren; sie zeigen sich mit einer Offenheit und Naivität an , wie man sie in Europa nur in den ersten Jugendjahren vorfindet. Ich konnte nicht früher als am 26 . Juli [1799] eine regelmäßige Reihe astro­ nomischer Beobachtungen anfangen , obwohl mir sehr viel daran gelegen war, die durch das Chronometer von Louis Berthoud gegebene Länge zu kennen . Der Zufall wollte , daß es in einem Land, wo der Himmel beständig rein und heiter ist , mehrere Nächte ohne Sterne gab . Alle Tage bildete sich Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian ein Gewitter, und ich hatte viel Mühe , korrespondierende Sonnenhöhen zu erhalten, ob­ gleich ich in verschiedenen Intervallen drei bis vier Gruppen aufnahm. Die chronometrische Länge von Cumana war nur um 4 Sekunden von der ver­ schieden , die ich von den Erscheinungen am Himmel ableitete ; indessen hatte unsere Seefahrt mehr als 40 Tage gedauert, und während der Reise auf den Gipfel des Pics von Teneriffa war die Uhr großen Temperaturverände­ rungen ausgesetzt gewesen . Es ergibt sich aus der Gesamtheit der Beobachtungen , die ich in den Jahren 1799 und 1800 gemacht habe , daß die Breite des Großen Platzes in

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Cumami 10° 27 ' 52" und seine Länge 66° 30' 2" beträgt. Diese Länge gründet sich auf Ü bertragung der Zeit , auf Monddistanzen, auf die Mondfinsternis vom 28. Oktober 1799 und auf zehn Trabantenimmersionen des Jupiters , die mit in Europa angestellten Beobachtungen verglichen wurden. Sie differiert sehr wenig von der, die Herr Fidalgo vor mir, aber ausschließlich chronome­ trisch erhalten hatte . Die ältere Karte des Neuen Kontinents , von Ribeiro , Geographen des Kaisers Karl v. , setzt Cumami in 9° 30' Breite , welches um 58' von der wahren Breite abweicht und um einen halben Grad von der, welche Jefferys in seinem >The North American Pilot< ( 1775) , der im Jahr 1794 herauskam, festsetzt. Während dreier Jahrhunderte setzte man die ganze Küste Tierra Firmes in eine zu südliche Breite , weil in der Nähe der Insel Trinidad die Strömungen nördlich ziehen und sich die Seefahrer nach der Anzeige des Logs südlicher glauben, als sie wirklich sind. Den 17. August [ 1799] beschäftigte ein Halo oder Hof oder leuchtender Ring um den Mond die Aufmerksamkeit der Einwohner lebhaft. Man be­ trachtete ihn als den Vorboten eines starken Erdbebens ; denn nach der Na­ turkunde des Volks stehen alle außerordentlichen Phänomene unmittelbar miteinander in Verbindung. Die gefärbten Kreise um den Mond sind in den Nordländern viel seltener als in der Provence , in Italien und in Spanien . Man sieht sie vorzüglich, und dieses Phänomen ist sehr bemerkenswert , wenn der Himmel rein ist und das heitere Wetter am beständigsten scheint. In der heißen Zone zeigen sich fast alle Nächte schöne prismatische Farben , selbst zur Zeit großer Trockenheit; oft verschwinden sie im Zeitraum weniger Mi­ nuten mehrere Male , ohne Zweifel, weil obere Luftströme den Zustand der leichten Dünste verändern, in welchen das Licht gebrochen wird. Ich beob­ achtete selbst mehrmals, indem ich mich zwischen 15° Breite und dem Äquator befand , keine Höfe um die Venus ; man unterschied Rot , Orange und Violett; aber nie sah ich Farben um den Sirius, den Canopus oder den Achernar. Während der Halo in Cumana sichtbar war, zeigte das Hygrometer eine starke Feuchtigkeit an , indessen schienen die Dünste so vollkommen aufge­ löst oder vielmehr so elastisch und so gleichförmig verbreitet , daß sie die Durchsichtigkeit der Atmosphäre nicht störten. Der Mond ging nach einem Gewitterregen hinter dem Schloß San Antonio auf. Sobald er über dem Ho­ rizont erschien, unterschied man zwei Ringe , einen großen weißlichen von 44° Durchmesser und einen kleinen, der, in allen Farben des Regenbogens glänzend, 1° 53 ' Breite hatte . Der Raum zwischen beiden Höfen war vom tiefsten Himmelblau . Bei 40° Höhe verschwanden sie, ohne daß die meteo­ rologischen Instrumente die mindeste Veränderung in den niederen Ge­ genden der Luft anzeigten. Diese Erscheinung hatte nichts Auffallendes als etwa die große Lebhaftigkeit der Farben, verbunden mit dem Umstand, daß nach Messungen , die mit einem Sextanten von Ramsden gemacht wurden,

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die Mondscheibe sich nicht genau im Mittelpunkt der Höhe befand. Ohne diese Messung hätte man glauben können , die Exzentrizität sei die Wirkung der Projektion der Ringe auf die scheinbare Konkavität des Himmels . Die Figur der Ringe und die Farben , welche die durch den Mond beleuchtete At­ mosphäre der Tropen darbietet, verdienen neue Untersuchungen von seiten der Naturforscher. In Mexico sah ich bei vollkommen heiterem Wetter breite Streifen, die alle Farben des Regenbogens hatten, das Himmelsgewölbe durch­ ziehen und gegen die Mondscheibe hin konvergieren; ein sonderbares Phä­ nomen , welches an das im Jahr 1716 von Herrn Cotes beschriebene erinnert. Wenn die Lage unseres Hauses in Cumami die Beobachtung der Gestirne und der meteorologischen Erscheinungen ausnehmend begünstigte , so ver­ schaffte es uns dagegen bisweilen den Tag über ein niederschmetterndes Schauspiel. Ein Teil des Großen Platzes ist von Arkaden umgeben , über welche eine lange hölzerne Galerie vorgebaut ist, wie man dies in allen heißen Ländern findet. Dieser Platz diente zum Verkauf der Schwarzen, die von den Küsten Afrikas hergebracht werden. Unter allen europäischen Re­ gierungen war Dänemark die erste und lange Zeit die einzige , welche den Sklavenhandel abschaffte , und doch waren die ersten Sklaven , die wir zum Verkauf angeboten sahen , auf einem dänischen Negerschiff gekommen . Nichts hemmt die Spekulationen eines niedrigen Interesses , das mit den Pflichten der Menschlichkeit, der Nationalehre und den Gesetzen des Vater­ lands im Streit ist. Die zum Verkauf ausgestellten Sklaven waren junge Leute von fünfzehn bis zwanzig Jahren . Man verteilte ihnen alle Morgen Cocosöl, um sich den Leib einzureiben und ihrer Haut ein glänzendes Schwarz zu geben . Jeden Augenblick kamen Käufer, die nach dem Zustand der Zähne über das Alter und die Gesundheit der Sklaven urteilten ; sie öffneten ihnen mit Gewalt den Mund, wie man es auf den Pferdemärkten zu tun pflegt . Dieser erniedri­ gende Gebrauch stammt von Afrika her, wie dies die treue Schilderung be­ weist , die Cervantes [welcher in langer Gefangenschaft bei den Mauren war, in einem seiner dramatischen Stücke vom Verkauf der Christensklaven in AI­ gier] entworfen hat . Man seufzt bei dem Gedanken , daß es selbst jetzt noch auf den Antillen europäische Kolonisten gibt, die ihre Sklaven mit einem glühenden Eisen brennen , um sie wiederzuerkennen , wenn sie entfliehen. So behandelt man diejenigen , die "anderen Menschen die Mühe ersparen, zu säen , das Feld zu bearbeiten, und zu ernten, um leben zu können" [La Bruyere , Caracteres , Chap . XI (ed. 1765 , p . 300] . Je lebhafter der Eindruck war, den der Verkauf der Neger in Cumana auf uns machte , desto mehr fühlten wir uns glücklich , uns bei einer Nation und auf einem Kontinent zu befinden, wo die Zahl der Sklaven im ganzen sehr gering ist . Diese Zahl überstieg im Jahr 1800 in den bei den Provinzen Cu­ mana und Barcelona nicht 6000, während man zur selben Zeit die ganze Be-

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völkerung auf 110 000 Einwohner schätzte . Der Handel mit afrikanischen Sklaven , den die spanischen Gesetze niemals begünstigten , ist [1814] gleich null , an Küsten, wo im 16. Jahrhundert der Handel mit amerikanischen Sklaven geradezu schauderhaft aktiv war. Macarapan , einst Amara-capana genannt , Cumami, Araya und besonders Neu-Cadiz, auf der kleinen Insel Cubagua gegründet, konnten damals als Kontore angesehen werden , die zur Erleichterung des Sklavenhandels errichtet wurden. Girolamo Benzoni von Mailand, der im Alter von zweiundzwanzig Jahren nach Tierra Firme ge­ kommen war, nahm an einer Expedition teil, die 1542 an die Küsten von Bor­ dones , von Cariaco und Paria unternommen wurde , um unglückliche Einge­ borene zu rauben . Er erzählt naiv und oft mit einer bei den Schriftstellern dieser Zeit wenig üblichen Empfindsamkeit Beispiele der Grausamkeit , deren Zeuge er war. Er sah , wie die Sklaven nach Neu-Cadiz geschleppt wurden , um sie an Stirne und Armen zu zeichnen , und wie man den Of­ fizieren der Krone das [königliche] Fünftel auszahlte . Von diesem Hafen wurden die Indianer nach der Insel Haiti oder Santo Domingo geschickt , nachdem sie oft ihre Herren gewechselt hatten , nicht durch Verkauf, son­ dern indem die Soldaten um sie würfelten .

[Zur Halbinsel Araya} Unsere erste Exkursion unternahmen wir nach der Halbinsel Araya und nach den früher durch den Sklavenhandel und die Perlenfischerei nur zu be­ rühmten Gegenden. Wir schifften uns auf dem Rio Manzanares ein, nahe bei der indianischen Vorstadt , am 19. August [ 1799] , zwei Stunden nach Mitter­ nacht. Das Hauptziel dieser kleinen Reise war der Besuch der Ruinen des alten Schlosses Araya, die Untersuchung der Salinen und der Geologie der Gebirge , welche die schmale Halbinsel Manicuare bilden. Die Nacht war höchst angenehm kühl; Schwärme leuchtender Insekten [Elater noctilucasJ glänzten in der Luft , auf dem von Sesuvium bedeckten Boden und den Mi­ mosenwäldchen , die den Fluß begrenzen . Man weiß, wie verbreitet die Leuchtwürmer [Lampyris italica, L. noctilucaJ in Italien und dem ganzen südlichen Europa sind; aber die malerische Wirkung, die sie hervorbringen, kann nicht mit den unzähligen zerstreuten und bewegten Lichtern vergli­ chen werden, welche die Nächte der heißen Zone verschönern und auf der Erde , in der weiten Fläche der Savannen , das Schauspiel des gestirnten Him­ melsgewölbes zu wiederholen scheinen . Als wir uns flußabwärts den Pflanzungen oder charas näherten , sahen wir Freudenfeuer, die von den Negern angezündet waren . Ein dünner und wo­ gender Rauch erhob sich zu den Wipfeln der Palmen und gab der Mond­ scheibe eine rötliche Farbe . Es war die Nacht eines Sonntags, und die

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Sklaven tanzten beim rauschenden und einförmigen Ton einer Gitarre . Die Völker Afrikas von schwarzer Farbe haben in ihrem Charakter eine uner­ schöpfliche Quelle von Beweglichkeit und Fröhlichkeit . Nachdem der Sklave die Woche über hart gearbeitet hat, zieht er an den Festtagen die Musik und den Tanz einem verlängerten Schlaf vor. Hüten wir uns , diese Mischung von Sorglosigkeit und Leichtsinn zu tadeln, welche die Ü bel eines von Entbehrungen und Schmerzen erfüllten Lebens versüßt ! Die Barke , in der wir den Meerbusen von Cariaco passierten , war sehr ge­ räumig. Man hatte große Felle des Jaguars oder amerikanischen Tigers aus­ gebreitet , damit wir die Nacht über liegen konnten . Wir hatten uns noch nicht zwei Monate in der heißen Zone aufgehalten, und schon waren unsere Organe so empfindlich für die kleinsten Veränderungen der Temperatur, daß die Kälte uns zu schlafen hinderte . Wir sahen mit Erstaunen, daß das hun­ dertteilige Thermometer auf 21,8° stand . Diese Beobachtung, die denen wohlbekannt ist, die lange Zeit in beiden Indien gelebt haben, verdient die Aufmerksamkeit der Physiologen . Bouguer erzählt , daß bei seiner Ankunft auf dem Gipfel des Mont Pelt�e , auf der Insel Martinique , er und seine Ge­ fährten vor Kälte zitterten, obwohl die Wärme noch 21,5° überstieg. Wenn man die interessante Beschreibung des Kapitäns Bligh liest , der durch eine Meuterei an Bord seines Schiffes >Bounty< gezwungen worden war, in einer offenen Schaluppe 1200 lieues zurückzulegen , so sieht man , daß dieser See­ mann zwischen 10 und 12° südlicher Breite weit mehr von Kälte als von Hunger litt . Während unseres Aufenthalts zu Guayaquil, im Januar 1803 , be­ obachteten wir, daß sich die Eingeborenen zudeckten und sich über die Kälte beklagten , als das Thermometer auf 23 ,8° fiel, während ihnen bei 30,5° die Hitze erstickend schien . Sechs bis sieben Grade waren hinreichend, um die entgegengesetzten Empfindungen der Hitze und Kälte hervorzubringen , weil an diesen Küsten der Südsee die gewöhnliche Temperatur der Atmo­ sphäre 28° beträgt. Die Feuchtigkeit, welche die wärmeleitende Kraft der Luft modifiziert, trägt viel zu diesen Eindrücken bei . Im Hafen von Guaya­ quil , wie überall in den niederen Gegenden der heißen Zone , kühlt sich das Wetter nur durch Gewitterregen ab , und ich habe beobachtet , daß sich das Hygrometer von Deluc auf 50 bis 52° hält , wenn das Thermometer auf 23 ,8° fällt; jenes steht im Gegensatz dazu auf 73° bei einer Temperatur von 30,5°. In Cumam'i hört man bei starken Regengüssen in den Straßen rufen: "Que hielo , estoy emparamado" [Welche Eiskälte ! Ich bin davon erstarrt , als ob ich auf dem Rücken der Berge wäre] , ungeachtet das dem Regen ausgesetzte Thermometer nur auf 21,5° fällt . Es ergibt sich aus allen diesen Beobach­ tungen , daß man sich zwischen den Wendekreisen , in Ebenen, wo die Tem­ peratur der Luft den Tag über fast unveränderlich über 27° ist , jedesmal wäh­ rend der Nacht zuzudecken wünscht, wenn in einer feuchten Luft das Ther­ mometer um 4 oder 5V2° fällt .

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Wir landeten gegen 8 Uhr an der Spitze von Araya, bei der "Neuen Sa­ line" . Ein isoliertes Haus erhebt sich in einer von Vegetation entblößten Ebene bei einer Batterie von drei Kanonen , die seit der Zerstörung des Forts Santiago die einzige Verteidigung dieser Küste ist . Der Aufseher der Saline bringt sein Leben in einer Hängematte zu , von wo aus er den Arbeitern seine Befehle gibt; eine königliche Barke (la lancha del rey) bringt ihm alle Wo­ chen seine Lebensmittel von Cumana. Man ist erstaunt, daß eine Saline , die früher die Eifersucht der Engländer, der Holländer und anderer Seemächte erregt hatte , nicht die Errichtung eines Dorfes oder Hofes veranlaßte . Kaum findet man am Ende der Landspitze von Araya einige Hütten armer indianischer Fischer. Man sieht an diesem Ort zu gleicher Zeit die kleine Insel Cubagua, die hohen Gipfel von Margarita , die Ruinen des Schlosses Santiago , den Cerro de la Vela und die Kalkkette des Bergantfn , die den Horizont gegen Süden begrenzt. Ich nutzte diese Aussicht , um die Winkel zwischen diesen verschie­ denen Punkten zu nehmen , indem ich sie an eine Grundlinie von 400 Toisen , die ich zwischen der Batterie und dem Hügel la Pefia gemessen hatte , an­ legte . Da der Cerro de la Vela, der Bergantin und das Schloß Santiago zu Cu­ mana bei Punta Arenas, das westlich vom Dorf Manicuare liegt , gleich gut gesehen werden , dienten die Aufnahmen dieser selben Objekte , um annä­ hernd die jeweilige Lage mehrerer Punkte zu bestimmen , die auf der minera­ logischen Karte der Halbinsel Araya angegeben sind. Es ergibt sich daraus, daß die Lagune der alten Saline ungefähr in 10° 33' liegt. Der Unterschied in der Länge zwischen Cumana und der "Neuen Saline" beträgt nach Herrn Fidalgo 5 ' 34/1 im Kreisbogen. Ich bestimmte diesen nämlichen Unterschied durch Zeitübertragung; die Stundenwinkel waren 3 bis 4 Sekunden genau ; aber ich setze kein Zutrauen in das chronometrische Resultat , weil es sich nur um eine sehr kleine Anzahl von Sekunden handelt und das Vorrücken der Uhr über die mittlere Zeit von Cumana nicht unmittelbar nach meiner Rückkehr, sondern erst vier Tage später verifiziert werden konnte . Der Überfluß an Kochsalz der Halbinsel Araya war bereits Alonso Nifio bekannt, als er, Columbus , Ojeda und Amerigo Vespucci folgend , diese Ge­ genden 1499 besuchte . Obwohl unter allen Nationen der Erde die Eingebo­ renen von Amerika am wenigsten Salz verzehren , weil sie sich fast allein von Vegetabilien ernähren, so scheint es doch , daß die Guaikeri bereits tonigen und mit Salz durchdrungenen Boden von Punta Arenas untersucht haben. Selbst die Salinen , die man heutzutage "Neue" nennt und an dem Ende von Kap Araya liegen , wurden in den entferntesten Zeiten bearbeitet . Die Spa­ nier, die sich anfangs zu Cubagua und bald nachher an den Küsten von Cu­ mana niedergelassen hatten, benutzen seit dem Anfang des 16 . Jahrhunderts die salzigen Sumpfwasser, die sich in der Form einer Lagune nordwestwärts vom Cerro de la Vela hinziehen . Da um diese Zeit die Halbinsel Araya keine

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seßhaften Einwohner hatte , benutzten die Holländer den natürlichen Reichtum eines Bodens, der ihnen ein gemeinschaftliches Eigentum aller Völker zu sein schien . In unseren Tagen hat jede Kolonie ihre eigenen Sa­ linen , und die Schiffahrt ist so vervollkommnet, daß die Kaufleute von Cadiz mit geringen Kosten spanisches und portugiesisches Salz in die südliche He­ misphäre , in eine Entfernung von 1900 lieues , noch zur Bereitung des Einge­ salzenen in Montevideo und Buenos-Aires versenden können . Diese Vor­ teile waren zur Zeit der Eroberung unbekannt ; die Kolonialindustrie hatte damals so wenige Fortschritte gemacht , daß das Salz von Araya mit großen Kosten nach den Antillen, nach Cartagena und Portobello versandt wurde . Im Jahr 1605 schickte der Hof von Madrid bewaffnete Schiffe nach Punta Araya , mit dem Befehl, sich daselbst bereitzuhalten und mit Gewalt die Hol­ länder zu verjagen . Diese fuhren indessen fort , heimlich Salz zu sammeln , bis man 1622 bei den Salinen ein Fort erbaute , das unter dem Namen Castillo de Santiago oder Real Fuerza de Araya berühmt geworden ist . Die großen Salzsümpfe sind auf den ältesten spanischen Karten bald als eine Bucht, bald als eine Lagune angezeigt . Laet , der seinen > Orbis novus< 1633 schrieb und der vortreffliche Kenntnisse von diesen Küsten hatte , sagt selbst ausdrücklich, daß die Lagune durch eine Landzunge vom Meer ge­ trennt sei , die höher liege , als die Flut steige . 1726 zerstörte ein außerordent­ liches Ereignis die Saline von Araya und machte das Fort unnötig, dessen Er­ bauung über eine Million schwere Piaster gekostet hatte . Man empfand einen heftigen Windstoß , eine in diesen Gegenden sehr seltene Erschei­ nung, wo das Meer gewöhnlich nicht mehr bewegt wird als das Wasser un­ serer großen Ströme . Die Flut drang tief in das Land herein, und durch den Einbruch des Ozeans wurde der Salzsee in eine Bucht von mehreren Meilen Länge verwandelt . Seit dieser Zeit hat man Sammelbecken oder künstliche vasets nördlich der Reihe von Hügeln errichtet , die das Schloß von der nörd­ lichen Küste der Halbinsel trennt. Der Verbrauch des Salzes betrug 1799 und 1800 in den bei den Provinzen Cumana und Barcelona 9000 bis 10 000 fanegas, jede zu 16 arrobas oder vier Zentnern . Dieser Verbrauch ist sehr bedeutend und gibt, wenn man von der ganzen Bevölkerung 50 000 Indianer abzieht , die nur sehr wenig Salz essen, 60 Pfund auf einen Menschen . In Frankreich rechnet man nach Herrn Necker nur 12 bis 14 Pfund; dieser Unterschied muß der Menge von Salz zu­ geschrieben werden, die zum Einsalzen verbraucht wird. Das eingesalzene Ochsenfleisch , tasajo genannt, ist im Handel von Barcelona der wichtigste Gegenstand der Ausfuhr. Von den 9000 bis 10 000 fanegas , welche die zwei vereinigten Provinzen liefern , werden nur 3000 durch die Saline von Araya erzeugt ; das übrige wird aus dem Meerwasser auf dem Morro von Barce­ lona, zu Pozuelos , zu Piritu und im Golfo Triste erzeugt . In Mexico liefert der einzige Salzsee Pefion Blanco jährlich 250 000 fanegas unreines Salz.

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Die Provinz Caracas hat schöne Salinen bei den Klippen los Roques ; die , welche einst auf der kleinen Insel Tortuga war, wo der Boden stark mit Koch­ salz durchdrungen ist , wurde auf Befehl der spanischen Regierung zerstört . Man grub einen Kanal , durch den das Meer einen freien Zutritt zu den Salz­ sümpfen hat . Die fremden Nationen , die Kolonien auf den kleinen Antillen haben , besuchten diese kleine Insel, und der Hof von Madrid fürchtete , nach den Ansichten einer mißtrauischen Politik, die Saline von Tortuga möchte zu einer dauernden Niederlassung führen , welche den unerlaubten Handel mit Tierra Firme begünstigen könnte . Die königliche Regie der Salinen von Araya datiert erst seit dem Jahr 1792. Vor dieser Zeit waren sie in den Händen von indianischen Fischern , die nach ihrem Gutdünken das Salz erzeugten und es verkauften , indem sie der Regierung die mäßige Summe von 300 Piastern bezahlten. Der Preis der fanega war damals 4 real; aber das Salz war äußerst unrein , gräulich , mit er­ digen Teilen vermengt und mit salz- und schwefelsaurer Bittererde über­ laden. Da überdies die Arbeiter das Salz sehr unregelmäßig produzierten , fehlte es oft an Salz zum Einsalzen des Fleisches und der Fische , ein Um­ stand, der in diesen Gegenden sehr mächtig auf die Fortschritte der Indu­ strie einwirkt, da das niedere Volk der Indianer und die Sklaven sich von Fi­ schen und etwas tasajo ernähren . Seit die Provinz Cumami von der Inten­ danz von Caracas abhängt, wird das Salz von der Regie verkauft ; und die fa­ nega , welche die Guaikeri um einen halben Piaster verkauften , kostet jetzt anderthalb Piaster. Diese Erhöhung des Preises wird durch eine größere Reinheit des Salzes und durch die Leichtigkeit , mit welcher sich die Fischer und Kolonisten das ganze Jahr Salz im Überfluß verschaffen können, schwach kompensiert. Die Administration der Salinen von Araya trug dem Fiskus im Jahr 1799 8000 Piaster netto ein . Es ergibt sich aus diesen statistischen Notizen , daß die Fabrikation des Salzes von keinem großen Interesse ist , wenn man sie als einen Zweig der In­ dustrie betrachtet . Sie verdient mehr unsere Aufmerksamkeit wegen der Natur des Bodens , der die Salzseen enthält . Um die geologische Verbindung zwischem dem Salzboden und den Gesteinen älterer Formationen einzu­ sehen , wollen wir einen allgemeinen Überblick über die benachbarten Berge von Cumami , über die der Halbinsel Araya und der Insel Margarita entwerfen . Drei große Ketten streichen parallel von Ost nach West . Die zwei nördli­ chen sind primitiv [d. h . , sie gehören zum Urgebirge] und enthalten die Glimmerschiefer von Macanao , des Tales San Juan von Manicuare und Chu­ paripari: Wir werden sie mit den Namen Cordillere der Insel Margarita und Cordillere von Araya bezeichnen ; die dritte Kette , die südlichste von allen , die Cordillere des Bergantfn und Cocollar hat nur Gestein von sekundärer Formation ; und was sehr merkwürdig , obgleich der geologischen Constitu-

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tion der Alpen westlich vom Sankt Gotthard analog ist: Die Urgebirgskette ist viel weniger hoch als die , welche von sekundären Gebirgsarten gebildet wird . Das Meer hat die zwei nördlichen Cordilleren , die der Insel Margarita und die der Halbinsel Araya , voneinander getrennt ; die kleinen Inseln Coche und Cubagua sind die Überbleibsel dieses untergegangenen Landes . Weiter südlich zieht sich der weite Meerbusen von Cariaco gleich einem durch den Einbruch des Ozeans gebildeten Längental zwischen die zwei Bergketten von Araya und des Cocollar, zwischen die Glimmerschiefer und den Alpenkalkstein hinein . Wir werden bald sehen , daß die Richtung der Schichten, die in der ersten dieser Gebirgsarten sehr regelmäßig ist, mit der allgemeinen Richtung des Meerbusens nicht immer ganz parallel geht. So schneidet in den hohen Alpen Europas das große Längstal der Rhöne die Kalkbänke , in denen es eingetieft wurde , ebenfalls bisweilen unter einem schiefen Winkel. Die bei den parallelen Ketten Arayas und des Cocollar sind östlich der Stadt Cariaco zwischen den Seen Campoma und Putaquao durch eine Art von Querdamm verbunden , der den Namen Cerro de Meapire führt und in entlegenen Zeiten , indem er der Bewegung der Fluten widerstand , das Wasser des Meerbusens von Cariaco verhinderte , sich mit dem des Meerbu­ sens von Paria zu vermischen . So hängt in der Schweiz die Zentralkette , die durch den Col de Ferret, den Simplon , den Sankt Gotthard und den Splügen geht, nördlich und südlich mit zwei Seitenketten durch die Berge Furca und Maloja zusammen. Man ruft sich gern die auffallenden Analogien ins Ge­ dächtnis , die der äußere Bau der Erde in den bei den Kontinenten darbietet . Die Urgebirgskette von Araya endet unerwartet im Meridian des Dorfes Manicuare . Wir werden weiter unten zeigen, daß man die Fortsetzung 35 lieues westlich in den Gneisen der Silla de Caracas und im Granit von Las Trincheras findet; wir beschränken uns hier auf das, was sich direkt auf die Umgebungen Cumanas bezieht. Der westliche Abhang der Halbinsel Araya sowie die Ebene , in deren Mitte sich das Schloß San Antonio erhebt, sind mit sehr rezenten Formationen von Sandstein und mit Gips vermengtem Ton bedeckt . Vielleicht haben diese gleichen Formationen einst die Längentäler ausgefüllt , die der Ozean jetzt einnimmt , und vielleicht haben sie den Ein­ bruch des Wassers begünstigt , indem sie geringeren Widerstand leisteten als die Glimmerschiefer und der Alpenkalkstein . Bei Manicuare liegt eine Breccie oder Sandstein mit kalkigem Bindemittel, den man leicht mit einem wahren Kalkgestein verwechseln kann , unmittelbar auf dem Glimmer­ schiefer; während auf der entgegengesetzten Seite , bei Punta Delgada , dieser Sandstein einen dichten gräulich-blauen Kalkstein bedeckt , der bei­ nahe keine Versteinerungen enthält und von kleinen Adern von kristalli­ siertem Kalkspat durchzogen ist . Dieses letztere Gestein ist dem Kalkstein der hohen Alpen analog [Alpenkalkstein] .

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Die sehr rezente Sandsteinformation der Halbinsel Araya enthält : 1. bei Punta Arenas einen geschichteten Sandstein , zusammengesetzt aus sehr feinen Körnern , die durch ein wenig ausgiebiges Kalkbindemittel ver­ bunden sind ; 2. bei dem Cerro de la Vela einen schieferartigen Sandstein ohne Glimmer und in den schieferartigen Ton übergehend , der die Stein­ kohle begleitet ; 3. an der westlichen Küste , zwischen Punta Gorda und den Ruinen des Schlosses Santiago eine Breccie , die aus einer unzähligen Menge versteinerter Seernuscheln zusammengesetzt ist , die durch ein Kalkbinde­ mittel verbunden und denen Quarzkörner beigemengt sind; 4. bei der Spitze des Barig6n , wo man den Stein ausgräbt, der zu den Bauten in Cumana ver­ wandt wird, weiß-gelbliche Bänke von Muschelkalk , in welchen man hie und da auch zerstreute Quarzkörner wahrnimmt ; 5 . bei Pefias Negras , auf dem Gipfel des Cerro de la Vela, einen dichten grau-bläulichen Kalkstein, von ziemlich feinem Korn , fast ohne Versteinerungen , und den schieferar­ tigen Sandstein bedeckend . So außerordentlich diese Gemenge von Sand­ stein und dichtem Kalkstein scheinen könnten , so kann man nicht zweifeln , daß diese Schichten zu einer einzigen Formation gehören. Die sehr rezenten sekundären Gesteine bieten überall ähnliche Phänomene dar: Die Molasse des Pays de Vaud [Schweiz] enthält einen stinkenden Muschelkalk; und der Kalkstein mit Cerithiumschnecken an den Ufern der Seine ist bisweilen mit Sand gemengt . Die Schichten aus Kalkbreccien, die man am besten untersuchen kann , wenn man längs der felsigen Küste von Punta Gorda auf das Schloß von Araya zugeht , sind aus einer unendlichen Menge Seernuscheln zusammen­ gesetzt , die vier bis sechs Zoll im Durchmesser haben und zum Teil gut er­ halten sind. Man findet darunter keine Ammoniten , aber Ampullerien , Sole­ niten, Terebratuliten . Die meisten dieser Muscheln sind untereinander ge­ mengt , die Austern und Pektiniten sind familienweise gelagert . Alle lösen sich leicht , und ihr Inneres ist mit Cellularien und fossilen Madreporen er­ füllt . Damals, als ich die Sandsteinbänke untersuchte , die am nördlichen Ende von Punta Araya häufig vom Meer bespült werden, glaubte ich, daß die einschaligen Muscheln, die dem Geschlecht Helix ähnlich und mit zwei­ schaligen Seernuscheln gemengt sind, Arten von Flußmuscheln angehörten . Diese Vermischung findet sich wirklich im Kalkstein von sehr rezenter For­ mation, der die Kreide im Bassin von Paris bedeckt , aber um eine solch wich­ tige Tatsache zu verifizieren, müßte man die fossilen Muscheln von Araya vor Augen haben und sie mit der sorgfältigen Genauigkeit untersuchen , die neuerlich die Herren Lamarck , Cuvier und Brongniart in diese Art von Nachforschungen eingebracht haben. Wir haben die Glimmerschiefer von Manicuare und Chuparipari , die For­ mation des Alpenkalksteins von Punta Delgada und des Cocollar und die der Sandsteine , der Kalkbreccien und des sehr neuen dichten Kalksteins er-

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wähnt, die man am westlichen Ende der Punta Araya sowie auf dem Schloß San Antonio zu Cumana beieinander findet . Es bleibt uns noch übrig, von einer vierten Formation zu reden , die wahrscheinlich unter dem kalkigen Sandstein von Araya liegt : Ich meine den salzhaItigen Ton. Dieser Ton , verhärtet, von Petroleum durchdrungen und mit blättrigem und linsenförmigem Gips gemengt , ist dem Salzton analog , der in Europa das Steinsalz von Berchtesgaden und im südlichen Amerika das von Zipa­ quira begleitet. Er ist gewöhnlich rauchgrau , erdig und zerreiblich ; aber er schließt festere Stücke von braun-schwärzlicher Farbe , von schiefrigem und bisweilen muscheligem Bruch ein . Diese Fragmente von sechs bis acht Zoll Länge haben eine eckige Form . Wenn sie sehr klein sind, geben sie diesem Ton ein porphyrartiges Ansehen. Man findet darin, wie wir dies oben gezeigt haben, nester- und adernweise Selenit , seltener fasrigen Gips . Es ist ziem­ lich merkwürdig , daß diese Tonlage ebenso wie die Bänke aus reinem Stein­ salz und der Salzton in Europa fast nie Muscheln enthalten, während die be­ nachbarten Gesteine einen großen Ü berfluß davon haben . Obgleich sich das Kochsalz nicht in sichtbaren Teilen im Ton von Araya vorfindet, kann man doch an seinem Dasein nicht zweifeln . Es zeigt sich in großen Kristallen, wenn man die Masse mit Regenwasser befeuchtet und der Sonne aussetzt. Die Lagune östlich des Schlosses Santiago bietet alle Er­ scheinungen dar, die an den Salzseen Sibiriens beobachtet wurden , die von Lepechin, Gmelin und Pallas beschrieben worden sind. Sie nimmt indessen nur die Regenwasser auf, die durch die Tonschichten sickern und am tiefsten Punkt der Halbinsel zusammenfließen . Solange die Lagune den Spaniern und Holländern als Saline diente , stand sie mit dem Meer in keiner Verbin­ dung; heutzutage hat man diese Verbindung wieder unterbrochen , indem man Faschinen an die Stelle legte , wo das Wasser des Ozeans im Jahr 1726 eingebrochen war. Nach großer Trockenheit zieht man noch jetzt von Zeit zu Zeit aus dem Grund der Lagune Massen von kristallisiertem und sehr reinem Kochsalz von drei bis vier Kubikfuß Größe . Das Salzwasser des Sees , der Hitze der Sonne ausgesetzt , verdunstet an der Oberfläche ; Salzrinden , in einer gesättigten Lösung gebildet , fallen zu Boden ; und durch die Anzie­ hung der Kristalle von einer Natur und Form vergrößern sich die kristalli­ sierten Massen von Tag zu Tag . Man bemerkt allgemein , daß das Wasser überall salzig ist , wo sich stehendes Wasser in dem tonigen Boden gebildet hat . Es ist wahr, daß man , um die neue Saline bei der Batterie von Araya aus­ zubeuten, Meerwasser in die vasets [Behälter] hereinläßt wie in den Salz­ sümpfen im südlichen Frankreich ; aber auf der Insel Margarita , bei Pam­ patar, verfertigt man das Salz bloß mittels Süßwassers , das den Salzton aus­ gelaugt hat . Man muß das Salz , das in dem tonigen Erdreich verbreitet ist , nicht mit dem verwechseln , das der Sand der Ebenen enthält und welches man an den

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Küsten der Normandie gewinnt. Diese Erscheinungen haben in geognosti­ scher Hinsicht beinahe nichts gemein . Ich sah Salzton in gleicher Oberfläche mit dem Ozean an der Punta Araya und in 2000 Toisen Höhe in den Cordil­ leren von Neu-Granada . Wenn e r a n dem ersteren dieser Orte unter einer sehr neuen Muschelbreccie liegt , so bildet er dagegen in Ö sterreich , bei Ischl , eine mächtige Schicht im Alpenkalkstein, der, obgleich neuer als das Dasein organischer Geschöpfe auf der Erde , doch von hohem Alter ist , wie die große Anzahl der über ihn gelagerten Gesteinsarten beweist. Wir wollen nicht bezweifeln, daß das reine oder das mit Salzton gemengte Steinsalz der Absatz eines alten Meeres sein könne ; aber alles zeigt an, daß es sich in einer Ordnung der Dinge gebildet hat , die auf keinerlei Weise der ähnlich ist, in der die jetzigen Meere durch eine langsame Verdunstung einige Teilchen Kochsalz auf den Sand unserer Ebenen absetzen. So wie der Schwefel und die Steinkohlen Bildungsperioden angehören, die voneinander sehr ent­ fernt sind, so findet sich das Steinsalz bald im Übergangsgips , bald im Alpen­ kalkstein, bald in einem Salzton, bedeckt von sehr rezentem Muschelsand­ stein , endlich in einem Gips, der neuer ist als die Kreide . Die neue Saline von Araya enthält fünf Behälter oder vasets , wovon die größten eine regelmäßige Form und 2300 Quadrattoisen Oberfläche haben . Ihre mittlere Tiefe beträgt acht Zoll . Man bedient sich zu gleicher Zeit des Regenwassers , das sich durchsickernd in dem niedrigsten Punkt der Ebene vereinigt , und des Meerwassers , das man durch Kanäle hereinläßt , wenn die Flut durch den Wind getrieben wird . Die Lage dieser Saline ist weniger vor­ teilhaft als die der Lagune . Das Wasser, das sich in diese wirft , kommt über geneigtere Flächen und hat eine größere Fläche des Bodens ausgelaugt . Die Eingeborenen gebrauchen Pumpen , die von Menschenhänden bewegt wer­ den , um das Meerwasser von einem Hauptbehälter in die vasets herüberzu­ schaffen. Es wäre übrigens sehr leicht , den Wind zur Bewegung zu nutzen , da der Seewind immer stark an dieser Küste weht . Man hat nie daran ge­ dacht, weder die ausgelaugte Erde wegzuschaffen , wie man dies von Zeit zu Zeit auf der Insel Margarita zu tun pflegt, noch Brunnen in den Salzton zu graben , um einige an Kochsalz reichere Schichten aufzufinden . Die Salzar­ beiter beklagen sich überhaupt über Mangel an Regen ; und in der neuen Sa­ line ist es schwer zu bestimmen , welche Menge von Salz man einzig dem Meerwasser verdankt. Die Eingeborenen schätzen sie auf ein Sechstel der gesamten Erzeugung. Die Verdunstung ist sehr stark und wird durch die be­ ständige Bewegung der Luft begünstigt ; auch sammelt man das Salz in acht­ zehn bis zwanzig Tagen, nachdem man die Behälter angefüllt hat. Wir fanden [19. August 1799 , drei Uhr nachmittags] die Temperatur des Salzwas­ sers in den vasets 32 ,SO während die Luft im Schatten 27,2° und der Sand an den Küsten, in sechs Zoll Tiefe , 42 ,5° Temperatur hatte . Wir waren erstaunt zu sehen , daß das Thermometer, ins Meer getaucht, nur auf 23 ,1° stieg.

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Diese niedrige Temperatur rührt vielleicht von den Untiefen, welche die Halbinsel Araya und die Insel Margarita umgeben und über deren Bänke die tieferen Wasserschichten sich mit dem Wasser der Oberfläche vermischen . Obgleich das Kochsalz mit weniger Sorgfalt auf der Halbinsel Araya be­ reitet wird als in den Salinen Europas, so ist es doch reiner und enthält we­ niger salz- und schwefelsaure Erden. Wir wissen nicht , ob diese Reinheit dem Teil von Salz zugeschrieben werden muß , der vom Meer herkommt; denn obschon es höchst wahrscheinlich ist , daß die Menge von Salzen , die im Meerwasser aufgelöst ist , unter allen Zonen beinahe gleich groß ist, so ist es doch ungewiß , ob das Verhältnis zwischen dem Kochsalz, dem salz- und schwefelsauren Magnesium und dem schwefel- und kohlensauren Kalk gleichfalls unveränderlich ist . Nachdem wir die Salinen untersucht und unsere geodätischen Opera­ tionen beendet hatten, reisten wir abends ab , um in einigen Meilen Entfer­ nung in einer indianischen Hütte bei den Ruinen des Schlosses Araya zu schlafen. Wir schickten unsere Instrumente und Lebensmittel voran ; denn ermüdet von der außerordentlichen Hitze der Luft und der Reverberation [Rückstrahlung] des Bodens hatten wir in diesen Klimaten keinen Appetit wie am Abend und in der Kühle des Morgens . Indem wir uns südlich wandten , durchzogen wir zuerst die mit Salzton bedeckte und von Pflanzen entblößte Ebene , hierauf zwei Ketten von Sandsteinhügeln , zwischen wel­ chen die Lagune liegt . Die Nacht überfiel uns , während wir einem engen Fußpfad folgten , der auf der einen Seite durch das Meer, auf der anderen durch senkrechte Felsen begrenzt war. Die Flut nahm schnell zu und ver­ engte unseren Weg mit jedem Schritt . Als wir am Fuß des alten Schlosses von Araya angekommen waren , genossen wir die Aussicht einer Landschaft , die etwas Düsteres und Romantisches hat. Indessen hebt weder die Kühle eines dunklen Waldes noch die Größe der Pflanzenformen die Schönheit dieser Ruinen. Einzeln auf einem nackten und dürren Berg, der mit Agaven , mit säulenförmigen Kakteen und stachligen Mimosen gekrönt ist, sind sie we­ niger menschlichen Werken als Felsmassen ähnlich , die bei den ersten Um­ wälzungen der Erde zertrümmert wurden. Wir wollten innehalten , um dieses imposante Schauspiel zu genießen und den Untergang der Venus zu beobachten, deren Scheibe von Zeit zu Zeit zwischen dem alten Gemäuer des Schlosses erschien; aber der Maultier­ treiber, der uns als Führer diente , hatte übermäßigen Durst und drang leb­ haft in uns , umzukehren. Er hatte schon lange bemerkt, daß wir verirrt waren; und da er hoffte , auf uns durch Furcht zu wirken, sprach er beständig von der Gefahr der Tiger und Klapperschlangen . Die giftigen Reptilien sind in der Tat bei dem Schloß von Araya sehr verbreitet, und zwei Jaguare waren kürzlich beim Eingang des Dorfs Manicuare getötet worden. Nach den Fellen zu schließen , die man aufbewahrt hatte , standen sie an Größe den Ti-

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gern Indiens wenig nach . Vergeblich sagten wir unserem Führer, daß diese Tiere die Menschen an Küsten nicht angreifen, wo die Ziegen ihnen einen reichlichen Unterhalt gewähren. Wir mußten nachgeben und umkehren. Nachdem wir drei Viertelstunden auf einer mit der Flut bedeckten Ebene gegangen waren , trafen wir wieder mit dem Neger zusammen , der unsere Lebensmittel getragen hatte ; unruhig , uns nicht ankommen zu sehen, war er uns entgegengegangen. Er führte uns durch ein Wäldchen von Opuntien zu einer von einer indianischen Familie bewohnten Hütte. Wir wurden dort mit der offenen Gastfreundschaft empfangen , die man in diesem Land bei den Menschen aller Schichten trifft. Das Äußere der Hütte , in welcher wir un­ sere Hängematten aufhingen , war sehr reinlich ; wir fanden Fische, Bananen und , was in der heißen Zone den ausgesuchtesten Nahrungsmitteln vorzu­ ziehen ist , vortreffliches Wasser. Des anderen Tags , beim Aufgang der Sonne , sahen wir, daß die Hütte , in welcher wir die Nacht zugebracht hatten, zu einer Gruppe kleiner Woh­ nungen gehörte , die an den Ufern des Salzsees lagen. Dies sind die kleinen Überbleibsel eines beträchtlichen Dorfes, das sich ehemals um das Schloß herum gebildet hatte . Die Ruinen einer Kirche zeigten sich im Sand be­ graben und mit Gesträuch bedeckt. Als im Jahr 1762 das Schloß von Araya völlig zerstört wurde , um die Kosten zu ersparen, welche die Unterhaltung der Besatzung erforderte , wanderten die Indianer und die farbigen Men­ schen , die in der Nachbarschaft wohnten , allmählich aus , um sich in Mani­ cuare , in Cariaco und in der Vorstadt der Guaikeri in Cumana niederzu­ lassen . Eine kleine Anzahl, von Liebe zu dem Boden zurückgehalten , wo sie geboren waren, blieb an diesem unfruchtbaren und wilden Ort . Diese armen Leute leben vom Fischfang, der an den Küsten und den benachbarten Un­ tiefen ausnehmend ergiebig ist . Sie scheinen mit ihrer Lage zufrieden und fanden es sonderbar, daß man sie fragte , warum sie keine Gärten hätten und genießbare Gewächse anpflanzten . "Unsere Gärten" , sagten sie , "sind jen­ seits des Meerbusens ; wenn wir Fische nach Cumana bringen, verschaffen wir uns Bananen , Cocosnüsse und Manioc. " Dieses System der Ö konomie , das der Trägheit schmeichelt, wird zu Manicuare und auf der ganzen Halb­ insel Araya befolgt . Der Hauptreichtum der Einwohner besteht in Ziegen , die von einer sehr großen und schönen Rasse sind . Diese Ziegen irren auf den Feldern herum wie die auf dem Pic von Teneriffa . Sie sind völlig wild ge­ worden , und man bezeichnet sie wie die Maulesel, weil es schwer sein würde , sie an ihrer Physiognomie , an ihrer Farbe und Zeichnung zu er­ kennen. Die wilden Ziegen sind von einem fahlen Braun und variieren nicht in der Farbe wie die Haustiere . Wenn bei einer Jagdpartie ein Kolonist eine Ziege tötet , die er nicht für die seinige hält, so bringt er sie sogleich dem Nachbarn , dem sie gehört. Während zwei Tagen hörten wir überall als von einem Beispiel seltener Niedertracht reden, daß ein Einwohner von Mani-

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cuare eine Ziege verloren hätte , an welcher sich wahrscheinlich eine benach­ barte Familie bei einem Essen gütlich getan habe . Diese Züge , die eine große Reinheit der Sitten beim niederen Volk beweisen, wiederholen sich häufig in Neu-Mexico , in Canada und in den westlich von den Alleghenies gelegenen Ländern . Unter den farbigen Leuten , deren Hütten den Salzsee umgeben , befand sich ein Schuster von kastilianischer Rasse . Er empfing uns mit jenem An­ sehen von Wichtigkeit und Eigenliebe , das in diesen Klimaten fast alle die charakterisiert , die ein besonderes Talent zu besitzen glauben. Er war damit beschäftigt , die Sehne seines Bogens zu spannen und Pfeile zu spitzen , um Vögel zu schießen . Das Handwerk eines Schuster konnte in einem Land nicht einträglich sein , wo die meisten Menschen barfuß gehen ; auch be­ klagte er sich , daß bei der Teuerung des europäischen Pulvers ein Mann von seiner Art gezwungen sei , sich derselben Waffe zu bedienen wie die In­ dianer. Dies war der Gelehrte des Ortes. Er kannte die Bildung des Salzes durch den Einfluß der Sonne und des Vollmonds, die Symptome der Erd­ beben , die Kennzeichen , an denen man Gold- und Silberminen entdeckt , und die Arzneipflanzen , die er, wie alle Kolonisten von Chile bis Califor­ nien , in warme und kalte Pflanzen einteilte . Da er die Tradition des Landes bewahrt hatte , gab er uns merkwürdige Nachrichten über die Perlen von Cubagua, Gegenstände des Luxus , die er mit der größten Verachtung behan­ delte . Um zu zeigen , wie bekannt ihm die heiligen Schriften seien , zitierte er uns den Hiob, der die Weisheit allen Perlen Indiens vorzog. Seine Philoso­ phie war auf den engen Kreis der Bedürfnisse des Lebens beschränkt . Ein recht starker Esel, der eine beträchtliche Ladung Bananen an den Lande­ platz tragen könnte , war der Gegenstand alJer seiner Wünsche . Nach einer langen Rede über die Nichtigkeit menschlicher Größe zog er aus einer ledernen Tasche ziemlich kleine und undurchsichtige Perlen hervor, die er uns anzunehmen nötigte . Er schärfte uns zugleich ein, in un­ serer Schreibtafel zu bemerken, daß ein armer Schuster von Araya, aber ein weißer Mensch und von edler kastilianischer Rasse uns das habe geben können , was auf der anderen Seite des Meeres als eine sehr kostbare Sache gesucht werde . Ich entledige mich etwas spät des Versprechens , das ich diesem braven Manne gab , und freue mich hinzufügen zu können , daß seine Uneigennüt­ zigkeit ihm nicht erlaubte , den geringsten Ersatz anzunehmen . Die Perlen­ küste bietet ohne Zweifel denselben Anblick von Elend dar wie die Gold­ und Diamantenländer Choco und Brasilien ; aber das Elend wird hier nicht von der unmäßigen Begierde nach Gewinn begleitet, welche die minerali­ schen Reichtümer erregen. Die Schwalbenmuschel mit Perlen findet sich in großer Menge in den Un­ tiefen , die sich vom Kap Paria bis an das von la Vela erstrecken . Die Inseln

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Margarita, Cubagua, Coche , Punta Araya und die Mündung des Rio la Hacha waren im 16. Jahrhundert berühmt , wie es der Persische Golf und die Insel Taprobane [Ceylon] bei den Alten waren. Es ist unrichtig , daß die Ein­ geborenen Amerikas , wie mehrere Historiker behauptet haben , den Luxus der Perlen nicht kannten. Die ersten Spanier, die in Tierra Firme landeten , fanden die Wilden mit Halsschnüren und Armbändern geziert ; und bei den zivilisierten Völkern Mexicos und Perus waren Perlen von schöner Form au­ ßerordentlich gesucht . Ich publizierte die Büste einer mexicanischen Prie­ sterin , deren Kopfbedeckung, sonst der calantica der lsis-Köpfe ähnlich , mit Perlen geziert ist . Las Casas und Benzoni haben nicht ohne einige Übertrei­ bung die Grausamkeiten beschrieben , welche man gegen die unglücklichen indianischen Sklaven und Neger ausübte , die man zum Perlenfang ge­ brauchte . Im Anfang der Eroberung lieferte die Insel Co ehe allein monat­ lich für 1500 Mark Perlen . Das Quint [das Königliche Fünftel] , welches die Offiziere des Königs von dem Produkt der Perlen zogen , betrug 15 000 Du­ katen, was nach dem Wert der Metalle in jenen Zeiten und der Größe des Unterschleifs als sehr große Summe betrachtet werden muß . Es scheint , daß bis 1530 der Wert der nach Europa geschickten Perlen in einem gewöhnli­ chen Jahr 800 000 Piaster betrug. Um über die Wichtigkeit dieses Teils des Handels in Sevilla, Toledo , Antwerpen und Genua zu urteilen, muß man sich erinnern, daß um dieselbe Zeit alle Minen Amerikas keine zwei Mil­ lionen Piaster lieferten und daß die Flotte von Ovando von einem unermeß­ lichen Reichtum zu sein schien , weil sie nahezu 2600 Mark Silber mitführte . Die Perlen waren um so gesuchter, als der Luxus Asiens auf zwei einander gerade entgegengesetzten Wegen in Europa eingeführt worden war, über Konstantinopel , wo die Paläologen Kleider trugen, die mit Perlennetzen be­ deckt waren , und über Granada , der Residenz der maurischen Könige , die an ihrem Hof allen Prunk des Orients entfalteten. Die Perlen Ostindiens wurden denen des Okzidents vorgezogen ; aber deren Zahl, die im Handel war, war um nichts weniger beträchtlich in den Zeiten , die der Entdeckung Amerikas folgten. In Italien wie in Spanien wurde die Insel Cubagua Gegen­ stand zahlreicher kaufmännischer Spekulationen. Benzoni erzählt das Abenteuer eines gewissen Ludwig Lampagnano , welchem Karl V. das Vor­ recht erteilt hatte , mit fünf Karavellen an die Küsten Cumamis zu gehen, um dort Perlen zu fischen . Die Kolonisten schickten ihn mit der kecken Antwort zurück : Der Kaiser, zu freigebig mit dem, was ihm nicht gehöre , habe kein Recht , über die Muscheln zu verfügen , die auf dem Grund der Meere lebten . Die Perlenfischerei nahm schnell gegen das Ende des 16. Jahrhunderts ab ; und nach dem Bericht von Laet hatte sie 1633 schon lange aufgehört. Der Gewerbefleiß der Venezianer, die mit einer großen Vollkommenheit die feinen Perlen nachahmten , und der häufige Gebrauch der geschnittenen

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Diamanten machten den Perlenfang von Cubagua weniger einträglich . Zu gleicher Zeit wurden die Muscheln , welche die Perlen liefern , seltener; nicht weil diese Tiere , wie man nach einer Volks tradition glaubt , durch das Getöse der Ruder erschreckt , sich anderswohin begeben hätten, sondern weil man ihre Fortpflanzung gehindert, indem man unklugerweise die Muschel­ schalen zu Tausenden weggenommen hatte . Die Perlenmuschel ist noch von delikaterer Constitution als die meisten anderen kopflosen Mollusken . Auf der Insel Ceylon, wo die Perlenfischeri der Bai von Condeatchy 600 Taucher beschäftigt und ihr jährlicher Ertrag über 500 000 Piaster beträgt, versuchte man vergeblich , das Tier an andere Partien der Küste zu verpflanzen. Die Regierung erlaubt dort den Perlenfang nur während eines Monats , während man zu Cubagua das ganze Jahr hindurch die Perlenbank ausbeutete . Um sich von der Zerstörung dieserTierart durch die Taucher einen Begriff zu ma­ chen , muß man sich erinnern, daß ein Schiff bisweilen in zwei oder drei Wo­ chen 35 000 Muscheln sammelt . Das Tier lebt nur 9 bis 10 Jahre , und erst in seinem vierten Jahr fangen die Perlen an sich zu zeigen. In 10 000 Muscheln findet man oft nicht eine einzige Perle von Wert. Die Tradition berichtet, daß die Perlenfischer auf der Bank von Margarita die Schalen Stück für Stück öff­ neten ; auf der Insel Ceylon häuft man die Tiere auf und läßt sie an der Luft faulen . Und um die Perlen auszusondern , die nicht an der Schale befestigt sind, unterwirft man Haufen des tierischen Bergs dem Schlämmen , wie es die Bergleute mit dem Sand machen , welcher Goldkörner, Zinn oder Dia­ manten enthält . Heutzutage liefert das spanische Amerika keine anderen Perlen in den Handel als die vom Meerbusen von Panama und von der Mündung des Rio de la Hacha. In den Untiefen , welche Cubagua, Coche und die Insel Marga­ rita umgeben , wird der Perlenfang ebenso vernachlässigt wie an den Küsten von Californien. Man glaubt in Cumana, daß die Perlenmuschel nach zwei Jahrhunderten Ruhe sich merklich vermehrt habe ; und man fragt sich , warum die Perlen , welche gegenwärtig in den Muscheln gefunden werden , die sich an die Netze der Fischer anhängen, so klein und von so schwachem Glanz sind, während man bei der Ankunft der Spanier sehr schöne bei den Indianern fand, die sich ohne Zweifel nicht die Mühe gaben, sie durch Tau­ chen zu sammeln . Dieses Problem ist um so schwieriger zu lösen , als wir nicht wissen, ob Erdbeben die Natur des Grunds verändert haben oder ob Veränderungen der unteren Strömungen im Meer entweder auf die Tempe­ ratur des Wassers oder auf die Häufigkeit gewisser Mollusken , von denen sich die Schwalben nähren, Einfluß gehabt haben . Am Morgen des 20. führte uns der Sohn unseres Wirts , ein junger, sehr starker Indianer, über den Barig6n und Caney nach dem Dorf Manicuare . Es waren vier Stunden Weg. Durch die Rückstrahlung des Sandes erhielt sich das Thermometer auf 34,3°. Die zylindrischen Kakteen , welche den

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Weg begrenzen, geben der Landschaft ein Ansehen von Grün , ohne Kühle und Schatten zu verschaffen. Unser Führer, obgleich er noch nicht eine lieue zurückgelegt hatte , setzte sich jeden Augenblick. Er wollte sich in dem Schatten eines schönen Tamarinden-Baums bei Casas de la Vela nieder­ legen, um dort den Eintritt der Nacht abzuwarten . Ich bemerke diesen Cha­ rakterzug, den man jedesmal beobachtet, wenn man mit Indianern reist , und der die unrichtigsten Ideen über die physische Constitution der ver­ schiedenen Menschenrassen entstehen ließ . Der kupferfarbene Eingebo­ rene , mehr gewöhnt an die brennende Hitze des Klimas als der europäische Reisende , beklagt sich mehr, weil er durch kein Interesse gereizt wird . Das Geld ist ohne Reiz für ihn ; und wenn er sich einen Augenblick von der Idee des Gewinns verführen ließ, reut ihn sein Entschluß , sobald er auf dem Weg ist. Der gleiche Indianer, der sich beklagt, wenn man ihn bei einem botani­ schen Spaziergang mit einer Schachtel belastet, die mit Pflanzen angefüllt ist , treibt einen Kahn gegen den reißendsten Strom , indem er 14 oder 15 Stunden fortrudert, weil er zu seiner Familie zurückzukehren wünscht. Um richtig über die Muskelstärke der Völker zu urteilen , muß man sie unter Um­ ständen beobachten, wo ihre Handlungen durch einen gleich energischen Willen bestimmt werden. Wir untersuchten aus der Nähe die Ruinen des Schlosses Santiago , deren Konstruktion wegen ihrer außerordentlichen Festigkeit merkwürdig ist. Die Mauern von gehauenen Steinen haben fünf Fuß Dicke ; es ist gelungen, sie zu zerstören, indem man Minen sprengen ließ; man findet nach Westen noch Massen von 700 bis 800 Quadratfuß, die kaum Risse bekommen haben . Unser Führer zeigte uns eine Zisterne (ei aljibe) , die dreißig Fuß Tiefe hat und die , obgleich ziemlich beschädigt, den Einwohnern der Halbinsel Araya Wasser liefert. Diese Zisterne wurde 1681 von dem Gouverneur Don Juan de Padilla Guardiola beendet, dem nämlich , der in Cumana das kleine Fort Santa Maria baute . Da das Bassin mit einem vollen Bogengewölbe bedeckt ist, bleibt das Wasser sehr frisch und von vortrefflicher B eschaffenheit. Die Conferven [Pflanze der Algenfamilie) , welche zugleich den Kohlenwasser­ stoff zersetzen und den Würmern und kleinen Insekten Schutz geben, ent­ stehen nicht darin . Man hatte jahrhundertelang geglaubt, die Halbinsel Araya leide durchaus an Quellen von Süßwasser Mangel; aber 1797 gelang es den Einwohnern von Manicuare nach vielen vergeblichen Nachfor­ schungen, welche zu entdecken. Indem wir über die kahlen Hügel des Kaps Cirial gingen, empfanden wir einen starken Petroleumgeruch. Der Wind wehte von der Seite , wo sich die Quellen dieser Substanz befinden, welche die ersten Historiker dieser Ge­ genden bereits erwähnt haben. Beim Dorf Manicuare kommt der Glimmer­ schiefer unter dem sekundären Felsen hervor, indem er eine Bergkette von 150 bis 180 Toisen Höhe bildet. Dieses Urgebirge streicht bei Kap Sotto von

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Nordost nach Südwest; seine Schichten fallen 50° gegen Nordwest ein . Der Glimmerschiefer ist silberweiß , blättrig und wellenförmig und enthält viele Granate . Quarzschichten von 3 bis 4 Toisen Mächtigkeit durchziehen den Glimmerschiefer, wie man in mehreren engen Schluchten sehen kann , die durch das Wasser ausgehöhlt wurden. Wir machten mit Mühe ein Stück Cya­ nit von einem milchweißen und rissigen Quarzblock los, der isoliert auf der Ebene lag. Dies ist das einzige Mal, daß wir diese Substanz im südlichen Amerika fanden. Die Töpferarbeiten von Manicuare , berühmt seit undenklicher Zeit, bilden einen Zweig der Industrie, der sich ausschließlich in den Händen der indianischen Frauen befindet . Die Fabrikation geschieht noch nach der zu den Zeiten der Conquista üblichen Methode . Sie beweist zugleich die Ur­ sprünglichkeit der Künste und die Unbiegsamkeit in den Gebräuchen , die alle eingeborenen Völker Amerikas charakterisiert. Drei Jahrhunderte reichten nicht aus, um die Drehscheibe der Töpfer an einer Küste einzu­ führen , die nur 30 bis 40 Tagereisen zur See von Spanien entfernt ist . Die Eingeborenen haben nur verworrene Begriffe über die Existenz dieses In­ struments , und sie würden sich desselben bedienen , wenn man ihnen ein Modell davon gäbe . Die Brüche , aus denen man den Ton bekommt, sind eine halbe lieue östlich von Manicuare. Dieser Ton rührt von der Zersetzung eines Glimmerschiefers her, der durch Eisenoxid rot gefärbt ist . Die In­ dianer ziehen die am meisten Glimmer enthaltenden Partien vor. Sie verfer­ tigen mit viel Geschick Gefäße, die zwei bis drei Fuß Durchmesser haben und deren Krümmung sehr regelmäßig ist. Da sie den Gebrauch der Öfen nicht kennen , legen sie Gesträuch von Desmanthus, Cassia und baumartiger Capparis um die Töpfe und brennen sie in freier Luft. Weiter östlich vom Bruch , der den Ton liefert , findet sich die Schlucht von la Mina . Man versi­ chert, daß bald nach der Eroberung venezianische Goldwäscher Gold aus dem Glimmerschiefer gewonnen haben. Es scheint, daß dieses Metall sich nicht in den Quarzadern findet, sondern in der Felsmasse zerstreut ist wie bisweilen in den Graniten und in den Gneisen. Wir begegneten in Manicuare Creolen , die von einer Jagdpartie von Cub­ agua kamen . Die Hirsche von kleiner Art sind auf diesem unbewohnten Eiland so häufig, daß eine Person drei oder vier an einem Tag schießen kann. Ich weiß nicht, durch welchen Zufall diese Tiere dahin kamen; denn Laet und andere Chronikschreiber dieser Gegenden erwähnen, indem sie von der Gründung von Neu-Cadiz reden, nur den großen Überfluß an Kaninchen. Der Venado von Cubagua gehört zu jenen zahlreichen Arten amerikanischer Hirsche , welche die Zoologen lange Zeit unter dem unbestimmten Namen Cervus mexicanus verwechselt haben. Er scheint mir nicht identisch mit der Biche des Savannes von Cayenne oder dem Guazuti von Paraguay, der eben­ falls herdenweise lebt. Seine Farbe ist auf dem Rücken rotbraun und weiß

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unter dem Bauch; er ist gefleckt wie die Axis. In der Ebene von Cari zeigte man uns als eine in diesen heißen Klimaten sehr seltene Erscheinung eine gänzlich weiße Abart . Es war ein Weibchen von der Größe eines europäi­ schen Rehs und von einer äußerst schönen Gestalt . Die Abart der Albinos findet sich in der Neuen Welt selbst bei den Tigern . Herr Azara sah einen Jaguar, dessen weißes Fell sozusagen nur den Schatten einiger gestreiften Flecken zeigte . Unter allen Produkten der Küsten Arayas wird der Augenstein , piedra de los ojos , als das außerordentlichste , man kann sagen , wundervollste ange­ sehen. Diese kalkartige Substanz ist der Gegenstand aller Unterhaltungen; nach der Naturkunde der Eingeborenen ist es ein Stein und ein Tier zugleich. Man findet ihn im Sand , wo er unbeweglich ist , aber isoliert , auf einer po­ lierten Fläche, z. B . auf einer Platte von Zinn oder Fayence , läuft er, wenn man ihn mit Zitronensaft reizt . Bringt man ihn ins Auge , so dreht sich das vermeintliche Tier um sich selbst herum und treibt jeden anderen Fremd­ körper weg, der zufällig hineingekommen ist. Bei der neuen Saline und im Dorf Manicuare wurden uns die Augensteine zu Hunderten angeboten, und die Eingeborenen wetteifern, uns den Versuch mit der Zitrone zu zeigen . Man wollte uns Sand in die Augen bringen , damit wir die Wirksamkeit des Mittels selbst erfahren könnten. Es ist leicht zu erkennen , daß diese Steine dünne und poröse Deckel sind, welche einen Teil kleiner einschaliger Mu­ scheln ausgemacht haben. Ihr Durchmesser variiert von 1 bis 4 Linien ; von ihren Oberflächen ist die eine eben , die andere gewölbt. Die kalkigen Deckel brausen mit Zitronensaft auf und bewegen sich in dem Maße , wie sich die Kohlensäure entwickelt. Durch eine ähnliche Wirkung bewegen sich oft Brotlaibe , die in den Ofen gelegt sind, auf einer horizontalen Fläche , eine Erscheinung, die in Europa das Volksvorurteil der verzauberten Öfen hervorgerufen hat. Die piedras de los ojos wirken, wenn sie in das Auge ge­ bracht werden , wie kleine Perlen und verschiedene runde Körner, die von den Wilden Amerikas angewandt werden , um den Fluß der Tränen zu beför­ dern. Diese Erklärungen fanden bei den Einwohnern Arayas wenig Beifall. Die Natur scheint dem Menschen um so größer, je geheimnisvoller sie ist, und die Naturkunde des Volks verwirft alles das, was einen einfachen Cha­ rakter besitzt. Wenn man der südlichen Küste östlich von Manicuare folgt, findet man drei nahe beieinanderliegende Landzungen, welche die Namen Punta de Soto , Punta de la Brea und Punta Guaratarito führen. In diesen Gegenden wird der Meeresgrund offensichtlich von Glimmerschiefer gebildet, und aus diesem Gestein entspringt beim Kap von la Brea, aber in 80 Fuß Entfernung von der Küste eine Naphtaquelle , deren Geruch sich in das Innere der Halb­ insel verbreitet. Man mußte bis zum Nabel ins Meer gehen , um dieses inter­ essante Phänomen in der Nähe zu untersuchen . Das Wasser ist mit Zostera

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[marines Genus , dessen Pflanzen zur Füllung von Matratzen dienten] be­ deckt, und inmitten einer sehr ausgedehnten Bank von Pflanzen unter­ scheidet man eine freie runde Stelle von drei Fuß Durchmesser, auf der einige zerstreute Massen von Ulva lactuca schwimmen. Hier treten die Quellen aus . Der Grund des Meerbusens ist mit Sand bedeckt, und das Pe­ troleum , das sich durch seine Durchsichtigkeit und gelbe Farbe dem wahren Naphta nähert , quillt stoßweise , von Luftblasen begleitet hervor. Wenn man den Boden mit den Füßen festtritt, so bemerkt man , daß diese kleinen Quellen ihren Ort ändern. Das Naphta bedeckt die Oberfläche des Meeres auf mehr als 1000 Fuß Entfernung. Wenn man annimmt, daß das Fallen der Schichten regelmäßig sei , so muß sich der Glimmerschiefer wenige Toisen unter dem Sand befinden. Wir haben weiter oben bemerkt , daß der salzführende Ton von Araya fe­ stes und zerreibliches Erdöl enthält. Diese geologische Beziehung zwischen dem salzsauren Natron und Erdpech offenbart sich überall, wo Steinsalz oder Salzquellen vorkommen; aber eine äußerst merkwürdige Tatsache ist das Vorkommen einer Naphtaquelle in einer Urgebirgsformation. * Alle die , welche man bis jetzt kennt , gehören sekundären Gebirgsarten an, und diese Art des Vorkommens schien die Idee zu begünstigen, daß alles mineralische Bitumen aus der Zersetzung von Pflanzen und Tieren oder dem Verbrennen der Steinkohlen seinen Ursprung nehme . Auf der Halbinsel Araya fließt das Naphta aus dem Urgebirgsgestein selbst, und diese Erscheinung erhält neue Bedeutung, wenn man sich erinnert , daß dieses selbe Urgebirge die unterir­ dischen Feuer einschließt, daß man am Rand brennender Krater von Zeit zu Zeit den Geruch nach Erdöl empfindet und daß die meisten heißen Quellen Amerikas aus Gneis und Glimmerschiefer hervorkommen. Nachdem wir die Umgebungen von Manicuare untersucht hatten, schifften wir uns in der Nacht auf einem Fischerboot ein, um nach Cumami zurückzukehren . Nichts beweist mehr, wie ruhig das Meer in diesen Ge­ genden ist, als die außerordentliche Kleinheit und der schlechte Zustand dieser Kähne, die ein sehr hohes Segel führen. Das Boot, das wir als das am wenigsten schadhafte wählten, war so leck, daß der Sohn des Steuermannes beständig beschäftigt war, das Wasser mit einer tutuma oder der Frucht der Crescentia cujete auszuschöpfen . Es geschieht häufig im Meerbusen von Ca­ riaco und besonders nördlich der Halbinsel Araya, daß die mit Kokosnüssen beladenen Pirogen umschlagen, indem sie gerade den Wellen entgegen zu *

Aufgrund einer Anfrage Dr. J. F. Kenneys

(Joint

Institute of Earth Physics,

Moskau ) bei der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ( Generalsekretär Dr. Manfred Osten, Bonn ) konnte der Herausgeber hauptsächlich diese oben folgende Passage

und weitere Stellen als Beweis für Humboldts Entdeckung des abiotischen und abys­ sischen Ursprungs des Erdöls anführen. Anmerkung des Hrsg.

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nahe am Wind steuern . Diese Ereignisse werden nur von Reisenden, die im Schwimmen wenig bewandert sind, gefürchtet ; denn wenn die Piroge von einem indianischen Fischer geführt wird, der seinen Sohn zur Begleitung hat, wendet der Vater das Boot wieder um und fängt an, das Wasser heraus­ zuschaffen , während der Sohn ringsherum schwimmend die Kokosnüsse sammelt . In weniger als einer Viertelstunde ist die Pirge wieder unter Segel, ohne daß der Indianer in seinem nicht zu störenden Gleichmut eine Klage ausgestoßen hat. Die Einwohner von Araya, die wir bei unserer Rückkehr vom Orinoco noch einmal besucht haben, haben nicht vergessen , daß ihre Halbinsel einer von den Punkten ist, der von den Kastilianern am frühesten bevölkert wurde . Sie sprechen gerne vom Perlenfang, von den Ruinen des Schlosses Santiago, mit dessen einstigem Wiederaufbau sie sich schmeicheln, und von allem, was sie den alten Glanz dieser Gegenden nennen. In China und Japan betrachtet man Erfindungen als neu , die man nicht schon seit zweitausend Jahren kennt; in den spanischen Kolonien scheint eine Begebenheit ausneh­ mend alt, wenn sie auf drei Jahrhunderte, die Zeit der Entdeckung Ame­ rikas , zurückgeht. [Vom Geist der spanischen Kolonien]

Dieser Mangel an Erinnerungen , der die neuen Völker sowohl in den Ver­ einigten Staaten wie in den spanischen und portugiesischen Besitzungen charakterisiert, ist der Aufmerksamkeit wohl wert. Er hat nicht nur etwas ge­ wisses Unangenehmes für den Reisenden , der sich der schönen Genüsse der Einbildung beraubt sieht; er wirkt auch auf die mehr oder weniger mäch­ tigen Bande ein, welche den Kolonisten an den Boden , den er bewohnt, an die Form der Felsen, die seine Hütte umgeben, an die Bäume , die seine Wiege beschattet haben , fesseln. Bei den Alten, zum Beispiel den Phöniziern und den Griechen, gingen die Traditionen und die Nationalerinnerungen von der Hauptstadt in die Kolo­ nien über, wo sie , von Generation zu Generation sich fortpflanzend, nicht aufhörten , günstig auf die Meinungen , die Sitten und die Politik der Koloni­ sten einzuwirken. Die Klimate der ersten, jenseits des Meeres gelegenen Be­ sitzungen waren wenig von dem des Mutterlands verschieden; die Griechen Kleinasiens und Siziliens wurden den Bewohnern von Argos, von Athen und Korinth, von denen sie sich abzustammen rühmten , nicht fremd. Eine große Ähnlichkeit der Sitten trug dazu bei, die Verbindung zu befestigen , die sich auf religiöse und politische Interessen gründete. Oft brachten die Kolonien die Erstlinge der Ernten den Tempeln der Hauptstädte dar; und als durch ein unglückliches Ereignis das heilige Feuer auf den Altären der Hestia erlo­ schen war, sandte man es aus der Tiefe Ioniens , um es in den Prytaneen Grie-

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chenlands zu haben. Überall, in der Cyrenaica wie an den Ufern der Mäotis [Asowsches Meer] , erhielten sich die alten Traditionen des Mutterlandes. Andere gleicherweise eigentümliche Erinnerungen belebten die Einbil­ dungskraft und hafteten an den Kolonien selbst an . Sie hatten ihre heiligen Haine, ihre Schutzgottheiten , ihre lokale Mythologie und, was den Dich­ tungen der ersten Zeitalter Leben und Dauer gibt , Dichter, deren Ruhm ihren Glanz bis zur Hauptstadt verbreitete . Diese Vorteile und noch viele andere fehlen den modernen Kolonien . Die meisten wurden in einer Zone gegründet, wo das Klima, die Produkte , der Anblick des Himmels und der Landschaft völlig von Europa verschieden ist . Der Kolonist mag wohl den Bergen, den Flüssen , den Tälern Namen geben , welche an die Gegenden des Mutterlandes erinnern; diese Namen verlieren bald ihren Reiz und sprechen nicht mehr zu den folgenden Generationen. Unter dem Einfluß einer exotischen Natur entspringen Gewohnheiten, die zu neuen Bedürfnissen passen ; die Nationalerinnerungen löschen allmäh­ lich aus, und die , welche sich erhalten, heften sich , Phantomen der Einbil­ dungskraft ähnlich , weder an eine bestimmte Zeit noch an einen bestimmten Ort. Der Ruhm des Don Pelayo und des Cid Campeador drang bis in die Berge und Wälder Amerikas; das Volk nennt bisweilen diese berühmten Namen , aber sie erscheinen vor seinem Geist wie eine ideale Welt, wie das Ungewisse aus fabelhaften Zeiten. Dieser neue Himmel, dieser Kontrast der Klimate , diese physische Be­ schaffenheit des Landes wirken weit mehr auf den Zustand der Gesellschaft in den Kolonien als die absolute Entfernung von der Hauptstadt. So groß ist die Vollkommenheit der heutigen Seefahrt, daß die Mündungen des Ori­ noco und des Rio de la Plata Spanien näher zu sein scheinen, als ehemals der Phasis [Rion] und Tartessos den Küsten Griechenlands und Phöniziens waren. Auch bemerken wir, daß sich in gleich entfernten Ländern die Sitten und Traditionen Europas in der gemäßigten Zone und auf dem Rücken der Äquatorialberge länger erhalten haben als in den Ebenen der heißen Zone. Die Ähnlichkeit der Lage trägt bis zu einem gewissen Grad dazu bei, inni­ gere Beziehungen zwischen der Hauptstadt und den Kolonien zu erhalten. Dieser Einfluß der physischen Ursache auf den Zustand entstehender Ge­ sellschaften offenbart sich besonders , wenn zwei Abteilungen eines Volks derselben Rasse sich noch nicht lange voneinander getrennt haben. Wenn man die Neue Welt durchwandert, glaubt man überall mehrere Traditionen und frischere Erinnerungen des Mutterlandes zu finden , wo das Klima die Kultur des Getreides gestattet. In dieser Beziehung gleichen Pennsylvanien, Neu-Mexico und Chile den hohen Plateaus von Quito und Neu-Spanien, die mit Eichen und Tannen bedeckt sind . Bei den Alten waren Geschichte , religiöse Meinungen und physischer Zu­ stand eines Landes unauflöslich verknüpft. Um den Anblick der Gegenden

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und die alten Entwicklungen der Hauptstadt zu vergessen, hätte der Kolo­ nist auf den von seinen Voreltern ererbten Kultus Verzicht leisten müssen . Bei den modernen Völkern hat sozusagen die Religion keine lokale Färbung mehr. Das Christentum, indem es den Ideen mehr Ausdehnung gab, indem es alle Völker erinnerte , daß sie Teile einer einzigen Familie seien, schwächte das Nationalgefühl; es verbreitete in beiden Welten die alten Traditionen des Orients und andere , die ihm eigentümlich sind. Nationen , die nach Ur­ sprung und Sprache verschieden sind, bekommen dadurch gemeinschaft­ liche Erinnerungen, und die Errichtung von Missionen gab , nachdem sie den Grund der Zivilisation in einem großen Teil des Neuen Kontinents ge­ legt hatte , den kosmogonischen und religiösen Ideen einen bedeutenden Vorrang vor den rein nationalen Erinnerungen . Noch mehr: Die Kolonien Amerikas sind fast alle in Gegenden gegründet, wo die erloschenen Generationen kaum Spuren ihres Daseins hinterlassen haben. Nördlich vom Rio Gila, von den Ufern des Missouri , in den Ebenen , die sich ostwärts von den Anden erstrecken, übersteigen die Traditionen nicht über ein Jahrhundert . In Peru , in Guatemala , in Mexico bezeugen zwar Ruinen von Häusern , historische Gemälde und Monumente der Bild­ hauerkunst die alte Zivilisation der Eingeborenen; aber in einer ganzen Pro­ vinz findet man kaum einige Familien , die genaue Notizen über die Ge­ schichte der Inkas und der mexicanischen Fürsten haben . Der Eingeborene hat seine Sprache , seine Tracht und seinen Nationalcharakter erhalten , aber der Mangel an Quippus und symbolischen Gemälden, die Einführung des Christentums und Umstände , die ich anderwärts entwickelt habe , ließen all­ mählich die historischen und religiösen Traditionen verschwinden . Auf der anderen Seite verachtet der Kolonist von europäischer Rasse alles, was sich auf die besiegten Völker bezieht . Zwischen den Erinnerungen der Haupt­ stadt und denen seines Geburtslandes stehend , betrachtet er die einen wie die anderen mit derselben Gleichgültigkeit ; in einem Klima, wo das Gleich­ maß der Jahreszeiten den Ablauf der Jahre beinahe unmerklich werden läßt , überläßt er sich bloß den Genüssen der Gegenwart und wendet seine Blicke selten in verflossene Zeiten . Welcher Unterschied auch zwischen der monotonen Geschichte der mo­ dernen Kolonien und dem mannigfaltigen Gemälde , das die Gesetzgebung, die Sitten und die politischen Revolutionen der alten Kolonien darbieten ! Ihre geistige Kultur, durch die verschiedenen Formen ihrer Regierungen modifiziert, erregte oft den Neid der Hauptstädte . Durch diese glückliche Eifersucht erreichten die Künste und Wissenschaften den höchsten Grad von Glanz in Ionien , Groß-Griechenland und Sizilien . In unseren Tagen haben die Kolonien im Gegensatz dazu weder nationale Geschichte noch Li­ teratur. Die der Neuen Welt haben beinahe nie mächtige Nachbarn gehabt, und der Zustand der Gesellschaft hat dort nur unmerkliche Veränderungen

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erfahren. Ohne politische Existenz , haben diese Niederlassungen des Han­ dels und des Ackerbaus nur passiv an den großen Weltbewegungen teilge­ nommen. Die Geschichte der modernen Kolonien bietet nur zwei merkwürdige Er­ eignisse dar: ihre Gründung und ihre Trennung vom Mutterland . Das erste dieser Ereignisse ist reich an Erinnerungen, die wesentlich den durch die Ko­ lonisten besetzten Ländern angehören; aber, weit davon entfernt, die ru­ higen Fortschritte der Industrie oder die Vervollkommnung der kolonialen Gesetzgebung ins Gedächtnis zurückzurufen, bietet solches nur Hand­ lungen der Ungerechtigkeit und der Gewalttätigkeit dar. Welchen Reiz können jene außerordentlichen Zeiten haben , wo , unter der Regierung Karls v. , die Kastilianer mehr Mut als Tugenden entwickelten und wo die rit­ terliche Ehre sowie der Ruhm der Waffen durch den Fanatismus und den Durst nach Reichtum befleckt wurden? Die Kolonisten, sanft von Charakter und durch ihre Lage frei von Nationalvorurteilen, schätzen die Heldentaten der Eroberung nach ihrem wahren Wert. Die Menschen, die in jener Zeit ge­ glänzt haben, sind Europäer; es sind die Soldaten der Hauptstadt. Sie er­ scheinen den Einwohnern der Kolonien fremd; denn drei Jahrhunderte waren hinreichend, die Bande des Bluts aufzulösen . Unter den canquista­ dares fanden sich ohne Zweifel rechtschaffene und edelmütige Männer, aber vermengt mit der Masse konnten sie der allgemeinen Ächtung nicht entgehen . Ich glaube die hauptsächlichen Ursachen aufgezeigt zu haben, die in den modernen Kolonien die Nationalerinnerungen verschwinden ließen , ohne sie würdig durch andere zu ersetzen, die auf das neu bewohnte Land Bezug haben. Dieser Umstand, wir können es nicht genug wiederholen, hatte einen großen Einfluß auf die Lage der Kolonisten. In den stürmischen Zeiten einer politischen Wiedergeburt finden sie sich isoliert , ähnlich einem Volk , das auf das Studium seiner Annalen verzichtet und aufhört, Lehren der Weisheit aus dem Unglück früherer Jahrhunderte zu schöpfen.

Reise in die

Aequinoctial-Gegenden des

neuen Continents in den Jahren 1799 , 1800, 1801, 1802 , 1803 und 1804. [Relation Historique] Verfaßt von

Alexander von Humboldt und

A. Bonplandt [Bonpland]. * [ Ü bersetzt aus dem Französischen von Paulus Usteri u . a . ]

Zweyter Theil.

Stuttgart und Tübingen , i n der J . G . Cotta'schen Buchhandlung . 1818 .

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Alleiniger Autor war A. v. Humboldt

Reise in die

Äquinoktial-Gegenden des

Neuen Kontinents

Drittes Buch Kapitel VI

Berge von Neu-Andalusien - Tal von Cumanacoa - Gipfel des Cocollar ­ Missionen der Chaimas-Indianer

Unserem ersten Besuch der Halbinsel Araya folgte bald ein zweiter län­ gerer und instruktiverer ins innere Gebirgsland und zu den Missionen der Chaimas-Indianer. Gegenstände mannigfaltiger Art zogen hier unsere Auf­ merksamkeit an . Wir betraten eine von Wäldern bedeckte Landschaft; wir wanderten zu einem von Palmen und baumartigen Farnkräutern beschat­ teten Kloster, das in einem engen Talgrund im Mittelpunkt der heißen Zone ein kühles und höchst angenehmes Klima genießt. Die Berge der Umgegend enthalten Höhlen, welche Tausenden von Nachtvögeln zum Aufenthalt dienen; und, was die Phantasie mächtiger ergreift als alle diese Wunder der physischen Welt, jenseits dieser Berge findet sich ein Volk, das vor kurzem noch nomadisch war und kaum den Naturzustand verlassen hat, das wild ist , ohne barbarisch zu sein, und das mehr aus Unwissenheit als aus langem Stumpfsinn stupide scheint. Dieser so starken Anteilnahme gesellten sich unwillkürlich geschichtliche Erinnerungen zu. Auf dem Kap von Paria hatte Columbus [1498] zuerst den festländischen Boden erkannt; hier laufen die Täler aus, welche abwechselnd durch kriegerische und kannibalische Cari­ benvölker und durch handeltreibende und kultivierte Europäer verwüstet wurden. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts erlitten die unglücklichen In-

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dianer, welche die Küstenländer von Canipano , Macarapan und Caracas be­ wohnen , die gleiche Behandlung, die in unseren Zeiten den Bewohnern der Küste von Guinea zuteil wurde . Man kultivierte den Boden der Antillen , die Gewächse der Alten Welt wurden dahin verpflanzt , aber Tierra Firme blieb ein reguläres Kolonisationssystem lange fremd . Wenn die Spanier das Kü­ stenland besuchten , so geschah es nur, um sich gewaltsam oder tauschweise Sklaven, Perlen, Goldkörner und Farbhölzer zu verschaffen. Durch schein­ baren Religionseifer glaubte man die Beweggründe des unersättlichen Geizes veredeln zu können ; denn es hat jedes Jahrhundert seine Schatten und seinen eigentümlichen Charakter. Der Sklavenhandel der kupferfarbigen Eingeborenen wurde mit ebenso unmenschlicher Härte betrieben wie jener der afrikanischen Neger; auch führten beide zu gleichen Folgen : Sieger und Besiegte verwilderten . Die Kriege unter den Eingeborenen wurden von dieser Zeit an häufiger; die Kriegsgefangenen schleppte man aus dem Binnenland nach den Küsten, um sie den Weißen zu verkaufen , die sie auf ihren Schiffen in Ketten legten . Des­ senungeachtet waren die Spanier damals und eine geraume Zeit nachher eines der kultiviertesten Völker Europas . Der helle Glanz, womit Wissen­ schaften und Künste Italien erhellten , hatte auf alle Völker zurückgestrahlt, deren Sprachen mit der Dantes und Petrarcas aus gemeinsamer Quelle ent­ sprangen . Man hätte im Gefolge dieser Geistesentwicklung und dieses Auf­ schwungs der Phantasie eine allgemeine Sittenmilderung erwarten sollen. Allein es haben jenseits der Meere überall, wo der Durst nach Reichtümern den Mißbrauch der Gewalt herbeiführte , die europäischen Völker, in jeder Epoche der Geschichte , einen gleichartigen Charakter offenbart. Das schöne Jahrhundert Leos X . zeichnete sich in der Neuen Welt durch Grausamkeiten aus, die den Zeiten der höchsten B arbarei anzugehören scheinen . Man wundert sich inzwischen weniger über das furchtbare Ge­ mälde der Eroberung von Amerika, wenn man sich an das erinnert , was, der Wohltaten einer menschlichen Gesetzgebung zum Trotz, noch gegenwärtig auf dem westlichen Küstenland Afrikas vorgeht. Der Sklavenhandel hatte dank den von Karl V. angenommenen Grund­ sätzen seit langer Zeit in Tierra Firme sein Ende erreicht; aber die conquista­ dores setzten ihre Einfälle fort und verlängerten dieses System des kleinen Krieges, wodurch die amerikanische Bevölkerung vermindert, der Natio­ nalhaß verewigt und der Keim der Zivilisierung für lange Zeit erstickt wurde . Endlich ertönten aus dem Mund von Missionaren , die der weltliche Arm schützte , Worte des Friedens. Es ziemte der Religion , die Menschheit für einen Teil der ihr in ihrem Namen angetanen Unbill zu trösten; sie hat die Rechte der Eingeborenen vor dem Thron der Könige verteidigt und den Ge­ walttaten der Machthaber Widerstand geleistet; sie hat herumirrende Volks­ stämme in den kleinen Gemeinden versammelt , die Missionen heißen und

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deren Dasein die Fortschritte des Landbaus befördert. Auf diese Weise bil­ deten sich allmählich , aber nach übereinstimmendem und überlegtem Plan, die ausgedehnten mönchischen Anstalten, jene sonderbare Einrichtung, die sich unausgesetzt zu vereinzeln strebt und wodurch Länder, welche vier­ und fünfmal so groß wie Frankreich sind, unter die Botmäßigkeit religiöser Orden gestellt werden . Einrichtungen, die sich ungemein nützlich erzeigten , indem sie dem Blut­ vergießen Einhalt geboten und die ersten Grundlagen der Staatsgesell­ schaften darboten, sind späterhin ihren Fortschritten hinderlich geworden. Die Vereinzelung hatte zur Folge , daß die Indianer ungefähr im selben Zu­ stand geblieben sind , worin sie sich befanden , als ihre zerstreuten Woh­ nungen noch nicht um das Haus eines Missionars herumstanden. Ihre Zahl hat sich beträchtlich vermehrt, aber ihr Ideenkreis keineswegs . Sie haben nach und nach die Charakterstärke und die natürliche Munterkeit einge­ büßt, die in allen Verhältnissen des Menschen sich als die edlen Früchte der Unabhängigkeit darbieten . Dadurch, daß auch die geringfügigsten Verrich­ tungen ihres Haushalts nach unwandelbaren Vorschriften geregelt wurden, hat man sie in gehorsame , aber stupide Geschöpfe verwandelt. Ihre Nah­ rung ist überhaupt gesicherter, ihr Betragen ist friedlicher geworden; aber dem Zwang und der traurigen Einförmigkeit des Missionenregiments unter­ worfen, verkündet ihr düsteres und verschlossenes Aussehen , wie ungern sie ihre Freiheit gegen die Ruhe vertauscht haben. Es können die Mönchsein­ richtungen, auf den Umfang eines Klosters beschränkt, obgleich sie dem Staat nützliche Bürger entziehen, bisweilen vorteilhaft sein , wo es darum zu tun ist, Leidenschaften zu mäßigen , heftigen Schmerz zu mildern und den Geist durch Nachdenken zu beschäftigen ; aber in die Wälder der Neuen Welt versetzt und auf die vielfachen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft angewandt, müssen ihre Wirkungen in dem Maß ihrer Dauer stets verderbli­ cher werden . Sie hemmen von Generation zu Generation die Entwicklung der Geisteskräfte , sie hindern die gegenseitige Kommunikation der Völker und unterdrücken alles, was den Geist erheben und die Begriffe erweitern kann. Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Ursachen ist es, welches die Eingeborenen der Missionen in einem Zustand von Unkultur erhält, den wir Stillstand nennen würden, wenn die Gesellschaften nicht dem Gesetz folgten, dem der menschliche Geist gehorcht, wenn sie nicht Rückschritte machten, schon darum weil sie nicht vorrücken . Am 4. September [1799] , um fünf Uhr morgens , traten wir die Reise an nach den Missionen der indianischen Chaimas und nach der hohen Berg­ kette, welche Neu-Andalusien durchschneidet. Man hatte uns , um der äu­ ßerst beschwerlichen Wege willen , geraten , unser Gepäck möglichst zu be­ schränken. Zwei Saumtiere waren auch hinreichend, unseren Mundvorrat , unsere Instrumente und das zum Trocknen der Pflanzen erforderliche Papier

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zu tragen. In derselben Kiste fanden sich ein Sextant, eine Inklinationsbus­ sole , eine Vorrichtung zur Bestimmung der Deklination der Magnetnadel, Thermometer und Saussures Hygrometer beisammen . Auf diese ausge­ wählten Instrumente haben wir uns jederzeit bei Wanderungen von nicht sehr langer Dauer beschränkt. Was das Barometer betrifft, so erforderte dieses noch mehr Sorgfalt als das Chronometer, und ich darf wohl sagen, es ist dies das Instrument, das den Reisenden am meisten Mühe verursacht. Wir vertrauten es fünf Jahre lang einem Führer an, welcher uns zu Fuß be­ gleitete, und sogar diese ziemlich aufwendige Sorgfalt konnte es nicht immer vor widrigen Zufällen schützen . Nachdem wir die Zeit der atmosphärischen Ebbe und Flut, das heißt die Stunden , worin das Quecksilber in den Tropen­ Iändern jeden Tag sich regelmäßig hebt und senkt, genau bestimmt hatten, wurde uns begreiflich, daß es möglich sei , das Land mittels des Barometers zu nivellieren, ohne in Cumami angestellter übereinstimmender Beobach­ tungen zu bedürfen. Die größten Veränderungen im Druck der Luft be­ tragen in diesem Klima und an den Küsten nicht über 1 bis 1,3 Linien; und wenn man auch nur einmal, an gegebenem Ort und Stunde , die Höhe des Quecksilbers bezeichnet hat, so lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit die Abweichungen angeben, welche diese Höhe das ganze Jahr durch , zu jeder Tag- und Nachtzeit erleidet. Es folgt hieraus, daß in der heißen Zone der Mangel korrespondierender Beobachtungen nicht leicht Irrtümer veran­ lassen kann , die 12 bis 15 Toisen übersteigen ; eine Abweichung, die von keiner großen Bedeutung ist, wo es sich um geologische Messungen oder um den Einfluß der Höhen auf Klima und Pflanzenwuchs handelt. Die Morgenkühle war überaus angenehm. Der Weg oder vielmehr der Fußpfad, welcher nach Cumanacoa führt, folgt dem rechten Ufer des Man­ zanares und geht am Kapuzinerkloster vorbei , das in einem Wäldchen von Gayac und baumartigen Kapern [Capparis] gelegen ist. Außerhalb Cumanas genossen wir vom Hügel San Francisco hinab während der kurzen Morgen­ dämmerung eine weite Fernsicht über das Meer, über die mit der Goldblüte der Bera [Palo Sano, Zygophyllum arboreum , Jacq. ] bedeckte Ebene und über die Berge des Bergantin. Merkwürdig erschien uns die große Nähe , in der sich die Cordillerenkette zeigte , ehe noch die Scheibe der aufgehenden Sonne den Horizont erreicht hatte. Die bläulichen Berggipfel erscheinen dunkler gefärbt , ihre Umrisse sind fester, ihre Massen hervorstehender - so­ lange die Durchsichtigkeit der Luft von keinen Dünsten getrübt wird, welche sich die Nacht über in den Tälern anhäufen und, sowie die Atmo­ sphäre sich erwärmt, in die Höhe steigen. Beim Hospiz der Divina Pastora nimmt der Weg nordöstliche Richtung und geht zwei lieues lang über ein von Baumwuchs entblößtes und vormals durch Gewässer geebnetes Erdreich . Man findet hier nicht nur mancherlei Kaktusarten, Gebüsche von cistusblättrigen Tribulus, die schöne purpurrote

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Euphorbia [Euphorbia tithymaloides}, die in den Gärten Havannas unter dem seltsamen Namen Dietamno real gezogen wird, sondern auch Avi­ cennia, Allionia, Sesuvium, Thalinum und die meisten portulak artigen Pflanzen, welche an den Ufern des Meerbusens von Cariaco wachsen. Diese geographische Verteilung der Pflanzen scheint die Grenzen der alten Küste zu bezeichnen und darzutun, daß, wie schon oben bemerkt wurde , die Hügel, auf deren Südseite der Weg hinführte , vormals eine durch eine Meer­ enge vom Festland getrennte Insel bildeten. Nach zwei Stunden Weges trafen wir am Fuß der hohen Bergkette ein, die sich im Innern des Landes von Osten nach Westen, vom Bergantfn bis zum Cerro de San Lorenzo hinzieht. Hier fangen neue Felsgebirge an, und mit ihnen erhält die Pflanzenwelt auch eine neue Gestaltung. Alles gewinnt ein erhabeneres und malerisches Aussehen. Der quellenreiche Boden wird von Bächen in allen Richtungen durchzogen und bewässert. Bäume von riesen­ hafter Größe , mit Lianen bedeckt, erheben sich aus den Schluchten; ihre von dem doppelten Einfluß des Lichtes und des Sauerstoffs der Atmosphäre geschwärzte und verbrannte Rinde sticht mächtig ab gegen das frische Grün von Pothos und Dracontium, deren lederartige und glänzende Blätter bis­ weilen mehrere Fuß Länge haben. Man möchte sagen, die parasitischen Mo­ nocotyledonen seien in den Tropenländern die Stellvertreter der Moose und Flechten unserer nördlichen Zone ; als wir vorrückten, erinnerten uns die Felsmassen durch ihre Gestalten und Gruppierungen an die schweizerische und tirolische Landschaft. Auf diesen amerikanischen Alpen wachsen selbst noch auf sehr ansehnlichen Höhen Heliconien , Costus, Maranta und andere der Familie der Blumenrohrpflanzen zugehörigen Arten, die in der Nähe der Küsten nur niedrige und feuchte Wohnplätze suchen . So ergibt sich durch ein außerordentliches Zusammentreffen , daß in der heißen Zone wie im nördli­ chen Europa, unter dem Einfluß einer stets mit Dünsten beladenen Atmo­ sphäre , wie auf einem durch die Schneeschmelze feucht erhaltenen Boden, der Pflanzenwuchs der Gebirge alle auszeichnenden Merkmale des Pflan­ zenwuchses der Sumpfgegenden an sich trägt. Ehe wir die Ebenen von Cumami und die Breccien oder den kalkartigen Sandstein, aus denen sein Küstenboden besteht, verlassen, wollen wir die verschiedenen Schichten aufzählen, aus denen diese noch sehr neue Forma­ tion besteht, wie wir solche an den Seiten der Hügel beobachteten , von denen das Schloß San Antonio umgeben ist. Diese Angabe wird um so not­ wendiger, da wir bald andere Felsgebirge kennenlernen werden, die man leicht mit den Puddingsteinen [ grobes Konglomerat mit feinem Grundstoff] der Küsten verwechseln könnte . So wie wir im Innern des Festlandes vor­ rücken, so wird sich allmählich die geologische Übersicht dieser Landschaft vor unseren Augen entwickeln. Die Breccie oder der kalkartige Sandstein ist eine örtliche und besondere ,

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der Halbinsel Araya und der Küstenlandschaft von Cumami und Caracas eigentümliche Bildung. Wir haben sie auf dem Cabo Blanco, westlich des Hafens von La Guaira, wieder angetroffen, wo sie außer Trümmern von Schaltiergehäusen und Madreporen Bruchstücke von Quarz und Gneis , die oft winklig sind, enthält. Dieser Umstand nähert die Breccie der neuen Sandsteinbildung, welche die deutschen Mineralogen Nagelfluhe nennen und die einen guten Teil der Schweiz, bis zu tausend Klafter Höhe , bedeckt, ohne irgendeine Spur pelagischer Erzeugnisse darzubieten. In der Nähe von Cumami besteht die Bildung der Kalkbreccie erstens aus einem dichten Kalk­ stein von grau-weißlicher Farbe , dessen - bald waagerechte, bald unregel­ mäßig eingesenkte - Schichten fünf bis sechs Zoll Dicke haben. Einige seiner Lager enthalten fast gar keine Beimischung von Versteinerungen; in den meisten hingegen finden sich die Carditen , Turbiniten, Ostraciten und kleineren Conchylien in solcher Menge angehäuft , daß die kalkartige Masse nur das Bindungsmittel ist, wodurch die Quarzkörner und die organischen Körper miteinander vereint sind; z weitens aus einem kalkartigen Sandstein , worin die Sandkörner ungleich häufiger als die versteinerten Schaltiere sind; andere Schichten zeigen auch überall keinerlei organische Trümmer, brausen mit Säuren nur wenig auf und enthalten keine Glimmerblättchen, aber nierenförmiges braunes kompaktes Eisenerz ; drittens Lager von verhär­ tetem Ton, welche Selenit und blättrigen Gips enthalten. Diese Lager haben viel Ähnlichkeit mit dem salzführenden Ton von Punta Araya und liegen jederzeit tiefer als die vorhergehenden Schichten. Die Breccien- oder Konglomeratbildung des Küstenlandes, die wir so­ eben beschrieben haben , ist von weißer Farbe; sie ruht unmittelbar auf dem Kalkstein von Cumanacoa, der eine graubläuliche Farbe hat. Diese zwei Ge­ steine stechen nicht weniger voneinander ab als die Molasse des Waadt­ landes gegen den Kalkstein des Jura. Zu bemerken ist, daß da, wo beide übereinanderliegende Formationen sich berühren, die Lager des Kalksteins von Cumanacoa, die ich als Alpenkalkstein ansehe , fast immer viel Ton und Mergel enthalten . In der Richtung von Nordost nach Südwest streichend wie die Glimmerschiefer von Araya, fallen sie in der Nähe von Punta Delgada unter einem Winkel von 60° südöstlich ein. Ein schmaler Fußpfad führte uns durch den Wald; wir gingen einem B ach entlang, der sprudelnd über ein Felsbett fließt. Der Pflanzenwuchs zeigte sich lebhafter allenthalben , wo über dem Alpenkalkstein ein quarziger Sandstein lag, der keine Versteinerungen enthält und von der Breccie der Küste sehr verschieden ist. Die Ursache dieser Erscheinung ist wahrschein­ lich weniger der Beschaffenheit der Erde als der größeren Feuchtigkeit des Bodens zuzuschreiben . Der quarzige Sandstein enthält dünne Schichten eines schwärzlichen Schiefertons , welcher leicht mit dem sekundären Ton­ schiefer verwechselt werden kann ; und diese Schichten sind es, die das

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Wasser zurückhalten und seinen Verlust in den Spalten, von denen der Al­ penkalkstein voll ist, hindern . Dieser zeigt hier wie im Salzburgischen und in der Apenninenkette gebrochene und stark einfallende Schichten. Der Sand­ stein hingegen verleiht überall, wo er das Kalkgebirge deckt , der Landschaft ein milderes Aussehen; die Hügel, welche er bildet, sind gerundeter, und ihre sanften Abhänge deckt ein dichteres Erdreich . In diesen feuchten Gegenden, wo der Alpenkalkstein mit Sandstein be­ deckt ist, finden sich überall einige Spuren von Landbau. In der Schlucht von Los Frailes trafen wir vom Metisstamm bewohnte Hütten an wie zwischen der Cuesta de Caneyes und dem Rio Guriental. Jede dieser Hütten befindet sich in der Mitte eines umzäunten Platzes, der mit B ananen- , Melonen­ bäumen, Zuckerrohr und Mais bepflanzt ist . Man dürfte sich über den ge­ ringen Umfang dieses bebauten Landes wundern, wenn man nicht daran dächte , daß ein mit Bananen bepflanzter Morgen Land mehr als zwanzigmal soviel Nahrungsstoffliefert wie ein gleich großes, mit Getreide besätes Stück Land. Unsere nährenden Grasarten in Europa, Weizen, Roggen und Gerste , decken ausgedehnte Landstriche , und die bebauten Felder berühren ein­ ander notwendig überall, wo die Völker sich von Getreide nähren. In der heißen Zone, wo der Mensch sich Pflanzen aneignen konnte, die ihm viel reichere und minder spätreife Ernten liefern , verhält es sich anders. Die un­ gemeine Fruchtbarkeit des Bodens steht in diesen glücklichen Erdstrichen in idealem Verhältnis zur Wärme und Feuchtigkeit der Atmosphäre. Eine zahlreiche Bevölkerung findet auf einem nicht großen, mit Banane , Manioc, Yamswurzeln und Mais bepflanzten Erdreich überreiche Nahrung. Die ver­ einzelt im Walde zerstreuten Hütten bezeugen dem Reisenden die Frucht­ barkeit der Natur; ein kleines urbar gemachtes Stück Land reicht nicht selten für die Bedürfnisse mehrerer Haushalte aus. Diese Betrachtungen über den Landbau der heißen Zone erinnern unwill­ kürlich an die engen Verhältnisse, die zwischen dem Umfang des urbaren Landes und dem Fortschritt der Gesellschaft bestehen. Dieser Reichtum des Bodens , diese erhöhte Kraft des organischen Lebens hemmen , während sie die Nahrungsquellen vervielfachen, die Fortschritte der Völker zur Zivilisie­ rung. Unter einem milden und gleichförmigen Klima fühlt der Mensch das einzige dringende Bedürfnis der Nahrung . Dieses ist es, was ihn zur Arbeit antreibt, und man sieht leicht, wie mitten im Überfluß und im Schatten der Bananen und Brotbäume die Geisteskräfte sich langsamer entwickeln als unter einem weniger milden Himmel, in Getreideländern, wo der Mensch unaufhörlich mit den Elementen zu kämpfen hat. Bei einer allgemeinen Übersicht der Landbau treibenden Völker bemerkt man , daß das urbare und angebaute Land entweder durch Wälder getrennt ist oder sich unmittelbar berührt, nicht nur im Verhältnis der Bevölkerungszunahme , sondern auch je nach der Auswahl der Nahrungspflanzen . In Europa schließen wir aus dem

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Umfang der Landeskultur auf die Zahl der Einwohner; in den Tropenlän­ dern wiederum , im wärmsten und feuchtesten Teil von Südamerika, er­ scheinen sehr bevölkerte Provinzen fast öde , weil der Mensch für seine Nah­ rung nur wenig Land urbar zu machen braucht. Diese bemerkenswerten Umstände haben zugleich wesentlichen Einfluß auf die physische Gestaltung des Landes und auf den Charakter seiner Be­ wohner; sie verleihen beiden einen eigentümlichen Ausdruck, der etwas Rohes und Ungebildetes und eine Natur offenbart, deren Urbild durch die Kunst noch nicht verändert wurde . Nachbarlichen und fast allen menschli­ chen Umgang entbehrend , bildet jeder Kolonistenhaushalt einen isolierten Volksstamm. Diese Vereinzelung hemmt oder verzögert die Fortschritte zur Zivilisation, deren Wachstum nur in dem Verhältnis stattfinden kann, wie die Gesellschaft sich vermehrt und ihre Verhältnisse inniger und mannigfacher werden; aber es entwickelt und kräftigt wiederum auch die Einsamkeit das Gefühl der Unabhängigkeit und der Freiheit im Menschen , und es wird durch sie der Charakterstolz genährt, der von jeher die Völker des kastiliani­ schen Stammes auszeichnete . Diese selben Ursachen, deren mächtiger Einfluß uns in der Folge noch öf­ ters beschäftigen wird, tragen dazu bei, der Landschaft in den bevölkertsten Gegenden des amerikanischen Äquinoktiallandes ein wildes Aussehen zu verleihen, das sich in den gemäßigten Erdstrichen durch den Anbau der nährenden Grasarten verliert. Zwischen den Wendekreisen benötigen die Landbau treibenden Völker ein kleineres Erdreich: Der Mensch dehnt seine Herrschaft da weniger aus ; man möchte sagen, er erscheint da nicht als gebie­ tender Herr, der willkürlich über die Erdoberfläche verfügt, sondern als rei­ sender Gast, welcher friedlich die Wohltaten der Natur genießt. Wirklich bleibt sogar in der Nähe der bevölkertsten Städte das Land mit Wäldern be­ deckt oder von einem dichten Teppich , den noch keine Pflugschar durch­ schnitten hat, überzogen. Die wildwachsenden Pflanzen sind vorherrschend, ihre Masse behält das Übergewicht über die angebauten und verleiht aus­ schließlich der Landschaft ihr Gepräge . Wahrscheinlich wird sich dieses Ver­ hältnis nur höchst langsam ändern . Wenn in unseren gemäßigten Erdstrichen der Anbau der Zerealien eine traurige Einförmigkeit über das urbare Land verbreiten hilft , so läßt sich mit Sicherheit annehmen, daß der heiße Erd­ strich auch bei wachsender Bevölkerung die prachtvollen Pflanzenformen und den Ausdruck einer jungfräulichen und unbezwungenen Natur behalten wird, die ihm eine so anziehende und malerische Gestalt verlieh. So äußern demnach durch eine merkwürdige Verkettung physischer und moralischer Ursachen Wahl und Ertrag der Nahrungspflanzen gleichzeitig ihren Einfluß auf drei wichtige Dinge : auf das gesellschaftliche oder isolierte Leben der Fa­ milien, auf den mehr oder minder langsamen Fortschritt der Zivilisation und auf den eigentümlichen Charakter der Landschaft.

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Indem wir tiefer im Walde vorrückten , gab das Barometer uns die fort­ schreitende Erhöhung des Bodens an. Die Baumstämme zeigten hier eine ungewöhnliche Erscheinung. Eine Graminee mit quirlförmigen Ästen klet­ tert gleich einer Liane acht bis zehn Fuß hoch und bildet quer über den Weg gedehnte Ranken, die der Wind hin- und herschaukelt. Gegen drei Uhr nachmittags machten wir auf einer kleinen Ebene halt, die Quetepe heißt und ungefähr 190 Toisen über der Meeresfläche liegt. Etliche Hütten stehen in der Nähe einer unter den Eingeborenen berühmten Quelle, die wegen ihrer Kühle und als der Gesundheit sehr zuträglich unter den Eingeborenen berühmt ist. Ihr Wasser schien uns in der Tat von vorzüglicher Güte zu sein; seine Wärme zeigte 22 ,5° des hundertgradigen Thermometers , während die Wärme der Luft auf 28,7° anstieg. Die von naheliegenden höheren Bergen abfließenden Quellen zeigen öfters eine allzu schnelle Wärmeabnahme. In der Tat, wenn man die mittlere Temperatur des Wassers an der Küste von Cu­ maue! zu 26° annimmt, so folgt daraus, insofern keine anderen örtlichen Ur­ sachen die Temperatur der Quellen ändern , daß die Quelle von Quetepe den beträchtlichen Grad ihrer Kühle auf der absoluten Höhe von mehr als 350 Toisen erhalten muß. Weil hier von den Quellen die Rede ist, die dort in den Ebenen der heißen Zone oder auf geringen Anhöhen sprudeln, will ich im allgemeinen bemerken, daß nur in solchen Gegenden, wo die mittlere Tem­ peratur des Sommers von der des ganzen Jahres bedeutend abweicht, die Einwohner während der sehr heißen Jahreszeit recht kaltes Quellwasser trinken können . Die Lappländer erfrischen sich in der Nähe von Umea und Sorsele , unter dem 65 . Breitengrad, an Quellen, deren Temperatur im Au­ gust kaum 2 oder 3° über dem Gefrierpunkt steht, während den Tag über die Luft im Schatten in eben diesen nördlichen Gegenden die Wärme von 26 oder 27° erreicht. In unseren gemäßigten Erdstrichen , in Frankreich und Deutschland, beträgt der Unterschied des Wärmegrades der Luft und der Quellen nie über 16 bis 17°. Zwischen den Wendekreisen steigt er selten auf 5 oder 7°. Die Erklärung dieser Erscheinungen wird leicht, wenn man sich erinnert, daß das Innere der Erde und die unterirdischen Gewässer eine mit der mittleren Jahrestemperatur der Luft beinahe zusammentreffende Wärme besitzen und daß diese letztere von der mittleren Sommerwärme um so mehr abweicht, je weiter man sich vom Äquator entfernt. Die magneti­ sche Abweichung betrug in Quetepe 42,7° der hundertgradigen Einteilung. Das Cyanometer zeigte die Farbe des Himmels am Zenit zu nicht mehr als 14°, vermutlich weil die Regenzeit seit einigen Tagen schon eingetreten und bereits Dünste in der Luft enthalten waren. Von einem Sandsteinhügel hinab, der die Quelle von Quetepe beherrscht, genossen wir eine prachtvolle Fernsicht über das Meer, das Kap Macanao und die Halbinsel Manicuare . Ein unermeßlicher Wald dehnte sich zu un­ seren Füßen bis ans Gestade des Ozeans aus; die Baumwipfel, durch Lianen

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untereinander verbunden und von langen Blütenbüschein gekrönt, bildeten einen mächtigen Teppich von grünem Laub , dessen dunkle Farbe den Glanz des Lichtes erhöhte . Der Anblick dieser Landschaft war uns um so überra­ schender, als wir hier zum ersten Mal die großen Massen der tropischen Pflanzenwelt überschauen konnten. Auf dem Hügel von Quetepe , am Fuß der Malpighia cocolloboe folia , deren Blätter ungemein lederartig sind, zwi­ schen Büschein von Polygala montana pflückten wir die ersten Melastomen, besonders diese schöne unter dem Namen der rötlichen Melastoma rufes­ cens beschriebene Art. Die Erinnerung an diese Gegend wird lange in un­ serem Gedächtnis bewahrt bleiben : Der Reisende behält eine eigentümliche Vorliebe für die Orte, wo er zum ersten Mal eine Pflanzengruppe , die er bisher nicht wildwachsend gekannt hatte , antraf. Weiterhin, südwestlich , wird der Boden dürr und sandig; wir erstiegen eine Gruppe ziemlich hoher Berge , welche die Küste von den ausgedehnten Ebenen oder Grasplätzen trennen, die der Orinoco begrenzt . DerTeil dieses Gebirges, über welchen der Weg von Cumanacoa führt, ist von Pflanzen­ wuchs entblößt und steil abfallend gegen Nord und Süd. Man nannte ihn den Imposible , weil man glaubt, im Fall einer feindlichen Landung würde dieser Berggrat den Einwohnern von Cumana eine Zufluchtsstätte gewähren. Wir erreichten den Gipfel kurz vor Sonnenuntergang, und ich konnte kaum noch einige Stundenwinkel zur Bestimmung der Ortslänge mittels des Chronome­ ters aufnehmen. Die Fernsicht vom Imposible ist noch schöner und ausgedehnter als die von der Bergebene des Quetepe. Wir unterschieden sehr gut und mit bloßem Auge den abgeplatteten Gipfel des Bergantin , dessen Lage gen au zu be­ stimmen so wichtig wäre, ebenso den Landungsplatz und die Reede von Cu­ mana. Die Felsenküste der Halbinsel Araya stellte sich ihrer ganzen Länge nach dar. Die ungewöhnliche Gestaltung eines Hafens, der den Namen La­ guna Grande oder Laguna deI Obispo führt, fiel uns bestens auf. Ein weites, durch hohe Berge umschlossenes Becken hängt mit dem Golf von Cariaco durch einen schmalen Kanal zusammen, der nur einem einzigen Schiff Durchgang gestattet. Dieser Hafen, von dem Herr Fidalgo einen genauen Plan aufgenommen hat, könnte gleichzeitig mehrere Geschwader einlassen . Es ist ein einsamer Ort, den jährlich die Fahrzeuge besuchen, welche Maul­ tiere nach den Antillen ausführen . Im Grund der Bucht finden sich einige Weideplätze. Unsere Blicke verfolgten die Krümmungen dieser Meerenge , die sich wie ein Fluß zwischen senkrechten und von allem Pflanzenwuchs entblößten Felsen ein Bett grub . Dieser außerordentliche Anblick erinnert an den Hintergrund der phantastischen Landschaft, womit Leonardo da Vinci das berühmte Bild der Gioconda [Mona Lisa, die Gemahlin des Fran­ cesco deI Giocondo] schmückte . Am Chronometer konnten wir im Augenblick beobachten , wo die Son-

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nenscheibe den Horizont des Meeres berührte . Die erste Berührung ge­ schah um 6 Uhr 8' 13"; die zweite um 6 Uhr 10' 26", mittlerer Zeit. Diese für die Theorie der Erdrefraktionen nicht gleichgültige Beobachtung wurde auf dem Gipfel des Berges, auf der absoluten Höhe von 296 Toisen angestellt. Der Sonnenuntergang war von einer sehr schnellen Luftabkühlung be­ gleitet. Drei Minuten nach der letzten scheinbaren Berührung der Scheibe am Horizont des Meeres sank das Thermometer plötzlich von 25 ,2° auf 21,3°. War diese außerordentliche Abkühlung die Wirkung irgendeines nie­ dersteigenden Luftzuges? Die Luft blieb jedoch ruhig, und kein waage­ rechter Wind ließ sich spüren . Wir übernachteten in einem Hause , worin sich ein Militärposten von acht Mann aufhält, von einem spanischen Unteroffizier befehligt. Es ist ein Ho­ spiz , das neben einem Pulvermagazin erbaut ist und den Reisenden viel­ fache Dienste leistet. Die Mannschaft verweilt hier fünf bis sechs Monate , und man wählt vorzugsweise solche Soldaten, welche chacras oder Pflan­ zungen besitzen. Als sich nach der Eroberung der Insel Trinidad durch die Briten 1797 die Stadt Cumana von einem Angriff bedroht sah , flüchteten viele ihrer Bewohner nach Cumanacoa und verwahrten ihre kostbarste Habe in Wagenschuppen , die eilig auf dem Gipfel des Imposible errichtet wurden. Man war damals entschlossen, im Falle eines unvorhergesehenen Überfalls das Schloß San Antonio nach kurzem Widerstand zu verlassen und alle vorhandenen Kräfte um den Berg her zu sammeln , welcher als der Schlüssel der Llanos angesehen werden kann. Die kriegerischen Ereignisse , die im Gefolge politischer Revolutionen in diesen Gegenden stattfanden, haben gezeigt, wie weise dieser Plan berechnet war. Der Gipfel des Imposible , soweit ich ihn untersuchen konnte , ist mit einem quarzigen Sandstein , der keine Versteinerungen enthält, bedeckt. Seine Schichten streichen hier wie auf den benachbarten Bergen in ziemlich regelmäßiger Richtung von Nordnordost nach Südsüdwest. Ich habe früher schon bemerkt, daß eben diese Richtung auch in den Urgebirgsformationen der Halbinsel Araya und längs der Küsten von Venezuela am häufigsten vor­ kommt. Am nördlichen Abhang des Imposible entspringt eine reiche Quelle dem Sandstein, der mit Schieferton wechselt . Man bemerkt an dieser Stelle zerbrochene Schichten , die in der Richtung von Nordwest nach Südost fast senkrecht einfallen. Die Llaneros oder die Bewohner der Ebenen senden ihre Erzeugnisse , die vorzüglich aus Mais , Tierhäuten und Vieh bestehen, nach dem Hafen von Cumana über den Imposible . Wir sahen ununterbrochen Züge von Maul­ tieren eintreffen, die Indianer oder Mulatten zu Führern hatten. Die Ein­ samkeit dieses Ortes erinnerte mich lebhaft an die Nächte, die ich auf der Höhe des Gotthards zugebracht hatte. Auf verschiedenen Stellen der ausge­ dehnten Wälder, die den Berg umzingeln , war Feuer ausgebrochen. Die röt-

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lichen, zur Hälfte in Rauchwolken gehüllten Flammen gewährten einen überraschenden Anblick. Die Einwohner zünden die Wälder an, um die Wei­ deplätze zu verbessern und das Gesträuch zu vertilgen , das das Wachstum des sonst hier seltenen Grases hindert . Öfters entstehen auch ungeheure Waldbrände durch die Sorglosigkeit der Indianer, die auf ihren Wande­ rungen das Feuer, auf dem sie ihre Speisen kochten, zu löschen unterlassen . Diese Zufälle trugen zur Verminderung der alten Bäume längs des Weges von Cumana nach Cumanacoa bei , und die Einwohner bemerken sehr richtig, daß in verschiedenen Gegenden ihrer Provinz die Trockenheit zuge­ nommen hat, nicht nur weil sich der Boden infolge der häufigen Erdbeben von Jahr zu Jahr mehr spaltet, sondern auch darum, weil seine Waldungen seit dem Zeitpunkt der Eroberung sich bedeutend vermindert haben. Ich stand während der Nacht auf, um die Ortslänge mittels der Passage des Fomalhaut durch den Meridian zu bestimmen . Die Beobachtung ging während der Zeit verloren, welche ich auf die Nivellierung des künstlichen Horizonts verwandte . Es ist dies die große , mit den Reflexionsinstrumenten verbundene Schwierigkeit , wie man sich, um der Beweglichkeit der Flüssig­ keiten willen , nicht der Quecksilberamalgam- oder Ölhorizonte , sondern jener flachen Gläser bedient, deren Gebrauch Herr von Zach eingeführt hat. Es war Mitternacht, ich war starr vor Kälte wie unsere Führer; inzwi­ schen stand das Thermometer noch auf 19,7°. In Cumana fand ich es nie unter 21°; aber das Haus, worin wir auf dem Imposible wohnten, lag auch 258 Toisen über dem Meeresspiegel. Bei der Casa de la P6lvora bestimmte ich die Neigung der Magnetnadel: Sie zeigte 42 ,so. * Die Zahl der Schwin­ gungen stieg in 10' Zeit auf 233 , die Stärke der magnetischen Kraft hatte sich demnach von den Küsten bis zum Berg vermehrt, vielleicht durch die Ent­ wicklung eisenhaltiger, in den Sandsteinschichten verborgener Massen, die über dem Alpenkalkstein liegen. Am 5 . September [1799] , vor Sonnenaufgang, verließen wir den Impo­ sible . Der Abstieg ist für die Lasttiere sehr gefährlich ; die Breite des Fuß­ pfades beträgt im ganzen nicht über 15 Zoll, und er läuft neben Abgründen hin . 1736 war man mit dem nützlichen Entwurf einer schönen Straße vom Dorf San Fernando nach der Höhe des Berges beschäftigt. Ein Drittel hatte man bereits vollendet; aber unglücklicherweise wurde in der Ebene am Fuß des Imposible angefangen, so daß der schwierigste Teil der Straße unberührt geblieben war. Das Werk wurde nun durch eine dieser Ursachen unterbro­ chen, die in den spanischen Kolonien fast alle Verbesserungspläne scheitern lassen. Verschiedene Behörden erhoben gleichzeitig Anspruch auf die Lei*

Die Neigung der Magnetnadel wird in dieser Reisebeschreibung, wenn das Ge­

genteil nicht ausdrücklich bemerkt ist , jederzeit nach der hundertgradigen Einteilung angegeben.

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tung der Arbeiten. Das Volk zahlte geduldig das Weggeld für eine Straße , die nicht vorhanden war, bis der Gouverneur von Cumami dem Unfug ein Ende bereitete . Beim Herabsteigen vom Berg sieht man unter dem Sandstein das alpine Kalkgestein wieder hervortreten. Weil seine Schichten allgemein südlich und südöstlich einfallen, quillt viel Wasser auf der südlichen Bergseite hervor. In der Regenzeit verwandeln sich diese Quellen in Bergströme , die sich in Wasserfällen, von der Hura, der Cuspa und der silberblättrigen Ce­ cropia [Trompetenbaum] beschattet , ins Tal ergießen . Der in der Gegend von Cumana und Bordones ziemlich allgemeine Cuspa­ baum ist den europäischen Botanikern noch unbekannt. Man gebrauchte ihn lange Zeit nur zum Häuserbau , und er ist erst seit dem Jahr 1797 unter dem Namen der Cascarille oder Fieberrinde aus Neu-Andalusien berühmt geworden. Sein Stamm wächst kaum 15 bis 20 Fuß hoch. Seine wechselnd stehenden Blätter sind glatt, ungezähmt und eirund. Seine sehr dünne, blaß­ gelbe Rinde besitzt ausgezeichnete fiebervertreibende Kräfte; ihre Bitter­ keit ist sogar stärker, jedoch minder unangenehm, als die der echten China­ rinde . Man bedient sich ihrer mit dem besten Erfolg, teils in Weingeistex­ trakt, teils im wäßrigen Aufguß sowohl gegen Wechselfieber als bei bösar­ tigen Fiebern . Der Gouverneur in Cumana, Herr Emparan, sandte den Ärzten von Cadiz einen ansehnlichen Vorrat dieser Rinde , und zufolge der kürzlich von Don Petro Franco , Apotheker des Militärspitals in Cumana, eingegangenen Nachrichten wurde die Cusparinde in Europa fast ebenso kräftig gefunden wie die Chinarinde von Bogota. Man behauptet, sie be­ sitze , in Pulverform genommen, gegen letztere den Vorzug, den Magen der Kranken mit geschWächtem Unterleib weniger anzugreifen. An den Küsten von Neu-Andalusien wird der Cuspabaum als eine Art der Cinchona angesehen, und man versichert, die aragonischen Mönche , die sich lange Zeit im Königreich Neu-Granada aufhielten, hätten den Baum in­ folge der Ähnlichkeit seiner Blätter mit der echten Fieberrinde erkannt. Al­ lein diese Angabe ist irrig, indem sich gerade durch die Stellung und Lage seiner Blätter und durch den Mangel der Blattansätze der Cuspabaum gänz­ lich von allen Pflanzen aus der Familie der Rubiaceen unterscheidet. Viel­ leicht nähert er sich denen der Geißblattpflanzen oder Caprifoliaceen, deren eine Abteilung wechselnd stehende Blätter hat und unter denen sich bereits auch die durch ihre fiebervertreibenden Kräfte bemerkenswerten Kornel­ kirscharten finden. Der gleichzeitig bittere und zusammenziehende Geschmack und die gelbe Farbe der Rinde konnten einzig die Entdeckung der fiebervertreibenden Kraft des Cuspabaums bewirken. Da er Ende November blüht, haben wir ihn nicht blühend gesehen und können nicht sagen, welcher Pflanzengattung er angehört; seit mehreren Jahren ersuchte ich unsere Freunde in Cumana

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vergeblich um getrocknete Blüten und Früchte . Ich hoffe , Reisende , die nach uns diese Gegenden besuchen , werden einst der botanischen Bestim­ mung der Fieberrinde von Neu-Andalusien ihre Aufmerksamkeit schenken und trotz der Ähnlichkeit der Namen den Cuspabaum nicht mit dem Cu­ spare verwechseln . Dieser wächst nicht nur in den Missionen von Rio Ca­ roni, sondern auch westlich von Cumami im Golf von Santa Fe . Er liefert den europäischen Apotheken den sehr bekannten Cortex Angosturae und bildet die von Willdenow in den Denkschriften der Berliner Akademie nach den von uns mitgeteilten Angaben beschriebene Gattung Bonplandia. Es ist ziemlich überraschend, daß wir während eines langen Aufenthalts, den wir an den Küsten von Cumana und Caracas , an den Ufern des Apure , Orinoco und Rio Negro , in einer Ausdehnung von 40 000 Quadratlieues machten, niemals irgendeine der vielen Arten der Cinchona oder der Ex­ ostema sahen, die den niedrigen und warmen Tropenländern , besonders dem Archipel der Antillen eigentümlich sind. Wir wollen keineswegs be­ haupten, daß im ganzen östlichen Teil von Südamerika, von Portocabello bis nach Cayenne oder vom Äquator bis zum 10. Grad nördlicher Breite , zwi­ schen dem 54. und 71. Meridiangrad, überall keine Fieberrinde vorhanden sei . Wer könnte sich einbilden , die Gesamtflora einer so weit ausgedehnten Landschaft zu kennen? Wenn man sich jedoch erinnert, daß in Mexico selbst noch keine Art der Gattungen Cinchona und Exostema gefunden wurde, weder auf dem Zentralplateau noch in den Ebenen , so wird man geneigt zu glauben, die bergigen Inseln der Antillen und das Cordillerengebirge der Anden hätten ihre eigentümlichen Floren und besäßen Pflanzengruppen, die weder von den Inseln auf das Festland noch vom südlichen Amerika auf die Küsten von Neu-Spanien übergingen. Noch mehr: Wenn man der vielfachen Analogien gedenkt , die zwischen Eigenschaften der Pflanzen und ihrer äußeren Bildung vorkommen, so er­ staunt man , diese großen fiebervertreibenden Eigenschaften in den Rinden von Bäumen zu finden , die nicht nur verschiedenen Gattungen, sondern sogar verschiedenen Familien angehören . Einige dieser Rinden sind ein­ ander so ähnlich, daß sie beim bloßen Ansehen leicht verwechselt werden können . Ehe man inzwischen die Frage untersucht, ob in der echten Fieber­ rinde , in der Cuspa von Cumana, in der Angosturarinde , in der indischen Switenia, in den europäischen Weiden, in den Früchten des Kaffeebaums und der Uvaria eine gleichartig verteilte und (wie das Stärkemehl, der Kaut­ schuk und der Kampher) in verschiedenen Pflanzen die gleichen chemischen Eigenschaften darbietende Materie einst entdeckt werden dürfte, ließe sich fragen, ob man im allgemeinen beim gegenwärtigen Zustand der Physio­ logie und Medizin ein fiebervertreibendes Prinzip annehmen dürfe . Ist es nicht eher wahrscheinlich , daß diese besondere Störung des Organismus, die man mit dem schwankenden Namen des fieberhaften Zustands be-

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zeichnet und in der das Gefäß- und Nervensystem gleichzeitig angegriffen werden, Heilmitteln weicht , die keineswegs durch die gleichen Grundstoffe , durch gleichmäßige Einwirkung auf die gleichen Organe , durch ein gleiches Spiel chemischer und elektrischer Anziehung wirken? Wir beschränken uns hier auf die Bemerkung, daß bei den Arten der Gattung Chinchona die fiebertilgenden Eigenschaften weder im Gerbstoff (der ihnen zufällig beige­ mischt ist) noch in dem chinasauren Kalk (cinchonate de chaux) enthalten zu sein scheinen, sondern vielmehr in einer harzförmigen Materie , die man aus zwei Grundstoffen, dem bitteren und dem roten Chinastoff zusammenge­ setzt glaubt und die in Alkohol und Wasser gleich löslich ist . Läßt sich nun aber wohl annehmen, daß diese nach den Verbindungen , die sie modi­ fizieren, auf verschiedene Weise wirksame harzförmige Materie in allen fiebertilgenden Substanzen vorhanden sei? Die , durch welche Eisensulfat grün niedergeschlagen wird wie die echte Fieberrinde , die Rinde der weißen Weide und das hornige Samengehäuse des Kaffeebaums , verraten dadurch noch keineswegs gleichartige chemische Bestandteile , und diese Gleichar­ tigkeit könnte auch vorhanden sein, ohne daß sich daraus auf gleichartige Arzneikräfte würde schließen lassen . Wir sehen , daß die Zucker- und Gerb­ stoffe, wenn sie aus Pflanzen ungleicher Familien gezogen sind, mannig­ fache Verschiedenheiten darbieten , während die vergleichende Zerlegung des Zuckers, des Gummis und des Stärkemehls , die Entdeckung des Grund­ stoffs der Blausäure , welche so gewaltsam auf den Organismus wirkt, und so viele andere Erscheinungen der vegetabilischen Scheidekunst außer Zweifel setzen, "daß Substanzen , die aus einer kleinen Zahl gleichartiger Grund­ stoffe und im gleichen Verhältnis zusammengesetzt sind, die abweichend­ sten Eigenschaften an den Tag legen" , um jener eigentümlichen Verbindung willen , welche die Korpuscular-Physik die Anordnung der Moleküle nennt. Beim Ausgang der Schlucht, in der man vom Imposible hinabkommt, gelangten wir in einen dichten Wald, den kleine Bäche in großer Zahl durchfließen, die man leicht durchwatet . Wir bemerkten, daß der Trompe­ tenbaum (Cecropia) , dess�n schlanker Stamm und Verästelung an die Ge­ stalt der Palmen erinnern, je nachdem sein Standort trocken oder sumpfig ist , mehr oder weniger silberfarbige Blätter trägt. Wir sahen Stämme, deren Blätter auf beiden Flächen völlig grün waren . Die Wurzeln dieser Bäume verbargen sich unter Gebüschen der Dorstenia, die nur an schattigen und feuchten Stellen gern wächst . Mitten im Wald , an den Ufern des Rio Cedofio wie am südlichen Abhang des Cocollars , finden sich wild wachsende Melo­ nenbäume und Orangen, die große und süße Früchte tragen. Es sind dies wahrscheinlich Überbleibsel einiger conucos oder indianischer Pflan­ zungen; denn weder Pomeranzenbaum noch Pisang, Melonenbaum, Mais und Manioc (Jatropha) können unter die ursprünglich wild wachsenden Pflanzen dieser Gegenden gezählt werden ; sie gehören zu den vielen an-

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deren nutzbaren Pflanzen , deren eigentliches Vaterland wir nicht kennen, obgleich sie Begleiter des Menschen auf seinen Wanderungen von den älte­ sten Zeiten an gewesen sind. Wenn ein Reisender, der kürzlich Europa verlassen hat , zum ersten Mal die Wälder des südlichen Amerika betreten hat, so zeigt sich ihm die Natur in einer überraschenden Gestaltung. Seine Umgebungen sind nur wenig ge­ eignet, ihn an die durch berühmte Schriftsteller von den Gestaden des Mis­ sissippi, von Florida und anderen gemäßigten Gegenden der Neuen Welt entworfenen Schilderungen zu erinnern . Er fühlt es bei jedem Schritt, daß er sich nicht an der Grenze , sondern im Mittelpunkt der heißen Zone befindet, nicht auf einer der Antilleninseln, sondern auf einem augedehnten Konti­ nent, wo alles riesenhaft erscheint, die Berge , die Flüsse und der Pflanzen­ wuchs . Wenn er für ländliche Schönheiten empfänglich ist, so hat er Mühe , die sich ihm aufdrängenden Gefühle auszudrücken . Er weiß nicht, was ihn mehr anzieht und seine Verwunderung am meisten erregt : ob die stille Ruhe der Einsamkeit oder die individuelle Schönheit und der Kontrast der Formen oder jene Kraft und Frische des vegetabilischen Lebens , wodurch sich das Klima der Tropenländer auszeichnet. Man möchte sagen , der mit Pflanzen überladene Boden liefert nicht Raum genug für ihre Entwicklung. Überall sind die B aumstämme von einem dichten grünen Teppich umhüllt; wer sorgfältig die Orchideen, die Piper und Pothos, welche ein einziger Heu­ schreckenbaum (Courbaril) oder ein amerikanischer Feigenbaum [Ficus gi­ ganteaJ nährt, verpflanzen wollte, der könnte damit ein großes Stück Land bedecken. Durch diese seltsamen Gruppierungen erweitern die Wälder wie die Flanken der Berge und Felsen das Gebiet der organischen Natur. Die­ selben Lianen, die auf der Erde kriechen, erklimmen auch die Gipfel der Bäume und dehnen ihre Ranken an die 100 Fuß hoch von einem zum an­ deren hinüber. Diese mannigfaltigen Verschlingungen der Schmarotzerge­ wächse setzen den Botaniker nicht selten der Gefahr aus, Blüten, Früchte und Blätter, die verschiedenen Arten angehören, miteinander zu verwech­ seln. Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieser Gewölbe , die nur selten den Anblick des azurblauen Himmels erlauben. Sein Indigoblau kam mir um so dunkler vor, als das Grün der Äquinoktialpflanzen überhaupt eine kräftige , zum Braun sich hinneigende Schattierung hat. Ein baumartiges Farnkraut [vielleicht unser Aspidium caducum] , das vom Polypodium der Antillen sehr verschieden ist, stand über zerstreuten Felsstücken empor. Hier war es, wo wir zuerst diese Vogelnester erblickten, die in Gestalt von Flaschen oder kleinen Säcken an den Ästen der niedrigsten Bäume hängen. Sie bezeugen den wunderbaren Kunstfleiß dieser Drosselarten (Troupials) , deren Gesang sich mit dem rauhen Geschrei der Papageien und der Aras ver­ mengte . Diese , die durch ihre lebhaften Farben sehr bekannt sind, flogen

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nur paarweise , während die eigentlichen Papageien in Schwärmen von meh­ reren Hundert herumziehen . Man muß sich in diesen Gegenden und vorzüg­ lich in den heißen Tälern der Anden aufgehalten haben , um zu begreifen , wie es möglich ist, daß das Geschrei dieser Vögel bisweilen das dumpfe Ge­ lärm der sich von Fels zu Fels herabstürzenden Waldbäche übertäubt. Eine gute lieue vom Dorf San Fernando traten wir aus dem Wald hervor. Ein schmaler Fußsteig führt, durch mancherlei Umwege , in eine offene , aber ausnehmend feuchte Landschaft. Cyperaceen und Gräser würden in der gemäßigten Zone darin ausgedehnte Wiesengründe bilden; hier wu­ cherten Wasserpflanzen mit pfeilförmigen Blättern und vorzüglich Basileen , unter denen wir die prachtvollen Blüten der Costus, der Thalien und der He­ liconien unterschieden. Diese Saftpflanzen wachsen 8 bis 10 Fuß hoch; ihre Gruppierungen würden in Europa als Gebüsche gelten . Den reizenden An­ blick der Wiesengründe und eines mit Blumen übersäten Rasens müssen die niederen Gegenden des heißen Erdstrichs fast gänzlich missen ; er findet sich nur auf den Plateaus der Anden wieder. In der Nähe von San Fernando war die durch Sonnenwirkung verursachte Verdunstung so stark, daß wir uns, da wir nur leicht gekleidet waren , wie in einem Dampfbad durchnäßt fühlten. Der Weg war von einer Art Bambus­ rohr eingefaßt, welche die Indianer J agua oder Guadua nennen und die über 40 Fuß hoch wächst. Nichts gleicht der Schönheit dieser baumartigen Gra­ minee . Die Gestalt und Anordnung der Blätter verleiht ihr eine Schlankheit und Leichtigkeit, die mit ihrem hohen Wuchs angenehm kontrastiert. Der glatte und glänzende Stamm der Jagua neigt sich meist über die Bäche hin und wird vom leichten Wind bewegt. Zu welcher Höhe auch das spanische Rohr [Arundo donax] im Süden Europas wächst, so gewährt es doch noch lange keine Vorstellung vom Anblick der baumartigen Gräser; und wenn ich von meiner eigenen Erfahrung ausgehen sollte , so möchte ich sagen , die baumartigen Bambusrohre und Farnkräuter sind unter allen Pflanzenge­ stalten der Tropenländer die , welche die Phantasie des Reisenden am stärk­ sten ergreifen . Ich will hier nicht in Einzelheiten der beschreibenden Pflanzenkunde ein­ treten, um darzutun , daß die ostindischen Bambuspflanzen, die Calumets des hauts [Bambusa, oder vielmehr Nastus alpina] der Insel Bourbon [Re­ union] , die Guaduas des südlichen Amerika und vielleicht sogar die riesen­ haften Arundinarien der Ufer des Mississippi der gleichen Pflanzengruppe angehören. Diese Untersuchungen sind in einem anderen Werk enthalten , das ausschließlich der Beschreibung der neuen Pflanzengattungen und der neuen Arten bestimmt ist, die wir von unseren Reisen zurückbrachten [>Nova Genera et Species Plantarum< ] . Hier genügt es, überhaupt zu be­ merken , daß die Bambusrohre in Amerika weniger häufig vorkommen, als man gewöhnlich glaubt. In den Sumpfgegenden und in den ausgedehnten ,

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vom unteren Orinoco , vom Apure und Atabapo überschwemmten Ebenen trifft man fast keine Spur von ihnen an , während sie hingegen im nordwestli­ chen Teil , in Neu-Granada und im Königreich Quito , dichte , mehrere lieues lange Gehölze bilden . Man möchte sagen , der nördliche Abhang der Anden sei ihr eigentliches Vaterland; und, was sehr bemerkenswert ist , wir haben sie nicht nur in den niederen , mit der Fläche des Weltmeeres waagerechten Gegenden , sondern auch in den hohen Cordillerentälern bis zur Höhe von 860 Toisen angetroffen . Der von Bambusrohren eingefaßte Weg führte uns nach dem kleinen Dorf San Fernando , das in einer schmalen , von sehr steilen Kalkfelsen einge­ schlossenen Ebene liegt . Es war dies die erste Mission * , die wir in Amerika sahen . Die Häuser oder vielmehr die Hütten der Chaimas-Indianer stehen voneinander abgesondert und sind mit kleinen Gärten umgeben . Die breiten und geraden Straßen schneiden sich in rechtem Winkel; die sehr dünnen und wenig dauerhaften Wände sind aus Lehm und mit Lianen ver­ stärkt . Diese einförmige Bauart , das ernste und stille Aussehen der Ein­ wohner, die große Reinlichkeit, weIche in ihren Häusern herrscht, alles erinnert an die Niederlassungen der mährischen Brüder. Jede indianische Haushaltung bearbeitet in einiger Entfernung vom Dorf neben ihrem eige­ nen Garten den conuco der Gemeinde . In diesem arbeiten die erwachsenen Personen beider Geschlechter morgens und abends eine Stunde. In den Mis­ sionen, die der Küste am nächsten liegen , besteht der Gemeindegarten überall aus einer Pflanzung von Zuckerrohr und Indigo , über weIche der Missionar die Aufsicht führt und deren Ertrag, wenn man sich genau an das Gesetz hält, einzig zum Unterhalt der Kirche und zum Ankauf von liturgi­ schen Gegenständen verwandt werden darf. Der mitten im Dorf befindliche Große Platz von San Fernando enthält die Kirche, die Wohnung des Missio­ nars und das niedrige Gebäude , weIches den pomphaften Namen des könig­ lichen Hauses, Casa deI Rey, führt. Es ist eine wahre Karawanserei, die zur Aufnahme der Reisenden bestimmt und, wie wir oft erfahren haben, von unendlichem Wert in einem Lande ist , wo der Name Wirtshaus noch völlig unbekannt ist. Man trifft die Casas deI Rey in allen spanischen Kolonien an , und man könnte sie für eine Nachahmung der in Peru den Gesetzen von Manco Capac zufolge errichteten tambos halten . Wir waren den Ordensmännern , weIche den Missionen der indianischen *

In den spanischen Kolonien nennt man misi6n, oder pueblo de misi6n, eine An­

zahl Wohnungen, die um eine Kirche her stehen, welche von einem Missionar-Mönch betreut wird. Die mit Pfarrern bestellten indianischen Dörfer heißen Pueblos de Doc­ trina. Man unterscheidet übrigens den Cura doctrinero, oder den Pfarrer eines india­ nischen Kirchspiels, von dem Cura rector, welcher der Pfarrer eines von Weißen oder von Menschen gemischter Rasse bewohnten Dorfes ist .

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Chaimas vorstehen , durch ihren in Cumami residierenden Syndikus emp­ fohlen worden. Diese Empfehlung wurde uns um so wichtiger, als die Mis­ sionare , entweder aus Eifer für die Sittenreinheit ihrer Kirchspielgenossen oder um ihr Mönchsregiment der unbescheidenen Neugier von Ausländern zu entziehen , öfters eine alte Verordnung anwenden , derzufolge kein Weißer weltlichen Standes mehr als eine Nacht in einem indianischen Dorf verweilen darf. Um in den spanischen Missionen angenehm zu reisen, wäre es über­ haupt sehr unklug, sich allein auf die durch das Staatssekretariat in Madrid oder durch die Zivilgouverneure ausgestellten Pässe zu verlassen. Man muß sich mit Empfehlungen von geistlichen Behörden , insbesondere von den Klosterguardianen oder den in Rom residierenden Ordensgeneralen ver­ sehen , welche bei den Missionen in ungleich höherem Ansehen stehen als die Bischöfe . Die Missionen bilden, ich will nicht behaupten, vermöge ihrer ursprünglichen und kanonischen Einrichtung , aber tatsächlich eine beson­ dere , beinah völlig unabhängige Hierarchie , deren Zwecke nur selten mit denen der weltlichen Geistlichkeit zusammentreffen. Der Missionar in San Fernando war ein aragonischer Kapuziner, sehr be­ jahrt, aber noch voll Kraft und Leben . Seine extreme Wohlbeleibtheit, seine Jovialität, seine Vorliebe für Gefechte und Belagerungen stimmten mit den Begriffen wenig überein , die man sich in nördlichen Ländern vom melancho­ lischen Geist und beschaulichen Leben der Missionare macht . Obgleich eine Kuh, die am folgenden Morgen geschlachtet werden sollte, den alten Or­ densmann ungemein beschäftigte, empfing er uns dennoch mit viel Gutmü­ tigkeit; er erlaubte uns, im Gang seiner Wohnung unsere Hängematten zu spannen. Unbeschäftigt, die meiste Zeit des Tages in einem großen Lehn­ sessel zubringend, klagte er bitterlich über das, was er Trägheit und Unwis­ senheit seiner Landsleute nannte . Über den eigentlichen Zweck unserer Reise , die ihm sehr gewagt und wenigstens sehr unnütz vorkam, richtete er eine Menge Fragen an uns. Hier wie am Orinoco fiel uns die lebhafte Neu­ gier beschwerlich, welche die Europäer mitten in den amerikanischen Wäl­ dern für die Kriege und die politischen Stürme der Alten Welt bewahren. Unser Missionar schien übrigens mit seiner Lage wohl zufrieden . Er be­ handelte die Indianer milde ; er freute sich über den zunehmenden Wohl­ stand seiner Mission ; er rühmte enthusiastisch die Güte des Wassers , der Ba­ nanen und der Milchspeise des Bezirks . Der Anblick unserer Instrumente , Bücher und getrockneten Pflanzen entlockte ihm ein schalkhaftes Lächeln ; und er gestand mit der diesen Zonen eigentümlichen Offenherzigkeit, daß von allen Lebensgenüssen , sogar den Schlaf nicht ausgenommen, doch keiner dem Vergnügen, gutes Kuhfleisch , carne de vaca , zu speisen , gleich­ komme : So wahr ist es, daß der Mangel an Geistesbeschäftigung die Sinn­ lichkeit entwickelt. Zu verschiedenen Malen forderte unser Wirt uns auf, die Kuh , welche er gekauft hatte , zu besuchen, und am Morgen durften wir

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nicht anders als ihrem Abschlachten beizuwohnen , das nach Landessitte mit­ tels Durchschneiden der Kniekehle vor dem Einstoßen eines breiten Mes­ sers zwischen die Halswirbel geschah . So ekelhaft das Geschäft auch war, so fanden wir dabei doch Anlaß, die ausnehmende Geschicklichkeit der Chaimas-Indianer kennenzulernen , deren acht in weniger als zwanzig Mi­ nuten das Tier in kleine Stücke zerhauen hatten. Die Kuh hatte nicht mehr als sieben Piaster gekostet, und dies wurde als sehr hoher Preis angesehen . Am gleichen Tag bezahlte der Missionar einem Soldaten aus Cumami für einen Aderlaß am Fuß , der nach mehreren vergeblichen Versuchen gelungen war, achtzehn Piaster. Diese dem Anschein nach unbedeutende Tatsache be­ weist auffallend, wie sehr in unkultivierten Ländern die Preise der Landes­ erzeugnisse und die der Arbeit voneinander verschieden sind. Die Mission von San Fernando wurde zu Ende des 17. Jahrhunderts nahe beim Zusammenfluß des Manzanares und des Lucasperez gegründet. Eine Feuersbrunst, welche die Kirche und die Hütten der Indianer verzehrte , ver­ anlaßte die Kapuziner, das Dorf in die schöne Gegend zu verlegen, wo es jetzt steht. Die Zahl der Haushaltungen ist auf hundert angewachsen , und der Missionar bemerkte, daß die Sitte der jungen Leute , sich im dreizehnten oder vierzehnten Jahr zu verheiraten , die schnelle Zunahme der Bevölke­ rung sehr fördert. Er leugnete , daß die Chaimas-Indianer so früh alt werden, wie man gewöhnlich in Europa glaubt . Die Regierung dieser indianischen Gemeinden ist übrigens ziemlich verwickelt; sie haben ihren Gouverneur, ihre Alguaciles Mayores und ihre Miliz-Kommandanten , die sämtlich kup­ ferfarbene Eingeborene sind. Die Schützenkompagnie hat ihre Fahnen und übt sich im Zielschießen mit Bogen und Pfeil ; sie bildet die Nationalgarde des Landes . Diese Militäranstalten, unter einer durchaus mönchischen Ver­ waltung, kamen uns sehr sonderbar vor. In der Nacht des 5 . September [1799] und am folgenden Tag war dichter Nebel; die Höhe , auf der wir �ns befanden, betrug jedoch nicht mehr als 100 Toisen über der Meeresfläche . Im Augenblick unserer Abreise nahm ich die geometrische Vermessung des großen Kalklagers vor, welches südlich von San Fernando in der Entfernung von 800 Toisen steht und auf der Nordseite senkrecht abfällt . Seine Erhöhung über den Großen Platz beträgt nicht über 215 Toisen ; aber die nackten Felsmassen , die sich mitten aus einem kräftigen Pflanzenwuchs emporheben , vermitteln einen sehr imposanten Anblick. Der Weg von San Fernando nach Cumana führt mitten durch kleine Pflan­ zungen in einen offenen und feuchten Talgrund; wir durchwateten viele kleine Bäche . Im Schatten hielt sich das Thermometer nicht über 30°; aber wir waren den Strahlen der Sonne völlig ausgesetzt, indem die am Weg ste­ henden Bambusrohre nur geringen Schatten gewährten, so daß uns die Hitze sehr beschwerlich fiel . Wir kamen durch das Dorf Arenas, dessen Be­ wohner mit denen von San Fernando dem gleichen Indianerstamm ange-

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hören ; allein Arenas ist keine Mission mehr, und die Eingeborenen sind, unter dem Vorstand eines Pfarrers , besser gekleidet und kultivierter. Ihre Kirche ist übrigens in der Umgegend durch einige rohe Malereien bekannt . Ein schmaler Fries enthält Abbildungen des Armadillos , des Caimans, des Jaguars und anderer Tiere der Neuen Welt.

[Über stillende MännerJ

Im selben Dorf lebt ein Bauer, Francisco Lozano , der eine merkwürdig auffallende , obgleich mit den bekannten Gesetzen der organischen Natur sehr übereinstimmende physiologische Erscheinung darbietet. Dieser Mann hat einen Sohn mit seiner eigenen Milch gestillt. Als die Mutter krank wurde , nahm der Vater das Kind, um es zu beruhigen, in sein Bett und drückte es an seine Brust . Lozano war zweiunddreißig Jahre alt und hatte bis dahin keine Milch in der Brust verspürt; aber die Reizung der Warze , an der das Kind sog, bewirkte die Ansammlung dieser Flüssigkeit. Die Milch war fett und sehr süß . Der Vater, über das Anschwellen seiner Brust erstaunt, reichte sie dem Kind und stillte es fünf Monate zwei- bis dreimal täglich. Er erregte die Aufmerksamkeit der Nachbarn, dachte aber nicht daran , wie es in Europa geschehen wäre , die Neugier der Leute sich zunutze zu machen . Wir sahen das Protokoll der bemerkenswerten Tatsache , an Ort und Stelle aufgenommen , und die noch lebenden Augenzeugen versicherten uns , der Knabe habe , solange er gestillt wurde , neben der Vatermilch keine andere Nahrung erhalten. Lozano, der sich während unserer Reise in den Mis­ sionen nicht in Arenas befand, besuchte uns nachher in Cumami. Sein drei­ zehn oder vierzehn Jahre alter Sohn begleitete ihn . Herr Bonpland, der des Vaters Brust aufmerksam untersuchte , fand sie wie bei Frauen, welche Kinder gestillt haben , runzlig. Er bemerkte , daß vorzüglich die linke Brust sehr ausgedehnt war, welches Lozano uns durch den Umstand erklärte , daß beide Brüste nie in gleichh Menge Milch lieferten . Der Gouverneur der Provinz, Don Vicente Empan:'in, hat eine ausführliche Beschreibung des Vor­ falls nach Cadiz gesandt . Die Fälle sind unter Menschen und Tieren nicht eben selten , wo männ­ liche Brüste Milch enthielten, und das Klima scheint keinen besonders aus­ gezeichneten Einfluß auf diese mehr oder weniger häufige Absonderung aus­ zuüben. Die Alten erwähnen die Milch der Böcke auf Lemnos und Korsika . Neuerlich noch wurde im Hannoverschen ein Bock bekannt, der eine Reihe von Jahren Tag für Tag gemolken wurde und mehr Milch als die Ziegen lie­ ferte . Unter den Anzeichen der behaupteten Schwäche der Amerikaner haben Reisende auch die in der männlichen Brust vorkommende Milch er­ wähnt. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich , daß diese Erscheinung jemals

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bei einer ganzen Völkerschaft in einer den neueren Reisenden unbekannt ge­ bliebenen Gegend von Amerika beobachtet worden sei; und ich kann versi­ chern , daß sie gegenwärtig auf dem Neuen Kontinent nicht häufiger vor­ kommt als auf dem Alten. Der Landmann aus Arenas, dessen Geschichte soeben erzählt wurde , gehört nicht zu dem kupferfarbigen Stamm der Chaimas-Indianer. Er ist ein Weißer von europäischer Abstammung. Au­ ßerdem haben die Anatomen in St. Petersburg beobachtet, daß beim ge­ meinen Volk in Rußland die Milch in der Brust der Männer viel häufiger ist als unter den südlicheren Nationen, und die Russen hat man nie als schwach oder weibisch betrachtet. Es gibt unter den Spielarten unserer Art eine Menschenrasse, deren Brust zur Zeit der Mannbarkeit einen recht beträchtlichen Umfang aufweist . Lo­ zano gehörte nicht zu diesen , und er hat uns wiederholt versichert , daß ihm einzig der durch das Saugen bewirkte Reiz der Brustwarze die Milch kommen ließ . Dies bestätigt die schon im Altertum gemachte Beobachtung, daß Männer, die ein wenig Milch haben, sie reichlich geben, sobald man an ihren Warzen saugt. Diese sonderbaren Wirkungen des Nervenreizes waren den Hirten Griechenlands wohlbekannt ; die Hirten auf dem Berge Öta rieben die Zitzen von Ziegen , die noch nicht getragen hatten, mit Nesseln , um ihnen Milch zu verschaffen . Denkt man über das Ganze der Erscheinungen des Lebens nach , so findet man , daß keine gänzlich isoliert ist. In allen Jahrhunderten führte man Bei­ spiele von noch nicht mannbaren jungen Mädchen oder von Frauen an, deren Brüste infolge des Alters welk geworden waren, die Kinder stillten. Die Beispiele von Männern sind unendlich viel seltener, und ich habe nach vielen Recherchen kaum zwei oder drei gefunden. Das eine meldet Alex­ ander Benedictus, Anatom in Verona, der Ende des 15 . Jahrhunderts lebte . Er erzählt die Geschichte eines Einwohners von Syrien , der, um sein schrei­ endes Kind nach dem Tode der Mutter zu besänftigen, es an seine Brust drückte . Die Milch fand sich bald darauf in solcher Menge ein, daß der Vater es ganz allein übernehmen konnte , sein Kind zu säugen. Andere Beispiele finden sich bei Santorellus , Faria und Roberth , dem Bischof von Cork. Da die meisten dieser Erscheinungen in ziemlich fernen Zeiten beobachtet worden sind, so ist es für die Physiologie nicht gleichgültig, daß sie in un­ seren Tagen bestätigt wurden . Sie schließen sich übrigens sehr genau an die viel besprochene Frage über die letzten Ursachen an. Das Dasein der Brust­ warze beim Mann hat die Philosophen lange in Verlegenheit gesetzt, und kürzlich noch trug man kein Bedenken zu behaupten, die Natur habe dem einen Geschlecht das Vermögen des Säugens versagt, weil dieses Geschäft mit der Würde des Mannes unverträglich sei . *

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Nahe bei der Stadt Cumanacoa wird das Land ebener, und das Tal erwei­ tert sich allmählich. Die kleine Stadt ist auf einer mäßigen, fast kreisför­ migen , von hohen Bergen umringten Fläche erbaut; sie gewährt einen dü­ steren und traurigen Anblick . Ihre Bevölkerung beträgt kaum 2300 Ein­ wohner; zur Zeit des Paters Caulin , im Jahre 1753, betrug sie nur 600. Die Häuser sind niedrig, wenig dauerhaft und , drei oder vier ausgenommen , alle von Holz. Es gelang uns jedoch, unsere Instrumente auf eine ziemlich gün­ stige Weise beim Verwalter der Tabakregie , Don Juan Sanchez, aufzustellen. Dieser liebenswürdige und geistvolle Mann hatte uns eine geräumige und bequeme Wohnung bereitet . Wir brachten vier Tage bei ihm zu, und er war so gefällig, uns auf allen unseren kleinen Wanderungen zu begleiten. Cumanacoa wurde 1717 von Domingo Arlas gegründet, als er von einem Streifzug nach der Mündung des Guarapiche zur Zerstörung einer Nie­ derlassung französischer Freibeuter zurückkam . Die neue Stadt führte erst den Namen Jan B altasar de las Arlas ; aber die indianische Benennung erhielt den Vorzug, so wie wiederum der Name Caracas den von Santiago de Lean in Vergessenheit brachte , der sich noch häufig auf unseren Karten findet. Bei Öffnung des Barometers war es auffallend, die Quecksilbersäule kaum um 7,3 Linien kürzer als an der Küste zu finden . Das Instrument schien inzwischen keinerlei Störung erlitten zu haben. Die Ebene oder vielmehr das Plateau, worauf die Stadt Cumanacoa erbaut ist, liegt nicht mehr als 104 Toisen über der Meeresfläche; es ist diese Erhöhung drei- oder viermal ge­ ringer, als die Einwohner von Cumana wegen ihrer übertriebenen Vorstel­ lung von der Kälte in Cumanacoa annehmen . Doch die Verschiedenheit des Klimas , die man zwischen so naheliegenden Gegenden antrifft , ist vielleicht weniger der Höhe des Ortes als örtlichen Umständen zuzurechnen, zu denen die Nähe der Waldungen, die Menge absteigender Strömungen, welche in geschlossenen Tälern s o häufig vorkommen, die vielen Regennie­ derschläge und die dichten Nebel gehören, die einen großen Teil des Jahres die unmittelbare Wirkung der Sonnenstrahlen schwächen . Weil die Wärme­ abnahme zwischen den Wendekreisen und den Sommer über in der gemä­ ßigten Zone ungefähr gleich ist, müßte der geringe Unterschied von 100 Toisen Höhe die mittlere Temperatur um nicht mehr als 1 bis I,SO verändern . Wir werden bald sehen , daß in Cumanacoa die Verschiedenheit über 4° be­ trägt. Dieses kühle Klima ist um so befremdlicher, als man in der Stadt Car­ tago , in Tomependa am Ufer des Amazonenflusses und in den westlich von Caracas gelegenen Tälern von Aragua noch einen sehr großen Hitzegrad spürt, obgleich die absolute Höhe dieser Orte zwischen 200 und 480 Toisen beträgt. In der Ebene wie auf den Bergen ziehen Isothermen nicht immer parallel mit dem Äquator oder mit der Erdoberfläche . Es ist die große Auf­ gabe der Meteorologie , die Biegungen dieser Linien zu bestimmen und

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mitten unter den durch örtliche Ursachen veranlaßten Abweichungen die beständigen Gesetze der Wärmeverteilung auszumitteln . Der Hafen von Cumami liegt von Cumanacoa nur ungefähr sieben lieues marines entfernt. Am ersten dieser zwei Orte regnet es fast nie , während die Winterzeit [= Regenzeit] des letzteren sieben Monate andauert. In Cuma­ nacoa herrschte die Trockenheit von der Sonnenwende im Winter bis zur Ta­ gundnachtgleiche im Frühjahr; im April, Mai und Juni fällt öfters einiger Regen; alsdann kehrt die Trockenheit zurück und dauert von der Sommer­ sonnwende bis Ende August , wo nun die eigentliche Regenzeit des Winters anfängt, die bis in den November dauert und während welcher das Wasser in Strömen vom Himmel fällt . Zufolge der Breite von Cumanacoa geht die Sonne durch den Zenit des Standorts zum ersten Mal am 16. April und zum zweiten Mal am 27. August . Man sieht aus dem Vorbemerkten, daß diese zwei Durchgänge mit dem Anfang der Regenzeit und den großen elektri­ schen Explosionen zusammentreffen . Unser erster Aufenthalt in den Missionen fiel in die Wintermonate [ Re­ genzeit] , zur Nachtzeit war dichter Nebel wie eine gleichförmige Decke be­ ständig über den Horizont ausgebreitet, und nur in einzelnen hellen Mo­ menten gelang es mir, einige Sternbeobachtungen auszuführen. Das Ther­ mometer hielt sich auf 18,5 bis 20°, was in diesem Erdstrich und für Rei­ sende , die von den Küsten herkommen , eine ziemlich kühle Luft andeutet . Ich habe in Cumana die Temperatur der Nacht nie unter 21° wahrge­ nommen. Delucs Hygrometer war in Cumanacoa auf 8SO angestiegen; und, was sehr bemerkenswert ist, sobald die Dünste sich zerstreuten und die Ge­ stirne hell leuchteten, ging das Instrument bis auf 55° zurück. Dieser Unter­ schied der Trockenheit von 30° würde Saussures Hygrometer nur um 11° ver­ ändert haben . Gegen Morgen ging die Veränderung der Temperatur, der starken Ausdünstung wegen , nur langsam vor sich , und um 10 Uhr war sie noch nicht über 21 ° angestiegen . Am stärksten ist die Hitze zwischen Mittag und 15 Uhr, wo das Thermometer zwischen 26 und 27° steht. Der Zeitpunkt der größten Wärme , der ungefähr zwei Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Meridian eintritt, wurde sehr regelmäßig durch ein in der Nähe donnerndes Gewitter bezeichnet . Dicke , schwarze und sehr tief ste­ hende Wolken lösten sich in Regen auf; diese Gußregen dauerten zwei bis drei Stunden und verursachten ein Fallen des Thermometers um 5 bis 6°. Gegen 17 Uhr war der Regen völlig zu Ende, die Sonne zeigte sich wieder kurz vor ihrem Niedergang und das Hygrometer deutete auf Trockenheit, aber um 20 oder 21 Uhr wurden wir neuerdings von einer dichten Dunst­ schicht umhüllt. Diese verschiedenen Wechsel dauern, wie man uns versi­ cherte , in gleichförmiger Ordnung monatelang fort, während man keinerlei Spur von Wind wahrnimmt. Vergleichende Versuche lassen mich glauben, daß überhaupt die Nächte in Cumanacoa um 2 bis 3 und die Tage um 4 bis 5° =

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( des Centesimalthermometers ) kühler sind als im Hafen von Cumami. Diese Unterschiede sind bedeutend; und wenn man statt nach meteorologi­ schen Instrumenten nur nach dem eigenen Gefühle urteilen wollte , würde man sie für noch bedeutender halten.

[Zum Tabakanbau im Tal von CumanacoaJ

Der Pflanzenwuchs in der Ebene in der Stadt ist ziemlich einförmig, aber wegen der extremen Feuchtigkeit der Atmosphäre von sehr lebhafter Farbe . Was ihn vorzüglich auszeichnet , ist ein baumartiges Nachtschattengewächs [Solanum arborescensJ, das vierzig Fuß Höhe erreicht, die Urtica baccifera und eine neue Art der Gattung Guettarda. Das Land ist sehr fruchtbar, und es wäre auch leicht zu bewässern , wenn man an zahlreichen Bächen, die das ganze Jahr durch nie austrocknen , Ableitungsgräben bauen würde . Das wichtigste Erzeugnis des Bezirkes ist der Tabak; durch ihn allein konnte die so kleine und so schlecht gebaute Stadt einigen Ruf erlangen . Seit Einfüh­ rung der Pacht (estanco real de Tabaco) im Jahre 1779 wurde der Tabakanbau in der Provinz Cumana fast ausschließlich auf das Tal von Cumanacoa be­ schränkt , wie er in Mexico nur in den zwei Bezirken von Orizaba und C6rdoba erlaubt ist. Das System dieser Pacht ist ein dem Volk sehr verhaßtes Monopol. Die ganze Tabakernte muß an die Regierung verkauft werden, und zur Verhinderung oder vielmehr zur Verminderung von Betrug fand man es am einfachsten, seinen Anbau auf einen einzigen Ort zu be­ schränken . Bestellte Aufseher durchstreifen das Land, um die außerhalb der bevorrechteten Bezirke angetroffenen Pflanzungen zu zerstören und um die unglücklichen Einwohner anzugeben , die sich unterstehen , selbstverfertigte Zigarren zu rauchen. Diese Aufseher sind großenteils Spanier, und sie sind auch fast so grob wie ihre Amtsgenossen in Europa. Ihre Unverschämtheit trug nicht wenig zur Aufrechterhaltung des Hasses zwischen den Kolonien und dem Mutterland bei . Nach dem Tabak von Cuba und dem Rio Negro ist der von Cumana beson­ ders aromatisch. Er übertrifft allen in Neu-Spanien und in der Provinz Barinas gepflanzten Tabak. Wir teilen über seinen Anbau einige Nachrichten mit , da er von dem in Virginien befolgten wesentlich abweicht . Das äußerst üppige Wachstum, welches man an den Pflanzen aus der Nachtschattenfami­ lie im Tale von Cumanacao , hauptsächlich an den zur Höhe von Bäumen an­ wachsenden Arten des Solanum, an den Gattungen Aquartia und Cestrum wahrnimmt, scheint bereits anzudeuten, daß diese Gegend für den Ta­ bakbau überaus günstig sein müsse . Seine Aussaat geschieht Anfang Sep­ tember; bisweilen wartet man damit bis in den Dezember, was aber der Ernte nicht vorteilhaft ist. Die Samenblätter entwickeln sich am achten Tag;

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die jungen Pflanzen deckt man mit Blättern der Heliconie und der Banane zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen, und das in den Tropenländern furchtbar schnell wuchernde Unkraut wird sorgfältig ausgerodet. Alsdann verpflanzt man den Tabak in fettes und wohlgelockertes Erdreich, sechs Wo­ chen , nachdem der Samen aufgegangen ist . Die Pflanzen kommen in gere­ gelten Reihen 3 bis 4 Fuß voneinander zu stehen; sie werden fleißig gejätet und der Hauptstengel auch mehrmals ab geköpft , bis blaugrüne Flecken dem Pflanzer die Reife der Blätter verraten . Im vierten Monat beginnt das Ein­ sammeln, und diese erste Ernte wird meist in wenigen Tagen beendet. Man würde besser tun, die Blätter nur nach Maßgabe , wie sie ausdörren, zu pflücken. In guten Jahren wird die Pflanze, wenn sie vier Fuß hoch ist, abge­ schnitten , und der Wurzeltrieb entwickelt neue Blätter mit solcher Schnellig­ keit , daß man sie schon am 13 . oder 14. Tag pflücken kann; das Zellgewebe dieser späteren Blätter ist sehr locker; sie enthalten mehr Wasser, mehr Ei­ weiß und dafür weniger von dem flüchtigen , scharfen, in Wasser nicht lösli­ chen Stoff, auf dem die erregende Kraft des Tabaks zu beruhen scheint. Die Behandlung und Zubereitung des eingesammelten Tabaks, welche man in Cumanacoa befolgt, ist die von den Spaniern de eura seca genannte. Herr de Pons hat sie recht gut beschrieben , so wie sie in Uritucu und in den Tälern von Aragua üblich ist. Die Blätter werden an Fasern der Cocuiza (Agave amerieana) aufgehängt; man löst die Rippen davon ab und dreht sie in Seile . Der zugerüstete Tabak müßte im Juni nach den königlichen Maga­ zinen gebracht werden; aber die Einwohner werden teils aus Trägheit, teils, weil sie den Mais- und Maniocpflanzungen mehr Sorgfalt widmen, damit meist erst im August fertig. Man sieht leicht ein, daß die einer ungemein feuchten Luft allzulang ausgesetzten Blätter von ihrer anregenden Eigenart einbüßen . Der Pachtverwalter läßt den in die königlichen Magazine gebrachten Tabak zwei Monate unberührt liegen . Nach Ablauf dieser Zeit werden die Bündel geöffnet, um ihren Gehalt zu prüfen. Findet der Verwalter den Tabak gut zubereitet, bezahlt er dem Pflanzer die arroba , die 25 Pfund wiegt , zu 3 Piaster. Dasselbe Gewicht wird nachher auf königliche Rechnung zu 12V2 Piaster verkauft. Der verdorbene (podrido) Tabak, der in neue Gärung übergegangen ist, wird öffentlich verbrannt, und der Pflanzer, der von der königlichen Pacht Vorschüsse erhalten hat, verliert unwiderruflich die Frucht seiner langen Arbeit. Wir sahen auf dem Großen Platz Haufen von 500 arrobas verbrennen, die man in Europa gewiß zur Bereitung von Schnupftabak benutzt hätte . Der Boden von Cumanacoa ist für dieses Landeserzeugnis so vorzüglich geeignet, daß der Tabak überall verwildert, wo sein Samen einige Feuchtig­ keit antrifft. So wächst er ohne Anbau in Cerro deI Cuchivano und in der Nähe der Höhe von Caripe. Die einzige Art der Tabakgattung , welche zu Cu-

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manacoa sowohl wie in den angrenzenden Bezirken von Aricagua und San Lorenzo gepflanzt wird, ist übrigens der Tabak mit breiten aufsitzenden Blät­ tern (Nicotiana tabacum) , den man virginischen Tabak nennt. Den Tabak mit gestielten Blättern (Nicotiana rustica) kennt man hingegen nicht; dieser ist der wahre yeti der alten Mexicaner, obgleich er in Deutschland den selt­ samen Namen Türkentabak führt . Wäre die Tabakpflanzung frei, so könnte die Provinz Cumana einen großen Teil Europas damit versorgen ; es scheint sogar, daß andere Bezirke diesem Zweig der Kolonialindustrie nicht weniger günstig sein würden als das Tal von Cumanacoa, wo ein allzu häufiger Regen öfters die aromatischen Eigenschaften der Blätter schwächt. Gegenwärtig, da der Anbau auf den Raum einiger Quadratlieues beschränkt ist, beträgt der Gesamtertrag der Ernte nicht über 6000 arrobas . Der Verbrauch der Provinzen Cumana und Barcelona steigt jedoch auf 12 000 an; das Fehlende wird aus dem spanischen Guayana geliefert. Es sind überhaupt nur 1500 Personen, die sich in der Ge­ gend von Cumanacoa mit dem Tabakbau beschäftigen. Es sind lauter Weiße ; die Chaimas-Indianer werden durch Hoffnung auf Gewinn nicht leicht dazu angelockt, und die Pachtverwaltung hält es nicht für geraten , ihnen Vor­ schüsse zu zahlen. B eim Nachdenken über die Geschichte unserer Kulturpflanzen nimmt man mit B efremden wahr, daß vor Eroberung des Landes der Gebrauch des Tabaks im größten Teil Amerikas verbreitet war, während die Kartoffel sowohl in Mexico wie auf den Inseln der Antillen, wo sie doch ebensogut wie in den B erggegenden vorkommt , völlig unbekannt blieb . Ebenso wurde der Tabak in Portugal seit 1559 angebaut, während die Kartoffel erst Ende des 17. Jahrhunderts ein Gegenstand des europäischen Acker­ baus geworden ist . Diese letztere Pflanze, die einen so großen Einfluß auf das Wohl der menschlichen Gesellschaft hatte , verbreitete sich auf beiden Kontinenten ungleich viel langsamer als ein Erzeugnis, welches nur als Gegenstand des Luxus betrachtet werden kann .

[Zur Indigoerzeugung]

Nach dem Tabak gilt dem Indigo der wichtigste Anbau im Tal von Cuma­ nacoa. Die Indigopflanzungen in Cumanacoa, San Fernando und Arenas lie­ fern eine Ware , die im Handel der von Caracas noch vorgezogen wird und die nicht selten durch Glanz und Farbenreichtum dem Indigo von Guate­ mala nahekommt. Aus dieser Provinz erhielt man an den Küsten Cumanas den ersten Samen der Indigo/era anil, die mit der Indigo/era tinctoria ge­ meinsam gezogen wird. Weil im Tal von Cumanacoa sehr häufig Regen fällt, so liefert eine vier Fuß hohe Pflanze nicht mehr Farbstoff, als eine dreimal

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kleinere in den ariden Tälern von Aragua, westlich der Stadt Caracas, ent­ halten würde . Alle von uns besichtigten Indigowerke sind nach gleichen Grundsätzen eingerichtet. Zwei Einweichtröge oder Bottiche , die das zum Faulen be­ stimmte Kraut aufnehmen, werden zusammengefügt. Jeder faßt 15 Qua­ dratfuß bei 2V4 Fuß Tiefe . Die oberen Bottiche gießen die Flüssigkeit auf die Behälter mit den Stampfern aus , zwischen denen die Wassermühle ange­ bracht ist. Der große Radbaum geht durch beide Behälter; er ist mit langge­ stielten, zum Stampfen geeigneten Löffeln versehen. Aus einem weiten Ab­ seihebottich wird der färbende Bodensatz in die Trockenkästen gebracht, wo er auf Brettern von Brasilholz ausgelegt wird und mittels Rollrädchen , wenn unvorhergesehener Regen eintrifft, unter Dach gebracht werden kann. Diese geneigten und sehr niedrigen Dächer geben den Trockenkästen das Aussehen von Gewächshäusern . Ich will hier in keine ausführlicheren An­ gaben über die Verfertigung der Kolonialprodukte eintreten . Ich setze voraus, der Leser sei mit der Theorie der auf die Gewerbekunst ange­ wandten Chemie vertraut, und beschränke mich auf Beobachtungen , die einige noch weniger aufgehellte Fragen beleuchten können . Im Tal von Cu­ manacoa geht die Gärung des der Fäulnis ausgesetzten Krautes außeror­ dentlich schnell vor sich . Sie dauert gewöhnlich nur 4 bis 5 Stunden. Diese kurze Dauer muß einzig dem humiden Klima und dem mangelnden Sonnen­ schein während der Entwicklung der Pflanze zugeschrieben werden . Ich glaubte auf meinen Reisen zu bemerken , daß , je trockener das Klima ist und je langsamer der Weichtrog arbeitet, desto mehr auch die Stengel Indigo beim niedrigsten Grad der Oxidation abgeben . In der Provinz Caracas, wo 562 Kubikfuß des locker aufgehäuften Krautes 35 bis 40 Pfund trockenen In­ digo liefern , geht die Flüssigkeit erst nach 20, 30 oder 35 Stunden in die Stampfer. Wahrscheinlich könnten die Einwohner von Cumanacoa mehr fär­ bende Materie aus der von ihnen benutzten Pflanze gewinnen , wenn sie diese im ersten Weichtrog länger einweichten . Ich habe während meines Aufenthalts in Cumami dem ein wenig schweren und kupferhaltigen Indigo von Cumanacoa und den von Caracas vergleichsweise in Schwefelsäure auf­ gelöst . Die Auflösung des ersteren schien mir viel stärker blaugefärbt. Trotz der Fruchtbarkeit des Bodens und vortrefflicher Erzeugnisse steckt jedoch die Landwirtschaft von Cumanacoa noch in den Kinderschuhen. Arenas , San Fernando und Cumanacoa liefern dem Handel nicht mehr als 3000 Pfund Indigo , deren Wert im Lande 4500 Piaster beträgt. Es mangelt an arbeitenden Händen, und die geringe Bevölkerung vermindert sich noch täglich durch Auswanderungen in die Llanos. Diese ungeheuren Savannen bieten dem Menschen durch die Leichtigkeit, womit der Viehbestand ver­ mehrt wird, Nahrung im Überfluß dar, während der Indigo- und Tabakbau besondere Vorsicht erheischen. Der Ertrag dieses Anbaus wird um so unge-

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wisser, als der Winter von längerer oder kürzerer Dauer ist . Der Pflanzer hängt von der königlichen Pacht ab , die ihm Geldvorschüsse zahlt; und hier wie in Georgia und Virginia wird der Anbau der Nahrungspflanzen dem des Tabaks vorgezogen . Man hatte kürzlich der Regierung vorgeschlagen , auf Kosten des Königs 400 Neger zu kaufen und unter die Pflanzer zu verteilen , die imstande sein würden , die vorgeschossene Kaufsumme in zwei bis drei Jahren zu erstatten . Dadurch hoffte man die j ährliche Tabakernte bis auf 15 000 arrobas bringen zu können . Mit Vergnügen bemerkte ich, daß dieser Plan von vielen Gutsbesitzern mißbilligt wurde . Daß nach dem Beispiel einiger Teile der Vereinigten Staaten den Negern oder ihren Nachkommen nach einer gewissen Zahl von Jahren die Freiheit geschenkt würde , durfte man nicht hoffen, und man mußte , zumal seit den unglücklichen Ereignissen auf der Insel Santo Domingo , eine Vermehrung der Sklavenzahl in Tierra Firme fürchten . Eine kluge Staatskunst trifft nicht selten in ihren Wirkungen mit denen der edleren und selteneren Gefühle des Rechts und der Mensch­ lichkeit zusammen. *

Die mit Häfen und kleinen Indigo- und Tabakpflanzungen besetzte Ebene von Cumanacoa ist von Bergen umringt, deren Höhe besonders auf der Süd­ seite beträchtlich ist und die dem Naturkundigen und dem Geologen glei­ ches Interesse darbieten. Alles verrät , daß der Talgrund das Bett eines vor­ maligen Sees ist; auch sind die Berge , die vormals sein Ufer bildeten , nach der Ebene zu alle steil abfallend. Die Wasser des Sees hatten nur gegen Arenas hin Abfluß . Bei Grabungen , die für den Häuserbau angestellt wurden, fand man in der Nähe von Cumanacoa Bänke von glatten Kiesel­ steinen , mit zweischaligen kleinen Muscheln vermengt . Den Angaben sehr glaubwürdiger Personen zufolge wurden sogar vor mehr als 30 Jahren in der tiefen Schlucht von San Juanillo zwei überaus große , vier Fuß lange und über 30 Pfund schwere Schenkelknochen entdeckt . Die Indianer hielten sie - so wie noch heutzutage beim einfachen Volk in Europa der Glaube herrscht für Riesenknochen, während die Halbgelehrten des Landes , die alles zu er­ klären berechtigt sind , ganz ernsthaft versicherten , es seien dies keiner Auf­ merksamkeit werte Naturspiele . Ihre Behauptung gründeten sie zunächst auf den Umstand, daß das Erdreich von Cumanacoa die Menschenknochen schnell auflöst. Zum Kirchenschmuck am Totenfest holt man Schädel von den Gottesäckern, welche nahe bei den Küsten liegen und deren Erdreich mit Salzteilen erfüllt ist. Die angeblichen Riesenschenkel wurden nach dem Hafen von Cumana gebracht, wo ich mich vergeblich danach erkundigte ; doch den fossilen Knochen zufolge , die ich in einigen anderen Gegenden des südlichen Amerika zu sammeln Anlaß hatte und die durch Herrn Cuvier genau untersucht wurden , ist es wahrscheinlich , daß die Riesengebeine von

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Cumanacoa einer verlorengegangenen Elefantenart angehörten . Es kann Befremden erregen, daß sie in einer Gegend gefunden wurden, die so wenig über den gegenwärtigen Wasserstand emporsteht; außerdem ist es eine sehr bemerkenswerte Tatsache , daß die Bruchstücke der Mastodonten und der fossilen Elefanten , die ich in den Äquinoktialgegenden von Mexico , Neu­ Granada, Quito und Peru sammelte, nicht in den tiefgelegenen Gegenden (wie in der gemäßigten Zone die Megatherien von Rio Luxan und Virginia, die großen Mastodonten am Ohio und die fossilen Elefanten von Susque­ hana) , sondern auf den 600 bis 1400 Toisen hohen Ebenen gefunden wurden. Wenn man das südliche Gestade des Beckens von Cumanacoa erreicht hat, genießt man die Fernsicht von Turimiquiri . Eine gewaltige Felsen­ mauer, der Überrest eines jähen Gestades, erhebt sich mitten im Wald. Mehr westlich, am Cerro deI Cuchivano , scheint die Bergkette wie durch ein Erdbeben zerrissen . Die Spalte ist über 150 Toisen breit , sie wird von steil ab­ fallenden Felsen umgeben und ist mit Bäumen besetzt , deren miteinander verschlungene Äste nicht Raum finden , um sich auszudehnen. Man glaubt, ein durch Einsinken des Erdreichs geöffnetes Bergwerk zu sehen. Ein Wald­ strom, der Rio Juagua, fließt durch diese Bergschlucht, die ein höchst male­ risches Aussehen hat und Risco deI Cuchivano heißt. Der Bach entspringt südwestlich in einer Entfernung von 7 lieues am Fuß des Bergantfn und bildet schöne Wasserfälle , ehe er sich in die Ebene von Cumanacoa ergießt . Wir besuchten mehrmals einen kleinen Pachthof, welcher der Berg­ schlucht von Cuchivano gegenüberliegt und Conuco de Bermudez heißt. Man pflanzt dort im feuchten Erdreich Banane , Tabak und verschiedene Arten der Baumwollstaude [ Gossipium uniglandulosum , das uneigentlich krautartig (herbaceum) benannt wird, und G. barbadense] , vorzüglich dieje­ nige , deren Baumwolle die gelbe Farbe des Nanking hat und auf der Marga­ ritainsel so allgemein ist [G. religiosumJ. Der Besitzer des Hofes versicherte uns , die Schlucht sei von amerikanischen Tigern (Jaguaren) bewohnt. Diese Tiere bleiben den Tag über in ihren Höhlen und streichen nächtlicherweile um die Wohnungen herum . Weil sie gut genährt sind, werden sie bis auf 6 Fuß lang. Einer dieser Tiger hatte voriges Jahr ein dem Meierhof zugehöriges Pferd verzehrt. Er schleppte seine Beute bei hellem Mondschein quer über die Weide unter einen sehr großen Ceibabaum . Das Stöhnen des sterbenden Tieres hatte die Sklaven des Hofes geweckt. Sie traten mit Lanzen und Ma­ cheten* bewaffnet mitten in der Nacht aus dem Haus . Der Tiger, auf seine Beute gelagert , erwartete ruhig ihre Ankunft und unterlag erst nach langem *

Große, mit sehr langen Klingen versehene, den Jagdmessern ähnliche Messer.

In der heißen Zone geht niemand ins Gehölz , ohne mit einer Machete versehen zu sein , teils um sich durch das Abschneiden von Baumästen und Lianen Weg zu bahnen, teils zum Schutz gegen wilde Tiere .

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und hartnäckigem Widerstand. Diese und andere Tatsachen mehr, die an Ort und Stelle beglaubigt wurden, beweisen , daß der große Jaguar Tierra Firmes gleich dem Jaguar aus Paraguay und dem wahren asiatischen Tiger vor dem Menschen nicht flieht, wenn dieser den Kampf mit ihm bestehen will und wenn die Zahl der Angreifer ihn nicht abschreckt. Die Naturforscher haben sich jetzt überzeugt , daß Buffon die größte der amerikanischen Katzenarten völlig verkannt hat. Was dieser berühmte Schriftsteller von der Feigheit der amerikanischen Tiger sagt, bezieht sich auf den kleinen Ozelot , und wir werden bald sehen , daß am Orinoco der wahre amerikanische Tiger, der Ja­ guar, bisweilen ins Wasser springt, um die Indianer in ihren Pirogen oder kleinen Nachen anzugreifen. Dem Gehöft von Bermudez gegenüber öffnen sich in der Bergschlucht des Cuchivano zwei geräumige Höhlen, aus denen von Zeit zu Zeit Flammen hervortreten, die man nächtlich von weitem sieht . Die benach­ barten Berge werden von ihnen beleuchtet; und nach der Höhe der Felsen zu schließen, über denen diese feurigen Emanationen sich erheben , könnte man zu glauben versucht sein, daß sie zu einer Höhe von mehreren 100 Fuß ansteigen. Zur Zeit des letzten großen Erdbebens von Cumana war diese Er­ scheinung mit einem unterirdischen , dumpfen und andauernden Getöse ver­ bunden. Sie zeigt sich vorzüglich während der Regenzeit, und die Besitzer der dem Berg von Cuchivano gegenüberliegenden Höfe behaupten , die Flammen seien seit Dezember 1797 häufiger geworden. Beim Pflanzensammeln in Rinconada versuchten wir vergeblich, in die Bergschlucht einzudringen. Wir wünschten die Felsen in der Nähe zu unter­ suchen, die in ihrem Schoß die Ursachen dieser außerordentlichen Entzün­ dungen zu verschließen scheinen. Der mächtige Pflanzenwuchs, die unter sich verschlungenen Lianen und dornigen Pflanzen hinderten uns, vorzu­ dringen. Glücklicherweise nahmen die Bewohner des Tales selbst lebhaften Anteil an unseren Forschungen, weniger aus Furcht vor einem vulkanischen Ausbruch, als weil ihre Phantasie die Idee ergriffen hatte , der Risco deI Cu­ chivano enthalte eine Goldmine . Wir konnten getrost unsere Zweifel über das Dasein von Gold in einem muschelhaltigen Kalkstein vortragen; sie be­ gehrten einfach zu wissen , was "der deutsche Bergmann von dem Reichtum der Ader dächte" . Seit Karls V. Zeit und seit dem Gouvernement der WeIser, Alfinger und Sailer in Coro und in Caracas bewahrt das Volk von Tierra Firme ein großes Vertrauen zu den Deutschen in allem , was sich auf die Aus­ beutung der Minen bezieht. Überall, wo ich im südlichen Amerika hinkam , wurden mir, sobald man mein Geburtsland wußte , Erzstücke vorgewiesen . Jeder Franzose wird in diesen Kolonien für einen Arzt und jeder Deutsche für einen Bergmann gehalten . Die Pächter öffneten mit Hilfe ihrer Sklaven einen Weg durch den Wald bis zum ersten Wasserfall des Rio Juagua, und am 10 . September [1799] un-

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ternahmen wir unsere Exkursion nach dem Cuchivano . Beim Eintritt in die Schlucht erkannten wir die Nähe der Tiger sowohl durch ein frisch ausgewei­ detes Stacheltier als an ihrem stinkenden, der europäischen Katze ähnlichen Kot. Um größerer Sicherheit willen kehrten die Indianer nach dem Hof zu­ rück, um Hunde einer sehr kleinen Rasse zu holen. Man behauptet, beim Zusammentreffen auf einem schmalen Pfad falle der Jaguar den Hund eher als den Menschen an. Wir wanderten nicht dem Ufer des Waldstroms ent­ lang , sondern am Abhang der über dem Wasser gleichsam hängenden Felsen . Man geht längs einem 200 bis 300 Fuß tiefen Abgrund auf einer Art schmalen vorstehenden Gesimses, dem Pfad ähnlich, der von Grindelwald längs des Mettenbergs nach dem großen Gletscher führt . An der Stelle, wo dieser Pfad so schmal wird, daß man keinen Fuß mehr aufsetzen kann , steigt man zum Waldstrom hinab , durchwatet ihn entweder oder läßt sich von einem Sklaven hinübertragen und erklimmt die jenseitige Mauer. Dieses Heruntersteigen ist nicht wenig beschwerlich , und man darf den Lianen, die wie dicke Seile von den Gipfeln der Bäume herabhängen , nicht trauen. Die Ranken- und Schmarotzerpflanzen hängen nur locker an den Ästen, die sie umschlingen; ihr vereintes Gewicht ist beträchtlich , und man kann leicht eine ganze grüne Laube niederreißen , wenn man, an einem Abhang hinge­ hend, sich an Lianen hängen will. Je weiter wir vordrangen , desto dichter wurde der Pflanzenwuchs . An verschiedenen Orten war der Kalkfels durch Baumwurzeln gespalten , die sich zwischen seine Schichten eingedrängt hatten. Es wurde uns beschwerlich , die Pflanzen zu tragen, welche wir mit jedem Schritt pflückten. Cafia [Zuckerrohr] , Heliconia mit schönen Purpur­ blüten , Costus und andere der Amomumfamilie zugehörige Gewächse errei­ chen hier eine Höhe von 8 bis 10 Fuß. Ihr zartes und frisches Grün, der Sei­ denglanz und die außerordentliche Entwicklung ihres Fleisches bilden einen auffallenden Kontrast zu der braunen Schattierung der baumartigen Farn­ kräuter, deren Blätter zart ausgeschnitten sind. Die Indianer schnitten mit ihren großen Messern in die Baumstämme; sie machten uns aufmerksam auf diese schönen roten und goldgelben Holzarten, die unseren Tischlern und Drehern einst erwünscht sein werden . Sie zeigten uns eine 20 Fuß hohe Pflanze aus der Familie der Compositen (Lamarcks Eupatorium laevi­ gatum) , die durch den Glanz ihrer Purpurblüten ausgezeichnete Rose von Belveria [Brownea racemosa , Bredem. ined.] und das Drachenblut dieses Landes, das eine noch nicht beschriebene Art des Croton ist, dessen roter und zusammenziehender Saft zur Stärkung des Zahnfleisches gebraucht wird. Sie unterscheiden die verschiedenen Arten am Geruch und besonders durch das Kauen der Holzfasern. Zwei Eingeborene , denen man das gleiche Holz zu kauen gibt , werden meist unverzüglich den gleichen Namen ausspre­ chen . Wir konnten jedoch nur wenig Gebrauch von dem Scharfsinn unserer Führer machen, denn wie soll man sich Blätter, Blüten oder Früchte von

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Bäumen verschaffen , deren Äste in 50 bis 60 Fuß Höhe erst anfangen? Man ist überrascht, in dieser Felsschlucht die Rinden der Bäume und sogar noch den Boden mit Moosen und Flechten bedeckt zu finden . Diese Krypto­ gamen kommen hier ebenso häufig vor wie in den Nordländern. Die feuchte Luft und der Schatten sind ihrem Gedeihen günstig , obgleich die Tempe­ ratur den Tag über meist 25 und nachts 19° beträgt . Die Felsen, welche die Bergschlucht begrenzen , sind wie senkrechte Mauern abgeschnitten und bestehen aus derselben Kalkformation , die uns von Punta Delgada her begleitet hatte . Sie erscheint hier von grauschwärz­ licher Farbe , im Bruch dicht , bisweilen ins Körnige übergehend und mit kleinen weißen Kalkspatadern durchzogen . Man glaubt an diesen Merk­ malen den Alpenkalkstein der Schweiz und TIrols zu erkennen, welcher oft dunkel, obgleich jederzeit weniger als der Übergangskalkstein gefärbt ist. Aus der ersteren dieser Bildungen besteht der Cuchivano, der Kern des Im­ posible , und überhaupt fast die ganze Gruppe der hohen Gebirge von Neu­ Andalusien. Versteinerungen fand ich keine darin , aber die Einwohner ver­ sichern, daß an sehr hohen Orten ansehnliche Massen von Muschelschalen angetroffen werden . Dieselbe Erscheinung zeigt sich im Salzburgischen. Am Cuchivano enthält der Alpenkalkstein Schichten von Mergelschiefer, die bis zu 3 und 4 Toisen dicht sind. Diese geologische Tatsache erinnert einerseits an die Identität des Alpenkalksteins mit dem thüringischen Zech­ stein , andererseits an die Bildungsverwandtschaft zwischen Kalkstein der Alpen und dem des Jura . Die Mergelschichten brausen mit Säuren auf, ob­ gleich Kieselerde und Tonerde darin vorherrschen ; sie enthalten viel Koh­ lenstoff und färben bisweilen die Hand, wie es ein echter Vitriolschiefer tun würde . Die angebliche Goldmine des Cuchivano , die wir untersuchen sollten , war nichts anderes als die angefangene Ausschachtung in einer jener schwarzen Mergelschichten , die den Schwefelkies enthalten. Die Grabung liegt am rechten Ufer des Rio Juagua, an einer Stelle , der man sich nur vor­ sichtig nähern darf, weil der Waldstrom dort selbst über 8 Fuß tief ist. Die schwefelhaltigen Pyrite finden sich teils in Masse beieinander, teils liegen sie kristallisiert im Felsen zerstreut; ihre sehr helle goldgelbe Farbe verrät keinen Kupfergehalt: Sie sind mit Haarkies und mit Nieren von Stinkstein oder übelriechendem kohlenhaltigem Kalkstein untermischt. Der Wald­ strom läuft über der Mergelschicht , und da das Wasser die metallischen Körner wegspült, glaubt das Volk, vom Glanz der Schwefelkiese getäuscht, es führe Gold. Man erzählt, die Gewässer des Juagua hätten nach den hef­ tigen Erdstößen 1765 eine solche Menge Gold geführt, daß "Männer, die aus der Ferne kamen und deren Heimat unbekannt ist" , Goldwäschen errich­ teten; aber sie verschwanden wieder nächtlicherweile , nachdem sie große Reichtümer gesammelt hatten. Es wäre höchst überflüssig, das Märchen-

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hafte dieser Erzählung darzutun . Die in Quarzadern , die durch Glimmer­ schiefer laufen , enthaltenen Schwefelkiese sind zwar öfters goldhaltig, aber keine ähnliche Tatsache kann hier auf die Vermutung führen, daß das schwef­ lige Eisen, welches sich im Mergelschiefer des Alpenkalksteins findet , eben­ falls Gold enthalte . Einige direkte Versuche, die ich während meines Aufent­ halts in Caracas auf nassem Wege damit anstellte , beweisen, daß die Pyrite des Cuchivano ohne allen Goldgehalt sind. Unsere Führer tadelten meinen Unglauben; ich mochte ihnen immerhin sagen , man würde höchstens Alaun und schwefelsaures Eisen aus dieser angeblichen Goldmine erhalten, sie sammelten darum nicht minder insgeheim alle Stückehen Schwefelkies, die sie im Wasser glänzen sahen. Je weniger Bergwerke ein Land besitzt, desto übertriebenere Vorstellungen machen sich die Einwohner von der Leichtig­ keit , mit der man Reichtümer aus dem Schoß der Erde holt . Wie viele Zeit verloren wir nicht während fünf Jahren unserer Reise mit den auf dringende Empfehlungen unserer Hauswirte hin vorgenommenen Untersuchungen von Schluchten, deren schwefelkieshaltige Lager seit Jahrhunderten den pomphaften Namen Minas de oro führen ! Wie oft zwang es uns nicht ein Lä­ cheln ab , wenn wir Menschen aus allen Ständen , Magistratspersonen , Dorf­ pfarrer und ernste Missionare, mit der beharrlichsten Geduld Hornblende oder gelben Glimmer zerstoßen sahen , um mittels Quecksilber Gold daraus zu gewinnen ! Diese Wut, mit der man Erzgruben aufsucht, ist um so auffal­ lender in einem Klima, wo der Boden nur eines leichten Anbaus bedarf, um reiche Ernten zu liefern . Nach Besichtigung der pyrithaltigen Mergellager des Rio Juagua drangen wir weiter in der Bergschlucht vor, die sich wie ein schmaler und von hohen Bäumen beschatteter Kanal verlängert. Am linken Ufer, dem Cerro deI Cu­ chivano gegenüber, nahmen wir seltsam gebogene und verdrehte Schichten war. Ich hatte dieselbe Erscheinung bei der Fahrt über den Luzernersee am Achsenberg öfters bewundert. Übrigens behalten die Kalkschichten des Cu­ chivano und der benachbarten Berge ziemlich regelmäßig ihre Richtung von Nordnordost nach Südsüdwest . Ihre Neigung ist bald nördlich, bald südlich ; am häufigsten scheinen sie sich gegen das Tal von Cumanacoa hinab zu senken, und es liegt außer Zweifel, daß die Bildung dieses Tals auf die Schichtenneigung Einfluß hatte . Nach vielen Anstrengungen und vom öfteren Übersetzen des Waldstroms ganz durchnäßt, trafen wir am Fuß der Höhlen des Cuchivano ein . Eine Fels­ mauer erhebt sich senkrecht 800 Toisen hoch. Nur selten trifft man in einer Zone, deren kräftiger Pflanzenwuchs überall Land und Felsen deckt, die Schichten eines hohen Berges in senkrechtem Durchschnitt nackt an. Mitten in dieser Felsenwand, an einer dem Menschen leider unzugänglichen Stelle, öffnen sich spaltenförmig zwei Höhlen. Sie werden, wie man versichert, von eben jenen Nachtvögeln bewohnt, die wir bald in der Cueva deI Gm'icharo

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von Caripe kennenlernten. In der Nähe dieser Höhlen sahen wir Schichten von Mergelschiefer aus der Felsenmauer hervortreten , und tiefer am Rand des Waldstroms fanden wir zu unserem nicht geringen Erstaunen Berg­ kristall in Alpenkalksteinschichten eingeschlossen. Es waren sechsseitige Prismen, pyramidalisch zugespitzt, von 14 Linien Länge und 8 Linien Breite . Die vollkommen durchsichtigen Kristalle fanden sich vereinzelt, oft ein Kri­ stall vom anderen in drei bis vier Klafter Entfernung. Sie waren in der Kalk­ masse eingeschlossen wie die Quarzkristalle von Burgtonna [im Herzogtum Gotha] und die Boraciten von Lüneburg, welche in Gips eingeschlossen sind. In der Nähe zeigten sich weder Spalten noch irgendeine Spur von Kalk­ spat. Am Fuß der Höhle ruhten wir aus . Auf dieser Stelle sah man die Feuer­ flammen hervorkommen , die seit einigen Jahren häufiger bemerkt wurden. Unsere Führer und der Pächter, beide mit den Örtlichkeiten der Provinz wohlbekannt, unterhielten sich nach Art der Creolen über die Gefahren, denen die Stadt Cumanacoa ausgesetzt wäre, wenn der Cuchivano zum feu­ erspeienden Vulkan würde, se veniesse a reventar. Sie nahmen als unbezwei­ feIt an, daß Neu-Andalusien seit den großen Erdstößen von Quito und Cu­ mami 1797 durch unterirdische Feuer immer mehr unterhöhlt werde; sie be­ riefen sich auf die Flammen , die man zu Cumana aus der Erde emporsteigen sah, und auf die Erdstöße , die an Orten verspürt werden, wo vormals solche Erschütterungen ganz unbekannt waren. Die Tatsachen kamen uns auffal­ lend vor, auf die sie Vorhersagungen gründeten, welche seither fast alle in Erfüllung gingen. Entsetzliche Zerstörungen haben 1812 in Caracas stattge­ funden und dargetan , welche wilden Naturbewegungen im nordöstlichen Teil Tierra Firmes vorgehen. Woher rühren aber die feurigen Erscheinungen , die man am Cuchivano bemerkt? Ich weiß wohl, daß die Luftsäule , welche über dem Schlund bren­ nender Vulkane emporsteht, bisweilen in hellem Glanze leuchtend er­ scheint. Dieser Glanz, den man dem Wasserstoffgas zuschreibt, wurde von Chillo aus auf dem Gipfel des Cotopaxi zu einer Zeit beobachtet, wo der Berg vollkommen ruhig zu sein schien. Ich weiß, daß nach dem Zeugnis der Alten der Mons Albanus in der Nähe von Rom, jetzt unter dem Namen Monte Cavo bekannt, von Zeit zu Zeit bei Nacht feurig erschien; allein der Mons Albanus ist ein kürzlich erloschener Vulkan, der noch zu Catos Leb­ zeiten Rapilli auswarf, wohingegen der Cuchivano ein Kalkgebirge ist, woran durchaus nichts von Trappbildung vorkommt. Kann man die Flam­ men einer Zersetzung des Wassers zuschreiben , das mit dem im Mergel­ schiefer enthaltenen Schwefelkies in Berührung kommt? Ist es entzündetes Wasserstoffgas, das aus den Höhlen von Cuchivano hervorkommt? Die Mer­ gellagen sind, wie ihr Geruch zeigt, bituminös und schwefelkieshaltig zu­ gleich, und die mineralischen Teerquellen in Buen Pastor und auf der Insel

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Trinidad nehmen vielleicht in ebendiesem Alpenkalksteingebirge ihren Ur­ sprung. Es dürfte leicht sein, sich gegenseitigen Zusammenhang und Ver­ hältnisse zu denken zwischen dem in diesen Kalkstein infiltrierten und auf Pyritschichten zersetzten Wasser, den Erdbeben von Cumami und den schwefelhaltigen Wasserstoffquellen von Nueva Barcelona, den Ablage­ rungen gediegenen Schwefels in Canipano und den schwefelsauren Emana­ tionen , die man von Zeit zu Zeit in den Savannen verspürt ; es ist auch nicht zu zweifeln, daß die Zersetzung des Wassers durch Pyrite bei einem hohen Hitzegrad, durch die Verwandtschaft des Eisenoxids mit den erdigen Sub­ stanzen begünstigt, sehr wohl die Entwicklung von diesem Wasserstoffgas veranlassen könnte , dem verschiedene neuere Geologen eine so wichtige Rolle anweisen . Im allgemeinen aber zeigt sich die Schwefelsäure bei den vulkanischen Ausbrüchen viel beständiger als der Wasserstoff, und der Ge­ ruch dieser Säure ist es hauptsächlich, welcher bisweilen zur Zeit starker Erdstöße verspürt wird. Betrachtet man die Erscheinungen der Vulkane und der Erdstöße als Ganzes und erinnert man sich an die überaus weite Entfer­ nung, auf welche sich die Erschütterung unter dem Meeresgrund fort­ pflanzt, verzichtet man leicht auf Erklärungen , die von kleinen Schichten Schwefelkieses und bituminösen Mergels ausgehen . Ich denke , die Erd­ stöße , welche man so häufig in der Provinz Cumami verspürt , dürften eben­ sowenig den zutage liegenden Felsen zugerechnet werden, wie die Erdstöße in den Apenninen sich aus Asphaltadern oder aus Quellen entzündeten Erd­ öls erklären lassen. Alle diese Erscheinungen gehen aus allgemeineren, ich möchte fast sagen , tieferliegenden Ursachen hervor, und der Mittelpunkt der vulkanischen Wirksamkeit darf nicht in den Sekundärschichten , welche die äußere Rinde des Erdballs bilden , gesucht werden, sondern er hat seinen Sitz im Urgebirge und in einer sehr großen Entfernung von der Erd­ oberfläche . Je mehr die Geologie vorschreitet, desto einleuchtender wird die Unzulänglichkeit dieser, nur auf einige ganz örtliche Beobachtungen gegründeten Theorien . Meridianhöhen vom südlichen Fischgestirn, in der Nacht vom 7. Sep­ tember [1799] beobachtet, gaben für die Breite von Cumanacoa 10° 16' 11"; die geschätztesten Karten irren sich demnach um einen Viertelgrad. Die Nei­ gung der Magnetnadel fand ich von 42 ,60° und die Intensität der magneti­ schen Kräfte zu 228 Schwingungen in zehn Minuten Zeit: Demnach war die Stärke um neun Schwingungen oder um VZ5 geringer als in Ferrol. Am 12 . September setzten wir unsere Reise nach dem Kloster von Caripe , dem Hauptort der Chaimas-Missionen , fort. Dem geraden Weg zogen wir den Umweg über die Berge Cocollar und Turimiquiri vor, die nicht viel höher als der Jura sind. Der Weg führt anfangs in östlicher Richtung drei Meilen durch das Tal von Cumanacoa, über eine vormals durchs Wasser ver­ ebnete Fläche , hernach wendet er sich südlich. Wir kamen durch das kleine

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indianische Dorf Aricagua, das, von waldreichen Hügeln umgeben, sehr freundlich daliegt. Hier fing das Steigen an und dauerte über drei Stunden. Dieser Abschnitt des Weges ist sehr ermüdend : 22mal setzt man über den Pu­ tutucuar, einen schnell fließenden Strom, dessen Bett mit Kalksteinfels­ blöcken angefüllt ist. Hat man auf der Cuesta deI Cocollar eine Höhe von 2000 Fuß über dem Meer erstiegen , so erstaunt man , beinah gar keine Wal­ dung oder hohe Bäume mehr anzutreffen. Man wandert über eine weit aus­ gedehnte, mit Gras bewachsene Ebene . Mimosen , mit kugelförmigen Kronen , deren Stämme nicht über drei bis vier Fuß hoch sind, unterbrechen allein die traurige Einförmigkeit der Savannen. Ihre Zweige hängen zur Erde herab oder sind schirmförmig ausgedehnt. Überall, wo sich Abhänge oder zur Hälfte mit Erde überdeckte Felsmassen finden, dehnt die Clusia oder der Cupeybaum mit den großen Nymphäablüten sein schönes Grün aus . Seine Wurzeln haben bis acht Zoll im Durchmesser und wachsen zu­ weilen noch bis zu fünf Fuß über den Boden aus dem Stamm hervor. Nach lange fortgesetztem Bergsteigen gelangten wir auf eine kleine Ebene zum Hato de Cocollar. Es ist ein vereinzelt stehender Hof auf einer Fläche von 408 Toisen Höhe . Wir verweilten drei Tage in dieser Einsamkeit und wurden aufs gastfreundlichste von ihrem Besitzer [Don Mathias Ytur­ buri , aus Biscaya gebürtig] behandelt, der vom Hafen von Cumam'i her unser Begleiter gewesen war. Wir fanden hier Milch, ein durch die reichen Viehweiden vortreffliches Fleisch und ein höchst angenehmes Klima. Das hundertgradige Thermometer stieg am Tag nicht über 22 bis 23°; kurz vor Sonnenuntergang sank es auf 19°, und die Nacht durch hielt es sich kaum auf 14°. Die Temperatur der Nacht war demnach um 7° kühler als die der Küsten, was eine ungemein schnelle Wärmeabnahme bedeutet, d a die Ebene von Cocollar die Höhe der Stadt Caracas nicht erreicht . So weit das Auge reicht, übersieht man von diesem erhabenen Stand­ punkt aus nichts als nackte Savannen. Nur hin und wieder ragen aus den Schluchten kleine zerstreute Baumgebüsche hervor, und trotz der schein­ baren Einförmigkeit des Pflanzenwuchses fehlt es an einer bedeutenden Zahl sehr bemerkenswerter Pflanzen keineswegs . Wir erwähnen hier nur eine prachtvolle Lobelia [L. spectabilis} mit purpurfarbenen Blüten, danach die über 100 Fuß hohe Brownea coccinea und, vorzüglich wegen des unge­ mein lieblichen, würzigen Geruchs ihrer Blätter, wenn sie zwischen den Fin­ gern gerieben werden , die im Land sehr beliebte Pejoa [Gaultheria odo­ rata}. Was uns jedoch an diesem einsamen Ort am meisten erfreute , waren die schönen und stillen Nächte . Der Besitzer des Hofs leistete uns Gesell­ schaft beim nächtlichen Wachen; das Erstaunen, welches die stets frühlings­ hafte Kühle der Luft, die man nach Sonnenuntergang auf den Bergen fühlt, den eben erst in die Tropenwelt versetzten Europäern verursacht, schien ihm Freude zu machen . In diesen fernen Erdstrichen, wo der Mensch noch

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für den ganzen Wert der Naturgeschenke empfänglich ist, rühmt ein Guts­ besitzer das Wasser seiner Quelle , das Fehlen beschwerlicher Insekten, den gesunden, um den Hügel wehenden Wind, wie wir in Europa die Vorzüge unserer Wohnungen und die malerische Lage unserer Landsitze rühmen. Unser Hauswirt war mit einer Expedition nach Amerika gekommen , welche für die spanische Marine an den Küsten des Meerbusens von Paria ausgedehnte Einrichtungen zum Holzfällen treffen sollte . In diesen mäch­ tigen Forsten von Acajou- [Mahagoni] , Cedrelen- und Brasilholz, die das Meer der Antillen begrenzen, wollte man die dicksten Baumstämme aus­ wählen, sie grob behauen , um ihnen die zum Schiffbau erforderliche Gestalt zu geben , und sie alljährlich nach den Schiffswerften von Caracca bei Ccidiz senden. Nicht akklimatisierte Weiße , vermochten die ermüdende Arbeit, die Sonnenhitze und die Wirkung der gesundheitsschädlichen Luft , welche die Wälder ausströmen , nicht zu ertragen. Dieselben Winde , die mit dem Wohlgeruch der Blüten , der Blätter und des Holzes erfüllt sind, führen sozu­ sagen auch die Keime der Zerstörung und Auflösung mit sich . Bösartige Fieber rafften nebst den Zimmerleuten der königlichen Marine zugleich die Personen weg, welchen die Aufsicht der neuen Unternehmung übertragen war, und diese Bucht, welche die ersten Spanier wegen des traurigen und rohen Anblicks ihrer Küsten Golfo Triste genannt hatten, wurde die Grab­ stätte der europäischen Seeleute . Unser Hauswirt war so glücklich , der Ge­ fahr zu entgehen , und als bereits ein großer Teil seiner Gefährten gestorben war, zog er sich weit von den Küsten auf die Berge von Cocollar zurück . Ohne Nachbarn , im ruhigen Besitz von fünf lieues Savannenland, genießt er hier teils die Unabhängigkeit , welche die Einsamkeit gewährt, teils die Hei­ terkeit des Geistes, die eine reine und stärkende Luft bei schlichten Men­ schen hervorbringt. Nichts ist dem Eindruck erhabener Ruhe zu vergleichen , den der Anblick des Sternhimmels diesem einsamen Ort gewährt. Wenn unser Auge beim Eintritt der Nacht diese den Horizont begrenzenden Wiesengründe , die mit Gras bewachsene sanft wellenförmige Ebene überschaute, so glaubten wir von weitem her, wie in den Steppen des Orinoco , des Himmels gestirntes Gewölbe von der Fläche des Ozeans getragen zu sehen . Der Baum, in dessen Schatten wir saßen , die in der Luft gaukelnden leuchtenden In­ sekten, die nach Süden hin glänzenden Sternbilder, alles schien uns an die Entfernung von der Heimat zu erinnern . Wenn dann , mitten in dieser fremd­ artigen Natur, aus einem Talgrund sich ein Kuhgeläut oder das Brüllen eines Stiers hören ließ , dann erwachte plötzlich die Erinnerung an das Vaterland. Es waren wie ferne Stimmen, die jenseits der Meere ertönten und deren Zau­ bermacht uns von einer Halbkugel zur anderen versetzte. Wie wunderbar beweglich erscheint die Phantasie des Menschen als unerschöpfliche Quelle von Freude und Schmerz !

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In der Kühle des Morgens begannen wir den Turimiquiri zu ersteigen . So nennt man den Gipfel des Cocollar, welcher gemeinsam mit dem Bergantin nur eine Bergrnasse bildet, die vormals unter den Eingeborenen Sierra de los Tageres hieß . Einen Teil des Weges legt man auf Pferden zurück , die frei in diesen Savannen herumirren , von denen jedoch einige zum Reitdienst ab­ gerichtet sind . Wie schwerfällig ihr Aussehen auch ist , erklettern sie doch mit viel Leichtigkeit die schlüpfrigsten Rasenabhänge. Den ersten Halt machten wir bei einer Quelle , die noch nicht aus dem Kalkgebirge , sondern aus einer Schicht quarzigen Sandsteins hervorkommt. Ihre Temperatur zeigte 210, mithin 1,50 weniger als die Wärme der Quelle von Quetepe ; auch betrug der Unterschied der Höhe nahe an 220 Toisen . Überall, wo der Sand­ stein zutage kommt, ist der Boden eben und bildet kleine stufenweise über­ einanderstehende Flächen. Bis zur Höhe von 700 Toisen und noch weiter hinauf ist dieser Berg , gleich allen seinen Nachbarn, mit Grasarten be­ wachsen. In Cumana wird der Mangel an Bäumen auf die große Erhöhung des Bodens zurückgeführt. Bei nur einigem Nachdenken über die Verteilung der Pflanzen auf den Cordilleren der heißen Zonen jedoch wird man ein­ sehen , daß die Berghöhen von Neu-Andalusien bei weitem die obere Baum­ grenze nicht erreichen , die in dieser Breite wenigstens zur absoluten Höhe von 1800 Toisen ansteigt. Der ebene Rasen des Cocollar beginnt bereits auf der Höhe von 350 Toisen über der Meeresfläche, und man kann bis zur Höhe von 1000 Toisen steigen ; weiterhin, und jenseits dieses mit Gras bewach­ senen Bergstreifs, findet sich zwischen den für Menschen fast unzugängli­ chen Bergspitzen ein Wäldchen aus Cedrela, Javillo [Hura crepitans , aus der Familie der Euphorbien] und Acajou [Mahagoni] . Diese örtlichen Verhält­ nisse lassen vermuten, es dürften die bergigen Savannen des Cocollar und des Turimiquiri ihr Dasein der verderblichen Gewohnheit der Eingebornen zu danken haben, welche die Wälder in Brand stecken, wo sie sich Vieh­ weiden bereiten wollen . Wenn dann während drei Jahrhunderten Gräser und Alpenkräuter den Boden mit einem dichten Teppich überzogen haben, können die Samen der Bäume nicht mehr keimen noch sich in der Erde befe­ stigen, wenngleich Wind und Vögel sie unaufhörlich aus entfernten Wal­ dungen über die Grasfläche der Savannen ausstreuen. Das Klima dieser Berge ist so mild, daß im Gehöft des Cocollar die Baum­ wollpflanze , der Kaffeebaum und sogar das Zuckerrohr wohl gedeihen. Wenngleich die Küstenbewohner anderes sagen, hat man doch niemals unter 100 Breite auf Bergen, deren Höhe kaum die des Mont d'Or und des Puy-de-Döme übersteigt, Rauhreif gesehen. Die Viehweiden des Turimi­ quiri nehmen an Güte ab , je höher sie liegen. Überall, wo zerstreute Fels­ stücke Schatten gewähren, trifft man Flechten und einige europäische Moos­ arten an. Die Melastoma Guacito [M. xantostachyumJ und ein Strauch, dessen große und lederartigen Blätter wie Pergament rauschen, wenn sie

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vom Wind bewegt werden , kommen hin und wieder in der Savanne verein­ zelt vor. Aber die Hauptzierde des Rasens dieser Berge ist eine Pflanze mit goldfarbener Blüte aus der Lilienfamilie , die Mariea martinieensis . Man trifft sie überhaupt in den Provinzen von Cumami und Caracas nur über der Höhe von 400 bis 500 Toisen an . Die ganze Felsmasse des Turimiquiri ist aus einem Alpenkalkstein, welcher dem von Cumanacoa gleicht und aus wenig dichten Schichten von Mergel und quarzigem Sandstein zusammengesetzt ist . Im Kalkstein finden sich Massen von braun oxidiertem Eisen und spa­ tiges Eisen. Ich habe an mehreren Stellen sehr deutlich wahrgenommen, daß der Sandstein nicht nur über dem Kalkstein liegt , sondern daß öfters auch dieser den Sandstein enthält, indem er mit ihm abwechselt . Man unterscheidet hier zu Land den abgerundeten Gipfel des Turimiquiri und die hohen Bergspitzen (Pies) oder eiseuruehos, die mit einer dichten Pflanzendecke bewachsen und von Tigern bewohnt sind, auf die man wegen der Größe und Schönheit ihres Fells Jagd macht. Die Höhe des mit Rasen bewachsenen abgerundeten Gipfels bestimmten wir auf 707 Toisen über der Fläche des Weltmeers. Von diesem Gipfel dehnt sich westlich ein steiler Fels­ grat aus, der in der Entfernung einer Meile durch eine überaus große , gegen den Golf von Cariaco abfallende Felsschlucht unterbrochen ist . An der Stelle , wo sich die Fortsetzung des Grats vermuten ließe, erheben sich zwei mameLons oder Bergspitzen aus Kalkstein , von denen die nördlich gelegene die höhere ist. Diese führt den besonderen Namen Cucurucho de Turimi­ quiri und wird für höher gehalten als der den Seefahrern , welche die Küsten von Cumana besuchten, so bekannte Bergantin. Mittels Höhewinkeln und einer ziemlich kurzen Grundfläche , die auf dem abgerundeten und baum­ losen Gipfel gezogen wurde , vermaßen wir die Spitze des Cucurucho , die un­ gefähr 350 Toisen über unserem Standpunkt lag, so daß ihre absolute Höhe über 1050 Toisen beträgt. Die Fernsicht, die man auf dem Turimiquiri genießt, ist sehr ausgedehnt und ungemein malerisch . Vom Gipfel des Berges bis hinab zum Ozean er­ blickt man Bergketten, die in paralleler Richtung von Ost nach West gehen und Längentäler einfassen. Weil diese durch zahlreiche von den Berg­ strömen ausgetiefte kleine Schluchten rechtwinklig zerschnitten sind, werden die Seitenketten in teils abgerundete, teils pyramidenförmige Hü­ gelreihen verwandelt. Bis zum Imposible ist die allgemeine Senkung des Bo­ dens ziemlich sanft; weiterhin werden die Abhänge steiler in ununterbro­ chener Fortsetzung bis zum Gestade des Golfs von Cariaco . Diese Gebirgs­ masse erinnert durch ihre Gestaltung an die Glieder der Juraketten, und die einzige Fläche, welche sie darbietet, ist das Tal von Cumanacoa. Man glaubt den Boden eines Trichters zu sehen , worin man zwischen zerstreuten Baum­ gruppen das indianische Dorf Aricagua unterscheidet. Gegen Norden hob sich eine schmale Bergzunge , die Halbinsel Araya, bräunlich aus dem Meer

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empor, das, von den ersten Strahlen der Sonne beleuchtet, einen hellen Glanz zurückwarf. Jenseits der Halbinsel begrenzte das Kap Macanao , dessen schwarze Felsen sich wie ein ungemein großes Bollwerk aus dem Wasser emporheben , den Horizont. Der Hof des Cocollar am Fuße des Turimiquiri befindet sich unter 10° 9 / 32// Breite . Die Inklination der Magnetnadel zeigte 42 ,10°, sie oszillierte 229mal innerhalb zehn Minuten. Vielleicht mögen die im Kalkfels einge­ schlossenen braunen Eisenerzmassen einigermaßen die Stärke der magneti­ schen Kraft erhöhen . Die mit einem unveränderlichen Pendel angestellten Versuche will ich hier nicht einrücken, weil ich sie , trotz aller auf sie ver­ wandten Sorgfalt, wegen der unvollkommenen Aufhängung der Pendel­ stange für mangelhaft halte. Am 14. September [ 1799] stiegen wir vom Cocollar nach der Mission von San Antonio hinunter. Anfänglich führt der Weg über Savannen hin, die mit zerstreuten großen Kalkfelsblöcken besetzt sind. Nachdem man zwei aus­ nehmend steile Berggrate überstiegen hat, erblickt man ein schönes , fünf bis sechs lieues langes, in fast ununterbrochener Richtung von Ost nach West hinziehendes Tal, worin die Missionen von San Antonio und Guanaguana gelegen sind. Jene ist durch eine kleine Kirche mit zwei Türmen bekannt, die aus Backsteinen in ziemlich gutem Geschmack aufgeführt und mit Säulen dorischer Ordnung verziert ist; sie gilt als das Wunder der Gegend . Der Vor­ steher der Kapuzinermönche vollendete den Bau dieser Kirche in weniger als zwei Sommern [ Trockenzeiten] , obgleich er außer den Bewohnern seines Dorfes keine anderen Arbeiter brauchte . Die Simse der Kapitelle , die Vor­ kragungen und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter Fries waren aus Ton , der mit Ziegelmehl vermengt wurde, verfertigt. Wenn man nicht ohne Verwunderung auf der Grenze von Lappland im reinsten griechischen Stil er­ baute Kirchen antrifft , müssen diese ersten Kunstversuche noch viel auffal­ lender unter einem Himmelsstrich sein , wo sonst alles den wilden Zustand des Menschen verrät und wohin die Grundlagen der Zivilisation seit vierzig Jahren erst durch die Europäer gebracht wurden. Der Gouverneur der Pro­ vinz mißbilligte den Luxus dieser Bauten in den Missionen, und zum großen Leidwesen der Mönche ist der Kirchenbau unvollendet geblieben. Die In­ dianer von San Antonio teilen dies Bedauern keineswegs; sie freuen sich ins­ geheim über die Entscheidung des Gouverneurs , die ihrer natürlichen Träg­ heit entgegenkam. Um architektonischen Zierat kümmern sie sich ebenso­ wenig, wie es vormals die Eingeborenen der Jesuitenmission von Paraguay taten. In der Mission von San Antonio verweile ich nicht länger, als nötig war, um das Barometer zu öffnen und einige Sonnenhöhen aufzunehmen. Der Große Platz lag 216 Toisen über Cumami. Als wir das Dorf im Rücken hatten, durchwateten wir die Flüsse Colorado und Guarapiche, die beide in

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den Bergen von Cocollar ihren Ursprung nehmen und sich tiefer östlich ver­ einen. Der Colorado hat einen sehr schnellen Lauf und wird bei seiner Mün­ dung breiter als der Rhein; der Guarapiche , mit dem Rio Areo vereint, ist über 25 Toisen tief; seine Ufer sind mit einer zierlichen Grasart bewachsen , die ich zwei Jahre später beim Hinauffahren des Magdalenastromes zeich­ nete und deren Halme mit zweireihigen Blättern 15 bis 20 Fuß hoch wachsen [Lata oder Cafia brava] . Unsere Maultiere kamen nur mühsam in dem dichten Schlamm vorwärts, der den schmalen und ebenen Pfad bedeckte. Der Regen fiel in Strömen herab , und das ganze Gehölz schien durch die vielen und mächtigen Regengüsse in einen Sumpf verwandelt zu sein. Gegen Abend trafen wir in der Mission von Guanaguana ein , deren Boden fast im seiben Niveau wie das Dorf San Antonio liegt. Wir hatten ein großes Bedürfnis, uns zu trocknen und umzukleiden . Der Missionar empfing uns ausnehmend gutmütig. Er war ein Greis , der seine Indianer ver­ ständig zu regieren schien. Das Dorf steht seit dreißig Jahren erst an der Stelle, wo es sich gegenwärtig befindet. Vorher lag es mehr südlich an einen Hügel gelehnt . Man erstaunt über die Leichtigkeit , womit die Wohnstätten der Indianer sich versetzen lassen. Es gibt Dörfer im südlichen Amerika, die in weniger als einem halben Jahrhundert dreimal ihren Platz änderten. Der Eingeborene findet sich durch so schwache Bande an seinen Wohnort ge­ knüpft, daß er gleichgültig den Befehl empfängt, sein Haus abzureißen und es anderswo wieder aufzubauen. Ein Dorf ändert seine Stelle gleich einem Lager. Überall, wo sich Ton, Schilfrohr, Blätter von Palmen und Heliconien finden, ist eine Hütte in wenigen Tagen aufgebaut. Diesen erzwungenen Ver­ änderungen liegt oft nichts anderes zugrunde als die Laune eines Missionars, der, eben erst aus Spanien angekommen, sich einbildet, die Lage der Mis­ sion sei fiebergefährlich oder den Winden nicht hinlänglich geöffnet. Man hat ganze Dörfer einige lieues weit verpflanzen sehen, einzig weil der Mönch die Aussicht seines Hauses nicht schön oder nicht ausgedehnt genug fand. Guanaguana besitzt noch keine Kirche. Der alte Ordensmann, der seit dreißig Jahren in den amerikanischen Wäldern wohnte, belehrte uns, das Geld der Gemeinde oder der Ertrag der Arbeit der Indianer müsse zunächst für die Erbauung des Missionarshauses, nachher für den Kirchenbau und zu­ letzt für Bekleidung der Indianer verwandt werden. Er versicherte in hohem Ernst, diese Ordnung dürfe unter keinerlei Vorwand verändert werden; auch legen die Indianer, die viel lieber nackt gehen, als noch solch leichte Kleider zu tragen , gar keinen Wert darauf, daß die Reihe bald an sie komme . Die geräumige Wohnung des Padre war eben vollendet, und wir erstaunten zu sehen, daß das Haus , dessen Dach terrassenförmig gebaut war, zahlreiche Kamine besaß , die ebenso vielen Türmchen glichen . Diese Einrichtung, er­ klärte unser Hauswirt, sollte ihn an sein teures Vaterland und an die aragoni­ schen Winter mitten in der Hitze der warmen Zone erinnern . Die Indianer

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von Guanaguana pflanzen die Baumwollstaude teils für ihren eigenen, teils zum Vorteil der Kirche und des Missionars . Der Ertrag wird als der Ge­ meinde gehörig betrachtet, und aus den Einkünften der Gemeinde werden die Bedürfnisse des Pfarrers und des Alters bestritten. Die Eingeborenen be­ sitzen sehr einfach eingerichtete Maschinen , womit sie die Baumwolle von den Samenkörnern trennen . Es sind hölzerne Zylinder von äußerst kleinem Durchmesser, zwischen denen die Baumwolle durchgeht und die wie unsere Spinnräder mit dem Fuß bewegt werden. So unvollkommen diese Werk­ zeuge auch sind, leisten sie doch gute Dienste , und man fängt an, sie in den übrigen Missionen nachzuahmen. Ich habe anderswo, in meinem Werk über Mexico, gezeigt, wie beschwerlich die Gewohnheit, die Baumwolle mit den Samenkörnern zu verkaufen , den Transport in den spanischen Kolonien macht, wo alle Waren auf Maultieren nach den Seehäfen gelangen . Der Boden von Guanaguana ist ebenso fruchtbar wie der von Aricagua , einem kleinen benachbarten Dorf, das seinen alten indianischen Namen gleichfalls beibehalten hat. Ein almuda Land (zu 1850 Quadrattoisen) trägt in guten Jahren 25 bis 30 fanegas Mais, jede zu hundert Pfund. Allein hier wie allent­ halben, wo die Freigebigkeit der Natur die Entwicklung des Kunstfleißes zu­ rückhält, werden nur kleine Stücke Erdreich urbar gemacht, und der Wechsel im Anbau der Nahrungspflanzen wird vernachlässigt. Daher tritt Mangel ein, sooft durch ausdauernde Trockenheit die Maisernte zugrunde geht. Die Indianer von Guanaguana erzählten uns als etwas gar nichts Au­ ßerordentliches , daß sie im verflossenem Jahr, mit Frauen und Kindern, drei Monate al monte zubrachten, das will sagen , in den benachbarten Wäldern herumstreiften, um sich von Saftpflanzen , Kohlpalmen, Farnkrautwurzeln und wilden Baumfrüchten zu nähren . Von diesem Nomadenleben sprachen sie übrigens keineswegs als von einem Notstand. Dem Missionar war solches beschwerlich geworden , weil das Dorf inzwischen verlassen blieb und die Mitglieder der kleinen Gemeinde nach ihrer Rückkehr aus den Wäldern weniger lenksam als zuvor waren. Das schöne Tal von Guanaguana verlängert sich östlich, indem es sich gegen die Ebenen von Punzere und Terezen öffnet , die wir gerne besucht hätten, um die zwischen dem fluß Guarapiche und dem Rio Areo befindli­ chen Quellen von Steinöl zu untersuchen; allein die Regenzeit hatte bereits begonnen, und das Trocknen sowohl wie das Aufbewahren unserer gesam­ melten Pflanzen setzte uns täglich in die größte Verlegenheit. Der von Guana­ guana ins Dorf Punze re führende Weg geht entweder durch San Felix oder durch Caycara und Guayuta, wo sich ein hato (Hof zur Viehzucht) der Mis­ sionare befindet. An diesem Ort werden den Angaben der Indianer zufolge große Schwefelmassen , nicht im Gips- oder Kalkgebirge , sondern in Ton­ schichten, in geringer TIefe unter der Oberfläche des Bodens gefunden . Diese seltsame Erscheinung scheint mir Amerika eigentümlich zu sein ; wir

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werden sie im Königreich Quito und in Neu-Spanien nochmals antreffen. In der Nähe von Punzere hängen in den Savannen an den Ästen der niedrigsten Bäume kleine , aus einem Seidengewebe gebildete Säckchen. Es ist die Seda silvestre oder die wilde einheimische Seide , die einen schönen Glanz hat, sich hingegen sehr rauh anfühlt . Der Nachtschmetterling, von dem sie her­ rührt, ist vielleicht dem der Provinzen Guanajuato und Antioquia ähnlich , die ebenfalls wilde Seide liefern . In dem schönen Wald von Punzere kommen zwei unter den Namen curucay und canela bekannte Bäume vor: Der erstere , von dem wir weiter sprechen werden, liefert ein den Piaches oder indischen Zauberern sehr beliebtes Harz; der zweite trägt Blätter, die den Geruch des echten ceyonesischen Zimts besitzen. Von Punzere führt der Weg durch Terecen und Nueva Palencia, welches eine neue Kolonie von Ca­ nariern ist, nach dem Hafen von San Juan, der am rechten Ufer des Rio Areo liegt; und nur wenn man in einer Piroge über diesen Fluß setzt, gelangt man zu den berühmten ÖI- oder mineralischen Teerquellen von Buen Pastor. Sie wurden uns als kleine Schächte oder Trichter beschrieben, welche die Natur in sumpfigem Erdreich ausgehöhlt hat. Diese Erscheinung erinnert an den Asphaltsee oder Chapapote der Insel Trinidad, die von Buen Pastor in gerader Linie nur 35 lieues marines entfernt liegt. Nach einigem Kampf mit unserem Wunsch , den Guarapiche bis zum Golfo Triste hinabzufahren, schlugen wir die gerade Bergstraße ein . Die beiden Täler von Guanaguana und Caripe werden durch eine Art Felsen­ damm oder Kalkgrate voneinander geschieden , der unter dem Namen des Cuchilla de Guanaguana sehr berühmt ist. Wir fanden diesen Weg beschwer­ lich, weil wir damals die Cordilleren noch nicht durchreist hatten; er ist aber keineswegs so gefährlich, wie man in Cumana erzählt. Der Fußpfad hat aller­ dings an manchen Stellen nicht über 14 oder 15 Zoll Breite ; der Kamm des Berges, über den sich der Pfad hinzieht, ist mit ausnehmend schlüpfrigem Rasen besetzt; der Abhang auf beiden Seiten ist sehr steil, und der Wanderer könnte , wenn er fiele , über den Rasen in eine Tiefe von 700 bis 800 Fuß hin­ abrollen . Inzwischen sind es doch mehr steile Böschungen als Abgründe , welche die Bergabhänge bilden, und die Maultiere dieser Gegend haben einen so sicheren Tritt, daß sie ein vollkommenes Zutrauen einflößen . Ihre Gewohnheiten stimmen mit denen der Saumtiere in der Schweiz und auf den Pyrenäen gänzlich überein . In dem Verhältnis, wie ein Land roher ist, nimmt der Instinkt der Haustiere an Feinheit und Scharfsinn zu . Wenn die Maul­ tiere Gefahr ahnen, bleiben sie stehen und drehen den Kopf rechts und links ; die Bewegung ihrer Ohren scheint anzudeuten , daß sie über die zu er­ greifende Lösung nachdenken. Ihr Entschluß reift langsam, aber es ist stets gut, wenn er frei war, das will sagen, wenn ihn die Unvorsichtigkeit des Rei­ senden nicht stört oder übereilt. Auf den furchtbaren Wegen der Anden, während sechs bis sieben Monate andauernden Reisen über von Schluchten

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durchschnittene Berge , entwickelt sich der Verstand der Pferde und Saum­ tiere auf erstaunliche Weise . Auch hört man die Bergbewohner sagen: "Ich gebe ihnen nicht das Maultier, welches den bequemsten Schritt hat, sondern das vernünftigste , la mas racional." Dieser durch lange Erfahrung erzeugte Volksausdruck widerlegt das System der Tiere als belebter Maschinen viel­ leicht besser als alle der spekulativen Philosophie entlehnten Vernunft­ gründe . Als wir den höchsten Punkt des Bergrückens oder der Cuchilla von Gua­ naguna erstiegen hatten, öffneten sich unseren Blicken ein anziehendes Schauspiel. Wir übersahen mit einem Mal die ausgedehnten Wiesengründe oder Savannen von Maturin und des Rio Tigre , den Spitzberg des Turimi­ quiri und eine Menge paralleler Gebirgsketten , die von weitem her den Meereswellen gleichen . Nordöstlich öffnet sich das Tal , worin das Kloster von Caripe liegt. Sein Anblick erscheint um so gefälliger, als das von Wäl­ dern beschattete Tal gegen die Nacktheit der benachbarten, von Baum­ wuchs entblößten und mit Gras überdeckten Berge absticht. Wir fanden die absolute Höhe der Cuchilla 548 Toisen ; sie ist also 329 Toisen höher als die Wohnung des Missionars von Guanaguana. Beim Hinabsteigen vom Bergeskamm auf einem krummen Pfad gelangt man in ein gänzlich bewaldetes Land. Der Boden ist mit Moos und einer neuen Art Drosera [D. tenellaJ überwachsen , deren Gestalt an die Drosera unserer Alpen erinnert . Die Dichte der Wälder und der starke Pflanzen­ wuchs vermehren sich , je näher man dem Kloster von Caripe kommt. Alles nimmt hier eine andere Gestaltung an , sogar das Gestein , das uns von Punta Delgada her begleitet hat. Die Kalkschichten werden dünner; sie bilden Schichten, die sich in Mauern , Simsen und Türmen aufreihen, wie im Jurage­ birge , in den Pappenheimer Bergen in Deutschland und bei Oj�ow in Gali­ zien. Die Farbe des Steins ist nicht mehr rauchgrau oder graubläulich; sie wird weiß. Sein Bruch ist glatt, bisweilen sogar unvollkommen muschel­ artig. Es ist nicht mehr der Kalk der Hohen Alpen, sondern eine Bildung, mit welcher dieser selbst als Grundlage dient und die dem Jurakalkstein analog ist. In der Apenninkette zwischen Rom und Nocera habe ich die gleiche unmittelbare Übereinanderlage wahrgenommen: sie zeigt uns, wir wiederholen es hier, nicht den Übergang eines Gesteins in das andere , son­ dern die geologische Verwandtschaft an , die zwischen beiden Bildungen be­ steht. Dem allgemeinen Typus der Sekundarschichtenlagerung zufolge , wie solche in einem großen Teil Europas beobachtet wird, findet sich der Alpen­ kalkstein vom Jurakalkstein durch den salzführenden Gips abgesondert; al­ lein öfters ist dieser gar nicht vorhanden , oder er ist als untergeordnete Schichtung im Alpenkalkstein eingeschlossen . Dann folgen sich die beiden großen Kalksteinformationen unmittelbar aufeinander, oder sie vermischen sich zu einer einzigen Masse.

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Der Abstieg vom Cuchilla dauert viel weniger lang als der Aufstieg. Wir fanden das Niveau des Caripe-Tals 200 Toisen höher als das des Guana­ guana-Tals . Eine schmale Berggruppe trennt beide Becken, von denen das eine sehr angenehm kühl ist, während das andere sich durch sein heißes Klima auszeichnet. Solche in Mexico , in Neu-Granada und in Peru häufig vorkommenden Kontraste sind im nordöstlichen Teil des südlichen Amerika eine Seltenheit. Auch ist unter allen hochgelegenen Tälern Neu-Andalusiens das Tal von Caripe als einziges sehr bevölkert. In einer Provinz mit unbe­ trächtlicher Bevölkerung, wo die Berge weder sehr große Massen noch aus­ gedehnte Plateaus darbieten, finden die Menschen wenig Veranlassung, die Ebenen zu verlassen und sich in den temperierten und bergigen Regionen anzusiedeln . Kapitel VII

Das Kloster Caripe - Höhle des Guacharo - Nachtvögel

Eine Allee von Perseabäumen führte uns zum Hospiz der aragonischen Kapuziner. In der Nähe eines aus Brasilholz verfertigten, mitten auf einem großen Platz errichteten Kreuzes machten wir halt . Ringsum stehen Bänke , auf welchen die gebrechlichen Mönche ihren Rosenkranz beten. Das Klo­ ster ist an eine mächtige , senkrechte und von dichtem Pflanzenwuchs be­ deckte Felsenwand gebaut. Die glänzenderen weißen Steinschichten sind nur hin und wieder zwischen dem Laubwerk sichtbar. Man kann sich nicht leicht eine malerischere Lage denken; sie erinnerte mich lebhaft an die Tal­ gründe der Grafschaft Derby und an die höhlenreichen Berge von Muggen­ dorf in Franken. Statt der europäischen Buchen und Ahorne kommen hier die imposanteren Gestalten des Ceiba, der Praga- und Irasse-Palme vor. Un­ zählige Wasserquellen drängen sich aus den das Becken von Caripe kreis­ förmig umschließenden Felswänden hervor, deren steile Abhänge südlich 1000 Fuß hohe Profile zeigen. Diese Quellen kommen meist aus einigen Spalten oder engen Schluchten hervor. Die durch sie verbreitete Feuchtig­ keit fördert das Wachstum der hohen Bäume ; und die Eingeborenen, die ein­ same Gegenden lieben, legen ihre conucos längs dieser Bergschlucht�n an . Bananen- und Papayabäume umringen hier Gebüsche von baumartigen Farnkräutern . Eine solche Mischung wildwachsender und angebauter Ge­ wächse verleiht diesen Pflanzungen einen eigentümlichen Reiz. Am nackten Abhang der Berge unterscheidet man die Quellen schon von weitem durch den üppigen und dichten Pflanzenwuchs, welcher anfänglich vom Felsen her­ abzuhängen scheint und hernach im Talgrund den Krümmungen der Wald­ bäche folgt. Die Mönche des Hospizes empfingen uns mit zuvorkommender Güte .

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Der Pater Guardian oder Superior war abwesend; er hatte aber, weil er von unserer Abreise aus Cumana benachrichtigt war, es sich zur angelegentlich­ sten Sorge gemacht, alles anzuordnen , was unseren Aufenthalt angenehm machen könnte . Das Hospiz hat einen inneren , mit einem Säulengang umge­ benen Hof wie die spanischen Klöster. Dieser abgeschlossene Ort war uns sehr bequem zu Aufstellung und Beobachtung des Ganges unserer Instru­ mente . Im Kloster fanden wir eine zahlreiche Gesellschaft: Junge , kürzlich aus Spanien eingetroffene Mönche standen im Begriff, nach den ihnen zuge­ teilten Missionen abzureisen , während alte , kränkliche Missionare in der scharfen und gesunden Bergluft von Caripe Genesung suchten . Ich be­ wohnte die Zelle des Guardians, die eine nicht unbedeutende Büchersamm­ lung enthielt. Es überraschte mich, neben dem > Teatro crftico< von Feijoo und den >Lettres edifiantes< auch Abbe Nollets >Traite de l'electricite< zu finden. Die Fortschritte der Kenntnisse , möchte man sagen , sind bis in die amerikanischen Wälder hin spürbar. Der jüngste unter den Kapuzinermön­ chen der letzten Mission hatte eine spanische Übersetzung von Chaptals >Chemie< mitgebracht. Er nahm sich vor, dieses Werk in der Einsamkeit zu studieren, in der er für den Rest seiner Tage sich selbst überlassen bleiben sollte . Ich zweifle, ob die Lernbegierde sich bei einem jungen , an den Ufern des Rio Tigre abgesondert lebenden Ordensmann erhalten möchte. Worüber hingegen kein Zweifel waltet und was dem Geist des Jahrhunderts Ehre macht, ist der Umstand, daß wir während unseres Aufenthalts in den ameri­ kanischen Klöstern und Missionen keine Spur von religiöser Unduldsamkeit wahrgenommen haben . Den Mönchen von Caripe war meine Herkunft aus dem protestantischen Deutschland nicht unbekannt. Weil ich mit königli­ chen Befehlsbriefen versehen war, hatte ich keinen Grund, ihnen diese Tat­ sache zu verschweigen, aber kein Zeichen von Mißtrauen, keine unbeschei­ dene Frage , kein Versuch polemischer Gespräche haben jemals den Wert einer überaus redlichen und wohlmeinend geübten Gastfreundschaft gemin­ dert. Wir werden anderswo Gelegenheit finden, die Ursachen und die Grenzen dieser Toleranz der Missionare näher zu würdigen. Die Gegend, i n der das Kloster erbaut wurde , hieß vormals Areocuar. Ihre Erhöhung über der Meeresfläche ist ungefähr die der Stadt Caracas oder des bewohnten Teils der Blauen Berge von Jamaica. Auch weichen die mittleren Temperaturen dieser drei Orte , die alle zwischen den Wende­ kreisen liegen, wenig voneinander ab . In Caripe fühlt man das Bedürfnis, sich die Nacht über und vorzüglich bei Sonnenaufgang zuzudecken. Das hundertteilige Thermometer zeigte uns um Mitternacht zwischen 16 und 17,5°; am Morgen zwischen 19 und 20° . Gegen 13 Uhr stieg es nur noch bis zu 21 und 22 ,5°. Diese Temperatur ist für das Gedeihen der Pflanzen der heißen Zone hinreichend; im Vergleich mit der außerordentlichen Hitze der Ebenen von Cumana würde man sie nur eine Frühlingstemperatur nennen.

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Das Wasser, in porösen Tongefäßen dem Luftzug ausgesetzt , kühlt in Caripe zur Nachtzeit bis auf 13° ab. Ich brauche nicht zu bemerken, daß dieses Wasser den Reisenden beinahe eiskalt vorkommt, die an einem Tag, sei es von den Küsten oder aus den glühenden Savannen von Terzen her, im Klo­ ster eintreffen und alle Flußwasser zu trinken gewöhnt waren , dessen Wärme meistens 25 bis 26 Centesimalgrade beträgt. Die mittlere Temperatur des Tals von Caripe, nach der des Septembers be­ rechnet, scheint 18 ,5° zu sein. Nach den in Cumana angestellten Beobach­ tungen weicht unter diesem Himmelsstrich die Temperatur des Septembers von der des ganzen Jahres kaum um einen halben Grad ab . Die mittlere Tem­ peratur von Caripe gleicht der des Junis in Paris, wo inzwischen die größte Hitze um 10° höher ist als die wärmsten Tage in Caripe. Da die absolute Er­ höhung des Klosters nicht über 400 Toisen beträgt , kann die schnelle Ab­ nahme der Wärme gegenüber der der Küste befremden. Die dichten Wälder hindern die Abstrahlung des Bodens , der feucht und mit einer dichten Gras­ und Moosdecke bekleidet ist. Bei anhaltend nebliger Witterung bleibt die Sonne ganze Tage unsichtbar, und beim Eintritt der Nacht wehen kühle Winde von der Sierra de Guacharo ins Tal hinab . Die Erfahrung hat gezeigt , daß das gemäßigte Klima und die verdünnte Luft dieser Landschaft dem Anbau des Kaffeebaums, der bekanntlich gern auf Höhen wächst, sehr günstig sind. Der Pater Superior der Kapuziner, ein tätiger und verständiger Mann, hat diesen neuen Zweig der Landeskultur in seiner Provinz eingeführt. Vormals wurde Indigo in Caripe gepflanzt; aber der geringe Ertrag, den die einen höheren Wärmegrad erfordernde Pflanze lieferte , bewog die Pflanzer auf ihren Anbau zu verzichten. Im conuco der Gemeinde fanden wir viele Küchenkräuter, Mais , Zuckerrohr und an 5000 Kaffeebäume , die eine gute Ernte verhießen. Die Mönche hofften, diese Zahl in Kürze zu verdreifachen. Es ist das übereinstimmende Bestreben der Politik mönchischer Hierarchie, wie es sich in den ersten Zeiten der Zivilisa­ tion zeigte , unverkennbar und auffallend. Überall, wo die Klöster noch keine Reichtümer besitzen, im Neuen Kontinent wie im alten Gallien, in Sy­ rien wie im nördlichen Europa , zeigt sich ihr heilsamer Einfluß in der Urbar­ machung des Bodens und in der Einführung exotischer Pflanzen. In Caripe gewährt der conuco der Gemeinde den Anblick eines großen und schönen Gartens . Die Eingeborenen müssen jeden Morgen von 6 bis 10 Uhr darin ar­ beiten. Alkalden und alguaciles von indianischem Stamm führen die Auf­ sicht über die Arbeiter. Sie sind die Groß beamten des Staates, die allein Rohrstöcke tragen dürfen und deren Wahl vom Superior des Klosters ab­ hängt. Sie legen einen großen Wert auf diese Auszeichnung. Ihr pedanti­ scher und stiller Ernst , ihr kaltes und geheimnisvolles Betragen, ihre Vor­ liebe für Repräsentation in der Kirche und in den Gemeindeversammlungen können den Europäer zum Lächeln bringen. Wir waren an diese Schattie-

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rungen des indianischen Charakters noch nicht gewöhnt , die wir gleicher­ weise am Orinoco, in Mexico und in Peru unter Völkerschaften von verschie­ denartigen Sitten und Sprachen wahrgenommen haben. Die Alkalden fanden sich alle Tage im Kloster ein , weniger um Geschäfte der Mission mit den Mönchen zu behandeln als unter dem Vorwand, sich nach der Gesund­ heit der neu angekommenen Reisenden zu erkundigen. Weil wir ihnen Branntwein gaben , wurden ihre Besuche häufiger, als den Ordensmännern lieb war. Während der ganzen Zeit unseres Aufenthalts in Caripe und in den üb­ rigen Chaimas-Missionen haben wir eine durchaus milde Behandlung der In­ dianer beobachtet. Überhaupt schienen uns die Missionen der aragonischen Kapuziner von einem Geist der Ordnung und geregelter Zucht beseelt, der leider in der Neuen Welt selten ist. Mißbräuche , die mit dem allgemeinen Geist der Mönchsanstalten zusammenhängen , können einer einzelnen Kon­ gregation nicht besonders vorgeworfen werden. Der Guardian des Klosters sorgt für den Verkauf der Ernte aus dem Garten der Gemeinde ; und weil alle Indianer an der Arbeit teilnehmen , verteilen sie nun auch den Gewinn gleichmäßig untereinander. Es werden Kleider, Werkzeuge , Mais und, wie man versichert, zuweilen auch Geld unter sie ausgeteilt. Wie ich schon oben bemerkt habe , gleichen diese Mönchseinrichtungen den Anstalten der mäh­ rischen Brüder; sie befördern die Fortschritte eines sich erst noch bildenden Menschenvereins, und in den katholischen Gemeinden, die Missionen heißen, wird auf die Unabhängigkeit der Familien und die individuelle Exi­ stenz der Glieder des Vereins mehr geachtet als in den protestantischen, die nach Zinzendorfs Vorschriften leben . Was neben der außerordentlichen Kühle des Klimas dem Tal von Caripe am meisten Auszeichnung und Ruf verschafft, ist die große Cueva oder die Felshöhle des Guacharo . In einem Land, wo man das Wunderbare liebt, ist eine Felsenhöhle , aus der ein Fluß entspringt und die von vielen tausend Nachtvögeln bewohnt wird, deren Fett in den Missionen zur Zubereitung der Speisen dient, ein unerschöpflicher Gegenstand für Unterhaltung und Gespräche. Auch sind die ersten Dinge, von denen ein in Cumana eingetrof­ fener Fremder sprechen hört, der Augenstein von Araya, der Landbauer von Arenas, der sein Kind säugte , und die Felsenhöhle des Guacharo , deren Länge man auf mehrere lieues angibt. Ein lebhaftes Interesse an Naturer­ scheinungen erhält sich allenthalben, wo keine gesellschaftlichen Verhält­ nisse vorhanden sind und wo eine traurige Einförmigkeit des Lebens nur sehr einfache und die Neugier wenig beschäftigende Gegenstände darbietet. Die Höhle, welche die Eingeborenen eine Fettmine nennen , befindet sich nicht im Tal von Caripe selbst, sondern in Entfernung drei kleiner lieues vom Kloster, westsüdwestlich. Sie öffnet sich in einem Seitental, das nach der Sierra deI Guacharo ausläuft. Am 18. September [ 1799] machten wir uns auf

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den Weg nach der Sierra, in Begleitung der Alkalden oder indianischen Ma­ gistratspersonen und der meisten Ordensleute des Klosters . Ein schmaler Fußpfad führte uns anfangs anderthalb Stunden in südlicher Richtung durch eine liebliche , mit schönen Rasen bekleidete Ebene ; nachher lenkten wir westlich ein, längs eines kleinen Flusses, der aus der Öffnung der Höhle her­ vorkommt . Während dreier Viertelstunden des Emporsteigens ungefähr folgt man, bald im untiefen Wasser, bald zwischen dem Waldstrom und einer Felswand , einem sehr schlüpfrigen und morastigen Pfad. Erdfälle , zerstreut liegende Baumstämme , über welche die Maultiere wegzuschreiten Mühe haben, und die Rankenpflanzen , von denen der Boden bedeckt ist, machen diesen Teil des Wegs sehr ermüdend. Es überraschte uns, hier, kaum 500 Toisen über der Meeresfläche , eine Pflanze aus der Familie der Kreuzblütler, Raphanus pinnatus, anzutreffen . Bekanntlich kommen die Gewächse dieser Familie in den Tropenländern sehr selten vor; sie haben sozusagen eine bo­ reale Form, und deshalb war uns ihre Erscheinung auf der niedrigen Berg­ ebene von Caripe unerwartet. Eben diese nördlichen Formen schienen sich im Gallium caripense, in der Valeriana scandens und in einer Sanicula, welche sich der Sanicula marilandica nähert, zu wiederholen. Wo man sich am Fuß des hohen Guacharo-Berges nur noch 400 Schritte von der Höhle entfernt befindet, erblickt man jedoch ihre Öffnung noch nicht. Der Waldstrom fließt in einer vom Gewässer ausgehöhlten Schlucht, und der Pfad führt unter einem Felsgesims hin, dessen vorstehender Teil die Aussicht in die Höhe raubt. Wie der Bach, so schlängelt sich auch der Fuß­ steig; bei der letzten Krümmung steht man plötzlich vor dem sehr geräu­ migen Eingang der Höhle. Dieser Anblick hat etwas Erhabenes selbst für den , welcher an die malerischen Bilder der Hochalpen gewöhnt ist. Ich war damals [ 1790] mit den Berghöhlen des Pic von Derbyshire bekannt, wo man, in einem Boot liegend, unter der zwei Fuß hohen Wölbung über einen unter­ irdischen Fluß setzt. Ich hatte die schöne Grotte von Treshemienshiz in den Karpaten und die Berghöhlen auf dem Harz besucht , auch die Höhlen in Franken, diese weiten Grabstätten für Knochengerippe von Tigern, Hyänen und Bären , die an Größe unseren Pferden gleichen. Die Natur befolgte unter allen Zonen unwandelbare Gesetze in Anordnung der Felsschichten , in der äußeren Gestaltung der Berge und selbst in den stürmischen Verände­ rungen, die der Rinde unseres Planeten zuteil wurden . Eine so allgemeine Übereinstimmung ließ mich vermuten, das Aussehen der Höhle von Caripe werde nur wenig von dem verschieden sein, was ich auf meinen früheren Reisen gesehen hatte; ich fand meine Erwartung weit übertroffen. Wenn einerseits die Konfiguration der Grotten , der Glanz der Stalaktiten und alle Erscheinungen der unorganischen Natur auffallende Ähnlichkeit darbieten, so erteilt andererseits der majestätische Pflanzenwuchs der Tropenländer dem Eingang der Höhle einen eigentümlichen Charakter.

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Die Cueva deI Gmicharo öffnet sich im senkrechten Profil eines Felsens . Der Eingang steht südwärts; ihr Gewölbe ist 80 Fuß breit und 72 Fuß hoch. Diese Erhöhung kommt bis auf ein Fünftel ungefähr der des Säulengangs im Louvre gleich . Der Fels , der über der Grotte steht, ist mit Bäumen von gi­ gantischem Wuchs besetzt. Der Mamei und der Genipa [Caruto, Genipa americana] mit breiten, glänzenden Blättern strecken ihre Äste senkrecht zum Himmel, während die des Coubaril und der Erythrina sich ausbreiten und eine dichte Laubdecke bilden. Pothosgewächse mit saftigen Stengeln, Oxalisarten und Orchideen von seltsamer Bildung wachsen aus den dürrsten Felsritzen hervor, während sich Rankengewächse , vom Wind gewiegt, vor dem Eingang der Höhle in Gewinden schlingen. Wir unterschieden in diesen Blumengewinden eine violettblaue Bignonia, den purpurfarbigen Dolichos und zum ersten Mal die prächtige Solandra [Solandra scandeneJ, deren oran­ gengelbe Blüten eine über vier Zoll lange fleischige Röhre hat. Es verhält sich mit den Höhlen wie mit der Ansicht der Wasserfälle ; die mehr oder we­ niger ausgezeichnete Umgebung verleiht den besonderen Reiz, der den Charakter der Landschaft bestimmt. Welch ein Kontrast findet sich zwischen der Cueva de Caripe und jenen nordischen, von Eichen und finsteren Lär­ chenbäumen beschatteten Höhlen ! Dieser üppige Pflanzenwuchs verschönert jedoch nicht nur die äußere Wölbung, er ist auch noch im Vorderteil der Grotte sichtbar. Mit Erstaunen bemerkten wir prachtvolle Heliconien mit Bananenblättern, die eine Höhe von 18 Fuß erreichen, die Praga-Palme und das Arum arborescens längs dem kleinen Fluß in diesem unterirdischen Standort. Das Pflanzenwachstum dehnt sich in die Höhle von Caripe aus wie in den tiefen Schluchten der Anden, die nur halbem Tageslicht zugänglich sind , und er hört im Inneren der Höhle nicht eher als in einer Entfernung von 30 bis 40 Fuß vom Eingang auf. Wir maßen den Weg mit einem Seil und hatten 430 Fuß zurückgelegt, ehe Fackeln anzuzünden erforderlich wurde. Das Tageslicht dringt so weit vor, weil die Grotte einen einzigen Kanal bildet, der sich in unveränderter Richtung von Südost nach Nordwest ausdehnt. Hier, wo das Licht zu er­ löschen anfängt, hört man noch entfernt das heisere Geschrei der Nacht­ vögel, von denen die Eingeborenen glauben , sie würden ausschließlich in diesen unterirdischen Wohnungen angetroffen. Der Gmicharo hat die Größe unserer Hühner, den Rachen der Nacht­ schwalbe (des Ziegenmelkers) , den Wuchs der Geier, deren krummer Schnabel von steifen Seidenpinseln umgeben ist. Wenn wir mit Herrn Cuvier die Ordnung der Spechte streichen , so muß dieser außerordentliche Vogel in das Geschlecht der Sperlinge gesetzt werden, deren Gattungen durch bei­ nahe unmerkliche Übergänge miteinander verbunden sind. Ich habe ihn unter dem Namen Steatornis in einer besonderen Monographie be­ schrieben, die im zweiten Band meiner > Observations de zoologie et d'ana-

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tomie comparee< enthalten ist ; er macht eine neue vom Caprimulgus ver­ schiedene Gattung aus, die sich sowohl durch den Umfang der Stimme wie durch den außerordentlich starken, mit einem Doppelzahn versehenen Schnabel und durch Füße, die zwischen den Vorderzehen keine Verbin­ dungshäute haben, unterscheidet. Er liefert das erste Beispiel eines Nacht­ vogels unter den Zahnschnäblern der Singvögel. Durch seine Lebensart ist er sowohl den Ziegenmelkern wie den Alpendohlen [Corvus pyrrhocorax] verwandt . Das Gefieder des Guacharo ist von dunkler blaugrauer Farbe , mit kleinen schwarzen Streifen und Punkten vermengt. Große weiße, herzför­ mige, schwarzgeränderte Flecken kommen am Kopf, auf den Flügeln und am Schwanz vor. Die Augen des Vogels können das Tageslicht nicht ver­ tragen; sie sind blau und kleiner als die des Ziegenmelkers oder der Nacht­ schwalbe. Die Weite der ausgebreiteten Flügel , die aus 17 bis 18 Schwungfe­ dern bestehen, beträgt viereinhalb Fuß . Der Guacharo verläßt seine Höhle bei Anbruch der Nacht, vorzüglich zur Zeit des Mondscheins . Er ist fast der einzige bis dahin bekannt gewordene Nachtvogel, der sich von Körnern nährt ; die Bildung seiner Füße tut genügend dar, daß er nicht wie unsere Eulen Jäger ist. Er nährt sich von sehr harten Kernfrüchten, gleich dem Nuß­ häher [Corvus caryocatactes] und dem Pyrrhocorax. Dieser nistet gleichfalls in Felsspalten und ist unter dem Namen Nachtrabe bekannt. Die Indianer versichern , der Guacharo verzehre weder Käfer noch Nachtschmetterlinge , von denen sich hingegen die Nachtschwalbe nährt . Man muß nur die Schnäbel des Guacharo und der Nachtschwalbe miteinander vergleichen , um sich zu überzeugen , daß ihre Lebensart allerdings sehr verschieden sein muß . Es fällt schwer, sich eine richtige Vorstellung von dem furchtbaren Lärm zu machen, welche viele Tausende dieser Vögel im finsteren Teil der Höhle verursachen . Er läßt sich nur mit dem Gekrächze unserer Krähen verglei­ chen , die in den nordischen Tannenwäldern in Gesellschaft leben und ihre Nester auf Bäume bauen, deren Gipfel einander berühren. Die scharfe und durchdringende Stimme der Guacharos wird in den Wölbungen der Fels­ höhle zurückgeworfen, und das Echo widerhallt im Grunde der Grotte . Die Indianer banden Fackeln an das Ende einer langen Stange , um uns die Ne­ ster dieser Vögel zu zeigen . Sie befanden sich 50 bis 60 Fuß über unseren Köpfen in trichterförmigen Löchern , die in Menge an der Decke der Höhle waren. Das Geräusch wird stärker, sowie man tiefer hineinkommt und die Vögel vor dem Licht scheu werden, das die Kopalfackeln verbreiten . Wurde es etliche Minuten um uns her still , dann ließen sich die entfernteren Klage­ töne der in den Seitengängen der Höhle nistenden Vögel hören. Es war, als ob ihre Schwärme einander wechselnd antworteten . Die Indianer begeben sich jährlich einmal um das Sankt-Johannis-Fest mit Stangen bewaffnet in die Grotte , um den größten Teil der Nester zu zer-

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stören. Es werden alsdann viele tausend Vögel getötet, und die Alten, wohl um ihre Brut zu beschützen, schweben unter fürchterlichem Geschrei über den Köpfen der Indianer. Die Jungen, die zu Boden fallen , werden sogleich ausgeweidet. Ihr Bauchfell ist reich mit Fett durchwachsen , und eine Schicht von Fett verlängert sich vom Unterleib bis zur Öffnung des Afters und bildet eine Art Knopf zwischen den Schenkeln des Vogels. Dieser Überfluß von Fett bei pflanzenfressenden Tieren, die im Finstern leben und sich nur wenig Bewegung geben, erinnert an längst gemachte Beobachtungen über die Mä­ stung von Gänsen und Ochsen. Man weiß, wie sehr dieses Geschäft durch Dunkelheit und Ruhe befördert wird. Die europäischen Nachtvögel sind mager, weil sie vom spärlichen Ertrag ihrer Jagd leben, statt sich mit Früchten zu nähren wie der Guacharo . In der Jahreszeit, welche vom Volk in Caripe die "Einsammlung des Öls" genannt wird, bauen sich die Indianer aus Palmblättern Hütten, teils nahe beim Eingang, teils im Vorderteil der Höhle. Wir sahen noch einige Überreste . Hier wird bei einem mit Busch­ werk unterhaltenen Feuer das Fett der jungen, eben erst getöteten Vögel ge­ schmolzen und in Tongefäßen gesammelt . Es ist unter dem Namen der Butter oder des Öls (manteca oder aceite) des Guacharo bekannt, halb­ flüssig, durchsichtig und geruchlos . Seine Reinheit ist so groß, daß es über ein Jahr aufbewahrt wird , ohne ranzig zu werden. Im Kloster von Caripe wurde in der Küche der Mönche kein anderes Öl gebraucht als das der Grotte , und nie haben wir einen daher rührenden widrigen Geschmack oder Geruch an den Speisen wahrgenommen . Die Menge des eingesammelten Öls steht in keinem Verhältnis zu der Met­ zelei, welche die Indianer jährlich in der Grotte anrichten . Es scheint , daß nicht über 150 bis 160 Flaschen vollkommen reinen mantecas gewonnen werden; der weniger durchsichtige Überrest wird in großen irdenen Ge­ fäßen aufbewahrt. Es erinnert dieser Industriezweig der Eingeborenen an die Einsammlung des Taubenöls , wovon vormals in Carolina einige tausend große Fässer bereitet wurden . Die Verwendung des Guacharoöls in Caripe ist sehr alt, und die Missionare haben nur seine Bereitungsart regelmäßiger geordnet. Die Glieder einer indianischen Familie , die Morocoymas heißt, behaupten, als Abkömmlinge der ersten Kolonisten des Tals rechtmäßige Eigentümer der Grotte zu sein, und sie maßen sich das Recht des Fettmono­ pols an . Die Mönchsanstalten haben glücklicherweise diese Rechte in bloße Ehrenberechtigungen umgewandelt . Dem System der Missionare zufolge müssen die Indianer das zum Unterhalt der Kirchenlampe erforderliche Öl liefern; das übrige wird ihnen, wie man versichert, bezahlt. Wir wollen weder über die Rechtmäßigkeit der Ansprüche der Morocoymas noch über den Ursprung der den Eingeborenen von den Mönchen auferlegten Ver­ pflichtung entscheiden. Es möchte natürlich scheinen, daß der Jagdertrag den Jägern gehöre. Aber in den amerikanischen Wäldern wie im Mittelpunkt

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der europäischen Kultur wird das öffentliche Recht nach den Beziehungen modifiziert, die sich zwischen dem Starken und Schwachen, zwischen den Eroberern und Eroberten etablieren. Das Geschlecht der Guacharos wäre längst vertilgt, wenn seine Erhaltung nicht durch verschiedene Umstände begünstigt würde. Abergläubische Be­ griffe halten die Eingeborenen vom tieferen Eindringen in die Grotte ge­ wöhnlich ab . Es scheint auch, daß benachbarte Höhlen, die ihrer Enge wegen dem Menschen unzugänglich sind, durch Vögel der nämlichen Art be­ wohnt werden. Vielleicht wird die große Höhle von Kolonien aus den klei­ neren Grotten unterhalten und bevölkert; die Missionare bezeugten uns , es sei bis dahin keine spürbare Abnahme in der Zahl der Vögel bemerkt worden . Man hat junge Guacharos nach dem Hafen von Cumana versandt, wo sie einige Tage am Leben blieben, ohne irgendeine Nahrung zu sich zu nehmen, indem die Körner, die man ihnen vorlegte, ihnen nicht behagten. Bei Öffnung des Kropfs und des Magens der jungen Vögel in der Grotte finden die Eingeborenen mancherlei harte und trockene Kernfrüchte, die unter der seltsamen Benennung der Körner oder Semilla deI Guacharo ein berühmtes Mittel gegen das Wechselfieber liefern. Die alten Vögel tragen ihren Jungen diese Körner zu, die man sorgfältig sammelt, um sie den Kranken in Cariaco und in den übrigen tiefgelegenen fieberhaften Orten zu­ kommen zu lassen. Wir folgten im Fortgang der Höhle den Ufern des kleinen Flusses , der in ihr entspringt; seine Breite beträgt 28 bis 30 Fuß. Man wandert dem Ufer entlang, so weit die aus kalkigen Inkrustierungen gebildeten Hügel es ge­ statten; öfters wenn der Waldstrom sich zwischen hohen Stalaktitenmassen hindurchschlingt , muß man in sein Bett hinabsteigen, das nicht mehr als zwei Fuß Tiefe hat. Überraschend war es zu hören, daß dieser unterirdische Fluß der Ursprung des Rio Caripe ist, der in der Entfernung einiger lieues, nachdem er sich mit dem kleinen Rio de Santa Mafia vereint hat, für Pirogen schiffbar ist. Er ergießt sich unter dem Namen Cafio de Terezen in den Strom von Areo . Wir fanden am Ufer des unterirdischen Flusses eine große Menge Palmbaumholz. Es sind Überbleibsel der Stämme, welche die Indianer er­ klettern , um die an der Decke des Gewölbes der Grotte hängenden Vogelne­ ster zu erreichen . Die von den Überresten alter Blattstiele gebildeten Ringe versehen gleichsam die Stufen einer senkrecht stehenden Leiter. Die Höhle von Caripe behält in der gen au gemessenen Entfernung von 474 m vom Eingang noch ihre ursprüngliche Richtung, dieselbe Weite und die gleiche Höhe von 60 bis 70 Fuß . Mir ist auf beiden Kontinenten keine Berghöhle von solch einförmiger und regelmäßiger Bildung bekannt. Wir hatten viel Mühe , die Indianer zu bewegen, über den Vorderteil der Grotte , den sie alljährlich zur "Ernte" des Fettes besuchen, hinauszugehen, und es bedurfte des Gewichts und Ansehens der Patres, um sie zu der Stelle hinzu-

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bringen, wo der Boden plötzlich unter einem Winkel von 60° in die Höhe steigt und wo der Waldstrom einen kleinen unterirdischen Wasserfall bildet. Die Eingeborenen verbinden mystische Vorstellungen mit dem von Nacht­ vögeln bewohnten Raum . Sie glauben , die Geister ihrer Vorfahren hielten sich im Hinterteil der Grotte auf. Der Mensch , sagen sie , soll eine heilige Scheu vor Orten tragen, welche weder die Sonne Zis noch der Mond Nana bescheine . Zu den Gmicharos gehen , bedeutet, zu seinen Vätern gehen oder sterben . Auch nehmen die Zauberer, piaches, und die Giftmischer, imorons , ihre nächtlichen Gauklerkünste am Eingang der Grotte vor, um den Häupt­ ling der bösen Geister, Ivorokiamo , zu beschwören. So gleichen sich unter allen Himmelsrichtungen die frühesten Dichtungen der Völker, vorzüglich die , welche die drei weltregierenden Grundsätze, das Leben der Seelen nach dem Tod, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Sünder, betref­ fen. Die verschiedensten und die rohesten Sprachen enthalten eine Anzahl Bilder, die sich überall ähnlich sind, weil ihre Quelle in unserem Verstand und in unseren Empfindungen liegt . Die Finsternis gesellt sich allenthalben der Vorstellung vom Tode bei. Die Grotte von Caripe ist der Griechen Unter­ welt (Tartaros) , und die über dem unteridischen Fluß schwebenden , Klage­ töne ausstoßenden Gmicharos erinnern an die stygischen Vögel. An der Stelle, wo der Fluß den unterirdischen Wasserfall bildet, stellt sich die der Grottenöffnung gegenüberliegende, reich bewachsene Landschaft auf eine sehr malerische Weise dar. Man erblickt sie am Ausgang eines gerad­ linigen, 240 Toisen langen Kanals . Die vom Gewölbe herabhängenden und in der Luft schwebenden Säulen gleichenden Stalaktiten stellen sich auf der grünen Fläche wundersam dar. Die Öffnung der Grotte erscheint um die Mitte des Tages sehr verengt, und wir sahen sie in der hellen Beleuchtung, die das gleichzeitige Zurückwerfen des Lichts vom Himmel, von Pflanzen und Felsen hervorbringt. Die ferne Tageshelle stand in gewaltigem Gegen­ satz zu der uns in diesen unterirdischen Räumen umgebenden Finsternis. Wir hatten unsere Flinten fast zufällig abgefeuert, da, wo Vögelgeschrei und Flügelschlag uns das Beisammenstehen vieler Nester vermuten ließen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es Herrn Bonpland, zwei Gmicharos zu treffen, die, vom Fackellicht geblendet , uns zu verfolgen schienen. Dieser Umstand setzte mich in den Stand, den bis dahin den Na­ turforschern unbekannt gebliebenen Vogel zu zeichnen . Wir erstiegen mit einiger Mühe den kleinen Hügel, von welchem der unterirdische Bach her­ abfließt. Wir sahen die Grotte sich merklich verengern, indem sie nur noch 40 Fuß Höhe hat und sich nordostwärts verlängert, ohne von ihrer ursprüng­ lichen Richtung abzuweichen, die mit dem großen Tal von Caripe parallel­ läuft. In diesem Teil der Höhle setzt das Wasser des Flusses eine schwärzliche Erde ab , die der ähnlich ist, die man in der Grotte von Muggendorf in

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Franken Opfererde der Grotte des hohlen Bergs nennt . Wir konnten nicht entscheiden , ob diese feine und schwammige Erde durch Spalten, die mit der Oberfläche des Bodens in Verbindung stehen, fällt, oder ob sie von dem in die Höhle dringenden Regenwasser mitgeführt wird . Es war eine Mi­ schung von Kiesel- , Tonerde und vegetabilischem Detritus . Wir wanderten durch dichten Schlamm bis zu einer Stelle , wo wir mit Erstaunen die Fort­ schritte des unterirdischen Pflanzenwachstums wahrnahmen . Die Früchte , welche die Vögel zur Speisung ihrer Jungen in die Grotte tragen, keimen überall , wo sie sich in dem die kalkigen lnkrustierungen deckenden Erdreich festsetzen können. Verkümmerte , mit einigen Blätterspuren versehene Stämmchen hatten eine Höhe von zwei Fuß erreicht . Es war unmöglich , die durch den Mangel des Lichts in Form, Farbe und Gestalt völlig veränderten Pflanzenarten zu unterscheiden. Diese Spuren organischer Bildung mitten in der Finsternis hatten die Neugierde der sonst so stupiden und schwer zu er­ schütternden Eingeborenen in hohem Grad geweckt. Sie pflückten sie mit der schweigenden Andacht , die ihnen ein Ort einflößt, den sie zu fürchten scheinen . Es kam uns fast vor, als glaubten sie in diesen unterirdischen, blassen und entstellten Gewächsen von der Oberfläche der Erde verbannte Phantome zu sehen . Mich erinnerten sie an eine der glücklichsten Epochen meiner frühen Jugend, an einen langen Aufenthalt in den Bergwerken von Freiberg, wo ich über die Wirkungen der unterschiedlichsten Verkümme­ rungen Erfahrungen sammelte , je nachem die Luft rein oder mit Wasser­ oder Sttickstoff überladen ist . Zu noch weiterem Vordringen in der Grotte konnten die Indianer trotz der Autorität der Missionare nicht bewegt werden. Sowie die Wölbung des unterirdischen Raumes niedriger wurde , nahm das Geschrei der Vögel einen durchdringenden Ton an. Wir mußten der Furchtsamkeit unserer Führer nachgeben und umkehren. Der Anblick, den die Höhle gewährte , hatte üb­ rigens etwas sehr Einförmiges . Ein Bischof aus St. Thomas in Guayana war, wie es scheint , weiter als wir vorgedrungen. Er hatte vom Eingang bis zu der Stelle, wohin er gelangte, wo aber die Höhle noch nicht zu Ende ging, fast 2500 Fuß (960 varas) gemessen. Man hatte die Erinnerung an diese Tatsache im Kloster von Caripe aufbewahrt, ohne ihre Zeit genau angeben zu können. Der Bischof führte große Kerzen von weißem kastilianischem Wachs mit sich; wir hatten nur Fackeln aus Baumrinde und einheimischem Harz. Der dicke Rauch , den diese Fackeln in einem engen unterirdischen Raum hervorbringen , wird den Augen lästig und macht das Atemholen be­ schwerlich . Wir folgten dem Lauf des Bergbaches nach der Öffnung der Grotte zu . Ehe noch unsere Augen vom Tageslicht geblendet wurden, sahen wir außer­ halb der Grotte das zwischen Laubwerk durchschimmernde Wasser. Es glich einem fern ausgestellten Gemälde, dem die Öffnung der Grotte als Rahmen

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diente . Endlich am Ausgang eingetroffen, setzten wir uns ans Ufer des Ba­ ches , um von dem ermüdenden Gang auszuruhen. Wir waren froh , dem widrig kreischenden Geschrei der Vögel entronnen zu sein und einen Ort zu verlassen , dessen Dunkelheit den Reiz der Stille und Ruhe keineswegs ge­ währt. Es kam uns fast unbegreiflich vor, daß der Name der Höhle von Ca­ ripe bis dahin in Europa völlig unbekannt geblieben sein sollte . Die Gmi­ charos waren für sich allein schon hinreichend, ihn berühmt zu machen . Außer den Bergen von Caripe und Cumanacoa hat man diese Nachtvögel bis dahin nirgendwo angetroffen. Die Missionare hatten uns am Eingang der Höhle ein Mahl gerüstet. Bana­ nenblätter und die silberglänzenden Blätter des Vij ao [Heliconia bihai, Lin. ] dienten nach Landessitte als Tafeltuch. Nichts mangelte unserem Genuß , sogar geschichtliche Erinnerungen nicht , die sonst in diesen Gegenden so selten sind, wo die Geschlechtsfolgen erlöschen und untergehen, ohne Spuren ihres Daseins zurückzulassen . Unsere Hauswirte erzählten, wie die ersten Ordensgeistlichen, die in diesem Bergland das kleine Dorf Santa Mafia gründeten, während eines Monats in der Höhle wohnten und wie hier, bei Fackelschein, auf einem Felsstück, religiöse Mysterien von ihnen ge­ feiert wurden. Der einsame Ort diente den Missionaren als Refugium bei den Verfolgungen eines kriegerischen Anführers der Tuacopan, die am Ufer des Rio Caripe lagerten.

{Physischer Zusammenhang der Höhlen]

Ehe wir den unterirdischen Fluß und die Nachtvögel verlassen, wollen wir einen nochmaligen Rückblick auf die Höhle des Gmicharo und den Zusam­ menhang ihrer physischen Erscheinungen werfen. Wenn man dem Reisenden Schrittfür Schritt in einer langen Reihe auförtliche Verhältnisse gerichteter Be­ obachtungen gefolgt ist, mag man gerne innehalten, um sich zu allgemeineren Betrachtungen zu erheben [ Hervorhebung vom Hrsg. ] . Sind die großen Aus­ höhlungen, welche man ausschließlich Höhlen nennt, durch dieselben Ursa­ chen entstanden, welche die Drusen der Gänge und Erzlager oder die außer­ ordentliche Erscheinung der Porosität der Felsen hervorbrachten? Gehören die Grotten allen Formationen an oder nur dem Zeitpunkt, wo organische Geschöpfe die Oberfläche des Erdballs zu bewohnen anfingen? Diese geolo­ gischen Fragen sind nur insoweit der Beantwortung fähig, als sie den gegen­ wärtigen Zustand der Dinge , das heißt solche Tatsachen betreffen, die durch Beobachtung ausgemittelt werden können. Betrachtet man die Gesteine ihrer Zeitfolge nach, erkennt man , daß in den Urgebirgsbildungen nur sehr wenige Höhlen vorkommen. Die großen Aushöhlungen, die man im ältesten Granit wahrnimmt und die man Klüfte

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nennt, wenn ihre Wände mit Bergkristallen besetzt sind, entstehen meist aus der Vereinigung mehrerer gleichzeitiger Trümmer von Quarz, Feldspat oder kleinkörnigem Granit . Der Gneis bietet, obwohl seltener, dieselbe Erschei­ nung dar; in der Nähe von Wunsiedel im Fichtelgebirge hatte ich Gelegen­ heit, Kristallklüfte von zwei und drei Fuß Durchmesser in einem von kleinen Gängen durchzogenen Teil des Felsens zu untersuchen . Die Ausdehnung der Höhlungen, die unterirdisches Feuer und vulkanische Ausbrüche im In­ neren der Erde in diesen Urgebirgsbildungen hervorbringen konnten, die viele Hornblende , Glimmer, Granate , halbverkalktes Eisen und Titan ent­ halten , welche ein höheres Alter als der Granit zu haben scheinen und deren Bruchstücke unter den vulkanischen Auswürfen angetroffen werden , ist uns unbekannt. Diese Höhlungen können nur als einzelne und örtliche Erschei­ nungen angesehen werden, und ihr Dasein steht in keinerlei Widerspruch mit den sich aus Maskelynes und Cavendishs schönen Versuchen über die mittlere Dichte der Erde ergebenden Sätzen. In den Urgebirgen, die wir untersuchen können, kommen eigentliche Grotten von einiger Ausdehnung nur in den Kalkformationen, im kohlen­ sauren und schwefelsauren Kalkstein vor. Die Lösbarkeit dieser Substanzen scheint seit Jahrhunderten die Wirkung der unterirdischen Wasser begün­ stigt zu haben. Im Urkalkstein werden ebenso geräumige Höhlen ange­ troffen wie im Übergangskalkstein und in dem, welchen man eigentlich Se­ kundärkalkstein nennt. Wenn diese Höhlen im ersteren seltener vor­ kommen, so liegt der Grund darin , daß dieses Gestein überhaupt nur dem Glimmerschiefer untergeordnete Lager und kein besonderes System ei­ gener Berge bildet, in die das Wasser eindringen und in weiten Räumen um­ laufen könnte . Die Erosion , welche dieses Element verursacht, ist gleichzei­ tige Wirkung teils seiner Menge , teils seines längeren oder kürzeren Verwei­ lens, teils der durch den Fall bestimmten Schnelligkeit seiner Bewegung, teils endlich der Auflösbarkeit des Gesteins. Ich habe beobachtet, daß im all­ gemeinen das kohlensaure und schwefelsaure Kalkgestein der Sekundärge­ birge vom Wasser leichter angegriffen wird als der mit Kieselerde und Koh­ lenstoff stark gemischte Übergangskalkstein. Untersucht man den inneren Bau der die Wände der Höhlen bekleidenden Stalaktiten, so trifft man in ihnen alle Merkmale eines chemischen Niederschlags an. Der kohlensaure Kalk ist nicht bloß mitgeführt in der Masse enthalten, er ist eigentlich darin aufgelöst. Mir ist zwar wohlbekannt, daß in den Versuchen unserer Labora­ torien diese Substanz nur in einem stark kohlensauren Wasser löslich ist; aber die Naturerscheinungen , welche wir täglich in den Höhlen und bei den Quellen wahrnehmen, tun hinlänglich dar, daß eine kleine Menge Kohlen­ säure hinreicht, um das Wasser nach langer Berührung zur Auflösung einiger Teilchen des kohlensauren Kalks fähig zu machen . In dem Maß, wie man den Zeiten näherrückt, wo das organische Leben sich in mannigfacheren

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Gestalten entwickelt , kommt die Erscheinung der Grotten auch häufiger vor. Mehrere von ihnen, die unter dem Namen Balmen bekannt sind, befinden sich nicht im alten Sandstein, zu welchem die große Steinkohlenfor­ mation gehört, sondern im Alpen- und im Jurakalkstein , welcher öfters nur der Oberteil der Alpenformation ist. Der Jurakalk zeigt sich im Alten und Neuen Kontinent dermaßen höhlenreich, daß mehrere Geognosten aus der Schule von Freiberg ihm den Namen "Höhlenkalkstein" gegeben haben . Dieses Gestein ist es, das den Lauf der Flüsse so oft unterbricht und sie gleichsam verschlingt oder in ihr Inneres aufnimmt . Es ist es auch , in dem die Cueva deI Gmicharo und die übrigen Grotten des Caripetals vor­ kommen. Der salzsaure Gips, sei es daß er schichtenweise im Jura- oder im Alpenkalkstein vorkommt oder daß er beide Bindungen trennt oder daß er endlich zwischen dem Alpenkalkstein und dem tonigen Sandstein gelagert ist , bildet gleichfalls , wegen seiner leichten Löslichkeit im Wasser, enorme Höhlenräume . Sie hängen oft in der Entfernung mehrerer lieues mitein­ ander zusammen. Wenn diese unterirdischen Becken mit Wasser angefüllt sind, wird ihre Nähe den Bergleuten gefährlich, indem ihre Arbeit dadurch unvorhergesehenen Überschwemmungen ausgesetzt wird; sind die Höhlen hingegen trocken und sehr geräumig, so begünstigen sie das Austrocknen des Bergwerks. In Geschosse eingeteilt , können sie das Wasser in ihrem Oberteil aufnehmen und zur Unterstützung der Kunstanlagen wie durch die Natur ausgegrabene Abflußgalerien gebraucht werden. Nach den Kalk- und Gipsformationen wäre unter den Sekundärsteinarten noch eine dritte For­ mation, die des tonigen Sandsteins, zu untersuchen, die jünger ist als das Erdreich der Salzquellen ; allein dieses aus kleinen Quarzkörnern und toni­ gem Bindungsmittel bestehende Gestein enthält selten Höhlen, und wo solche vorkommen, sind sie nur klein . Sie verengen sich allmählich gegen ihren Grund hin , und die Wände sind mit braunem Ocker überzogen . Aus dem bisher Gesagten erhellt, daß die Gestalt der Höhlen zum Teil von der Natur der Gesteine abhängt, worin sie vorkommen; doch ist es auch öf­ ters der Fall, daß sich diese Gestalt in ein und derselben Formation durch äu­ ßere Agentien verändert. Es verhält sich mit der Gestaltung der Höhlen wie mit den Umrissen der Berge , mit den Krümmungen der Täler und mit vielen anderen Erscheinungen mehr, welche beim ersten Anblick nur Regellosig­ keit und Verwirrung zeigen . Die geordnete Gestaltung wird offenbar, sobald man eine ausgedehnte Landschaft, die gewaltsame , aber gleichförmige und periodische Umwälzungen erlitten hat, beobachtend ins Auge fassen kann . Nach demjenigen, was ich in den europäischen Gebirgen und in den ameri­ kanischen Cordilleren zu beobachten Gelegenheit hatte , lassen sich die Höhlen ihrer inneren Beschaffenheit nach in drei Klassen teilen. Die Gestal­ tung der einen zeigt weite Risse oder Spalten, den leeren Erzadern ähnlich, wie dies bei der Rosenmüllerschen Grotte in Franken, bei der von Elden-

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hole im Pic von Derbyshire und in den Sumideros von Chamacasapa in Me­ xico der Fall ist . Andere Höhlen gehen an beiden Enden zu Tage aus; es sind eigentliche durchbrochene Felsen , natürliche Galerien, die einen verein­ zelten Berg durchschneiden. Dahin gehören der hohle Berg von Muggen­ dorf und die von den Otomi-Indianern Dantoe genannte berühmte Höhle, der die spanischen Amerikaner den Namen der Gottesmutterbrücke gaben. Es ist eine schwere Aufgabe , die Entstehungsart dieser Kanäle zu erklären, die bisweilen unterirdischem Wasser als Flußbett dienen. Sind die durchbro­ chenen Felsen durch die Kraft einer Strömung ausgehöhlt worden , oder soll man eher annehmen, es sei die eine der Höhlenöffnungen durch einen späteren Einsturz, durch eine Veränderung in der äußeren Gestaltung der Berge wie zum Beispiel durch ein neues , in ihren Flanken eröffnetes Tal ent­ standen? Eine dritte Grottenbildung , die am häufigsten vorkommt, zeigt eine Reihenfolge von Höhlungen , die ungefähr in gleicher Erhöhung und gleicher Richtung stehen und untereinander durch mehr oder weniger schmale Gänge zusammenhängen. Diesen Verschiedenheiten der allgemeinen Gestaltung gesellen sich noch andere, nicht weniger bemerkenswerte Umstände hinzu . Es ist öfters der Fall, daß kleine Grotten sehr weite Öffnungen haben, während man durch sehr niedrige Wölbungen in die weitesten und tiefsten Grotten kriechen muß . Die Gänge , die einzelne Grotten miteinander verbinden, sind meist waagerecht; jedoch sah ich auch solche , welche Trichtern oder Schächten gli­ chen und deren Entstehung man einer sich durch die weiche Masse ent­ wickelnden, elastischen Flüssigkeit zuschreiben könnte. Wenn Flüsse aus Grotten hervorgehen , bilden sie einen einzigen , waagerechten und zusam­ menhängenden Kanal, dessen Erweiterungen beinahe unmerklich sind . So zeigt sich die Cueva deI Gmicharo , welche oben beschrieben wurde , und in den mexicanischen Westcordilleren die Höhle San Felipe bei Tehuilotepec. Das plötzliche Verschwinden [in der Nacht vom 16. April 1802] des in dieser letzteren Höhle entspringenden Baches hat die Verarmung eines Bezirkes verursacht, dessen Kolonisten und Bergleute des Wassers nicht weniger zur Bewässerung der Felder als zur Bewegung hydraulischer Maschinen be­ dürfen. Betrachtet man diese Strukturverschiedenheit der Grottengestaltung in beiden Hemisphären, so sieht man sich genötigt, mehrere sehr verschiedene Ursachen ihrer Bildung anzunehmen. Wenn von der Entstehung der Höhlen die Rede ist , so muß man zwischen zwei Systemen der Naturphilosophie wählen, von denen das eine gewaltsame und plötzliche Erschütterungen in Anspruch nimmt wie zum Beispiel die elastische Kraft der Dämpfe und vul­ kanischen Ausbrüche , während das andere seine Zuflucht zu kleinen, bei­ nahe unmerklichen, durch allmähliche Entwicklung wirkenden Kräften nimmt . Es würde der Bestimmung dieses Werks, das sich mit den Naturge-

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setzen beschäftigt, zuwiderlaufen, den Ursprung der Dinge ergründen zu wollen und die kleine Zahl bisher genau beobachteter Tatsachen zu verlassen, um sich in schwankenden Vermutungen zu verlieren [ Hervorhebung vom Hrsg. ] . Wir wollen einzig die Naturforscher, welche sich gerne mit geologi­ schen Hypothesen beschäftigen , einladen, die Horizontalität nicht zu ver­ gessen , die man so häufig auf großen Ausdehnungen der Gips- und Kalk­ stein gebirge in der Position der durch Zwischengänge miteinander verbun­ denen Grotten wahrnimmt . Diese fast vollkommene Horizontalität und dieses sanfte und gleichförmige Fallen scheinen die Wirkung eines langen Aufenthalts von Wasser zu sein , das schon bestehende Risse mittels Erosion erweitert und die feinsten Teilchen um so leichter wegführt, als der Ton oder das Kochsalz mit dem Gips oder dem Stinkstein vermischt sind. Diese Wir­ kungen sind dieselben, da wo die Höhlungen eine lange zusammenhän­ gende Reihenfolge bilden oder wo mehrere solche Reihenfolgen überein­ ander liegen, wie dies fast ausschließlich in den Gipsgebirgen der Fall ist . Was in den muschelhaltigen oder neptunischen Gesteinen die Wirkung des Wassers ist, scheint in den vulkanischen Gesteinen der Effekt von Gas­ emanationen zu sein, die in der Richtung wirken , in der sie den geringsten Widerstand finden. Wenn eine geschmolzene Masse sich auf einem sehr sanften Abhang fortbewegt, so sind die Achsen der durch die Entwicklung der elastischen Flüssigkeiten gebildeten Höhlen mit der Fläche , worauf die fortgehende Bewegung stattfindet, ungefähr horizontal oder parallel. Eine ähnliche Entwicklung von Dämpfen, verbunden mit der elastischen Kraft der Gase , welche die erweichten und aufgehobenen Schichten durch­ dringen , scheint bisweilen die große Erweiterung der Höhlen zu bestimmen, die man in den Trachyten oder trapp artigen Porphyrfelsen antrifft. Diese Porphyrhöhlen werden in den Cordilleren von Quito und Peru mit dem in­ dianischen Namen der machays bezeichnet ; sie sind überhaupt nicht tief, in­ wendig mit Schwefel überzogen und unterscheiden sich durch ihren unge­ mein weiten Eingang von denen der vulkanischen Tuffsteine in Italien, auf Teneriffa und in den Anden. Reiht man auf diese Weise in Gedanken die pri­ mitiven, sekundären und vulkanischen Gesteine auf und unterscheidet man die oxidierte Kruste des Erdballs vom inwendigen Kern , der vielleicht aus metallischen und entzündbaren Stoffen besteht, trifft man überall Grotten an . Sie versehen in der Haushaltung der Natur die Stelle großer Behälter von Wasser und elastischen Flüssigkeiten. Die Gipshöhlen zeichnen sich durch den Glanz des kristallisierten Selenits [Kalksulfat] aus. Glasartige, braun und gelb gefärbte Blätter lösen sich von einem gestreiften, aus Alabaster- und Stinksteinlagen bestehenden Grund ab , die Kalkgrotten haben eine einförmigere Färbung. Sie sind um so schöner und reicher an Stalaktiten , als sie enger sind und die Luft darin we­ niger freien Umlauf hat. Weil sie zu groß ist und der Luft allzu offen steht,

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kommen in der Höhle von Caripe jene Inkrustationen beinahe gar nicht vor, deren Bildungen an Nachahmungen anderer Formen erinnern , und in an­ deren Ländern die Neugier des Volkes anreizen. Auch habe ich darin vergeb­ lich die unterirdischen Pflanzen und Kryptogamen aus der Familie der Us­ neen gesucht , die man bisweilen den Stalaktiten , wie der Efeu unseren Mauern, angeheftet findet, wenn man zum ersten Mal in eine Seitengrotte dringt. Die Höhlen der Gipsberge enthalten öfters Mofetten und schädliche Gas­ arten. Es ist nicht der schwefelsaure Kalk, der auf die atmosphärische Luft wirkt, sondern der einigermaßen kohlenstoffhaltige Ton und der Stinkstein , die dem Gips so oft beigemischt sind. Es läßt sich noch nicht entscheiden, ob der stinkende kohlenhaltige Kalk als Wasserschwefel oder vermöge eines bituminösen Grundstoffs wirkt. Sein Vermögen, den Sauerstoff zu absor­ bieren , ist allen thüringischen Bergleuten bekannt; es trifft solches zu­ sammen mit der Wirkung des kohlenstoffhaltigen Tons der Gipsgrotten und der Sinkwerke , die man in den durch eingeleitetes Süßwasser bearbeiteten Steinsalzminen anlegt. Die Höhlen der Kalkgebirge sind diesen Zerset­ zungen der atmosphärischen Luft nicht ausgesetzt, insofern sie nicht etwa Knochengerippe vierfüßiger Tiere enthalten oder das mit Bindestoff (Gluten) und phosphorsaurem Kalk vermischte Erdreich , aus welchem sich, wie weiter oben gezeigt wurde , entzündbare und stinkende Gasarten entwik­ keIn. Trotz aller unserer Recherchen bei den Einwohnern von Caripe , von Cu­ manacoa und von Cariaco erhielten wir keinerlei Hinweise , daß in der Grotte des Gmicharo jemals Überreste fleischfressender oder die Knochen­ breccien pflanzenfressender Tiere gefunden wurden, die in den deutschen und ungarischen Höhlen oder in den Spalten der Kalkfelsen von Gibraltar vorkommen. Die fossilen Knochen des Megateriums, der Elefanten und Mastodonten, die durch Reisende aus Südamerika mitgebracht wurden, ge­ hören alle dem lockeren Boden der Täler oder den gehobenen Plateaus an. Mit Ausnahme des Megalonix, einer Art Faultier, das die Größe des Ochsen hat und von Herrn Jefferson beschrieben wurde, kenne ich jetzt kein Bei­ spiel eines in einer amerikanischen Berghöhle entdeckten Tierskeletts . Die überaus große Seltenheit dieser geologischen Erscheinung wird um so we­ niger auffallend sein , wenn man bedenkt, daß Frankreich , England und ita­ lien ebenfalls zahlreiche Felshöhlen besitzen, in denen niemals Spuren fos­ siler Knochen angetroffen wurden . Obgleich in der rohen Natur alles , was sich auf Vorstellungen von Ausdeh­ nung und Masse bezieht, von keiner großen Bedeutung sein kann, muß ich dennoch bemerken , daß die Höhle von Caripe eine der geräumigsten ist , die man im Kalkgebirge kennt. Ihre Länge beträgt wenigstens 900 m . Über­ haupt sind es , dem ungleichen Verhältnis der Auflösbarkeit des Gesteins

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zufolge , nicht die Kalkgebirge , sondern die Gipsformationen , welche die ausgedehntesten Reihenfolgen von Höhlen bilden . In Sachsen kommen be­ kanntlich welche im Gips vor, die mehrere lieues lang sind, zum Beispiel die von Wimmelburg, die mit der Cresfelder Höhle zusammenhängt . Die bemerkenswerteste Beobachtung, welche die Höhlen den Naturfor­ schern gewähren, ist die genaue Bestimmung ihrer Temperatur. Die Höhle von Caripe , die ungefähr unter 10° 10' Breite, also im Zentrum der heißen Zone liegt, ist 506 Toisen über der Wasserfläche im Golf von Cariaco erhöht . Wir fanden in ihr im September die Temperatur der inneren Luft überall zwi­ schen 18,4 und 18,9° des hundertgradigen Thermometers . Die äußere Atmo­ sphäre zeigt 16,2° . Beim Eingang der Höhle hielt sich das Thermometer in der Luft auf 17,6° ; aber ins Wasser des kleinen unterirdischen Baches ge­ taucht, zeigte es bis in den tiefen Grund der Höhle 16 ,8°. Diese Versuche sind sehr anziehend, wenn man über das Gleichgewicht der Wärme nach­ denkt , das sich zwischen Wasser, Luft und Erde zu bilden strebt. Zur Zeit, wo ich Europa verließ, bedauerten die Naturforscher, noch nicht hinläng­ liche Tatsachen über das , was man etwas hochtönend die Temperatur des In­ neren des Erdballs nannte, zu besitzen, und seit kurzem erst wurde mit einigem Erfolg an der Lösung dieser großen Aufgabe der unterirdischen Meteorologie gearbeitet. Die Steinschichten , welche die Rinde unseres Planeten bilden, sind allein unseren Forschungen zugänglich, und man weiß jetzt, daß die mittlere Temperatur dieser Schichten nicht bloß nach Breiten und Höhen variiert, sondern daß sie nach der Lage der Orte während eines Jahres auch regelmäßige Schwingungen um die mittlere Wärme der benach­ barten Atmosphäre ausführt. Wir sind schon weit von dem Zeitpunkt ent­ fernt, wo man verwundert war, in anderen Erdstrichen die Wärme der Höhlen und Brunnen von der in den Kellern der Sternwarte zu Paris beob­ achteten abweichend zu finden. Das gleiche Instrument, welches in diesen Kellern 12° zeigt, steigt in den unterirdischen Räumen der Insel Madeira, nahe bei Funchal , auf 16 ,2° ; in den Brunnen von St. Joseph in Cairo auf 21,2°; in den Höhlen der Insel Cuba auf 22 oder 23°. Dieses Ansteigen steht ungefähr im Verhältnis zu dem der mittleren Temperaturen der Atmosphäre vom 48 . Breitengrad bis zum Wendekreis . Wir haben oben gesehen, daß in der Höhle des Guacharo das Wasser des kleinen Baches fast um 2° kälter als die umgebende Luft der Höhle ist. Das Wasser, es mag durch den Fels einsickern oder über das steinige Bachbett fließen, nimmt ohne Zweifel die Temperatur dieses letzteren an. Die in den Höhlen eingeschlossene Luft hingegen stagniert nicht, sondern steht mit der äußeren Luft in Verbindung. Obgleich in der heißen Zone die Verände­ rungen der äußeren Temperatur nur klein sind, bilden sich doch Strö­ mungen, welche die Wärme der inneren Luft periodisch ändern. Demnach ist es die Temperatur des Wassers von 16,8°, welche man als die Temperatur

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der Erde in diesen Bergen betrachten könnte , wenn man Gewißheit hätte, daß diese Gewässer nicht etwa von den benachbarten höheren Bergen schnell hinunterfließen . Aus diesen Zusammenstellungen ergibt es sich , wenn auch ganz genaue Resultate nicht erzielt werden können , daß doch wenigstens in jedem Erd­ strich Grenzzahlen gefunden werden. Zu Caripe, in der Äquinoktialzone , in 500 Toisen Höhe beträgt die mittlere Temperatur nicht unter 16,8°; dies er­ gibt sich aus dem im Wasser des unterirdischen Baches angestellten Versuch. Zudem kann dargetan werden, daß diese Temperatur nicht über 19° beträgt, weil die Luft der Höhle im September 18 ,7° zeigte . Da die mittlere Tempe­ ratur der Atmosphäre im wärmsten Monat 19 ,5° nicht übersteigt , würde wahrscheinlich das Thermometer, in der Luft der Höhle aufgestellt , zu keiner Jahreszeit über 19° ansteigen . Diese Resultate so wie viele andere mehr, die diese Reisebeschreibung enthält, erscheinen unrichtig, wenn sie einzeln betrachtet werden ; vergleicht man sie hingegen mit den neuerlich unter dem Polarkreis angestellten Beobachtungen der Herren von Buch und Wahlenberg, so können sie teils auf den Naturhaushalt überhaupt, teils auf das Gleichgewicht der Temperatur, nach welchem Luft und Erde immerfort hinstreben , einiges Licht werfen. Es steht außer Zweifel, daß in Lappland die Steinrinde des Erdballs um 3 bis 4° über der mittleren Temperatur der At­ mosphäre ist. Verursacht die in den Tiefen des Äquinoktialozeans beständig herrschende Kälte , welche eine Wirkung der Polarströmungen ist, in den Tropenländern eine fühlbare Verminderung der Temperatur der Erde? Steht die Temperatur daselbst unter der der Atmosphäre? Dies wollen wir in der Folge untersuchen, nachdem wir erst mehrere Tatsachen in den hohen Re­ gionen der Anden-Cordillere gesammelt haben.

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Abreise von Caripe - Gebirge und Wald von Santa Maria ­ Mission von Catuaro - Hafen von Cariaco

Die Tage , welche wir im Kapuzinerkloster auf den Bergen von Caripe zu­ brachten, gingen schnell vorüber, und doch war unsere Lebensweise einfach und gleichförmig . Von Sonnenaufgang bis zum Eintritt der Nacht durch­ streiften wir den Wald und die nahen Berge , um Pflanzen zu sammeln, von denen wir nie eine größere Ernte einbrachten. Wenn der Regen der winterli­ chen Jahreszeit [Regenzeit] uns an weiteren Ausflügen hinderte , so be­ suchten wir die Hütten der Indianer, den conuco der Gemeinde oder die Ver­ sammlungen, worin die indianischen Alcalden jeden Abend die Arbeiten des folgenden Tags anordnen . Ins Kloster kehrten wir nicht eher zurück, bis

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die Glocke uns zur Tafel der Missionare ins Refektorium rief. Bisweilen be­ gleiteten wir sie auch frühmorgens zur Kirche , um der Doktrin , das will sagen, dem Religionsunterricht der Eingeborenen beizuwohnen. Es ist ein mindestens sehr gewagtes Unternehmen, Neubekehrte in kirchlichen Dogmen unterrichten zu wollen, besonders wenn sie mit der spanischen Sprache noch sehr mangelhaft vertraut sind. Die Mönche sind andererseits gegenwärtig mit der Sprache der Chaimas-Indianer fast völlig unbekannt , und die Ähnlichkeit der Laute verwirrt den Geist dieser armen Indianer oft dergestalt, daß sich die seltsamsten Begriffe bei ihnen ergeben müssen . Ich will davon nur ein einziges Beispiel erzählen. Wir waren eines Tages Zeugen, wie der Missionar sich anstrengte , um darzutun, daß infierno , die Hölle , und invierno , der Winter, zwei ganz verschiedene Dinge und einander so un­ gleich seien wie Wärme und Kälte. Die Chaimas , die keinen anderen Winter kennen als die Regenzeit , glaubten fest, die Hölle der weißen Menschen müsse ein Ort sein, wo die Bösen von häufigen Regengüssen überschüttet würden. Wie ungeduldig der Missionar auch wurde , vermochte er doch nicht, den ersten durch die Ähnlichkeit zweier Konsonanten veranlaßten Eindruck auszulöschen oder bei seinen Neubekehrten die Begriffe von Regen und Hölle , von invierno und infierno wieder zu trennen. Wenn wir ungefähr den ganzen Tag über in freier Luft zugebracht hatten, beschäftigten wir uns abends nach der Rückkehr ins Kloster mit Aufzeich­ nung von Notizen, mit Trocknung unserer Pflanzen und mit Zeichnung derer, die uns neue Gattungen zu bilden schienen. Die Mönche ließen uns völlige Freiheit, und wir erinnern uns mit lebhafter Zufriedenheit dieses ebenso angenehmen wie für unsere Arbeiten nützlichen Aufenthalts. Un­ glücklicherweise war der neblige Himmel eines Tales, dessen Wälder eine ungeheure Menge Wasser in die Luft ausströmen , den astronomischen Be­ obachtungen ungünstig . Ich durchwachte einen Teil der Nächte, um den Au­ genblick zu benutzen, wo irgendein Stern in der Nähe seines Durchgangs durch den Meridian zwischen den Wolken sichtbar werden möchte . Oft zit­ terte ich vor Kälte , obgleich das Thermometer nur auf 16° gesunken war. In unseren Klimaten ist dies die Tagestemperatur gegen Ende September. Die Instrumente blieben im Klosterhof mehrere Stunden lang aufgestellt , und fast immer sah ich meine Erwartung getäuscht. Einige gute Beobachtungen des Fomalhaut und des Deneb im Schwan bezeichneten die Breite von Ca­ ripe zu 10° 10' 14/1, woraus sich ergibt, daß die auf Caulins Karte festgestellte Lage um 18' und die Arrowsmithsche um 14' fehlerhaft ist. Da mir Beobachtungen korrespondierender Sonnenhöhen die wahre Zeit auf 2/1 annähernd angaben, so konnte ich mit Genauigkeit zur Mittagszeit die Veränderung der Magnetnadel bestimmen; sie betrug, am 20 . September 1799 3° 15 ' 30/1 ; nordöstlich demnach um 0° 58' 15/1 kleiner als in Cumami. Nimmt man auf den Einfluß der Stunden abweichungen Rücksicht, die in

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diesem Klima allgemein nicht über 8/ betragen , so wird man sich über­ zeugen, daß in beträchtlichen Entfernungen die Abweichung weniger schnell geschieht, als man gewöhnlich glaubt. Die magnetische Inklination betrug 42° 75 ' (der hundertteiligen Einteilung) , und die Zahl der Schwin­ gungen, welche die Stärke der magnetischen Kräfte angeben , stieg in 10/ Zeit auf 229 . Das Verschwinden der Sterne bei nebligem Himmel war das einzige Unan­ genehme, was uns im Tal von Caripe begegnete . Der Anblick dieser Land­ schaft hat etwas Trauriges und Anziehendes zugleich ; er verbindet Wildheit mit Ruhe . Mitten in der so kräftigen Natur fühlt man nur inneren Frieden und Stille . Ich möchte sogar sagen , man wird in der Einsamkeit dieser Berge von den neuen Eindrücken, die man mit jedem Schritt empfängt, weniger er­ griffen als von der Ähnlichkeit mit den entferntesten Klimaten. Die Hügel, an die sich das Kloster lehnt, sind mit Palmen und baumartigen Farnkräu­ tern bewachsen . Abends, wenn der Himmel Regen verkündet, ertönt die Luft vom einförmigen Geheul der Alouaten-Affen [Brüllaffen] , das einem fern durch den Wald brausenden Wind gleicht. Doch trotz dieser unbe­ kannten Töne , dieser fremden Pflanzengestalten und dieser Wunder einer Neuen Welt läßt die Natur den Menschen überall eine Stimme hören, deren Ausdruck ihm bekannt ist . Der Rasen , welcher den Bogen deckt, der Moos­ teppich und die Farnkräuter, welche die Baumwurzeln überziehen , die Waldströme, die sich über eingesenkte Schichten von Kalkfelsen ergießen , das harmonische Farbenlicht endlich , welches die Gewässer, das grüne Laub und der Himmel zurückwerfen - dies alles erinnert den Reisenden an früher empfundene Gefühle . Die natürlichen Schönheiten dieser Berge beschäftigten uns so mannig­ faltig, daß wir spät die Verlegenheit der guten Ordensleute wahrnahmen , die uns gastfreundlich beherbergten. Der Vorrat von Wein und Weizenbrot, den sie sich verschaffen konnten, war nur klein gewesen, und obgleich hierzu­ lande jener und dieses nur als Tafelluxus betrachtet wurden, schmerzte es uns dennoch, als wir bemerkten, daß unsere Hauswirte ihn sich selbst ver­ sagten. Unsere Brotration war bereits um drei Viertel vermindert, und doch zwangen uns grausame Regengüsse , die Abreise noch um zwei Tage zu verzö­ gern. Wie lang kam uns dieser Aufschub vor; wie scheuten wir uns vor dem Ton der Glocke , die ins Refektorium rief! Das feine Betragen der Missio­ nare ließ uns lebhaft fühlen, wie abstechend unsere Lage gegenüber den Rei­ senden war, welche sich beklagen, in den Koptenklöstern von Oberägypten ihrer Mundvorräte beraubt worden zu sein . Am 22 . September endlich geschah unsere Abreise . Vier Maultiere waren mit unseren Instrumenten und Pflanzen beladen. Wir mußten über den nord­ östlichen Abhang des Alpenkalkgebirges von Neu-Andalusien, dem wir den Namen der großen Kette des Bergantin und des Cocollar gaben , hinunter-

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steigen. Die mittlere Höhe dieser Kette beträgt kaum mehr als 600 bis 700 Toisen, und sie kann sowohl in dieser Hinsicht als um ihrer geologischen Ver­ hältnisse willen mit der Jurakette verglichen werden. Der unbeträchtlichen Höhen der Berge von Cumana ungeachtet, ist der Abstieg dennoch sehr mühsam und, man dürfte fast sagen, auch gefährlich nach der Seite von Ca­ riaco. Der Cerro de Santa Maria, über den die Missionare ihren Weg von Cu­ mana nach dem Kloster in Caripe nehmen, ist besonders durch die Be­ schwerden, die er den Reisenden verursacht, berüchtigt. Beim Vergleich dieser Berge : der peruanischen Anden, der Pyrenäen und der Alpen , welche wir der Reihe nach durchwanderten, erinnerten wir uns mehr denn einmal, daß die niedrigsten Gipfel oft am mühsamsten zu erklimmen sind . Beim Austritt aus dem Tal von Caripe kamen wir anfänglich über eine nordostwärts vom Kloster befindliche Hügelreihe. Der Weg führte unter stetem Ansteigen durch eine ausgedehnte Savanne bis auf die Bergebene des Guardia de San Agustin . Hier machten wir halt, um den Indianer zu er­ warten, welcher das Barometer trug. Wir befanden uns auf 533 Toisen abso­ luter Höhe , etwas höher als der Boden der Höhle des Guacharo ist . Die Sa­ vannen oder natürlichen Wiesengründe , die den Klosterkühen eine vortreff­ liche Weide liefern , sind von Bäumen und Sträuchern völlig entblößt. Es ist dies das Gebiet der Monocotyledonen; denn inmitten der Gräser erhebt sich nur hin und wieder ein einzelner Maguey (Agave americana) , dessen Blüten­ schaft über 26 Fuß hoch wird. Auf dem Plateau von Guardia sahen wir uns gleichsam in die Grundfläche eines ehemaligen Sees versetzt , nivelliert vom langen Aufenthalt des Wassers . Man glaubt, die Buchten des einstigen Ge­ stades, die vorspringenden Landzungen, die sich in Gestalt kleiner Inseln er­ hebenden, steil abgeschnittenen Felsstücke wahrzunehmen. Sogar die Ver­ teilung der Pflanzen scheint dieses vormalige Verhältnis anzudeuten . Der Grund des Beckens ist eine Savanne , während an ihren Ufern hochstämmige Bäume wachsen . Vermutlich ist dies das höchste Tal in den Provinzen von Cumana und Venezuela. Man muß bedauern , daß eine Landschaft, die ein so gemäßigtes Klima besitzt und vermutlich dem Anbau des Getreides sehr günstig wäre, völlig unbewohnt ist . Von der Ebene des Guardia steigt man beständig abwärts bis zum indiani­ schen Dorf Santa Cruz . Man passiert zuerst das von den Missionarien seltsam benannte Fegefeuer [bajada deI purgatorio] , einen ungewöhnlich steilen und schlüpfrigen Hang. Dies ist ein verwitterter Sandsteinschiefer­ felsen, der mit Ton bedeckt ist und dessen Böschung furchtbar steil er­ scheint, indem man durch eine gewöhnliche optische Täuschung von der Höhe des Hügels hinab den Weg für mehr als 60° geneigt hält. Die Maultiere nähern im Hinuntersteigen die Hinterbeine den Vorderfüßen, hocken nieder und lassen sich hinabrutschen. Der Reiter hat nichts zu befürchten , wenn er nur den Zügel frei läßt und die Bewegungen des Tieres auf keine

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Weise hindert. Auf diesem Standpunkt erblickt man links die große Pyra­ mide des Gmicharo . Der Anblick dieser Kalkfelsenspitze ist überaus male­ risch ; bald aber verliert man ihn wieder aus den Augen beim Eintritt in den dichten, unter dem Namen der Montafia de Santa Maria bekannten Wald. Der Abstieg dauert sieben Stunden, und kaum mag man sich etwas Schauer­ licheres denken; es ist ein eigentlicher Stufenweg, eine Art Felsenschlucht, worin zur Regenzeit wilde Ströme über Felsenabhänge hinunterstürzen. Die Stufen sind zwei bis drei Fuß hoch, und die unglücklichen Lasttiere müssen , wenn sie erst den Raum ermessen haben, welcher erforderlich ist, um ihre Last zwischen den Baumstämmen durchzubringen, von einem Felsblock zum anderen hinabspringen . Einen Fehlsprung fürchtend, sieht man, wie sie etliche Augenblicke haltmachen, gleichsam um den Platz zu untersuchen und ihre vier Beine , nach Art der wilden Ziegen, einander zu nähern. Er­ reicht das Tier den nächsten Steinblock nicht, versinkt es zur Hälfte des Leibes in dem weichen und ockerartigen Ton , der die Zwischenräume der Felsen ausfüllt . Da, wo Felsblöcke fehlen, gewähren mächtige Baumwur­ zeln den Menschen- und Tierfüßen festen Stand. Diese sind bis auf 20 Zoll dick und kommen nicht selten erst in beträchtlicher Höhe über dem Boden aus dem Baumstamm hervor. Die Creolen vertrauten der Geschicklichkeit und dem glücklichen Instinkt der Maultiere so völlig, daß sie während des langen und gefährlichen Abstiegs im Sattel sitzenbleiben. Weniger die Mühe scheuend als sie und an langsames Reisen gewöhnt, um Pflanzen zu sammeln und Steinarten untersuchen zu können, zogen wir das Zufußgehen vor. Die Sorgfalt, die unsere Chronometer erheischten, ließ uns eigentlich auch keine Wahl. Der Wald, der den steilen Abhang des Berges von Santa Maria bedeckt, ist einer der dichtesten , die ich je gesehen habe . Die Bäume zeichnen sich durch außerordentliche Höhe und Größe gleichmäßig aus . Unter ihrem dichten und dunkelgrünen Laubwerk herrscht ein beständiger Halbtag oder ein Helldunkel, das unsre Fichten- , Eichen- und Buchenwaldungen nicht ge­ währen . Es scheint, als sei trotz ihrer erhöhten Temperatur die Luft nicht in der Lage , die Wassermasse aufzulösen , welche das Erdreich , das Laubwerk der Bäume und ihre mit einer alten Decke von Orchideen , Peperomien und anderen Saftpflanzen überzogenen Stämme ausdünsten . Mit dem würzigen Geruch , welchen die Blüten, die Früchte und das Holz selbst verbreiten, ver­ mischt sich der Geruch unserer Herbstnebel. Hier wie in den Wäldern des Orinoco unterscheidet das die Gipfel der Bäume betrachtende Auge nicht selten Nebelstreifen da, wo die Sonnenstrahlen die dichtbeladene Atmo­ sphäre durchdringen . Unsere Führer machten uns unter den prachtvollen Bäumen, deren Höhe 120 bis 130 Fuß übersteigt, auf den Curucay von Te­ rezen aufmerksam, der ein weißliches , flüssiges und starkriechendes Harz liefert. Die Cumanagotos- und Tagirenindianer gebrauchten solches vor-

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mals zum Räuchern ihrer Götzenbilder. Seine jungen Zweige haben einen angenehmen, obgleich etwas zusammenziehenden Geschmack . Nach dem Curucay und den ungeheuren Stämmen der Hymenea, deren Durchmesser über neun bis zehn Fuß beträgt, waren die Pflanzen, welche unsere Aufmerk­ samkeit vorzüglich anzogen, das Drachenblut (Croton sanguifluum) , dessen braun-purpurfarbner Saft sich über eine weißliche Rinde ergießt , das Cala­ huala-Farnkraut, welches vom peruanischen verschieden ist, aber beinahe ähnliche Heilkraft besitzt , nebst den Palmarten Irasse , Macanilla, Corozo und Praga. Dieser letztere Baum liefert einen sehr schmackhaften Palm­ kohl, den wir im Kloster von Caripe öfters gegessen haben . Angenehm un­ terschieden von diesen Palmen mit gefiederten und stachligen Blättern stellten sich die baumartigen Farnkräuter dar. Eines, Cyathea speciosa , er­ reicht die für Pflanzen dieser Familie außerordentliche Höhe von mehr als 35 Fuß. Hier und im Tal von Caripe entdeckten wir fünf neue Arten der baumar­ tigen Farnkräuter; zu Linnes Zeiten kannten die Pflanzenforscher in beiden Weltteilen nur vier. Man bemerkt , daß die Baumfarne im allgemeinen viel seltener sind als die Palmen. Die Natur hat sie auf gemäßigte , feuchte und schattige Standorte beschränkt. Sie scheuen das unmittelbare Sonnenlicht, und während Pumos und Corypha der Steppen und andere amerikanische Palmarten mehr auf nackten und heißen Ebenen wohl gedeihen, so behalten diese Farnkräuter mit baum artigen Stämmen, welche von fern gesehen Palmen gleichen , den Charakter und die Gewohnheiten kryptogamischer Pflanzen. Sie lieben ein­ same Orte , den Halbschatten, eine feuchte , gemäßigte und unbewegte Luft ; wenn sie bisweilen gegen die Küsten hinabsteigen , so geschieht es nur unter dem Schutz dichter Schatten. Die alten Stämme von Cyathea und Meniscium sind mit einem kohlenartigen Pulver bedeckt, welches (vielleicht ohne Was­ serstoff) einen metallischen, dem Graphit ähnlichen Glanz besitzt . Kein an­ deres Gewächs bot uns diese Erscheinung dar; denn die Stämme der Dicoty­ ledonen haben trotz des heißen Klimas und der Intensität des Lichts in den Tropenländern ein weniger verbranntes Aussehen als in der gemäßigten Zone . Es scheint, als ob die Stämme der Baumfarne , die sich gleich den Mo­ nocotyledonen durch die Überreste der Blattstiele vergrößern , von der Peri­ pherie zum Zentrum hin sterben und in Ermangelung der Rindenorgane , welche die ausgeschiedenen Säfte gegen die Wurzeln hinabführen, durch den Sauerstoff der Atmosphäre leichter verdorren. Ich habe Proben dieses, von sehr alten Meniscium- und Aspidium-Stämmen herrührenden Pulvers mit Metallglanz nach Europa gebracht. Sowie wir vom Berg Santa Maria ins Tal hinunterkamen , verminderten sich die baumartigen Farnkräuter, während die Palmen häufiger wurden. Die schönen großflügligen Schmetterlinge , die Nymphalen, welche sich durch ihren hohen Flug auszeichnen, erschienen in großer Menge . Alles ver-

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kündete die Nähe der Küste und eines Erdstrichs , dessen mittlere Tagestem­ peratur zwischen 28 und 30° des hundertteiligen Thermometers beträgt. Der Himmel war bedeckt und ließ einen jener Gußregen befürchten, wäh­ rend welcher oft 1 bis 3 Zoll Wasser an einem Tag niederfallen. In Zwischen­ räumen wurden die Gipfel der Bäume von der Sonne beschienen; und ob­ gleich wir gegen ihre Strahlen geschützt waren, litten wir unter der drük­ kenden Hitze . Bereits donnerte es von weitem her, die Wolken erschienen wie an den hohen Bergspitzen des Gwicharo aufgehängt, und das Klagege­ heul der Araguatos , das wir bei Sonnenuntergang in Caripe so oft gehört hatten, verkündete die Nähe des Gewitters. Zum ersten Mal kamen uns hier diese heulenden Affen in der Nähe unter die Augen. Sie gehören zur Familie der Alouaten [Stentor, Geoffroy] , deren verschiedene Arten von den Autoren häufig verwechselt wurden. Während die kleinen amerikanischen Sapajus, deren Pfeifen die Stimme der Sperlinge nachahmt, ein dünnes und einfa­ ches Zungenbein haben, besitzen dagegen die größeren Affenarten der Alouaten- und Marimonden-Familien [Ateies, G.] eine breite knöcherne Trommel. Ihr oberer Kehlkopf ist mit sechs Taschen versehen, worin sich die Stimme verliert und deren zwei in Gestalt von Taubennestern dem unteren Kehlkopf der Vögel ziemlich gleichen . Der den Araguatos eigene Klageton wird durch die kräftig in die knöcherne Trommel hineingejagte Luft hervor­ gebracht. Ich habe diese den Anatomen nur unvollkommen bekannten Or­ gane vor Ort gezeichnet und seit meiner Rückkehr in Europa ihre Beschrei­ bung zuerst publiziert [Observations de Zoologie , Tom . I] . Bedenkt man den Umfang des Knochenkastens der Alouaten und die Menge der heu­ lenden Affen, die auf einem einzigen Baum in den Wäldern von Cumana und Guayana beisammensitzen, so wundert man sich weniger über Stärke und Volumen ihrer vereinten Stimmen. Der Araguato , den die Tamanacos-Indianer Aravata und die Maipures Marave nennen, gleicht einem jungen Bären . Seine Länge beträgt drei Fuß, von der Spitze des Kopfes, der klein und völlig pyramidenförmig gebaut ist, bis zum Anfang des Schwanzes gemessen; sein dichter Haarwuchs ist von braunroter Farbe ; Brust und Unterleib sind gleichfalls mit schönen Haaren bedeckt und keineswegs nackt, wie beim Mono colorado oder Buffons Alouate roux, den wir auf dem Weg von Cartagena in Neu-Granada nach Santa Fe de Bogota genau zu untersuchen Gelegenheit hatten. Das Antlitz des Araguato ist blau-schwärzlich gefärbt und mit einer feinen , gerunzelten Haut überzogen . Er hat einen ziemlich langen Bart, und trotz der Richtung der Gesichtslinie , deren Winkel nicht über 30° beträgt, zeigt der Araguato in Blick und physiognomischem Ausdruck so viel Ähnlichkeit mit dem Men­ schen wie der Marimonde (Simia Belzebuth , Brisson) und der Kapuziner vom Orinoco (S. Chiropotes) . Unter mehreren tausend Araguatos, die wir in den Provinzen von Cumana, Caracas und Guayana beobachten konnten , ist

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uns weder bei einzelnen Individuen noch bei ganzen Rotten am braunroten Haarwuchs des Rückens und der Schultern irgendeine Verschiedenheit vor­ gekommen. Es scheint mir überhaupt, daß die Farbenabweichungen unter den Affen seltener seien, als die Naturforscher meinen. Besonders selten kommen sie bei den in Gesellschaft lebenden Affen vor. Der Araguato von Caripe ist eine neue Art der Gattung Stentor, die ich unter dem Namen Simia ursina bekanntgemacht habe . Ich zog diesen Namen dem vor, den ich von der Farbe des Haarwuchses hernehmen konnte, und behielt ihn um so lieber bei , als nach einer Stelle bei Photius auch die Griechen schon einen behaarten Affen unter dem Namen Arctopi­ thecos kannten . Unser Araguato ist gleichmäßig vom Uarino (Simia gua­ riba) und vom roten Alouate (S. seniculus) verschieden . Sein Blick, seine Stimme und sein Gang haben einen Ausdruck von Traurigkeit. Ich habe junge Araguatos gesehen, die in den Hütten der Indianer aufgezogen wurden; sie spielen niemals wie die kleinen Sagoins es tun, und L6pez de G6mara hat zu Anfang des 16 . Jahrhunderts ihren Ernst naiv und richtig wie folgt beschrieben: "Der Aranata de los Cumaneses hat das Angesicht eines Menschen, den Bart eines Ziegenbocks und eine gesetzte Haltung, honrado gesto . " Ich habe bereits in einem anderen Teil dieses Werks bemerkt, daß die Affen um so trauriger sind, je mehr sie dem Menschen ähnlich sehen [Obser­ vations zool. , I, S . 329 und 356, Tafel 30] . Ihre mutwillige Lustigkeit vermin­ dert sich in dem Verhältnis , wie ihre Geisteskräfte sich zu entwickeln scheinen. Wir hatten angehalten , um die heulenden Affen zu beobachten , die , 30 bis 40 an der Zahl, auf sich kreuzenden und waagerecht stehenden Baumästen in einer langen Reihe quer über den Weg hinzogen. Während dieses neue Schauspiel unsere ganze Aufmerksamkeit beschäftigte , begegnete uns ein Trupp Indianer auf der Reise nach den Bergen von Caripe . Sie waren völlig nackt, wie es die meisten Eingeborenen sind. Die Frauen, mit einer ziemlich schweren Bürde beladen, schlossen den Zug; die Männer waren bis zu den jüngsten Knaben alle mit Bogen und Pfeilen bewaffnet. Sie zogen ihren Weg mit zur Erde gesenktem Blick und stillschweigend. Wir suchten von ihnen zu vernehmen, ob wir noch fern von der Mission von Santa Cruz seien, wo wir zu übernachten dachten. Wir fühlten uns müde und waren von Durst ge­ quält. Die Hitze vermehrte sich mit Annäherung des Gewitters, und wir hatten den Tag über nirgends eine Quelle angetroffen, die uns erquicken konnte. Die Worte "SI Padre , no Padre" , welche von den Indianern ständig wiederholt wurden, ließen uns glauben , sie verständen etwas Spanisch . In den Augen der Eingeborenen ist jeder Weiße ein Mönch, ein Padre ; denn in den Missionen bezeichnet die Farbe der Haut den Ordensmann noch si­ cherer als die Farbe des Kleides. Wie sehr wir die Indianer mit unseren Fragen über die Länge des Weges auch quälen mochten, sie antworteten will-

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kürlich und ohne Unterschied ihr "si" und "no" , so daß damit unmöglich ein bestimmter Begriff verbunden werden konnte . Wir wurden hierüber um so ungeduldiger, als ihr Lächeln und ihre Gebärden die Absicht, uns gefällig zu sein, deutlich verrieten und der Wald auch immer dichter zu werden schien. Wir mußten uns trennen ; die indianischen Führer, welche die Chaimas-In­ dianer verstanden , konnten uns nur in einiger Entfernung folgen, weil die Maultiere , die das Gepäck trugen, jeden Augenblick in den Bergschluchten zu Boden stürzten . Nach einem mehrstündigen Hinuntersteigen über zerstreut liegende Fels­ blöcke befanden wir uns unverhofft am Ausgang des Waldes von Santa Maria. Eine Savanne , deren Grün die Winterregen [der Regenzeit] erneuert hatten, dehnte sich, so weit das Auge reichte , vor uns aus . Links öffnete sich ein schmales Tal, das nach den Bergen von Guacharo führt und mit dichtem Walde bewachsen ist . Der Blick des Wanderers ruhte über den Gipfeln seiner Bäume , die , an 800 Fuß tiefer als der Weg , einen dunkelgrünen einför­ migen Teppich bildeten. Wo Lichtungen im Wald waren, erschienen sie uns als weite Trichter, in denen wir die Praga- und die Irasse-Palme an ihrer zier­ lichen Gestalt und an den gefiederten Blättern erkannten. Was aber diese Landschaft vorzugsweise malerisch macht, ist der Anblick der Sierra deI Guacharo. Ihr nördlicher Abhang, gegen den Golf von Cariaco hin , fällt steil ab: Er zeigt sich als eine Felsenmauer, in fast senkrechtem Profil, über 3000 Fuß hoch. Die Vegetation, welche diese Mauer deckt, ist so dünn , daß das Auge leicht die parallellaufenden Kalkschichten unterscheiden kann . Der Gipfel der Sierra ist abgeflacht, und nur an seinem östlichen Ende erhebt sich , einer gesenkten Pyramide gleich, der majestätische Pic von Guacharo. Er erinnert durch seine Gestalt an die Spitzberge und Hörner (aiguilles et comes, Schreckhorn, Finsteraarhorn) der Schweizer Alpen. Weil die mei­ sten steil abgeschnittenen Berge dem Auge höher zu sein scheinen, als sie in der Tat sind, darf man sich nicht wundern , daß der Guacharo in den Mis­ sionen als eine Bergspitze angesehen wird, die den Turimiquiri und den Bergantfn beherrscht. Die Savanne , die wir bis zum indianischen Dorf von Santa Cruz durchwan­ derten, ist aus mehreren zusammenhängenden und wie Stockwerke überein­ ander liegenden Plateaus zusammengesetzt. Diese geologische Erschei­ nung , die sich in jedem Klima wiederholt, scheint langen Aufenthalt der Ge­ wässer in Becken , von denen eines sich in das andere ergossen hat, anzu­ deuten . Der Kalkfelsen geht nicht mehr zu Tag aus und ist von einer dichten Erdlage bedeckt. Wo wir ihn zum letzten Mal im Wald von Santa Maria sahen, war er etwas porös und dem Kalkstein von Cumanacoa ähnlicher als dem von Caripe . Wir fanden darin nesterweise zerstreutes braunes Eisenerz, und wenn wir uns nicht getäuscht haben, auch ein Ammonshorn. Wir konnten es nicht lösen ; sein Durchmesser betrug 7 Zoll. Diese Tatsache ist

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um so wichtiger, als wir bis dahin in diesem Teil des südlichen Amerika nir­ gendwo Ammoniten wahrgenommen hatten. Die Mission von Santa Cruz liegt mitten in der Ebene . Wir trafen gegen Abend ein , von Durst gequält, da wir etwa acht Stunden kein Wasser angetroffen hatten. Das Thermometer hielt sich auf 26°; auch befanden wir uns nur noch 190 Toisen über der Mee­ resfläche . Die Nacht brachten wir unter einem der ajupas zu , die man könig­ liche Häuser nennt und die , wie ich schon weiter oben bemerkt habe , den Reisenden als tambo oder Karawanserei dienen . Der Regen machte astrono­ mische Beobachtungen unmöglich, und am folgenden Tag (23 . September) [1799] stiegen wir weiter nach dem Golf von Cariaco hinunter. Jenseits von Santa Cruz fängt ein neuer Wald an . Wir fanden hier unter Melastomenge­ büschen ein schönes Farnkraut mit Blättern der Osmunda, das eine neue , zur Ordnung der Polypodien gehörige Gattung [Polybotria] bildet. Bei unserer Ankunft in der Mission von Catuaro wünschten wir ostwärts den Weg über Santa Rosalia, Casaney, San Jose, Canipano, Rio Caribe und den Paria-Berg fortzusetzen; allein zum großen Leidwesen hörten wir, die Wege seien durch die Schlagregen bereits völlig unbrauchbar geworden, und wir würden Gefahr laufen, unsre bisher gesammelten Pflanzen zu verlieren. Ein reicher Cacaopflanzer sollte uns von Santa Rosalia nach dem Hafen von Canipano begleiten. Wir erfuhren noch zu rechter Zeit, daß ihn Geschäfte nach Cumami gerufen hatten, und beschlossen , uns in Cariaco einzuschiffen und geradewegs durch den Golf zurückzukehren, statt die Durchfahrt zwi­ schen den Inseln Margarita und der Landenge von Araya zu passieren. Die Mission von Catuaro liegt in einer der wildesten Landschaften . Hoch­ stämmige Bäume stehen jetzt noch um die Kirche, und Tiger fressen zur Nachtzeit die Hühner und Schweine der Indianer. Wir wohnten beim Pfarrer, einem Mönch des Ordens der Observanz, dem die Kapuziner in Ermanglung eigener Ordensleute die Mission übergeben hatten. Dieser Doktor der Theologie war ein kleiner, hagerer Mann von fast ungestümer Lebhaftigkeit . Er erzählte uns unaufhörlich von einem Prozeß, welchen er mit dem Guardian seines Klosters führte, von dem feindseligen Betragen seiner Ordensbrüder und von der Ungerechtigkeit der Alcalden, die ihn , ohne Rücksicht der Vorrechte seines Standes, gefangengesetzt hatten. Trotz dieser Abenteuer hatte er einen unseligen Hang beibehalten für Dinge , die er metaphysische Fragen nannte . Er verlangte nämlich zu wissen, was meine Ansicht und Meinung sei über den freien Willen , über die Mittel, wodurch die Geister von ihren Körperbanden befreit werden mögen , vorzüglich aber über die Tierseelen, von denen er sich die seltsamsten Begriffe machte . Nachdem man zur Regenzeit die Wälder durchwandert hat, fühlt man sich zu solchen Spekulationen sehr wenig aufgelegt. Es war übrigens in dieser kleinen Mission von Catuaro alles außerordentlich, sogar auch die Pfarr­ wohnung. Diese bestand aus zwei Stockwerken und hatte eben deshalb

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einen lebhaften Streit zwischen den weltlichen und geistlichen Oberen verur­ sacht. Der Pater Superior der Kapuziner fand die Einrichtung allzu kostbar für einen Missionar und wollte die Indianer anhalten , die Wohnung wieder abzubrechen; der Gouverneur hingegen widersetzte sich nachdrücklich, und sein Wille behielt auch die Oberhand. Ich führe diese an sich unwich­ tigen Tatsachen nur deshalb an, weil sie über die inneren Verhältnisse der Missionen Aufschlüsse geben können, die nicht immer so friedlich sind , wie man in Europa glaubt . In der Mission von Catuaro trafen wir den Corregidor [Don Alejandro Mexia] des Bezirks, einen liebenswürdigen Mann von gebildetem Geist. Er gab uns drei Indianer, die mit ihren Macheten vorausgehen und den Weg bahnen mußten . In diesem wenig besuchten Land ist das Wachstum der Pflanzen zur Zeit der andauernden Regen so kräftig, daß ein Reiter Mühe hat , in den schmalen, mit Lianen und verflochtenen Ästen bedeckten Pfaden durchzukommen. Zum großem Leidwesen für uns wollte der Mis­ sionar von Catuaro durchaus unser Begleiter nach Cariaco sein . Wir konnten es nicht hindern ; von seinen Träumereien über Tierseelen und über den freien Willen des Menschen war jetzt weiter die Rede nicht; er hatte uns von einem viel traurigeren Gegenstand zu erzählen: Der Unabhängigkeitsbewe­ gung, die 1798 in Caracas ihren Durchbruch verfehlt hatte , war Gärung unter den Sklaven von Coro , Maracaibo und Cariaco vorangegangen und ge­ folgt. Ein unglücklicher Neger war in dieser letzteren Stadt zum Tod verur­ teilt worden, und unser Hauswirt, der Pfarrer von Catuaro, begab sich jetzt dorthin, um ihm seine geistlichen Dienste anzubieten. Wie lang schien uns dieser Weg, auf dem wir Gesprächen nicht ausweichen konnten , "über die Notwendigkeit des Sklavenhandels , über die angeborene Bösartigkeit der Schwarzen und über die Vorteile , welche diesem Menschenstamm die Skla­ verei unter den Christen gewährt" ! Die spanische Gesetzgebung, wenn man sie mit dem >Code Noir< , dem >Schwarzen Gesetzbuch< der meisten übrigen Völker, die Besitzungen in beiden Indien haben, vergleicht, erscheint allerdings milde . Aber die Lage der vereinzelten Neger in den kürzlich erst urbar gemachten Ländereien ist so beschaffen, daß der Arm der Gerechtigkeit , weit entfernt , sie während ihres Lebens kräftig zu schützen , nicht einmal die Grausamkeiten zu strafen vermag, die ihren Tod herbeiführten. Wird auch eine gerichtliche Untersu­ chung anberaumt, setzt man den Tod des Sklaven doch auf Rechnung seiner schwachen Gesundheit oder des heißen und feuchten Klimas oder der Wunden , die er zwar erhalten hat , die aber, wie man versichert , weder tief noch gefährlich waren. Die Zivilbehörden haben keinerlei Einfluß auf die Verhältnisse der Haussklaven , und nichts ist trügerischer als jene viel ge­ rühmte Wirkung der Gesetze , welche die Form der Peitschen und die Zahl der Hiebe bestimmen , die auf einmal gegeben werden dürfen. Wer nicht in

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den Kolonien gelebt oder auf den Antillen gewohnt hat, denkt ziemlich all­ gemein , der eigene Vorteil der Sklavenbesitzer, der die Erhaltung der Sklaven erheischt, müsse ihr Schicksal um so milder machen , je geringer ihre Zahl ist. Indessen hatte in Cariaco selbst, wenige Wochen ehe ich in der Pro­ vinz eintraf, ein Pflanzer, der nicht mehr als acht Negersklaven besaß , sechs davon auf die barbarischste Art durch Auspeitschen umgebracht. Freiwillig zerstörte er den größeren Teil seines Vermögens . Zwei seiner Sklaven blieben auf der Stelle tot; mit den vier anderen , die stärker zu sein schienen , schiffte er sich nach dem Hafen von Cumaml ein ; sie starben ihm aber alle auf der Überfahrt. Dieser grausamen Tat war im gleichen Jahr eine andere, unter ebenso furchtbaren Umständen verübt, vorangegangen . Solch große Missetaten bleiben fast ganz straflos; der Geist, von welchem die Gesetze ausgingen , ist von dem ihres Vollzuges sehr verschieden. Der Gouverneur von Cumana war ein Gerechtigkeit liebender und menschlich gesinnter Mann ; aber die Rechtsformen sind vorgeschrieben, und die Gewalt des Gouverneurs dehnt sich nicht auf eine Reform von Mißbräuchen aus, die jedem europäischen Kolonialsystem innewohnen . Der Weg, den wir durch den Wald von Catuaro einschlugen, gleicht dem Abstieg vom Berg Santa Maria; auch hat man seine schwierigsten Stellen mit ebenso seltsamen Namen bezeichnet. Man geht wie durch eine enge , von rei­ ßenden Bächen ausgehöhlte und mit feinem und zähem Ton ausgefüllte Bergschlucht. Die Maultiere hocken nieder und rutschen über die steilsten Abhänge hinunter. Dieser Abhang wird Saca-Manteca genannt, um des dichten Schlammes willen, welcher Butter gleicht. Gefährlich ist das Hinun­ tersteigen bei der großen Gewandtheit der einheimischen Maultiere nicht. Der Ton, der den Boden so schlüpfrig macht, rührt von den vielen Sandstein­ und Tonschieferschichten her, die zwischen dem graubläulichen Alpenkalk­ stein vorkommen; der letztere verschwindet, sowie man Cariaco näher­ kommt. Das Gebirge von Meapire besteht schon großenteils aus weißem Kalkstein, der viele pelagische Versteinerungen enthält und, wie die in der Masse vorkommenden zusammengebackenen Quarzkörner zeigen, der großen Breccienformation des Küstenlandes anzugehören scheint . Man steigt über die Felsschichten des Berges hinunter, deren Anstehendes Stufen von ungleicher Höhe bildet; auch dies ist ein wahrhaft abgestufter Weg. Wei­ terhin, am Ausgang des Waldes, gelangt man zum Hügel Buenavista. Er führt seinen Namen mit Recht, indem man von hier aus die Stadt Cariaco er­ blickt, mitten in einer weiten Ebene, die mit Pflanzungen , Hütten und zer­ streuten Cocoswäldchen besetzt ist. Westwärts von Cariaco dehnt sich der große Golf aus , den eine Felsenmauer vom Meer trennt. Ostwärts endlich entdeckt das Auge, gleich bläulichen Wolken, die hohen Berge von Areo und Paria. Es ist eine der weitesten und prachtvollsten Fernsichten, die man an den Küsten Neu-Andalusiens genießen kann.

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In der Stadt Cariaco trafen wir einen großen Teil der Einwohner, vom Wechselfieber befallen, in ihren Hängematten ausgestreckt an. Diese Fieber nehmen im Herbst einen bösartigen Charakter an und gehen in schlimme, ruhrartige Fieber über. Bedenkt man die ungemein große Fruchtbarkeit der umliegenden Ebenen, ihre Feuchtigkeit und die Pflazenmenge , mit der sie überzogen sind, so begreift man leicht, warum mitten unter so vielfachen Zer­ setzungen organischer Körper die Einwohner diese gesunde Luft nicht ge­ nießen, die in der dürren Landschaft von Cumana herrscht. Es fällt schwer, in der heißen Zone einen sehr fruchtbaren Boden, häufigen und anhaltenden Regen und einen ungemein üppigen Pflanzenwuchs anzutreffen, ohne daß diesen Vorteilen ein der Gesundheit der weißen Menschen mehr oder minder nachteiliges Klima das Gegengewicht hielte . Dieselben Ursachen , welche die Fruchtbarkeit des Bodens erhalten und die Entwicklung der Pflanzen be­ schleunigen , erzeugen auch gasartige Ausdünstungen , die , der Atmosphäre beigemischt, ihr schädliche Eigenschaften verleihen. Wir werden öfters Anlaß haben, das Zusammentreffen dieser Erscheinungen nachzuweisen, wenn wir die Kultur des Cacaobaums und die Gestade des Orinoco be­ schreiben, wo an einigen Stellen selbst die Eingeborenen Mühe haben , sich dem Klima anzupassen . Im Tal von Cariaco hängt die ungesunde Beschaffen­ heit der Luft nicht nur von den allgemeinen , soeben gedachten Ursachen ab , sondern es gesellt sich ihnen der besondere Einfluß örtlicher Verhältnisse hinzu . Es lohnt die Mühe, die Natur und Beschaffenheit dieses Terrains, das den Golf von Cariaco vom Golf von Paria trennt, näher zu untersuchen . Die Kette der Kalkgebirge des Bergantfn und des Cocollar sendet nord­ wärts einen beträchtlichen Ast aus, der sich mit den Gebirgen der prirnitiven Formation der Küste vereinigt. Dieser Seitenast führt den Namen der Sierra de Meapire ; seine nach der Stadt Cariaco hin gerichtete Seite heißt der Cerro grande de Cariaco. Seine mittlere Höhe schien mir nicht über 150 bis 200 Toisen zu betragen; da, wo ich ihn untersuchen konnte , besteht er aus der Kalkbreccie des Küstenlandes. Mergel und Kalkschichten wechseln mit anderen ab , die Quarzkörner enthalten. Es ist eine auffallende Erscheinung für den Beobachter, der das Relief eines Landes untersucht, einen querlau­ fenden Berggrat wahrzunehmen, der rechtwinklig zwei parallellaufende Ketten verbindet , deren eine , die südlichste , aus Sekundärgestein und die andere, die nördlichste , aus solchen primitiven Formationen besteht. Diese letztere , die wir auf unserer kleinen Reise nach der Halbinsel Araya kennen­ gelernt haben, zeigt bis gegen den Meridian von Canipano nur Glimmer­ schiefer; hingegen ostwärts von diesem Punkt, da, wo sie durch einen Quer­ grat ( die Sierra de Meapire ) mit der Kalkkette verbunden ist, enthält sie blättrigen Gips, kompakten Kalk und andere Gesteine der Sekundärforma­ tion. Man möchte sagen, die südliche Kette habe diese Gesteine der nörd­ lichen gegeben .

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Vom Gipfel des Cerro de Meapire hinab sieht man die Abdachung einer­ seits nach dem Golf von Paria und andererseits nach dem Golf von Cariaco hin . Ostwärts und westwärts des Grates liegt in ununterbrochener Ausdeh­ nung ein tiefes und sumpfiges Erdreich ; und wenn man annimmt, daß die zwei Meerbusen ihre Entstehung Versenkungen und durch Erderschütte­ rungen bewirkten Zerreißungen verdanken, so muß man auch annehmen, der Cerro de Meapire habe diesen Krämpfen des Erdballs widerstanden und die Vermischung der Gewässer des Golfs von Paria mit denen des Golfs von Cariaco verhindert. Ohne das Dasein dieses Felsendamms wäre wahrschein­ lich auch die Landenge nicht vorhanden; vom Schloß Araya bis zum Kap Paria würde die Gesamtmasse der Küstenberge eine schmale , der Insel Margarita paralleIlaufende und viermal längere Insel bilden. Nicht nur die Untersuchung des Terrains und aus dem Relief gewonnene Betrachtungen bestärken diese Behauptungen: Die einfache Ansicht der Küstenform und die geologische Karte des Landes rufen die gleichen Ideen hervor. Es scheint, die Insel Margarita sei vormals mit der Küstenkette von Araya durch die Halbinsel Chacopata und die caribischen Inseln Lobo und Coche auf gleiche Weise verbunden gewesen, wie diese Kette jetzt noch mit der von Cocollar und Caripe durch den Berggrat von Meapire zusammenhängt. Beim gegenwärtigen Zustand der Dinge vergrößern sich durch das der See abgewonnene Land die feuchten Ebenen, die sich ostwärts und west­ wärts der Berggrate verlängern und die unpassenden Namen der Täler von San Bonifacio und von Cariaco führen. Die See zieht sich zurück, und diese Veränderungen des Ufers fallen an der Küste von Cumana vorzüglich auf. Wenn die Verebnung des Bodens anzudeuten scheint, daß die zwei Meer­ busen von Cariaco und Paria vormals eine ungleich größere Ausdehnung hatten, läßt sich nicht bezweifeln, daß nunmehr das feste Land fortschrei­ tend wächst. Nahe bei Cumana befindet sich eine Batterie , de la Boca ge­ nannt, die 1791 unmittelbar am Meeresufer errichtet wurde und die wir 1799 in bedeutender Entfernung von der See antrafen. Noch schneller zeigt sich das Zurückweichen des Wassers an der Mündung des Rio Neveri beim Morro de Nueva Barcelona . Diese örtliche Erscheinung ist wahrscheinlich eine Folge von Anschwemmungen , deren Gang und Verhältnisse noch nicht hinlänglich untersucht sind . Beim Hinabsteigen von der Sierra de Meapire , welche die Landenge zwi­ schen den Ebenen von San Bonifacio und von Cariaco bildet, sieht man ost­ wärts den großen See von Putacuao , der mit dem Rio Areo zusammenhängt und 4 bis 5 lieues Durchmesser hat. Das Bergland, welches dieses Becken einfaßt, ist nur den Eingeborenen bekannt. Hier kommen die großen Boa­ Schlangen vor, welche die Chaimas-Indianer Guainas nennen und denen sie einen unter dem Schwanz befindlichen Stachel andichten. Westwärts trifft man beim Hinuntersteigen von der Sierra de Meapire anfangs ein unter-

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höhltes Terrain (tierra hueca) an, das während der großen Erdbeben von 1766 in zähes Erdöl eingehüllten Asphalt auswarf; weiterhin kommt eine zahllose Menge schwefelhaltiger Mineralquellen aus dem Boden hervor; endlich gelangt man an das Ufer des Sees von Campoma , dessen Ausdün­ stungen das Klima von Cariaco ungesund machen helfen. Die Eingeborenen glauben, das unterhöhlte Erdreich sei eine Folge des sich darin verlierenden warmen Wassers, und dem Widerhall nach , den der Hufschlag der Pferde hervorbringt, muß man glauben, die unterirdischen Höhlen dehnten sich von Westen nach Osten, bis gegen Casancy, 3000 bis 4000 Toisen lang aus. Ein kleiner Fluß, der Rio Azul , durchläuft diese Ebenen. Sie haben Spalten und Risse , die von Erdbeben herrühren, die ein besonderes Aktionszentrum haben, welches sich nur selten bis nach Cumami ausdehnt. Die Gewässer des Rio Azul sind kalt und hell ; sie entspringen am nördlichen Abhang des Berges von Meapire und empfangen auch, wie man glaubt, aus dem See von Putacuaco , der jenseits der Hügelkette liegt, unteridischen Zulauf. Der kleine Fluß und die warmen Wasserschwefelquellen ergießen sich gemein­ sam in die Laguna de Campoma. Diesen Namen führt ein beträchtliches Sumpfland , das sich zur Trockenzeit in drei Becken teilt, die nordwestlich von der Stadt Cariaco , nahe am äußersten Ende des Golfs liegen. Stinkende Ausdünstungen entsteigen unaufhörlich dem stehenden Wasser dieses Sumpfes. Der Geruch des Schwefelwasserstoffes vermengt sich mit dem der faulenden Fische und den sich zersetzenden Pflanzen. Die Miasmen entstehen im Tal von Cariaco wie in der römischen Cam­ pagna, aber die Hitze des Tropenklimas verstärkt ihre verderbliche Kraft. Diese Miasmen sind wahrscheinlich dreifache oder vierfache Verbindungen von Stickstoff, Phosphor, Wasserstoff, Kohlenstoff und Schwefel. Zweitau­ send Teile Schwefelwasserstoffs, mit atmosphärischer Luft vermischt, sind hinreichend, um einen Hund zu ersticken ; und beim gegenwärtigen Zustand der Endiometrie mangelt es uns an Mitteln zur Einschätzung der Gas­ mischungen, die der Gesundheit mehr oder weniger schädlich sind, je nachdem sich die Grundstoffe in unendlich kleinen Quantitäten in verschie­ dener Weise miteinander verbinden . Einer der wichtigsten Dienste , welchen die neuere Chemie der Physiologie geleistet hat, besteht darin , daß sie un­ sere Unwissenheit dessen aufwies, was wir infolge täuschender Versuche über die chemische Zusammensetzung und Gesundheit der Atmosphäre vor fünfzehn Jahren zu wissen glaubten . D i e Lage des Sumpfes von Campoma macht den Nordwestwind, der nach Sonnenuntergang häufig weht, den Bewohnern des Städtchens Cariaco sehr verderblich. Sein Einfluß läßt sich um so weniger bezweifeln , als man wahr­ nimmt, daß die Wechselfieber in typhöse Fieber ausarten, sowie man sich dem Sumpf nähert, von dem die fauligen Ausdünstungen zunächst aus­ gehen . Ganze Haushaltungen freier Neger, die kleine Pflanzungen auf der

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Westküste des Golfs von Cariaco besitzen, liegen vom Eintritt der Winter­ zeit an matt und kränkelnd in ihren Hängematten . Diese Fieber nehmen den Charakter nachlassender bösartiger Fieber an, wenn man sich , durch anhal­ tende Arbeit und Schweiß erschöpft, dem feinen Regen aussetzt, der gegen Abend häufig eintritt. Die farbigen Menschen indes und vorzüglich die Creolen-Neger widerstehen dem klimatischen Einfluß besser als alle üb­ rigen Stämme . Die Kranken werden mit Limonade , mit dem Aufguß der Scoparia dulcis , seltener mit dem Cuspare , der Chinarinde von Angostura, behandelt . Man bemerkt im allgemeinen , daß in diesen Epidemien der Stadt Cariaco die Sterblichkeit geringer ist, als man vermuten sollte . Wenn dieselben Per­ sonen mehrere Jahre nacheinander davon befallen werden, schwächen die Wechselfieber die Konstitution und bringen nachteilige Veränderungen darin hervor. Jedoch ist dieser im ungesunden Küstenland gewöhnliche Zu­ stand von Schwäche nicht tödlich . Bemerkenswert bleibt übrigens , daß hier wie in der römischen Campagna der Glaube herrscht , die Luft sei in dem Ver­ hältnis ungesunder geworden , wie der Anbau des Landes sich erweitert hat. Die Miasmen , die diese Ebenen exhalieren, haben jedoch mit jenen nichts gemein, die ein Wald freisetzt, wenn nach dem Fällen der Bäume eine dichte Schicht modernden Laubes durch die Sonne erhitzt wird. In der Nähe von Cariaco ist das Land nackt und nur wenig bewaldet. Soll man annehmen, das frisch umgegrabene und vom Regen befeuchtete Erdreich verändere und verderbe die Atmosphäre mehr als der dichte Pflanzenteppich, der ein ödes Land bedeckt? Zu diesen örtlichen Ursachen kommen andere , weniger pro­ blematische hinzu . Die angrenzenden Meeresufer sind erfüllt von Man­ groven , Avicennien und anderen Sträuchern mit adstringierenden Rinden . Allen Bewohnern der Tropenländer sind die schädlichen Ausdünstungen dieser Gewächse wohlbekannt, die man um so mehr fürchtet, als ihre Wur­ zeln und Stämme nicht immer unter Wasser stehen, sondern abwechselnd naß werden und der Sonnenhitze ausgesetzt sind. Die Mangroven erzeugen Miasmen, weil sie , wie ich anderswo gezeigt habe [S. 371 f.] , vegetabilisch­ tierische Materie , mit Gerbstoff vereint , enthalten. Man behauptet, es würde nicht schwerfallen, den Kanal zu erweitern , welcher die Laguna de Campoma mit der See verbindet, und dadurch dem stehenden Wasser Abfluß zu verschaffen. Die freien Neger, welche dieses Sumpfland oft besu­ chen, versichern sogar, dieser Abzugsgraben müßte keineswegs tief sein, weil die kalten und hellen Gewässer des Rio Azul sich unten im See befinden und man beim Nachgraben in den unteren Schichten trinkbares und geruch­ loses Wasser erhält. Die Stadt Cariaco wurde mehrmals von den Cariben geplündert; ihre Be­ völkerung hat sich schnell vermehrt, seit die Provinzialbehörden trotz der Verbote des Hofs von Madrid den Handel mit auswärtigen Kolonien öfters

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begünstigt haben . Sie hat sich in zehn Jahren verdoppelt und war 1800 auf über 6000 Seelen angestiegen. Die Einwohner beschäftigen sich eifrig mit dem Anbau der Baumwolle , die von großer Güte und Schönheit ist und deren Ertrag 10 000 Zentner übersteigt . Die Samenkapseln der Baumwolle , nachdem diese davon gesondert worden ist , werden sorgfältig verbrannt. Wirft man sie ins Wasser und gehen sie in Fäulnis über, so entwickeln sich davon Ausdünstungen, die für sehr schädlich gehalten werden. Die Pflan­ zungen des Cacaobaums haben sich in diesen letzten Zeiten sehr vermin­ dert . Dieser köstliche Baum trägt erst nach acht bis zehn Jahren. Seine Frucht läßt sich nicht gut in den Magazinen aufbewahren und geht nach einem Jahr in Verderbnis über trotz aller Vorsicht , die auf ihr Trocknen ver­ wandt wurde . Dieser Nachteil ist für den Kolonisten sehr groß . Der Handel mit den Neutralen ist auf diesen Küsten je nach Laune eines Ministeriums und dem mehr oder weniger entschlossenen Widerstand der Gouverneure bald gänzlich verboten , bald unter gewissen Beschränkungen erlaubt. Die Nachfrage nach derselben Ware und die Preise , die sich nach der Menge dieser Nachfrage richten, erleiden demnach den schnellsten Wechsel . Der Kolonist kann diese Schwankungen nicht nutzen, weil der Cacao sich in den Magazinen nicht aufbewahren läßt . Darum sind die alten Cacaostämme , die allgemein nur bis zum vierzigsten Jahr tragen, durch neue Anpflanzungen nicht wieder ersetzt worden. 1792 betrug ihre Anzahl noch an 254 000 im Tal von Cariaco und an den Ufern des Meerbusens. Gegenwärtig werden an­ dere und solche Kulturarten vorgezogen, die gleich im ersten Jahr Ernten liefern und deren schnellerer Ertrag auch leichter aufbewahrt werden kann . Dazu gehören die Baumwolle und der Zucker, welche sich , ohne wie der Cacao der Verderbnis ausgesetzt zu sein , aufbewahren lassen und für deren Verkauf die günstigste Zeit abgewartet werden kann . Die durch Zivilisation und Verbindungen mit dem Ausland in Sitten und Charakter der Küstenbe­ wohner verursachten Änderungen hatten auf ihre entschiedene Vorliebe für mehrere Agrikulturzweige bedeutenden Einfluß . Die Mäßigung der Wün­ sche , die Geduld, die lange warten kann, die Ruhe , die sich mit der traurigen Monotonie der Einsamkeit verträgt , verschwinden nach und nach im Cha­ rakter der spanischen Amerikaner. Unternehmungslustiger, leichtsinniger und beweglicher geworden, ziehen sie Unternehmungen vor, deren Erfolg schneller erreicht wird. Nur im Inneren der Provinz, ostwärts der Sierra de Meapire , in der unbe­ kannten Landschaft, die sich von Canipano durchs Tal von San Bonifacio gegen den Golf von Paria ausdehnt, trifft man neue Cacaopflanzungen an . Ihr Ertrag fällt hier um so reichlicher aus , als der kürzlich erst urbar ge­ machte und mit Waldung umgebene Boden mit einer feuchteren, unbeweg­ teren und mit ungesunden Ausdünstungen angefüllteren Atmosphäre in Berührung steht . Hier trifft man Familienväter an, die den alten Gewohn-

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heiten der Kolonisten treu geblieben sind und sich und ihren Kindern einen zwar späten, aber gesicherten Wohlstand bereiten. Ein einziger Sklave ge­ nügt ihnen als Hilfe bei ihren mühsamen Arbeiten. Sie graben mit eigener Hand den urbar zu machenden Boden, ziehen die jungen Cacaobäume im Schatten der Erythrina oder der Bananenbäume , besorgen das Ausästein des erwachsenen Baumes , reinigen ihn von der Menge Würmer und In­ sekten, die seiner Rinde , Blättern und Blüten nachstellen, legen Abzugs­ gräben an und unterziehen sich sieben bis acht Jahre einem kümmerlichen Leben , bis der Cacaobaum Ernten zu liefern anfängt. 30 000 Stämme sichern den Wohlstand einer Familie für anderthalb Geschlechterfolgen . Wenn durch den Anbau der Baumwolle und des Kaffees der des Cacao in der Pro­ vinz Caracas und im kleinen Tal von Cariaco vermindert worden ist, hat sich dagegen offenbar dieser letztere Zweig der Kolonialindustrie im Inneren der Provinzen von Nueva Barcelona und von Cumana vermehrt . Die Ursa­ chen dieses allmählichen Vorschreitens der Cacaopflanzungen von Westen nach Osten sind leicht einzusehen . Die Provinz Caracas ist die am frühesten bebaute . Ein längere Zeit urbargemachtes Land wird freilich in der heißen Zone desto mehr von Bäumen entblößt, trockener und den Winden ausge­ setzt. Diese physischen Veränderungen sind dem Anbau des Cacao nach­ teilig; auch die Pflanzungen häufen sich nach Osten zu auf einem jungfräu­ lichen und frisch urbargemachten Boden an, während sie in der Provinz Ca­ riacos schwinden . Neu-Andalusien allein hat 1799 18 000 bis 20 000 fanega Cacao (eine fanega in Friedenszeiten zu 40 Piastern) geliefert, von denen 5000 durch Schleichhandel nach der Insel Trinidad ausgeführt wurden . Der Cacao von Cumana ist ungleich hochwertiger als der von Guayaquil . Den besten liefern die Täler von San Bonifacio , die vorzüglichsten Cacaosorten kommen von Neu-Barcelona, Caracas und Guatemala, aus Capiriqual, Uri­ tucu und Soconusco. Die in Cariaco herrschenden Fieber machten zu unserem Bedauern einen längeren Aufenthalt unmöglich. Da wir noch nicht hinlänglich akklimati­ siert waren, rieten uns sogar die Kolonisten, für welche wir Empfehlungs­ schreiben mitgebracht hatten, unsere Abreise nicht zu verschieben . Wir fanden in dieser Stadt eine große Zahl Menschen , die durch ein gewisses un­ gezwungenes Benehmen, durch einen umfassenderen Ideenkreis und, ich muß hinzufügen, durch eine auffallende Vorliebe für die Regierung der Ver­ einigten Staaten verrieten, daß sie häufig Verbindungen mit dem Ausland unterhalten hatten. Zum ersten Mal hörten wir unter diesem Himmelsstrich die Namen Franklin und Washington mit Enthusiasmus aussprechen. Dem Ausdruck dieses Enthusiasmus gesellten sich Klagen bei über den gegenwär­ tigen Zustand Neu-Andalusiens, die mitunter übertriebene Schilderung der natürlichen Reichtümer des Landes, begleitet von glühenden und unruhigen Wünschen für eine bessere Zukunft . Diese Stimmung der Gemüter mußte

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einem Reisenden auffallen, der eben erst Augenzeuge der großen, in Europa vorgehenden Bewegungen gewesen war; noch kündigte sie nichts Feindseliges oder Gewaltsames , keine bestimmte Richtung an . Es zeigte sich das Schwankende der Ideen und Ausdrücke , welche unter Völkern wie bei einzelnen Menschen einen Zustand von Halbbildung und frühreifer Ent­ wicklung der Zivilisation verraten. Seit die Insel Trinidad eine englische Ko­ lonie geworden ist, hat die östliche Grenze der Provinz Cumana, vorzüglich die Küste von Paria und der gleichnamige Golf, eine gänzliche Veränderung erlitten . Ausländer haben sich da angesiedelt ; durch sie wurde der Anbau des Kaffeebaums , des Baumwollstrauchs und des tahitischen Zuckerrohrs eingeführt. Die Bevölkerung hat ungemein großen Zuwachs erhalten: in Ca­ nipano , im schönen Tal von Rio Caribe , in Guire und in dem neuen Markt­ flecken von Punta de Piedra, welcher dem spanischen Seehafen aufTrinidad gegenüberliegt. Im Golfo Triste ist der Boden so fruchtbar, daß das Mais­ korn jährlich zwei Ernten liefert und 380fältige Aussaat ergibt. Die abgeson­ derte Lage begünstigt den Handel mit den fremden Kolonien , und es er­ folgte seit 1797 eine Revolution der Ideen, deren Folgen dem Mutterland noch lange ungefährlich geblieben wären, hätte das Ministerium nicht fort­ gesetzt alle Interessen gekränkt und allen Wünschen widersprochen. Es gibt in den Streitigkeiten der Kolonien wie in fast allen Volksbewegungen einen Zeitpunkt, wo die Regierungen, wenn sie nicht blind für den Gang der menschlichen Dinge sind, durch weise und vorausschauende Mäßigung das Gleichgewicht herstellen und das Gewitter beschwören können. Lassen sie diesen Zeitpunkt vorübergehen und glauben sie durch physische Gewalt ein moralisches Streben bekämpfen zu können, entwickeln sich die Ereignisse mit unwiderstehlicher Gewalt, und das Losreißen der Kolonien erfolgt mit um so verderblicherer Heftigkeit, wenn es dem Mutterland während des Kampfes gelungen ist , für einige Zeit seine Monopole und seine vormalige Herrschaft wiederherzustellen. Wir schifften uns frühmorgens ein, in der Hoffnung, die Überfahrt des Golfs von Cariaco in einem Tag zu bewältigen. Die Bewegung seiner Ge­ wässer gleicht der unserer großen Seen, wenn sie vom Wind leicht bewegt werden . Die Entfernung vom Ort der Einschiffung in Cumana beträgt nur zwölf lieues marines. Außerhalb des Städtchens Cariaco fuhren wir west­ wärts längs des Flusses Carenicua, der in gerader Richtung gleich einem Kunstkanal zwischen Garten- und Baumwollpflanzungen läuft. Diese ganze , etwas sumpfige Landschaft ist überaus fleißig angebaut. Während un­ seres Aufenthalts in Peru ist dort an manchen trockneren Orten die Pflan­ zung des Kaffeebaums eingeführt worden. Wir sahen die indianischen Frauen längs des Flusses von Cariaco ihr Weißzeug mit der Frucht des Para­ para (Sapindus saponaria) waschen. Man behauptet, den feinen Tüchern sei dies Verfahren sehr schädlich . Die Schale dieser Frucht gibt viel Schaum,

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und die Frucht selbst ist dermaßen elastisch , daß sie , auf einen Stein ge­ worfen, drei- oder viermal sieben bis acht Fuß in die Höhe springt . Um ihrer runden Gestalt willen wird sie zu Paternostern verarbeitet. Kaum eingeschifft, hatten wir mit widrigen Winden zu kämpfen. Es reg­ nete in Strömen und der Donner rollte in der Nähe . Schwärme von Fla­ mingos, Reihern und Kormoranen füllten die Luft und flogen dem Ufer zu . Nur der Alcatras, eine große Pelikan-Art, setzte seinen Fischfang ruhig mitten im Golf fort. Wir waren 18 Passagiere , und wir hatten Mühe , unsere Instrumente und Sammlungen in einer schmalen Piroge [lanchaJ, die mit rohem Zucker, Bananenfrüchten und Cocosnüssen überladen war, zu ver­ sorgen. Der Rand des Fahrzeugs stand waagerecht mit dem Wasser. Der Meerbusen von Cariaco ist fast überall 45 bis 50 Faden tief; aber an seinem östlichen Ende , in der Nähe von Curaguaca, gibt das Senkblei in einem Um­ fang von 5 lieues nicht über 3 bis 4 Faden an . Hier befindet sich der Bajo de la Cotua, eine Sandbank, die bei niedriger Flut wie eine Insel zum Vorschein kommt. Die Pirogen, welche Lebensmittel nach Cumami bringen , stranden bisweilen dort, jedoch ohne Gefahr, weil die See dort weder hoch geht noch stürmisch ist. Wir fuhren über den Teil des Golfs hin, wo warme Quellen aus dem Meeresgrund hervorsprudeln . Es war die Zeit der Flut, so daß die Än­ derung der Temperatur weniger spürbar sein konnte; auch näherte sich un­ sere Piroge allzusehr der südlichen Küste . Es ist einleuchtend , daß man Was­ serschichten von ungleicher Temperatur antreffen muß, je nachdem der Meeresgrund höher oder niedriger ist, oder je nachdem Strömungen und Winde die Vermischung des Wassers der Mineralquellen mit dem Seewasser beschleunigen. Das Dasein dieser heißen Quellen, durch die , wie man be­ hauptet, die Temperatur der See in einem Umfang von zehn bis zwölf Ge­ vierttoisen erhöht wird, ist eine sehr merkwürdige Erscheinung . Schlägt man vom Vorgebirge Paria den Weg westwärts durch Irapa, Aguas calientes, den Golf von Cariaco , den Bergantfn und die Täler von Aragua ein bis zu den Schneebergen von Merida, so trifft man auf eine Länge von 150 lieues eine zusammenhängende Reihe Mineralquellen an . Widrige Winde und Regen nötigten uns bei Pericantral, einem kleinen , an der Südküste des Golfs gelegenen Hof, zu landen. Diese Küste , die durchaus einen schönen Pflanzenwuchs zeigt, ist fast gar nicht angebaut; die Zahl ihrer Einwohner steigt kaum auf 700 an, und mit Ausnahme des Dorfes Mariquitar sieht man nur Pflanzungen von Cocosbäumen, die der Ölbaum dieses Landes sind. Auf beiden Kontinenten bewohnt diese Palme einen Himmelsstrich, dessen mittlere Jahrestemperatur nicht unter 20° beträgt. Er ist, wie der Chamärops des Mittelmeers, ein echter Küstenpalmbaum. Er zieht das Salzwasser dem süßen Wasser vor; im Binnenland, wo die Luft nicht mit Salzteilen angefüllt ist, gedeiht er nicht so gut wie an den Küsten. Wenn in Tierra Firme oder in den Missionen des Orinoco Cocosbäume fern

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vom Meer gepflanzt werden , wirft man eine beträchtliche Menge, bis zu einem halben Scheffel , Salz in das Loch , das zur Aufnahme der Cocosnuß bereitet wird. Unter den Gewächsen, welche die Menschen pflanzen, haben nur das Zuckerrohr, der Bananenbaum, der Aprikosenbaum von Santo Do­ mingo und der Laurus persea mit dem Cocosbaum die Eigenschaft gemein, daß sie ohne Unterschied mit süßem oder salzigem Wasser begossen werden können . Dieser Umstand begünstigt ihre Wanderungen; und wenn das Zuk­ kerrohr der Küsten einen Saft von etwas salzigem Geschmack liefert , ist er, wie man versichert, zur Branntweindestillation besser geeignet als der Saft des im Inneren des Landes gewachsenen Rohrs . Der Cocosbaum wird sonst überhaupt in Amerika gewöhnlich nur zu­ nächst bei den Höfen gezogen, um seine Frucht zu genießen. Im Golf von Cariaco hingegen trifft man eigentliche Pflanzungen davon an . In Cumami spricht man von einer hacienda de coco wie von einer hacienda de cana oder de cacao . In fruchtbarem und feuchtem Boden trägt der Cocosbaum vom fünften Jahr an reichlich Früchte ; in magerem Land hingegen beginnen die Ernten erst nach zehn Jahren . Die Lebensdauer des Baumes geht nicht leicht über 80 bis 100 Jahre ; die Mittelhöhe , welche er alsdann erreicht hat, ist 70 bis 80 Fuß . Diese schnelle Entwicklung ist um so merkwürdiger, weil andere Palmarten, z. B . die Moriche [Mauritia fiexuosaJ und die Palma de sombrero [Corypha tectorumJ, die ein sehr hohes Alter erreicht , oft im sech­ zigsten Jahr nur noch die Höhe von 14 bis 18 Fuß erlangt haben. In den er­ sten 30 bis 40 Jahren trägt ein Cocosbaum im Golf von Cariaco während des Mondumlaufs 10 bis 14 Früchte, von denen jedoch nicht alle zur Reife ge­ langen. Man kann berechnen , daß im Durchschnitt ein Baum hundert Co­ cosnüsse liefert, aus denen man acht fiascos [ein fiasco hat 70 bis 80 Pariser Kubikfuß] Öl erhält. Der fiasco wird zu 3V2 real de plata oder 32 sol verkauft. In der Provence erhält man von einem dreißigjährigen Olivenbaum zwanzig Pfund oder siebenfiascos Öl, so daß sein Ertrag etwas geringer ist als der des Cocosbaums . Im Golf von Cariaco sind haciendas mit 8000 bis 9000 Cocos­ bäumen vorhanden ; ihr malerisches Aussehen erinnert an die schönen Dat­ telpflanzungen bei Elche , in Murcia , wo auf einer Geviertmeile über 70 0000 Palmen beisammenstehen. Der Cocosbaum behält seine große Fruchtbar­ keit nur bis ins dreißigste oder vierzigste Jahr, von da an nimmt der Ertrag ab , und ein hundertjähriger Stamm liefert, ohne völlig unfruchtbar zu sein , nur noch wenige Früchte . In der Stadt Cumana wird eine große Menge Co­ cosöl produziert, welches durchsichtig, geruchlos und als Brennöl vorzüg­ lich ist. Der Handel mit diesem Öl ist ebenso lebhaft wie an den Nordküsten von Afrika der Handel mit Palmöl, der Elays guineensis . Dieses wird als Le­ bensmittel gebraucht. In Cumana sah ich öfters Pirogen ankommen, die mit 3000 Cocosnüssen beladen waren. Ein Baum von gutem Ertrag liefert ein jährliches Einkommen von 31h Piaster; weil aber in den haciendas de coco

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Stämme von ungleichem Alter vermischt stehen, so wird nach den Schät­ zungen der Experten ihr Kapital nur zu vier Piaster berechnet. Wir verließen das Gehöft von Pericantral erst nach Sonnenuntergang. Die südliche Küste des Golfs zeichnet sich durch reichen Pflanzenwuchs aus und gewährt einen sehr lieblichen Anblick , während die Nordküste dagegen nackt, felsig und dürr erscheint . Trotz der Dürre und des Mangels an Regen , den man manchmal während fünfzehn Monaten erleidet , wachsen auf der Halbinsel Araya (wie in der Wüste von Canound in Indien) patillas oder Was­ sermelonen, die 50 bis 70 Pfund wiegen . In der heißen Zone betragen die in der Luft enthaltenen Dünste ungefähr 9110 der zu ihrer Sättigung erforderli­ chen Menge , und der Pflanzenwuchs erhält sich durch das bewundernswerte Vermögen der Blätter, das in der Luft aufgelöste Wasser in sich aufzu­ nehmen . Wir brachten eine ziemlich schlimme Nacht in einer engen und überladenen Piroge zu und trafen um drei Uhr morgens bei der Mündung des Rio Manzanares ein . Nachdem wir seit mehreren Wochen an den An­ blick der Berge , an einen stürmischen Himmel und an dunkle Wälder ge­ wöhnt waren, kamen uns die unveränderlich reine Luft, das nackte Land und die Stärke des reflektierten Lichtes , wodurch die Landschaft von Cu­ mami sich auszeichnet, wieder neu und überraschend vor. Bei Sonnenaufgang erblickten wir die Zamuro-Geier (Vultur aura) , 30 bis 40 nebeneinander auf den Cocosbäumen sitzend. Diese Vögel setzen sich wie die Hühner reihenweise zum Schlaf hin und sind so träge , daß sie lange vor Sonnenuntergang niedergehen und nicht eher erwachen, bis die Sonnen­ scheibe über dem Horizont steht. Die Bäume mit gefiederten Blättern scheinen in diesen Erdstrichen, beinahe möchte man sagen, ebenso träge zu sein . Die Mimosen und Tamarinden schließen ihre Blätter bei heiterem Himmel 25 bis 35 Minuten vor Untergang der Sonne ; sie öffnen sie am Morgen, wenn die Sonnenscheibe bereits ebenso lange sichtbar gewesen ist. Da ich zu Untersuchungen der Erscheinung des Mirage oder der Erdrefrak­ tionen den Aufgang und Untergang der Sonne regelmäßig beobachtete , war ich in der Lage , auch den Phänomenen des Pflanzenschlafs anhaltende Auf­ merksamkeit zu widmen . Ich fand sie übereinstimmend in den Steppen [Sa­ vannen] und wo keine Ungleichheiten des Bodens die Ansicht des Horizonts beschränken. Die sogenannten Sinnpflanzen und andere Schotengewächse mit zarten und dünnen Blättern scheinen , nachdem sie den Tag über an ein helles und lebhaftes Licht gewöhnt waren , am Abend schon die geringste Abnahme in der Stärke der Lichtstrahlen zu empfinden, so daß die Nacht für die Pflanzen, hier wie bei uns, vor dem gänzlichen Verschwinden der Son­ nenscheibe eintritt . Wie kommt es aber, daß auf einem Erdstrich, wo bei­ nahe gar keine Dämmerung stattfindet , die Blätter von den ersten Strahlen der Sonne nicht um so kräftiger erregt werden , als der vorhergehende Mangel des Lichts sie reizbarer machen mußte? Verhindert vielleicht die

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Feuchtigkeit, die auf den Parenchym durch das Erkalten der Blätter als Ef­ fekt nächtlicher Strahlung niedergeschlagen wird, die Wirkung der ersten Sonnenstrahlen? In unseren Klimaten erwachen die Schotengewächse mit reizbaren Blättern noch vor Sonnenaufgang, schon während der Morgen­ dämmerung. Kapitel IX

Physische Constitution und Sitten der Chaimas - Ihre Sprachen Abstammung der Bevölkerung, die Neu-Andalusien bewohnt ­ Pariagotos von Columbus gesehen [Naturgemälde der Chaimas-IndianerJ

Ich wollte der Beschreibung unserer Reise in den Missionen von Caripe keine allgemeinen Betrachtungen über die verschiedenen eingeborenen Volksstämme Neu-Andalusiens , über ihre Sitten , Sprache und gemeinsame Herkunft einflechten . Nachdem wir jetzt aber zum Ort, von welchem wir ausgingen, zurückgekommen sind, will ich Gegenstände , die mit der Ge­ schichte des Menschengeschlechts so innig verwebt sind, unter einem ge­ meinsamen Gesichtspunkt darstellen . So wie wir im Inneren des Landes weiter vorrücken, wird dieses Interesse das Übergewicht über die Erschei­ nungen der physischen Welt erringen . Der nordöstliche Teil der amerikani­ schen Äquinoktialländer Tierra Firme und die Ufer des Orinoco gleichen hinsichtlich der Mannigfaltigkeit der sie bewohnenden Völker den Gebirgen des Kaukasus , den Bergen des Hindukusch und dem nördlichen Ende Asiens , jenseits der Tungusen und der an der Mündung der Lena wohnenden Tartaren. Die in diesen verschiedenen Landschaften herrschende Barbarei ist vielleicht weniger Schuld eines ursprünglichen Fehlens aller Zivilisation als Auswirkung langer Verwilderung. Die meisten der Horden , die wir Wilde nennen, stammen wahrscheinlich von Völkern ab , die einst in der Kultur weiter fortgeschritten waren; und wie soll man die fortgesetzte Kindheit des Menschengeschlechts (wenn sie überhaupt irgendwo existiert) vom Zustand sittlicher Entartung unterscheiden, in dem Abgeschiedenheit, Elend , er­ zwungene Wanderungen oder die Härten des Klimas die Spuren der Zivilisa­ tion auslöschen . Wenn alles , was sich auf den ursprünglichen Zustand des Menschen und auf die erste Bevölkerung eines Kontinents bezieht, seiner Natur nach der Geschichte angehören könnte , so würden wir uns auf die Überlieferungen Indiens berufen, auf die in den Gesetzen des Manu und im Rämäyana so oft ausgedrückte Meinung, welche die Wilden als Stämme be­ trachtet, die , von der zivilisierten Gesellschaft verbannt, in die Wälder ver­ jagt wurden. Das Wort Barbar, das wir den Griechen und Römern ent-

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lehnten, ist vielleicht auch nur der Eigenname einer dieser verwilderten Horden. In der Neuen Welt fanden sich zu Beginn der conqista große menschliche Gesellschaften der Eingeborenen nur auf dem Rücken der Cordilleren und auf dem Asien gegenüberliegenden Küstenland. Die mit Wald bewachsenen und von Flüssen durchschnittenen Ebenen , die sich in unermeßlichen Weiten ostwärts ausdehnenden und den Horizont begrenzenden unermeßli­ chen Savannen boten dem Auge des Wanderers nur herumirrende, durch Sprache und Sitten getrennte , gleich den Trümmern eines großen Schiffs­ bruchs zerstreute Volksstämme dar. Wir wollen versuchen, ob in Ermange­ lung jedes anderen Denkmals die Verwandtschaft der Sprachen und das Stu­ dium der physischen Constitution des Menschen uns helfen können, die ver­ schiedenen Stämme zu ordnen , die Spuren ihrer Wanderungen aus der Ferne her zu verfolgen und einige ihrer Familienzüge auszumitteln , durch welche sich die ursprüngliche Einheit unserer Gattung dartut. Noch jetzt machen die ursprünglichen Einwohner der Länder, deren Berge wir durchstreiften, in den beiden Provinzen von Cumana und Nueva Barcelona ungefähr die Hälfte der schwachen Bevölkerung dieser Ge­ genden aus. Ihre Zahl kann auf 60 000 berechnet werden, von denen 24 000 in Neu-Andalusien wohnen. Diese Anzahl ist sehr bedeutend, wenn man sie mit der der nordamerikanischen , von der Jagd lebenden Völker vergleicht; sie erscheint klein, wenn man sich der Teile Neu-Spaniens erinnert, wo seit mehr als acht Jahrhunderten der Landbau eingeführt ist, z. B . in der Inten­ danz von Oaxaca, welche die Landschaften Mixteca und Zapoteca des alten mexicanischen Reiches umfaßt. Diese Intendanz ist um ein Drittel kleiner als die zwei vereinigten Provinzen Cumana und Barcelona, und dennoch ent­ hält sie über 400 000 Einwohner von reinem kupferfarbigem Stamm. Die In­ dianer von Cumana leben nicht alle in den Missionen: Es gibt solche, die um die Städte her zerstreut wohnen oder längs den Küsten, wo die Fischerei sie hinzieht, oder auch in kleinen Häfen der Llanos oder Savannen. Die von uns besuchten Missionen der aragonischen Kapuziner allein umfassen nur 15 000 Indianer, fast alle vom Chaimas-Stamm. Die Bevölkerung der Dörfer ist hier jedoch geringer als in der Provinz Barcelona; im Durchschnitt beträgt sie nur 500 bis 600 Indianer, während man westwärts in den Missionen der Franciskaner von Piritu indianische Dörfer antrifft, die 2000 bis 3000 Ein­ wohner haben. Wenn ich die Zahl der Eingeborenen in den Provinzen Cu­ mana und Barcelona auf 60 000 berechne , so habe ich dabei nur die Be­ wohner TIerra Firmes veranschlagt, nicht aber die Guaikeri der Insel Marga­ rita und die große Menge der Guaraunos, die ihre Unabhängigkeit auf den vom Delta des Orinoco gebildeten Inseln bewahrten . Die Zahl dieser letz­ teren wird gewöhnlich auf 6000 bis 8000 berechnet , was mir jedoch über­ trieben scheint. Mit Ausnahme der Guaraunos-Familien, die von Zeit zu

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Zeit in den sumpfigen [los Morichales] , mit der Moriche-Palme bewach­ senen Landstrichen (zwischen Cafio de Manamo und dem Rio Guarapiche) , mithin auf dem Kontinent selbst umherstreichen , wurden seit dreißig Jahren keine wilden Indianer mehr in Neu-Andalusien gesehen . Ich benutze das Wort "Wilder" mit Bedauern, indem es zwischen dem un­ terworfenen , in den Missionen lebenden und dem freien und unabhängigen Indianer eine Verschiedenheit der Kultur andeutet, die durch Beobachtung öfters widerlegt wird. In den Wäldern des südlichen Amerika wohnen einge­ borene Stämme , die in Dörfern ruhig beisammenleben und ihren Vorste­ hern gehorchen , auf ziemlich ausgedehnten Ländereien Banane , Manioc und Baumwolle pflanzen und sich aus dieser ihre Hängematten weben . Sie sind kaum barbarischer als die nackten Indianer der Missionen, die man das Zeichen des Kreuzes zu machen gelehrt hat. Es ist ein in Europa ziemlich verbreiteter Irrtum, alle nicht unterworfenen Indianer als nicht seßhafte Menschen und als Jäger zu betrachten. Der Landbau existierte in Tierra Firme lange Zeit vor Ankunft der Europäer; er existiert jetzt noch zwischen dem Orinoco und dem Amazonenfluß in Waldlichtungen, da wo die Missio­ nare nie hinkamen. Was man den Missionseinrichtungen zu danken hat, be­ steht in vermehrter Anhänglichkeit an das Grundeigentum und an bleibende Wohnsitze sowie in verbreiteter Neigung für eine mildere und friedlichere Lebensart . Allein diese Fortschritte geschehen langsam, oft unmerklich, wegen der völligen Isolierung, worin die Indianer gehalten werden, und es muß ganz irrige Begriffe über den wirklichen Zustand der südamerikani­ schen Völkerschaften erwecken , wenn man die Benennungen Christen , Un­ terworfene und Zivilisierte sowie Heiden, Wilde und Unabhängige für gleichbedeutend hält. Der unterworfene Indianer ist oft ebensowenig ein Christ , wie der unabhängige ein Götzendiener ist . Der eine wie der andere, mit den Bedürfnissen des Augenblicks beschäftigt, äußern eine entschie­ dene Gleichgültigkeit für religiöse Meinungen und eine geheime Vorliebe für den Kultus der Natur und ihrer Kräfte . Dieser Gottesdienst ist dem er­ sten Jugendalter der Völker eigentümlich; er schließt die Idole aus und kennt keine anderen heiligen Orte als Grotten , Täler und Wälder. Wenn die unabhängigen Indianer nordwärts vom Orinoco und vom Apure, das heißt von den Schneegebirgen Meridas bis zum Vorgebirge Paria, seit einem Jahrhundert fast verschwunden sind , so folgt daraus kei­ neswegs, daß die Zahl der eingeborenen Bewohner dieses Landes sich seit der Zeit des Bischofs von Chiapas, Bartolome de las Casas, vermindert habe . In meinem Werk über Mexico habe ich bereits dargelegt, wie unrichtig man die Destruktion und Verminderung der Indianer in den spanischen Ko­ lonien als eine allgemeine Tatsache dargestellt hat. Noch leben in bei den Amerika über 6 000 000 Menschen von kupferfarbiger Rasse , und obgleich eine zahllose Menge Stämme und Sprachen erloschen oder verschwunden

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sind, ist gar nicht zweifelhaft, daß sich zwischen den Wendekreisen , in dem Teil der Neuen Welt , wohin die Zivilisation seit Christoph Columbus zuerst gelangte, die Zahl der Eingeborenen beträchtlich vermehrt hat. Zwei Cari­ bendörfer in den Missionen von Pirtu oder von Caroni enthalten mehr Fami­ lien als vier bis fünf Stämme des Orinoco . Der Zustand des geselligen Le­ bens der unabhängig gebliebenen Cariben bei den Quellen des Essequibo und südwärts der Berge von Pacaraima beweist genug, wie sehr selbst auch bei dieser schönen Menschenrasse die Bevölkerung der Missionen die freien und verbündeten Caribenstämme an Zahl übertrifft. Übrigens verhält es sich mit den Wilden der heißen Zone nicht wie mit denen vom Missouri . Diese benötigen ein ausgedehntes Landgebiet , weil sie einzig von der Jagd leben. Die Indianer im spanischen Guayana pflanzen Manioc und Banane ; ein kleines Stück Land reicht für ihre Bedürfnisse hin. Für sie ist die Nähe der Weißen nicht furchtbar, wie sie es dagegen für die Wilden in den Verei­ nigten Staaten ist, die stets weiter hinter die Alleghenies , den Ohio und den Mississippi zurückgestoßen werden und die Mittel ihres Unterhalts in dem Maße verlieren, wie sie sich in engeren Schranken eingezwängt sahen . In der gemäßigten Zone , in den provincias internas von Mexico sowohl wie in Ken­ tucky, ist das Zusammentreffen mit den europäischen Kolonisten den Einge­ borenen durch die unmittelbare Berührung verderblich geworden. I m größten Teil des südlichen Amerika sind diese Ursachen nicht vor­ handen. Der Landbau in den Tropenländern erheischt keinen ausgedehnten Boden. Das Vorrücken der Weißen geschieht nur langsam . Die Mönchs­ orden haben ihre Ansiedlungen zwischen den Besitzungen der Kolonisten und dem Gebiet der freien Indianer gegründet. Die Missionen können als zwischenstaatliche Institutionen betrachtet werden. In dem Maß, wie die Mönche den Wäldern näherrücken und den Eingeborenen Land abnehmen, suchen wiederum die weißen Kolonisten auf der entgegengesetzten Seite in das Gebiet der Missionen einzufallen. In diesem fortdauernden Kampf strebt der weltliche Arm immerfort , die unterworfenen Indianer der Mönchsherrschaft zu entziehen, und die Missionare werden nach und nach durch Pfarrer ersetzt . Die weißen und die gemischten Schichten siedeln sich , von den corregidores begünstigt, mitten unter den Indianern an. Die Mis­ sionen verwandeln sich in spanische Dörfer, und die Eingeborenen verlieren allmählich sogar die Erinnerung an ihre Nationalsprache. Diesen Gang be­ folgt die Zivilisation von den Küsten nach dem Landesinneren hin; er ist langsam, er wird durch menschliche Leidenschaften in seinem Fortschreiten mitunter gehemmt , aber er ist sicher und gleichförmig. Die Provinzen Neu-Andalusien und Barcelona, die man unter dem Namen Gobierno de Cumami begreift , sind in ihrer gegenwärtigen Bevölkerung aus mehr als 14 Stämmen zusammengesetzt: In Neu-Andalusien befinden sich die Chaimas, die Guaikeri , die Pariagotos, die Quaquas, die Aruacas , die

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Cariben und die Guaraunos; in der Provinz Barcelona die Cumanagotos, die Palenques, die Cariben , die Piritus, die Tomuzas, dieTopocuares, die Chaco­ patas und die Guariven. Unter diesen 14 Stämmen sind 9 bis 10, die sich von­ einander für gänzlich verschieden halten. Die Anzahl der Guaraunos, die an der Mündung des Orinoco ihre Hütten auf Bäumen bauen, ist nicht genau bekannt; die Guaikeri in der Vorstadt von Cumam'i und auf der Halbinsel Araya sind 2000. Unter den übrigen indianischen Stämmen sind die Chaimas der Berge von Caripe , die Cariben der südlichen Savannen von Nueva Bar­ celona und die Cumanagotos in den Missionen Piritus die zahlreichsten. Einige Familien der Guaraunos gelang es der Einrichtung der Missionen zu unterwerfen; sie befinden sich am linken Ufer des Orinoco, an der Stelle, wo das Delta sich zu bilden anfängt. Die Sprachen der Guaraunos , der Cariben, der Cumanagotos und der Chaimas sind am verbreitetsten. Wir werden bald sehen , daß sie von gleicher Herkunft zu sein scheinen und daß ihre gramma­ tischen Formen solch genaue Verwandtschaftsverhältnisse darbieten, wie jene sind, die , um mich eines von bekannteren Sprachen hergenommenen Vergleiches zu bedienen, die griechische und die deutsche , die persische und die Sanskritsprache untereinander verbinden. Trotz dieser Verwandtschaften müssen die Chaimas, die Guaraunos , die Cariben, die Quaquas, die Aruacas oder Arawaques und die Cumanagotos als verschiedene Völker angesehen werden. Das gleiche von den Guaikeri , den Pariagotos, den Piritus, den Tomuzas und den Chacopatas zu be­ haupten, wage ich nicht. Die Guaikeri gestehen selbst die Analogie ihrer Sprache mit derjenigen der Guaraunos ein . Beide sind Küstenvölker, gleich den Malaien des Alten Kontinents . Was die Stämme betrifft , welche gegen­ wärtig die Cumanagoten, Cariben- und Chaimas-Idiome sprechen, fällt es schwer, über ihre frühere Herkunft und über ihre Verhältnisse mit anderen vormals mächtigeren Völkern zu entscheiden. Die Historiker der conquista sowohl wie die Ordensmänner, die über die Fortschritte der Missionen Be­ richte geben, verwechseln beständig die geographischen Benennungen mit den Namen der Stämme oder Rassen , wie das auch die alten Schriftsteller taten. Sie sprechen von Indianern der Küste von Paria und von Cumam'i, als ob die Nähe der Wohnungen einen gleichartigen Ursprung dartun könnte . Am häufigsten benennen sie die Volksstämme entweder nach ihren Vorste­ hern und Anführern oder nach dem Berg und dem Tal ihrer Wohnung. Dieser Umstand, welcher die Namen der Völkerschaften endlos vervielfäl­ tigt, macht alle Angaben der Ordensmänner über die verschiedenartigen Be­ standteile der Bevölkerung ihrer Missionen ungewiß. Wie soll gegenwärtig die Frage entschieden werden, ob der Tomuza und der Piritu zu verschie­ denem Stamm gehören, während beide die Cumanagotos-Mundart spre­ chen, welche im westlichen Teil des gobierno von Cumana ebenso die herr­ schende Sprache ist, wie die caribische und die Chaimas-Sprache es im süd-

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lichen und im östlichen Teil sind. Eine große Analogie der physischen Con­ stitution macht diese Untersuchungen sehr schwierig. Solcher Art ist der Un­ terschied zwischen den beiden Kontinenten, daß man in der Neuen Welt eine überraschende sprachliche Mannigfaltigkeit unter den Nationen, die ein und desselben Ursprunges sind, beobachtet und der europäische Rei­ sende mit Mühe ihre Charakterzüge unterscheidet, während in der Alten Welt sehr verschiedene Menschenrassen, die Lappländer, die Finnen und Esten, die Völker germanischen Stammes und die Hindus , die Perser und die Kurilen tatarische und mongolische Stämme Sprachen sprechen, deren Me­ chanismus und Wurzeln die größten Analogien darbieten. Die Indianer der amerikanischen Missionen sind Bauern. Mit Ausnahme der Bewohner hoher Berge pflanzen sie dieselben Gewächse ; ihre Hütten stehen in gleichmäßiger Ordnung; ihre Tageseinrichtung, ihre Arbeiten im conuco der Gemeinde , ihr Verhältnis zum Missionar und zu ihrem selbstge­ wählten Magistrat, alles ist gleichförmig. Inzwischen, und diese Tatsache ist in der Geschichte der Völker sehr bemerkenswert, reichte eine so große Übereinstimmung der Verhältnisse nicht hin, um die individuellen Züge und Schattierungen zu verwischen, durch welche die verschiedenen amerikani­ schen Völkerschaften sich voneinander unterscheiden. Es haben die kupfer­ farbigen Menschen einen Charakter moralischer Unbeugsamkeit, eine standhafte Beharrlichkeit in Sitten und Gewohnheiten, die , in jedem ein­ zelnen Stamme ungleich modifiziert , die gesamte Rasse wesentlich aus­ zeichnet. Diese Anlagen werden in jedem Klima wahrgenommen, vom Äquator bis zur Hudsonbai und zur Magellanischen Meerenge; sie gehen aus der physischen Organisation der Eingeborenen hervor, werden jedoch durch die Mönchseinrichtungen kräftig befördert. Es kommen wenige Dörfer in den Missionen vor, deren Familien verschie­ denen Völkerschaften angehören und nicht dieselbe Sprache reden. Gesell­ schaften, die aus so ungleichen Teilen bestehen, sind schwer zu regieren. Im allgemeinen haben die Ordensleute überhaupt ganze Völkerschaften oder große Teile ein und derselben Nation in nahe beieinanderliegenden Dörfern vereinigt. Die Eingeborenen kommen nur mit Menschen ihres Stammes in Berührung; denn Absonderung und Hemmung anderweitiger Verbin­ dungen sind ein Hauptgegenstand der Staatskunst der Missionare . Der un­ terworfene Chaimas , Caribe oder Tamanake behält seine Nationalphysio­ gnomie um so zuverlässiger, als er seine Sprache beibehielt. Wenn die Indivi­ dualität des Menschen sich in den Idiomen spiegelt, so wirken diese wie­ derum auch auf die Begriffe und Gefühle zurück. Dies geheime Band zwi­ schen Sprachen , Charakter und physischer Constitution ist es, welches die Verschiedenheit zwischen den Völkern, die fruchtbare Quelle von Bewe­ gung und Leben in der Geisteswelt, unterhält und ihre Fortdauer gewährlei­ stet.

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Den Missionaren gelang es, dem Indianer gewisse Gebräuche zu unter­ sagen , die er bei der Geburt der Kinder, zur Zeit ihrer Mannbarkeit und bei Beerdigung der Toten vorzunehmen pflegte . Es gelang ihnen, ihm das Be­ malen der Haut , die Einschnitte an Kinn, Nase und Wangen abzugewöhnen; es gelang ihnen, bei der großen Volksmasse die abergläubischen Vorstel­ lungen zu zerstören, die sich in gewissen Familien von Geschlecht zu Ge­ schlecht geheimnisvoll fortpflanzen ; aber es war leichter, Sitten abzu­ schaffen und Erinnerungen auszulöschen, als neue Begriffe an die Stelle der alten zu setzen. In den Missionen ist dem Indianer sein Unterhalt gesi­ cherter. Weil hier kein fortdauernder Kampf mit feindseligen Kräften, mit den Elementen und Menschen zu bestehen ist, so führt er ein gleichför­ miges, weniger tätiges Leben , das dem Geist Regsamkeit und Kraft zu er­ teilen weniger geeignet ist als die Lebensart des wilden oder unabhängigen Indianers . Er besitzt die Charaktermilde , die aus der Neigung zur Ruhe , und nicht die , welche aus Empfindsamkeit und teilnehmendem Gemüt ent­ springt . Wo er, ohne Verbindung mit weißen Menschen, die Dinge nicht ken­ nenlernte , womit die europäische Zivilisation Amerika bereicherte, da hat sich der Kreis seiner Ideen nicht erweitert. Augenblickliches Bedürfnis scheint der alleinige Bestimmungsgrund seines Handeins zu sein . Still, freudlos und verschlossen, ist sein Aussehen ernst und geheimnisvoll. Wer nur kurze Zeit in den Missionen lebte und mit den Eingeborenen noch nicht vertraut geworden ist, der mag leicht ihre Trägheit und Geisteserstarrung für melancholischen Ausdruck und für Neigung zu stillem Nachdenken halten. Ich verweilte bei diesen Charakterzügen der Indianer und bei den ver­ schiedenen Modifikationen , welche eben dieser Charakter in den Missionen erleidet, um den partiellen Bemerkungen, die dieses Kapitel enthalten soll, eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ich werde mit der Nation der Chaimas beginnen, von welcher über 15 000 in den soeben beschriebenen Missionen wohnen . Diese wenig kriegerische Nation, welche der Pater Fran­ cisco de Pamplona seit Mitte des 17. Jahrhunderts zu unterwerfen anfing, umfaßt die Cumanagotos im Westen, die Guaraunos im Osten und die Ca­ riben im Süden. Es bewohnen die Chaimas längs der hohen Berge des Co­ collar und Guacharo die Ufer des Guarapiche , des Rio Colorado , des Areo und des Cafio de Caripe . Einer mit viel Sorgfalt durch den Pater Präfekt vor­ genommenen Zählung zufolge waren 1792 in den Missionen der aragoni­ schen Kapuziner von Cumana vorhanden: 19 Dörfer der Missionen, das älteste von 1728 ; ihre 6433 Einwohner ver­ teilten sich auf 1465 Familien. 16 Dörfer de doctrina, das älteste von 1660, deren 8170 Einwohner sich auf 1766 Familien verteilten . Diese Missionen haben in den Jahren 1681, 1697 und 1720 durch Überfälle der damals unabhängigen Cariben , die ganze Dörfer verbrannten, viel ge-

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litten. Von 1730 bis 1736 haben die Verheerungen der Pockenseuche , die den kupferfarbigen Menschen jederzeit verderblicher als den Weißen ist , die Be­ völkerung vermindert . Viele der unterworfenen Guaraunos flohen und kehrten in ihr Sumpfland zurück . 14 alte Missionen blieben verlassen oder wurden nicht wieder aufgebaut. Die Chaimas sind allgemein von kleiner Statur, sie erscheinen klein , wenn man sie , ich werde nicht sagen, mit ihren Nachbarn, den Cariben oder mit den ebenfalls durch Körpergröße ausgezeichneten Payaguas und Guayqui­ liten von Paraguay, sondern nur mit den gewöhnlichen Amerikanern ver­ gleicht. Die Durchschnittsgröße der Chaimas beträgt 1,57 m , ihr Körper ist dick und untersetzt, sehr breitschultrig, die Brust plattgedrückt und die Glieder rund und fleischig . Die Hauptfarbe ist die des ganzen amerikani­ schen Stammes der kalten Plateaus Quitos und Neu-Granadas bis in die heißen Ebenen des Amazonenflusses . Der klimatische Einfluß verändert sie nicht weiter, und sie hängt mit organischen Anlagen zusammen , die sich seit Jahrhunderten unverändert von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen. Während die gleichartige Hauptfarbe nordwärts kupfriger und röter er­ scheint, ist sie hingegen bei den Chaimas dunkelbraun, hin zur Lohfarbe spielend . Der Name "kupferrote Menschen" würde als Bezeichnung der Eingeborenen in den Äquinoktial-Gegenden Amerikas nie entstanden sein . Der Ausdruck der Physiognomie der Chaimas ist, ohne gerade hart oder wild zu sein, etwas ernst und finster. Ihre Stirn ist klein und wenig vorsprin­ gend. Auch sagt man in verschiedenen Sprachen dieser Landesgegenden, um eine weibliche Schönheit zu bezeichnen , "sie sei fett und habe eine schmale Stirn" . Die Augen der Chaimas sind schwarz, tiefliegend und in die Länge gedehnt . Sie liegen weder so schräg, noch sind sie so klein wie bei den Völkern von mongolischer Abstammung, von denen Jordanes naiv sagt : "Sie haben vielmehr Punkte als Augen, magis puncta quam lumina. " Indessen ist der Augenwinkel nach oben gegen die Schläfe hin merklich erhöht; die Augenbrauen sind schwarz oder dunkelbraun, dünn und nur wenig gebogen; die Wimpern sind mit sehr langen Haaren besetzt und die Angewöhnung , sie , als wären sie von Müdigkeit schwer, gesenkt zu halten, gibt dem Blick der Frauen Milde, und das bedeckte Auge scheint kleiner als es in der Tat ist. Wenn die Chaimas und überhaupt alle ursprünglichen Bewohner Südame­ rikas und Neu-Spaniens sich durch die Form der Augen, durch ihre hervor­ springenden Augenknochen, durch ungekräuselte und glatte Haare und durch einen fast völligen Mangel des Bartes der Mongolenrasse nähern , so unterscheiden sie sich von ihr wesentlich durch die Bildung der Nase, die ziemlich lang, ihrer ganzen Länge nach hervorragend, in der Gegend der Nasenlöcher dichter und deren Öffnung wie bei den Völkern kaukasischer Rasse nach unten gerichtet ist. Der große Mund, mit breiten, aber wenig her­ vorragenden Lippen, hat nicht selten einen Ausdruck von Güte. Der Raum

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zwischen Nase und Mund ist bei beiden Geschlechtern durch zwei Furchen bezeichnet, die in auseinanderlaufender Richtung von den Nasenlöchern gegen den Mundwinkel hingehen . Das Kinn ist ungemein kurz und rund; die Kinnladen zeichnen sich durch ihre Stärke und Breite aus . Obgleich die Chaimas weiße und schöne Zähne haben, gleich allen sehr einfach lebenden Menschen, sind diese doch lange nicht so stark wie bei den Negern . Die Sitte , sich vom 15 . Lebensjahr an die Zähne mittels einiger Pflanzensäfte und ätzenden Kalkes zu schwärzen , war den ersten Reisenden aufgefallen; jetzt ist sie gänzlich verschwunden . Die Wanderungen der ver­ schiedenen Völkerstämme in diesen Gegenden , namentlich seit den Streif­ zügen der Spanier, welche Sklavenhandel trieben , waren so bedeutend, daß man annehmen darf, die Einwohner von Paria, die von Christoph Columbus und von Ojeda besucht wurden, seien mit den Chaimas nicht von einerlei Rasse gewesen. Ich zweifle sehr, daß die Sitte , sich die Zähne zu schwärzen, ursprünglich , wie G6mara behauptet, von seltsamen Schönheitsbegriffen herrührte oder daß sie Zahnschmerzen verhüten sollte . Die Indianer kennen dies Übel fast gar nicht . Selbst die weißen Menschen leiden nur sehr selten daran in den spanischen Kolonien , wenigstens in den warmen Ge­ genden , wo die Temperatur sehr gleichförmig ist. Auf dem Rücken der Cor­ dilleren, in Santa Fe und in Popayan sind sie ihm schon mehr ausgesetzt. Die Chaimas haben, ungefähr gleich allen übrigen von mir gesehenen ein­ heimischen Völkerschaften , kleine und schmale Hände . Ihre Füße hingegen sind groß und die Fußzehen behalten eine außerordentliche Beweglichkeit. Alle Chaimas haben ein vertrautes Aussehen, und ihre von Reisenden so oft bemerkte gleichförmige Bildung fällt um so mehr auf, als sich zwischen zwanzig und fünfzig Jahren das Alter keineswegs durch Hautrunzeln , graues Haar oder Körperschwäche verrät. Beim Eintritt in eine Hütte fällt es oft schwer, unter ihren erwachsenen Bewohnern den Vater vom Sohn zu unter­ scheiden und eine Generation nicht mit der anderen zu verwechseln . Es be­ ruht, wie ich glaube , dieses ungezwungene Aussehen auf zwei ganz verschie­ denen Ursachen, den örtlichen Verhältnissen der indianischen Völker­ schaften nämlich und der niederen Stufe ihrer Verstandeskultur. Die wilden Nationen sind in eine große Menge von Stämmen unterteilt, die einander tödlich hassen und sich nie untereinander verbinden, obgleich ihre Sprachen einerlei Abstammung haben und nur ein kleiner Fluß oder eine Reihe von Hügeln ihre Wohnungen trennt. Je weniger zahlreich ein Stamm ist , desto si­ cherer wird durch die Jahrhunderte fortdauernden gegenseitigen Familien­ heiraten eine gewisse gleichförmige Bildung, ein organischer Typus, den man Nationalform nennen kann , erzielt . Diese Form erhält sich in den aus einzelnen Völkerstämmen gebildeten Missionen . Die Absonderung bleibt dieselbe , indem nur Einwohner des gleichen Dorfs untereinander heiraten. Man findet diese , zwischen fast einem ganzen Volk bestehende Blutsver-

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wandtschaft in der Sprache der in den Missionen geborenen Indianer oder der aus den Wäldern entführten, welche Spanisch lernten, sehr naiv ausge­ drückt. Sie bezeichnen nämlich die zur gleichen Völkerschaft gehörenden Personen mit dem Namen mis parientes , meine Verwandten. Diesen Ursachen , welche auf der Absonderung allein beruhen und deren Wirkungen bei den Juden in Europa , bei den verschiedenen indianischen Schichten und überhaupt bei allen Bergvölkern wahrgenommen werden, ge­ sellen sich noch andere , bisher weniger berücksichtigte zu . Ich habe schon anderswo bermerkt , daß durch Geisteskultur vorzugsweise die Verschieden­ heiten der Gesichtszüge erzeugt werden. Bei den barbarischen Völkern trifft man vielmehr die Physiognomien der Stämme und Horden als individuelle Gesichtsbildungen an. Zwischen dem Wilden und dem Kultivierten tritt das­ selbe Verhältnis ein, das man zwischen Tieren gleicher Art beobachtet, von denen die einen sich in Wäldern aufhalten , während die anderen in Gesell­ schaft der Menschen der guten und schlimmen Wirkungen seiner Zivilisa­ tion teilhaftig werden. Spielarten in Gestalt und Farbe kommen nur unter Haustieren häufig vor. Welch ein Unterschied zeigt sich nicht in der Beweg­ lichkeit der Züge und in der Verschiedenheit des physiognomischen Aus­ drucks zwischen den wieder verwilderten Hunden in Amerika und denen , die in einem reichen Haus die sorgfältigste Pflege genießen! Beim Menschen und bei den Tieren spiegeln sich die Gemütsbewegungen in den Gesichts­ zügen, und diese Gesichtszüge werden um so beweglicher, als die Gemütsbe­ wegungen häufiger, mannigfacher und andauernder sind. Der Indianer der Mission bleibt aber aller Geisteskultur entfremdet ; er führt einzig durch phy­ sische Bedürfnisse geleitet und leicht imstand, diese zu befriedigen , unter einem glücklichen Himmelsstrich ein träges und eintöniges Leben. Die voll­ kommenste Gleichheit herrscht zwischen den Gliedern derselben Ge­ meinde , und diese Gleichförmigkeit, diese unwandelbaren Verhältnisse sind es, die sich in den Gesichtszügen der Indianer ausdrücken. Unter dem Mönchsregime wirken heftige Leidenschaften wie Ressenti­ ment und Wut auf den Eingeborenen seltener, als wenn er in Wäldern lebt. Wenn der Wilde sich schnellen und heftigen Gemütsbewegungen überläßt, gehen seine vorher ruhigen und gleichsam starren Gesichtszüge fast plötz­ lich in krampfhafte Bewegungen über. Sein Zornesausbruch aber dauert um so kürzer, je lebhafter er war. Beim Indianer in den Missionen ist, wie ich am Orinoco oft beobachtet habe , der Zorn weniger heftig, verdeckter, aber auch länger andauernd. Übrigens sind es in jeder Lage des Menschen nicht die augenblickliche Stärke und der erste Ausbruch der Leidenschaften, die dem Gesicht seinen Ausdruck verleihen , sondern vielmehr jene Empfind­ samkeit des Gemüts , die uns mit der Außenwelt in beständiger Verbindung erhält, unsere Leiden und Freuden vervielfacht und gleichzeitig auf Physio­ gnomie, Sitten und Sprache zurückwirkt. Wenn Mannigfaltigkeit und Be-

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weglichkeit der Gesichtszüge den Bereich der belebten Natur verschönern, so muß man auch gestehen , daß beide , ohne das ausschließliche Resultat der Zivilisation zu sein , doch mit ihr zunehmen. In der großen Völkerfamilie finden sich diese Vorzüge nirgends in höherem Grade beisammen als in der kaukasischen oder europäischen Rasse. Nur beim weißen Menschen kann die augenblickliche Durchdringung des Hautsystems mit Blut, die leichte Veränderung der Hautfarbe stattfinden , die den Ausdruck der Gemütsbewe­ gungen so mächtig erhöht. "Wie soll man denen trauen , die nicht erröten können?" fragt der Europäer in seinem eingewurzelten Haß gegen den Neger und den Indianer. Übrigens muß man zugeben , daß diese Unbeweg­ lichkeit der Gesichtszüge nicht allen dunkelgefärbten Volksstämmen eigen ist. Sie ist in ungleich geringerem Maß beim Afrikaner als beim eingebo­ renen Amerikaner vorhanden.

[Über Lebensart und Sitten der Chaimas-IndianerJ

Diesem Naturgemälde der Chaimas wollen wir einige allgemeine Bemer­ kungen über ihre Lebensart und Sitten anreihen. Unbekannt mit der Sprache dieses Volkes, beanspruche ich keineswegs , während eines kurzen Aufenthalts in den Missionen ihren Charakter ergründet zu haben. Sooft ich von den Indianern spreche , werde ich dem wenigen, was wir selbst beob­ achtet haben, hinzufügen , was uns von den Missionaren berichtet wurde . Die Chaimas äußern , gleich allen halbwilden Völkern , die in sehr warmen Ländern wohnen, eine entschiedene Abneigung gegen Kleider. Die Schrift­ steller des Mittelalters melden uns , es hätten im nördlichen Europa die von Missionaren verteilten Hemden und Beinkleider zur Heidenbekehrung kräftig mitgewirkt . In der heißen Zone bemerkt man umgekehrt, daß die Eingeborenen sich, wie sie sagen, des Kleidertragens schämen und in die Wälder fliehen, wenn man sie zu früh zwingen will, auf ihre Nacktheit zu ver­ zichten. Trotz der Ermahnungen der Mönche bleiben die Chaimas, Männer und Frauen, im Inneren ihrer Wohnungen nackt . Wenn sie durchs Dorf gehen, sind sie mit einer Art Hemd aus Baumwolltuch bekleidet, das ihnen kaum bis ans Knie reicht. Bei den Männern ist es mit Ärmeln versehen ; Frauen und junge Knaben bis ins zehnte oder zwölfte Jahr hingegen halten Arme , Schultern und den Oberteil der Brust nackt. Das Hemd ist so ge­ schnitten, daß das Vorderteil mit der Rückseite durch zwei schmale , auf den Schultern ruhende Bänder zusammenhängt. Eingeborene , die uns , zumal wenn es regnete , außerhalb der Missionen begegneten, hatten ihre Kleider ausgezogen und trugen ihr Hemd zusammengerollt unter dem Arm. Sie wollten sich lieber auf den nackten Leib regnen als ihre Kleider naßwerden lassen. Alte Frauen verbargen sich hinter Bäumen und erhoben ein schal-

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lendes Gelächter, als sie uns vorbeigehen sahen . Die Missionare klagen überhaupt, daß Anstand und Schamgefühl bei jungen Mädchen sowenig wie bei Männern angetroffen werden. Schon Ferdinand Columbus erzählt, sein Vater habe 1498 auf der Insel Trinidad die Frauen völlig nackt angetroffen, während die Männer Guayucos trugen, die eher ein schmales Band als eine Schürze sind . Auf der Küste von Paria unterschieden sich damals die Mäd­ chen von den verheirateten Frauen entweder, nach Kardinal Bembos Be­ hauptung, durch völlige Nacktheit oder, nach G6mara, durch die Farbe des Guayuco. Dieses Tuchstreifchen, dessen Gebrauch auch wir noch bei den Chaimas und allen nackten Völkerschaften am Orinoco antrafen, ist nicht über 2 bis 3 Zoll breit und wird auf bei den Seiten an eine um die Mitte des Leibes gehende Schnur geheftet. Die Mädchen heiraten oft im zwölften Jahr. Bis zum neunten erlauben ihnen die Missionare , nackt, das heißt ohne Hemd, zur Kirche zu gehen. Ich darf nicht erst daran erinnern , daß bei den Chaimas so wie in allen von mir besuchten spanischen Missionen und india­ nischen Dörfern Beinkleider, Schuhe oder ein Hut den Eingeborenen unbe­ kannte Luxusdinge sind. Ein Bedienter, welcher uns während der Reise nach Caripe und an den Orinoco begleitet hatte und den ich mit mir nach Frankreich nahm, war, als er beim Ausschiffen einen Bauern mit Hut pflügen sah , darüber dermaßen verwundert, daß er sich "in ein elendes Land, wo sogar die Edelleute (los mismos caballeros) hinter dem Pflug her­ gehen" , versetzt glaubte . Die Chaimas-Frauen sind nach unseren Begriffen von Schönheit nicht hübsch. Indessen haben die jungen Mädchen etwas Sanftes und Melancholi­ sches im Blick der Augen, das gegen den einigermaßen harten und wilden Ausdruck des Mundes angenehm absticht . Die Haare tragen sie zu zwei langen Flechten vereinigt ; die Haut färben sie nicht, und bei ihrer großen Armut kennen sie auch keinen anderen Schmuck, außer Hals- und Arm­ bändchen, die sie aus Muscheln, Vogelknochen und Beeren oder Körnern zusammensetzen. Beide Geschlechter besitzen starke Muskeln, wobei jedoch ihr Körper zugleich fleischig und fett ist . Es wäre überflüssig zu bemerken, daß mir kein von Natur Mißgestalteter unter ihnen begegnete , dasselbe müßte ich von vielen tausend Cariben , Muiscas, mexicanischen Indianern sagen, die uns während fünf Jahren zu Gesicht kamen. Diese Mißbildungen und Abweichungen werden ausnehmend selten unter gewissen Menschen­ rassen und besonders nicht bei Völkern wahrgenommen, die ein dunkelge­ färbtes Hautsystem haben . Ich kann nicht glauben, daß sie einzig nur die Folge der Verfeinerung, der Weichlichkeit und Sittenverderbnis seien. In Europa verehelicht sich eine bucklige oder sehr häßliche Tochter, insofern sie Vermögen besitzt, und die Kinder erben alsdann häufig die Mißgestalt der Mutter. Im wilden Zustand, wo Gleichheit herrscht, ist kein Grund vor­ handen, der einen Mann bewegen könnte , eine mißgestaltete oder krän-

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kelnde Frau zu heiraten . Wenn ihr also auch das seltene Glück zuteil wird, das Erwachsenenalter zu erreichen und die Gefahren einer unruhigen und stürmi­ schen Lebensart zu überwinden, so stirbt sie doch ohne Kinder. Man könnte glauben, die Wilden erscheinen deshalb alle stark und wohlgebaut, weil die schwächlichen Kinder aus Mangel an Pflege früh sterben und nur die starken am Leben bleiben; allein ein solches Verhältnis findet weder beim Indianer der Missionen statt, der in seinen Sitten unseren Landsleuten gleicht, noch bei den Mexicanern von Cholula und von Tlascala, die im Besitz von Reichtü­ mern sind, die sie von zivilisierten Vorfahren ererbt haben. Wenn demnach die kupferfarbige Menschenrasse in jedem Stand der Kultur dieselbe Unbiegsam­ keit und den gleichen Widerstand gegen Abweichungen von der ursprüngli­ chen Bildung zeigt, so müssen wir wohl auch annehmen, dieses Vermögen hänge großenteils von der erblichen , der Rasse wesentlich eigenen oder sie konstituierenden Organisation ab . Ich sage absichtlich nur großenteils, um den Einfluß der Zivilisation nicht gänzlich auszuschließen . Es hatten übri­ gens, unter den kupferfarbigen Menschen wie unter den Weißen, Luxus und Weichlichkeit durch Schwächung der physischen Constitution vormals in Cuzco und in TenochiWin häufigere Mißgestaltungen hervorgebracht. Unter den jetzigen Mexicanern , die alle Landbauern sind und ein sehr einfaches Leben führen, würde Moctezuma die Zwerge und die Buckligen nicht ge­ funden haben, welche Bemal Diaz seinen Mahlzeiten beiwohnen sah* . Die Gewohnheit eines sehr frühen Heiratens ist nach dem Zeugnis der Mönche der Bevölkerung keineswegs nachteilig. Dieses frühe Mannbar­ werden rührt von der Rasse und nicht vom Einfluß eines exzessiv heißen Klimas her; man findet es wieder an der Nordwestküste Amerikas bei den Eskimo und in Asien unter den Kamtschadalen und Koriäken, bei denen zehnjährige Mädchen nicht selten Mütter sind. Es ist auffallend und bemer­ kenswert, daß die Zeit des Austragens und die Dauer der Schwangerschaft sich im gesunden Zustand bei keiner Rasse und in keinem Klima verändern . Die Chaimas sind fast bartlos, gleich den Tungusen und anderen Völkern mongolischer Rasse . Sie rupfen die wenigen Haare, die ihnen am Kinn wachsen, aus; darum kann man aber nicht im allgemeinen sagen, sie seien nur deshalb bartlos, weil sie sich die Barthaare auszupfen; denn auch unab­ hängig von dieser Sitte wäre die Mehrzahl der Eingeborenen ziemlich bartlos. Ich sage die Mehrzahl, weil es Völkerschaften gibt, die , unter den übrigen gleichsam vereinzelt und abgesondert , deshalb nur um so mehr Auf­ merksamkeit verdienen . Dahin gehören , in Nordamerika, die von Mac­ kenzie besuchten Chepewyans [Chippewyans] und die in der Nähe der tolte­ kischen Ruinen von Moqui wohnenden, mit dichtem Bart versehenen Yabi­ paYs; in Südamerika die Patagonier und Guarani. Unter diesen letzteren *

Bemal Diaz , Rist . verd. de la Nueva Espafia, 1630 , cap . 91, p. 68.

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finden sich solche, denen sogar auf der Brust Haare wachsen . Wenn die Chaimas, statt sich die wenigen Barthaare, die sie am Kinn haben, auszu­ zupfen, solche öfters zu rasieren versuchen, wächst ihnen der Bart. Ich sah junge Indianer, die als Chorknaben gebraucht wurden und den Kapuzinervä­ tern, ihren Missionaren und Gebietern, ähnlich zu werden wünschten, diesen Versuch mit Erfolg anstellen. Die große Masse des Volkes hingegen äußert eine fortwährend ebenso große Abneigung gegen den Bart, wie die Morgen­ länder denselben in Ehren halten. Diese Abneigung entspringt der gleichen Quelle wie die Vorliebe für plattgedrückte Stirnen, die sich in den Bildern der Aztekengötter und -helden auf eine so seltsame Weise offenbart. Die Völker verbinden den Begriff von Schönheit vorzugsweise mit alledem, was ihre Kör­ perbildung und Nationalphysiognomie auszeichnet. Daraus ergibt sich, wenn die Natur ihnen nur wenigen und dünnen Bart, eine schmale Stirn oder rot­ braune Haut verlieh, daß jeder einzelne glaubt, er sei um so schöner, je weni­ ger Haare er hat, je flacher sein Kopf ist und je mehr seine Haut mit roucou, mit chica oder mit irgendeiner anderen kupferroten Farbe bedeckt ist. Das Leben der Chaimas ist höchst einförmig; sie legen sich regelmäßig abends sieben Uhr zur Ruhe ; am Morgen stehen sie lange vor Tag um vier Uhr dreißig auf. Jeder Indianer unterhält nahe bei seiner Hängematte ein Feuer. Die Frauen frösteln derart, daß ich sie in der Kirche vor Kälte zittern sah, wenn das hundertteilige Thermometer noch nicht unter 18° gesunken war. Die indianischen Hütten werden inwendig äußerst reinlich gehalten. Ihre Hängematten, ihre Schilfmatten, ihre Töpfe zur Aufbewahrung von Ma­ nioc oder gegorenem Mais, ihre Bogen und Pfeile , alles steht in der schön­ sten Ordnung aufgereiht. Männer und Frauen baden sich täglich ; und weil sie fast ständig nackt gehen, trifft man die Unreinlichkeit der Kleidung bei ihnen nicht an , die beim niederen Volk in den kalten Ländern so verbreitet ist. Außer der Wohnung im Dorf haben sie allgemein in ihren conucos nahe bei einer Quelle oder am Eingang eines einsamen Tales noch eine kleine, mit Palm- und Bananenblättern gedeckte Hütte. Obgleich sie im conuco we­ niger bequem leben, verweilen sie darin doch, so oft und lang sie können. Wir haben oben schon von ihrem unwiderstehlichen Trieb, die Gesellschaft zu fliehen und zum wilden Leben zurückzukehren , gesprochen. Die klein­ sten Kinder laufen öfters von ihren Eltern weg, streichen vier bis fünf Tage in den Wäldern herum und nähren sich von Früchten , Palmkohl und Wurzeln. Beim Reisen durch die Missionen trifft man nicht selten ganze Dörfer fast leer an, weil die Einwohner sich in ihren Gärten oder in den Wäldern , al monte, aufhalten. Die Jagdlust der zivilisierten Völker beruht vielleicht zum Teil auf gleichartigen Gefühlen, auf dem Reiz der Einsamkeit, auf dem ange­ stammten Verlangen nach Unabhängigkeit, auf dem tiefen Eindruck, den die Natur überall hervorbringt, wo der Mensch allein und ohne Zerstreuung mit ihr in Berührung kommt.

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Der Zustand der Frauen ist bei den Chaimas wie bei allen halbbarbari­ schen Völkern ein Zustand der Entbehrungen und Leiden. Die härtesten Ar­ beiten sind ihr Los. Wenn wir am Abend die Chaimas aus ihrem Garten heimkehren sahen , trug der Mann nichts als das Messer (machete) , womit er sich durchs Gesträuch den Weg bahnt. Die Frau war gebeugt von einer großen Bananenlast; im Arm trug sie ein Kind, und zwei andere saßen oft noch oben auf der Traglast. Trotz dieser ungleichen Verhältnisse kamen mir die indianischen Frauen Südamerikas insgesamt glücklicher vor als die der Wilden in den Nordländern . Zwischen Allegheny-Gebirge und dem Missis­ sippi überall, wo die Eingeborenen nicht großenteils von der Jagd leben , sind es die Frauen , die den Mais, die Bohnen und Kürbisse pflanzen ; die Männer beteiligen sich an dieser Arbeit nicht. In der heißen Zone sind die jagdtreibenden Völker sehr selten , und in den Missionen bearbeiten Männer und Frauen die Felder gemeinsam. Nur mit äußerster Schwierigkeit erlernen die Indianer die spanische Sprache . Sie ist ihnen verhaßt, solange sie , ohne nähere Verbindung mit den Weißen, den Ehrgeiz nicht kennen , für zivilisierte Indianer gehalten oder, wie man in den Missionen sagt, lateinische Indianer, Indios muy latinos , ge­ nannt zu werden . Was mir aber am auffallendsten war, nicht nur bei den Chaimas, sondern in allen später von mir besuchten sehr entlegenen Mis­ sionen , ist die ausnehmende Schwierigkeit , mit der die Indianer auch nur die einfachsten Gedanken im Spanischen koordinieren und ausdrücken, sogar auch dann noch , wenn sie die Bedeutung der Wörter und die Wendung der Sätze ganz richtig begreifen. Man könnte an Geistesschwäche , die nicht die der Kindheit ist, glauben , sobald ein Weißer sie über Dinge fragt, die sie doch von der Wiege an umgeben. Die Missionare versichern , diese Verlegen­ heit sei keine Folge von Furchtsamkeit; und daß es bei den Indianern , welche täglich in die Wohnung des Missionars kommen und die öffentlichen Arbeiten anordnen , nicht in einer natürliche Stupidität begründet sei , son­ dern in der Schwierigkeit eines von ihren Landessprachen sehr verschie­ denen Idioms . Je weiter der Mensch von der Kultur entfernt ist, desto sturer und unbieg­ samer erscheint er. Man darf sich darum nicht wundern , bei dem in den Mis­ sionen vereinzelt lebenden Indianer Hindernisse anzutreffen, welche denen unbekannt sind, die mit den Metis , Mulatten und Weißen gemeinsam ein Pfarrdorf in der Nähe der Städte bewohnen . Ich erstaunte oft über die Ge­ läufigkeit, womit ich in Caripe den Alcalden , den gobernador und den sar­ gento mayor stundenlange Reden an die vor der Kirche versammelten In­ dianer halten sah . Sie ordneten die Arbeiten der Wochen , erteilten den Trä­ gern Verweise und drohten den Ungelehrigen Strafe an . Diese Vorgesetzten, welche selbst auch zur Chaimas-Rasse gehören und die Aufträge der Missio­ nare überbringen, sprechen dann alle gleichzeitig mit lauter Stimme und mit

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viel Nachdruck, aber ohne alle deklamatorische Bewegung. Auch ihre Ge­ sichtszüge bleiben unbeweglich, und ihr Blick ist gebieterisch und ernst. Diese selben Menschen , welche so viel Lebhaftigkeit des Geistes ver­ rieten und die spanische Sprache recht gut anwendeten, waren fast aller Ideenverbindung unfähig, wenn sie uns auf unseren Gängen außerhalb des Klosters begleiteten und wir über die Mönche Fragen an sie richteten. Sie sagten "Ja" und "Nein", wie man es gerne haben wollte . Teils Gleichgültig­ keit, teils eine gewisse schlaue Höflichkeit, die sogar auch dem rohesten In­ dianer eigen ist, veranlaßten sie nicht selten, ihren Antworten die Wendung zu geben , welche die an sie gerichtete Frage anzudeuten oder zu erwarten schien . Reisende können sich nicht sorgfältig genug vor solch gefälligem Ja­ sagen in acht nehmen, wenn sie sich auf ein Zeugnis der Eingeborenen be­ rufen wollen. Um einen indianischen Alcalden auf die Probe zu stellen , fragte ich ihn einst, ob er nicht glaube , der kleine Fluß von Caripe , welcher aus der Grotte von Guacharo herauskomme , kehre durch irgendeine unbe­ kannte Öffnung von der entgegengesetzten Seite wieder in die Grotte zu­ rück, nachdem er zuvor den Berg erstiegen habe. Er schien eine Weile nach­ zudenken und antwortete hierauf, meinen Satz unterstützend: Wie könne wohl sonst immerfort Wasser im Flußbett aus der Mündung der Grotte her­ auskommen? Alles, was auf Zahlenverhältnisse Bezug hat, wird von den Chaimas nur äußerst schwer begriffen. Ich traf keinen einzigen an, den man nicht veran­ lassen konnte zu sagen, er sei 18 oder 60 Jahre alt. Herr Marsden hat das gleiche bei den Malaien von Sumatra bemerkt, obgleich sie über fünf Jahr­ hunderte Zivilisation hinter sich haben. Zwar besitzt die Chaimassprache Wörter, welche ziemlich große Zahlen ausdrücken, aber nur wenige In­ dianer verstehen solche zu gebrauchen; und weil sie durch ihre Kontakte zu den Missionaren das Bedürfnis kennengelernt haben , zählen ihre besten Köpfe , in kastilianischer Sprache und mit einem viel Anstrengung verra­ tenden Ausdruck , bis zu 30 oder 50. In der Chaimassprache können die glei­ chen Menschen nicht über 5 oder 6 hinaus zählen . Es ist natürlich, daß sie sich vorzugsweise der Wörter einer Sprache bedienen, worin sie die Reihen der Einheiten und der Zehner kennenlernten. Seitdem die europäischen Ge­ lehrten es der Mühe wert hielten , die Struktur der amerikanischen Idiome zu studieren, wie man die semitischen Sprachen, das Griechische und Latei­ nische studiert, bringt man nicht mehr auf Rechnung der Unvollkommen­ heit der Sprache , was eine Folge der Roheit der Völker ist . Man sieht ein , daß fast allgemein die Idiome größeren Reichtum und feinere Schattie­ rungen darbieten, als man nach der Unkultur der Völker, welche sich ihrer bedienen , vermuten sollte . Ich bin weit entfernt, die amerikanischen Spra­ chen mit den schönsten Sprachen Asiens und Europas in die gleiche Reihe zu stellen; aber keine dieser letzteren übertrifft an Klarheit, Regelmäßigkeit

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und Einfachheit ihres Zahlensystems die Ketschua- und Aztekensprache , deren man sich i n den großen Reichen von Cuzco und Anahuac bediente . Wie könnte man sagen, es lasse sich in diesen Sprachen nicht über 4 zählen, weil in Dörfern, wo sie sich unter den armen Eingeborenen von peruani­ seher oder mexicanischer Rasse erhalten haben, Individuen vorkommen, die weiter zu zählen nicht imstande sind? Die seltsame Meinung, daß so viele amerikanische Völker nur bis zu 5 , 10 oder 20 zählen, wurde von Rei­ senden verbreitet, die nicht wußten , daß je nach dem Geist der verschie­ denen Idiome die Menschen unter allen Himmelsstrichen , bei Gruppen von 5, 10 oder 20 Einheiten (das heißt , als den Fingern einer Hand, zweier Hände ; der Hände und Füße) stehenbleiben und daß 6, 13 oder 20 unter­ schiedlich durch 5 und 1, 10 und 3 , Füße und Zehen ausgedrückt werden? Wer würde behaupten, daß die Zahlen der Europäer nicht über 10 reichen, weil wir, nachdem eine Gruppe von 1 0 Einheiten gebildet ist, eine Pause machen? Die Struktur der amerikanischen Sprachen steht mit der Bildung der vom Lateinischen abstammenden Idiome in solchem Widerspruch , daß die Je­ suiten, welche aufs sorgfältigste alles erforscht haben , was zur Erweiterung ihrer Anstalten beitragen konnte , bei ihren Neubekehrten statt der spani­ schen einige besonders reiche , regelmäßige und weitverbreitete indianische Sprachen wie die Ketschua- und Guaranisprache einführten. Sie suchten diese Sprachen an die Stelle von ärmeren, weniger gebildeten und in ihren Wortfügungen weniger regelmäßigen Idiomen zu bringen. Der Tausch war auch gar nicht schwer: Die Indianer der verschiedenen Stämme zeigten sich dafür gelehrig , und so wurden nun diese allgemein verbreiteten amerikani­ schen Sprachen ein leichtes Mittel des Austausches zwischen den Missio­ naren und ihren Neubekehrten. Man würde sich irren, wenn man glauben wollte , der Vorzug, welchen die Sprache der Incas vor der kastilianischen er­ hielt, habe keinen anderen Zweck gehabt als den, die Missionen abzuson­ dern und sie dem Einfluß der doppelten aufeinander eifersüchtigen Macht, der Bischöfe und der Zivilgouverneure zu entziehen; die Jesuiten hatten noch andere, von ihrer Politik unabhängige Beweggründe , um deretwillen sie sich die Verbreitung gewisser indianischer Sprachen angelegen sein ließen. Sie fanden in diesen Sprachen ein gemeinsames Band, wodurch zahl­ reiche Horden leicht verbunden werden konnten, welche bisher vereinzelt standen, einander anfeindeten und durch die Verschiedenheit ihrer Spra­ chen getrennt waren; denn in öden Ländern nehmen nach Ablauf von meh­ reren Jahrhunderten Dialekte nicht selten die Form oder wenigstens das Aussehen von Muttersprachen an. Wenn man sagt, der Däne lerne leichter Deutsch , der Spanier leichter ita­ lienisch oder Lateinisch als irgendeine andere Sprache , vermutet man an­ fangs , diese Leichtigkeit beruhe auf der Übereinstimmung einer großen

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Zahl Wurzelwörter, die allen germanischen Sprachen bzw. denen des lateini­ schen Europa gemein sind. Man vergißt, daß neben dieser Ähnlichkeit der Laute noch eine andere vorhanden ist , welche auf die Völker gleichartigen Ursprungs mächtiger einwirkt. Die Sprache ist nicht das Resultat einer will­ kürlichen Übereinkunft. Der Mechanismus der Biegungen, die grammati­ schen Formen, die Möglichkeit der Umkehrungen, alles ist Ausfluß unseres Inneren und unserer individuellen Organisation. Es findet sich im Menschen ein instinktartiges, ordnendes Prinzip , das bei Völkern ungleicher Rasse ver­ schieden modifiziert ist . Das mehr oder minder rauhe Klima, der Aufenthalt in Gebirgsschluchten oder am Meeresstrand, die Gewohnheiten des Lebens können die Laute verändern, die Gleichförmigkeit der Sprachwurzeln un­ kenntlich machen und ihre Zahl vervielfältigen; was aber das Wesen der Struktur und den Mechanismus der Sprachen ausmacht, wird dadurch nicht betroffen. Der Einfluß des Klimas und äußerer Dinge verschwindet neben dem, welcher von der Rasse und der erblichen Gesamtheit der individuellen Anlagen des Menschen abhängt. Nun ergibt es sich als ein für die Geschichte unserer Gattung höchst merk­ würdiges Resultat der neuesten Untersuchungen, daß in Amerika, vom Lande der Eskimo bis zu den Ufern des Orinoco und von diesen heißen Ge­ staden bis zum Eis der Magellanischen Meerenge , die in ihren Wurzeln völlig verschiedenen Muttersprachen eine sozusagen gleichförmige Physiognomie besitzen. Auffallende Ähnlichkeiten der grammatikalischen Struktur wer­ den nicht nur in den vollkommeneren Sprachen wie in der Inca- , Aymara- , Guaranf-, der mexicanischen- und der Corasprache, sondern selbst in äußerst rohen Sprachen wahrgenommen. Idiome , deren Wurzeln einander nicht ähnlicher sind als die Wurzeln des Slawischen und Baskischen, haben diese Ähnlichkeiten des inneren Mechanismus, die man im Sanskrit, in der persi­ schen, griechischen und den germanischen Sprachen findet. Fast überall in der Neuen Welt trifft man eine Mannigfaltigkeit der Formen und Tempora beim Verb, ein kunstvolles Verfahren an, um im voraus die Flexion der Per­ sonalpronomina, sei es durch die Beugung der persönlichen Fürwörter, welche die Endungen der Verben bilden , sei es durch ein eingeschobenes Suffix, Natur und Bezüge von Objekt und Subjekt anzuzeigen, um zu unter­ scheiden, ob das Objekt belebt oder leblos , männlich oder weiblichen Ge­ schlechts , einfach oder in vielfacher Zahl ist. Um dieser allgemeinen Ähn­ lichkeit der Struktur willen und weil die amerikanischen Sprachen, welche kein gemeinsames Wort haben (zum Beispiel die mexicanische und die Ke­ tschuasprache) , einander in ihrer Organisation gleichen und gänzlich mit den Sprachen des lateinischen Europa kontrastieren, macht sich der Indianer in den Missionen mit einer amerikanischen Sprache leichter vertraut als mit der der Hauptstadt [Madrid] . In den Wäldern des Orinoco habe ich die rohe­ sten Indianer gesehen , die zwei bis drei Sprachen redeten . Nicht selten

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teilen Wilde aus verschiedenen Nationen einander ihre Ideen in einer Sprache mit, die nicht ihre erstgelernte ist. Wäre das System der Jesuiten befolgt worden , würden Sprachen , die be­ reits schon weit verbreitet sind , fast allgemein geworden sein . In Tierra Firme und am Orinoco würde gegenwärtig nur die caribische oder tamanaki­ sehe Sprache gebraucht werden; in den südlichen und südwestlichen Län­ dern die Ketschua- , Guarani- , Omagua- und araucanische Sprache. Im Be­ sitz dieser Sprachen, deren grammatische Formen sehr regelmäßig und fast ebenso genau bestimmt sind wie die des Griechischen und des Sanskrit, würden die Missionare mit den Eingeborenen , die von ihnen beherrscht werden, in vertrauteren Verhältnissen stehen . Die zahllosen Schwierig­ keiten , die sich in der Verwaltung der aus fast einem Dutzend verschiedener Völkerschaften gebildeten Missionen ergeben, würden mit der Verschmel­ zung ihrer Sprachen verschwinden . Die weniger verbreiteten unter ihnen würden tote Sprachen werden ; aber der Indianer würde durch Beibehaltung eines amerikanischen Idioms auch seine Individualität und seine National­ physiognomie erhalten. Was die allzusehr gerühmten Incas, die in der Neuen Welt das erste Beispiel des religiösen Fanatismus gaben , mit Waffengewalt zu erzielen versuchten , könnte somit durch friedliche Maßnahmen erzielt werden. Wie dürfte man sich in der Tat auch über die geringen Fortschritte wun­ dern, welche die Chaimas , Cariben, Saliven oder Otomaken in der Kenntnis der spanischen Sprache machen, wenn man bedenkt , daß sich ein weißer Mensch , ein einziger Missionar, mitten unter 500 bis 600 Indianern allein befindet und Mühe genug hat, sich einen gobernador, einen Alcalden oder Fiscal zu bilden, der ihm als Dolmetscher dienen könnte . Wenn es gelänge , an die Stelle der Herrschaft der Missionare ein anderes zivilisatorisches Mittel zu setzen (sagen wir lieber, ein Mittel zur sittlichen Mäßigung, denn der unterworfene Indianer hat weniger barbarische Sitten, ohne deshalb mehr Einsicht zu besitzen) ; wenn man die weißen Menschen, statt sie ent­ fernt zu halten, mit den jüngst in Dörfern versammelten Eingeborenen mi­ schen könnte , so würden die amerikanischen Sprachen bald von den euro­ päischen ersetzt sein , und die Eingeborenen empfängen mit diesen den rei­ chen Vorrat neuer Begriffe , welche die Frucht der Zivilisation sind. Alsdann würde freilich die Einführung allgemeiner Sprachen wie jener der Inca oder der Guarani unnütz werden. Aber nach einem derart langen Aufenthalt in den südamerikanischen Missionen, nachdem ich Vorteil und Mißbrauch der Missionarsherrschaft derart aus der Nähe sah, muß ich sehr zweifeln, daß es so leicht sein dürfte, diese Herrschaft aufzugeben , welche sehr zur Vervoll­ kommnung geeignet ist und Übergang zu einer anderen, unseren Begriffen von bürgerlicher Freiheit angepaßteren werden kann . Man wird mir ein­ wenden, den Römern sei es gelungen, ihre Sprache schnell und parallel mit

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ihrer Herrschaft zugleich in Gallien , in Baetica und in der Provinz Africa einzuführen; allein die Bewohner dieser Länder waren keine Wilden . Sie wohnten in Städten ; der Gebrauch des Geldes war ihnen bekannt, und die Institutionen, die sie besaßen , zeugten von einem ziemlich vorgerückten Kulturstand. Der Anreiz des Handels und ein langer Aufenthalt römischer Legionen hatten sie mit den Siegern in Berührung gebracht. Im Gegensatz dazu sehen wir aber auch, daß die Einführung der Sprachen des Mutter­ landes fast unüberwindliche Hindernisse überall fand, wo Kolonien der Kar­ thager, Griechen und Römer an völlig barbarischen Küsten etabliert worden sind. In allen Jahrhunderten und in allen Klimaten leitet ein natürlicher An­ trieb den Wilden Menschen , den zvilisierten Menschen zu fliehen. Die Sprache der Chaimas-Indianer schien mir dem Ohr weniger ange­ nehm als die caribische , die salivesche und andere Sprachen des Orinoco . Sie besitzt insbesondere weniger wohlklingende Endsilben mit akzentu­ ierten Vokalen. Die häufige Wiederholung der Silben guaz , ez , puec und pur ist sehr auffallend. Wir werden bald sehen, daß diese Endungen zum Teil von den Beugungen des Zeitwortes Sein herrühren und von gewissen Präposi­ tionen, die den Wörtern beigefügt werden und dem Geist der amerikani­ schen Sprachen zufolge mit ihnen verwachsen. Man würde sich irren , wenn man diese rohen Töne dem Aufenthalt der Chaimas in den Gebirgen zu­ schreiben wollte: Das gemäßigte Klima ist nicht das Vaterland der Chaimas; die Missionare führten sie ins Gebirge , und bekanntlich war ihnen, wie allen Bewohnern heißer Länder, was sie die Kälte von Caripe nennen, anfangs höchst widerwärtig. Ich habe gemeinsam mit Herrn Bonpland während un­ seres Aufenthalts im Kapuziner-Hospiz ein kleines Verzeichnis von Chai­ maswörtern gesammelt . Zwar weiß ich wohl, daß das Bezeichnende der Sprachen mehr aus ihrer Struktur und ihren grammatischen Formen als aus der Ähnlichkeit der Laute und Wurzeln hervorgeht und daß diese Analogie der Laute in den verschiedenen Dialekten derselben Sprache oft unkennt­ lich wird, indem die Stämme , in welche sich eine Nation teilt , nicht selten die gleichen Gegenstände durch ganz verschiedene Wörter bezeichnen. Es er­ gibt sich daraus, daß leicht Irrtümer entstehen können, wenn man das Stu­ dium der Wortendungen vernachlässigt und sich nur an die Wurzeln hält, zum Beispiel an die Wörter, welche den Mond, den Himmel, das Wasser und die Erde bezeichnen , um über die absolute Verschiedenheit zweier Sprachen hinsichtlich der abweichenden Laute allein zu entscheiden. Dessenunge­ achtet meine ich, die Reisenden sollten , wenn sie diese Quelle der Irrtümer kennen , dennoch solche Materialien zu sammeln fortfahren , welche ihre Lage ihnen darbieten kann . Wenn sie nicht innere Struktur und Anordnung des Gebäudes kennen , werden sie immerhin isoliert einige seiner wichtigen Teile bekanntmachen. Die Wortkataloge sind nicht zu vernachlässigen ; sie können sogar über den wesentlichen Charakter einer Sprache Aufschluß

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geben , wenn der Reisende solche Redensarten sammelte , welche die Konju­ gation der Verben und die so verschiedenen Bezeichnungsarten der Per­ sonal- und Possessivpronomina zeigen. Die drei verbreitetsten Sprachen in den Provinzen Cumami und Barce­ lona sind heute die der Chaimas, Cumanagotos und Cariben . Sie werden in diesen Ländern ständig für voneinander wesentlich verschiedene Sprachen gehalten; jede hat ihr Wörterbuch , das zum Gebrauch der Missionen von den Patres Tauste , Rafz-Blanco und Bret6n zusammengestellt wurde . D as > Vocabulario y arte de la lengua de los Indios Chaymas< ist überaus selten ge­ worden . Die wenigen Exemplare amerikanischer Grammatiken, die meist im 17. Jahrhundert gedruckt wurden , sind in die Missionen gewandert und haben sich in den Wäldern verloren. Die feuchte Luft und die gefräßigen In­ sekten machen das Aufbewahren der Bücher in diesen heißen Ländern fast unmöglich . Trotz aller Vorsicht, die man walten lassen mag, gehen sie in kurzer Zeit zugrunde . Ich hatte nicht geringe Mühe , mir in den Missionen und Klöstern die Grammatiken amerikanischer Sprachen zu verschaffen, welche ich gleich nach meiner Rückkehr in Europa dem Professor und Bi­ bliothekar der Universität Königsberg, Herrn Severin Vater, übergab; sie lieferten ihm nützliche Materialien zu dem großen und schönen Werk, wel­ ches er über die Idiome der Neuen Welt schrieb. Ich hatte aber damals ver­ säumt, was ich über die Chaimassprache gesammelt hatte , aus meinem Tage­ buch abzuschreiben und diesem Gelehrten mitzuteilen . Weil weder der Pater Gili noch der Abbe Hervas diese Sprache erwähnt haben, so will ich hier kurz das Resultat meiner Untersuchungen mitteilen . Am rechten Ufer des Orinoco , südostwärts der Mission Encamarada, über hundert Meilen von den Chaimas entfernt, wohnen die Tamanaken (Tama­ nacu) , deren Sprache in verschiedene Dialekte zerfällt. Diese vormals sehr mächtige Nation ist gegenwärtig nur noch in kleiner Zahl erhalten; von den Caripe-Gebirgen wird sie durch den Orinoco, durch die ausgedehnten Steppen von Caracas und Cumana und, was eine noch viel schwerer zu über­ steigende Schranke ist, durch die Völker caribischen Ursprungs getrennt. Trotz dieser Entfernung und vielfacher Hindernisse erkennt man bei der Prü­ fung der Sprache der Chaimas-Indianer, daß sie ein Zweig der tamanakischen ist. Auch die ältesten Missionare von Caripe wußten dies nicht, weil die arago­ nischen Kapuziner nur selten das südliche Ufer des Orinoco besuchen und kaum etwas vom Dasein derTamanaken wissen. Ich habe die Ähnlichkeit zwi­ schen der Sprache dieses Volkes und der der Chaimas-Indianer erst geraume Zeit nach meiner Rückkunft in Europa beim Vergleich meiner gesammelten Materialien mit dem Abriß der von einem vormaligen Missionar am Orinoco in Italien herausgegebenen Sprachlehre wahrgenommen . Ohne die Chaimas­ sprache zu kennen , hatte der AbM Gili geahnt, die Sprache der Einwohner von Paria müsse der Tamanakensprache verwandt sein.

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Ich werde dieses Verhältnis auf zwei Wegen , welche die Ähnlichkeit der Sprachen dartun können, beweisen, nämlich durch die grammatikalische Struktur und durch die Identität der Wörter oder Wurzeln. Ich mache zuerst aufmerksam auf die persönlichen Fürwörter der Chaimas, die zugleich auch Possessivpronomina sind: u-re, ich, mir; eu-re, du, dir; ateu-re, er, ihm. In der Tamanakensprache: u-re, ich; ama-re oder an-ja, du ; iteu-ja , er. Das Wur­ zelwort der ersten und dritten Person ist in der Chaimassprache u und teu ; dieselben Wurzeln finden sich in der Tamanakensprache wieder. Chaimassprache

Tamanakensprache

Ure, ich Tuna, Wasser Conopo, Regen Poturu , wissen Apoto , Feuer Nuna, Mond, Monat Je , Baum Ata , Haus Euja, dir Toya , ihm Guane, Honig Nacaramayre, er hat es gesagt Piache (Piatsche) , Arzt, Zauberer Tibin , eins Aco , zwei Oroa , drei Pun , Fleisch Pra , nicht (Verneinung)

Ure Tuna Canepo Puturo U-apto (im Caribischen: uato) Nuna Jeje Aute Auya Iteuya Uane Nacaramai Psiache (Psiaschi) Obin (im Jaoi: Tewin) Oco (im Caribischen : Occo) Orua (im Caribischen: Oroa) Punu Pra

Das Hauptzeitwort sein wird in der Chaimassprache durch oz ausge­ drückt; wenn dem Zeitwort das persönliche Fürwort ich (u von u-re) beige­ fügt wird, setzt man des Wohllauts wegen ein g vor das u, wie in guaz , ich bin , eigentlich g-u-az . Da die erste Person am u erkannt wird, bezeichnet man die zweite durch ein m, die dritte durch ein i: du bist, maz ; muerepuec ara­ quapemaz , warum bist du traurig, eigentlich dies für traurig dich sein ; pun­ puec topuchemaz , du hast einen fetten Körper, eigentlich Fleisch (pun) für (puec) fett (topuche) du sein (maz) . Die Possessivpronomina werden dem Hauptwort vorgesetzt: upatey, in meinem Haus , eigentlich mir Haus in. Alle Präpositionen und die Verneinungpra werden wie in derTamanakensprache dem Wort am Ende einverleibt. Man sagt in der Chaimassprache: ipuec mit ihm, eigentlich ihm mit; euya : für dich oder dich für; epuec charpe guaz : ich bin lustig mit dir, eigentlich du mit lustig mir sein ; ucarepra: nicht wie ich, -

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eigentlich ich wie nicht; quenpotupra quoguaz : ich kenne ihn nicht , eigent­ lich ihn kennend nicht ich bin, quenepra quoguaz : ich habe ihn nicht ge­ sehen , eigentlich ihn gesehen nicht ich bin. In der Tamanakensprache sagt man acurivane: schön und acurivanepra: häßlich, nicht schön; uotopra: es sind keine Fische da, eigentlich Fische nicht; uteripipra: ich will nicht gehen, eigentlich ich gehen wollen nicht , zusammengesetzt aus iteri: gehen ; ipiri: wollen, und pra: nicht. Bei den Cariben , deren Sprache mit der Tamanaken­ sprache gleichfalls , obgleich viel weniger als die Chaimassprache , verwandt ist, wird die Verneinung durch ein dem Zeitwort vorgesetztes m ausge­ drückt: amoyen-lenganti: es ist sehr kalt, und mamoyen-lenganti: es ist nicht sehr kalt. Auf ähnliche Weise erteilt das Partikel mna dem tamanakischen Zeitwort - nicht am Ende , sondern in der Mitte eingeschoben - eine vernei­ nende Bedeutung, wie taro : sagen , taromnar: nicht sagen. Das in allen Sprachen sehr unregelmäßige Hauptzeitwort (sein) ist in der Chaimassprache az oder ats und in der tamanakischen uochiri (in den Zu­ sammensetzungen uac, uatscha) . Es dient nicht bloß zur Bildung des Pas­ sivs, sondern es wird auch unstreitig wie durch Agglutination der Wurzel der attributiven Verben in vielen Tempora hinzugefügt. Diese Agglutinationen erinnern an den Gebrauch , welchen die Sanskritsprache von den Hilfszeit­ wörtern as und bhu (asti und bhavati) macht; die lateinische : von es und fu oder fuo ; die baskische : von izan , ucan und eguin . Es gibt gewisse Punkte , worin die verschiedenartigsten Sprachen zusammentreffen; das Gemein­ same in der geistigen Organisation des Menschen spiegelt sich in der allge­ meinen Struktur der Sprachen, und jedes Idiom , wie barbarisch es auch er­ scheinen mag, verrät ein ordnendes Prinzip , das seiner Bildung zugrunde lag . Der Plural wird in der Tamanakensprache auf sieben Arten bezeichnet, je nach der Endung des Hauptworts oder ob er ein lebendiges oder lebloses Objekt bezeichnet. In der Chaimassprache wird der Plural wie in der caribi­ sehen durch on ausgedrückt: teure: er selbst , teurecon : sie selbst ; taronocon : die hier Sprechende ; montaonocon : die dort, insofern der Sprechende einen Ort meint, wo er zugegen war; miyonocon: die dort, insofern der Sprecher einen Ort bezeichnet , wo er nicht zugegen war. Die Chaimas besitzen gleich­ falls die kastilianischen Adverbien aqui und ald (alld) , Nuancen, die wir in deutschen und lateinischen Idiomen nur durch Umschreibungen ausdrücken können . Etliche Indianer, welche die spanische Sprache verstanden, versicherten uns , Zis bedeute nicht allein die Sonne, sondern auch die Gottheit. Dies kam mir um so außerordentlicher vor, als man bei allen anderen amerikani­ schen Völkerschaften verschiedene Wörter für die Bezeichnung von Gott und Sonne antrifft. Der Caribe verwechselt tamoussicabo (den "Alten im Himmel") nicht mit der Sonne (vey on) . Der Peruaner sogar, welcher die

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Sonne anbetet, stößt vor zum Begriff eines den Lauf der Gestirne ord­ nenden Wesens . Die Sonne führt in der Inca- fast wie in der Sankritsprache den Namen Inti, während Gott (Vinay Huayna) "der ewig Jugendliche" heißt. Die Anordnung der Wörter ist in den Chaimassprachen so , wie man sie in allen Sprachen beider Kontinente antrifft, die eine gewisse Jugendlichkeit bewahrt haben. Das Objekt wird dem Verb vorgesetzt, das Verb steht vor dem persönlichen Fürwort. Der Gegenstand, worauf die Aufmerksamkeit zunächst gerichtet sein soll, geht allen Modifikationen desselben voran. Der Amerikaner würde sagen: "Freiheit vollkommene lieben wir" , anstatt zu sagen: "Wir lieben die vollkommne Freiheit" ; "Dir mit glücklich bin ich " , statt: "Ich bin glücklich mit dir" . E s ist etwas Gerades, Festes und Bündiges in diesen Wendungen , deren Naivität durch die Abwesenheit des Artikels noch vermehrt wird . Soll man annehmen, diese Völker wurden mit zuneh­ mender Zivilisation , sich selbst überlassen, nach und nach die Anordnung ihrer Redeweise ändern? Man fühlt sich zu dieser Vermutung geneigt, wenn man sich der Veränderungen erinnert, welche die Syntax der Römer in den genauen , klaren, aber etwas zurückhaltenden Sprachen des lateinischen Europa erlitten hat. Den Chaimas- wie den tamanakischen und den meisten amerikanischen Sprachen fehlen gewisse Buchstaben gänzlich, wie J, b und d. Kein Wort fängt mit einem L an . Die gleiche Bemerkung gilt von der mexicanischen Sprache , obgleich die Silben tU, tla und itl am Ende oder in der Mitte der Wörter darin in Menge vorkommen . Der Chaimas gebraucht statt des r das I eine Stellvertretung, die von einem unter allen Himmelsstrichen so allge­ meinen Fehler der Aussprache herrührt. So wurden die Cariben vom Ori­ noco im französischen Guayana durch Verwechslung des r mit dem I und durch mildere Aussprache des C zu Galibi . Aus dem spanischen Wort Sol­ dado schuf die Tamanakensprache choraro (solalo) . Das Verschwinden des J und b in so vielen amerikanischen Idiomen rührt von der innigen Verwandt­ schaft gewisser Laute her, die in allen Sprachen gleichartiger Herkunft ange­ troffen wird . Die Buchstaben J, v, b und p werden gegenwärtig als Stellver­ treter gebraucht, zum Beispiel: im Persischen peder, father, pater; burader, frater; behar, ver; im Griechischen phorton (forton) , Bürde ; pous , Jouss . Gleichmäßig bei den Amerikanern werden J und b zu p , und d wird t. Der Chaimas spricht patre , Tios, Atani, aracapucha , statt padre, Dios, Adan und arcabuz (Büchse) . Trotz der erwähnten Beziehungen denken wir dennoch nicht, daß die Chaimassprache als ein Dialekt der tamanakischen angesehen werden könne , wie es die drei Dialekte Maitano , Cuchivero und Crataima sind. Man trifft wesentliche Verschiedenheiten unter diesen an, und beide Sprachen scheinen mir höchstens verwandt wie die deutsche , die schwedische und die -

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englische Sprache . Sie gehören zur selben Unterabteilung einer großen Fa­ milie der Tamanaken- , Cariben- und Aruakensprachen. Weil kein absolutes Maß der Verwandtschaft zwischen den Idiomen vorhanden ist, kann man diese Verwandtschaftsgrade nur durch Beispiele bezeichnen, die aus be­ kannten Sprachen genommen sind. Wir sehen nämlich als zu einer Familie gehörend diejenigen an, welche sich einander nähern wie die griechische, die deutsche , die persische und die Sanskritsprache . Man hat beim Vergleich der Sprachen die Entdeckung zu machen ge­ glaubt, daß sie sich in zwei Klassen teilen, wovon die eine , in ihrer Organisa­ tion vollkommener, in ihren Bewegungen leichter und schneller, eine innere Bewegung durch Flexion anzeigt, während die andere gröber und der Aus­ bildung weniger fähig, nur eine rohe Masse kleiner Formen oder aggluti­ nierter Partikel ist , deren jedes die ihm beim einzelnen Gebrauch eigentüm­ liche Physiognomie beibehält. Diese höchst geistreiche Ansicht wäre un­ richtig, wenn man annehmen wollte, daß es vielsilbige Sprachen ohne alle Flexion gebe oder daß die sich organisch und wie aus inneren Keimen ent­ wickelnden keinen Zuwachs von außen auf dem Weg der Suffixa und der Affixa kannten, einen Zuwachs, den wir schon mehrmals als Agglutination oder Inkorporation geschehend bezeichnet haben. Vieles , das uns gegen­ wärtig als Flexion der Wurzel vorkommt, gehörte vielleicht ursprünglich unter die Affixa, von denen kaum ein oder zwei Konsonanten übriggeblie­ ben sind . Es verhält sich mit den Sprachen wie mit allem übrigen Organi­ schen in der Natur; nichts ist gänzlich isoliert oder unähnlich. Je tiefer man in ihre innere Struktur eindringt, desto mehr verlieren sich die Kontra­ ste und die scharfen Charakterzüge. "Sie gleichen" , möchte man sagen, "Wolken , deren Umrisse nur gut begrenzt erscheinen, wenn sie aus der Ferne gesehen werden . " Wenn wir aber kein einziges und absolutes Prinzip der Klassifikation der Sprachen zulassen, sind wir darum nicht weniger einverstanden, daß in ihrem gegenwärtigen Zustand die einen mehr Neigung zur Flexion und die anderen mehr zur äußerlichen Aggregation zeigen. Bekanntlich gehören zur ersten Abteilung die Sprachen indischer, pelasgischer und germanischer Ab­ stammung; zur zweiten die amerikanischen Idiome, die koptische oder alt­ ägyptische Sprache und bis zu einem gewissen Grad die semitischen und Basken-Sprache . Das wenige , das wir über die Sprache der Chaimas von Ca­ ripe mitzuteilen hatten, genügt zweifellos , um ihre stete Tendenz zur Inkor­ poration oder Aggregation gewisser Formen zu beweisen, die sich leicht wieder trennen lassen , obgleich ihnen vermöge eines ziemlich verfeinerten Gefühls für Wohllaut einige Buchstaben teils weggenommen, teils wieder hinzugefügt wurden . Diese Affixa geben durch Verlängerung der Wörter die mannigfaltigsten Zahlen- , Zeit- und Bewegungsverhältnisse an. Beim Nachdenken über die eigentümliche Struktur der amerikanischen

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Sprachen glaubt man die Quelle zu erraten, aus welcher die sehr alte und in den Missionen allgemein verbreitete Meinung hervorging, derzufolge diese Sprachen mit der hebräischen und baskischen Sprache Ähnlichkeit haben sollen. Überall, im Kloster von Caripe wie am Orinoco , in Peru wie in Me­ xico , hörte ich diese Meinung, namentlich von Ordensgeistlichen, die einige oberflächliche Kenntnis der semitischen Sprachen hatten. Waren es religiöse Motive , die eine so auffallende Meinung veranlaßten? In Nordamerika , unter den Chactas und Chicasas [Choctaws und Chickasaws] , haben ziem­ lich leichtgläubige Reisende das Halleluja der Hebräer singen gehört , wie , nach Angabe der Panditen, die drei heiligen Worte der eleusischen Myste­ rien (konx om pax) jetzt noch in Indien ertönen . Ich vermute nicht, daß die Völker des lateinischen Europa alles, was ein fremdes Aussehen besaß , he­ bräisch oder baskisch genannt haben sollten , wie man lange Zeit alles , was nicht griechischem oder römischem Stil entsprach, ägyptische Denkmäler nannte . Ich glaube eher, das grammatische System der amerikanischen Spra­ chen habe die Missionare des 16. Jahrhunderts in ihren Ideen vom asiati­ schen Ursprung der Völker der Neuen Welt bestärkt. Den Beweis hiervon liefert die langweilige Kompilation des Pater Garcia, > Tratado deI origen de los Indios< . Die Stellung der Possessiv- und Personalpronomen am Ende des Nomen und der Verben sowie die so vielfältigen Tempora dieser letzteren zeichnen das Hebräische und die übrigen semitischen Sprachen aus. Einigen Missionaren war es auffallend, als sie diese selben Nuancen in den amerika­ nischen Sprachen wahrnehmen . Sie wußten nicht , daß aus der Ähnlichkeit verschiedener zerstreuter Züge noch kein Beweis für gleichartige Abstam­ mung der Sprachen hervorgeht . Man wundert sich weniger, wenn Personen , die nur zwei ganz verschie­ denartige Sprachen , die kastilianische und baskische , genau kennen , in der letzteren eine den amerikanischen Sprachen verwandte Gestaltung wahr­ nahmen. Die Bildung der Wörter, die Leichtigkeit, womit die einzelnen Be­ standteile aufgefunden werden, die Formen des Zeitworts und die verschie­ denen Modifikationen nach der Natur des Objekts waren es, welche diese Täuschung veranlaßten und unterhalten konnten. Allein , wir wiederholen es: Eine gleichmäßige Neigung zur Anfügung oder Vereinigung begründet den gleichartigen Ursprung noch keineswegs . Nachstehendes sind einige Beispiele der physiognomischen Verwandtschaft zwischen den amerikani­ schen und der baskischen Sprache , zwischen Idiomen, die ganz verschie­ dene Wurzeln haben. In der Chaimassprache : quenpotupra quoguaz , ich kenne nicht, eigentlich nicht kennend ich bin . Im Tamanakischen : jarer-uac-ure , tragend bin ich, ich trage; anarepra aichi, er wird nicht tragen , eigentlich tragend nicht sein wird; patcurbe, gut ; patcutari, sich gut machen; tamanacu, ein Tamanake; tamana­ cutari, sich zum Tamanaken machen; pongheme, spanisch ; ponghemtari,

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spanisch werden ; tenectschi, ich werde sehen ; teneicre, ich werde wieder sehen; tecscha, ich gehe ; tecschare, ich kehre zurück; maypur-butke, ein kleiner Maipure-Indianer; aicabutke, eine kleine Frau; maypuritaje, ein gar­ stiger Maipure-Indianer; aicataje, eine garstige Frau . Im Baskischen : maitetutendot, ich liebe ihn, eigentlich ich liebend ihn habe ; beguia , das Auge, und beguitsa, sehen; aitagana , zum Vater; durch Zu­ satz von tu wird daraus das Wort aitaganatu, zum Vater gehen, gebildet ; ume­ tasuna, sanftes und kindlich offenes Benehmen; ume-queria , widriges, kin­ disches Betragen. Ich will diesen Beispielen einige zusammengesetzte beschreibende Wörter hinzufügen, die an die Kindheit der Völker erinnern und sich durch einen gewissen natürlich-einfachen Ausdruck in den amerikanischen und der baskischen Sprache gleichmäßig auszeichnen. Im Tamanakischen: die Wespe , uane-imu, Vater (im-de) des Honigs (uane) ; die Fußzehen, ptari-mu­ curu , eigentlich die Söhne der Füße ; die Finger der Hand, amgna-mucuru , die Söhne der Hand; die Schwämme (Pilze) , jeje-panari, eigentlich die Ohren (panari) des Baums (jeje) ; die Adern der Hand, amgna-mitti, eigent­ lich die verästelten Wurzeln; die Blätter, prutpe-jareri, eigentlich die Haare des Baumgipfels; puirene-veju, eigentlich gerade oder senkrecht stehende Sonne (veju) ; Blitzstrahl, kinemeru-uaptori, eigentlich das Feuer (uapto) des Donners oder des Gewitters. Im Baskischen: becoquia, die Stirne , was ange­ hört (co und quia) dem Auge (beguia) ; odotsa, das Getöse (otra) der Wolke (odeia) oder der Donner; arribicia, das Echo, eigentlich der belebte Stein , von arria, Stein, und bicia , das Leben . Die Chaimas- und Tamanaken-Zeitwörter haben außerordentlich kompli­ zierte Tempora, zwei für das Präsens, vier Präterita, drei für das Futur. Diese Mannigfaltigkeit ist ein bezeichnender Charakterzug auch der rohesten amerikanischen Sprachen . Astarloa zählt gleichfalls im System der baski­ schen Sprache 206 Formen des Zeitworts . Die Sprachen, die eine vorherr­ schende Neigung zur Flexion haben , erregen die Aufmerksamkeit der Menge in geringerem Grad als jene , welche durch Zusammenfügung ge­ bildet scheinen. Bei den ersteren erkennt man die Bestandteile nicht mehr, aus welchen die Wörter gebildet sind und die sich überhaupt auf wenige Buchstaben beschränken. Vereinzelt haben diese Bestandteile keinen Sinn ; alles ist assimiliert und ineinander verschmolzen. Die amerikanischen Spra­ chen hingegen gleichen zusammengesetzten Maschinen, deren Räderwerk zutage liegt. Man erkennt das Kunstwerk, ich möchte sagen, den kunst­ vollen Mechanismus ihrer Struktur. Man glaubt ihrer Bildung beizuwohnen ; man wäre versucht, sie für noch sehr jung zu halten, wenn man nicht daran dächte , daß der menschliche Geist unverrückt einer gegebenen Richtung folgt; daß die Völker das Gebäude ihrer Grammatik nach einem einmal be­ stimmten Plan erweitern, vervollkommnen oder wiederherstellen ; und daß

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es endlich Länder gibt, deren Sprachen, Einrichtungen und Künste seit einer langen Reihe von Jahrhunderten unverändert geblieben sind . Der höchste Grad geistiger Entwicklung hat sich bis jetzt bei den zum indi­ schen und pelasgischen Stamm gehörigen Nationen gefunden. Die vorzugs­ weise durch Aggregation gebildeten Sprachen scheinen der Kultur eigen­ tümliche Hindernisse entgegenzustellen ; sie ermangeln zum Teil der schnellen Bewegung und des inneren Lebens, die von der Flexion der Wur­ zeln begünstigt sind und die den Schöpfungen der Phantasie so viel Charme geben . Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen , daß ein im höchsten Al­ tertum berühmtes Volk, dem die Griechen selbst viel Aufklärung zu ver­ danken hatten, vielleicht eine Sprache besaß, deren Bildung unwillkürlich an die der amerikanischen Sprachen erinnert. Welch eine Menge von kleinen, ein oder zweisilbigen Wortformen werden dem Zeit- und Haupt­ wort in der koptischen Sprache beigefügt? Der Chaimas und der Tamanake , halbwilde Völker, besitzen abstrakte , ziemlich kurze Wörter, die Größe , Mißgunst und Leichtsinn ausdrücken, cheictivate, uoite und uonde; aber im koptischen ist das Wort Bosheit, metrepherpetou, aus fünf leicht unterscheid­ baren Bestandteilen zusammengesetzt . Es bedeutet die Eigenschaft (met) einer Person (reph) , welche tut (er) die Sache , welche ist (pet) böse (ou) . In­ dessen besaß das Koptische seine Literatur gleich der chinesischen Sprache, deren Wurzeln , weit entfernt aggregiert zu sein, einander ohne unmittelbare Berührung kaum nahestehen . Wir sehen offenbar, wie Völker, die einmal aus ihrer Lethargie erwacht sind und der Zivilisation entgegengehen , auch in den seltsamsten Sprachen das Geheimnis auffinden, geistige Begriffe klar auszudrücken und Gemütsbewegungen darzustellen . Ein achtenswerter Mann, welcher in den blutigen Revolutionen von Quito sein Leben endigte , Don Juan de la Rea, hatte mit natürlicher und edler Grazie einige Idyllen Theokrits in die Sprache der Incas übersetzt, und man versicherte mir, daß es wohl mit Ausnahme wissenschaftlicher und philosophischer Schriften kaum irgendein Werk der neuen Literatur gebe , das nicht ins Peruanische übertragen werden könnte. Die intimen Verbindungen, die sich seit der conquista zwischen den Einge­ borenen und den Spaniern herausbildeten, haben die Übertragung einer An­ zahl amerikanischer Wörter in die kastilianische Sprache veranlaßt. Einige dieser Wörter bezeichnen Dinge , die vor der Entdeckung Amerikas nicht un­ bekannt waren, und wir erinnern uns gegenwärtig kaum mehr ihres barbari­ schen Ursprungs [z. B . : Savanne , Kannibale] . Fast alle gehören der Sprache der Großen Antillen an, die vormals die haitische , Quizqueia- oder Itis­ sprache hieß . Ich will hier einzig der Wörter mais, tabac, canot, batate, ca­ zique, balsa, conuco usw. gedenken . Als die Spanier nach 1498 die Tierra Firme Amerikas zu besuchen begannen, hatten sie bereits schon die Wör­ ter zur Bezeichnung der dem Menschen nutzbarsten Pflanzen, die auf den

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Antillen und in den Küstenländern von Cumami und Paria gemeinsam vor­ kommen . Sie begnügten sich nicht, diese aus dem Haitischen entlehnten Wörter beizubehalten, sondern trugen auch dazu bei, sie in allen amerikani­ schen Landschaften in einer Zeit zu verbreiten, da die haitische Sprache be­ reits eine tote Sprache war, und unter Völkern , die vom Dasein der Antillen gar nichts wußten. Einigen Wörtern , die in den spanischen Kolonien alltäg­ lich gebraucht werden, schreibt man mit Unrecht haitischen Ursprung zu . Banana gehört dem Chaco , der Mbaja-Sprache, an; arepa (Manioc-Brot, von Jatropha Manihot) und guayuco (Schürze , perizoma) sind caribisch ; cu­ riara (ein sehr langes Kanu) ist tamanakisch; chinchorro (Hängematte) und tutuma (die Frucht der Crescentia cujete oder ein Gefäß zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten) sind Wörter aus der Chaimassprache . Ich verweilte lange bei diesen Betrachtungen über amerikanische Spra­ chen. Da ich mich zum ersten Mal in diesem Werk mit ihrer Analyse beschäf­ tige , schien es mir wichtig, den ganzen Wert solcher Untersuchungen empfinden zu lassen. Er ist dem analog, welchen die Denkmäler halbbar­ barischer Völker besitzen. Man beschäftigt sich mit ihrer Prüfung nicht des­ halb , weil sie an sich selbst eine Stelle unter den Werken der Kunst ver­ dienen , sondern weil ihr Studium auf die Geschichte des Menschen und die fortschreitende Entwicklung seiner Fähigkeiten einiges Licht werfen kann .

[Indianerstämme in den Provinzen von Cumand und Barcelona]

Nach den Chaimas bliebe mir nun , von den anderen indianischen Na­ tionen zu sprechen, die sich in den Provinzen von Cumana und Barcelona aufhalten . Ich begnüge mich , sie in gedrängter Kürze aufzuzählen . 1. Die Pariagotos oder Parias . Man glaubt, die Endungen in goto , wie in Pariagoto, Purugoto, Avarigoto , Acherigoto, Cumanagoto , Arinagoto , Kiri­ kirisgoto bezeichneten eine caribische Abstammung. Alle diese Völker­ schaften (mit Ausnahme der Purugotos von Rio Caura) bewohnten vormals die Landschaften , welche lange Zeit unter caribischer Herrschaft standen: nämlich die Küsten von Berbice und Essequibo , die Halbinsel Paria und die Ebenen von Piritu und Parime. Mit diesem Namen bezeichnet man in den Missionen den wenig bekannten Landstrich , welcher zwischen den Quellen des Cujuni, des Caroni und des Mao liegt. Die Paria-Indianer sind zum Teil mit den Chaimas von Cumana verschmolzen, andere wurden durch die ara­ gonischen Kapuziner in die Missionen von Caroni gezogen, zum Beispiel nach Cupapuy und Altagracia, wo sie ihre Sprache noch beibehielten, die zwischen der Tamanaken- und Caribensprache zu stehen scheint. Ist aber der Name Parias oder Pariagotos lediglich ein geographischer Name? Haben die Spanier, welche diese Küsten seit ihrer ersten Niederlassung auf der Insel

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Cubagua und in Macarapana besuchten, den Namen des Vorgebirges von Paria auf den Volksstamm seiner Bewohner übertragen? Wir wollen es nicht mit Sicherheit behaupten; denn die Cariben erteilten selbst den Namen Ca­ ribana einem Land, das von ihnen bewohnt wurde und das sich vom Rio Sinu bis zum Meerbusen von Darien erstreckte . Es ist dies ein auffallendes Bei­ spiel der übereinstimmenden Namen eines amerikanischen Volkes und des von ihm bewohnten Gebiets. Man begreift, wie in einem Zustand der Völ­ kergesellschaften, wo die Wohnsitze noch unstet waren, diese Beispiele sehr selten vorkommen mußten. 2. Die Guaraunos oder Gu-ara-unu , fast alle frei und unabhängig, leben zerstreut im Delta des Orinoco , dessen mannigfach verästelte Kanäle ihnen allein genau bekannt sind. Die Cariben nennen die Guaraunos U-ara-u. Ihre Unabhängigkeit verdanken sie der Natur ihres Landes ; denn die Missionare fühlten trotz ihres Eifers keine Lust , ihnen auf die Gipfel der Bäume zu folgen. Es ist bekannt, daß die Guaraunos, damit ihre Wohnungen zur Zeit der großen Überschwemmungen von der Wasserfläche nicht erreicht werden, auf abgehauene Stämme des Mangobaums und der Mauritiapalme bauen. Aus dem Mark dieses Palmbaums, der die echte amerikanische Sago­ palme ist, bereiten sie Mehl und Brot . Das Mehl wird yuruma genannt. Ich aß davon in der Stadt San Tomas in Guayana; sein Geschmack kam mir ange­ nehm und dem Maniocbrot ähnlicher als dem indischen Sago vor. Von den Indianern wurde mir versichert , die Stämme der Mauritia (der vom Pater Gumilla so gerühmte Lebensbaum) gäben nur dann rekhlich Mehl , wenn man den Palmbaum umhaut, ehe er seine Blüten entwickelt. So liefert die in Neu-Spanien angebaute Maguey [Agave americana, unsere Gartenaloe] einen Zuckersaft, den Wein (pulque) der Mexicaner, erst wenn die Pflanze ihren Blütenstengel treibt . Indem man die Entwicklung der Blüte unter­ bricht, erzwingt man eine andere Richtung des Zucker- oder Stärkestoffs, welcher sich in den Blüten der Maguey und in den Früchten der Mauritia sammeln sollte. Einige Familien von Guaraunos leben in Gemeinschaft mit den Chaimas und wohnen von ihrem Geburtsland entfernt in den Missionen der Ebenen oder Llanos von Cumana, zum Beispiel in Santa Rosa de Ocopi. 500 bis 600 verließen freiwillig ihr Sumpfland und legten vor wenigen Jahren am nördlichen und südlichen Ufer des Orinoco, 25 lieues vom Vorgebirge Parima entfernt, zwei nicht unbeträchtliche Dörfer an, die Zacupana und Imataca heißen. Zur Zeit meiner Reise nach Caripe befanden sich diese In­ dianer noch ohne Missionare und lebten in völliger Unabhängigkeit. Ihre trefflichen Eigenschaften als Seeleute , ihre Anzahl und ihre vertraute Kenntnis der Mündungen des Orinoco und des Labyrinthes seiner mannig­ faltig verschlungenen Arme geben den Guaraunos eine gewisse politische Bedeutung. Sie begünstigen den Schleichhandel , dessen Mittelpunkt die Insel Trinidad ist; sie würden wahrscheinlich auch jeden kriegerischen An-

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griff erleichtern, der vom Orinoco her gegen das spanische Guyana gerichtet wäre . Die Statthalter von Cumana haben seit geraumer Zeit, aber immer ver­ geblich das spanische Ministerium auf diese indianische Völkerschaft auf­ merksam zu machen versucht. Weil die Guaraunos mit ausnehmender Ge­ wandtheit über ein schlammiges Erdreich hinlaufen , auf dem weder Weiße noch Neger oder andere Indianer-Stämme gehen können, glaubt man ge­ wöhnlich, sie hätten einen leichteren Körper als die übrigen Eingeborenen. Dasselbe behauptet man auch in Asien von den Burjäten-Tataren. Die weni­ gen Guaraunos, die ich gesehen habe , waren von mittlerer Größe , untersetzt und von kräftigem Muskelbau. Die Leichtigkeit, mit der sie über halbausge­ trockneten Boden wandern, ohne einzusinken, obwohl sie keine Bretter unter die Füße gebunden haben, schien mir eine Folge der Angewöhnung zu sein. Obgleich ich eine lange Fahrt auf dem Orinoco unternommen habe, bin ich doch nicht bis zu seiner Mündung gekommen ; Reisende , welche später dieses Sumpfland besuchen , werden meine Vermutungen berichtigen. 3 . Die Guaiqueries oder Guaikeri . Es sind die geübtesten und uner­ schrockensten Fischer dieser Gegenden; sie allein kennen die so überaus fischreiche Sandbank genau, die über 400 Quadratlieues beträgt, die Inseln Coche , Marguarita, Sola und Testigos umgibt und sich von Osten nach Westen, von Manicuare bis zu den Drachenmündungen hin ausdehnt. Die Guaikeri bewohnen die Insel Margarita , die Halbinsel Araya und die Vor­ stadt von Cumana, welche ihren Namen trägt. Wir haben früher schon be­ merkt, daß sie ihre Sprache für einen Dialekt der Guaraunosprache halten. Hierdurch würden sie sich der großen Familie der Cariben-Völker nähern. Denn der Missionar Gili hält die Mundart der Guaikeri für eine der vielen Verästelungen der Caribensprache . Diese Verhältnisse besitzen ein eigen­ tümliches Interesse, weil sie auf frühere Verbindungen zwischen Völkern hindeuten, die über ausgedehnte Landschaften zerstreut sind, von der Mün­ dung des Rio Caura und den Quellen des Erevato in Parima bis zum franzö­ sischen Guyana und den Küsten von Paria. 4. Die Quaquas , die von den Tamanaken Mapoje genannt werden , ein ehemals sehr kriegerisches und mit den Cariben verbündetes Volk. Es ist eine seltsame Erscheinung, sie in den Missionen von Cumana mit den Chaimas vermischt anzutreffen, denn ihr Idiom ist , mit dem Ature der Kata­ rakten des Orinoco , ein Dialekt der Salivensprache , und ihr ursprünglicher Wohnsitz befindet sich an den Gestaden des Assiveru, den die Spanier Cu­ chivero nennen. Sie haben ihre Wanderungen hundert lieues in nordöstlicher Richtung ausgedehnt. Ich hörte ihren Namen öfters am Orinoco , oberhalb der Mündung des Meta, nennen; und, was bemerkenswert ist, man versi­ chert, Jesuitenmissionare hätten bis zu den Cordilleren von Popayan hin Quaquas angetroffen . Raleigh führt unter den Bewohnern der Insel Tri­ nidad die Saliven auf, ein Volk von milden Sitten , das am Orinoco südlicher

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Nachbar der Quaquas ist . Vielleicht sind diese zwei Stämme , die fast ein und dieselbe Sprache haben , vereint nach den Küsten gewandert. 5 . Die Cumanagotos (oder, der indianischen Aussprache nach, Cumana­ coto) wohnen gegenwärtig westlich von Cumami, in den Missionen von Pi­ ritu, wo sie Landbau treiben und über 26 000 Seelen stark sind. Ihre Sprache steht wie die der Palencas oder Palenquen und Guariven zwischen der Tama­ naken- und Caribensprache , doch nähert sie sich mehr der ersteren. Es sind noch Idiome , die derselben Familie angehören; um sie jedoch als bloße Dia­ lekte anzusehen, müßte man auch das Latein einen Dialekt des Griechi­ schen und das Schwedische einen Dialekt des Deutschen nennen. Wenn von Verwandtschaft der Sprachen untereinander die Rede ist, so darf man nicht vergessen, daß diese in sehr ungleichem Grad vorhanden sein kann und daß ohne gehörige Unterscheidung bloßer Dialekte von Sprachen, die der glei­ chen Familie angehören , eine allgemeine Verwirrung entstehen würde. Die Cumanagotos, die Tamanaken, die Chaimas , die Guaraunos und die Ca­ riben verstehen einander nicht , trotz der häufigen Ähnlichkeiten in Voka­ bular und grammatischer Struktur, welche ihre Mundarten darbieten. Die Cumanagotos bewohnten zu Anfang des 16 . Jahrhunderts die Berge von Bergantin und Parabolata. Der Pater Ruiz-Blanco , früher Professor in Se­ villa und nachher Missionar in der Provinz Nueva Barcelona, hat 1683 eine Grammatik der Cumanagotosprache und einige in ihr geschriebene theolo­ gische Werke publiziert. Ich konnte nicht ermitteln, ob die indianischen Pi­ ritus, Cocheimas, Tomuzas, Topocuaren, die jetzt mit den Cumanagotos ver­ mischt die gleichen Dörfer bewohnen und einerlei Sprache reden, ursprüng­ lich Stämme desselben Volkes waren. Die Piritus, wie wir anderswo bemerkt haben, erhielten ihren Namen von der Bergschlucht Pirichucuar, worin die kleine stachlige Palme Piritu in Menge wächst, deren ausnehmend hartes und darum schwer brennbares Holz zur Verfertigung von Pfeilen dient. Ebendort wurde auch 1556 das Dorf de la Concepci6n de Piritu gegründet, welches der Hauptort der Cumanagotos-Missionen ist, die unter dem Namen Misiones de Piritu bekannt sind . 6. Die Cariben (Caribes) . Diesen Namen gaben ihnen die ersten See­ fahrer, und er hat sich im spanischen Amerika überall erhalten; die Fran­ zosen und die Deutschen haben ihn , ich weiß nicht warum, in Caraiben ver­ wandelt; sie selbst nennen sich Carina , Calina und Callinago . Ich habe auf der Rückkehr von meiner Reise an den Drinoco einige Caribenmissionen der Llanos besucht, und ich will mich hier beschränken, daran zu erinnern , daß die Galibis (Caribi von Cayenne) , die Tuapocas und die Cunaguaras, die ursprünglich in den Ebenen zwischen den Bergen von Caripe (Caribe) und dem Dorf Maturin wohnten, die Jaoi der Insel Trinidad und der Provinz Cu­ mana und vielleicht auch die mit den Palenquen verbündeten Guariben­ stämme der großen und schönen Cariben-Nation sind.

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Was die übrigen Nationen betrifft, deren Sprachbezeichnungen mit den Tamanaken und Cariben wir angedeutet haben, scheint es nicht unbedingt notwendig, sie als zum gleichen Völkerstamm gehörend zu betrachten . In Asien sind die Völker mongolischer Herkunft vermöge ihrer physischen Or­ ganisation von denen tatarischer Abstammung gänzlich verschieden . Inzwi­ schen leben diese Völker untereinander so vermischt, daß den rühmlichen Forschungen des Herrn von Klaproth zufolge tatarische Sprachen (Zweige des alten Oigour) gegenwärtig bei Horden von unzweifelhaft mongolischer Herkunft angetroffen werden. Zur Lösung der großen Aufgabe der Abstam­ mung der Völker können weder die Analogie noch die Verschiedenheit der Sprachen genügen. Sie können nur Wahrscheinlichkeiten an die Hand geben. Die eigentlich so genannten Cariben, welche die Cari-Missionen in den Llanos von Cumana, die Ufer des Caura und die nordöstlich von den Quellen des Orinoco gelegenen Ebenen bewohnen, unterscheiden sich durch ihren fast riesenhaften Wuchs von allen übrigen Nationen , die ich in Amerika zu sehen Gelegenheit hatte . Soll man darum annehmen, diese Ca­ riben seien ein ganz abgesonderter Stamm, mit dem die Guaraunos und die Tamanaken, deren Sprachen sich der caribischen nähern, keineswegs ver­ wandt sind? Ich glaube es nicht. Unter Völkern derselben Familie kann ein einzelner Stamm eine außerordentliche Entwicklung der Organisation er­ halten. Die Bergbewohner in Tirol und Salzburg haben einen höheren Wuchs als die übrigen germanischen Völkerstämme ; die Samojeden vom Altai sind nicht so klein und untersetzt wie die Küstenbewohner. Ebenso dürfte es schwer sein , die Galibis nicht als echte Cariben anerkennen zu wollen ; und doch: Wie auffallend ist nicht trotz der Übereinstimmung der Sprachen der Unterschied in der Größe des Wuchses und in der physischen Constitution ! Indem ich die Elemente indizierte, aus denen sich gegenwärtig die einge­ borene Bevölkerung der Provinzen Cumana und Barcelona zusammensetzt, wollte ich nicht historische Erinnerungen mit der einfachen Aufzählung der Tatsachen vermengen. Ehe noch Cortes seine Schiffe verbrannte , nachdem er an der mexicanischen Küste gelandet war, bevor er seinen Einzug in Moc­ tezumas Hauptstadt hielt, bereits 1521, war die Aufmerksamkeit Europas auf die von uns beschriebenen Gegenden gerichtet. Indem man die Sitten der Bewohner von Paria und von Cumana beschrieb , glaubt man die Sitten aller Eingeborenen des Neuen Kontinents zu schildern. Diese Bemerkung kann denen nicht entgehen, welche die Historiker der conquista , besonders die Briefe Petrus Martyrs von Anghiera, die , am Hof Ferdinands des Katho­ lischen geschrieben, eine Menge präziser Bemerkungen über Christoph Co­ lumbus , Leo X. und Luther enthalten und aus einem edlen Enthusiasmus für die großen Entdeckungen eines an außerordentlichen Ereignissen so rei­ chen Jahrhunderts hervorgingen . Ohne hier auf Einzelheiten der Sitten der

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Völker einzugehen, welche lange Zeit unter dem schwankenden Namen der Cumanier (Cumaneses) vermengt wurden , scheint es mir wichtig, eine Tat­ sache aufzuklären, die ich im spanischen Amerika öfters erörtern hörte . Die Pariagoten sind heutzutage rotbraun wie die Cariben, die Chaimas und fast alle amerikanischen Naturvölker. Wie kommt es , daß von den Histo­ rikern des 16. Jahrhunderts versichert wird, die ersten Seefahrer hätten weiße Menschen mit blonden Haaren auf dem Vorgebirge von Paria ge­ sehen? Waren dies solche Indianer von hellbrauner Hautfarbe, wie Herr Bonpland und ich sie in Esmeralda, nahe den Quellen des Orinoco , sahen? Allein diese Indianer hatten ebenso schwarze Haare wie die Otomaken und andere Stämme von dunklerer Hautfarbe. Waren es Albinos , wie man sie vormals auf der Landenge von Panama antraf? Allein es kommen Beispiele dieser Degeneration nur sehr selten unter den kupferfarbenen Menschen vor, und Anghiera sowohl wie G6mara sprechen von den Einwohnern von Paria im allgemeinen und nicht von einigen Individuen. Beide beschreiben sie , als wären es Völker von germanischer Abstammung. Sie geben ihnen eine weiße Haut und blonde Haare . Sie setzen sogar hinzu , sie kleideten sich wie die Türken. G6mara und Anghiera schrieben nach mündlichen , von ihnen gesammelten Erzählungen. Jedoch verschwinden diese Wunderdinge bei näherer Prüfung des Be­ richts, den Ferdinand Columbus aus den Papieren seines Vaters gezogen hat. Da liest man ganz einfach, der Admiral sei verwundert gewesen, die Be­ wohner von Paria sowohl als von der Insel Trinidad besser gewachsen , kulti­ vierter (de buena conversaci6n) und weißer zu finden als die Landeseingebo­ renen, welche er bisher gesehen hatte . Damit ist in der Tat aber nicht gesagt, daß die Pariagotos weiße Menschen seien. Die weniger dunkle Hautfarbe der Eingeborenen und die kühlere Morgenluft an der Küste von Paria schienen die seltsame Hypothese zu bekräftigen , die sich dieser große Mann von der unregelmäßigen Krümmung der Erde und von der Höhe des flachen Landes dieser Gegend als Wirkung einer außerordentlichen Ausbauchung des Erdalls in der Richtung der Parallelkreise gemacht hatte . Amerigo Ves­ pucci (wenn seine angeblich erste Reise , die vielleicht nach den Erzählungen anderer Seefahrer verfaßt wurde , angeführt werden darf) vergleicht die Ein­ geborenen mit den tatarischen Völkern nicht um der Hautfarbe , aber um des breiten Antlitzes und des physiognomischen Ausdrucks willen. Wenn aber unbezweifelt am Ende des 15 . Jahrhunderts im Küstenland von Cumana weiße Menschen ebensowenig vorkamen wie heutzutage , so darf man daraus nicht schließen , daß die Amerikaner überall eine gleichmäßige Organisation des Hautsystems darboten. Es ist ebenso unrichtig, wenn man sagt, sie seien alle kupferrot, wie wenn man behauptete, ihre Haut wäre nicht dunkel gefärbt , wenn sie der unmittelbaren Berührung der Luft nicht ausgesetzt und von der Sonne nicht verbrannt würde. Die Eingeborenen

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lassen sich in zwei an Zahl sehr ungleiche Gruppen scheiden: Zur ersten ge­ hören die Eskimo von Grönland, Labrador und der Nordküste der Hud­ sonbai , die Bewohner der Beringstraße , der Halbinsel Alaska und der Prinz­ William-Bucht. Der östliche und westliche Zweig dieses Polarstammes, die Eskimo und die Tchugassen, sind trotz der großen Entfernung von 800 lieues , die sie trennt, durch engste Verwandtschaft der Sprachen miteinander verbunden . Diese Verwandtschaft dehnt sich sogar, wie neuerlich unzweifel­ haft gezeigt wurde , auf die Bewohner des nordöstlichen Teils von Asien aus; denn die Sprache der Tchuktschen an der Mündung des Anadyr hat gleiche Wurzeln mit der Sprache der Eskimo , welche die Europa gegenüberste­ hende Küste von Amerika bewohnen. Die Tchuktschen sind die asiatischen Eskimo. Gleich den Malaien bewohnt auch dieser hyperboreische Völker­ stamm nur das Küstenland. Er besteht aus Ichtyophagen [Fischessern] , die fast alle kleiner sind als die übrigen Amerikaner und dabei lebhaft, reizbar und geschwätzig. Sie haben ungekräuselte , glatte und schwarze Haare ; ihre Haut aber (und das ist für diesen Stamm, welchen ich den Eskimo-Tchuga­ tschen-Stamm nennen will , sehr charakteristisch) ist ursprünglich von weiß­ licher Farbe . Die grönländischen Kinder kommen allerdings weiß zur Welt; einige behalten diese weiße Farbe, und auch bei den am meisten braun ge­ wordenen (von der Sonne verbrannten) kann man noch die rote Farbe des Blutes an den Wangen unterscheiden . Die zweite Hälfte der eingeborenen Amerikaner umfaßt alle Völker, die nicht zu den Eskimo-Tchugassen gehören, vom Cookfiuß an bis zur Magella­ nischen Meerenge , von den Ugalachmüten und den Rinais des Sankt-Elias­ Berges [Mount Elias] bis zu den Puelchen und Tehuelchen der südlichen Halbkugel . Die Menschen dieser zweiten Abteilung sind von höherem und stärkerem Körperbau, kriegerischer, verschlossener und weniger gesprä­ chig. Auch sie zeigen merkwürdige Verschiedenheiten hinsichtlich der Haut­ farbe . In Mexico und Peru , in Neu-Granada, in Quito , an den Ufern des Ori­ noco und des Amazonenfiusses , im ganzen von mir besuchten Teil Südame­ rikas , in den Ebenen wie auf den kalten Plateaus , überall zeigen die zwei bis drei Monate alten indianischen Kinder denselben Bronzeteint wie die Er­ wachsenen . Die Meinung, daß die Eingeborenen durch Luft und Sonne ge­ bräunte Weiße sein könnten, hat gewiß kein in Quito oder an den Ufern des Orinoco wohnender Spanier empfunden . Umgekehrt trifft man im nordöst­ lichen Teil Amerikas Stämme an , deren Kinder weiß sind und die erst zur Zeit ihrer Mannbarkeit die Bronzefarbe der Eingeborenen Perus und Me­ xicos annehmen. Das Oberhaupt der Miamis, Michikinakoua, war an den Armen und den der Sonne nicht ausgesetzten Teilen des Körpers fast weiß . Dieser Unterschied der Färbung zwischen den bedeckten und unbedeckten Teilen wird bei den Eingeborenen von Peru und Mexico nie wahrge­ nommen, selbst bei solchen Familien nicht, die in großem Wohlstand leben

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und ihre Wohnungen fast gar nicht verlassen . Westwärts von den Miamis, auf der Asien gegenüberstehenden Küste , bei den Kolouchen und Tchinkitanen der Norfolkbai, zeigen die erwachsenen Mädchen , wenn sie angehalten werden sich zu waschen , die weiße Hautfarbe der Europäer. Eben diese weiße Farbe wird einigen Nachrichten zufolge auch unter den Bergvölkern von Chile angetroffen. Es sind dies bemerkenswerte Tatsachen , die mit der allgemein verbrei­ teten Meinung von der völlig übereinstimmenden Organisation der einge­ borenen Amerikaner im Widerspruch stehen. Wenn wir diese in Eskimo und Nicht-Eskimo teilen , so geben wir gerne zu, daß eine solche Einteilung nicht philosophischer ist als die der Alten, welche in der bewohnten Welt nur Kelten und Scythen, nur Griechen und Barbaren unterschieden haben . Wo es indes darum geht, eine fast zahllose Menge Völkerschaften zu grup­ pieren, da kann man durch Ausschließen schon viel gewinnen. Wir wollten hier dartun, daß nach Abtrennung des ganzen Stammes der Eskimo-Tchu­ gassen noch unter den kupferbraunen Amerikanern andere Stämme übrig­ bleiben, deren Kinder weiß zur Welt kommen , ohne daß (wenn man auch bis zur Geschichte der Eroberung zurückgehen will) gezeigt werden könnte , daß sie sich mit den Europäern vermischt haben. Diese Tatsache verdient von Reisenden beleuchtet zu werden , die , mit physiologischen Kenntnissen ausgerüstet , Gelegenheit erhalten , die braunen Kinder der Mexicaner und die weißen Kinder der Miamis im Alter von zwei Jahren zu beobachten und jene Horden am Orinoco , die im heißesten Erdstrich ihr ganzes Leben durch und im Vollbesitz ihrer Kraft die weißliche Hautfarbe der Metis beibehalten. Die schwache Verbindung, die bis dahin zwischen Nordamerika und den spanischen Kolonien stattfand, hat alle Unter­ suchungen dieser Art verhindert . Die Abweichungen vom gemeinsamen Typus der Gesamtrasse nehmen beim Menschen ihre Richtung mehr auf Größe , Gesichtsausdruck und Kör­ pergestalt als auf die Farbe . Bei den Tieren verhält es sich anders, wo die Spielarten häufiger in der Farbe als in Gestalt und Bildung angetroffen werden. Die Haare der Säugetiere , die Federn der Vögel und selbst die Schuppen der Fische verändern ihre Farbe je nach dem verlängerten Einfluß des Lichts oder der Finsternis, je nach dem Grad der Wärme oder der Kälte . Beim Menschen scheint sich der Färbungsstoff durch die Wurzel oder Zwiebel der Haare ins Hautsystem abzusetzen , und die sorgfältigsten Beob­ achtungen beweisen, daß die Hautfarbe sich durch Einwirkung äußerer Reize bei den einzelnen Menschen , nicht aber erblich im ganzen Stamm än­ dert. Die Eskimo in Grönland und die Lappländer werden durch Einwir­ kung der Luft dunkel gefärbt; ihre Kinder aber kommen weiß zur Welt . Über solche Veränderungen, welche die Natur in einem über alle geschichtlichen Überlieferungen hinausgehenden Zeitraum hervorbringen kann , wollen wir

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nicht entscheiden. Das Raisonnement muß bei solchem Thema innehalten, wenn es nicht mehr von Erfahrung und Analogie geleitet wird. Die Völker mit weißer Haut fangen ihre Kosmogonie mit weißen Men­ schen an; sie glauben, die dunkel gefärbten Völker seien durch den hohen Grad der Sonnenhitze schwarz oder braun geworden . Diese von den Grie­ chen, wenn auch nicht ohne Widerspruch, angenommene Theorie hat sich bis auf unsere Zeit erhalten . Buffon wiederholte in Prosa, was 2000 Jahre vor ihm Theodectes in Versen gesagt hatte , die Völker trügen die Livree der von ihnen bewohnten Erdgegenden . Hätten schwarze Völker die Geschichte geschrieben, so würden sie behauptet haben, was neuerlich sogar von Euro­ päern angenommen worden ist, die Farbe des Menschen sei ursprünglich schwarz oder dunkelbraun gewesen, und einige seiner Rassen seien infolge der Zivilisation und einer fortschreitenden Schwächung weiß geworden , wie wir auch bei den Tieren sehen, daß sie als Haustiere von dunkleren zu helleren Farben übergehen . Unter Pflanzen und Tieren sind zufällige , vor unseren Augen entstandene Spielarten stabil geworden und haben sich unverändert fortgepflanzt; im gegenwärtigen Zustand der menschlichen Organisation sind hingegen keine Tatsachen vorhanden, die beweisen könnten , daß die verschiedenen Rassen der schwarzen , gelben, kupferfarbigen und weißen Menschen , wenn sie unvermischt bleiben, von ihrem ursprünglichen Typus durch Einwirkung von Klima, Nahrung und anderen äußeren Dingen wesent­ lich abweichen. Ich werde Gelegenheit haben, an diese allgemeinen Betrachtungen wieder zu erinnern , wenn wir die weiten Plateaus der Cordilleren erstiegen haben, deren Erhöhung vier- bis fünfmal jene des Tals von Caripe übertrifft. Hier will ich mich einzig auf Ulloas Zeugnis berufen. Dieser Gelehrte beob­ achtete sowohl die Indianer in Chile , auf den peruanischen Anden und an den heißen Küsten von Panama wie auch die von Louisiana im gemäßigten nördlichen Erdstrich . Er genoß den Vorteil, in Zeiten zu leben , wo Theorien noch rarer waren, und es ist ihm wie mir aufgefallen , daß der Eingeborene unter dem Äquator die braune und dunkle Farbe hat, auf den kalten Höhen der Cordilleren ebenso wie in den Talgründen. Kommen Verschiedenheiten der Farbe vor, so rühren sie vom Stamm her. Wir werden bald am heißen Ufer des Orinoco Indianer mit weißlicher Haut antreffen: est durans originis vis . [Am Schluß des Kapitels IX folgen Anmerkungen zum Dritten Buch. An­ merkung A: Aufstellung der Grammatiken amerikanischer Sprachen , die Humboldt nach Europa mitbrachte ; Anmerkung B : Vokabular der Chaimas-Sprache in den Missionen von Caripe; Anmerkung C: Zu Beob­ achtungen des Polarsterns während Columbus' dritter Reise. - RH, I , S . 504-507; P. U . u . a . , S . 256-263 i m zweiten Teil. ]

Viertes Buch Kapitel X

Zweiter Aufenthalt in Cumanti - Erdbeben ­ Außerordentliche Meteorfälle

Wir verweilten noch einen Monat in Cumana. Unsere bevorstehende Fahrt auf dem Orinoco und Rio Negro machte Vorbereitungen aller Art er­ forderlich. Die in engen Kanus am leichtesten zu transportierenden Instru­ mente mußten ausgewählt und die nötigen Geldsummen für eine zehnmona­ tige Reise in das Innere des Landes, das mit dem Küstenland in keiner Ver­ bindung steht, bereitgestellt werden. Weil die astronomischen Ortsbestim­ mungen das bedeutendste Ziel dieser Unternehmung bildeten, mußte es mir sehr wichtig sein, die Beobachtung einer Sonnenfinsternis, die Ende Ok­ tober sichtbar sein sollte , nicht zu verfehlen. Ich zog es vor, diesen Zeitpunkt in Cumana abzuwarten, wo der Himmel meist schön und heiter ist. Um die Gestade des Orinoco zu erreichen, war die Zeit zu kurz , und das hohe Tal von Caracas gewährte weniger günstige Chancen wegen der Dünste , welche sich um die in der Nähe befindlichen Berge sammeln. Wenn ich die Länge von Cumana genau kannte , hatte ich einen festen Punkt für die chronometri­ schen Bestimmungen als den einzigen , auf die ich rechnen konnte , wenn ich nicht lange genug verweilte , um Monddistanzen zu nehmen oder um die Ju­ piter-Trabanten zu beobachten. Fast hätte ein unglücklicher Zufall mich die Reise nach dem Orinoco auf­ zugeben oder wenigstens auf lange Zeit zu verschieben gezwungen. Am 27. Oktober [1799] , dem Vorabend der Sonnellfinsternis, spazierten wir wie ge­ wohnt am Ufer des Golfs , um frische Luft zu schöpfen und den Augenblick des Beginns der Flut zu beobachten, deren Erhöhung an diesen Gestaden nicht über 12 bis 13 Zoll beträgt. Es war acht Uhr abends, und der Seewind ließ sich noch nicht spüren. Der Himmel war bedeckt und die Hitze bei ganz stiller Luft ausnehmend groß . Wir gingen längs der Küste, welche die Vor­ stadt der Guaikeri-Indianer vom Landungsplatz trennt. Ich hörte jemand hinter uns gehen, und als ich mich umsah, erblickte ich einen Mann von hoher Gestalt, von der Farbe der Zambos und nackt bis an den Gürtel. Bei­ nahe hatte er schon über meinem Haupt einen macana geschwungen, wel­ ches ein dicker, am Vorderteil keulenförmig bauchiger Stock aus Palmbaum­ holz ist. Ich wich dem Schlag aus, indem ich auf die linke Seite sprang. Herr

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Bonpland, der mir zur Rechten ging, war weniger glücklich . Er hatte den Zambo später als ich wahrgenommen, der ihm alsbald einen Schlag auf die Schläfe versetzte , von dem er zu Boden fiel . Wir waren allein , unbewaffnet, eine halbe lieue von allen Wohnungen entfernt, auf einer ausgedehnten, vom Meer begrenzten Ebene . Der Zambo entfernte sich langsam, statt mich nochmals anzugreifen, um den Hut des Herrn Bonpland aufzuheben, der dem Schlag einen Teil seiner Wucht genommen hatte und in einiger Entfer­ nung zur Erde gefallen war. Bestürzt über das Zubodensinken meines Reise­ gefährten, der einige Augenblicke bewußtlos lag, war ich nur mit ihm be­ schäftigt. Ich half ihm sich aufrichten . Schmerz und beleidigtes Gefühl hoben seine Kräfte . Wir gingen auf den Zambo los , welcher, sei es aus einer bei seiner Schicht gewöhnlichen Feigheit oder weil er in der Entfernung et­ liche Männer am Strand erblickte , uns nicht erwartete , sondern dem tunal, einem aus Opuntien und der baumartigen Avicennia bestehenden Hain, zu­ eilte . Im Laufen fiel er zufällig , und Herr Bonpland, der ihn zuerst erreichte und mit ihm rang , setzte sich der offenbarsten Gefahr aus. Der Zambo zog aus seinen Beinkleidern ein großes Messer hervor; und wir würden in dem ungleichen Kampf unzweifelhaft verwundet worden sein , wären uns nicht Kaufleute von der Biscaya, die am Ufer spazierten, zu Hilfe gekommen . Als sich der Zambo umringt sah , verteidigte er sich nicht weiter; er riß nochmals aus , und nachdem wir ihn eine lange Strecke über stachlige Kakteen verfolgt hatten , warf er sich von Müdigkeit , wie es schien , überwältigt in einen Kuh­ stall und ließ sich dann willig ins Gefängnis führen . Herr Bonpland hatte die Nacht durch Fieber; aber sein Mut, sein aufge­ weckter Charakter und jene Munterkeit, die für Reisende eines der schön­ sten Naturgeschenke ist , setzten ihn in den Stand, seine Arbeiten schon am folgenden Tag wieder fortzusetzen . Der Schlag der macana hatte ihn bis an den Wirbel getroffen, und er fühlte davon während unseres Aufenthalts in Caracas zwei bis drei Monate lang Nachwehen . Wenn er sich beim Pflanzen­ sammeln bückte , spürte er öfters einen Schwindel , der uns fürchten ließ , es könne sich ein inneres Geschwür gebildet haben: Glücklicherweise waren unsere Besorgnisse unbegründet, und die anfangs beunruhigenden Sym­ ptome verschwanden nach und nach . Die Einwohner von Cumana gaben uns rührende Zeichen ihrer Teilnahme . Der Zambo war, wie wir ver­ nahmen, aus einem der indianischen Dörfer gebürtig, die um den großen See von Maracaibo her liegen . Er hatte auf einem Korsarenschiff der Insel Santo Domingo gedient und war infolge eines Streits mit dem Kapitän bei Abfahrt des Fahrzeugs an der Küste von Cumana zurückgelassen worden . Er hatte das Signal gesehen , das wir für die Beobachtung der Höhe der Ge­ zeiten errichten ließen, und den Augenblick abgepaßt, wo er uns am Ufer überfallen könnte . Wie kam es aber, daß er sich , nachdem einer von uns zu Boden geworfen war, mit dem Raub eines Huts zu begnügen schien? In

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einem Verhör, das mit ihm angestellt wurde , gab er so konfuse und be­ schränkte Antworten, daß man unmöglich ins reine kommen konnte ; meist jedoch versicherte er, seine Absicht sei nicht gewesen, uns zu berauben , son­ dern gereizt durch die auf dem Korsarenschiff von Santo Domingo erlittene Mißhandlung habe er dem Verlangen, uns ein Leid anzutun, nicht wider­ stehen können, sobald er uns Französisch sprechen hörte . Da hierzulande die Rechtspflege dermaßen langsam ist , daß die Gefangenen , von denen alle Kerker angefüllt sind , sieben bis acht Jahre auf ein Urteil warten müssen , war es uns keineswegs unangenehm zu hören, daß der Zambo wenige Tage nach unserer Abreise von Cumana Gelegenheit fand, aus dem San-Antonio­ Schloß zu flüchten. Trotz des Herrn Bonpland widerfahrenen Mißgeschicks befand ich mich am folgenden Tag (28 . Oktober) um fünf Uhr morgens auf der Terrasse des Hauses, um mich zur Beobachtung der Sonnenfinsternis zu rüsten. Der Himmel war schön und heiter. Der Halbmond der Venus und das durch die Annäherung seiner ungeheuren Nebelgestirne so glänzende Schiff ver­ schwanden in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Ich durfte mich eines so schönen Tages um so mehr freuen , als die sich seit etlichen Wochen regel­ mäßig zwei bis drei Stunden nach dem Durchgang der Sonne durch den Me­ ridian am südlichen und südöstlichen Himmel bildenden Gewitter mich ge­ hindert hatten, die Uhren nach korrespondierenden Höhen zu regulieren. Zur Nachtzeit waren die Gestirne durch einen dieser rötlichen Dünste ver­ schleiert , die das Hygrometer in den unteren Schichten der Atmosphäre kaum affizieren . Diese Erscheinung war um so auffallender, als in anderen Jahren oft drei bis vier Monate lang keine Spur von Wolken oder Nebel wahr­ genommen wird . Ich erreichte eine vollständige Beobachtung des Fortgangs und des Endes der Sonnenfinsternis . Die Entfernung der Hörner oder die Differenz der Höhen und des Azimuts bestimmte ich mittels des Durchgangs durch die Linien des Quadranten . Das Ende der Finsternis trat um 2 Uhr 14' 23 ,4" mittlerer Zeit von Cumana ein. Das nach den alten Tafeln von Herrn Ciccolini in Bologna und von Herrn Triesnecker in Wien berechnete Resultat meiner Beobachtung ist in der >Connoissance des temps< mitgeteilt worden. Dieses Resultat differierte um nicht weniger als um l' 9" von der mit dem Chronometer erhaltenen Länge . Aber wiederholt durch Herrn Olt­ manns nach den neuen Mondtafeln von Burg und nach Delambres Sonnen­ tafeln angestellte erneute Berechnungen näherten sich die Resultate der Sonnenfinsternis und des Chronometers bis auf 10" an. Ich erwähnte dieses bemerkenswerte Beispiel eines durch Anwendung der neuen Tafeln auf 1)7 re­ duzierten Irrtums , um die Reisenden darauf aufmerksam zu machen , wie an­ gelegen es ihnen sein sollte , auch die kleinsten Umstände ihrer partiellen Be­ obachtungen aufzuzeichnen und bekanntzumachen . Die an Ort und Stelle selbst wahrgenommene völlige Harmonie zwischen den Jupitertrabanten

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und den chronometrischen Resultaten hatte mir ein großes Vertrauen in den Gang der Uhr von Louis Berthoud eingeflößt, solange sie keinen allzu hef­ tigen Stößen der Maultiere ausgesetzt war. Die der Sonnenfinsternis vorhergehenden und nachfolgenden Tage boten überaus merkwürdige atmosphärische Erscheinungen dar. Der in diesen Ge­ genden so genannte Winter [= Regenzeit] , das heißt die Jahreszeit der Wolken und kleiner Gewitterregen , war eingetreten . Vom 10. Oktober bis zum 3. November [1799] erhob sich bei Anbruch der Nacht ein rötlicher Dunst am Horizont, der in wenigen Minuten das azurne Himmelsgewölbe wie mit einem mehr oder minder dichten Schleier überzog. Das Hygrometer von Saussure zeigte nicht nur keine Feuchtigkeit an , sondern ging öfters von 90 auf 83° zurück. Die Tageswärme betrug 28 bis 32°, welches für diesen Teil der heißen Zone ein sehr beträchtlicher Wärmegrad ist. Bisweilen waren mitten in der Nacht die Nebel in einem Augenblick verschwunden , und sowie ich die Instrumente aufgestellt hatte, bildeten sich im Zenit Wolken von glänzendem Weiß, die sich bis gegen den Horizont ausdehnten. Am 18 . Oktober [1799] waren diese Wolken so außerordentlich durchsichtig, daß auch die Sterne vierter Größe sichtbar blieben. Die Mondflecken unter­ schied ich so deutlich , als stünde die Mondscheibe außerhalb der Wolken. Diese befanden sich in ungemein großer Höhe , streifenartig und wie durch elektrische Abstoßung gleichmäßig verteilt . Es sind dieselben Nebelhäuf­ chen, die ich auch auf dem Rücken der höchsten Anden über mir sah und die in mehreren Sprachen Schäfchen (moutons) genannt werden. Zur Zeit, da der rötliche Dunst den Himmel leicht bedeckte , hatten die großen Gestirne , die gewöhnlich in Cumami kaum unter 20 oder 2SO funkeln , nicht einmal im Zenit ihr ruhiges und planetarisches Licht beibehalten. Sie funkelten auf jeder Höhe wie nach einem heftigen Gewitterregen . Diese Wirkung eines Nebels , der dem Hygrometer auf der Oberfläche der Erde nicht fühlbar war, kam mir auffallend vor. Ich saß einen Teil der Nacht auf dem Balkon, von wo aus ich einen großen Teil des Horizonts übersah . Unter allen Klimaten ist es mir ein anziehendes Schauspiel, bei heiterem Himmel den Blick auf irgend­ ein großes Sternbild zu richten und zu betrachten, wie Gruppen von Dunst­ bläschen entstehen, sich wie um einen Kern vergrößern, verschwinden und neu wiederherstellen.

[Beobachtung des Himmels - Zusammenhänge z wischen Erdbeben und magnetischer Inklination?J

Vom 28. Oktober bis zum 3 . November [1799] erschien der Nebel dichter, als er zuvor gewesen war; die Wärme der Nächte kam uns erstickend vor, ob­ gleich das Thermometer nicht über 26° anstieg . Der Seewind, der gewöhn-

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lich nach acht oder neun Uhr abends die Luft abkühlt, blieb gänzlich aus. Die Atmosphäre war gleichsam feurig, das staubige und ausgetrocknete Erdreich wurde rissig . Am 4. November, gegen zwei Uhr nachmittags, ver­ hüllten dichte , ungewöhnlich schwarze Wolken die Gebirge des Bergantfn und des Tataraqual . Nach und nach dehnten sie sich bis zum Scheitelpunkt aus . Gegen vier Uhr ließ sich der Donner zuerst über uns hören, aber noch in großer Höhe , ohne Rollen , mit dumpfem, oft unterbrochenem Geräusch . Im Augenblick der stärksten elektrischen Entladung, um 4 Uhr 12 , ge­ schahen zwei Erdstöße , die mit 15 Sekunden Zwischenraum aufeinander­ folgten. Das Volk auf den Straßen erhob lautes Geschrei . Herr Bonpland , der sich über einen Tisch bückte , um Pflanzen zu untersuchen , wurde fast umgeworfen. Ich fühlte den Stoß sehr heftig, obgleich ich in einer Hänge­ matte ausgestreckt lag. Seine Richtung ging, was in Cumami selten ist, von Norden nach Süden. Sklaven, die Wasser aus einem über 18 oder 20 Fuß tiefen Brunnen in der Nähe des Rio Manzanares schöpften, hörten ein einem starken Kanonenschuß ähnliches Donnern . Es war, als komme es aus der Tiefe des Brunnens hervor; eine seltsame Erscheinung, obgleich sie in den meisten den Erdbeben ausgesetzten amerikanischen Landschaften üb­ lich ist. Etliche Minuten vor der ersten Erschütterung trat ein heftiger Windstoß ein , den ein Gewitterregen mit großen Tropfen begleitete. Ich prüfte so­ gleich die atmosphärische Elektrizität mittels des Elektrometers von Volta. Seine Kügelchen traten um 4 Linien auseinander; die positive Elektrizität ging öfters in die negative über, wie dies während Gewittern (und im Norden von Europa bisweilen sogar, wenn es schneit) der Fall ist. Der Himmel blieb bedeckt und nach dem Windstoß war eine völlige Windstille eingetreten , welche die ganze Nacht durch anhielt. Der Sonnenuntergang gewährte ein außerordentlich prachtvolles Schauspiel. Der dichte Wolkenschleier zerriß nahe dem Horizont gleichsam in Stücke . Die Sonne erschien in 12° Höhe auf einem Grund von indigoblauer Farbe . Ihre Scheibe war außerordentlich er­ weitert und entstellt und ihre Ränder wellenförmig ausgeschnitten . Die Wolken schienen vergoldet, und Bündel auseinanderfahrender Licht­ strahlen, welche die schönsten Farben der Iris zurückwarfen, dehnten sich bis in die Mitte des Himmels aus . Eine Menge Menschen hatten sich auf dem öffentlichen Platz versammelt . Diese Erscheinung , das Erdbeben , der gleichzeitige Donnerschlag, der seit vielen Tagen wahrgenommene rötliche Nebel, alles wurde als Wirkung der Sonnenfinsternis betrachtet. Gegen neun Uhr abends erfolgte eine dritte Erschütterung, welche un­ gleich schwächer als die zwei ersten, aber von einem sehr merklichen unter­ irdischen Lärm begleitet war. Das Barometer stand etwas tiefer als gewöhn­ lich ; ohne daß jedoch der Gang der Stundenvariationen oder der kleinen at­ mosphärischen Gezeiten die geringste Unterbrechung erfuhr. Im Augen-

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blick des Erdbebens stand das Quecksilber gerade am tiefsten. Es stieg hierauf allmählich bis gegen elf Uhr abends und fiel dann wieder bis halb fünf Uhr morgens , dem Gesetz der barometrischen Variationen gemäß. In der Nacht vom 3. auf den 4. November [1799] war der rötliche Dunst so dicht, daß ich die Stelle , wo der Mond sich befand, nur durch einen schönen Hof von 20° Durchmesser unterscheiden konnte . Kaum vor 22 Monaten erst war die Stadt Cumana durch ein Erdbeben fast völlig zerstört worden . Das Volk hält die Dünste , welche den Horizont ver­ nebeln, sowie das Ausbleiben des nächtlichen Seewinds für unfehlbar schlimme Vorzeichen. Wir empfingen häufig Besuch von Personen, die sich erkundigten, ob unsere Instrumente neue Stöße für den folgenden Tag an­ deuteten. Besonders groß und allgemein wurden Unruhe und Besorgnis, als am 5 . November, genau zur selben Stunde wie tags vorher, ein heftiger Wind­ stoß , von Donner und einigen Regentropfen begleitet, eintrat. Es erfolgte keine Erschütterung. Der Wind und das Gewitter wiederholten sich fünf oder sechs Tage zur selben Stunde , man könnte fast sagen , zur gleichen Mi­ nute . Die Bewohner von Cumana und vieler anderer zwischen den Wende­ kreisen gelegener Orte haben seit langem bemerkt, daß die atmosphäri­ schen Veränderungen, welche am zufälligsten zu sein scheinen, ganze Wo­ chen lang eine höchst regelmäßige Ordnung und Reihenfolge einhalten. Dieselbe Erscheinung nimmt man im Sommer in der gemäßigten Zone wahr. Auch ist sie dem Scharfblick der Astronomen nicht entgangen , die sehen , wie bei heiterem Himmel öfters drei oder vier Tage nacheinander sich auf demselben Punkt am Himmel Wolken bilden, eine gleichartige Richtung nehmen und auf gleicher Höhe bald vor, bald nach dem Durchgang eines Gestirns durch den Meridian, mithin innerhalb weniger Minuten zur selben wahren Zeit wieder auflösen. Das Erdbeben vom 4. November [1799] war das erste , welches ich erlebt habe , und der Eindruck , den es auf mich machte , war um so größer, als es vielleicht nur zufällig von so merkwürdigen meteorologischen Verände­ rungen begleitet war. Dabei zeigte es sich als ein eigentlicher Stoß von unten nach oben und nicht als eine wellenförmige Erschütterung. Damals glaubte ich nicht , daß ich nach einem langen Aufenthalt an den peruanischen Küsten und auf den Bergen von Quito mit den ziemlich ungestümen Erschütte­ rungen des Bodens ebenso bekannt und vertraut werden würde , wie man es in Europa mit dem Donnerschlag ist. In der Stadt Quito dachten wir nicht daran, nachts aufzustehen , wenn unterirdisches Getöse (bramidos) , welches immer vom Vulkan Pichincha herzukommen schien, 2 bis 3, mitunter auch 7 bis 8 Minuten im voraus einen Stoß ankündigte , dessen Stärke nur selten zu der des Getöses im Verhältnis stand. Die Sorglosigkeit der Einwohner, welche wissen, daß ihre Stadt seit drei Jahrhunderten nie zerstört worden ist , teilt sich leicht auch dem furchtsamsten Ausländer mit. Überhaupt ist es

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weniger die Furcht vor der Gefahr als das Neue und Ungewohnte der Empfindung , was lebhaften Eindruck macht, wenn man zum ersten Mal die Wirkungen eines auch noch so schwachen Erdbebens empfindet. Von Kindheit an prägt sich unserem Geist die Vorstellung gewisser Kon­ traste ein; das Wasser erscheint uns als ein bewegliches Element , die Erde als eine unbewegliche und träge Masse . Diese Vorstellungen sind das Produkt alltäglicher Erfahrungen. Sie schließen sich allen unseren sinnlichen Be­ griffen an. Die Erscheinung eines Erdstoßes, eines Bebens der Erde , von der wir glaubten, daß sie auf ihren alten Fundamenten fest ruhe , zerstört in einem Augenblick die lange gedauerte Täuschung. Es ist eine Art von Erwa­ chen, aber ein unangenehmes Erwachen. Man fühlt, daß man sich durch die scheinbare Ruhe der Natur täuschen ließ . Von nun an wird man beim leise­ sten Geräusch aufmerksam, und zum ersten Mal mißtraut man dem Boden, worauf man lange Zeit mit Zuversicht wanderte. Wenn die Stöße sich wieder­ holen, wenn sie mehrere Tage nacheinander eintreten , verschwindet das Un­ gewisse schnell . 1784 hatten sich die Einwohner von Mexico an das Rollen des unterirdischen Donners ebenso gewöhnt, wie wir an die Donnerschläge in den Wolkenregionen gewöhnt sind. Der Mensch faßt leicht neue Zuver­ sicht, und auf dem Küstenland von Peru wird man mit den Erdbeben zuletzt ebenso vertraut wie der Steuermann mit den durch Wellenschlag verur­ sachten Erschütterungen des Schiffs. Es schien mir, das Erdbeben vom 4. November [ 1799] habe auf die magne­ tischen Erscheinungen einen merklichen Einfluß gehabt. Kurz nach meiner Ankunft an der Küste Cumanas hatte ich die Inklination der Magnetnadel zu 43 ,53° der hundertteiligen Skala gefunden . Einige Tage vor dem Erdbeben war ich mit der Bestätigung dieses Resultats emsig beschäftigt. Der Gouver­ neur von Cumana, der eine schöne Sammlung wissenschaftlicher Bücher besaß, hatte mir Mendozas interessanten >Tratato de Navigaci6n< geliehen; die darin ausgesprochene Behauptung: "Die Inklination der Magnetnadel erleidet nach Monaten und Stunden stärkere Veränderungen als die magne­ tische Deklination" , kam mir sehr auffallend vor. Eine Reihe von Beobach­ tungen, die ich 1789 gemeinsam mit dem Chevalier de Borda in Paris und hernach in Marseille und Madrid für mich allein angestellt hatte , über­ zeugten mich, daß die täglichen Variationen auch mit den besten Inklina­ tionsbussolen nicht wahrgenommen werden können; daß - wenn es solche gibt , wie man annehmen muß - sie nicht über 8 bis 10 Minuten betragen und daß die viel beträchtlicheren, von verschiedenen Autoren angezeigten stündlichen Veränderungen dem unvollkommenen Nivellement des Instru­ ments zugeschrieben werden müssen . Trotz dieser ziemlich begründeten Zweifel nahm ich keinen Anstand, am 1. November [ 1799] die große Bussole Bordas an einem für genaue Beobachtungen solcher Art wohlgeeigneten Ort aufzustellen. Die Inklination zeigte sich unveränderlich zu 43 ,6SO.

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Dieses ist die Durchschnittszahl vieler mit großer Sorgfalt angestellter Beob­ achtungen. Am 7. November, drei Tage nach den heftigen Erdbeben, wieder­ holte ich die gleiche Reihe von Beobachtungen und war erstaunt zu sehen , daß sich die Inklination um 90 Centesimalminuten vermindert hatte; sie be­ trug jetzt nur noch 42 ,75°. Ich glaubte, sie würde vielleicht nochmals zu­ nehmen und allmählich auf ihren ersten Stand zurückkehren; allein diese Er­ wartung blieb unerfüllt. Ein Jahr später, nach der Rückkehr vom Orinoco , fand ich die Inklination der Magnetnadel in Cumami nochmals zu 42 ,80°, die Intensität der magnetischen Kraft war vor und nach dem Erdbeben unverän­ dert geblieben. Sie fand sich in 10' Zeit durch 229 Schwingungen ausge­ drückt, während sie in Madrid 240 und in Paris 245 Oszillationen gleichkam. Am 7. November bestimmte ich die magnetische Deklination ; sie betrug 4° 13 ' 50" nordöstlich . Vor dem Erdbeben hatte ich sie zu verschiedenen Stunden des Tages um 5 bis 6 Minuten größer und kleiner beobachtet. Die stündlichen Variationen verschleiern die Veränderungen der absoluten De­ klination, wenn diese nur unbeträchtlich sind. Beim Nachdenken über das Ganze dieser magnetischen Phänomene kann ich keine Ursache eines Irrtums entdecken, der das Resultat meiner Beob­ achtungen der Inklination vor dem 4. November beeinträchtigen könnte . Ich wandte dieselbe Vorsicht an; die Instrumente behielten unverändert ihre Stellung , ich verzeichnete in mein Tagebuch das Detail jeder einzelnen Be­ obachtung. Es ist wohl auch sehr merkwürdig, daß sie mit größter Sorgfalt in geöltem Papier aufbewahrte Nadel nach einer Reise von 700 lieues, bei der Rückkehr in Cumana, im Durchschnitt von fünfzehn Beobachtungen, bis zu 5 Centesimalminuten die gleiche Inklination angab wie unmittelbar nach dem Erdbeben. Zwar habe ich die Pole der Nadel nicht bei jeder Beobach­ tung verändert, wie dies bei einer langen Reihe von Inklinationsbestim­ mungen geschah, die ich gemeinsam mit Herrn Gay-Lussac während der Jahre 1805 und 1806 in Frankreich , in Italien, in der Schweiz und in Deutsch­ land anstellte und wie es auch die Astronomen auf Kapitän Cooks zweiter Reise stets getan haben. Dieses Verfahren ist zeitraubend und mißlich , wo man fast immer in freier Luft zu beobachten gezwungen ist. Der Chevalier de Borda hatte mir bei der Abreise von Europa geraten, die Nadel nur nach Ablauf gewisser Zeiträume zu entmagnetisieren und die Unterschiede in Anschlag zu bringen. Diese betrugen in den zu Paris mit Herrn Lenoir ange­ stellten Versuchen nicht über 12 Minuten; in Mexico, bei verschiedenen Ver­ suchen, 8, 15 , 6 und 10 Minuten; auch behielt die aus wohlgehärtetem Stahl verfertigte Nadel ihre ganze Politur fünf volle Jahre. Dazu kommt, daß es sich bei der Erscheinung, von der hier die Rede ist , nur um eine Verände­ rung scheinbarer Inklination und nicht um eine absolute Quantität handelte. Da ich die Nadel nicht berührt habe , kann ich selbst die Möglichkeit eines Irrtums von einem Centesimalgrad nicht einsehen .

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Es ist bekannt, daß die Erschütterungen durch Veränderung der Lage der Eisen- , Kobalt- oder Nickelmoleküle auch ihre magnetischen Eigenschaften verändern. Als ich über die magnetischen Achsen eines großen polarisie­ renden Serpentingebirges, das nordwärts von Bayreuth in Franken gelegen ist, berichtete , äußerte der berühmte göttingische Naturforscher, Herr Lich­ tenberg, die Vermutung, es könnten diese Achsen vielleicht die Wirkung von Erdbeben sein, die während der großen Katastrophen unseres Planeten lange Zeit eine gleiche Richtung genommen hatten. Aus neueren Versuchen des Herrn Haüy wissen wir, wenn die Wärme die magnetische Ladung ver­ mindert, daß sie dann bisweilen auch gewisse Substanzen, in denen das Eisen mit einem anderen Grundstoff verbunden ist, für den Magnet an­ ziehbar machen kann. Es läßt sich hieraus einigermaßen erklären , wie Erd­ beben und vulkanische Kräfte durch von ihnen in beträchtlichen Tiefen des Erdballs hervorgebrachte Veränderungen die uns auf seiner Oberfläche wahrnehmbaren magnetischen Erscheinungen modifizieren können . Ich will nicht länger bei solch gewagten Vermutungen verweilen und mich hier auf die Bemerkung beschränken, daß wir zur Zeit der öfteren und heftigen Erdstöße in den Cordilleren von Quito und an den Küsten von Peru niemals irgendeine zufällige Variation in der magnetischen Inklination entdecken konnten . Es ist wahr, daß die analogen, durch Nordlichter in der Deklination der Magnetnadel bewirkten Änderungen sowie die , welche ich in der Inten­ sität der Kräfte zu bemerken glaubte , auch nur von Zeit zu Zeit beobachtet werden. Sie sind vorübergehend und hören mit der Dauer der Erscheinung auf. Der rötliche Dunst, der den Horizont kurz vor Sonnenuntergang umne­ belte, war seit dem 7. November [ 1799] verschwunden . Die Atmosphäre hatte ihre vormalige Reinheit wieder angenommen, und das Himmelsge­ wölbe erschien im Zenit mit dieser dunkelblauen Färbung, die den Klimaten eigentümlich ist, in denen Wärme , Licht und eine große Gleichförmigkeit der elektrischen Ladung zur Erzielung der möglichst vollkommenen Auflö­ sung des Wassers in der Luft zusammenzuwirken scheinen . In der Nacht vom 7. auf den 8. beobachtete ich den Eintritt des zweiten Jupitertrabanten. Die Ränder des Planeten erschienen deutlicher, als ich sie je zuvor gesehen hatte . Einen Teil der Nacht verwandte ich auf den Vergleich der Stärke des Lichts, welches von den schönen , am südlichen Himmel glänzenden Ge­ stirnen ausgeht. Ich setzte diese Arbeit sorgfältig fort, auf See sowohl als während meines Aufenthalts in Lima, Guayaquil und Mexico , in beiden He­ misphären. Beinahe ein halbes Jahrhundert war verflossen, seit La Caille diese für Europa unsichtbare Himmelsgegend beobachtet hatte. Die Ge­ stirne in der Nähe des Südpols werden überhaupt mit so wenig Fleiß und Zu­ sammenhang beobachtet, daß sowohl in der Intensität ihres Lichts wie in

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ihren eigentümlichen Bewegungen die größten Veränderungen vorgehen können, ohne daß die Astronomen davon die mindeste Kenntnis erhalten. Ich glaube solche Veränderungen im Sternbild des Kranichs und in dem des Schiffes wahrgenommen zu haben. Anfangs verglich ich mit bloßem Auge die nicht allzu entfernt voneinander befindlichen Gestirne , um sie nach der Methode zu ordnen , welche Herr Herschel in einer 1796 der Royal Society in London mitgeteilten Abhandlung vorschlug; nachher gebrauchte ich Blenden, welche die Öffnung des Objektivs verminderten , gefärbte und un­ gefärbte Gläser vor dem Okular und besonders ein Reflektionsinstrument, wodurch gleichzeitig zwei Sterne ins Sehfeld des Fernrohrs zurückgebracht wurden , nachdem ihr Licht durch willkürliche Zulassung einer kleineren oder größeren Zahl durch den belegten Teil des Spiegels reflektierter Strahlen egalisiert worden war. Ich gebe zu, daß alle diese photometrischen Vorkehrungen nicht die wünschbare Genauigkeit haben; jedoch glaube ich, die letztere [Vorkehrung] , welche vielleicht überhaupt noch nicht benutzt worden ist , könnte durch Anbringen einer Skala an den beweglichen Träger des Fernrohrs des Sextanten einen bedeutenden Grad von Genauigkeit er­ halten . Nach den Mittelwerten einer großen Zahl von Schätzungen habe ich die Abnahme der relativen Intensität des Lichts der großen Gestirne in folgender Ordnung wahrgenommen: Sirius , Canopus, a des Centaur, Achernar, ß des Centaur, Fomalhaut, Rigel, Procyon, Beteigeuze, E des Großen Hundes, Ö des Großen Hundes , a des Kranichs, a des Pfauen. Diese Arbeit, deren numerische Resultate ich bereits an einem anderen Ort publi­ ziert habe , wird an Interesse gewinnen , wenn spätere Reisende von 50 zu 50 Jahren die neue Intensität des Lichts dieser Gestirne bestimmen und viel­ leicht einige der Veränderungen entdecken werden, welche die Himmels­ körper, sei es auf ihrer Oberfläche oder in ihrer Entfernung von unserem Planetensystem, durchzumachen scheinen. Wenn man eine geraume Zeit mit denselben Fernrohren in unseren nörd­ lichen Himmelsgegenden und in der heißen Zone Beobachtungen angestellt hat, so erstaunt man über die Wirkung, welche die Durchsichtigkeit der Luft und die mindeste Abnahme des Lichts in der letzteren auf die Reinheit her­ vorbringen, womit sich die Doppelgestirne, die Jupitertrabanten und ge­ wisse Nebelgestirne darstellen. Unter einem dem Anschein nach gleich hei­ teren Himmel glaubt man vollkommene Instrumente gebraucht zu haben, wenn sich alle diese Gegenstände so viel bestimmter und deutlicher ausge­ schieden zwischen den Wendekreisen darstellen . Man darf mit Zuversicht annehmen, wenn einst die amerikanischen Äquinoktialländer der Mittel­ punkt einer vervollkommneten Zivilisation geworden sind, daß dann die physikalische Astronomie die größten Fortschritte erhalten wird, nach Maß­ gabe der Himmelsforschungen, die in den trockenen und heißen Erdstri­ chen von Cumami, Coro und der Insel Margarita mit vortrefflichen Fern-

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rohren angestellt werden. Ich erwähne den Rücken der Cordilleren hier nicht, weil mit Ausnahme einiger ziemlich unfruchtbarer Hochländer von Mexico und Peru die sehr hohen Bergebenen, auf denen der barometrische Druck um 10 bis 11 Zoll geringer ist als an der Meeresküste , ein sehr nebliges und äußerst wandelbares Klima darbieten. Die große Reinheit der Atmo­ sphäre , die in den tieferen Gegenden während der trockenen Jahreszeit fort­ dauernd herrscht , ersetzt die höhere Lage und die dünnere Luft der Berg­ ebenen . Die atmosphärischen Luftschichten erleiden schnelle Verände­ rungen ihrer Durchsichtigkeit, da wo sie sich den Bergrücken anschließen .

[Feuerkugel- und Sternschnuppenfall}

Die Nacht vom 11. auf den 12 . November [1799] war kühl und ausneh­ mend schön. Von 2 Uhr 30 morgens an zeigten sich am östlichen Himmel die außerordentlichsten leuchtenden Meteore . Herr Bonpland, der, um den kühlen Morgen auf der Galerie zu genießen, früh aufgestanden war, nahm sie zuerst wahr. Tausende von Feuerkugeln und Sternschnuppen kamen vier Stunden lang wechselnd zum Vorschein . Ihre Richtung nahmen sie höchst regelmäßig von Norden nach Süden ; ein Teil des Himmels, der sich vom ei­ gentlichen Ostpunkt 30° nordwärts und südwärts ausdehnte , war davon ganz erfüllt. Auf einer Ausdehnung von 60° sah man die Meteore in der Richtung von Ostnordost und Ost ansteigen, mehr oder minder große Bogen bilden und , nachdem sie in der Richtung des Meridians ihren Lauf genommen hatten, südwärts niederfallen. Einige erreichten die Höhe von 40°; alle stiegen über 25 bis 30°. Der Wind war nur sehr gering in den tiefen Regionen der Atmosphäre und wehte von Osten her. Von Wolken war keine Spur vor­ handen. Herr Bonpland versicherte , zu Anfang der Erscheinung habe man im ganzen Himmelsraum keine drei Monddurchmessern an Ausdehnung gleichkommende Stelle bemerkt, die nicht jeden Augenblick voll Feuerku­ geln und Sternschnuppen stand. Die ersteren waren weniger; jedoch bei ihrer sehr verschiedenen Größe konnte zwischen der doppelten Erschei­ nung keine bestimmte Grenze gezogen werden. Diese sämtlichen Meteore ließen , wie es in den Äquinoktialländern öfters der Fall ist, Lichtstreifen von 8 bis 10 Längegraden hinter sich zurück. Die Phosphoreszenz dieser Licht­ streifen dauerte 7 bis 8 Sekunden. Mehrere Sternschnuppen hatten einen deutlichen Kern so groß wie die Jupiterscheibe , von welchem die ungemein hell leuchtenden Funken ausgingen. Die Feuerkugeln schienen wie durch Entladung zu zerspringen ; aber die größten, von 1° bis 1° 15 ' Durchmesser, verschwanden ohne Funkeln und ließen phosphoreszierende Streifen zu­ rück, die über 15 bis 20 Minuten breit waren. Das Licht dieser Meteore war weiß und nicht rötlich , was vermutlich von der überaus großen Durchsichtig-

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keit der Luft und der Abwesenheit aller Dünste herrührt. Aus dem gleichen Grund erscheinen auch in den Tropenländern die Sterne erster Größe bei ihrem Aufgang auffallend weißer gefärbt als in Europa. Fast alle Einwohner von Cumana waren Augenzeugen dieses Phänomens , da sie ihre Häuser vor vier Uhr morgens verlassen, um der ersten Frühmesse beizuwohnen. Sie betrachteten diese Feuerkugeln gar nicht gleichgültig; die ältesten unter ihnen erinnerten sich , daß den großen Erdbeben von 1766 eine ganz ähnliche Erscheinung voranging. In der indianischen Vorstadt waren die Guaikeri in großer Bewegung. Sie behaupteten, das Feuerwerk habe um ein Uhr nachts angefangen ; und als sie vom Fischfang in den Golf zurückkehrten, hätten sie bereits Sternschnuppen, aber nur kleine im Osten aufsteigen sehen . Zugleich versicherten sie , es kämen an diesen Küsten die leuchtenden Meteore nach zwei Uhr morgens sehr selten vor. Von vier Uhr an nahm die Erscheinung allmählich ab ; die Feuerkugeln wurden seltener; doch konnte man einige nordostwärts an ihrem weißlichen Schimmer und ihrer schnellen Bewegung eine Viertelstunde nach Sonnen­ aufgang noch wahrnehmen. Dieser letztere Umstand wird weniger außeror­ dentlich erscheinen, wenn ich daran erinnere , daß 1788 in der Stadt Popayan mitten am Tag das Innere der Wohnungen durch einen außerordentlich großen Aerolithen stark erleuchtet wurde , welcher um ein Uhr nachmittags bei hellem Sonnenschein über der Stadt hinfuhr. Am 26. September 1800, während unseres zweiten Aufenthalts in Cumana, gelang es Herrn Bonpland und mir, nachdem wir den Eintritt des ersten Jupitertrabanten beobachtet hatten , diesen Planeten mit bloßem Auge 18 Minuten, nachdem die Sonnen­ scheibe über dem Horizont stand , deutlich zu unterscheiden. Gegen Osten war geringer Dunst vorhanden; Jupiter aber stellte sich auf azurnem Grund dar. Diese Tatsachen bezeugen die ausnehmende Reinheit und Durchsichtig­ keit der Atmosphäre in der heißen Zone . Die Masse des zerstreuten Lichts ist dort um so geringer, als die Dünste vollkommener aufgelöst sind. Die nämliche Ursache , welche die Zerstreuung des Sonnenlichts schwächt, ver­ mindert auch die Abnahme des sowohl von den Feuerkugeln wie vom Ju­ piter oder vom Mond am zweiten Tag nach seiner Konjunktion ausströ­ menden Lichts . Der 12 . November [ 1799] war nochmals ein sehr warmer Tag, und das Hy­ grometer zeigte eine für diese Erdstriche sehr bedeutende Trockenheit an. Auch wurde der Horizont durch den rötlichen Dunst neuerdings umnebelt, der bis zur Höhe von 14° anstieg. In diesem Jahr zeigte er sich dann nicht weiter. Ich muß hier bemerken, daß er unter dem schönen Himmel von Cu­ mana ebenso selten vorkommt , wie er dagegen in Acapulco an der West­ küste von Mexico gewöhnlich ist. Weil zur Zeit meiner Abreise aus Europa die Aufmerksamkeit der Natur­ forscher durch die Untersuchungen des Herrn Chladni auf die Feuerkugeln

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und Sternschnuppen besonders konzentriert war, unterließen wir nicht, auf unserer Reise von Caracas nach dem Rio Negro überall nachzufragen, ob die Lufterscheinungen vom 12 . November [ 1799] bemerkt worden seien . In einem wilden Land, wo die Mehrzahl der Einwohner die Nacht im Freien zu­ bringt, konnte ein so außerordentliches Phänomen nur dann unbemerkt bleiben, wenn es sich durch Gewölk dem Auge des Zuschauers entzog. Der Kapuzinermissionar von San Fernando de Apure , einem mitten in den Sa­ vannen der Provinz Barinas gelegenen Dorf, ebenso wie die in der Nähe der Katarakte des Orinoco und zu Maroa am Ufer des Rio Negro stationierten Franziskanermönche hatten die Erleuchtung des Himmelsgewölbes durch zahllose Sternschnuppen und Feuerkugeln gesehen. Maroa liegt südwestlich von Cumami, in einer Entfernung von 174 lieues . Diese sämtlichen Beob­ achter verglichen das Phänomen einem schönen Feuerwerk, das von drei bis sechs Uhr morgens gedauert habe . Einige der Mönche hatten sich den Tag in ihrem Ritual angemerkt; andere bezeichneten ihn durch die nächsten Kir­ chenfeste . Leider erinnerte sich keiner der Richtung der Meteore oder ihrer scheinbaren Höhe. Nach der Lage der Berge und der dichten Wälder, von denen die Missionen der Katarakte und das kleine Dorf Maroa umgeben sind, vermute ich, die Feuerkugeln seien noch 20° über dem Horizont sichtbar gewesen. Bei meiner Ankunft in der kleinen Festung San Carlos, am südlichen Ende des spanischen Guyana, traf ich Portugiesen an, die von der San-Jose-Mission der Maravitanos den Rio Negro hinaufgekommen waren. Sie versicherten , man habe das Phänomen in diesem Teil von Brasi­ lien, wenigstens bis nach San Gabriel das Cachoeiras , mithin bis zum Äquator beobachtet. Die ungemein große Höhe, welche diese Feuerkugeln haben mußten, um gleichzeitig in Cumana und an den Grenzen von Brasilien gesehen zu werden, kam mir schon sehr auffallend vor. Wieviel größer aber wurde mein Erstaunen, als ich bei der Rückkehr in Europa vernahm , dieselbe Erschei­ nung sei auf einem Raum des Erdballs von 64° Breite und 91° Länge am Äquator, im südlichen Amerika, in Labrador und in Deutschland beob­ achtet worden! Auf meiner Überfahrt von Philadelphia nach Bordeaux fand ich zufällig in den >Denkschriften der Gesellschaft von Pennsylvanien< die korrespondierende Beobachtung des Herrn Ellicot (Breite 30° 42 ' ) , und auf meiner Rückreise von Neapel nach Berlin las ich in der Göttingisehen Bi­ bliothek den Bericht der mährischen Missionare bei den Eskimos . Damals hatten bereits mehrere Naturforscher das Zusammentreffen der Beobach­ tungen im Norden mit denen von Cumana, die Herr Bonpland und ich schon im Jahr 1800 publizierten, gewürdigt.

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[Wo der Meteor/all vom November 1799 überall gesehen wurde]

Folgendes ist eine gedrängte Zusammenstellung der Tatsachen: L Die feurigen Meteore sind ostwärts und ostnordostwärts bis zur Höhe von 40°, von 2 bis 6 Uhr in Cumami (Br. 10° 27 ' 52"; Länge 66° 30 ' ) , in Porto Cabello (Br. 10° 6' 52"; Länge 67° 5 ' ) und an den Grenzen Brasiliens nahe beim Äquator, unter 70° westlicher Länge vom Meridian von Paris beobachtet worden . 2. In Französisch-Guyana (Br. 4° 56' ; Länge 54° 35 ' ) sah man den nördlichen Himmel gleichsam entzündet. Während anderthalb Stunden durchzogen zahllose Sternschnuppen den Himmel und verbreiteten ein der­ maßen helles Licht, daß man diese Lufterscheinungen den blitzenden Garben eines Feuerwerkes vergleichen konnte . Die Kenntnis dieser Tat­ sache beruht auf dem höchst respektablen Zeugnis des Herrn Comte de Marbois , der als ein Opfer seiner Gerechtigkeitsliebe und Anhänglichkeit an eine weise constitutionelle Freiheit damals nach Cayenne deportiert war. 3 . Der Astronom der Vereinigten Staaten, Herr Ellicot, befand sich nach Be­ endigung seiner trigonometrischen Arbeiten zwecks Grenzberichtigungen am Ohio am 12. November im Kanal von Bahama unter 25° Breite und 81 ° 50' Länge . Er sah am ganzen Himmel "ebenso viele Meteore wie Sterne : Sie bewegten sich in allen Richtungen ; einige schienen senkrecht herunterzu­ fallen, und man glaubte jeden Augenblick, sie würden aufs Schiff herab­ kommen" . Das gleiche Phänomen wurde auf dem amerikanischen Festland bis zu 30° 42' der Breite beobachtet. 4. In Labrador zu Nain (56° 55 ' Br. ) und Hoffental (58° 4' Br. ) in Grönland zu Lichtenau (61° 5' Br.) und in Neu­ Herrnhut (64° 14' Br. ; 52° 20 ' Länge) ; die Eskimos erschraken über die große Menge der in der Dämmerung nach allen Himmelsgegenden fal­ lenden Feuerkugeln , "von denen einige einen Fuß lang waren" . 5 . In Deutschland bemerkte Herr Zeissing , Pfarrer von ltterstädt bei Weimar (50° 59' Br. ; 9° l ' östl. Länge) am 12. November, zwischen 6 und 7 Uhr morgens (welches mit der Zeit von 2 bis 3 Uhr in Cumami zusammentrifft) , einige Sternschnuppen, deren Licht eine sehr weiße Farbe hatte . "Bald nachher zeigten sich am südlichen und südwestlichen Himmel vier bis sechs Fuß lange , glänzende Streifen von rötlicher Farbe , die dem Leuchtstreif einer Rakete glichen . Während der Morgendämmerung, zwischen 7 und 8 Uhr, er­ schien der südwestliche Teil des Himmels von Zeit zu Zeit durch etliche weißliche Blitze , die den Horizont schlangenförmig durchzogen , erleuchtet. Die Nacht über hatte sich die Kälte vermehrt, und das Barometer war ge­ stiegen . " Sehr wahrscheinlich konnte das Meteor[fallen] auch weiter ost­ wärts in Polen und Rußland beobachtet werden. Ohne die ausführliche An­ gabe , welche Herr Ritter den Papieren des Pfarrers von Itterstädt entnahm , hätten wir auch geglaubt, die Feuerkugeln seien außerhalb Amerikas nicht gesehen worden .

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Die Entfernung von Weimar bis zum Rio Negro beträgt 1800 lieues ma­ rines vom Rio Negro nach Herrnhut in Grönland 1300 lieues. Nimmt man an, es seien die gleichen feurigen Meteore an den voneinander so entfernten Punkten gesehen worden, folgt daraus , daß ihre Höhe wenigstens 411 lieues betrug. Nahe bei Weimar wurden die Raketen am südlichen und südwest­ lichen, in Cumana am östlichen und ostnordöstlichen Himmel gesehen. Man könnte demnach glauben, die unzähligen Aerolithen seien zwischen Afrika und dem südlichen Amerika, westwärts des Kap Verde , ins Meer gefallen. Wie kommt es aber, daß die Feuerkugeln , deren Richtung in Labrador und in Cumana verschieden war, an letzterem Ort nicht wie in Cayenne nord­ wärts beobachtet wurden? Man kann nicht vorsichtig genug bei einer Hypo­ these sein, worüber uns noch gen aue an weit entfernten Orten angestellte Beobachtungen fehlen . Ich bin geneigt zu glauben , die Chaimas-Indianer haben nicht die gleichen Feuerkugeln gesehen, welche die Portugiesen in Brasilien und die Missionare in Labrador sahen; auf jeden Fall steht es außer Zweifel (und diese Tatsache scheint mir sehr merkwürdig) , daß in Amerika , zwischen dem Meridian von 46° und 82°, zwischen dem Äquator und dem Parallelkreis von 64° Nord, zur selben Zeit eine überaus große Menge von Feuerkugeln und Sternschnuppen bemerkt wurden. Auf einem Raum von 921 000 Quadratlieues erschienen diese Meteore allenthalben gleich fun­ kelnd. Die Naturforscher, welche jüngst so aufwendige Untersuchungen über die Sternschnuppen und ihre Parallaxen angestellt haben , betrachten sie als Me­ teore , die der äußersten Grenze unserer Atmosphäre angehören und zwi­ schen der Region der Nordlichter und der der leichtesten Wolken stehen. Man hat solche gesehen , die keine 14 000 Toisen , ungefähr 5 lieues Höhe hatten; die höchsten schienen 30 lieues nicht zu übersteigen. Ihr Durch­ messer beträgt oft über 100 Fuß , und die Schnelligkeit ihrer Bewegung ist so groß, daß sie einen Raum von zwei lieues in wenigen Sekunden durchlaufen; man hat solche gemessen, die , von unten nach oben, in fast senkrechter Richtung einen Winkel von fünfzig Grad mit der Scheitellinie beschrieben. Dieser sehr merkwürdige Umstand hat zur Vermutung geführt , die Stern­ schnuppen dürften in der Tat Aerolithen sein , die, nachdem sie gleich den Himmelskörpern lange Zeit im Raum geschwebt haben, sich beim zufälligen Eintritt in unsere Atmosphäre entzünden und zur Erde niederfallen . Was diese leuchtenden Meteore immer für einen Ursprung haben mögen , so hält es doch schwer, sich ihre plötzliche Entzündung in einer Region zu er­ klären , die weniger Luft enthält, als sich im leeren Raum unserer Luft­ pumpen vorfindet und wo (auf 25 000 Toisen Höhe) das Quecksilber im Barometer nicht zu TMo Linien ansteigen würde . Wir kennen allerdings die gleichförmige Mischung der atmosphärischen Luft bis l�OO genau nur bis zur Höhe von 3000 Toisen , mithin nicht über die oberste Schicht der flockigen

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Wolken hinaus . Es ließe sich annehmen, während der ersten Revolutionen des Erdballs hätten sich Gassubstanzen, die uns bis dahin unbekannt ge­ blieben sind, in die Region erhoben , worin sich die Sternschnuppen be­ wegen; mit Genauigkeit angestellte Versuche über Mischungen von Gas­ arten, die ein ungleiches spezifisches Gewicht haben, belegen jedoch, daß man keine von den unteren Schichten gänzlich verschiedene höchste Schicht der Atmosphäre annehmen kann . Die Gassubstanzen vermischen und durchdringen sich bei der kleinsten Bewegung, und im Laufe von Jahrhun­ derten wäre Gleichförmigkeit der Mischung erzielt worden, wenn man nicht die Wirkungen einer Abstoßung annehmen will , von der wir bei den uns be­ kannten Körpern kein Beispiel antreffen. Dazu kommt, wenn wir besondere luftartige Flüssigkeiten in diesen unzugänglichen Regionen der leuchtenden Meteore , der Sternschnuppen , der Feuerkugeln und der Nordlichter an­ nehmen, daß dann schwer zu begreifen ist , warum sich nicht die ganze Schicht dieser Flüssigkeiten auf einmal entzünde und hingegen gasartige Emanationen, gleich den Wolken , einen beschränkten Raum einnehmen. Wie läßt sich eine elektrische Explosion ohne Anhäufung von Dünsten, die ungleicher Ladung fähig sind, in einer Luft annehmen, deren mittlere Tem­ peratur vielleicht 25° unter Null des hundertteiligen Thermometers und die so dünn ist, daß der Druck des elektrischen Stoßes fast gar keine Wärme darin freisetzen kann? Diese Schwierigkeiten würden großenteils verschwin­ den , wenn die Richtung der Bewegung der Sternschnuppen gestatten könnte , sie als Körper, die einen festen Kern haben , und als kosmische (dem Raum außerhalb der Grenzen der Atmosphäre angehörende , und nicht als tellurische , unserem Planeten ausschließlich zustehende) Phänomene zu be­ trachten. Nimmt man an, die Höhe der Meteore von Cumami sei die gleiche ge­ wesen , in der sich überhaupt die Sternschnuppen bewegen , so waren die gleichen Meteore über dem Horizont in Gegenden sichtbar, die über 310 lieues voneinander entfernt liegen. Welch eine außerordentliche Neigung zu Sturm muß am 12 . November in den oberen Regionen der Atmosphäre statt­ gefunden haben , um vier Stunden lang jene Milliarden von Feuerkugeln und Sternschnuppen zu liefern, die unter dem Äquator, in Grönland und in Deutschland sichtbar waren ! Herr Benzenberg hat scharfsinnig bemerkt, daß die gleiche Ursache , welche die öftere Wiederholung der Erscheinung begründet, auch auf die Größe der Meteore und auf die Stärke ihres Lichts Einfluß habe . In Europa sind die Nächte , worin am meisten Sternschnuppen beobachtet werden, die , in denen man ungewöhnlich hell leuchtende mit überaus kleinen vermischt wahrnimmt . Die Periodizität dieser großen Er­ scheinung steigert das Interesse . In unserer gemäßigten Zone gibt es Mo­ nate , wo Herr Brandes nur 60 bis 80 Sternschnuppen in einer Nacht zählte ; in anderen stieg ihre Zahl auf 2000 an. Wo eine bemerkt wird, die den Durch-

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messer des Sirius oder des Jupiter hat, da darf man sicher annehmen , daß einem solch glänzenden Meteor eine große Zahl kleinerer folgen wird . Wenn die Sternschnuppen eine Nacht durch sehr häufig sind, ist überaus wahr­ scheinlich , dieses Verhältnis werde einige Wochen andauern . Es ist, als ob in diesen oberen Regionen der Atmosphäre , in der Nähe der äußersten Grenze , wo die Zentrifugalkraft von der Schwerkraft im Gleichgewicht ge­ halten wird, periodisch eine besondere Neigung zur Erzeugung von Feuer­ kugeln , Sternschnuppen und Nordlichtern vorherrschend werde . Ist das Periodische dieser großen Erscheinung vom Zustand der Atmosphäre ab­ hängig, oder beruht es auf einem äußeren Einfluß , den die Atmosphäre er­ hält , während die Erde auf der Sonnenbahn vorrückt? Wir sind hierin noch ebenso unwissend, wie man es zur Zeit des Anaxagoras gewesen ist . Was die Sternschnuppen allein betrifft, so halte ich , meinen Erfahrungen nach , dafür, sie kämen in den Äquinoktialgegenden häufiger vor als in der gemäßigten Zone , über den Kontinenten und in der Nachbarschaft gewisser Küsten zahlreicher als auf dem Meer. Können die strahlende Oberfläche des Erdballs und die elektrische Ladung der unteren Regionen der Atmosphäre , die sich je nach der Natur des Bodens und der Lage der Kontinente und Meere ändern, auch auf Höhen, wo ewiger Winter herrscht , noch Wir­ kungen hervorbringen? Die gänzliche Abwesenheit aller, auch der kleinsten Wolken in gewissen Jahreszeiten oder über einigen dürren , von Pflanzen­ wuchs entblößten Erdflächen scheint zu belegen, daß diese Wirkung wenig­ stens bis zu 5000 oder 6000 Toisen Höhe spürbar ist. In einem mit zahlreichen Vulkanen besetzten Land, auf der Höhe der Anden, wurde vor 30 Jahren eine dem Phänomen vom 12 . November [1799] ähnliche Erscheinung beob­ achtet. In der Stadt Quito erblickte man in einer einzigen Himmelsgegend , über dem Vulkan Cayambe , eine solche Menge Sternschnuppen, daß der ganze Berg in Feuer zu stehen schien. Dieses außerordentliche Schauspiel dauerte über eine Stunde . Das Volk lief in der Ebene von Exido zusammen , wo man eine prachtvolle Fernsicht über die höchsten Spitzen der Cordilleren genießt. Bereits war eine Prozession im Begriff, vom Franziskanerkloster auszugehen, als man wahrnahm, daß der Feuerglanz des Horizonts von feu­ rigen Meteoren herrühre, die zur Höhe von 12 oder 15° den Himmel in allen Richtungen durchzogen. *

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Überfahrt von Cumand nach La Guaira - Morro de Nueva Barcelona Vorgebirge Codera - Route von La Guaira nach Caracas

Am 18. November [1799] , um acht Uhr abends , befanden wir uns unter Segel, um längs der Küsten von Cumami in den Hafen von La Guaira, dessen sich die Bewohner der Provinz Venezuela zur Ausfuhr des größten Teils ihrer Erzeugnisse bedienen, überzusetzen. Die Fahrt beträgt nicht über 60 lieues und dauert meist nur 36 bis 40 Stunden. Die kleinen Küstenfahr­ zeuge werden gleichzeitig durch Wind und Strömungen begünstigt. Sie nehmen ihre stärkere oder schwächere Richtung von Osten nach Westen längs der Küste Tierra Firmes , besonders der Vorgebirge von Paria und Chi­ chibocoa. Der Landweg von Cumana nach Nueva Barcelona und von da nach Caracas befindet sich ungefähr noch im selben Zustand wie vor der Ent­ deckung Amerikas . Man hat mit Hindernissen zu kämpfen, die ein schlam­ miges Erdreich , zerstreute Felsblöcke und ein überaus kräftiger Pftanzen­ wuchs darbieten. Man muß die Nächte unter freiem Himmel zubringen, die Täler von Unare , Tuy und Capaya durchwandern und über Bergströme, setzen , die der nahen Berge wegen schnell anschwellen. Zu diesen Schwie­ rigkeiten gesellen sich die Gefahren, welche von der sehr ungesunden Be­ schaffenheit des zu durchreisenden Landes herrühren. Das niedrige Erd­ reich zwischen der Hügelkette der Küsten und dem Meer ist von der Bucht von Mochima bis nach Coro äußerst ungesund. Diese letztere Stadt aber, die von einem sehr ausgedehnten Gehölz von Opuntien umgeben ist , verdankt wie Cumana ein sehr gesundes Klima ihrem überaus dürren Boden und dem Mangel an Regen . Der Landweg wird manchmal für die Rückkehr von Caracas nach Cu­ mana der Überfahrt vorgezogen , um die langsame Fahrt gegen die Strö­ mung zu vermeiden. Der Kurier von Caracas braucht acht Tage für diese Reise . Wir sahen mehrmals Personen, die ihn begleiteten , von Nerven- und miasmatischen Fiebern befallen in Cumana eintreffen. Der Baum , dessen Rinde [Cortex Angosturae unserer Apotheken, die Rinde der Bonplandia trifoliata] ein Heilmittel gegen diese Fieber liefert , wächst in denselben Tä­ lern und am Saum derselben Wälder, deren Ausdünstungen so gefährlich sind. Herr Bonpland hat das Cuspare unter den Gewächsen des Golfes von Santa Fe , zwischen den Häfen von Cumana und Barcelona, gefunden . Der vom Fieber befallene Reisende verweilt in einer Hütte , deren Bewohnern die fiebertilgenden Kräfte der die umliegenden Täler beschattenden Bäume unbekannt sind. Bei der Überfahrt von Cumana nach Guaira lautete unser Plan, in der Stadt Caracas bis zum Schluß der Regenzeit zu verweilen , von da aus über

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die großen Ebenen oder Llanos nach den Missionen am Orinoco zu wan­ dern , südwärts der Katarakte den gewaltigen Fluß aufwärts bis zum Rio Negro und zur Grenze von Brasilien hinaufzufahren und über die Haupt­ stadt des spanischen Guayana, die ihrer Lage wegen gewöhnlich Angostura oder Engpaß genannt wird, nach Cumana zurückzukehren. Es war uns un­ möglich , die Dauer dieser Reise von 700 lieues, wovon zwei Drittel in Kanus zurückgelegt werden mußten, zu bestimmen. Vom Orinoco kennt man in den Küstenländern nur die seiner Mündung nächstgelegenen Teile . Mit den Missionen wird kein Handelsverkehr unterhalten . Alles , was jenseits der Llanos liegt , ist ein den Bewohnern von Cumana und Caracas unbekanntes Land. Die einen glauben , die mit Gras bewachsenen Ebenen von Calabozo dehnten sich 800 lienes südwärts aus und hingen mit den Steppen oder Pampas von Buenos Aires zusammen ; andere erinnern sich der großen Sterblichkeit, die zur Zeit der Unternehmung gegen den Orinoco unter den Truppen von Iturriaga und Solano herrschte , und behaupten , es sei alles süd­ wärts der Katarakte von Altures gelegene Land überaus ungesund. In einer Landschaft, die so selten bereist wird, ist die Schilderung, die man dem Fremden von den Hindernissen gibt, welche Landschaft, Tiere und wilde Menschen ihm bieten werden, meist übertrieben . Obgleich wir nun an diese abschreckenden Mittel, deren sich die Kolonisten mit einer ebenso naiven wie einnehmenden Offenheit zu bedienen wissen , noch nicht gewöhnt waren, bestanden wir nichtsdestoweniger auf der Ausführung unseres Reise­ plans. Wir durften uns auf die Teilnahme und Sorgfalt des Gouverneurs von Cumana, Don Vicente Emparan, verlassen , und ebenso auf die Empfeh­ lungen der Franziskaner-Mönche , die als die wahren Beherrscher der Ge­ stade des Orinoco zu betrachten sind . Zum Glück für uns befand sich einer dieser Ordensmänner, Juan Gon­ zales, eben zu dieser Zeit in Cumana. Der junge Mönch war nur Laien­ bruder, aber er besaß Verstand und Einsicht , einen lebhaften Geist und ent­ schlossenen Mut. Kurz nach seiner Ankunft auf dem Küstenland war er wegen der Ernennung eines neuen Guardians der Missionen von Piritu, was jedesmal der Zeitpunkt großer Agitation im Kloster von Nueva Barcelona ist, bei seinen Oberen in Ungnade gefallen . Die obsiegende Partei übte so weitreichende Reaktionen aus, daß der Laienbruder denselben nicht ent­ gehen konnte ; er wurde nach Esmeralda, der entferntesten Mission am oberen Orinoco , gesandt , die durch eine zahllose Menge schädlicher In­ sekten, von denen die Luft dort stets erfüllt ist, in üblem Ruf steht. Fray Juan Gonzales besaß eine genaue Kenntnis der Waldungen , die sich von den Kata­ rakten bis gegen die Quellen des Orinoco erstrecken. Eine neue Revolution im republikanischen Regiment der Mönche hatte ihn vor ein paar Jahren wieder nach dem Küstenland zurückgeführt, wo er bei seinen Oberen in ver­ dienter Achtung stand. Er bestärkte uns in dem Wunsch , die viel bestrittene

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gabelförmige Teilung (Bifurkation) des Orinoco zu untersuchen . Er erteilte uns guten Rat für die Erhaltung unserer Gesundheit in einer Zone , worin er selbst sehr lange Zeit an Wechselfiebern krank lag. Wir hatten das Ver­ gnügen , den Bruder Juan bei unserer Rückkehr vom Rio Negro in Nueva Barcelona wiederzutreffen . Da er im Begriff war, von Havanna nach Cadiz abzureisen, übernahm er es gefällig, einen Teil unserer Pflanzen- und Insek­ tensammlungen vom Orinoco nach Europa zu bringen. Unglücklicherweise wurden diese Sammlungen wie er selbst eine Beute der Wellen. Der vortreff­ liche junge Mann, der uns herzlich zugetan war und dessen Eifer und Uner­ schrockenheit den Missionen seines Ordens wesentliche Dienste leisten konnte , kam 1801 in einen Sturm vor der afrikanischen Küste ums Leben . Das Schiff, welches uns von Cumana nach Guaira brachte, gehörte zu den Handelsschiffen der Küsten und der Antillen-Inseln . Ihre Länge beträgt 30 und ihre Erhöhung über Bord nicht über 3 Fuß . Sie haben kein Verdeck , und ihre Ladung steigt zusammen auf 200 bis 250 Zentner. Obgleich die See von Kap Codera bis Guaira sehr unruhig ist und die ungemein großen dreiek­ kigen Segel bei den aus den Bergklüften hervorkommenden Windstößen sehr gefährlich sind, kennt man dennoch seit 30 Jahren kein Beispiel eines auf der Überfahrt von Cumana nach den Küsten von Caracas gestrandeten Fahrzeugs . Die Guaikeri-Lotsen sind so geschickte Seeleute , daß auch bei den vielfältigen Reisen, die sie von Cumana nach Guadeloupe oder nach den von verborgenen Klippen umringten dänischen Inseln machen , nur höchst selten von Schiffbrüchigen die Rede ist. Diese Fahrten von 120 bis 150 lieues auf offener See, wo man keine Küsten im Auge behält, geschehen mit unbedeckten Fahrzeugen wie imAltertum, ohne Beobachtung der Son­ nenhöhe , ohne Seekarten, meist sogar auch ohne Bussole . Der indianische Steuermann richtet sich zur Nachtzeit nach dem Polarstern und bei Tage nach dem Sonnenlauf und dem Wind , den er für wenig veränderlich hält. Ich kannte solche Guaikeri und Steuermänner aus der Schicht der Zambos , die den Polarstern nach der Richtung des a und ß des Großen Bären zu finden wußten , und es schien mir, sie steuerten weniger nach der Ansicht des Polar­ sterns als vielmehr nach dieser Richtung. Man erstaunt, wie sie bei erster Landansicht die Inseln Guadeloupe , Saint Croix oder Puerto Rico treffen; aber der Ausgleich der Routenirrtümer während der Reise ist nicht immer so glücklich. Die nach dem Land unter dem Wind fahrenden Schiffe haben viel Mühe , gegen Wind uns Strömungen nach Osten zurückzukommen . In Kriegszeiten büßen diese Steuermänner ihre Unwissenheit und den man­ gelnden Gebrauch des Oktanten oft teuer, weil die Seeräuber in der Nähe derselben Kaps kreuzen , die die vom Kurs abgekommenen Schiffe der Tierra Firme zur Sicherung ihres Weges erkunden müssen. Den kleinen Fluß Manzanares , dessen Krümmungen Cocosbäume - wie bei uns Pappeln und alte Weiden - bezeichnen, fuhren wir schnell hinab . Auf

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dem nahen und öden Strand waren die den Tag über nur an staubigen Blät­ tern erkennbaren Stachelgebüsche nachts von einer Menge glänzender Funken erleuchtet. Die Zahl der phosphoreszierenden Insekten vermehrt sich in der Gewitterzeit . Man mag sich in den Äquinoktialländern an diesen beweglichen rötlichen Lichtpunkten nie satt sehen, deren im hellen Wasser spiegelnde Bilder sich mit den Lichtern am Himmelsgewölbe vermengen . Wir verließen Cumanas Ufer, als hätten wir sie lange Zeit bewohnt . Es war das erste Land , das wir in einer Zone berührt hatten , auf die meine Wün­ sche seit meiner ersten Jugend gerichtet waren. Der Eindruck, den die Natur der indianischen Landschaften hervorbringt, ist so groß und mächtig, daß man nach dem Aufenthalt einiger Monate jahrelang dort gewohnt zu haben glaubt. In Europa wird der Bewohner des Nordens und des flachen Landes von einer fast ähnlichen Rührung ergriffen, wenn er nach einem auch nur kurzen Reiseaufenhalt die Gestade des Golfs von Neapel, die ent­ zückende Landschaft zwischen Tivoli und dem Nemi-See oder die wilden und erhabenen Landschaften des Alpengebirges und der Pyrenäen verläßt. Indessen bietet in der gemäßigten Zone die Physiognomie der Pflanzen überall nur wenig kontrastierende Eindrücke dar. Die Kiefern und Eichen, die auf den schwedischen Bergen wachsen, haben eine gewisse Familienähn­ lichkeit mit denen, die unter Griechenlands und Italiens schönem Klima ge­ deihen . Zwischen den Wendekreisen hingegen, in den niederen Regionen beider Indien , scheint in der Natur alles neu und wunderbar. Im freien Feld wie im Dickicht des Waldes erlöscht beinahe jede Erinnerung an Europa, denn der Pflanzenwuchs ist es, der den Charakter der Landschaft bestimmt . Er ist es, der durch seine Massen , durch den Kontrast seiner Formen und den Glanz seiner Farben auf unsere Phantasie wirkt . Je stärker und neuer die Eindrücke sind, desto mehr werden frühere Eindrücke durch sie ge­ schwächt. Die Stärke ersetzt die längere Dauer. Ich berufe mich auf das Zeugnis derer, die für die Schönheiten der Natur empfänglicher sind als für die Reize des geselligen Lebens und einen langen Aufenthalt in der heißen Zone erlebt haben. Wie teuer und einprägsam bleibt ihnen für ihr ganzes Leben die Küste , an der sie zuerst gelandet sind! Auch in höherem Alter er­ neuert sich eine Art unruhigen Verlangens nach ihrem Wiedersehen . Jetzt noch stellen sich Cumami und sein staubiges Erdreich meiner Phantasie öfter dar als alle Wunder der Cordilleren. Unter des Südens prachtvollem Himmel verschönern das Licht und der luftige Farbenzauber ein von Pflanzen beinahe völlig entblößtes Land. Die Sonne erleuchtet nicht nur, sie gibt den Gegenständen Farbe und umhüllt sie mit einem leichten Dunst , wel­ cher, ohne der Durchsichtigkeit der Luft zu schaden, die Schattierungen har­ monischer macht , die Kraft des Lichts mildert und über die Natur eine Ruhe verbreitet , deren Bild sich in unserem Gemüt spiegelt. Um sich den mäch­ tigen Eindruck zu erklären , den der Anblick der Landschaften in bei den In-

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dien selbst an wald armen Küsten hervorbringt , muß man nur daran denken, daß die Schönheit des Himmels von Neapel gegen den Äquator zu ungefähr in gleichem Maß zunimmt wie von der Provence bis ins südliche Italien. Mit der Flut gelangten wir über die Sandbank , die der kleine Fluß Manza­ nares an seiner Mündung gebildet hat. Der abendliche Seewind warf mäßige Wellen im Golf von Cariaco . Noch war der Mond nicht aufgegangen; aber der Teil der Milchstraße , der sich von den Füßen des Zentaurs bis zum Stern­ bild des Schützen ausdehnt, schien ein silberfarbenes Licht auf der Fläche des Weltmeeres zu verbreiten. Von Zeit zu Zeit zeigte sich zwischen den hohen Gipfeln der das Ufer bekleidenden Cocosbäume der weiße Fels, worauf das San-Antonio-Schloß erbaut ist . Bald erkannten wir die Küste nur noch an den zerstreuten Lichtern der Guaikeri-Fischer. In diesem Au­ genblick fühlten wir doppelt den Reiz der Landschaft und den Schmerz über unsere Abreise. Fünf Monate zuvor hatten wir diese Küste wie ein neu ent­ decktes Land betreten. Alle Umgebungen waren uns damals fremd, und nicht ohne Mißtrauen näherten wir uns jedem Gebüsch , jedem feuchten und schattigen Ort. Jetzt entschwand dasselbe Land unsern Blicken unter zu­ rückbleibenden Erinnerungen, die einen langen Zeitraum zu umfassen schienen . Mit seinem Boden , seinen Felsen, seinen Pflanzen, seinen Bewoh­ nern, mit allem waren wir vertraut geworden . Anfangs segelten wir i n Richtung Nordnordwest , uns der Halbinsel Araya annähernd. Hierauf fuhren wir 30 Meilen westwärts und nach Westsüdwest. In der Nähe der Untiefe , die das Kap Arenas umgibt und sich gegen die Pe­ troleumquellen von Manicuare ausdehnt, genossen wir eines der abwechs­ lungsreichen Schauspiele , welche die starke Phosphoreszenz des Meeres in diesen Gegenden so häufig gewährt. Scharen von Meerschweinen [Tümmler] begleiteten unser Fahrzeug. Fünfzehn oder sechzehn dieser Tiere schwammen in gleichmäßigen Entfernungen. Wenn sie beim Wenden mit ihrer breiten Flosse auf die Wasserfläche schlugen, verbreiteten sie ein glän­ zendes Licht. Es waren wie aus dem Grund des Meeres emporsteigende Flammen. Jede Gruppe ließ , indem sie die Wasserfläche durchschnitt, einen Lichtstreif hinter sich zurück. Dieser Anblick fiel uns um so mehr auf, als die übrigen Wellen kein Phosphorlicht zeigten . Da der Schlag eines Ruders und der Lauf des Schiffs in dieser Nacht nur schwache Funken hervorbrachten , darf man glauben , die von den Meerschweinen veranlaßte Phosphoreszenz sei nicht durch das Schlagen ihrer Flossen allein, sondern auch durch den gal­ lertigen Stoff bewirkt worden, der ihren Körper überzieht und vom Wellen­ schlag abgespült wird. Um Mitternacht fanden wir uns zwischen den ariden und felsigen Inseln , die sich gleich Bollwerken mitten im Meer erheben . Es ist die Gruppe der kleinen Caracas- und Chimanas-Inseln. Der Mond stand über dem Hori­ zont; er beleuchtete diese zerspaltenen Felsen von seltsamer Gestalt ,

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worauf keine Pflanzen wachsen . Die See bildet gegenwärtig zwischen Cu­ maocl und Kap Code ra eine Art Bai oder eine leichte Einbuchtung landein­ wärts. Die kleinen Inseln Picua, Picuita, Caracas und Boracha stellen gleichsam Trümmer der alten Küste dar, die sich von Bordones in gleichar­ tiger Richtung von Osten nach Westen ausdehnte . Hinter diesen Inseln liegen die Golfe von Mochima und von Santa Fe , die ohne Zweifel einst viel besuchte Häfen sein werden. Das zerrissene Erdreich , die gebrochenen und eingesenkten Schichten , alles kündigt sich hier als Wirkung einer großen Umwälzung an . Vielleicht ist es dieselbe , welche die Kette des Urgebirges zerbrach und die Glimmerschiefer von Araya und der Insel Margarita vom Gneis des Cap Codera trennte . Mehrere dieser Inseln können von den Ter­ rassen der Häuser in Cumana gesehen werden, wo sie , je nach den auflie­ genden, mehr oder minder warmen Luftschichten , die außerordentlichsten Erscheinungen von optischen Täuschungen der sogenannten Mirage dar­ stellen. Die Höhe dieser Felsen beträgt wahrscheinlich nicht über 150 Toisen ; aber nächtlich , vom Mond beleuchtet, erscheinen sie ungleich viel höher. Man mag sich wundern , Caracas-Inseln in solcher Entfernung von der Stadt dieses Namens, der Küste der Cumanagotos gegenüber, anzutreffen; allein der Name Caracas bezeichnete zu Beginn der conquista nicht eine be­ sondere Landschaft, sondern einen den Teques, den Taramaynas und Chaga­ ragates benachbarten Indianerstamm . Die Gruppe solch bergiger Inseln , in deren Nähe wir vorbeifuhren , deckte uns vor dem Wind; und bei Sonnenauf­ gang führte uns die Strömung in kleinen Streifen nach der Insel Boracha. Sie ist die größte unter diesen Inseln . Da ihre Felsen sich beinahe senkrecht erheben, fällt der Untergrund steil ab , und zu anderer Zeit sah ich deshalb Fregatten fast unmittelbar am Land ankern. Die Temperatur der Atmo­ sphäre hatte sich seit unserer Durchfahrt zwischen den Inseln des kleinen Ar­ chipels merklich erhöht. Ihre Felsen erhitzen sich den Tag über und geben während der Nacht die absorbierte Wärme durch Ausstrahlung zum Teil wieder ab . Je nach der über den Horizont aufsteigenden Sonne , projizieren sich die Schatten der zerbrochenen Felsmassen auf der Fläche des Ozeans . Die Flamingos begannen ihren Fischfang allenthalben, wo in einer Bucht schmales Ufer die Kalkfelsen einfaßt. Die kleinen Inseln sind gegenwärtig alle ganz unbewohnt; aber auf einer der Caracas-Inseln halten sich wilde Ziegen auf, die braungefärbt, sehr groß und schnelle Läufer sind, auch (wie unser indianischer Lotse bezeugte) ein überaus schmackhaftes Fleisch haben. Vor 30 Jahren wohnte eine Familie weißer Menschen auf der Insel; sie pflanzte Mais und Maniok. Der Vater überlebte seine Kinder und kaufte , weil sein Wohlstand sich vermehrt hatte , zwei schwarze Sklaven . Das verur­ sachte sein Unglück . Er wurde von den Sklaven ermordet . Die Ziegen ver­ wilderten und pflanzten sich fort , was bei den nutzbaren Gewächsen nicht

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der Fall war. Wie das Getreide in Europa , so scheint sich der Mais in Ame­ rika nur durch die Sorgfalt des Menschen, dem er seit der Zeit seiner frühe­ sten Wanderungen folgt, zu erhalten. Wir sehen, wie die nährenden Gräser sich zwar bisweilen aussäen, aber wenn sie sich selbst überlassen bleiben, so zehren die Vögel ihre Samen auf und verhindern die weitere Fortpflanzung. Die zwei Negersklaven der Caracas-Insel waren geraume Zeit dem Arm der Gerechtigkeit entgangen; es fiel schwer, den Beweis des in einer so einsamen Gegend verübten Verbrechens zu führen. Einer von ihnen ist jetzt Scharf­ richter in Cumami . Er war der Denunziant seines Mitschuldigen geworden , und nach der barbarischen Sitte dieses Landes , weil man eben keinen Scharf­ richter hatte, wurde der Sklave begnadigt gegen die übernommene Ver­ pflichtung, alle seit langer Zeit zum Tode verurteilten Gefangenen aufzu­ knüpfen. Man überzeugt sich nur ungern , daß es Menschen gibt , die roh genug sind, um solchen Preis ihr Leben zu erkaufen und jene hinzurichten, die sie kurz zuvor angezeigt haben . Wir verließen Orte , an welche sich solch widrige Erinnerungen knüpfen, und ankerten für etliche Stunden auf der Reede von Nueva Barcelona, bei der Mündung des Rio Neveri , dessen indianischer (Cumanagotos) Name Enipiricuar heißt . Der Fluß ist voll von Krokodilen , die sich bisweilen, vor­ züglich zur Zeit der Windstille , in die offene See hinauswagen. Sie gehören zu der im Orinoco häufig vorkommenden Art, welche dem ägyptischen Kro­ kodil so ähnlich ist, daß sie lange miteinander verwechselt wurden. Man begreift , wie ein TIer, das eine Art Küraß trägt, gegen Salzwasser nicht ge­ rade sehr empfindlich sein kann. Pigafetta schon hatte, wie er uns in seinem kürzlich in Mailand erschienenen Tagebuch meldet, an den Küsten der Insel Borneo Krokodile gesehen, welche zugleich an Land und im Wasser wohnten. Diese Tatsachen müssen den Geologen bedeutend sein , seit ihre Aufmerksamkeit auf die Formationen des Süßwassers und auf die merkwür­ digen Mischungen von Meer- und Flußversteinerungen, die man zuweilen in sehr neuen Gebirgsarten wahrnimmt, gerichtet ist. Der Hafen von Barcelona, dessen Name kaum auf unseren Karten zu finden ist, hat seit 1795 einen sehr bedeutenden Handelsverkehr. Durch ihn werden großenteils die Erzeugnisse des weiten Steppenlandes ausgeführt, das sich vom südlichen Abhang der Küstenkette bis an den Orinoco hin aus­ dehnt und eine fast gleiche Menge Vieh aller Art ernährt wie die Pampas von Buenos Aires. Die Industrie dieser Landschaften gründet sich auf den Be­ darf der Großen und Kleinen Antillen an Pökelfleisch, Ochsen , Maultieren und Pferden. Weil die Entfernung der Küsten Tierra Firmes von denen der Insel Cuba eine 15- bis 18tägige Seefahrt beträgt , ziehen es die Kaufleute von Havanna zumal in Friedenszeiten vor, ihre Vorräte aus dem Hafen von Barcelona zu beziehen, als sich den Gefahren einer langen Seereise in der

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anderen Hemisphäre nach der Mündung des Rio de la Plata auszusetzen. Von einer Bevölkerung von 1 300 000 Schwarzen , welche die Antillen-Inseln jetzt schon haben, fallen auf Cuba allein über 230 000 Sklaven, die mit Hül­ senfrüchten, Pökelfleisch und getrockneten Fischen ernährt werden. Jedes zum Handel mit Pökelfleisch oder dem tasajo der TIerra Firme bestimmte Schiff nimmt eine Ladung von 20 000 bis 30 000 arrobas auf, deren Verkaufs­ wert über 45 000 Piaster beträgt . Die Lage von Barcelona ist für den Vieh­ handel ausnehmend günstig. Die Tiere werden in drei Tagen aus den Llanos nach dem Hafen geführt, während sie wegen der Bergkette des Bergantfn und des Imposible acht bis neun Tage nach Cumana brauchen. Den Angaben zufolge , die ich mir verschaffen konnte, wurden in den Jahren 1799 und 1800 in Barcelona 8000, in Puerto Cabello 6000, in Canipano 3000 Maultiere nach den spanischen , britischen und französischen Inseln eingeschifft. Den Be­ trag der Ausfuhr von Burburata, Coro und den Mündungen des Guarapiche und Orinoco kenne ich nicht genau ; aber ich vermute , trotz der Gründe , die eine Abnahme des Viehbestands in den Llanos von Cumana, Barcelona und Caracas herbeiführten , daß diese ausgedehnten Steppen zu jener Zeit immer noch jährlich dem Handel mit den Antillen nicht unter 30 000 Maul­ tiere lieferten . Rechnet man jedes Maultier zu 25 Piaster (Ankaufpreis) , er­ gibt sich, daß dieser Handelszweig allein nahezu 3 700 000 Franken erbringt ungerechnet den Gewinn , welche die Schiffsfracht abwirft. Herr de Pons, der sonst in seinen statistischen Angaben sehr genau ist, bleibt bei ge­ ringeren Zahlen stehen . Weil er die Llanos nicht selbst besuchen konnte und durch seine amtliche Stellung als Agent der französischen Regierung zu einem bleibenden Aufenthalt in der Stadt Caracas verpflichtet war, haben ihm die Besitzer der hatos [große Viehfarmen] vielleicht allzu niedrige An­ gaben gemacht. Ich werde weiter unten in einem eigenen Kapitel alles zu­ sammenstellen , was den Handel und die landwirtschaftliche Industrie dieser Gegenden betrifft [siehe Kapitel XII in diesem Band. Anm. des Hrsg. ] . Wir landeten am rechten Ufer des Neveri und erstiegen die kleine Festung el Morro de Barcelona, deren Höhe über der Meeresfläche 60 bis 70 Toisen beträgt. Es ist ein jüngst mit Festungswerken versehener Kalkfelsen . Süd­ wärts wird er von einem ungleich höheren Berg beherrscht, und Sachver­ ständige behaupten, es würde dem Feinde leichtfallen, nach einer Landung zwischen der Mündung des Flusses und dem Morro diesen zu umgehen, um auf den umliegenden Höhen Batterien zu errichten. Wir verweilten fünf Stunden in dem kleinen Fort, dessen Bewachung der Landesmiliz anvertraut ist . Vergebens erwarteten wir Nachrichten über die längs der Küste statio­ nierten britischen Korsaren. Zwei unserer Reisegefährten , Brüder des Mar­ ques deI Toro de Caracas , kamen aus Spanien, wo sie in der königlichen Garde gedient hatten. Es waren sehr kultivierte Offiziere, die nach langer Abwesenheit in Gesellschaft des Brigadiers Herrn von Caxigal und des

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Grafen Tovar in ihr Vaterland zurückkehrten . Für sie waren Gefangen­ nahme und Abführung nach Jamaica mehr zu fürchten als für uns. Ich besaß keinen Paß der Admiralität, aber im Vertrauen auf den Schutz, den die briti­ sche Regierung aJIen Reisenden für wissenschaftliche Zwecke angedeihen läßt , hatte ich gleich nach meiner Ankunft in Cumana an den Gouverneur der Insel Trinidad geschrieben, um ihn mit dem Zweck meiner Reisefor­ schungen bekannt zu machen . Die Antwort, welche mir über den Golf von Paria zukam , war sehr befriedigend. Man genießt auf der Höhe des Morro eine ziemlich schöne Aussicht . Die Felseninsel La Boracha liegt öst- , das sehr hohe Vorgebirge Unare westlich , und zu seinen Füßen erblickt man die Mündung des Rio Neveri und die öden Gestade , auf denen die Krokodile in der Sonne schlafen. Trotz der großen Wärme (das den rückpraJIenden Strahlen des weißen Kalkgebirges ausge­ setzte Thermometer stieg auf 38°) durchwanderten wir den Hügel. Ein glück­ licher ZufaJI gestattete uns die Beobachtung einer sehr merkwürdigen geolo­ gischen Erscheinung, die wir seither auch in den mexicanischen Cordilleren wieder antrafen. Der Kalkstein von Barcelona hat einen roheisenartigen , gleichmäßigen oder muscheligen Bruch mit sehr flachen Höhlen. Er ist un­ terteilt in ziemlich winzige Schichten und hat weniger Ähnlichkeit mit dem Kalkstein von Cumanacoa als mit dem von Caripe , der die Höhle des Gua­ charo bildet. Er ist durchzogen von Schichten von Kieselschiefer (Werner, jaspe schisteux) von schwarzer Farbe, muscheligem Bruch, zerbrechend in Bruchstücke in der Art des ParaJIelepipeds . Dieses Fossil [Mineral] enthält die im Lydischen Stein [= Kieselschiefer] so gewöhnlich vorkommenden kleinen Quarzadern nicht. Er zersetzt sich auf seiner Oberfläche in eine graugelbliche Rinde und wirkt nicht auf den Magneten. Mittels seiner etwas durchsichtigen Ränder nähert es sich dem im Sekundärkalkstein so häufig vorkommenden Hornstein. Es ist merkwürdig, den Kieselschiefer hier anzu­ treffen , der in Europa die Gesteine des Übergangs in einen Kalkstein, der dem des Jura sehr analog ist , charakterisiert . Im Studium der Formationen, welches das große Ziel der Geognosie ist, müssen die in beiden Weltteilen er­ worbenen Kenntnisse sich wechselseitig ergänzen. Es scheint , daß sich diese schwarzen Schichten in den Kalkgebirgen der Insel Boracha wiederholen. Herr Bonpland hat einen anderen, unter dem Namen des ägyptischen Kie­ sels bekannten Jaspis in der Nähe des indianischen Dorfes Curacatiche fünf­ zehn lieues südwärts des Morro de Barcelona gefunden , als wir auf der Rück­ kehr vom Orinoco unseren Weg durch die Llanos nahmen und in die Nähe des Küstengebirges kamen. Er steJIte auf braunrotem Grund konzentrische und gelb gebänderte Zeichnungen dar. Mir schien es , als gehörten die abge­ rundeten Stücke des ägyptischen Jaspis auch zum Kalkstein von Barcelona. Nach Herrn Cordier gehören indessen die schönen Kiesel von Suez einer Breccienformation oder einem Kieselkonglomerat an.

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Im Augenblick, als wir am 19 . November [1799] mittags unter Segel gehen wollten, beobachtete ich die Mondhöhe für die Bestimmung der Länge des Morro . Der Unterschied des Meridians zwischen Cumana und der Stadt Bar­ celona, wo ich 1800 eine große Zahl astronomischer Beobachtungen an­ stellte , betrug 0° 34' 48". Ich habe anderswo diesen Unterschied, über wel­ chen damals großer Zweifel waltete , näher geprüft; die Inklination der Ma­ gnetnadel fand ich zu 42 ,20°, die Intensität der magnetischen Kräfte drückte sich durch 224 Schwingungen aus . Von Morro de Barcelona bis zum Cap Codera senkt sich das Land in süd­ licher Richtung; seewärts dehnt es sich bei gleicher Tiefe bis zu drei Meilen Abstand aus. Jenseits dieser Linie ist es 45 bis 50 Faden tief. Die Temperatur der See betrug auf ihrer Oberfläche 25 ,9° ; als wir hingegen über den schmalen Kanal fuhren , der die zwei Piritu-Inseln trennt, wo der Grund drei Faden tief ist, zeigte das Thermometer nur noch 24,5°. Der Unterschied war stets derselbe ; er wäre beträchtlicher gewesen, wenn die sich westwärts schnell fortbewegende Strömung tieferes Wasser emporhöbe und wenn in einem Durchlaß von solch geringer Breite das Land nicht zur Erhöhung der Seetemperatur beitrüge . Die Piritu-Inseln gleichen den von Wasser be­ deckten Untiefen, welche zur Zeit der Ebbe sichtbar werden . Sie sind nur acht bis neun Zoll über den mittleren Wasserstand erhöht. Ihre vollkommen glatte Oberfläche ist mit Gramineen bewachsen. Man glaubt einen Wiesen­ grund unseres Nordens zu erblicken. Die Scheibe der untergehenden Sonne sah einer über der Savanne aufgehängten Feuerkugel ähnlich. Ihre letzten über die Erde hinstreifenden Strahlen beleuchteten die Spitzen des vom abendlichen Seewind bewegten Grases . Wo in niedrigen und feuchten Ge­ genden der Äquinoktialzone Gräser und Binsen den Anblick von Wiesen oder von Rasen gewähren , da fehlt dem Bild fast immer seine Hauptzierde; ich meine diese Mannigfaltigkeit wilder Wiesenblumen , die kaum über die Gräser emporstehen , aber sich vom gleichförmigen Grün abheben. Stärke und Üppigkeit des Pflanzenwuchses begründen in den Tropenländern eine solche Entwicklung der Gewächse , daß auch die kleinsten Dicotyledonen­ Pflanzen zu Sträuchern werden . Die mit den Gräsern vermischten Liliaceen scheinen die Stellvertreter unserer Wiesenblumen zu sein . Sie beeindrucken durch ihre Form und zeichnen sich in ihrer Mannigfaltigkeit und dem Glanz ihrer Farben aus , aber die beträchtliche Höhe, in der sie über der Erde stehen, stört die harmonischen Verhältnisse , welche zwischen den Pflanzen herrschen, aus denen unsere Rasen und Wiesen bestehen . Die wohltätige Natur hat der Landschaft unter jeder Zone eine eigentümliche Schönheit verliehen . Es darf keine Verwunderung erregen , wenn fruchtbare , dem Festland so naheliegende Inseln gegenwärtig unbewohnt sind. Nur im ersten Zeitraum nach der Entdeckung, als die Indianerstämme der Cariben, Chaimas und

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Cumanagotos noch Herren der Küste waren , errichteten die Spanier Nieder­ lassungen auf Cubagua und Margarita . Sobald die Eingeborenen unterjocht oder südwärts gegen die Savannen vertrieben waren, zogen sie die Ansied­ lungen auf dem Festland vor, weil man hier doppelte Auswahl des Bodens und der Indianer hatte, deren man sich gleich Lasttieren bedienen konnte . Würden die kleinen Inseln Tortuga, Blanquilla und Archilla sich mitten in der Antillengruppe befinden, so wären sie wohl nicht völlig öde geblieben . Schiffe mit großem Tiefgang fahren zwischen der Tierra Firme und der südlichsten der Piritu-Inseln hindurch . Weil diese sehr niedrig sind, ist ihre Nordspitze bei den Steuermännern, welche diese Gegenden besuchen , ge­ fürchtet . Als wir uns westwärts vom Morro de Barcelona und der Mündung des Rio Unare befanden , würde die bis dahin stille See um so unruhiger und ungestümer, je mehr wir uns Kap Codera näherten. Der Einfluß dieses großen Vorgebirges ist in diesem Abschnitt des Antillenmeers weit hinaus spürbar. Von mehr oder weniger Leichtigkeit, womit man das Kap Codera umsegelt , hängt die Dauer der Überfahrt von Cumana nach Guaira ab . Jen­ seits dieses Vorgebirges ist das Meer stets dermaßen stürmisch, daß man sich nicht in der Nähe einer Küste zu befinden glaubt, an der (von der Spitze von Paria bis zum Cabo San Romano) keine Windstöße zu besorgen sind. Das Anschlagen der Wellen wurde in unserem Fahrzeug sehr spürbar. Meine Rei­ segefährten standen viel Ungemach aus; ich schlief ruhig, weil ich das ziem­ lich seltene Glück habe , nie seekrank zu werden. Ein kühler Wind wehte die Nacht durch . Am 20 . November [1799] , bei Sonnenaufgang, waren wir so weit vorgerückt , daß wir hoffen durften, in ein paar Stunden das Kap zu um­ segeln ; wir glaubten am gleichen Tag in Guaira einzutreffen , aber unser in­ dianischer Steuermann fürchtete sich wieder vor den in Hafennähe statio­ nierten Korsaren . Es schien ihm ratsamer, an Land zu gehen und in dem kleinen Hafen von Higuerote zu ankern , an dem wir bereits vorbeigesegelt waren , und zur Fortsetzung unserer Überfahrt die Nacht abzuwarten. Wenn man Seekranken ein Mittel, an Land zu kommen, vorschlägt, kann man ihres Entschlusses sicher sein . Gegenvorschläge waren umsonst, man mußte nachgeben; und am 21. November [ 1799] , neun Uhr morgens, befanden wir uns bereits auf der Reede in der Bucht von Higuerote, westwärts der Mün­ dung des Rio Capaya. Hier fanden wir weder Dorf noch einen Hof, aber zwei oder drei von armen Metisfischern bewohnte Hütten. Die bleiche Gesichtsfarbe und die außerordentliche Magerkeit der Kinder erinnerten uns , daß dieser Ort einer der ungesündesten und fieberhaftesten der ganzen Küste ist. Die See er­ scheint in diesen Gegenden so seicht, daß man auch in der kleinsten Barke nicht landen kann, ohne im Wasser zu gehen. Die Waldung dehnt sich bis ans Gestade aus, welches mit dichtem Gebüsch von Mangroven (rhizophora mangle) , Manschenillenbäumen und der neuen Art der Gattung Suriana,

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welche die Eingeborenen Romero de la mar [Suriana maritima] nennen, be­ wachsen ist. Dieser Waldung und hauptsächlich den Ausdünstungen der Wurzel- oder Leuchterbäume wird hier wie überall in beiden Indien die höchst ungesunde Beschaffenheit der Luft zugeschrieben. Als wir vom Land noch 15 bis 20 Toisen entfernt waren, kam uns ein schaler und süßlicher Ge­ ruch entgegen, der mich an den erinnerte , der in Galerien verlassener Berg­ werke , da , wo die Lichter anfangen auszulöschen, der flockige Byssus ver­ breitet. Die Lufttemperatur stieg auf 34° durch die Reflexion des weißen Sandes, der zwischen den Mangroven und den hochstämmigen Waldbäumen einen Streifen bildete . Weil sich das Land durch einen sanften Abhang ver­ tieft, reicht die schwache Flut hin, um die Wurzeln und einen Teil des Stammes dieser Bäume wechselnd zu benetzen und wieder trocknen zu lassen. Während das feuchte Holz von der Sonne erwärmt und das schlam­ mige Erdreich den Detritus abgestorbener Blätter und die in Resten schwim­ menden Tangs eingehüllten Mollusken gären läßt, bilden sich vermutlich diese schädlichen Gase , die sich unseren Forschungen entziehen . Längs der ganzen Küste bemerkten wir, daß überall, wo das Seewasser mit den Wurzel­ bäumen [ Mangroven , Anmerkung des Hrsg. ] in Berührung kommt, seine Farbe braungelb wird. Von diesem Phänomen beeindruckt, sammelte ich in Higuerote eine be­ trächtliche Menge von Zweigen und Wurzeln , um gleich bei meiner Ankunft in Caracas einige Versuche über die Infusion des Mangrovenholzes auszu­ führen . Der Aufguß mit heißem Wasser hatte eine braune Farbe und einen zusammenziehenden Geschmack. Er enthielt eine Mischung von Extraktiv­ und Gerbstoff. Der Wurzelbaum der Mangrove , der Guy, der Cornouiller, alle zu den natürlichen Familien der Lorantheen und Caprifoliaceen gehö­ rigen Pflanzen besitzen dieselben Eigenschaften. Der Aufguß des Wurzel­ baums, unter einer Glocke zwölf Tage lang mit der atmosphärischen Luft in Berührung gebracht , veränderte seine Reinheit nicht merklich. Es bildete sich ein schwacher flockiger Niederschlag von schwärzlicher Farbe , aber eine fühlbare Absorption von Sauerstoff fand nicht statt. Wurzeln und Holz des Baums wurden, mit Wasser übergossen , den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Ich wollte nachahmen, was die Natur täglich bei ansteigender Flut am Ge­ stade tut. Es entwickelten sich Luftblasen, die im Zeitraum von zehn Tagen 33 Kubikzoll betrugen . Es war eine Mischung von Stickstoff und Kohlen­ säure . Die Salpeterluft zeigte kaum eine Gegenwart von Sauerstoff an. End­ lich beobachtete ich die Wirkung des stark angefeuchteten Holzes und der Wurzeln der Mangrove auf eine bestimmte Menge atmosphärischer Luft in einer hermetisch verschlossenen Flasche . Der Sauerstoff verschwand gänz­ lich , und weit entfernt, von Kohlensäure ersetzt zu werden, gab das Kalk­ wasser von diesem letzteren nur 0,02 Teile an. Es zeigte sich sogar eine grö­ ßere Raumverminderung, als dem absorbierten Sauerstoff entsprach. Diese

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nur flüchtigen Versuche führten mich auf die Vermutung, daß vielmehr die feuchten Wurzeln und Rinden in den Waldgegenden des Wurzelbaums viel mehr auf die Atmosphäre einwirken als hingegen die gelb gefärbte Wasser­ schicht, welche einen eigenen Streifen in der See längs des Strandes bildet. Indem ich die verschiedenen Grade der Zersetzung der Holzsubstanz ver­ folgte , konnte ich keine Spur der Entwicklung jenes geschwefelten Wasser­ stoffs entdecken, welchem verschiedene Reisende den Geruch zuschreiben, den man in der Nähe der Wurzelbäume wahrnimmt. Die Zersetzung der schwefelsauren Erden, Alkalien und ihr Übergang in Schwefel begünstigen ohne Zweifel diese Entwicklung in verschiedenen Küsten- und Meer­ pflanzen, zum Beispiel in den Meergräsern ; mir kommt jedoch wahrschein­ licher vor, die durch Rhizophoren, Avicennien und Conocarpus vermehrte ungesunde Luftbeschaffenheit beruhe auf dem tierischen Stoff, den sie ge­ meinsam mit dem Gerbstoff enthalten. Diese Sträucher gehören drei natür­ lichen Familien an, den Lorantheen , den Combretaceen und den Pyrena­ ceen, die den adstringierenden Grundstoff reichlich enthalten, von dem bereits oben bemerkt wurde , daß er nebst der Gallerte auch in den Rinden unserer Buchen, Erlen und Nußbäume vorhanden ist . Dazu kommt , daß ein dichtes Gebüsch , welches einen schlammigen Boden bedeckt, die Luft mit schädlichen Ausdünstungen auch dann erfüllte , wenn die Bäume , die das Gebüsch bilden, keinerlei schädliche Eigen­ schaften an sich trügen . Allenthalben, wo sich Mangroven am Meeresufer ansiedeln , da sammelt sich am Strand eine zahllose Menge Weichtiere und Insekten. Diese Tiere lieben Schatten und Dämmerung; sie finden Schutz vor dem Wellenschlag zwischen dem Gerüst dichter und miteinander ver­ schlungener Wurzeln, welche gitterförmig über die Wasserfläche empor­ stehen . Die Schaltiere befestigen sich an diesem Gitter, die Krabben nisten sich in den hohlen Baumstämmen ein , das Meergras , durch Flut und Winde ans Ufer getrieben, bleibt an den umgebogenen, sich zur Erde neigenden Ästen hängen. So geschieht es , daß die Küstenwälder, indem sie zwischen ihren Wurzeln schlammigen Morast sammeln , den Umfang des Festlands vergrößern; während sie jedoch der See Raum abgewinnen, nehmen sie an Breite nur wenig zu. Ihre Fortschritte begründen wiederum auch ihre Zer­ störung. Die Wurzelbäume sowie die übrigen Gewächse , welche ihre steten Begleiter sind, gehen zugrunde , sobald ihr Boden austrocknet und sie nicht mehr vom Salzwasser bespült werden . Ihre mit Schaltieren bedeckten und halb im Sand vergrabenen alten Stämme bezeichnen nach dem Verlauf von Jahrhunderten noch den auf ihren Wanderungen befolgten Weg und die Grenze des dem Weltmeer durch sie abgewonnenen Landes . Die Bai von Higuerote hat eine ungemein günstige Lage für die Ansicht des Kap Codera , das sich in der Entfernung von sieben Meilen ihr gegenüber der ganzen Länge nach darstellt . Seine Masse macht dieses Vorgebirge be-

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deutender als seine Höhe , die den am Strand aufgenommenen Höhenwin­ keln zufolge nicht über 200 Toisen zu betragen schien . An der Nord- , Ost­ und Westseite ist es senkrecht abgeschnitten. Man glaubt eine Schichtennei­ gung in seinen großen Profilen zu erkennen. Den längs der Küste vorkom­ menden Bruchstücken des Felsengebirges und den in der Nähe von Higue­ rote befindlichen Hügeln zufolge besteht Kap Codera nicht aus körnigem Granit, sondern aus echtem Gneis von blättriger Textur. Die Blättchen sind sehr breit und bisweilen krummgebogen [dickfasriger Gneis] ; sie enthalten große Knoten von rötlichem Feldspat und nur wenig Quarz. Der Glimmer kommt in aufeinanderliegenden Flittern, nicht aber vereinzelt vor. Das Streichen der der Bucht zunächst gelegenen Schichten war N 60° 0 mit nord­ westlichem Fallen von 80°. Diese Richtungs- und Neigungsverhältnisse treffen mit denen des großen Gebirges la Silla in der Nähe von Caracas und östlich von Manicuare auf der Landenge von Araya zusammen. Sie scheinen zu beweisen , daß die ursprüngliche Bergkette dieser Landenge , nachdem sie auf einer Länge von 35 lieues von der See zerrissen oder verschlungen wurde, am Kap Codera wieder zum Vorschein kommt und sich von da west­ wärts als Küstenkette fortsetzt. Man versicherte mir, es fänden sich im Inneren des Landes , südwärts von Higuerote , Kalkformationen . Was den Gneis betrifft, so äußerte er keine Wirkung auf die Bussole ; inzwischen fand ich längs der Küste , die eine Bucht gegen Kap Code ra bildet und mit schöner Waldung bewachsen ist , magneti­ schen Sand mit Glimmerfiittern vermischt, die das Meer anspült . Dieses Phänomen wird gleichfalls in der Nähe des Hafens von Guaira wahrge­ nommen; vielleicht verrät es das Dasein irgendeiner vom Wasser bedeckten Lage von Hornblendeschiefer ( Schiste amphibolique ) , worin der Sand ver­ streut ist. Auf seiner Nordseite bildet Kap Codera ein ungemein großes sphä­ risches Segment . An seinem Fuß dehnt sich ein sehr niedriges Erdreich aus, das den Seefahrern unter dem Namen der Landspitzen Tutumo und San Francisco bekannt ist . Meinen Reisegefährten war das Schwanken unseres kleinen Fahrzeugs auf der unruhigen und stürmischen See so besorgniserregend geworden , daß sie sich entschlossen , den Weg von Higuerote nach Caracas über Land zu nehmen; er führt über ein wildes und feuchtes Land, durch die Montaiia de Capaya nordwärts von Caucagua, durch das Tal von Rio Guatire und Gua­ renas . Es kam mir gelegen , daß auch Herr Bonpland diesen Landweg vorzog, der ihm trotz des anhaltenden Regens und der ausgetretenen Flüsse eine reiche Sammlung neuer Pflanzen einbrachte. Ich selbst hingegen vollen­ dete mit dem Guaikeri-Piloten die Seeüberfahrt, weil ich die Instrumente , deren wir uns am Orinoco bedienen sollten, nicht ratsam fand zu verlassen. Wir fuhren bei Eintritt der Nacht ab . Der Wind war nicht sehr günstig, und wir hatten Mühe , an Kap Codera vorbeizusegeln . Die kurzen Wellen bra-

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chen oft übereinander. Man mußte die Ermüdung eines sehr heißen Tages fühlen, um in dem voll und bei Wind gehenden kleinen Fahrzeug schlafen zu können. Die See ging um so höher, als der Wind bis nach Mitternacht gegen die Strömung blies . Die allgemeine , westwärts gerichtete Bewegung der Ge­ wässer zwischen den Wendekreisen ist längs den Küsten nur während der zwei letzten Drittel des Jahres bedeutend spürbar. In den Monaten Sep­ tember, Oktober und November tritt der Fall oft ein, daß die Strömung 14 oder 20 Tage anhaltend ihre Richtung ostwärts nimmt. Es geschah wohl auch schon , daß Schiffe , die von Guaira nach Porto Cabello fuhren, nicht gegen die von Westen nach Osten gehende Strömung, selbst mit gutem Wind, anzukommen vermochten. Die Ursache dieser Abweichungen ist bisher unbekannt geblieben . Die Piloten glauben , sie seien Wirkungen nord­ westlicher Windstöße im Golf von Mexico : Indessen zeigen sich diese Wind­ stöße gegen den Frühling ungleich stärker als im Spätjahr. Bemerkenswert ist dabei auch der Umstand, daß die Strömung nach Osten dem veränderten Seewind vorhergeht ; sie nimmt bei völliger Windstille ihren Anfang, und einige Tage später folgt dann auch der Wind der Strömung und fixiert sich als Westwind. Das Spiel des kleinen barometrischen Steigens und Sinkens dauert während dieser Erscheinungen ununterbrochen fort. Am 21. November [1799] , bei Sonnenaufgang, befanden wir uns west­ wärts von Kap Codera , Cura�ao gegenüber. Den indianischen Piloten er­ schreckte eine englische Fregatte , die wir nördlich in der Entfernung einer Meile erblickten. Sie hielt uns ohne Zweifel für eines der Fahrzeuge, die Schleichhandel mit den Antillen treiben und die (wie sich nach und nach alles regelmäßig einrichtet) mit vom Gouverneur der Insel Trinidad unter­ zeichneten Lizenzen versehen sind. Wir wurden von dem Boot, das sich zu nähern schien, nicht einmal angerufen. Vom Vorgebirge Codera an ist die Küste felsig und sehr erhöht ; sie bietet wilde und malerische Landschaften dar. Wir befanden uns in solcher Nähe vom Ufer, daß wir die zerstreuten , von Cocospalmen umgebenen Hütten und die vegetabilischen Massen, welche sich vom braunen Felsengrunde abhoben, deutlich unterscheiden konnten. Die Berge sind überall in einer Höhe von 3000 bis 4000 Fuß senk­ recht abgeschnitten. Sie warfen breite und dichte Schatten über das feuchte , sich bis ans Meer ausdehnende und mit frisch glänzendem Grün bedeckte Erdreich. Dieses Küstenland erzeugt großenteils die Früchte warmer Länder, die man in so großem Überfluß auf den Märkten von Caracas an­ trifft. Zwischen Camburi und Naiguata dehnen sich mit Zuckerrohr und Mais bepflanzte Felder in enge Täler aus, welche Felsrissen oder Bergspalten ähnlich sind. Die Strahlen der noch niedrig stehenden Sonne drangen in sie ein und bildeten die seltsamsten Kontraste von Licht und Schatten. Der Naiguata und die Silla von Caracas sind die höchsten Berggipfel dieser Küstenkette . Die zweite erreicht fast die Höhe des Canigou [2785 m] ;

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man glaubt, die von ihrem Schnee entblößten Pyrenäen oder das Alpenge­ birge dem Wasser entsteigen zu sehen, so vergrößert erscheint die Masse der Berge , wo man sie zum ersten Mal von der See aus erblickt . In der Nähe von Caravalleda erweitert sich das angebaute Land; man trifft hier Hügel mit sanften Abhängen an , und die Vegetation erreicht eine bedeutende Höhe . Es wird dort viel Zuckerrohr gezogen , und die Barmherzigen Brüder be­ sitzen hier eine Pflanzung mit 200 Sklaven. Vormals war dieser Ort überaus fieberverseucht, und man behauptet, er sei gesünder geworden, seit die Ufer eines Teichs mit Bäumen bepflanzt wurden, dessen Ausdünstungen man für gefährlich hielt und der jetzt der Sonnenhitze weniger ausgesetzt ist. West­ wärts von Caravalleda dehnt sich eine , jedoch nur schmale und aride Felsen­ mauer abermals gegen die See hinaus. Nachdem wir sie umsegelt hatten, er­ blickten wir gleichzeitig die schöne Landschaft, in der das Dorf Macuto liegt, die schwarzen, mit Stockwerken gleich übereinanderliegenden Batte­ rien besetzten Felsen von Guaira und in dunstiger Ferne ein langes Vorge­ birge mit kegelförmigen und glänzend weißen Bergspitzen , das Cabo Blanco . Das Gestade ist mit Cocosbäumen besetzt und erhält dadurch unter diesem heißen Himmelsstrich ein fruchtbares Aussehen. Als wir im Hafen von Guaira gelandet waren , traf ich noch am gleichen Abend Anstalten zum Transport meiner Instrumente nach Caracas. Die Per­ sonen, an welche ich empfohlen war, rieten mir, nicht in der Stadt zu über­ nachten, wo das Gelbe Fieber vor wenigen Wochen noch herrschte, sondern oberhalb des Dorfes Maiquetia in einer auf einer kleinen Anhöhe sich befin­ denden und den kühlen Winden mehr als Guaira ausgesetzten Wohnung. In Caracas [in Guaira! ! , Anmerkung des Hrsg .] traf ich am 21. November [1799] abends ein , vier Tage früher als meine Reisegefährten, die auf dem Landweg zwischen Capaya und Curiepe durch Platzregen und ausgetretene Bergströme viel Ungemach erlitten. Um nicht mehrmals auf dieselben Gegenstände zu­ rückkommen zu müssen, will ich hier der Beschreibung von Guaira und von der außerordentlichen Straße , die aus diesem Hafen nach der Stadt Caracas führt, alles das hinzufügen , was Herr Bonpland und ich auf einem Ende Januar 1800 nach dem Cabo Blanco gemachten Ausflug beobachtet haben. Weil Herr De Pons eben diesen Ort später besuchte und sein lehrreiches Werk hingegen früher als das meine erschienen ist, werde ich, was bereits von ihm befriedigend behandelt worden ist, nicht nochmals ausführlich be­ schreiben . [Über La Guaira und sein Klima]

La Guaira ist eher eine Reede als ein Hafen zu nennen; die See ist dort immer stürmisch, und die Schiffe werden gleichzeitig durch Windstöße , Sandbänke, schlechten Ankergrund und den Schiffswurm [ Teredo navalis ,

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L . ] gefährdet. Die Schiffe können nur mühsam geladen werden, und die Wellen gehen auch so hoch , daß man nicht wie in Nueva Barcelona und in Porto Cabello Maultiere einschiffen kann . Die Neger und die freien Mu­ latten , welche den Cacao in die Schiffe tragen , sind Menschen von außeror­ dentlicher Körperstärke . Sie gehen bis zur Hälfte des Leibes im Wasser und haben, was sehr merkwürdig ist, von den in diesem Hafen in Menge vorkom­ menden Haifischen nichts zu fürchten . Diese Tatsache scheint sich dem anzu­ schließen , was ich zwischen den Wendekreisen hinsichtlich anderer gesell­ schaftlich beisammen lebender Tiere , zum Beispiel an Affen und Kroko­ dilen, beobachten konnte . In den Missionen am Orinoco und am Amazo­ nenfluß wissen die Indianer, die Affen zum Verkauf einfangen , sehr wohl, daß sie diejenigen dieser Tiere , welche auf gewissen Inseln wohnen , ohne große Mühe zu zähmen imstande sind , während die auf dem nahen Festland eingefangenen Affen gleicher Art, sobald sie sich in der Gewalt des Men­ schen fühlen , aus Wut oder aus Furcht dahinsterben. Die Krokodile in einem der kleinen Llanos-Seen sind feig und fliehen sogar im Wasser, während die eines anderen Sees mit kühner Unerschrockenheit angreifen. Es dürfte schwerfallen, diese ungleichen Sitten und Gewohnheiten aus der Lage der Örtlichkeiten zu erklären. Mit den Haifischen im Hafen von Guaira scheint es sich ähnlich zu verhalten . Sie sind gefährlich und blutgierig auf den der Küste von Caracas gegenüberliegenden Inseln , auf den Roques, in Bonaire und Curas;ao , während sie die Schwimmer in den Häfen von Santa Marta und Guaira nicht angreifen. Das Volk, welches , um sich die Erklärung der Naturerscheinungen zu vereinfachen, überall zum Wunderbaren Zuflucht nimmt, behauptet, an bei den Orten habe ein Bischof den Haifischen seinen Segen erteilt . Die Lage von Guaira ist sehr außergewöhnlich und läßt sich nur mit der von Santa Cruz de Teneriffa vergleichen. Die Bergkette, welche den Hafen vom Hochtal von Caracas trennt , grenzt fast unmittelbar ans Meer, und die Häuser der Stadt sind an steile Felsen gebaut. Zwischen dieser Felsenmauer und der See bleibt kaum noch ein flaches Erdreich von 100 bis 140 Toisen Breite übrig . Die Stadt hat 6000 bis 8000 Einwohner und besteht nur aus zwei parallelen , von Osten nach Westen gerichteten Straßen. Sie wird von der Batterie des Cerro Colorado beherrscht, und ihre Festungswerke längs der Küste sind wohl angelegt und gut unterhalten. Der Anblick dieser Ge­ gend hat etwas Einsames und Trauriges ; man glaubt eher, sich auf einer von Erdreich und Pflanzenwuchs entblößten Felseninsel als auf einem mit ausge­ dehnten Waldungen bewachsenen Kontinent zu befinden. Das Kap Blanco und die Cocosbäume von Maiquetia ausgenommen , sind es der Seehorizont und das azurne Himmelsgewölbe , welche die ganze Landschaft ausmachen. Den Tag über und nicht selten auch die Nacht hindurch ist die Hitze erstik­ kendo Mit Recht wird das Klima von Guaira für wärmer gehalten als das von

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Cumana, Puerto Cabello und Coro, weil der Abendwind von der See her dort seltener ist und weil die senkrechten Felsen durch ihren nach Sonnenun­ tergang strahlenden Wärmestoff die Luft erhitzen. Inzwischen reicht es zur Beurteilung der atmosphärischen Verhältnisse dieser Gegend und des ganzen benachbarten Küstenlandes nicht aus , die durch Thermometergrade bezeichneten Temperaturen zu vergleichen . Eine stagnierende , in einer Bergkluft eingeschlossene , mit unbekleideten Felsmassen in Berührung ste­ hende Luft wirkt anders auf unsere Organe als eine ebenso warme Luft in der offenen Landschaft. Es liegt mir zwar fern , die physische Ursache dieser Verschiedenheiten allein in den Abweichungen der elektrischen Ladung der Luft suchen zu wollen ; jedoch muß ich die Bemerkung beifügen , daß ich öst­ lich von Guaira, gegen Macuto hin, entfernt von den Häusern und über hun­ dert Toisen von den Gneisfelsen, mehrere Tage hindurch kaum einige schwache Zeichen positiver Elektrizität wahrnehmen konnte , während ich in Cumana, in den gleichen Nachmittagsstunden und durch dasselbe, mit einem rauchenden Docht ausgestattete Elektrometer Voltas , das ein bis zwei Linien betragende Auseinanderweichen der Korkkügelchen beobach­ tete . Ich werde in der Folge die regelmäßigen Abweichungen darstellen, welche die elektrische Spannung der Luft in der heißen Zone täglich erfährt und die in auffallender Beziehung zu den Variationen der Temperatur und Sonnenhöhe stehen . Die Prüfung der von einem ausgezeichneten Arzt [Don Jose Herrera, Kor­ respondent der Medizinischen Gesellschaft in Edinburgh] während neun Monaten in Guaira angestellten thermometrischen Beobachtungen hat mich befähigt, zwischen dem Klima dieses Hafens und dem von Cumana, Havanna und Vera Cruz Vergleiche anzustellen . Diese sind um so interes­ santer, da sie eben auch den unerschöpflichen Gegenstand der Tagesge­ spräche in den spanischen Kolonien und unter den diese Gegenden besu­ chenden Seefahrern liefern . Weil in Dingen solcher Art nichts trügerischer als das Zeugnis der Sinne ist, läßt sich über klimatische Unterschiede nur aufgrund der Zahlenverhältnisse entscheiden. Die vier soeben genannten Orte werden für die wärmsten des amerikani­ schen Küstenlandes gehalten; ihr Vergleich kann zur Bestätigung der schon öfters von uns gemachten Bemerkung dienen, daß allgemein mehr die Dauer eines hohen Wärmegrades als das Übermaß der Wärme selbst oder ihr Extrem die Bewohner der heißen Zone leiden läßt . Das Mittel der Mittagsbeobachtungen vom 27. Juni bis zum 16. November war in Guaira 31,6° des hundertteiligen Thermometers; in Cumana 29 ,3°; in Vera Cruz 28 ,7°; in Havanna 29 ,5°. Der Unterschied der Tage überschritt zur selben Stunde kaum das Maß 0 ,8° bis 1,4°. Diese ganze Zeit über regnete es nur viermal, und nur 7 bis 8 Minuten lang . Es ist dies die Zeit, in der das Gelbe Fieber herrscht, das gewöhnlich in Guaira wie in Vera Cruz und auf

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der Insel Saint Vincent verschwindet, wenn die Tagestemperatur unter 23 oder 24° herabsinkt . Die mittlere Temperatur des wärmsten Sommermonats war in Guaira ungefähr 29 ,3°; in Cumana 29 ,1°; in Vera Cruz 27,7°; in Kairo nach Nouets Angabe 29 ,9°; in Rom 25,0°. Vom 16. November bis zum 19. De­ zember betrug die mittlere Temperatur in Guaira um die Mittagsstunde nur 24,3°, nachts 21,6°. In dieser Zeit leidet man am wenigsten unter der Hitze . Ich denke jedoch , das Thermometer fällt (kurz vor Sonnenaufgang) nicht unter 21°; in Cumana sinkt es bisweilen auf 21,2°; in Vera Cruz auf 16°; in Havanna (nur wenn der Nordwind weht) auf 8° und sogar noch tiefer. Die mittlere Temperatur des kältesten Monats beträgt an diesen vier Orten 23 ,2°; 26,8°; 21,1°; 21,0°. In Kairo beträgt sie 13 ,4°. Die mittlere Temperatur des ganzen Jahres beträgt zufolge guter und sorgfältig berechneter Beobach­ tungen in Guaira fast 28,1°; in Rio de Janeiro 23 ,5°; in Santa Cruz de Tene­ riffa, das unter 28° 28 ' Breite liegt , aber wie Guaira an eine Felsmauer ange­ lehnt ist, 21,9°; in Kairo 22 ,4°; in Rom 15 ,8° . Aus der Gesamtheit dieser Beobachtungen geht hervor, daß Guaira einer der heißesten Orte der Erde ist; daß die Wärmernasse , die es im Lauf eines Jahres erhält, etwas größer ist als die , welche man in Cumana fühlt ; daß aber in den Monaten November, Dezember und Januar (in gleicher Entfernung von den zwei Sonnendurchgängen durch den Zenit der Stadt) die Atmo­ sphäre in Guaira kühler wird . Könnte diese Abkühlung, welche ungleich ge­ ringer ist als die , welche man ungefähr gleichzeitig in Vera Cruz und in Ha­ vanna verspürt , nicht eine Folge der westlicheren Lage von Guaira sein? Der Luftozean, welcher beim ersten Anblick nur eine einzige Masse zu bilden scheint, wird durch Strömungen in Bewegung gesetzt, deren Grenzen von unveränderlichen Gesetzen bestimmt sind. Seine Temperatur wird durch die verschiedene Gestalt der Länder und der Meere , auf denen er ruht, unter­ schiedlich modifiziert. Er kann in diverse große Becken unterteilt werden , deren eine sich in die anderen entleeren und wovon die unruhigsten (zum Beispiel das über dem mexicanischen Meerbusen oder zwischen Sierra de Santa Marta und dem Golf von Darien befindliche) einen bedeutenden Einfluß auf die Abkühlung und Bewegung der benachbarten Luftsäulen haben . Die Nordwinde verursachen bisweilen im südwestlichen Teil des An­ tillenmeeres ein Zurückschlagen und Gegenströmungen, die in gewissen Monaten die Wärme bis nach der Tierra Firme hin zu vermindern scheinen.

[Über das Gelbe FieberJ

Zur Zeit meines Aufenthalts in Guaira war die Seuche des Gelben Fiebers oder die calentura amarilla erst seit zwei Jahren bekannt; auch war die Sterb­ lichkeit bisher noch nicht sehr beträchtlich gewesen, weil der Zufluß der

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Fremden an der Küste von Caracas geringer ist als in Havanna und in Vera Cruz. Man hatte von Zeit zu Zeit einzelne Personen, selbst Creolen und Far­ bige , an gewissen ataxischen [verbunden mit Störungen der körperlichen Bewegungen] , nachlassenden Fiebern plötzlich sterben sehen, die durch Komplikationen der Galle , Blutungen und andere gleich furchtbare Zufälle mehr Ähnlichkeit mit dem Gelben Fieber zu haben schienen . Es waren ge­ wöhnlich solche Menschen , die sich mit dem mühsamen Geschäft des Holz­ fällens abgaben , zum Teil in den Wäldern der Nachbarschaft des kleinen Ha­ fens von Canipano oder des Golfes von Santa Fe , westwärts von Cumami. Solche Todesfälle schreckten die nicht akklimatisierten Europäer von Zeit zu Zeit in Städten, welche als sehr gesund galten; aber die Keime dieser spo­ radischen Krankheitsanfälle pflanzten sich nicht fort. Der wahre amerikani­ sche Typhus , welcher unter den Namen des v6mito prieto (Schwarzes Er­ brechen) und des Gelben Fiebers bekannt ist und als ein eigentümlicher Krankheitszustand angesehen werden muß , war auf dem Küstenland der Tierra Firme nur noch in Porto Cabello , im westindischen Cartagena und in Santa Marta, wo Castelbondo ihn bereits 1729 beobachtet und beschrieben hatte, bekannt . Den kürzlich gelandeten Spaniern sowie den Bewohnern des Tals von Caracas war der Aufenthalt in Guaira damals noch nicht gefähr­ lich, und man beklagte sich einzig über die einen Teil des Jahres hindurch herrschende drückende Hitze . Wer sich der unmittelbaren Wirkung der Sonne aussetzte , hatte höchstens jene Haut- und Augenentzündungen zu be­ fürchten , die unter der heißen Zone sehr allgemein und auch häufig von Fieber und starkem Blutandrang nach dem Kopf begleitet sind . Viele Per­ sonen zogen dem kühlen, aber höchst abwechselnden Klima von Caracas das heiße , aber gleichmäßige Klima von Guaira vor; von ungesunder Luftbe­ schaffenheit dieses Hafens war fast gar keine Rede . Seit dem Jahr 1797 hat sich alles verändert . Der Hafen wurde außer den Schiffen des Mutterlandes auch anderen geöffnet . Matrosen, die in kälteren Ländern als Spanien geboren und darum für klimatische Eindrücke emp­ fänglicher waren, trafen häufiger in Guaira ein . Das Gelbe Fieber brach aus ; vom Typhus befallene Nordamerikaner wurden in die spanischen Spitäler aufgenommen. Bald hieß es, sie seien es, welche die Ansteckung gebracht hätten, und ehe sie noch auf der Reede angekommen waren, sei die Krank­ heit an Bord einer von Philadelphia kommenden Brigantine ausgebrochen. Der Kapitän der Brigantine leugnete dies und behauptete , weit entfernt , die Krankheit eingeführt zu haben, seien seine Matrosen davon vielmehr im Hafen erst befallen worden . Nach dem, was 1800 zu Oidiz vorfiel, weiß man , wie schwer es fällt , Tatsachen ins Klare zu setzen , deren Ungewißheit ein­ ander völlig entgegengesetzte Theorien zu begünstigen scheinen . Die ein­ sichtsvollsten Einwohner von Caracas und Guaira, in ihren Meinungen über das Prinzip der Ansteckungsfähigkeit des Gelben Fiebers gleich den euro-

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päischen und nordamerikanischen Ärzten geteilt, beriefen sich auf dasselbe amerikanische Schiff, die einen zum Beweise der auswärtigen Herkunft des Tpyhus, die anderen , um zu behaupten , daß es im Land selbst entstanden sei . Die Anhänger dieser letzteren Meinung nahmen eine durch das Aus­ treten des Rio de la Guaira bewirkte außerordentliche Veränderung der Be­ schaffenheit der Atmosphäre an. Dieser Bergstrom, dessen Wasser meistens kaum zehn Zoll tief ist , war nach einem 60 Stunden anhaltenden Regen im Gebirge so außerordentlich angeschwollen, daß er Baumstämme und große Felsmassen fortrollte . Während dieser Anschwellung strömte das Wasser in einer Breite von 30 bis 40 Fuß, 8 bis 10 Fuß tief. Man glaubte , es wäre aus einem unterirdischen Becken hervorgedrungen, das sich durch langsame Infiltration des neu urbar gemachten und bebauten Landes angefüllt hatte . Mehrere Häuser wurden von dem wilden Strom weggeführt, und die Über­ schwemmung wurde um so gefährlicher für die Magazine , als das Stadttor, durch welches das Wasser hauptsächlich ablaufen sollte, sich zufälligerweise geschlossen hatte . Man mußte einen Teil der Mauer auf der Seite nach dem Meer zusammenschießen ; über 30 Personen kamen ums Leben , und der Schaden wurde auf eine halbe Million Piaster berechnet. Das zurückgeblie­ bene faulende Wasser in Magazinen , in Kellern und in den Kerkern des Ge­ fängnishauses verbreitete wohl unstreitig Miasmen in der Luft, die als vorbe­ reitende Ursachen die Entwicklung des Gelben Fiebers beschleunigt haben können; hingegen glaube ich, die Überschwemmung des Rio de la Guaira sei ebensowenig dessen erste und wahre Ursache gewesen , wie das Aus­ treten des Guadalquivir, des Genil und des Gualmedina solches bei den ver­ heerenden Seuchen 1800 und 1804 in Sevilla, Ecija und Malaga nicht ge­ wesen ist. Ich habe das Bett des Bergstroms von Guaira sorgfältig untersucht und darin nur den öden Boden eines Flußbetts, Blöcke von Glimmerschiefer und Gneis mit Schwefelkiesen , die von der Sierra de Avila losgerissen und hergeschwemmt waren, aber durchaus nichts angetroffen, was die Luft ver­ unreinigen könnte. Seit den Jahren 1797 und 1798, in denen gleichzeitig auch eine überaus große Sterblichkeit in Philadelphia , auf Santa Lucia und Santo Domingo herrschte , hat das Gelbe Fieber seine Verheerungen in Guaira beständig fortgesetzt; die Seuche wurde auch nicht nur den aus Spanien neu angekom­ menen Truppen verderblich , sondern ebensosehr den weit vom Küstenland in den Llanos , zwischen Calabozo und Uritucu ausgehobenen Milizen, in einer fast ebenso warmen, aber gesünderen Landschaft als Guaira ist . Die letztere Tatsache wäre noch auffallender, wenn nicht bekannt wäre , daß sogar die Eingeborenen von Vera Cruz, die in ihrer Vaterstadt vom Typhus nicht befallen werden , zuweilen den Seuchen in Havanna und in den Verei­ nigten Staaten zum Opfer fielen. So wie das Schwarze Erbrechen am Ab­ hang der mexicanischen Gebirge , auf dem Weg nach Jalapa, zu Encero , wo

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(auf der Höhe von 476 Toisen) das Wachstum der Eichen und ein kühles und liebliches Klima beginnen , eine unübersteigliche Grenze findet , ebenso übersteigt auch das Gelbe Fieber nicht leicht die Bergkante , welche Guaira vom Caracastal trennt. Dieses Tal ist sehr lange davon völlig frei geblieben , wobei man den vomito und das Gelbe Fieber nicht mit den unregelmäßigen Gallenfiebern verwechseln darf. Cumbre und Cerro de Avila sind eine vor­ treffliche Schutzwehr für die Stadt Caracas , die etwas höher als Encero liegt , deren mittlere Temperatur hingegen die von Jalapa übersteigt . Ich habe in einem anderen Werk, dem über Mexico , die physikalischen Wahrnehmungen mitgeteilt , welche Herr Bonpland und ich über die örtli­ chen Verhältnisse der Städte sammelten , die vom Gelben Fieber heimge­ sucht werden, und ich will hier keine neuen Vermutungen über die Verände­ rungen wagen, die in der pathogenischen Constitution gewisser Städte beob­ achtet werden. Je mehr ich über diese Dinge nachdenke , desto geheimnis­ voller kommt mir all das vor, was auf jene gasartigen Ausdünstungen Bezug hat, die man auf eine so unbestimmte Weise Ansteckungskeime nennt und von denen man glaubt, daß sie sich in verdorbener Luft entwickeln und durch Kälte zerstört werden, daß sie sich durch Kleider fortpflanzen und den Mauern der Häuser gleichsam ankleben. Wie soll man sich erklären, daß während 18 Jahren bis 1794 in Vera Cruz kein einziges Beispiel des vomito be­ kannt wurde , obgleich die Begegnung von nicht akklimatisierten Europäern mit Mexicanern des Landesinneren außerordentlich beträchtlich war und obgleich sich die Matrosen denselben Exzessen hingaben , die man ihnen noch heute vorwirft, und zudem die Stadt weniger sauber war, als sie es seit 1800 ist? Folgendes ist die Reihenfolge der pathologischen Tatsachen in ihrer größten Einfachheit betrachtet: Wenn in einem Hafen der heißen Zone , den die Seefahrer keineswegs für sehr ungesund halten, gleichzeitig eine große Anzahl in einem kalten Klima geborener Menschen eintreffen , so kommt der amerikanische Typhus zum Vorschein . Während der Seefahrt waren die Reisenden davon nicht befallen ; er offenbart sich erst vor Ort selbst . Ist hier eine Veränderung der Beschaffenheit der Atmosphäre eingetreten, oder hat sich eine neue Krankheitsform in einzelnen Personen durch besonders er­ höhte Erregbarkeit entwickelt? Bald dehnt der Typhus seine Verheerungen auf andere, in südlicheren Ländern geborene Europäer aus. Wenn er sich durch Ansteckung fort­ pflanzt, ist es befremdlich wahrzunehmen , daß er in den Städten des tropi­ schen Kontinents gewissen Straßen nicht folgt und daß unmittelbare Berüh­ rung die Gefahr des Aufenthalts ebensowenig vermehrt, wie Absonderung sie vermindert. Die ins Innere des Landes, vorzüglich nach kühleren und höher gelegenen Orten, z. B . nach J alapa verlegten Kranken übertragen den Typhus den Einwohnern dieser Ortschaften nicht, sei es, daß er wirklich

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seiner Natur nach nicht ansteckend ist oder daß die vorbereitenden Ursa­ chen dort nicht vorhanden waren , wie sie es auf dem Küstenlande sind. Mit dem Eintritt einer beträchtlichen Wärmeabnahme hört die Seuche gewöhn­ lich da auf, wo sie zuerst ausgebrochen war. Bei Rückkehr der warmen Jah­ reszeit, bisweilen auch schon geraume Zeit vorher, kommt sie wieder zum Vorschein , wo seit mehreren Monaten kein Kranker im Hafen und kein Schiff eingelaufen war. Der amerikanische Typhus scheint sich auf das Küstenland zu be­ schränken; sei es, weil diejenigen hier landen, die ihn hineinbringen und weil da die Waren aufbewahrt werden, von denen man glaubt, daß sie mit Ansteckungsstoffen geschwängert seien; oder sei es , daß sich am See gestade besondere Gasausdünstungen bilden. Die Ansicht der Gegenden, in denen der Typhus seine Verheerungen anrichtet, scheint oft jeden Verdacht eines örtlichen oder endemischen Ursprungs auszuschließen . Man hat ihn auf den Canarischen Inseln , auf den Bermudas und in den Kleinen Antillen , an trocknen und vormals als überaus gesund bekannten Orten herrschend an­ getroffen . Die Beispiele der Fortpflanzung des Gelben Fiebers in die in­ neren Landesgegenden scheinen in der heißen Zone sehr zweifelhaft: Es kann eine Verwechslung der Krankheit mit nachlassenden Gallenfiebern stattgefunden haben. Im gemäßigten Erdstrich, wo der ansteckende Cha­ rakter des amerikanischen Typhus entschiedener ist, hat sich die Krankheit unzweifelhaft vom Küstenland weithin, selbst nach sehr hoch gelegenen, den kühlen und trockenen Winden geöffneten Orten fortgepflanzt , wie dies in Spanien bei Medina Sidonia, Carlota und der Stadt Murcia der Fall ist. Diese abweichenden Erscheinungen , welche dieselbe Seuche nach klimati­ schen Verschiedenheiten, nach dem Verhältnis der vorbereitenden Ursa­ chen, ihrer kürzeren oder längeren Dauer und den verschiedenen Graden ihrer Bösartigkeit annimmt, müssen uns bei der Feststellung der geheimen Ursachen des amerikanischen Typhus sehr vorsichtig machen . Ein einsich­ tiger Beobachter, der während der verheerenden Epidemien von 1802 und 1803 Oberarzt der Kolonie von Santo Domingo war und die Krankheit so­ wohl auf der Insel Cuba wie in Nordamerika und in Spanien zu sehen Gele­ genheit hatte, Herr Bailly, ist mit mir der Meinung, "der Typhus ist zwar sehr oft ansteckend, aber nicht immer" . Seit das Gelbe Fieber in Guaira so große Verheerungen anrichtet, hat man sich darin gefallen , die Unreinlichkeit dieser kleinen Stadt ebenso über­ trieben zu schildern , wie man das gleiche in bezug aufVera Cruz und die Kais oder Wharfs von Philadelphia getan hat. An einem Ort, dessen Boden überaus trocken und nicht mit Pflanzen bewachsen ist und wo sieben bis acht Monate hindurch kaum einige Regentropfen fallen , können der Ursachen, welche die sogenannten zerstörenden Miasmen veranlassen , nicht eben viele sein. Ich habe , mit Ausnahme des Schlachterviertels , die Straßen von

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Guaira gar nicht unreinlich gefunden. Die Reede enthält keine Uferstellen, an denen Meergras und Weichtiere sich anhäufen und zersetzen ; aber die an­ stoßende, sich ostwärts gegen Kap Codera ausdehnende und also unter dem Wind von Guaira liegende Küste ist höchst ungesund. Wechselfieber, Faul­ und Gallenfieber herrschen öfters in Macuto und Caravalleda . Wenn von Zeit zu Zeit der Westwind den gewohnten Seewind ablöst, sendet die kleine Bucht von Catia, welche wir in der Folge öfters zu nennen Anlaß haben werden, trotz der Schutzwehr des Kap Blanco eine mit faulen Ausdün­ stungen erfüllte Luft der Küste von Guaira zu. Bei der so ungleichen Reizbarkeit, die in den Organen der nördlichen und südlichen Völker wahrgenommen wird, ist nicht zu bezweifeln, daß größere Handelsfreiheit sowie häufigere und innigere Verbindungen klimatisch ver­ schiedener Länder die Verheerungen des Gelben Fiebers in Amerika weiter ausdehnen werden. Es ist sogar möglich , daß durch das Zusammentreffen so vieler erregender Ursachen und durch ihre Einwirkung auf so unterschied­ lich organisierte Individuen neue Krankheitsformen und abnorme Tätig­ keiten der Lebenskräfte erzeugt werden. Es ist dies einer der Nachteile , welche von den Fortschritten der Zivilisation untrennbar sind; wer darauf aufmerksam macht, wünscht darum keineswegs die Barbarei zurück, und ebensowenig teilt er die Meinung derer, welche die Bande , welche Länder und Völker zusammenhalten , auflösen möchten, nicht um die Häfen der Ko­ lonien gesund zu machen, sondern um Kenntnisse und Aufklärung von ihnen auszuschließen und die Fortschritte der Vernunft zu hemmen. Die Nordwinde , welche Kaltluft von Canada dem Golf von Mexico zu­ führen, haben das periodische Aufhören des Gelben Fiebers sowie des Schwarzen Erbrechens in Havanna und Vera Cruz zufolge . Aber die sehr ge­ ringe Temperaturänderung , wodurch sich das Klima von Puerto Cabello, Guaira, Nueva Barcelona und Cumami auszeichnet , läßt befürchten, der Typhus dürfte dort einst permanent auftreten, wenn er, durch ein großes Zusammenströmen von Ausländern , einen hohen Grad von Bösartigkeit er­ reicht hat. Glücklicherweise verminderte sich die Sterblichkeit , seit man sich in der Behandlung der Krankheit nach dem Charakter, welchen die Seuche in verschiedenen Jahren annimmt, richtet und seit man den Verlauf der Krankheit besser erkennen und ihre sich durch Entzündung oder durch Ataxie und Schwäche auszeichnenden Perioden besser unterscheiden ge­ lernt hat. Ich glaube , es wäre ungerecht, den guten Erfolg der neueren Kur­ methode gegen diese schreckliche Krankheit zu leugnen; jedoch ist man davon in den Kolonien nicht besonders überzeugt. Man hört vielmehr ziem­ lich allgemein sagen: "Die Ärzte unserer Tage erklären die Krankheit zwar auf eine befriedigendere Weise , als ihre Vorgänger es taten, aber sie heilen sie darum nicht besser. Vormals hat man die Kranken, denen nur etwa ein Ta­ marindenaufguß gereicht wurde , langsam sterben lassen, während gegen-

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wärtig ein wirksameres Verfahren schneller und auf kürzerem Wege den Tod herbeiführt . " Diese Meinung beruht jedoch auf mangelhafter Kenntnis dessen, was vor­ mals auf den Antillen geschah . Aus Pater Labats Reisebeschreibung kann man sich überzeugen, daß die Ärzte der Antillen zu Anfang des 18. Jahrhun­ derts ihre Kranken gar nicht so ruhig sterben ließen, wie man anzunehmen scheint. Wenn man damals nicht mit den im Übermaß oder unzeitig ge­ reichten Brechmitteln, Chinarinde und Opium die Kranken tötete , so ge­ schah es hingegen durch häufiges Blutlassen und Purgieren. Die Ärzte schienen auch selbst den Ausgang ihres Verfahrens so gut einzusehen , daß sie aufrichtig genug waren, "sich gleich beim ersten Besuch des Kranken vom Beichtiger und Notar begleiten zu lassen" . Gegenwärtig ist in reinlich und gut geführten Spitälern die Sterblichkeit auf 18 oder 15% oder noch auf ein etwas geringeres Maß beschränkt . Aber überall, wo die Kranken ange­ häuft sind, steigt die Mortalität auf die Hälfte und auch wohl (wie es bei der französischen Armee in Santo Domingo 1802 der Fall war) auf drei Viertel der Kranken. *

Ich fand die Breite von Guaira zu 10° 36' 19" und die Länge zu 69° 26' 13". Die Inklination der Magnetnadel betrug am 24 . Januar 1800 42 ,20°; ihre nordöstliche Deklination 4° 20' 35". Die Intensität der magnetischen Kraft zeigte sich im Verhältnis von 237 Schwingungen. Folgt man der Granitküste von Guaira westwärts, bemerkt man zwischen diesem Hafen, der nur eine gegen den Wind wenig geschützte Reede ist , und dem von Porto Cabello mehrere Küstenvertiefungen , die als vortreffliche Landungsplätze dienen können. Dazu gehören die kleine Bucht von Catia, Los Arecifes, Puerto la Cruz, Choroni, Cienega de Ocumare , Turiamo, Bur­ burata und Patanebo . Diese Häfen alle , der von Burburata ausgenommen , durch welchen Maultiere nach Jamaica ausgeführt werden , werden gegen­ wärtig nur von kleinen Küstenfahrzeugen besucht, welche die Vorräte und den Cacao der umliegenden Pflanzungen aufnehmen. Die Einwohner von Caracas , wenigstens die verständigeren und umsichtigeren unter ihnen , legen großen Wert auf den Landungsplatz von Catia, westwärts des Kaps Blanco. Ich habe mit Herrn Bonpland während unseres zweiten Aufenthalts in Guaira diesen Küstenort untersucht. Eine Bergschlucht , von der nun die Rede sein wird und die unter dem Namen der Quebrada de Tipe bekannt ist , geht vom Hochtal von Caracas nach Catira hinab . Man ist seit langer Zeit mit dem Entwurf beschäftigt, einen fahrbaren Weg in dieser Bergschlucht anzulegen und die alte Guaira-Straße , die mit der Gotthardstraße verglichen werden kann , eingehen zu lassen. Unglücklicherweise ist das ganze unter dem Wind vom Kap Blanco liegende Ufer mit Mangroven bewachsen und

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höchst ungesund. Ich erstieg den Gipfel des Vorgebirges, welches das Cabo Blanco bildet, um von diesem Ausguck den Durchgang der Sonne durch den Meridian zu beobachten. Ich wollte am Morgen die über einem künstlichen Horizont genommenen Höhen mit den über dem Horizont des Meeres ge­ messenen vergleichen , um die scheinbare Depression des letzteren durch das barometrische Maß des Hügels zu verifizieren. Es ist ein bis dahin selten angewandtes Verfahren, wodurch man , mittels Reduktion des Gestirns auf gleiche Zeiten, sich eines Reflexions-Instruments gleich einem mit einer Waage versehenen Instrument bedienen kann . Ich fand die Breite des Vorge­ birges , die auf den übrigens so genauen Karten des Deposito hydrognifico in Madrid nicht angegeben ist, zu 10° 36' 45"; ich konnte mich nur der Winkel bedienen, die das Bild der Sonne auf einem ebenen Glase reflektiert darbot; der Seehorizont war sehr neblig, und die Krümmmungen der Küste hin­ derten mich , die Sonnen höhen über diesem Horizont zu messen. Die Umgebungen des Kaps Blanco sind für das Studium der Gesteine nicht unwichtig . Der Gneis geht hier in den Glimmerschiefer über, und er enthält längs der See küsten Lager von Chloritschiefer; im letzteren fand ich Granate und magnetischen Sand. Schlägt man den Weg nach Catia ein, be­ merkt man den Übergang des Chlorit- in Hornblendschiefer. Alle diese For­ mationen finden sich wieder in den Urgebirgen der Alten Welt , hauptsäch­ lich im nördlichen Europa. Am Fuß des Kaps Blanco wirft die See Rollsteine einer gekörnten Gebirgsart ans Ufer, die ein inniges Gemisch von Horn­ blende und blättrigem Feldspat darstellen . Es ist die Gebirgsart, welche man etwas unbestimmt uranfänglichen Grünstein nennt . Man erkennt darin Spuren von Quarz und Schwefelkies. Wahrscheinlich stehen unfern der Kü­ sten einige Felsen in der See , von denen diese ungemein harten Steinmassen herrühren. In meinem Tagebuch habe ich sie mit dem Paterlestein des Fich­ telberges in Franken verglichen , der auch ein zusammengesetztes Gestein (Diabas) , aber so schmelzbar ist , daß daraus Glasknöpfe verfertigt werden, die zum Sklavenhandel an der Küste von Guinea gebraucht werden. An­ fangs glaubte ich, durch die analogen Erscheinungen eben dieser fränki­ schen Berge geleitet, die Gegenwart jener Hornblendmassen mit Kristallen von gemeinem (nicht kompaktem) Feldspat deute die Nähe der Übergangs­ gebirge an ; allein im Hochtal von Caracas nimmt man Kugelsteine der näm­ lichen Diabase wahr, die einen den Glimmerschiefer durchziehenden Gang ausfüllen. Am nördlichen Abhang des Hügels vom Kap Blanco liegt über dem Gneis eine Formation von Sandstein oder einem noch sehr neuen Ag­ glomerat , worin vielwinklige Bruchstücke von Gneis, Quarz und Chlorit, magnetischer Sand, Madreporen und versteinerte zweischalige Muscheln vorkommen. Ist wohl diese Formation mit der von Punta Araya und Cu­ mana von gleichem Alter? Ich habe zahlreiche Musterstücke davon in die königliche Naturaliensammlung nach Madrid gesandt.

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Nur an wenigen Stellen der Küste ist die Hitze so groß wie in den Umge­ bungen des Kaps Blanco . Wir litten sehr unter der durch Reverberation [Rückstrahlung] des ariden und staubigen Bodens vermehrten Wärme ; da­ gegen waren uns die unmittelbaren Wirkungen der Sonnenstrahlen nicht lä­ stig. Man fürchtet in Guaira die Folgen oder den Einfluß der Sonne auf die Gehirnfunktionen ungemein, vorzüglich zur Zeit, wo das Gelbe Fieber be­ ginnt. Als ich mich eines Tages auf der Terrasse des von uns bewohnten Hauses befand, um mittags den Unterschied des Thermometers im Schatten und in der Sonne zu beobachten, stand unversehens ein Mann hinter mir, mit einem Arzneitrank in der Hand, der mich dringend bat, diesen unge­ säumt zu schlucken. Es war ein Arzt, der mich aus seinem Fenster seit einer halben Stunde mit unbedecktem Kopf in der Sonne stehen sah. Er versi­ cherte , als ein geborener Nordländer müsse ich nach meiner Unvorsichtig­ keit unfehlbar, und zwar diesen Abend noch , die Symptome des Gelben Fie­ bers erfahren, wenn ich mich weigern sollte , das schützende Mittel zu nehmen. Diese Vorhersage , obgleich sehr ernst gemeint , alarmierte mich eben nicht, denn seit langem hielt ich mich für akklimatisiert; allein wer könnte einer so wohlgemeinten Zuwendung widerstehen? Ich schluckte den Trank, und vielleicht hat mich der Arzt auf das Verzeichnis seiner geretteten Jahrespatienten gesetzt. Nach dieser Beschreibung der Lage und der atmosphärischen Constitu­ tion von La Guaira verlassen wir die Küsten des Antillenmeeres , die wir nun bis zur Rückkehr von den Missionen am Orinoco fast nicht mehr sehen werden. Der Weg, der vom Hafen nach Caracas in die Hauptstadt eines Gou­ vernements von fast 900 000 Einwohnern führt, ist , wie wir schon oben be­ merkt haben, den Alpenpässen der St. -Gotthard-Straße und der des Großen Sankt Bernhard ähnlich . Sein Nivellement war vor meiner Ankunft in der Provinz Venezuela nie unternommen worden ; man hatte auch gar keinen be­ stimmten Begriff von der Erhöhung des Tals von Caracas . Es war zwar längst bekannt, daß man auf viel kürzerem Weg von Cumbre und von Las Vueltas , dem kulminierenden Punkt der Straße , nach Pastora am Eingang des Tals von Caracas wie nach dem Hafen von Guaira hinuntersteigt; weil aber der Berg Avila eine sehr ansehnliche Masse bildet, übersieht man die Punkte, die man vergleichen möchte , nicht gleichzeitig. Es ist sogar unmöglich, sich einen bestimmten Begriff der Erhöhung von Caracas aufgrund des Klimas des Tals zu bilden. Die Luft ist dort infolge absteigender Luftströmungen und während eines großen Teils des Jahres durch dichte Nebel , die den hohen Gipfel der Silla verhüllen, erkaltet. Ich habe verschiedene Male den Weg von Guaira nach Caracas zu Fuß gemacht; ein Profil, das ich davon zeichnete, beruht auf 12 Punkten, deren Höhe durch barometrische Mes­ sungen ermittelt wurde . Seither habe ich sehr gewünscht , daß mein Nivelle­ ment durch einen verständigen Reisenden, der die ebenso malerische wie

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dem Naturforscher wichtige Landschaft besuchte , wiederholt und vervoll­ kommnet werden möchte . Wenn man in der warmen Jahreszeit die heiße Luft von Guaira einatmet und seine Blicke auf die Gebirge richtet, ist man verblüfft über die Vorstel­ lung, daß in gerader Entfernung von 5000 bis 6000 Toisen eine Bevölkerung von 40 000 Seelen , die in einem engen Tal vereint ist, die Kühle des Frühlings und eine Temperatur genießt, die zur Nachtzeit auf 12° des hundertteiligen Thermometers herabsinkt . Diese Nähe verschiedener Klimate ist in der ge­ samten Kette der Anden sehr allgemein , aber allenthalben, in Mexico , Quito , Peru und in Neu-Granada, muß man weite Reisen im Inneren des Landes , entweder durch Ebenen oder längs den Flüssen aufwärts machen , um die großen Städte, die Mittelpunkte , von denen die Zivilisation ausgeht, zu erreichen. Die Erhöhung von Caracas beträgt nur den dritten Teil der Höhe von Mexico , Quito und Santa Fe de Bogota, aber unter allen Haupt­ städten des spanischen Amerika, die mitten im heißen Erdstrich ein kühles und sehr angenehmes Klima genießen, hat Caracas die größte Küstennähe . Welch großer Vorzug, in der Entfernung von drei lieues einen Seehafen zu besitzen und ein von Bergen eingeschlossenes Plateau zu bewohnen, worin Getreide angebaut werden könnte, wenn man die Pflanzungen des Kaffee­ baums nicht vorzöge ! Der Weg von Guaira ins Tal von Caracas ist weit schöner als von Honda nach Santa Fe de Bogota und von Guayaquil nach Quito ; er ist sogar besser unterhalten als die alte Straße, welche am östlichen Abhang der Gebirge von Neu-Spanien aus dem Hafen von Vera Cruz nach Perote führt. Mit guten Maultieren braucht man nicht mehr als drei Stunden , um aus dem Hafen von Guaira nach Caracas zu gelangen ; den Rückweg macht man in zwei Stunden. Mit beladenen Maultieren oder für Fußgänger beträgt der Weg vier bis fünf Stunden. Anfangs besteigt man einen sehr steilen Felsabhang und gelangt über Stationen , die Torre quemada, Curucuti und Salto heißen, zu einem großen Gasthof (la venta) , dessen Erhöhung über der Meeresfläche 600 Toisen beträgt. Der Name "Verbrannter Turm" drückt die lebhafte Empfin­ dung aus , von der man beim Hinabsteigen nach Guaira ergriffen wird. Die von den Felsmauern und mehr noch von den ariden Ebenen, die der Wanderer vor Augen hat, zurückprallende Hitze ist zum Ersticken drückend. Ich habe auf dieser Straße sowie auf dem Weg von Mexico nach Vera Cruz und allent­ halben, wo an einem steilen Berghang ein schneller klimatischer Wechsel ein­ tritt, bemerkt, daß mir das Gefühl des Wohlbehagens und der erhöhten Mus­ kelkraft, das man nach dem Maß des Übertritts in kühlere Luftschichten fühlt, weniger auffallend vorkam als das Gefühl von Schwächung und Mattig­ keit, wovon man beim Hinuntersteigen in die heißen Küstenebenen ergriffen wird. Die Organisation des Menschen bringt es mit sich , daß wir sogar in der moralischen Welt angenehme Ereignisse weniger lebhaft als widrige fühlen .

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Von Cururuti nach Salto wird der Aufstieg etwas weniger beschwerlich. Die Krümmungen des Weges mildern wie auf der alten Straße des Mont Cenis das Gefälle ab . Der Sprung oder Salto ist eine Bergspalte , worüber eine Zugbrücke führt. Die eigentlichen Festungswerke sind auf dem Gipfel des Berges angelegt . Bei der Venta stand das Thermometer mittags auf 19,3°, während es zur gleichen Zeit in Guaira auf 26,2° stieg. Da seit der Zeit, wo neutrale Schiffe ab und zu in den Häfen der spanischen Kolonien zugelassen wurden, den Ausländern auch leichter nach Caracas als nach Mexico hinauf­ zugehen erlaubt wurde, genießt die Venta wegen ihrer ausnehmend schönen Lage in Europa und in den Vereinigten Staaten einige Berühmtheit. Wirklich genießt man hier, wenn es die Wolken erlauben, eine prachtvolle Fernsicht über das Meer und die benachbarten Küsten. Man entdeckt einen Horizont von mehr als 22 lieues im Radius und man fühlt sich von der Lichtrnasse ge­ blendet, die das weiße und aride Litoral zurückwirft . Zu seinen Füßen sieht der Betrachter Kap Blanco, das Dorf Maiquetfa mit seinen Cocosbäumen, Guaira und die in seinen Hafen einlaufenden Schiffe . Ich fand diesen An­ blick noch viel außerordentlicher, als der Himmel nicht ganz hell war und als auf ihrer Oberfläche stark beleuchtete Wolkenzüge , schwimmenden Inseln gleich , auf die unermeßliche Fläche des Ozeans projiziert schienen . Neben­ schichten, welche sich in ungleichen Erhöhungen halten, bilden Flächen, die mitten zwischen dem Auge des Beobachters und den niederen Regionen liegen und durch eine leicht zu erklärende Täuschung den Schauplatz größer und erhabener machen . Bäume und Wohnungen werden von Zeit zu Zeit durch Öffnungen sichtbar, welche die vom Wind getriebenen und übereinan­ dergejagten Wolken freilassen . Man glaubt dann, die Gegenstände in grö­ ßerer Tiefe zu sehen, als sie sich bei vollkommen heller und reiner Luft dem Auge darstellen. Wenn man sich am Abhang der Berge Mexicos in gleicher Erhöhung (zwischen Las Trancas und Jalapa)* befindet, dann beträgt die Entfernung vom Meer noch zwölf lieues, und man unterscheidet die Küste nur undeutlich , während man auf der Straße von Caracas nach Guaira die Ebenen der tierra caliente wie von der Höhe eines Turmes herab beherrscht. Man denke sich den Eindruck, welchen dieser Anblick bei denen zurück­ lassen muß , die , im Inneren des Landes geboren, von hier aus zum ersten Mal das Meer und seine Schiffe erblicken. Ich habe durch unmittelbare Beobachtungen die Breite von La Venta be­ stimmt, um einen richtigeren Begriff der Küstenentfernung geben zu können. Diese Breite ist 10° 35 ' 9". Ihre Länge schien mir dem Chronometer zufolge ungefähr 2' 47" im Kreisbogen, westwärts der Stadt Caracas. Die In­ klination der Magnetnadel fand ich auf dieser Höhe zu 41,75° und die Stärke der magnetischen Kräfte gleich 234 Schwingungen . *

[Siehe das Mexico-Profil i m Kartenheft, Tafel S , 6 , i n Studienausgabe B and IV. ]

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Von La Venta, auch Venta grande genannt , um sie von drei oder vier an­ deren kleinen , zu meiner Zeit längs der Straße errichteten Wirtshäusern zu unterscheiden , hat man noch über 156 Toisen bis Guayavo zu steigen, wo un­ gefähr der Kulminationspunkt der Straße ist . Ich trug das Barometer noch etwas höher, oberhalb la Cumbres in die Schanze la Cuchilla. Weil ich mich ohne Reisepaß befand ( denn fünf Jahre hindurch bedurfte ich seiner nur im Augenblick der Landung ) , war ich nahe daran, durch einen Artillerieposten verhaftet zu werden. Um den Unmut dieser alten Krieger zu besänftigen, wollte ich ihnen die Toisenzahl der Erhöhung ihres Wachpostens über dem Meer in kastilianische varas übertragen . Dies schien ihnen aber ziemlich gleichgültig zu sein , und ich hatte meine Freiheit einzig einem Andalusier zu danken, welcher ungemein höflich wurde , nachdem ich ihm versichert hatte , die Berge seines Landes, der Sierra Nevada von Granada, seien un­ gleich höher als sämtliche Berge der Provinz Caracas . Die Erhöhung der Schanze la Cuchilla gleicht der Spitze des Puy-de­ Dome , sie ist ungefähr 150 Toisen niedriger als die Höhe des Mont Cenis. Da die Stadt Caracas , die Venta deI Guayavo und der Hafen von Guaira ein­ ander so nahe liegen, hätten wir, Herr Bonpland und ich , gewünscht, gleich­ zeitig einige Tage nacheinander den Betrag der kleinen barometrischen Ge­ zeiten in einem nicht breiten Tal, auf einer den Winden ausgesetzten Berg­ höhe und in der Nähe der Seeküsten beobachten zu können; doch war die Atmosphäre während unseres hiesigen Aufenthalts nicht still genug, und außerdem war ich auch nicht mit dem erforderlichen dreifachen meteorolo­ gischen Apparat versehen , den eine Arbeit erforderte, welche ich der Sorg­ falt von Naturforschern , die dieses Land in der Folge besuchen werden, zu empfehlen wünschte . Als ich das erste Mal dieses Plateau auf der Wanderung nach der Haupt­ stadt von Venezuela erstieg, traf ich bei dem kleinen Wirtshaus von Guayavo viele Reisende an, die ihre Maultiere ausruhen ließen. Es waren Einwohner von Caracas, deren lebhafte Unterhaltung der Unabhängigkeitsbewegung, kurz zuvor, galt. Joseph Espaiia hatte auf dem Schafott sein Leben beendet, und seine Frau war in ein Zuchthaus eingesperrt worden, weil sie ihren flüch­ tigen Mann beherbergt und ihn der Regierung nicht angezeigt hatte. Die große Spannung, die in den Gemütern herrschte , die Bitterkeit , mit welcher Fragen behandelt wurden , über welche die Bewohner desselben Landes nicht in abweichende Meinungen geteilt sein sollten, waren mir auffallend und denkwürdig. Während man lang und breit über den Haß der Mulatten gegen die freien Neger und die Weißen über den Reichtum der Mönche und das schwierige Geschäft , die Sklaven in Gehorsam zu halten , verhandelte , hüllte uns ein kalter Wind, der vom hohen Gipfel der Silla von Caracas her­ abzukommen schien , in einen dichten Nebel ein und setzte unserer so leb­ haften Unterhaltung schließlich ein Ende . Die Reisenden suchten Schutz in

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der Venta von Guayavo . Beim Eintritt ins Wirtshaus bemerkte ein bejahrter Mann , der bis dahin am ruhigsten gesprochen hatte, den übrigen, daß es in Zeiten, wo sich überall Denunzianten fänden, auf der Reise wie zu Hause sehr unvorsichtig sei , politische Gespräche zu führen. Diese in einer so wild aussehenden Gegend gesprochenen Worte machten einen lebhaften Ein­ druck auf mich , der sich während unserer Reise durch die Anden von Neu­ Granada und Peru noch öfters erneuert hat. In Europa , wo die Völker ihre Fehden in den Ebenen bestehen, ersteigt man die Berge , um Einsamkeit und Freiheit zu finden. In Amerika sind die Cordilleren bis zur Höhe von 12 000 Fuß bewohnt. Die Menschen tragen dorthin ihre bürgerlichen Zwiste, ebenso wie ihre kleinen , feindseligen Leidenschaften. Spielhäuser sind auf dem Rücken der Anden errichtet worden überall, wo die Öffnung von Berg­ werken die Gründung von Städten herbeiführte, und in diesen, von der un­ teren Welt getrennten und gleichsam über der Wolkenregion stehenden Landschaften, wo alle Umgebungen den Ideen einen höheren Schwung er­ teilen sollten, geschieht es nicht selten, daß die Kunde eines vom Hofe ver­ weigerten Titels oder einer Auszeichnung das Glück der Familie stört. Wenn das Auge den fernen Horizont des Meeres umfaßt oder wenn es sich südöstlich nach dem gezahnten Felsenkamm wendet, welcher den Cumbre mit der Silla zu verbinden scheint, obgleich die Bergschlucht von Tocume sie trennt - überall muß der erhabene Charakter der Landschaft Bewunderung erregen. Von Guayavo aus führt der Weg eine halbe Stunde durch ein ziem­ lich ebenes , mit Alpenpflanzen bedecktes Plateau. Um seiner Krümmungen willen wird dieser Teil der Straße las Vueltas genannt. Etwas höher befinden sich die Baracken oder Mehlmagazine , welche die Compagnie von Gui­ puzcoa zu der Zeit, da sie das ausschließliche Monopol des Handels und der Verproviantierung von Caracas besaß , an einem besonders kühlen Ort er­ bauen ließ. Auf dem Weg von las Vueltas erblickt man zum ersten Mal die Hauptstadt, 300 Toisen niedriger, in einem mit Kaffee- und europäischen Fruchtbäumen reich bepflanzten Tal . Die Reisenden machen gewöhnlich bei einer schönen Quelle halt , die den Namen Fuente de Sanchorquiz führt und über geneigte Gneisschichten von der Sierra hinabfließt. Ihre Temperatur fand ich zu 16,4° , welches für die Erhöhung von 726 Toisen eine beträcht­ liche Kühle ist. Sie würde denen , die dieses helle Wasser trinken, noch be­ trächtlicher vorkommen, wenn die Quelle sich, statt sich zwischen dem Cumbre und dem gemäßigten Tal von Caracas zu ergießen , am Abhang nach Guaira befände . Aber ich habe beobachtet, daß an diesem Abhang auf der nördlichen Rückseite des Gebirges das Einfallen des Gesteins (durch eine in dieser Gegend seltene Ausnahme) nicht nordwestlich, sondern südöstlich stattfindet, wodurch vielleicht die unterirdischen Wasser dort gehindert werden, Quellen zu bilden. Von der kleinen Bergschlucht bei Sanchorquiz steigt man weiter nach la

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Cruz de la Guaira, einem an einer offenen, 632 Toisen hohen Stelle errich­ teten Kreuz hinab , und von da gelangt man (durch den Zoll und das Quar­ tier von la Pastora) in die Stadt Caracas . Auf dieser südlichen Seite des Avila-Berges bietet der Gneis verschiedene geognostische Erscheinungen dar, die der Aufmerksamkeit der Reisenden wert sind . Es durchstreichen ihn Quarzgänge , in denen geriefelte , öfters auch gegliederte , zwei bis drei Linien im D urchmesser haltende Prismen von rötlichem Titanerz vor­ kommen. In den Quarzspalten , wenn sie zerbrochen werden, trifft man sehr zarte , netzförmig einander durchkreuzende Kristalle an; bisweilen stellt sich der Titan auch nur in Dendriten von hellroter Farbe dar. Der Gneis des Tals von Caracas zeichnet sich durch die grünen und roten Gra­ nate aus , welche er enthält und die verschwinden, wo die Gebirgsart in Glimmerschiefer übergeht. Dieselben Erscheinungen hat Herr von B uch zu Helsingland in Schweden beobachtet; während im gemäßigten Europa die Granate meist im Glimmerschiefer und Serpentinstein und nicht im Gneis vorkommen. In den zum Teil aus Bruchstücken von Gneis aufge­ führten Einfriedungen von Caracas erkennt man schöne rote , ein wenig durchsichtige , aber schwer vom Gestein zu trennende Granate . In dem eine halbe Stunde von Caracas , nahe beim Kreuz von Guaira vorkom­ menden Gneis fand ich auch Spuren von himmelblauem Kupfer, das in Quarzgängen und kleinen Lagern von Graphit oder eisenhaltigem Kohlen­ stoff zerstreut ist. Der letztere , welcher auf Papier Spuren hinterläßt, kommt in ziemlich großen Massen, bisweilen mit Eisenspat vermengt, in der Schlucht von Tocume westwärts der Silla vor. Zwischen der Quelle von Sanchorquiz und la Cruz de Guaira und auch noch höher hinauf schließt der Gneis mächtige Bänke eines Urgebirgskalk­ steins ein, welcher graublau , zuckerähnlich und dickkörnig ist; er enthält Glimmer und wird von weißen Kalkspatgängen durchzogen . Der breitblätt­ rige Glimmer kommt in der Richtung des Schichtenfallens vor. Ich habe in diesem Urgebirgskalkstein viel kristallisierten Pyrit und rhomboidalische Bruchstücke eines gelben bis gelbweißen Eisenspats angetroffen. Umsonst gab ich mir Mühe , den Tremolith zu entdecken, der im fränkischen Fichtel­ berg im körnigen Kalkstein (ohne Dolomit) häufig vorkommt. In Europa trifft man Lager von Urgebirgskalkstein im Glimmerschiefer allgemein an; aber man findet auch zuckerähnlichen Kalkstein in einem Gneis der ältesten Formation, in Schweden bei Uppsala, in Sachsen bei Burkersdorf und im AI­ pengebirge an der Simplonstraße . Diese Lagerungen sind denen von Ca­ racas ähnlich . Die geognostischen Erscheinungen, vorzüglich die , welche die Gebirgsschichtungen und ihre Gruppierung betreffen, zeigen sich nie vereinzelt; man trifft sie sogar gleichmäßig in bei den Hemisphären an. Mir mußten diese Übereinstimmungen und diese identischen Formationen um so auffallender sein , als zur Zeit meiner Reise den Mineralogen noch keine

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einzige der Gebirgsarten von Venezuela , von Neu-Granada und den Cordil­ leren von Quito auch nur dem Namen nach bekannt war.

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Allgemeine Übersicht der Provinzen Venezuelas Verschiedenheit ihrer Interessen - Stadt und Tal von Caracas - Klima

Die Bedeutung einer Hauptstadt hängt nicht einzig von ihrer Bevölke­ rung, von ihrem Reichtum und von ihrer Lage ab; um sie einigermaßen richtig zu würdigen, muß man Rücksicht nehmen auf den Umfang des Landes, dessen Mittelpunkt sie ist, auf die Menge einheimischer Erzeug­ nisse, die ihren Handel beschäftigen , auf die Beziehungen zu den Provinzen, welche ihrem politischen Einfluß unterworfen sind. Diese verschiedenen Umstände ändern sich je nach den mehr oder weniger lockeren Banden , welche die Kolonien mit der Metropole [Madrid] verbinden; aber die Macht der Gewohnheit und die Verflechtungen des Handelsinteresses sind derart , daß vorauszusetzen ist, daß dieser Einfluß der Hauptstädte auf diese umge­ benden Länder, auf diese Assoziationen von Provinzen, die unter den Namen der Reinos , Capitanfas generales, Presidencias , Gobiernos, Provin­ cias verschmolzen sind, bekannt ist und auch sogar die Katastrophe der Ab­ trennung der Kolonien überleben wird. Zerstückelungen werden nur da ein­ treten, wo den natürlichen Grenzen zuwider Teile willkürlich verteilt wurden , die sich in ihrer Kommunikation gehemmt fühlen. Überall, wo sie nicht schon vor der Eroberung bis zu einem gewissen Grad existierte (wie in Mexico, Guatemala, Quito und Peru) , dehnte sich Amerikas Zivilisation von den Küsten landeinwärts aus, bald durch ein von einem großen Fluß be­ wässertes Tal, bald über eine Gebirgskette, die ein gemäßigtes Klima darbot . Gleichzeitig auf verschiedene Punkte konzentriert , breitete sie sich wie divergierende Strahlen aus . Die Vereinigung zu Provinzen oder König­ reichen geschah beim ersten unmittelbaren Kontakt der zivilisierten oder wenigstens einer festen und geregelten Herrschaft unterworfenen Teile . Öde oder von wilden Völkern bewohnte Gegenden umgeben heute die von der europäischen Zivilisation eroberten Länder. Sie trennen diese Erober­ ungen voneinander wie schwer zu überschreitende Meeresarme , und meist bilden urbar gemachte Landzungen den einzigen Zusammenhang zwischen benachbarten Staaten . Es ist leichter, die Konfiguration der vom Weltmeer bespülten Küstenregion als die Windungen dieses inneren Litorals zu kennen, an welchem sich Barbarei und Zivilisation , undurchdringliche Wälder und bebaute Ländereien berühren und begrenzen. Aus Mangel an Reflexion über den Zustand werdender Gesellschaften des Neuen Konti-

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nents entstellen die Geographen so oft ihre Landkarten dadurch, daß sie die verschiedenen Abschnitte der spanischen und portugiesischen Kolonien dar­ stellen, als hingen sie allenthalben im Inneren untereinander zusammen . Die örtliche Kenntnis, welche ich mir selbst an diesen Grenzen erwerben konnte, erlaubt mir, mit einiger Gewißheit den Umfang der großen Landes­ einteilungen zu bestimmen , die wilden und die bewohnten Teile miteinander zu vergleichen und den größeren oder kleineren politischen Einfluß zu wür­ digen, den gewisse amerikanische Städte als Mittelpunkte der Macht und des Handels ausüben . Caracas ist die Hauptstadt eines Landes , das beinahe doppelt so groß ist wie das jetzige Peru und dem Königreich Neu-Granada an Umfang wenig nachsteht. Dieses Land, das die spanische Regierung Capitania general de Caracas oder die (vereinigten) Provinzen von Venezuela nennt, hat nahezu 1 000 000 Einwohner, worunter 60 000 Sklaven sind. Es umfaßt längs der Kü­ sten Neu-Andalusien oder die Provinz Cumana (mit der Insel Margarita) , Barcelona, Venezuela oder Caracas , Coro und Maracaibo; landeinwärts die Provinzen Barinas und Guayana, die erste längs der Flüsse Santo Domingo und Apure, die zweite längs des Orinoco , des Casiquiare , des Atabapo und des Rio Negro . Wirft man einen allgemeinen Blick auf die sieben vereinigten Provinzen Tierra Firmes , sieht man, daß sie drei unterschiedliche , von Osten nach Westen sich ausdehnende Zonen bilden. Zuerst zeigen sich angebaute Ländereien längs der Küste und in der Nähe der Kette des Küstengebirges, dann Savannen oder Weideflächen; endlich, jenseits des Orinoco , eine dritte Zone , die der Wälder, die nur auf den sie durchfließenden Gewässern zugänglich sind. Würden die Eingeborenen, welche diese Wälder bewohnen, ausschließlich vom Ertrag der Jagd leben gleich denen vom Missouri, könnte man sagen, die drei Zonen , in welche wir das Landesgebiet von Venezuela soeben einteilten, stellen das Bild der drei Zustände der menschlichen Gesellschaft dar, den des wilden Jägers in den Wäldern des Orinoco , das Hirtenleben in den Savannen oder Llanos, das Leben des Ackerbauern in den Hochtälern und am Fuß des Küstengebirges. Die Mönche der Missionen und einige Soldaten halten hier, wie i n ganz Amerika, die Vorposten an der Grenze nach Brasilien besetzt. Diese erste Zone ist die , worin das Übergewicht der Macht und der Mißbrauch der Ge­ walt als eine notwendige Folge des ersteren sich am fühlbarsten zeigen . Grausame Kriege werden zwischen den Eingeborenen geführt, die zuweilen einander auch selbst verzehren. Die Mönche benutzen die Feindseligkeiten der Eingeborenen zur Vermehrung ihrer kleinen Missionsdörfer. Die Sol­ daten, die den Mönchen zum Schutz dienen sollten, leben mit ihnen im Streit. Alles stellt ein trauriges Bild von Elend und Not dar. Wir werden bald Gelegenheit haben, diesen Zustand des Menschen aus der Nähe zu sehen , den die Bewohner der Städte als einen Naturzustand rühmen. In der zweiten

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Region , in den Ebenen und Viehweiden , findet man zwar keine mannig­ fache , aber eine sehr reichliche Nahrung . Obwohl in der Zivilisation fortge­ schrittener, bleiben die Menschen außerhalb des Umkreises einiger zer­ streuter Städte und nicht weniger voneinander isoliert . Beim Anblick ihrer zum Teil mit Tierhäuten und Leder bedeckten Behausungen möchte man, weit entfernt, sie für fest angesiedelt zu halten, sagen, sie hielten sich nur kurz in diesen weiten, den Horizont begrenzenden Prärien auf. Die Land­ wirtschaft, die allein die Grundlagen der Gesellschaft sichert und die Bande enger knüpft , beansprucht die dritte Zone, das Litoral und besonders die heißen und gemäßigten Täler der dem Meer benachbarten Küste . Man könnte einwenden, in anderen Teilen des spanischen und portugiesi­ schen Amerika , überall , wo man der fortschreitenden Entwicklung der Zivi­ lisation folgen kann , fänden sich die drei Alter der Gesellschaft vereint ; doch es darf nicht außer acht gelassen werden - und diese Bemerkung ist für jeden, der sich mit dem politischen Zustand der Kolonien genau bekannt machen will, sehr wichtig -, daß die Anordnung der drei Zonen nach Wal­ dungen, Viehweiden und angebautem Land nicht allenthalben gleich ist und daß sie nirgends so regelmäßig erscheint wie in Venezuela. Es ist keineswegs der Fall , daß Bevölkerung, Handelsfteiß und Geisteskultur überall von den Küsten landeinwärts abnehmen . In Mexico , Peru und Quito sind es die Pla­ teaus und Zentralgebirge, auf denen man die meisten Landwirte, die am nächsten beieinanderliegenden Städte, die ältesten Staatseinrichtungen an­ trifft. Im Königreich Buenos Aires tritt sogar das Verhältnis ein, daß die unter dem Namen der Pampas bekannte Region der Viehweiden zwischen dem vereinzelt stehenden Hafen von Buenos Aires und der großen Masse mit dem Landbau beschäftigter Indianer, welche die Cordilleren von Char­ cas, la Paz und PotoS! bewohnen, in der Mitte liegt. Dieser Umstand ist es , welcher im selben Land verschiedene Interessen zwischen den Bewohnern des Inneren und des Küstenlandes begründet. Will man sich einen richtigen Begriff von diesen ausgedehnten Provinzen machen, die seit Jahrhunderten , fast wie abgesonderte Staaten, von Vizekö­ nigen oder Generalkapitänen regiert wurden, muß man seine Aufmerksam­ keit auf mehrere Gegenstände zugleich richten. Man muß die Asien gegen­ über gelegenen Teile des spanischen Amerika von denen unterscheiden , welche der Atlantische Ozean bespült ; man muß , wie wir soeben getan haben, diskutieren , wo die Mehrzahl der Bevölkerung sich vorfinde , ob sie sich den Küsten nähere oder im Landesinneren auf den kalten und gemä­ ßigten Hochländern der Cordilleren konzentriert lebe ; man muß die Zahlen­ verhältnisse zwischen den Eingeborenen und den übrigen Schichten ermit­ teln , die Herkunft der europäischen Familien erforschen und untersuchen , welcher Rasse die Mehrzahl der weißen Menschen in jedem Teil der Kolonie angehöre . Die canarischen Andalusier von Venezuela , die Bergbewohner

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[die Bewohner der Berge von Santander] und die Biscayaner von Mexico , die Catalanen von Buenos Aires unterscheiden sich voneinander wesentlich durch Anlagen und Geschick für Landwirtschaft, mechanische Künste , Handel und Gegenstände, die mit der geistigen Entwicklung zusammen­ hängen. Jeder dieser Stämme hat in der Neuen wie in der Alten Welt die Ei­ gentümlichkeit seiner Nationalbildung , die Roheit oder Sanftheit des Cha­ rakters , Mäßigung oder zügellose Habsucht, zuvorkommende Gastfreund­ schaft oder Neigung für die Einsamkeit beibehalten. In Ländern , deren Be­ völkerung großenteils aus Indianern und Schichten von gemischtem Blut be­ steht, können die sich zwischen den Europäern und ihren Nachkommen dar­ bietenden Verschiedenheiten zweifellos nicht so kontrastreich und markant sein , wie sie einst die Kolonien ionischer und dorischer Herkunft zeigten. Die Spanier, nach der heißen Zone versetzt und unter einem neuen Himmel den Erinnerungen an ihr Mutterland fast fremd geworden, mußten bedeu­ tendere Veränderungen durchmachen als die Griechen, die sich an den Kü­ sten von Kleinasien oder Italien, deren Klima von dem Athens und Korinths so wenig abweicht, ansiedelten. Niemand wird die verschiedenen Modifika­ tionen bezweifeln , welche die physische Beschaffenheit des Landes, die Ab­ geschiedenheit der Hauptstädte auf den Berghöhen oder ihre Küstennähe , die Beschäftigung des Landbauers, die Arbeiten der Bergleute und die An­ gewöhnung von Handelsspekulationen vereint im Charakter der amerikani­ schen Spanier hervorbrachten; aber trotzdem erkennt man überall in den Bewohnern von Caracas, von Santa Fe de Bogota, von Quito und von Bue­ nos Aires etwas , das dem Volk und der Abst ammung gehört . Bei einer nach den eben vorgetragenen Grundsätzen angestellten Unter­ suchung der Verhältnisse des Generalkapitanats von Caracas ergibt es sich , daß seine landwirtschaftliche Industrie , die Hauptmasse seiner Bevölke­ rung, seine vielen Städte und alles, was zu den Fortschritten der Zivilisation gehört, sich vorzugsweise in der Nähe des Küstenlandes befindet . Die Aus­ dehnung der Küsten beträgt über 200 lieues . Sie sind vom kleinen Meer der Antillen bespült, einer Art Mittelländischen Meeres, an dessen Gestaden fast alle europäischen Nationen Kolonien gründeten , das mit dem Atlanti­ schen Ozean vielfach zusammenhängt und dessen Dasein, vom Zeitpunkt der Eroberung an , auf die Fortschritte der Aufklärung im östlichen Teil des amerikanischen Äquinoktiallandes einen wesentlichen Einfluß ausübte . Die Königreiche Neu-Granada und Mexico stehen mit den fremden Kolo­ nien und durch sie mit dem nicht -spanischen Europa allein mittels der Häfen des indianischen Cartagena, Santa Marta, Vera Cruz und Campeehe in Ver­ bindung. Diese weiten Länder haben infolge der Natur ihrer Küsten und der Isolierung ihrer Bevölkerung auf dem Rücken der Cordilleren wenige Be­ rührungspunkte mit dem Ausland. Der Golf von Mexico selbst wird einen Teil des Jahres hindurch wegen seiner gefährlichen Nordwindstöße weniger

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besucht. Die Küsten Venezuelas hingegen sind wegen ihrer Länge, wegen ihrer Erstreckung nach Osten, wegen der Vielzahl ihrer Häfen und der Si­ cherheit ihrer Landeplätze zu allen Jahreszeiten imstande , von allen Vor­ teilen, die das Binnenmeer der Antillen bietet, zu profitieren. Nirgends kann der Verkehr mit den großen Inseln und selbst mit denen Unter dem Wind häufiger sein als durch die Häfen von Cumana, Barcelona, la Guaira, Porto Cabello , Coro und Maracaibo ; nirgends war der Schleichhandel mit dem Ausland schwieriger zu begrenzen . Kann man sich wundern, daß diese erleichterten Handelsverbindungen mit den Bewohnern des freien Amerika und den Völkern des aufgewühlten Europa auf einmal in den vereinten Pro­ vinzen des venezolanischen Generalkapitanats Wohlstand, Aufklärung und das unruhige Verlangen einer örtlichen Regierung vergrößert haben, das sich mit Freiheitsliebe und republikanischen Formen verbindet? Die kupferfarbigen oder indianischen Eingeborenen machen nur da einen sehr wichtigen Teil der sich dem Landbau widmenden Bevölkerung aus, wo die Spanier im Augenblick der Eroberung eine reguläre Regierung, eine bür­ gerliche Gesellschaft und alte , meist sehr verwickelte Einrichtungen an­ trafen wie in Neu-Spanien südlich Durangos und in Peru von Cuzco bis nach Potosf. Im Generalkapitanat von Caracas ist die indianische Bevölkerung unbedeutend, wenigstens außerhalb der Missionen in der gemäßigten Zone . Auch in Zeiten großer politischer Zerwürfnisse erwecken die Eingeborenen den weißen und gemischten Schichten keine Besorgnisse . Als ich 1800 die Gesamtbevölkerung der sieben vereinigten Provinzen zu 900 000 Seelen be­ rechnete , glaubte ich , die Indianer möchten davon nicht mehr als 1/9 be­ tragen , während sie in Mexico wohl die Hälfte der Einwohner ausmachen . Unter den Schichten, aus denen die Bevölkerung Venezuelas besteht, er­ scheint die der Neger, welche gleichzeitig die dem Unglück gebührende Teil­ nahme und die Furcht vor einer gewaltsamen Reaktion erregt, an Zahl unbe­ deutend; sie wird hingegen bedeutend durch ihre Anhäufung auf einem kleinen Landstrich . Wir werden bald sehen , daß im ganzen Generalkapi­ tanat die Sklaven V15 der Gesamtbevölkerung nicht übersteigen. Auf der Insel Cuba, der unter den Antillen , auf welcher das Verhältnis der Neger zu den weißen Menschen am schwächsten ist, war dieses im Jahr 1811 wie 1 zu 3. Die sieben vereinigten Provinzen Venezuelas besitzen 60 000 Sklaven ; Cuba, das nur ein Achtel ihrer Größe hat, besitzt ihrer 212 000. Betrachtet man das Antillenmeer, von dem der mexicanische Golf einen Teil ausmacht, als einen Binnensee, der mehrere Ausgänge hat, so muß man mit besonderer Aufmerksamkeit die politischen Verhältnisse ins Auge fassen , welche aus dieser seltsamen Gestaltung des Neuen Kontinents zwischen den Ländern hervorgehen , die um ein und dasselbe Bassin herum liegen. Wie sehr auch die meisten Mutterländer ihre Kolonien isoliert zu halten suchen, teilen sich ihnen unruhige Bewegungen dennoch mit. Die Elemente der Trennung sind

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allenthalben dieselben, und gleichsam instinktartig bildet sich ein Einver­ ständnis zwischen gleichfarbigen Menschen, die durch Verschiedenheit der Sprache getrennt sind und einander gegenüberliegende Küsten bewohnen. Dieses amerikanische Mittelmeer, das aus den Küstenländern Venezuelas , Neu-Granada, Mexico , den Vereinigten Staaten und den Antillen-Inseln ge­ bildet wird, zählt an seinen Gestaden nahezu 1 500 000 freie Schwarze und Negersklaven; sie sind so ungleich verteilt, daß in der südlichen Landschaft nur wenige und in der westlichen beinahe gar keine vorkommen. Ihre größte Anhäufung ist auf der Nord- und Ostküste . Diese bilden sozusagen den afri­ kanischen Teil des großen Wasserbeckens . Natürlicherweise haben die Un­ ruhen, die seit 1792 auf Santo Domingo herrschten, sich nach den Küsten von Venezuela fortgepflanzt. Solange Spanien sich im ruhigen Besitz seiner schönen Kolonien befand, war die Unterdrückung kleiner Sklavenaufstände ein leichtes Geschäft; aber sobald ein Kampf anderer Art, der Kampf für die Unabhängigkeit , begann, mußten die Neger wegen ihrer drohenden Haltung abwechselnd den verschiedenen Parteien Furcht einflößen, und die allmähliche oder plötzliche Aufhebung der Sklaverei wurde in den verschie­ denen Landschaften des spanischen Amerika weniger aus Gründen der Ge­ rechtigkeit und Menschlichkeit ausgesprochen als vielmehr, um sich den Bei­ stand unerschrockener, an Entbehrungen gewöhnter und für ihren eigenen Vorteil kämpfender Menschen zu sichern . Ich habe in Girolamo Benzonis Reisebeschreibung eine merkwürdige Stelle gefunden , die belegt, wie alt schon die Besorgnisse sind , welche die Zunahme der schwarzen Bevöl­ kerung verursachen mußte . Diese Besorgnisse können auch nur da ver­ schwinden, wo die Regierungen jene fortschreitenden Verbesserungen durch die Gesetzgebung unterstützen , welche mildere Sitten, Meinung und religiöses Gefühl in die Verhältnisse des Sklavenstandes bringen. "Die Neger" , sagt Benzoni, "haben sich auf Santo Domingo dermaßen vermehrt, daß ich 1545 , während meines Aufenthalts in Tierra Firme (der Küste von Caracas) , viele Spanier antraf, die gar nicht zweifelten, die Insel werde in kurzem ein Eigentum der Schwarzen sein. " Es blieb unserem J ahr­ hundert vorbehalten , diese Weissagung erfüllt und eine Europäerkolonie von Amerika in einen Afrikanerstaat verwandelt zu sehen . Die 60 000 Sklaven, die in den sieben vereinigten Provinzen von Vene­ zuela leben , sind so ungleich verteilt , daß die Provinz Caracas für sich allein davon nahezu 40 000 , deren Vs Mulatten sind, Maracaibo 10 000 bis 12 000, Cumana und Barcelona kaum 6000 haben. Um den Einfluß der Sklaven und der Farbigen überhaupt auf die öffentliche Ruhe zu beurteilen , reicht es je­ doch nicht hin , ihre Anzahl zu kennen ; man muß auch auf ihre Anhäufung an gewissen Orten und auf ihre Lebensart als Landbauern oder Städter Rücksicht nehmen . In der Provinz Venezuela befinden sich die Sklaven fast alle auf einem Landstrich von keiner großen Ausdehnung zwischen der

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Küste und einer Linie , welche zwölf lieues von dort durch Panaquire , Yare , Sabana de Ocumare , Villa de Cura und Nirgua läuft. Die Llanos oder die weiten Ebenen von Calabozo , San Carlos, Guanare und Barquisimeto haben nur 4000 bis 5000, die auf Höfen verstreut und mit der Viehzucht be­ schäftigt sind. Die Zahl der Freigelassenen ist sehr beträchtlich: Spanische Gesetze und Sitten begünstigen die Befreiungen. Der Herr darf seinem Sklaven die Freilassung nicht versagen , wenn dieser ihm dreihundert Piaster zahlt, gesetzt auch, er hätte die doppelte Summe für ihn bezahlt, um der be­ sonderen Kenntnisse oder Geschicklichkeit für ein Handwerk willen, das der Sklave versteht. Die Beispiele von Personen , die durch ihre letzten Wil­ lensverordnungen einer kleineren oder größeren Anzahl Sklaven die Frei­ heit schenken, kommen in der Provinz Venezuela häufiger als anderswo vor. Kurze Zeit, ehe wir die fruchtbaren Täler von Aragua und den Valencia-See besuchten, erteilte eine in dem großen Dorf la Vittoria wohnende Dame ihren Kindern auf dem Totenbett den Befehl, alle ihre Sklaven, es waren ihrer dreißig , in Freiheit zu setzen. Es macht mir Freude , Tatsachen zu melden, die dem Charakter der Einwohner zur Ehre gereichen , von denen Herr Bonpland und ich so viele Beweise der Zuneigung und des Wohlwol­ lens empfingen . Nach den Negern ist man in den Kolonien besonders interessiert , die Zahl der weißen Creolen , die ich spanische Amerikaner nenne , und die der in Europa geborenen Weißen zu kennen . Es fällt aber schwer, sich über einen so mißlichen Punkt hinlänglich genaue Auskunft zu verschaffen. In der Neuen wie in der Alten Welt sind die Volkszählungen verhaßt, weil man glaubt, es walte dabei die Absicht einer Erhöhung der Abgaben. Anderer­ seits sind die statistischen Erhebungen bei den aus der Metropole in die Ko­ lonien gesandten Verwaltern ebensowenig beliebt wie beim Volk und dies aus Gründen einer argwöhnischen Politik. Es lassen sich die immer nur mühsam zu verfertigenden Erhebungen der Neugier der Kolonisten nicht leicht entziehen. Obgleich verschiedene Minister in Madrid, welche über die wahren Interessen des Vaterlands aufgeklärt denken , vom fortschrei­ tenden Wohlstand der Kolonien von Zeit zu Zeit genaue Berichte zu er­ halten wünschten, wurden ihre wohltätigen Absichten von den Ortsbe­ hörden fast durchgängig nicht unterstützt. Es bedurfte unmittelbarer Be­ fehle vom spanischen Hof, um den Herausgebern des >Mercurio Peruano< die vortrefflichen, von ihnen publizierten Nachrichten über staatswirtschaft­ liche Gegenstände zu verschaffen . In Mexico und nicht in Madrid hörte ich den Vizekönig, Graf von Revillagigedo , deshalb tadeln, daß Neu-Spanien durch ihn inne wurde , es seien in der Hauptstadt eines Landes von fast 6 000 000 Einwohnern 1790 nur 2300 Europäer neben mehr als 50 000 spani­ schen Amerikanern vorhanden gewesen . Dieselben Personen, welche dies rügten, sahen die schöne Posteinrichtung, wodurch Briefe von Buenos Aires

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nach Neu-Californien [heutiges Kalifornien] gelangen, als eine der gefähr­ lichsten Neuerungen des Grafen von Floridablanca Monifio an . Sie emp­ fahlen , glücklicherweise ohne Erfolg , die Zerstörung der Weinreben in Neu­ Mexico und Chile , um den Handel der Metropole dadurch zu begünstigen . Wie blind muß man nicht sein, um zu glauben , Volkszählungen entdeckten den Kolonien das Geheimnis ihrer Stärke ! Nur in Zeiten des Zwistes und in­ nerer Unruhen gibt man sich damit ab, das verhältnismäßige Übergewicht der verschiedenen Schichten , welche alle nur ein Interesse haben sollten, zu prüfen , um gleichsam im voraus die Zahl der Kämpfer berechnen zu können. Durch Vergleich der sieben vereinigten Provinzen von Venezuela mit dem Königreich Mexico und mit der Insel Cuba gelangt man zur Ermittlung der annähernden Zahl der weißen Creolen und auch der Europäer. Die ersteren oder die spanischen Amerikaner machen in Mexico fast ein Fünftel und auf der Insel Cuba nach sehr genauen, 1811 vorgenommenen Zählungen ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Bedenkt man nun die 3 500 000 Einge­ borenen der kupferfarbigen Rasse , welche in Mexico wohnen, betrachtet man die Verhältnisse der vom Pazifischen Ozean bespülten Küsten und die geringe Zahl Weißer, die sich in den Intendancias von Puebla und Oaxaca aufhalten, so bleibt wohl kein Zweifel übrig, daß, wenn nicht die Capitanfa general, doch wenigstens die Provinz Venezuela ein stärkeres Verhältnis als jenes von 1 zu 5 darstellen muß . Die Insel Cuba, wo die Zahl der weißen Menschen sogar noch größer ist als in Chile , kann uns eine Grenzzahl, das heißt ein Maximum dessen an die Hand geben, was für das Generalkapita­ nat von Caracas angenommen werden darf. Man muß , wie ich glaube , bei 200 000 oder 210 000 spanischen Amerikanern angesichts einer Gesamtbe­ völkerung von 900 000 Seelen stehenbleiben. In der weißen Rasse scheint die Zahl der Europäer (die aus der Metropole gesandten Truppen unge­ rechnet) 12 000 bis 15 000 nicht zu übersteigen. In Mexico geht sie gewiß nicht über 60 000, und bei mehreren Vergleichen finde ich , wenn man alle spanischen Kolonien zu 14- bis 15 000 000 Einwohner berechnet, daß sich darunter höchstens 3 000 000 weiße Creolen und 200 000 Europäer finden mögen. Als der junge Tupac Amaru, welcher sich für den rechtmäßigen Erben des Reiches der Incas hielt, 1781 an der Spitze von 40 000 indianischen Bergbe­ wohnern mehrere Provinzen von Oberperu an sich riß, wurden alle Weißen von gleicher Furcht ergriffen. Die spanischen Amerikaner fühlen, wie die in Europa geborenen Spanier, daß es sich um einen Kampf der kupferfarbenen gegen die weißen Menschen, der Barbarei gegen die Zivilisation handle . Tupac Amaru, welcher selbst nicht ohne Bildung war, fing damit an, den Creolen und dem europäischen Klerus zu schmeicheln ; bald jedoch änderte er, von den Ereignissen und vom Rachegeist seines Neffen Andres Condor-

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canqui hingerissen, seine Pläne . Das Streben nach Unabhängigkeit verwan­ delte sich in einen grausamen Krieg zwischen den Schichten, wobei die Weißen obsiegten und von nun an , durch gemeinsames Interesse geleitet, sehr aufmerksam auf das Verhältnis wurden, das in den verschiedenen Pro­ vinzen zwischen ihrer eigenen Anzahl und der der Indianer herrschte . Un­ seren Zeiten blieb es vorbehalten, daß die Weißen diese Aufmerksamkeit auch auf sich selbst richteten und , durch Mißtrauen geleitet , die Elemente erforschten , aus denen sich ihre eigene Schicht zusammensetzt. Jede auf Er­ zielung von Unabhängigkeit und Freiheit gerichtete Unternehmung muß ein Kampf zwischen der amerikanischen oder Nationalpartei und der Partei der Metropole werden . Als ich in Caracas eintraf, war die letztere eben erst einer Gefahr entgangen, von der sie sich in dem durch Espafia eingeleiteten Aufstand bedroht glaubte. Dieser kühne Anschlag hatte um so wichtigere Folgen, als man, statt die wahren Ursachen der herrschenden Mißstimmung zu ergründen , das Mutterland nur durch harte Maßnahmen retten zu können glaubte . Gegenwärtig stehen in den Unruhen, die vom Rio de la Plata bis nach Neu-Mexico , auf einer Ausdehnung von 1400 lieues, ausgebro­ chen sind, Menschen von einerlei Ursprung einander feindlich gegenüber. Man scheint sich in Europa zu wundern , wie die Spanier des Mutter­ landes, deren kleine Anzahl wir soeben berechnet haben, Jahrhunderte hin­ durch einen so langen und kräftigen Widerstand leisten konnten; allein man vergißt, daß in allen Kolonien die europäische Partei sich notwendig durch eine große Masse Eingeborener verstärken muß. Familieninteressen, Sehn­ sucht nach ungestörter Ruhe , Furcht vor der Teilnahme an einem Unter­ nehmen, das mißlingen kann, sind die Gründe, welche diese letzteren ab­ halten, auf die Seite der Kämpfer für die Unabhängigkeit zu treten oder nach der Errichtung einer eigentümlichen, zwar vom Mutterland abhän­ gigen, aber örtlichen und repräsentativen Regierung zu streben . Die einen fürchten alle gewaltsamen Mittel und schmeicheln sich, die Kolonialverwal­ tung könne durch allmähliche Reformen weniger drückend werden; in Re­ volutionen erblicken sie nur den Verlust ihrer Sklaven, die Beraubung des Klerus und die Einführung einer religiösen Duldung, welche ihnen mit der Reinheit des herrschenden Kultus unverträglich vorkommt . Andere ge­ hören der kleinen Zahl Familien an, die in jeder Gemeinde entweder durch ererbten Reichtum oder durch ihre sehr alte Niederlassung in den Kolonien eine eigentliche Munizipalaristokratie ausüben . Sie wollen gewisser Rechte lieber beraubt sein , als sie mit allen zu teilen; sie würden sogar Fremdherr­ schaft einer von Amerikanern einer unteren Schicht ausgeübten Autorität vorziehen; sie verabscheuen jede auf Gleichheit der Rechte gegründete Ver­ fassung, und was sie am meisten fürchten, ist der Verlust der Orden und Titel, die sie mit viel Mühe erwarben und die, wie wir oben sahen , einen we­ sentlichen Teil ihres häuslichen Glücks ausmachen . Noch andere , und diese

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in sehr großer Anzahl, leben auf dem Land von den Erzeugnissen ihrer Grundstücke und genießen die Freiheit , welche , auch unter den drückend­ sten Regierungen, ein Land, dessen Bevölkerung sehr verstreut ist, dar­ bietet. Weil sie für sich keinen Anspruch auf Stellen machen, ist ihnen gleich­ gültig, solche von Menschen besetzt zu sehen , deren Namen ihnen fast unbe­ kannt ist und von deren Arm sie nicht erreicht werden. Dem bisherigen Zu­ stand der Kolonien würden sie zweifellos eine nationale Regierung und volle Handelsfreiheit vorziehen, aber dieses Verlangen überwiegt die Liebe zur Ruhe und die Gewohnheit eines trägen Lebens nicht genug, um sie zu lang­ dauernden und beschwerlichen Opfern zu engagieren . Indem ich hier gemäß der vielfachen Beziehungen , die ich mit allen Klassen der Einwohner unterhielt, die verschiedenartige Richtung der poli­ tischen Meinungen in den Kolonien charakterisierte , habe ich damit zu­ gleich auch die Ursachen der langen und ruhigen Herrschaft der Metropole über Amerika dargelegt . Die Ruhe ist das Resultat der Gewohnheit , des Übergewichtes einiger mächtiger Familien , vorzüglich aber des sich zwi­ schen feindlich einander gegenüberstehenden Kräften erzeugenden Gleich­ gewichts. Eine auf Zwietracht gegründete Sicherheit muß aber erschüttert werden, sobald eine große Menschenmasse, durch das Gefühl eines gemein­ samen Interesses angetrieben , ihren gegenseitigen Haß für eine Weile bei­ seite setzt; sobald das einmal erwachte Gefühl sich durch Widerstand ver­ stärkt und durch fortschreitende Aufklärung und einen Wechsel der Sitten der Einfluß alter Gewohnheiten und Ideen geschwächt wird. Es ist schon oben gezeigt worden, daß die indianische Bevölkerung in den vereinigten Provinzen Venezuelas unbeträchtlich ist und der Zivilisation seit kurzem erst nähergebracht wurde ; auch wurden alle Städte dieses Landes durch die spanischen Eroberer gegründet. Diese konnten nicht, wie in Peru und Mexico, den Spuren alter Eingeborenenkultur folgen. Caracas, Mara­ caibo , Cumaml und Coro haben nichts Indianisches außer ihren Namen . Unter den drei Hauptstädten des äquinoktialen Amerika, Mexico , Santa Fe de Bogota und Quito , die in den Gebirgen liegen und ein sehr gemäßigtes Klima haben, liegt Caracas am niedrigsten über dem Meeresspiegel. Weil die Hauptbevölkerung von Venezuela das Küstenland bewohnt und weil das am besten bebaute Land diesem in der Richtung von Osten nach Westen par­ allelläuft, ist Caracas nicht wie Mexico , Santa Fe de Bogota und Quito ein Mittelpunkt des Handels . Von den sieben in einem Generalkapitanat ver­ einten Provinzen besitzt jede für die Ausfuhr ihrer Produkte einen eigenen Hafen . Überlegt man die Lage der Provinzen, ihre mehr oder minder ver­ trauten Beziehungen zu den Inseln Unter dem Wind oder den Großen An­ tillen, die Richtung der Gebirge und den Lauf der großen Flüsse , wird man sich leicht überzeugen , daß Caracas niemals einen sehr mächtigen politi­ schen Einfluß auf die Länder, deren Hauptstadt es ist, ausüben kann . Der

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Apure , der Meta, der Orinoco , die ihren Lauf von Westen nach Osten nehmen , empfangen alle aus den Llanos oder der Region der Viehweiden kommenden Gewässer. San Tomas de Guyana muß unfehlbar einst ein wich­ tiger Handelsplatz werden , besonders wenn das Mehl von Neu-Granada, unterhalb des Zusammenflusses des Rio Negro mit dem Umadea, den Meta und Orinoco hinabgeführt und in Caracas und Cumam'i dem aus Neu-Eng­ land vorgezogen wird. Für die Provinzen Venezuelas ist es ein großer Vorteil, daß die Erzeugnisse ihres Landes nicht alle nur eine einzige Richtung nehmen, wie es bei denen von Mexico und Neu-Granada der Fall ist, die nach Vera Cruz und Cartagena gehen, sondern daß sie vielmehr eine bedeu­ tende Anzahl Städte besitzen, die eine ungefähr gleiche Bevölkerung haben und gewissermaßen ebenso viele verschiedene Mittelpunkte für den Han­ deisverkehr und die Zivilisation bilden. Caracas ist der Sitz einer Audiencia (Obergerichtshof) sowie eines der acht Erzbistümer, in welche das ganze spanische Amerika eingeteilt ist . Seine Bevölkerung stieg im Jahr 1800 den von mir über die Zahl der Ge­ burten eingezogenen Nachrichten zufolge auf ungefähr 40 000 an; viele der am besten unterrichteten Einwohner glaubten sogar, sie betrage 45 000, wor­ unter 12 000 Weiße und 27 000 farbige freie Menschen waren. Zählungen , die 1778 vorgenommen wurden , gaben bereits 30 000 bis 32 000 an. Alle unmit­ telbaren Zählungen sind um ein Viertel und mehr unter dem wahren Be­ stand geblieben . 1766 hatte sowohl die Bevölkerung der Stadt Caracas wie das schöne Tal , worin sie liegt, durch eine grausame Pockenseuche unge­ heuer gelitten. In der Stadt starben 6000 bis 8000 Menschen ; seit diesem denkwürdigen Zeitpunkt ist die Impfung allgemein geworden , und ich sah ihre Anwendung ohne Zutun der Ärzte . In der Provinz Cumami, wo Verbin­ dungen mit Europa seltener sind, war zu meiner Zeit seit fünfzehn Jahren kein einziger Fall von Kinderpocken bekannt geworden , während man in Caracas vor dieser grausamen Krankheit in beständiger Furcht lebte , indem sie sporadisch an mehreren Orten zugleich immer vorhanden war. Ich sage sporadisch, weil in den Äquinoktialländern von Amerika, wo die Verände­ rungen der Atmosphäre wie die Erscheinungen des organischen Lebens einer merkwürdigen Periodizität unterworfen zu sein scheinen, die Pocken vor der Einführung der wohltätigen Impfung ihre Verheerungen (wenn man einer allgemeinen herrschenden Meinung Glauben beimessen darf) nur alle 15 bis 18 Jahre eintreten ließen. Seit meiner Rückkehr nach Europa hat die Bevölkerung von Caracas neue Fortschritte gemacht: Sie war auf 50 000 an­ gestiegen, als das große Erdbeben vom 26 . März 1812 nahezu 12 000 Ein­ wohner unter den Trümmern ihrer Häuser begrub . Durch die politischen Er­ eignisse , welche dieser Katastrophe folgten, ist die Zahl der Einwohner unter 20 000 gesunken ; dieser Verlust wird jedoch bald ersetzt sein, wenn die ungemein fruchtbare und handeltreibende Landschaft, deren Mittelpunkt

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Caracas ist, einige Jahre der Ruhe unter einer weisen Verwaltung zu ge­ nießen das Glück hat. Die Stadt liegt am Eingang der Ebene von Chacao, welche sich 3 lieues östlich gegen Caurimare und la Cuesta de Auyamas ausdehnt und etwa 21;2 lieues breit ist. Der Rio Guaire durchfließt diese Talebene , deren Erhöhung über dem Meeresspiegel 414 Toisen beträgt. Der Boden , auf dem die Stadt Caracas steht, ist uneben und fällt sehr beträchtlich von Nordnordwest gegen Südsüdost ein . Um von der Lage von Caracas einen richtigen Begriff zu erhalten, muß man sich an die allgemeine Anordnung der Küstengebirge und der sie durchziehenden Längentäler erinnern . Der Guairefluß ent­ springt in der Gruppe der Urgebirge des Higuerote , der das Tal von Caracas vom Araguatal trennt . Er bildet sich in der Nähe von las Ajuntas aus der Ver­ einigung der kleinen Flüsse von San Pedro und Macarao und läuft anfangs ostwärts bis zur Cuesta von Auyamas, dann südwärts, um unterhalb Yare sein Wasser mit dem des Rio Tuy zu vereinigen. Dieser letztere ist der einzige bedeutende Fluß im nördlichen und bergigen Teil der Provinz. Der Fluß ver­ folgt seine Richtung gleichmäßig von Westen nach Osten 30 lieues lang in ge­ rader Linie, wovon drei Viertel schiffbar sind. Barometrische Messungen gaben das Gefälle des Tuy in dieser Länge von der Pflanzung Manterola bis zu seiner Mündung ostwärts von Kap Codera zu 295 Toisen an. Dieser Fluß bildet in der Küstenkette eine Art Längstal , während die Gewässer der Llanos oder von fünf Sechsteln der Provinz Caracas dem südlichen Gefälle des Bodens folgen und sich in den Orinoco ergießen. Es mag dieser hydro­ graphische Abriß einigermaßen die natürliche Neigung der Bewohner dieser Provinz, ihre Erzeugnisse auf verschiedenen Wegen auszuführen, erklären. Wenn auch das Tal von Caracas nur ein Seitenzweig des Tals von Tuy ist, laufen dennoch beide einander eine Zeitlang parallel . Es trennt sie ein bergiges Terrain , über welches der Weg von Caracas nach den oberen Sa­ vannen von Ocumare durch Valle und Salamanca führt. Diese Savannen liegen schon jenseits des Tuy, und weil das Tal von Tuy viel tiefer liegt als das von Caracas , steigt man fast immer in der Richtung von Norden nach Süden abwärts. So wie das Kap Codera, die Silla, der Cerro de Avila zwischen Ca­ racas und La Guaira nebst den Gebirgen von Mariara die nördlichste und höchste Reihe der Küstenkette bilden , so wird ihre südlichste Reihe wie­ derum durch die Berge von Panaquire , Ocumare , Guiripa und Villa de Cura gebildet. Wir wurden schon mehrmals daran erinnert , daß das fast allge­ meine Streichen der Schichten dieser ausgedehnten Küstenkette von Süd­ west nach Nordost geht und ihr Einfallen gewöhnlich nordwestlich ist. Hieraus ergibt sich , daß die Richtung der Urgebirgsschichten von der der ganzen Bergkette unabhängig ist , und man findet, was bemerkt zu werden verdient, wenn man der Kette von Puerto Cabello bis nach Manicuare und Macanao auf der Insel Margarita folgt, von Westen nach Osten zuerst

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Granit, hernach Gneis , Glimmerschiefer und Urgebirgsschiefer, endlich kompakten Kalkstein, Gips und Konglomerate , worin Seernuscheln vor­ kommen . Es ist schade , daß die Stadt Caracas nicht weiter ostwärts, oberhalb der Mündung des Anauco in den Guaire , angelegt worden ist , da, wo sich gegen Chacao hin das Tal in eine weite und durch den Aufenthalt der Gewässer gleichsam geebnete Fläche ausdehnt. Diego de Losada folgte vermutlich , als er die Stadt gründete , den Fußstapfen einer früheren, von Fajardo eta­ blierten Niederlassung. Damals war noch nicht das ganze Tal im Besitz der Spanier, die der Ruf der Goldminen von Los Teques und Baruta lockte , und sie zogen vor, in der Nähe der in der Küste führenden Straße zu bleiben. Die Stadt Quito ist gleichfalls auf einer Stelle erbaut worden, wo das Tal am eng­ sten und unebensten ist , zwischen zwei schönen Ebenen (Turupamba und Rumipamba) , die man hätte nutzen können, wenn man von den älteren in­ dianischen Anlagen hätte absehen wollen. Vom Zollhaus la Pastora steigt man über die Plaza de Trinidad und die Plaza mayor stets abwärts nach Santa Rosalia und an den Rio Guaire . Durch barometrische Messungen fand ich , daß die Erhöhung der Douane über den Trinidad-Platz, in dessen Nähe ich meine astronomischen Beobachtungen anstellte , 37 Toisen beträgt, daß dieser 8 Toisen höher liegt als das Pflaster der Hauptkirche auf dem Großen Platz und daß dieser endlich 32 Toisen über den Rio Guaire bei la Noria erhöht ist. Diese abschüssige Lage des Bo­ dens hindert das Kutschenfahren durch die Stadt nicht. Doch die Einwohner machen nur wenig Gebrauch davon. Drei vom Gebirge herkommende kleine Flüsse , der Anauco , der Catuche und der Caraguata, nehmen ihren Lauf in der Richtung von Norden nach Süden durch die Stadt . Sie sind sehr eingeengt und erinnern im kleinen, mit den ausgetrockneten Schluchten, die sich beim Kreuzen des Terrains vereinen , an die bekannten Guaicos de Quito . Man trinkt in Caracas das Wasser des Rio Catuche ; wohlhabende Leute lassen jedoch das Wasser von Valle , einem eine lieue südwärts gele­ genen Dorf, kommen . Man hält dieses und das Wasser von Gamboa für sehr gesund, weil sie über die Wurzeln der Sassaparille hinlaufen. Ich habe keine Spur von Aroma oder Extraktivstoff darin wahrgenommen; das Wasser von Valle enthält keinen Kalk, aber etwas mehr Kohlensäure als das des Anauco . Die neue Brücke über diesen Fluß ist schön gebaut und wird von den Spa­ ziergängern nach der Seite von Candelaria auf der Straße von Chacao und Petare fleißig benutzt . Caracas besitzt acht Kirchen, fünf Klöster und einen Schauspielsaal, welcher 1500 bis 1800 Personen fassen kann . Zu meiner Zeit war er so eingerichtet, daß das Parterre , worin beide Geschlechter getrennt saßen , keine Decke hatte . Man konnte gleichzeitig die Schauspieler und den gestirnten Himmel sehen, und weil die damalige neblige Witterung mich um viele Beobachtungen der Trabanten brachte , konnte ich aus einer Theater-

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loge wahrnehmen, ob Jupiter die Nacht durch sichtbar sein würde . Die Straßen der Stadt sind breit und gerade ; sie schneiden einander recht­ winklig, wie dies bei allen von den Spaniern in Amerika erbauten Städten der Fall ist . Die Häuser sind geräumig und höher, als sie in einem dem Erd­ beben ausgesetzten Land sein sollten . Die Ansicht der Plätze Alta Gracia und San Francisco war im Jahr 1800 sehr angenehm . Ich sage im Jahr 1800, denn die furchtbaren Erschütterungen des 26. März 1812 haben die ganze Stadt fast zerstört . Sie ersteht nur langsam wieder aus ihren Ruinen ; das Tri­ nidad-Viertel , worin ich wohnte , wurde umgestürzt, als sei eine Mine dar­ unter zerborsten. Die geringe Ausdehnung des Tals und die Nähe der hohen Gebirge des Avila und der Silla geben der Gegend von Caracas ein ernstes und düsteres Aussehen , vorzüglich in der kühlsten Zeit des Jahres, im November und De­ zember. Die Morgen sind dann sehr schön: Bei reinem und heiterem Himmel erblickt man die zwei Dome oder abgerundeten Pyramiden der Silla und die gezackte Spitze des Cerro de Avila. Gegen Abend aber wird die Atmosphäre dichter, und die Berge verhüllen sich; Dunststreifen hängen an ihren immergrünen Flanken und teilen sie wie in übereinanderliegende Zonen ein . Allmählich verschmelzen diese Zonen; die kalte , von der Silla herabsteigende Luft staut sich im Tal und verdichtet die leichten Dünste zu großen tlockigen Wolken. Oft senken sich diese Wolken bis unter das Kreuz von Guaira hinab und ziehen sich dicht am Boden hin gegen die Pastora de Caracas und in die Nähe von Trinidad. Beim Anblick des Nebelgewölkes glaubte ich mich aus den milden Tälern der heißen Zone nach Deutschland , auf das mit Kiefern und Lärchenbäumen bewachsene Harzgebirge versetzt. Dieser finstere und melancholische Anblick , dieser Kontrast zwischen dem hellen Morgen und dem bedeckten Abendhimmel verliert sich jedoch mitten im Sommer. Die Juni- und Julinächte sind hell und lieblich; die Atmo­ sphäre behält dann ohne Unterbrechung die den Hochtälern und Plateaus eigentümliche Reinheit und Durchsichtigkeit , bei stiller Witterung und so­ lange die Winde keine Luftschichten von ungleicher Wärme durcheinander­ mischen. In dieser Sommerzeit genießt man die ganze Schönheit der Land­ schaft, die ich nur ein paar Tage Ende Januar vollkommen hell sah. Die zwei abgerundeten Gipfel der Silla stellen sich in Caracas fast unter dem gleichen Höhenwinkel dar wie der Pic von Teneriffa im Hafen von Orotava. Die un­ tere Hälfte des Berges ist mit kurzem Rasen bedeckt; dann folgt die Zone der immergrünen Sträucher, welche in der Blütezeit der Befaria, der süd­ amerikanischen Alpenrose , ein purpurfarbenes Licht retlektiert . Über der Waldzone erheben sich zwei domförmige Felsmassen. Von allem Ptlanzen­ wuchs entblößt, vergrößern sie durch ihre Nacktheit die scheinbare Höhe eines Berges , der im gemäßigten Europa kaum die Grenze des ewigen Schnees erreichen würde . Mit dem erhabenen Anblick der Silla und dem

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mannigfachen Wechsel der Landschaft nordwärts der Stadt bilden die ange­ baute Talgegend und die heiteren Ebenen von Chacao, Petare und la Vega einen angenehmen Gegensatz.

[Zum Klima

von

CaracasJ

Das Klima von Caracas ist oft ein ewiger Frühling genannt worden; diesen trifft man überall wieder auf halber Höhe der Cordilleren des tropischen Amerika zwischen 400 und 900 Toisen Erhöhung, wo nicht etwa sehr breite Täler und Plateaus , mit Aridität des Bodens vereint, die Intensität der strah­ lenden Wärme ungewöhnlich verstärken . Was kann man sich in der Tat Lieb­ licheres denken , als eine sich den Tag über zwischen 20 und 26° und die Nacht über zwischen 16 und 18° haltende Temperatur, worin gleichmäßig der Ba­ nanen- (Cambury) , der Apfelsinenbaum, der Kaffeestrauch , der Apfel­ baum, die Aprikose und der Weizen gedeihen ! Auch hat ein einheimischer Schriftsteller, Jose de Oviedo y Banos , die Gegend von Caracas mit dem irdi­ schen Paradies verglichen und dessen vier Flüsse im Anauco und den in seiner Nähe befindlichen Bergströmen zu erkennen geglaubt. Leider ist das so temperierte Klima allgemein unbeständig und wechsel­ haft. Die Einwohner von Caracas beklagen sich , daß sie in einem Tag meh­ rere Jahreszeiten haben und daß der Übergang von einer zur anderen ex­ trem plötzlich erfolgt . Im Januar z. B . ist es nicht selten , daß auf eine Nacht , deren mittlere Temperatur 16° war, ein Tag folgt, wo sich das Thermometer im Schatten acht Stunden lang über 22° hält. Am selben Tag steigt die Tempe­ ratur von 18 auf 24° . Diese Schwankungen sind in unseren gemäßigten euro­ päischen Ländern sehr gewöhnlich ; in der heißen Zone hingegen sind selbst auch die Europäer an eine gleichförmige Einwirkung der äußeren Reize so gewöhnt, daß eine Veränderung von 6° der Temperatur ihnen sehr unange­ nehm auffällt. In Cumana und überhaupt in den Ebenen beträgt der Unter­ schied der Wärme von 11 Uhr morgens bis 11 Uhr abends nicht mehr als 2 oder 3°. Der Einfluß , welchen diese atmosphärischen Wechsel auf die menschliche Organisation in Caracas haben , ist jedoch größer, als man allein nach den thermometrischen Veränderungen glauben sollte . Die Atmo­ sphäre wird in diesem engen Tal durch zwei Winde gewissermaßen im Gleich­ gewicht gehalten, deren einer aus Westen oder von der See , der andere von Osten oder vom Lande herkommt . Den ersteren nennt man den Wind von Catia, weil er aus Catia, westwärts von Kap Blanco , durch die Schlucht von Tipe aufsteigt, deren wir bereits oben , anläßlich des Entwurfs einer neuen Straße und eines neuen Hafens anstelle des Hafens und der Straße von Guaira, gedacht haben. Der Wind von Catia ist nur ein scheinbarer West­ wind ; meist ist es der östliche oder nordöstliche Seewind , der sich mit

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großem Ungestüm in der Quebrada de Tipe fängt. Zurückgeworfen von den hohen Bergen der Aguas Negras, nimmt dieser Wind seine Richtung gegen Caracas hinauf, auf der Seite des Kapuziner-Hospizes und des Rio Cara­ guata. Die Feuchtigkeit, welche er in Menge enthält, wird ralativ zu seiner Temperaturabnahme niedergeschlagen; darum hüllt sich dann auch der Gipfel der Silla in Nebel ein , wenn der Catia im Tal eintrifft. Die Einwohner von Caracas fürchten sich sehr vor ihm; er verursacht Personen, die reizbare Nerven haben, Kopfschmerzen . Ich habe einige gekannt, die , um den Wir­ kungen dieses Windes zu entgehen, sich in ihre Häuser einschlossen, wie man es in Italien tut , wenn der Schirokko weht. Ich glaubte während meines Aufenthalts in Caracas bemerkt zu haben, daß der Wind von Catia reiner (von etwas reicherem Sauerstoffgehalt) sei als der Wind von Pet are . Ich ver­ mutete sogar, es dürfte seine reizende Eigenschaft auf eben dieser Reinheit beruhen. Allein meine Untersuchungsmittel verdienen kein großes Zu­ trauen. Der Wind von Petare kommt aus Ost und Südost , vom östlichen Aus­ gang des Guaire-Tals , und führt die trockene Luft der Berge und des inneren Landes herbei ; er zerstreut die Nebel , und der Gipfel der Silla zeigt sich nun wieder in seiner vollen Pracht. Bekanntlich entgehen die Veränderungen, welche die Winde in den Be­ standteilen der Luft an dem einen oder anderen Ort hervorbringen, unseren eudiometrischen Verfahren gänzlich, indem die genauesten nur 0,003 Teile Sauerstoff angeben. Noch kennt die Chemie kein Mittel, um zwei Flaschen Luft zu unterscheiden, deren eine während des Schirokkos oder des Catias und die andere vor ihrem Eintritt gefüllt wurde . Mir scheint es jetzt wahr­ scheinlicher, daß die auffallende Wirkung des Catias und all jener Luftzüge , denen der Volksglaube eine so große Wichtigkeit zuschreibt, vielmehr auf Veränderungen der Feuchtigkeit und des Wärmegrades als auf chemischen Modifikationen beruht . Es bedarf keiner aus der ungesunden Küstenland­ schaft nach Caracas herbeigeführten Miasmen, um einzusehen , daß den an die trocknere Luft der Berge und des Landesinneren gewöhnten Menschen die durch die Bresche von Tipe ins Hochtal von Caracas aufströmende , sehr feuchte Seeluft höchst widrige Empfindungen erregen muß , wenn sie in diesen höheren Regionen erkaltet und durch Ausdehnung und Zusammen­ treffen mit benachbarten Schichten einen großen Teil ihrer Feuchtigkeit ab­ setzt. Diese Unbeständigkeit des Klimas und diese schnellen Übergänge von einer hellen und trockenen zu einer feuchten und nebligen Luft sind übri­ gens Nachteile , welche Caracas mit allen gemäßigten Tropenländern und mit allen Orten gemein hat, die sich zwischen 400 und 800 Toisen absoluter Erhö­ hung entweder auf kleineren Plateaus oder am Abhang der Cordilleren befinden wie Jalapa in Mexico oder Guaduas in Neu-Granada. Ununterbro­ chene Heiterkeit einen großen Teil des Jahres hindurch trifft man nur in der tiefen, mit dem Meeresspiegel waagerecht liegenden Landschaft oder auf

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sehr großen Höhen in den ausgedehnten Plateaus an , wo die gleichförmige Strahlung des Bodens die Auflösung der blasenförmigen Dünste zu beför­ dern scheint. Die Zone dazwischen liegt auf dem Niveau der ersten Wolken­ schichten , welche die Erdoberfläche umgeben . Das Klima dieser Zone von so milder Temperatur ist seiner Natur nach unbeständig und neblig . Trotz der Höhe des Ortes ist der Himmel im allgemeinen in Caracas we­ niger blau als in Cumami. Die Auflösung der Wasserdünste ist dort unvoll­ ständiger, und eine größere Verbreitung des Lichts schwächt hier wie in un­ seren Himmelsstrichen die Intensität der Luftfarbe, indem sie deren Blau ein Weiß beimischt . Diese mit Saussures Cyanometer gemessene Intensität betrug vom November bis zum Januar allgemein bei 18° und nie über 20° ; an den Küsten hingegen war sie 22 bis 25°. Im Tal von Caracas habe ich be­ merkt, daß der Wind von Petare viel dazu beiträgt , die Färbung des Him­ melsgewölbes blasser zu machen . Am 22. Januar 1800 war das Himmelsblau am Mittag im Zenit schwächer, als ich es jemals in der heißen Zone sah . Es traf mit 12° des Cyanometers zusammen. Die Atmosphäre war damals voll­ kommen hell, wolkenlos und ausgezeichnet trocken . Sobald sich der heftige Wind von Pet are legte , erhöhte sich das Blau im Zenit bis 16°. Ich hatte öf­ ters auf See , wenn auch in geringerem Grad, eine ähnliche Wirkung des Windes auf die Farbe des heitersten Himmels wahrgenommen . Welches ist die mittlere Temperatur von Caracas? Wir kennen sie unvoll­ kommener als die von Santa Fe de Bogota und von Mexico . Indessen glaube ich zeigen zu können , daß sie nicht sehr von 21 bis 22° abweicht . Nach meinen eigenen Beobachtungen habe ich für die sehr kühlen Monate No­ vember, Dezember und Januar aus dem Maximum und Minimum der Tem­ peratur jedes Tages die Mittelwerte von 20,2; 20,1 ; 20 ,2° erhalten. Demnach kann ich aufgrund der Kenntnisse , die wir über die Verteilung der Wärme in den verschiedenen Jahreszeiten und in ungleichen Erhöhungen über der Meeresfläche besitzen, aus den Mittelzahlen einiger Monate die mittlere Jahrestemperatur annähernd ungefähr auf ähnliche Weise deduzieren, wie sich die Meridianhöhe eines Gestirns durch die außerhalb des Meridians ge­ messenen Höhen bestimmen läßt . Die Überlegungen , aus denen das Re­ sultat, welches ich annehme , hervorgeht , sind folgende : In Santa Fe de Bo­ gota weicht , nach Herrn Caldas , der Januar von der mittleren Temperatur des ganzen Jahres nur um 0 ,2° ab ; in Mexico , das der gemäßigten Zone schon sehr nahe liegt , erreicht der Unterschied ein Maximum von 3°. In Guaira, nicht fern von Caracas, beträgt der Unterschied des kältesten Mo­ nats zur mittleren Wärme des Jahres 4,9°; wenn aber die Luft von Guaira (und die von Catia) bisweilen im Winter durch die Quebrada von Tipe in das Hochtal von Caracas emporsteigt, erhält dieses Tal trotzdem einen größeren Teil des Jahres hindurch die von Caurimare und aus dem Landesinneren her­ kommenden Ost- und Südostwinde. Wir wissen aus eigenen Beobachtungen ,

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daß in Guaira und in Caracas die Temperatur der kältesten Monate 23 ,2 und 20,1 ° beträgt . Diese Verschiedenheiten zeigen eine Temperaturabnahme an , welche im Tal von Caracas die gleichzeitige Wirkung der erhöhten Lage (oder der Luftausdehnung in der aufsteigenden Strömung) und des Gegen­ einanderstoßens der Winde von Catia und Petare ist. Nach einer kleinen Zahl von Beobachtungen, die ich während drei Jahren teils in Caracas, teils in Chacao , ganz nahe bei der Hauptstadt, anstellte , er­ gibt sich , daß das hundertteilige Thermometer sich in der kalten Jahreszeit , im November und Dezember, meist den Tag über zwischen 21 und 22° und nachts zwischen 16 und 17° hält . In dieser warmen Jahreszeit , im Juli und August , steht das Thermometer bei Tag auf 25 und 26° und nachts auf 22 bis 23°. Dies ist der gewöhnliche Zustand der Atmosphäre , und dieselben mit einem von mir überprüften Instrument angestellten Beobachtungen geben nun für die mittlere Jahrestemperatur von Caracas etwas über 21,5°. Im Sy­ stem der cisatlantischen Klimate findet sich der gleiche mittlere Wärmegrad im flachen Land um den 36. und 37. Breitengrad. Es ist fast überflüssig, daran zu erinnern , daß dieser Vergleich nur die Wärmemasse begreift , die sich an jedem Ort während eines ganzen Jahres entwickelt und daß sie sich keineswegs auf das Klima, das heißt auf die Verteilung der Wärme zwischen die verschiedenen Jahreszeiten , ausdehnt . Sehr selten steigt die Temperatur zu Caracas im Sommer einige Stunden lang auf 29°. Man versichert , sie im Winter, unmittelbar vor Sonnenaufgang , auf 11° gefallen beobachtet zu haben. Das Maximum und Minimum der Be­ obachtungen während meines Aufenthalts in Caracas ging nicht über 25 und nicht unter 12 ,5°. Die Nachtkälte ist um so empfindlicher, als sie gewöhnlich von Nebel begleitet ist. Es gab ganze Wochen, während welcher ich keine Sonnen- und Sternhöhen nehmen konnte . Der Übergang von der durchsich­ tigsten und hellsten Luft zur völligen Dunkelheit trat so schnell ein , daß nicht selten , wenn ich eine Minute vor dem Eintritt eines Trabanten das Auge schon ans Fernrohr gelegt hatte , der Planet und meine nächsten Umge­ bungen mir gleichzeitig im Nebel entrückt wurden . In der gemäßigten Zone Europas zeigt sich die Temperatur auf den hohen Bergen etwas gleichför­ miger als im flachen Land. Beim St.-Gotthard-Hospiz zum Beispiel beträgt die Verschiedenheit zwischen den mittleren Temperaturen der wärmsten und kältesten Monate 17,3°, während sie unter dem gleichen Parallelkreis , wenig über der Meeresfläche , auf 20 bis 21 ° ansteigt. Die Kälte nimmt auf un­ seren Bergen so schnell nicht zu, wie die Wärme abnimmt . In dem Maß , wie wir uns den Cordilleren nähern , werden wir sehen, daß in der heißen Zone das Klima des flachen Landes gleichmäßiger ist als das der Hochtäler. In Cu­ mami und Guaira (denn man darf nicht Gegenden anführen, wo die Nord­ winde einige Monate lang das Gleichgewicht der Atmosphäre stören) hält sich das Thermometer das ganze Jahr hindurch zwischen 21 und 35°; in Santa

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Fe de Bogota und in Quito nimmt man Abweichungen von 3 bis 22° wahr, wenn man nicht Tage , sondern die kältesten und die wärmsten Stunden des Jahres vergleicht. In den niedrigen Gegenden, in Cumana zum Beispiel , be­ trägt der Unterschied der Nächte zu den Tagen gewöhlich nur 3 bis 4°. In Quito fand ich (aufgrund sorgfältiger Vergleiche des Mittelwertes von 4 oder 5 jeden Tag und jede Nacht angestellten Beobachtungen) den Unterschied von 7°. In Caracas sind bei einer fast dreimal geringeren Erhöhung und auf einem nicht sehr ausgedehnten Plateau die Tage noch im November und De­ zember um 5 bis 5 ,5° wärmer als die Nächte . Diese Phänomene der nächt­ lichen Abkühlung können anfangs auffallend sein ; sie modifizieren sich durch die Erwärmung der Hochtäler und Berge den Tag über, durch das Spiel der absteigenden Strömungen, besonders aber durch das nächtliche Wärmestrahlen in der reinen und trockenen Luft der Cordilleren. Folgendes sind die klimatischen Unterschiede zwischen Caracas und seinem Hafen:

Mittlere Jahrestemperatur M. T. der warmen Jahreszeit M. T. der kalten Jahreszeit Maximum Minimum

Caracas (454 Toisen Höhe) 21 bis 22° 24° 19° 29° 11°

Guaira (Meeresfläche ) 28° 29° 23 ,5° 35° 21°

Der Regen fällt in Caracas während der drei Monate April, Mai und Juni in außerordentlicher Menge . Die Gewitter kommen jederzeit aus Osten und Südosten, von Petare und Valle her. In den tieferen Tropenländern fallen keine Hagelkörner, in Caracas aber geschieht dies meist jedes vierte oder fünfte Jahr. Man hat auch Beispiele von Hagelkörnern, die in noch tiefer lie­ genden Tälern fielen , und diese Erscheinung macht jedesmal einen gewal­ tigen Eindruck auf das Volk. Die Meteorsteine (Aerolithen) sind bei uns sel­ tener, als es trotz der häufigen Gewitter bei 300 Toisen Erhöhung über der Meeresfläche in der heißen Zone die Hagelkörner sind. Das kühle und liebliche Klima, das wir hier beschreiben , ist der Kultur der Äquinoktial-Produkte noch günstig. Das Zuckerrohr gedeiht sogar in Höhen, die Caracas übertreffen; aber im Tal wird wegen des trockenen und steinigen Bodens der Anbau des Kaffeebaumes vorgezogen, der keine reine, aber eine vortreffliche Ernte liefert. Während seiner Blütezeit ge­ währt die sich über Chacao ausdehnende Ebene den freundlichsten Anblick. Der Bananenbaum, der in den Pflanzungen um die Stadt her vorkommt, ist nicht der große Platano art6n; statt seiner werden die weniger Wärme for­ dernden Spielarten Camburi und Dominico gezogen. Die großen Bananen erhält der Markt von Caracas aus den haciendas von Turiamo , die an der

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Küste zwischen Burburata und Puerto Cabello liegen. Die schmackhaftesten Ananas kommen von Baruta, von Empedrado und den Hügeln von Buena­ vista, auf der Straße nach Victoria. Reisende , die zum ersten Mal ins Tal von Caracas hinaufsteigen, werden angenehm überrascht, wenn sie neben dem Kaffee- und Bananenbaum die Pflanzen unserer Gemüsegärten, Erdbeeren, Weinreben und fast alle Fruchtbäume der gemäßigten Zone antreffen. Pfir­ siche und die vorzüglichsten Apfelarten kommen von Macarao oder dem westlichen Talende . Der Quittenbaum, dessen Stamm nicht über vier bis fünf Fuß hoch wird, ist hier so allgemein, daß er fast wild wächst. Die Apfel- und noch mehr die Quitten-Konfitüre sind überaus beliebt, zum al man hier glaubt, um Wasser zu trinken , müsse erst mit Zuckerwerk der Durst gereizt werden . In dem Maß , wie man in der Umgebung der Stadt den Kaffeebaum kultivierte und die Errichtung der Pflanzungen, die erst seit 1795 datiert, vor­ antrieb, hat sich die Zahl der in der Landwirtschaft arbeitenden Neger vergrö­ ßert. Parallel dazu hat man im Tal von Caracas die in den Savannen ver­ streuten Apfel- und Quittenbäume durch Mais und Gemüse ersetzt. Die Reis­ felder, die man bewässert, waren einst in der Ebene von Chacao zahlreicher als gegenwärtig. Ich habe in dieser Provinz sowie in Mexico und in anderen Hochländern der heißen Zone beobachtet, daß die Pflanzung des Birnbaums große Schwierigkeiten bereitet. Man versicherte mir, die vortrefflichen Äpfel, die aus der Nähe von Caracas zum Verkauf auf den Markt gebracht werden, wüchsen auf nicht gepfropften Stämmen . Kirschen hat man keine. Die Olivenbäume, die ich im Hof des Klosters San Felipe Neri sah, sind groß und schön; aber die Üppigkeit ihres Wuchses läßt sie unfruchtbar werden . Wenn die atmosphärische Constitution des Tals sich für alle landwirt­ schaftlichen Erzeugnisse , auf denen die Kolonialindustrie beruht , ungemein günstig zeigt, so ist dies nicht der Fall in bezug auf die Gesundheit der Ein­ wohner und der in der Hauptstadt von Venezuela angesiedelten Fremden . Das unbeständige Klima und die häufige Unterdrückung der Transpiration verursachen katarrhalische Affekte , welche verschiedenste Formen an­ nehmen. Ein Europäer, nachdem er einmal an starke Hitze gewöhnt ist, bleibt viel eher in Cumam'i, in den Tälern von Aragua und allenthalben, wo die niedrigen Tropenländer nicht sehr feucht sind, gesund als in Caracas und in allen Bergländern, die man um ihres ewigen Frühlings willen rühmt. Als ich vom Gelben Fieber in Guaira sprach , habe ich der sehr allgemein verbreiteten Meinung gedacht, derzufolge man glaubt, es pflanze sich diese gefährliche Krankheit fast ebensowenig von der Küste von Venezuela nach der Hauptstadt, wie von den mexicanischen Küsten nach Jalapa fort . Diese Meinung gründet sich auf die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre . Von den Epidemien , die im Hafen von Guaira Verheerungen anrichteten, wurden in Caracas kaum einige Spuren bemerkt . Ich möchte nicht durch eingebildete Furcht die Ruhe der Einwohner der Hauptstadt stören; aber ich bin nicht

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überzeugt , daß der amerikanische Typhus, wenn er durch häufigeren Besuch des Hafens an der Küste endemischer geworden ist , durch besondere klima­ tische Umstände begünstigt , sich nicht einst im Tal beträchtlich ausbreiten könne; denn die mittlere Temperatur von Caracas ist noch ansehnlich genug, um in den wärmsten Monaten das Thermometer zwischen 22 und 26° zu halten. Wenn außer Zweifel steht, daß der Typhus in der gemäßigten Zone durch Kontakt ansteckt, was könnte die Versicherung geben , daß er bei hohem Grad von Bösartigkeit nicht auch in der heißen Zone durch Berüh­ rung ansteckend sein sollte , unter Umständen , wo , nur vier lieues von der Küste entfernt, durch die Temperatur der Sommermonate die Empfänglich­ keit der Organe erhöht wird? Die Lage von J alapa, am Abhang der mexica­ nischen Berge , scheint mehr Sicherheit darzubieten, da diese weniger volk­ reiche Stadt fünfmal weiter vom Meer entfernt ist als Caracas , ihre Erhö­ hung 230 Toisen mehr beträgt und ihre mittlere Temperatur endlich um 3° kühler ist. 1696 weihte ein Bischof von Venezuela, Diego de Barros, der hei­ ligen Rosalia von Palermo eine Kirche (ermita) , weil durch ihre Fürbitte die Hauptstadt von der 16 Monate andauernden Seuche des Schwarzen Eroce­ chens , vomito negro , befreit wurde . Eine Messe , die alljährlich zu Anfang des September in der Kathedrale gehalten wird , bewahrt das Gedächtnis dieser Epidemie , ebenso wie die Prozessionen in den spanischen Kolonien das Datum der großen Erdbeben einprägen. Das Jahr 1696 war in der Tat sehr bemerkenswert infolge einer in den Antillen wütenden Seuche des Gelben Fiebers, das in diesen Gegenden eigentlich erst seit 1688 einhei­ misch zu werden angefangen hatte; was soll man aber von einer Epidemie des Schwarzen Erbrechens halten , die ununterbrochen 16 Monate dauerte und auch diese sehr kühle Jahreszeit sozusagen durchwanderte , worin das Thermometer in Caracas bis auf 12 oder 13° herabsinkt? Sollte der Typhus in dem hohen Tal von Caracas älter sein als in den besuchtesten Häfen von Tierra Firme? Dem Zeugnis von Ulloa zufolge war er dort vor dem Jahr 1729 unbekannt. Ich zweifle , daß die Epidemie von 1696 das Gelbe Fieber oder der wahre amerikanische Typhus gewesen sei . Die Schwarzen Erbrechen sind nicht seltene Begleiter der nachlassenden Gallenfieber, und für sich allein bezeichnen sie ebensowenig wie das Blutspeien jene schreckliche Krankheit, die gegenwärtig in Havanna und Vera Cruz unter dem Namen des vomito bekannt ist . Wenn aber durch keine gen aue Beschreibung dar­ getan werden kann , daß seit Ende des 17. Jahrhunderts der amerikanische Typhus in Caracas geherrscht hat, so ist leider nur allzu gewiß , daß diese Seuche in eben dieser Hauptstadt 1802 eine große Zahl junger europäischer Soldaten dahinraffte . Es ist eine furchtbare Erscheinung, daß mitten in der heißen Zone ein 450 Toisen erhöhtes, aber dem Meer sehr nahe liegendes Plateau seine Bewohner gegen ein Übel, von dem man glaubt , es sei den niedrigen Küstengegenden eigentümlich , noch nicht zu schützen vermag .

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Aufenthalt in Caracas - Gebirge in der Nachbarschaft der Stadt ­ Exkursion zum Gipfel der Silla - Hinweise auf Bergwerke [Beobachtungen und Gedanken während des z weimonatigen Aufenthaltes in CaracasJ

Mein Aufenthalt in Caracas dauerte zwei Monate . Herr Bonpland und ich bewohnten ein fast freistehendes Haus im höchsten Teil der Stadt. Von einer Galerie herab übersahen wir gleichzeitig den Gipfel der Silla, den zackigen Kamm des Galipano und das freundliche Tal von Guaire , dessen schöner Anbau vom finsteren Aussehen der umliegenden Berge auffallend absticht . Die Trockenzeit herrschte . Um die Viehweiden zu verbessern , werden die Savannen und der Rasen , der die steilen Felsabhänge deckt, angezündet. Diese ausgedehnten Brände gewähren dem entfernten Beschauer den An­ blick überraschender Beleuchtungen . Überall, wo die Savannen, den wel­ lenförmig absteigenden Felsen folgend, die vom Wasser ausgehöhlten Fur­ chen füllen , gleicht der entzündete Rasen bei dunkler Nacht über der Tal­ ebene schwebenden Lavaströmen . Ihr helles , aber ruhiges Licht nimmt eine rötliche Färbung an , wenn der von der Silla herkommende Wind in den tieferen Gegenden Nebeldünste sammelt. Bisweilen wird der Anblick noch prachtvoller, wenn die Lichtstreifen , von dichten Wolken verhüllt, nur in ein­ zelnen Zwischenöffnungen sichtbar sind. Je nachdem wie die Wolken dann aufsteigen, wird ihr Saum hellglänzend. Die Gestalt der Gebirge , die Anord­ nung der Abhänge und die Höhe der mit Alpengräsern bedeckten Savannen erhöhen den Reiz dieser verschiedenartigen , in den Tropenländern gewöhn­ lichen Erscheinungen . Den Tag über jagt der Ostwind von Petare den Rauch zur Stadt und vermindert die Durchsichtigkeit der Luft. Hatten wir Ursache , mit der Lage unseres Hauses zufrieden zu sein , so war dies noch mehr der Fall mit der Aufnahme , die uns alle Klassen der Einwohner bereiteten . Ich fühle mich verpflichtet, die noble Gastfreundschaft zu rühmen , welche uns der damalige Generalkapitän der Provinzen von Venezuela , Herr de Gue­ vara-Vasconzelos, erwiesen hat. Obgleich ich , wie sonst nur wenige Spanier, den Vorzug hatte , nacheinander Caracas , Havanna , Santa Fe de Bogota, Quito , Lima und Mexico besucht zu haben und meine Stellung mich in diesen sechs Hauptstädten Spanisch-Amerikas mit Menschen aller Stände in Beziehung brachte , werde ich mir nicht erlauben, über den verschiedenen Grad der Zivilisation zu urteilen, den die Gesellschaft in jeder Kolonie schon erreicht hat. Leichter kann man die verschiedenen Nuancen der Na­ tionalkultur und die vorherrschende Tendenz der geistigen Entwicklung be­ zeichnen, als hingegen Dinge vergleichen und ordnen, die nicht allein aus

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einem einzigen Gesichtspunkt betrachtet werden dürfen. In Mexico und Santa Fe de Bogota glaubte ich eine entschiedene Vorliebe für wissenschaft­ liche Forschungen wahrzunehmen ; in Quito und in Lima mehr Neigung für Literatur und für alles, was einer feurigen und beweglichen Phantasie schmeicheln kann. In Havanna und Caracas endlich mehr Kenntnisse der politischen Verhältnisse der Staaten und größeren Überblick für den Zu­ stand der Kolonien und der Metropolen . Der vielfache Handelsverkehr mit Europa und dieses Antillen-Meer, das oben als ein Mittelmeer mit verschie­ denen Ausgängen beschrieben wurde , übten einen mächtigen Einfluß auf die Fortschritte der Gesellschaft Cubas und der schönen Provinzen Vene­ zuelas aus . In keinem anderen Teil Spanisch-Amerikas hat die Zivilisation ein solch europäisches Aussehen . Die große Zahl in der Landwirtehaft arbei­ tender Indianer, die in Mexico und im Inneren von Neu-Granada wohnen, erteilen diesen weiten Ländern einen eigentümlichen , ich möchte beinahe sagen , exotischeren Charakter. Trotz des stärkeren Anwachsens der schwar­ zen Bevölkerung glaubt man in Havanna und Caracas näher bei Cadiz und den Vereinigten Staaten zu sein als in irgendeinem anderen Teil der Neuen Welt. Da Caracas auf dem Kontinent liegt und seine Bevölkerung nicht so be­ weglich ist wie die der Inseln , haben sich die Nationalsitten dort mehr als in Havanna erhalten . Statt geräuschvoller und mannigfaltiger Vergnügungen gewähren hier die Familienkreise dieses Wohlbehagen, das Munterkeit, Of­ fenheit und Herzlichkeit , mit feiner Sitte gepaart, erzeugen. In Caracas trifft man wie allenthalben, wo eine große Veränderung der Begriffe bevorsteht, zwei Arten , man könnte sagen , zwei sehr verschiedene Generationen von Menschen an. Die eine , die jedoch nicht mehr zahlreich ist , zeichnet sich durch ihre große Anhänglichkeit an alte Bräuche, einfache Sitten und mä­ ßige Genüsse aus . Sie lebt fast nur in Erinnerungen der Vergangenheit. Sie hält Amerika für ein Eigentum ihrer Ahnen , die es eroberten . Was man Auf­ klärung nennt , das haßt sie von Herzen , und sie bewahrt die von den Vätern an sie übergegangenen Vorurteile wie einen Teil ihres Erbes sehr sorgfältig. Die andere , weniger mit der Gegenwart als mit der Zukunft beschäftigt , hat eine oft unbesonnene Vorliebe für Bildung und neue Begriffe . Wo diese Nei­ gung, mit gründlicher Unterrichtung vereint, von Vernunft und Einsicht ge­ leitet ist , wirkt sie wohltätig auf die Gesellschaftsverhältnisse ein. Ich habe aus dieser zweiten Klasse mehrere durch Studienliebe, sanfte Sitten und edle Gesinnungen ausgezeichnete Männer in Caracas kennengelernt; und ich kannte andere , die , alles verschmähend, was der Charakter, die Lite­ ratur und die Künste der Spanier Schönes und Achtungswertes enthalten, ihre Nationaleigenart einbüßten , ohne durch ihren Verkehr mit den Fremden richtige Begriffe über die wahren Grundlagen der Staatseinrich­ tungen und der sozialen Ordnung eingetauscht zu haben.

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Da seit der Regierung Karls V. Korporationsgeist und Munizipalhaß vom Mutterland in die Kolonien übergingen , hört man in Cumami und anderen Handelsstädten der Tierra Firme viele übertriebene Erzählungen von den Adelsanmaßungen der vornehmsten Familien von Caracas , die unter dem Namen los Mantuanos bekannt sind. Zwar ist mir unbekannt, wie diese An­ maßungen sich vormals äußerten ; aber es schien mir, als hätten die Fort­ schritte der Aufklärung und die Revolution der Sitten nach und nach ziem­ lich allgemein alle anstößigen Unterscheidungen zwischen den Weißen be­ seitigt. In allen Kolonien trifft man zweierlei Adel an . Der eine besteht aus Creolen, deren Vorfahren jüngst erst in Amerika ansehnliche Stellen be­ kleidet haben. Er gründet seine Vorrechte zum Teil auf die Auszeichnung, die er im Mutterland genießt; er glaubt, diese auch jenseits des Meeres be­ halten zu können , ohne Rücksicht auf frühere oder spätere Ansiedlung in den Kolonien . Der andere Adel haftet mehr am amerikanischen Boden; ihn bilden die Abkömmlinge der conquistadores , das heißt der Spanier, die zur Zeit der ersten Eroberung in der Armee dienten . Unter diesen Kriegern , den Waffengefährten von Cortes , Losada und Pizarro , befanden sich meh­ rere , die den ersten Familien der Halbinsel angehörten; andere , die aus den unteren Volksklassen stammten , erwarben ihrem Namen Ruhm durch die ritterliche Tapferkeit , die den Anfang des 16 . Jahrhunderts auszeichnete . Ich habe schon anderswo daran erinnert , daß man bei näherer Kenntnis und Würdigung jener Zeiten des religiösen und kriegerischen Enthusiasmus im Gefolge der großen Anführer mit verschiedenen rechtschaffenen , schlichten und großmütigen Männern bekannt wird , welche die den spanischen Namen besudelnden Grausamkeiten tadelten, aber, mit der großen Masse ver­ schmolzen , der allgemeinen Ächtung nicht entfliehen konnten. Der Name der conquistadores ist um so verhaßter geblieben, weil die meisten , nachdem sie friedfertige Völker geschändet und in Überfluß gelebt hatten , auch am Ende ihrer Laufbahn kein großes Mißgeschick erlitten , das den Haß der Menschen mildern und bisweilen auch das strenge Urteil der Ge­ schichte hindern kann. Es sind jedoch nicht die Fortschritte der Aufklärung und das Zusammen­ treffen eines zweifachen Adels von verschiedener Herkunft allein, welche die privilegierten Schichten bewegen , auf ihre Ansprüche zu verzichten oder solche wenigstens klug zu verbergen. Die Aristokratie erhielt in den spani­ schen Kolonien ein Gegengewicht anderer Art, dessen Wirkung mit jedem Tag kräftiger wird. Es hat sich ein Gleichheitsgefühl unter den weißen Men­ schen sehr allgemein verbreitet . Allenthalben , wo die farbigen Menschen als Sklaven oder als Freigelassene angesehen werden , da ist es die ererbte Frei­ heit und die Überzeugung, daß man nur freie Menschen zu Vorfahren hatte , was den Adel begründet. In den Kolonien gilt die Hautfarbe als das eigent­ liche äußere Merkmal dieses Adels. In Mexico wie in Peru , in Caracas wie

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auf der Insel Cuba hört man bei jeder Gelegenheit Weiße , die barfuß gehen, von anderen sagen : "Dieser so reiche Weiße ist am Ende doch nicht weißer, als ich bin . " Weil die aus Europa nach Amerika wandernde Bevölkerung be­ trächtlich ist, begreift man , daß die Lehre ("jeder weiße Mensch ist ein Ad­ liger, todo blanco es caballero") gegen die Ansprüche europäischer Fami­ lien , deren Stammbaum in weite Ferne hinaufreicht, gewaltig verstößt. In­ zwischen ist die Wahrheit dieses Satzes in Spanien selbst schon seit längerer Zeit unter einem durch Redlichkeit, Gewerbefleiß und Nationalgeist mit Recht berühmten Volk anerkannt gewesen . Jeder Baske (Biscayaner) nennt sich Edelmann , und da in Amerika und auf den Philippinen mehr Basken leben als auf der Halbinsel, trugen die Weißen dieses Stammes nicht wenig dazu bei , die Lehre von der Gleichheit aller Menschen , deren Blut nicht mit afrikanischem Blut vermischt ist , in den Kolonien auszubreiten . Übrigens sind die Länder, deren Einwohner auch ohne die Einrichtung der Peerwürde einen so hohen Wert auf Genealogie und Vorrechte der Ge­ burt legen , nicht immer die , in denen die Familienaristokratie sich am belei­ digendsten äußert . Unter den Völkern spanischer Herkunft würde man ver­ geblich diese kalten und anmaßenden Manieren suchen , die der Charakter moderner Verfeinerung im übrigen Europa verbreitet zu haben scheint. In den Kolonien wie im Mutterland werden die verschiedenen Volksklassen durch Herzlichkeit , Offenheit und ein sehr einfaches Benehmen einander nähergebracht; man kann sogar sagen , es beleidige dort der Ausdruck der Eitelkeit und Eigenliebe um so weniger, als er etwas Unverfälschtes und Naives an sich trägt. In vielen Familien von Caracas fand ich große Wißbegierde , Bekannt­ schaft der Meisterwerke der französischen und italienischen Literatur und eine entschiedene Vorliebe für die Tonkunst, die mit Erfolg gepflegt wird und die , wie dies die Beschäftigung mit den schönen Künsten allenthalben tut, dazu beiträgt, die verschiedenen Klassen der Gesellschaft einander nä­ herzubringen . Die eigentlichen Wissenschaften ebenso wie Zeichnen und Malerei entbehren hier dieser großen Anstalten, die Mexico und Santa Fe de Bogota der Freigebigkeit der spanischen Regierung und dem patriotischen Eifer der Eingeborenen verdanken . Mitten in dieser wundervollen und an eigentümlichen Erzeugnissen so reichen Natur war niemand in diesem Kü­ stenland, der sich mit dem Studium von Pflanzen und Mineralien abgab . Nur in einem Franziskanerkloster entdeckte ich einen ehrwürdigen Greis , Pater Puerto , der den Kalender für sämtliche Provinzen von Venezuela berech­ nete und vom neueren Zustand der Astronomie einige richtige Vorstel­ lungen hatte . Unsere Instrumente hatten großen Reiz für ihn, und eines Morgens fand sich eine ganze Schar Franziskanermönche bei uns ein , die zu unserem nicht geringen Erstaunen eine Inklinationsbussole zu sehen wünschten. Die auf Naturerscheinungen gerichtete Neugier steigert sich in

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einem Land, dessen Boden von vulkanischem Feuer unterhöhlt ist, und unter einem Himmelsstrich , wo die Natur zu gleicher Zeit so erhaben und in so geheimnisvoller Tätigkeit ist. Erinnert man sich, daß in den Vereinigten Staaten von Nordamerika kleine Städte von 3000 Einwohnern ihre eigenen Zeitungsblätter haben, ist man erstaunt zu hören , daß Caracas, bei einer Bevölkerung von 40 000 bis 50 000 Seelen , bis zum Jahre 1806 keine Druckerei besaß; es verdienen näm­ lich etliche Pressen diesen Namen nicht , die alljährlich einige Kalender­ bogen oder eine bischöfliche Verordnung drucken. Die Zahl derer, die das Lesebedürfnis kennen, selbst in der spanischen Kolonie , die in der Verfeine­ rung die meisten Fortschritte gemacht hat, ist nicht sehr groß; es wäre jedoch ungerecht, den Kolonisten zur Last zu legen , was die Wirkung einer argwöh­ nischen Staatskunst ist . Ein Franzose , Herr Delpeche , welcher sich mit der Tochter einer der respektabelsten Familien des Landes verehelichte , erwarb sich das Verdienst, die erste schöne Buchdruckerei in Caracas errichtet zu haben. Es ist in den neueren Zeiten keine gewöhnliche Erscheinung, eine Anstalt solcher Art, welche das wichtigste Verbindungsmittel der Menschen darbietet, einer Staatsumwälzung nachfolgen statt ihr vorangehen zu sehen .

[Die Besteigung der Silla von CaracasJ

In einer Gegend, die so bezaubernde Ansichten gewährte und zu einem Zeitpunkt, wo trotz der Anstrengungen einer Volksbewegung die meisten Einwohner nur an materielle Dinge dachten - an die Fruchtbarkeit des Jahres , die anhaltende Dürre , den Kampf der Winde von Petare und Catia -, glaubte ich , es müßten sich viele Leute finden , die mit den umliegenden hohen Bergen genau bekannt wären. Meine Erwartung blieb unerfüllt; wir konnten in Caracas auch nicht einen einzigen Menschen finden, der die Silla bestiegen hatte . Die Jäger kommen nicht bis auf die Gipfel der Berge , und Reisen , um Alpenpflanzen zu sammeln, Gebirgsarten zu untersuchen oder Barometermessungen vorzunehmen, sind hierzulande unbekannte Dinge . An ein gleichförmiges Leben gewöhnt, verläßt man nur selten das Haus; man scheut die Ermüdung und den schnellen Wechsel des Klimas . Es ist , als lebe man nicht, um das Leben zu genießen, sondern nur, um es zu verlän­ gern. Auf unseren Spaziergängen besuchten wir öfters zwei Kaffeepflanzungen , deren Eigentümer liebenswürdige Gesellschafter waren. Diese Pflanzungen lagen der Silla von Caracas gerade gegenüber. Indem wir mit dem Fernrohr die steilen Abhänge des Berges und die Gestalt seiner zwei höchsten Spitzen untersuchten , konnten wir uns vorläufig mit den Schwierigkeiten seiner Besteigung bekannt machen . Aus Höhenwinkeln , die mit dem Sextanten in

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La Trinidad [eine Plantage] gemessen wurden , schloß ich , dieser Berggipfel müsse niedriger über der Meeresfläche stehen als der Große Platz in der Stadt Quito . Diese Schätzung stand freilich in großem Widerspruch zu den Vorstellungen der Talbewohner. Die Berge , die große Städte beherrschten, erhalten schon dadurch in beiden Weltteilen ein außerordentliches Ansehen. Viel früher, als sie auf zuverlässige Weise gemessen wurden , haben die Ge­ lehrten des Landes ihre Höhe in Toisen oder kastilianischen varas bestimmt, und wer daran zweifelt, der beleidigt ein nationales Vorurteil . Der Generalkapitän , Herr d e Guevara , verschaffte uns durch den Te­ niente [Leutnant, Anm. d. Hrsg. ] von Chacao Führer. Es waren Schwarze , welchen der über den Bergkamm an der Westspitze der Silla nach der Küste führende Fußweg einigermaßen bekannt war. Die Schmuggler gebrauchen diesen Fußweg; allein weder diese Führer noch die erfahrensten Männer der Miliz, welche in dieser wilden Landschaft zur Verfolgung der Schleich­ händler gebraucht werden, hatten die östliche Bergspitze , die den höchsten Gipfel der Silla bildet , jemals erstiegen . Den ganzen Dezember über war der Berg, dessen Höhenwinkel mich mit dem Spiel der Strahlenbrechung der Erde bekannt machten, nur fünfmal wolkenlos erschienen. Weil in dieser Jahreszeit selten zwei heitere Tage aufeinanderfolgen, wurde uns geraten , für unseren Ausflug nicht heiteres Wetter, sondern vielmehr einen Zeitpunkt zu wählen, wo die Wolken tief standen und wo man hoffen konnte , sobald die erste gleichförmig verteilte Dunstschicht durchdrungen war, in eine trok­ kene und helle Luft zu gelangen. Am 2. Januar [1800] übernachteten wir in der Estancia de Galleos, einer Kaffeepflanzung, in deren Nähe und in einer schattenreichen Bergschlucht der kleine Bach Chacaito schöne Wasser­ fälle bildet. Die Nacht war ziemlich klar, und obgleich wir am Vorabend einer beschwerlichen Reise gern der Ruhe gepflegt hätten, verbrachten Herr Bonpland und ich die Nacht , um drei Verfinsterungen der Jupitertra­ banten zu erwarten. Ich hatte die Momente der Beobachtungen im voraus bestimmt; doch wir verfehlten sie alle , wegen der Rechenfehler, die sich in die >Connoissance des temps< eingeschlichen hatten. Ein böser Stern stand über den Prognosen der Verfinsterungen im Dezember und Januar infolge Verwechslung der mittleren mit der wahren Zeit . Dieses Mißgeschick machte mich sehr ungeduldig; und nachdem wir vor Sonnenaufgang die Stärke der magnetischen Kräfte am Fuß des Berges be­ obachtet hatten , brachen wir um 5 Uhr morgens, von Sklaven begleitet, die unsere Instrumente trugen, auf. Wir waren achtzehn Personen, die auf einem schmalen Fußpfad im Gänsemarsch gingen. Dieser Pfad führte über einen steilen , mit Rasen bedeckten Abhang. Man ersteigt erst den Gipfel eines Hügels , der gegen Südwesten eine Art Vorgebirge der Silla bildet. Mit dem Hauptberg hängt er durch einen schmalen Damm zusammen , welchem die Hirten den bezeichnenden Namen des Tors oder der Puerta de Silla

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gaben. Wir trafen gegen 7 Uhr hier ein . Es war ein schöner und kühler Morgen ; der Himmel schien bis dahin unserem Ausflug günstig. Das Ther­ mometer hatte sich auf nicht ganz 14° gehalten. Das Barometer zeigte , daß wir uns bereits 685 Toisen über der Meeresfläche , also 80 Toisen höher als bei La Venta, befanden , wo man eine prachtvolle Aussicht auf die Küsten ge­ nießt. Unsere Führer meinten, wir würden in sechs Stunden den Gipfel der Silla erreichen . Wir querten einen schmalen , mit Rasen bedeckten Felsendamm , der vom Vorgebirge de la Puerta zur Spitze des großen Gebirges führt. Die Aussicht umfaßt zwei Täler, die vielmehr mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckte Fels­ spalten heißen könnten . Zur Rechten erblickt man die zwischen zwei Berg­ spitzen gegen den Hof von Mufioz herabziehende Schlucht; zur Linken über­ sieht man die Spalte von Chacaito , deren reiche Gewässer beim Hof von Gallego vorbeifließen . Man hört das Geräusch der Wasserfälle , ohne den rei­ ßenden Gießbach zu sehen, der sich unter dichten Schatten von Erythrinen, Clusien und indianischen Feigenbäumen [Ficus nymphaefolia, Erythrina mitisJ verbirgt . Es gibt nichts Malerischeres in einer Zone, wo so viele Ge­ wächse mit großen , glänzenden und lederartigen Blättern vorkommen, als der Anblick der in großer Tiefe befindlichen und von beinahe senkrechten Sonnenstrahlen beleuchteten Baumgipfel . Von Puerta an wird der Weg immer steiler. Man mußte sich stark vornüber­ beugen, um voranzukommen; die Hangneigung beträgt öfters 30 bis 32°. Der dichte Rasen war durch andauernde Trockenheit sehr glatt geworden. Wir hätten gern Steigeisen oder mit Eisen beschlagene Stöcke gehabt. Die Gneisfelsen sind mit kurzem Gras bedeckt, woran man sich weder halten noch , wie in weniger festem Boden, Stufen einschneiden kann . Dieses mehr mühsame als gefährliche Steigen hatte unsere Begleiter aus der Stadt, denen die Bergreisen ganz ungewohnt waren, abgeschreckt ! Wir verloren viel Zeit, um auf sie zu warten, und entschlossen uns dann erst, den Weg allein fortzu­ setzen , als wir sie , statt uns nachzukommen , den Berg hinab heimkehren sahen . Der Himmel fing an , sich zu umwölken. Schon stieg der Nebel wie Rauch in zarten und geraden Streifen aus dem feuchten Gebüsch hervor, das über uns die Region der alpinen Savannen einfaßte . Es war, als wäre eine Feuersbrunst gleichzeitig an mehreren Stellen im Wald ausgebrochen . All­ mählich sammelten sich die Dünste , um, vom Boden getrennt, durch die Morgenwinde fortgetrieben, als leichtes Nebelgewölk um den abgerundeten Gipfel des Gebirges zu streifen. Diese unfehlbaren Zeichen ließen Herrn Bonpland und mich nicht zwei­ feln , daß uns sehr bald ein dichter Nebel umhüllen werde . Aus Furcht, un­ sere Führer könnten diesen Umstand zur Heimkehr nutzen, ließen wir die , welche die wichtigsten Instrumente trugen, vorangehen und fuhren fort , den Abhang neben der Schlucht von Chacaito zu erklettern. Die den schwarzen

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Creolen eigene Schwatzhaftigkeit stach vom verschlossenen Ernst der In­ dianer ab , die unsere beständigen Begleiter in den Missionen von Caripe ge­ wesen waren. Sie machten sich über diese lustig, die auf ein lange Zeit vorbe­ reitetes Unternehmen so schnell verzichtet hatten , und vorzüglich übten sie ihre Witze an einem jungen Kapuzinermönch , der Professor der Mathematik war und die Vorzüge der europäischen Spanier aller Klassen vor den ameri­ kanischen Spaniern hinsichtlich Körperstärke und Kühnheit zu rühmen nie satt werden konnte . Er hatte Streifen von weißem Papier mitgenommen, die er in den Savannen zerschneiden und auswerfen wollte , um den Nachzüg­ lern den Weg , den sie einschlagen müßten, zu weisen. Seinen Ordensbrü­ dern hatte der Professor sogar versprochen , nachts einige Raketen steigen zu lassen, um der ganzen Stadt Caracas das Gelingen eines Unternehmens zu verkünden, welches ihm, ich muß hinzufügen , nur ihm allein, von überaus großer Wichtigkeit zu sein schien. Er hatte nicht daran gedacht , daß seine lange und schwere Kleidung ihm beim Bergsteigen lästig sein müßte . Weil er viel früher als die Creolen den Mut verlor, verweilte er den Rest des Tages in einer nahen Pflanzung und sah durch ein Fernrohr, wie wir die Silla hinankletterten . Unglücklicherweise für uns hatte dieser Ordensmann , dem es nicht an physikalischen Kenntnissen mangelte und der einige Jahre nachher durch die wilden Indianer am Apure ermordet wurde , die Besor­ gung des Transports von Wasser und anderen auf einer Bergreise sehr not­ wendigen Vorräten übernommen . Die Sklaven , welche uns damit folgten , wurden so lange von ihm aufgehalten, daß sie erst sehr spät eintrafen und wir zehn Stunden ohne Wasser und Brot blieben. Von den zwei abgerundeten Spitzen, die den Gipfel des Berges bilden, war es der östliche als der höhere , auf den wir mit unseren Instrumenten ge­ langen wollten. Die Einsenkung zwischen beiden Spitzen hat dem ganzen Berg den spanischen Namen Silla (Sattel) gegeben. Eine Bergschlucht, die wir bereits erwähnt haben, steigt von dieser Einsattelung ins Tal von Caracas hinab ; an ihrem Ursprung oder oberen Ende nähert sie sich der Westspitze . Den östlichen Gipfel kann man nur angehen, wenn man erst auf der West­ seite der Schlucht über das Vorgebirge von Puerta in gerader Richtung auf die niedrigere Spitze steigt und sich dann nach Osten wendet , nachdem man den Kamm oder die Einsattelung der Silla zwischen den zwei Spitzen fast er­ reicht hat. Die Ansicht des Berges allein schon scheint diesen Weg vorzu­ zeichnen; denn auf der Ostseite der Schlucht sind die Felsen so steil, daß es schwerhalten dürfte , den Gipfel der Silla auf geradem Wege nach der östli­ chen Spitze , ohne den Umweg über die Puerta, zu erreichen . Vom Fuß des Wasserfalls von Chacaito bis zur Höhe von 1000 Toisen fanden wir lauter Savannen. Zwei kleine Liliengewächse mit gelben Blüten [Cypura martinicensis und Sisyrinchium iridifolium] erheben sich einzig in­ mitten der Gräser, mit denen die Oberfläche der Felsen bewachsen ist.

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Einige Brombeerstauden [Rubus jamaicensisJ erinnerten an die europäi­ schen Pflanzenformen . Vergeblich sahen wir uns auf diesen Bergen von Ca­ racas und später auf dem Rücken der Anden nach wilden Rosen um. Wir haben im ganzen südlichen Amerika nicht eine einzige einheimische Ro­ sen art angetroffen, so ähnlich auch das Klima des hohen Gebirges der heißen dem unserer gemäßigten Zone ist. Es scheint sogar dieser liebliche Strauch auf der südlichen Halbkugel weder diesseits noch jenseits des Wen­ dekreises irgendwo vorhanden zu sein . Nur auf den mexicanischen Bergen wurde uns das Vergnügen zuteil, um den 19. Breitengrad den amerikani­ schen Rosenstrauch zu entdecken . Von Zeit zu Zeit wurden wir vom Nebel eingehüllt, und weil auf dieser Höhe kein gebahnter Weg mehr vorhanden ist , war das Auffinden der Rich­ tung ein schwieriges Geschäft. Wo auf dem steilen und glatten Abhang die Füße nicht ausreichen , bedient man sich der Hände . Ein mit Porzellanerde angefüllter Gang erregte unsere Aufmerksamkeit. Diese schneeweiße Erde ist vermutlich das Überbleibsel von zersetztem Feldspat . Ich habe ansehn­ liche Proben davon dem Intendanten der Provinz übergeben . In einem Land, wo der Brennstoff in Menge vorhanden ist, kann die Beimischung feu­ erfester Erden zur Verbesserung der Fayence und selbst der Backsteine vor­ teilhaft sein. Sooft der Nebel uns umgab , sank das Thermometer bis auf 120; bei heiterem Himmel stieg es auf 210 an . Diese Beobachtungen wurden im Schatten angestellt, allein es fällt schwer, an solch steilen , mit trockenem, glänzendem und gelbem Rasen überdeckten Abhängen die Wirkungen der strahlenden Wärme zu vermeiden . Wir befanden uns auf der Erhöhung von 940 Toisen ; und dennoch sahen wir ostwärts auf gleicher Höhe in einer Fels­ schlucht nicht etwa nur einige einzelne Palmbäume , sondern ein ganzes Palmbaumwäldchen . Es war die Palma real, vielleicht eine zur Gattung Oreodoxa gehörige Art . Diese in so großer Erhöhung befindliche Gruppe von Palmbäumen bildete einen seltsamen Kontrast zu den im wärmeren Tal­ grund von Caracas zerstreut wachsenden Weiden arten [Salix Humboldtiana , Willd . ] . Man sieht hier europäische unter den sich über ihnen entwickelnden Formen der heißen Zone . Nach vierstündiger Wanderung durch die Savannen betraten wir ein aus Sträuchern und niedrigen Bäumen gebildetes Wäldchen. Man nennt es el Pe­ jual, vermutlich wegen der darin in Menge wachsenden Pejoa [Gaultheria odorataJ , welche sehr starkriechende Blätter hat. Der Abhang des Berges wird nun sanfter, und die Untersuchung der in dieser Gegend vorkom­ menden Pflanzen gewährte uns unsägliche Freude . Nirgends trifft man viel­ leicht auf solch kleinem Raum derart schöne und hinsichtlich der Geogra­ phie der Pflanzen bemerkenswerte Gewächse an. Auf der Höhe von 1000 Toisen gehen die hohen Savannen der Silla in die Zone der Stauden über, welche durch ihren Wuchs, ihre krummen Äste , ihre harten Blätter und die

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Größe und Schönheit ihrer Purpurblüten an das erinnern , was auf der Anden-Cordillere mit dem Namen der Paramos-und-Puna-Vegetation be­ zeichnet wird. Hier zeigen sich die Pflanzen aus der Familie der Alpenrose, die Thibaudien , die Andromeden, die Vaccinien und jene Befaria mit har­ zigen Blättern, die wir öfters mit der europäischen Alpenrose (Rhododen­ dron) verglichen haben . Wenn selbst die Natur nicht die gleichen Arten in ähnlichen Erdstrichen erzeugt, sei es auf isothermen Parallelen in den Ebenen oder auf Plateaus, deren Temperatur sich Pol-benachbarten Orten annähert, wird man im­ merhin eine auffallende Ähnlichkeit in Wuchs und Physiognomie zwischen den Pflanzen der entferntesten Länder wahrnehmen; dies ist eine der merk­ würdigsten Erscheinungen, welche die Geschichte der organischen Formen bietet. Ich sage die Geschichte ; denn mag immerhin die Vernunft dem Men­ schen Hypothesen über den Ursprung der Dinge untersagen, so quälen uns unlösliche Fragen der Verteilung der Geschöpfe über den Erdball nichtsde­ stoweniger. Eine schweizerische Grasart [Phleum alpinum] wächst auf dem Granitfelsen der Magellanstraße . Über vierzig der europäischen Phanero­ gamen-Gewächse werden in Neu-Holland [Australien] angetroffen, und die meisten der in den gemäßigten Zonen beider Halbkugeln identischen Pflanzen finden sich nirgends in der dazwischenliegenden Region der Äqui­ noktialländer, in den Talgründen wie auf den Bergrücken . Ein Veilchen mit behaarten Blättern , das sozusagen die Grenze der Phanerogamen auf dem Vulkan von Teneriffa bildet und von dem man lange glaubte, daß es dieser Insel eigentümlich sei, wird 300 lieues nördlicher, in der Nähe des beschneiten Gipfels der Pyrenäen angetroffen. Gräser und Riedgräser Deutschlands, Arabiens und Senegals sind unter den Pflanzen erkannt worden, die Herr Bonpland und ich auf den kalten Plateaus Mexicos, längs der heißen Ufer des Orinoco und in der südlichen Hemisphäre auf dem Rücken der Anden von Quito gesammelt haben. Wie lassen sich die Pflanzenwanderungen durch Regionen von so abweichenden klimatischen Verhältnissen , die ge­ genwärtig vom Weltmeer bedeckt sind , erklären? Wie geschah es, daß die Keime von Organischem , die durch Wuchs und sogar in ihrer inneren Struktur ähnlich sind, sich in ungleichen Entfernungen von den Polen und von der Meeresfläche überall entwickelt haben , wo die von einander so weit entfernten Orte einige Temperatur-Analogie darbieten? Trotz des Ein­ flusses , welchen der Luftdruck und die mehr oder mindere Schwächung des Lichts auf die vitalen Funktionen der Pflanzen ausüben , muß dennoch die überall ungleiche Verteilung der Wärme zwischen verschiedenen Jahres­ zeiten als der mächtigste Stimulus der Vegetation betrachtet werden . Die Zahl der auf bei den Kontinenten und in beiden Halbkugeln vorkom­ menden identischen Arten ist viel kleiner, als man nach den Behauptungen der ersten Reisenden glaubte . Die hohen Gebirge der amerikanischen Äqui-

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noktialländer besitzen zweifellos Arenarien , Wegerich , Baldrian, Ranun­ keln , Mispeln , Eichen und Kiefern , die man ihrem Aussehen nach mit den europäischen verwechseln kann, die jedoch spezifisch von diesen ver­ schieden sind. Wenn die Natur nicht dieselben Arten bietet, wiederholt sie doch gerne die gleichen Gattungen. Verwandte Arten stehen oft in den größten Entfernungen voneinander in den tiefen Regionen der gemäßigten Zone und in den alpinen Regionen des Äquators. Ansonsten (und die Silla von Caracas bietet ein schlagendes Beispiel dieser Erscheinung) sind es nicht die europäischen Gattungen, die einzelne ihrer Arten als Kolonisten zur Besiedlung der Gebirge der heißen Zone aussandten, sondern Gat­ tungen desselben Stammes, ihrem Wuchs nach kaum zu unterscheiden, die unter verschiedenen Breiten einander ersetzen . Die Entfernung der Gebirge Neu-Granadas, welche das Plateau von Bo­ gota umschließen, von denen von Caracas beträgt über 200 lieues , und den­ noch bietet die Silla als einziger höherer Pic einer ziemlich niedrigen Kette diese eigentümlichen Gruppierungen der Befaria mit Purpurblüten, der An­ dromeden, Gaultherien, Myrtillen, des Uvas camaronas, der Nertera und der Aralien mit haarigen Blättern dar, welche die Vegetation der Paramos auf den hohen Cordilleren von Santa Fe de Bogota auszeichnen. Wir haben dieselbe Thibaudia glandulosa beim Eingang in das Plateau von Bogota und auf dem Pejual der Silla angetroffen. Die Küstenkette von Caracas ver­ bindet sich unzweifelhaft (durch den Torito , die Palomera, Tocuyo , die Pa­ ramos von las Rosas, Bocono und Niquitao) mit den hohen Cordilleren von Merida, Pamplona und Santa Fe , doch von der Silla bis Tocuyo , auf einem 70 lieues langen Zwischenraum , ist das Gebirge von Caracas so niedrig, daß die obengenannten Staudengewächse aus der Familie der Ericineen das für ihre Entwicklung erforderliche kalte Klima nicht finden. Nimmt man sogar an, wie es wahrscheinlich ist, daß die Thibaudia und die Alpenrose der Anden oder die Befaria im Paramo von Niquitao und in der mit ewigem Schnee be­ deckten Sierra de Merida vorkommen , würde doch beiden der hinlänglich erhöhte und verlängerte Felskamm für ihre Wanderungen nach der Silla de Caracas fehlen. Je mehr man die Verteilung der organischen Wesen auf dem Erdball stu­ diert, desto geneigter wird man , wenn nicht die Vorstellung von Wande­ rungen gänzlich aufzugeben, so sie doch wenigstens durchaus nicht als gänz­ lich befriedigende Hypothesen zu betrachten . Die Andenkette teilt das ganze südliche Amerika der Länge nach in zwei ungleiche Teile . Am öst­ lichen und am westlichen Fuß dieser Kette haben wir eine große Zahl spe­ zifisch gleicher Pflanzen angetroffen. Die verschiedenen Cordilleren-Über­ gänge gestatten den Gewächsen der heißen Regionen nirgendwo einen Durchgang von den Küsten des Südmeers an die Ufer des Amazonenflusses. Sobald irgendwo , sei es inmitten der Ebenen und sehr niedriger Gebirge

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oder im Zentrum von unterirdischem Feuer erhobener Inseln, eine Berg­ spitze eine größere Höhe erreicht, wird ihr Gipfel von Alpengewächsen ge­ krönt , von denen mehrere sich nur in ungeheurer Entfernung auf anderen Gebirgen , die ein ähnliches Klima haben, wiederfinden . Solcher Art sind die allgemeinen Erscheinungen der Verteilung der Pflanzen, und man kann die Naturforscher nicht genug auffordern , sie zu studieren. Wenn ich allzuleicht angenommene Hypothesen bekämpfe , so engagiere ich mich damit nicht , sie durch andere , befriedigendere zu ersetzen. Ich denke eher, daß die Pro­ bleme , um die es hier geht , unlösbar seien und der Naturforscher habe seine Aufgabe erfüllt, wenn er die Gesetze andeutet, nach welchen die Natur ihre Pflanzenformen verteilt hat . Man sagt, ein Berg sei hoch genug , um die Grenzen von Rhododendron und Befaria zu erreichen, wie man seit langer Zeit meinte, ein Berg erreiche die Grenze des ewigen Schnees. Indem man sich dieses Ausdrucks bedient, nimmt man stillschweigend an, unter dem Einfluß gewisser Temperaturen müßten sich gewisse Pflanzenformen notwendig entwickeln. Allgemein zu­ treffend ist diese Vermutung freilich nicht. Die mexicanischen Kiefern kommen auf den peruanischen Cordilleren nicht vor. Die Silla von Caracas ist mit diesen Eichen nicht bewachsen , die in Neu-Granada auf gleicher Höhe gedeihen. Die Identität der Formen zeigt die Analogie der Klimate an; in analogen Klimaten können die Arten erheblich voneinander abweichen . Die entzückende Alpenrose der Anden, die Befaria, wurde zuerst von Herrn Mutis beschrieben, der sie in der Nähe von Pamplona und von Santa Fe de Bogota unter dem 4. und 7. Grad nördlicher Breite gefunden hatte. Sie war noch so wenig bekannt , daß sie vor unserer Exkursion zur Silla fast in keiner europäischen Pflanzensammlung zu finden war. Die gelehrten Her­ ausgeber der >Flora Peruana< beschrieben sie sogar unter einem neuen Namen und nannten sie Acufia. So wie die Alpenrosen Lapplands , des Kau­ kasus und der Alpen voneinander verschieden sind, zeigen sich auch die zwei Arten der Befaria , die wir auf der Silla gesammelt haben [Befaria glauca, B. ledifeliaJ, von denen in Santa Fe de Bogota [Befaria aestuans, B. resinosaJ spezifisch abweichend . In der Nähe des Äquators bedecken die Al­ penrosen der Anden die Gebirge bis zu den höchsten Paramos, in 1600 bis 1700 Toisen Höhe . Nördlicher, auf der Silla von Caracas, stehen sie viel tiefer, ein wenig unter 1000 Toisen . Die kürzlich in Florida auf dem Parallel­ kreis von 30° entdeckte Befaria gedeiht sogar auf niederen Hügeln . So sieht man diese Stauden in einer Distanz von 600 lieues der Breite in dem Maß, wie sie sich vom Äquator entfernen, in die Ebenen herabsteigen. Die Alpen­ rose Lapplands wächst sogar 800 bis 900 Toisen niedriger als die der Alpen und der Pyrenäen . Wir waren überrascht, in den Gebirgen Mexicos zwischen den Alpenrosen von Santa Fe und Caracas und denen von Florida keine ein­ zige Art der Befaria anzutreffen.

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Im kleinen Pejual, das die Silla umk{änzt, wird die Befaria ledifolia nur drei bis vier Fuß hoch . Ihr Stamm teilt sich vom Boden an in zahlreiche brü­ chige , fast quirlförmige Äste . Ihre Blätter sind oval lanzenförmig , auf der Unterfläche graugrün und zum Rand eingerollt . Die ganze Pflanze ist mit langen klebrigen Haaren besetzt und hat einen sehr angenehmen harzigen Geruch . Die Bienen besuchen ihre schönen Purpurblüten, die , wie bei allen Alpenpflanzen , sehr zahlreich sind und, wenn die Blüte völlig geöffnet ist, oft fast einen Zoll im Durchmesser haben . Das Rhododendron der Schweiz, da, wo es zwischen 800 bis 1000 Toisen Höhe wächst, gehört einem Klima an, dessen mittlere Temperatur + 2 und - 1 ° beträgt und derjenigen der lappländischen Ebenen ähnlich ist . In dieser Zone haben die kältesten Monate - 4 und - 10°; die wärmsten Monate 12 und 7°. Aus thermometrischen Beobachtungen, die auf gleichen Höhen und unter den gleichen Parallelkreisen angestellt wurden , ergibt es sich als sehr wahrscheinlich, daß auf dem Pejual der Silla, 1000 Toisen über der Fläche des Antillenmeeres , die mittlere Lufttemperatur noch 17 bis 18° beträgt und daß sich das Thermometer in der Jahreszeit mit der geringsten Wärme tags­ über zwischen 15 und 20° und des Nachts zwischen 10 und 12° hält . Beim Ho­ spiz des St. Gotthards , das nahe bei der oberen Grenze der Alpenrose steht, beträgt das Maximum der Wärme im Monat August mittags (im Schatten) gewöhnlich 12 bis 13°; nachts in der gleichen Jahreszeit kühlt die Luft ver­ möge der Wirkung der Wärmestrahlung des Bodens ab bis auf + 1 oder - 1,5°. Unter dem gleichen Barometerdruck und folglich in gleicher Höhe , aber 30 Breitengrade dem Äquator näher, ist die Befaria der Silla häufig mit­ tags einer Temperatur von 23 bis 24° ausgesetzt. Das größere nächtliche Fallen der Temperatur überschreitet wahrscheinlich niemals 7° . Wir haben hier den sorgfältigen Vergleich des Klimas geliefert, worin unter verschie­ denen Breiten zwei Pflanzengruppen , die derselben Familie angehören, in gleichen Entfernungen von der Meeresfläche vorkommen; wäre der Ver­ gleich zwischen gleichmäßig voneinander entfernten Zonen entweder des ewigen Schnees oder der Null-Grad-Isotherme angestellt worden, würden sich ganz andere Resultate ergeben haben. Im Pejual wächst nahe bei der Befaria mit Purpurblüten: Hedyotis mit Heidekrautblättern von acht Fuß Höhe ; die Caparosa, ein großes baumar­ tiges Hypericum; ein Lepidium, das mit dem Virginiens identisch erscheint ; endlich Lycopodiaceen und Moose , die Felsen und Baumwurzeln über­ ziehen. Eine Staude von 10 bis 15 Fuß Höhe aus der Familie der Corymbi­ feren macht diesen Pejual am meisten im Land berühmt. Die Creolen nennen sie incienso [Weihrauch] . Ihre lederartigen gekerbten Blätter sind wie die Spitzen der Zweige mit einer weißen Wolle bedeckt . Sie ist eine äu­ ßerst harzreiche Trixis-Art, deren Blüten einen angenehmen Balsamgeruch haben. Dieser Geruch ist sehr verschieden von dem , den die Blüten der

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Trixis theribentinacea der Gebirge Jamaicas aushauchen, die denen von Caracas gegenüberliegen. Man verwechselt bisweilen den incienso der Silla mit den Blüten der Pevetera, einer anderen Composite , deren Aroma dem peruanischen Heliotrop ähnlich ist. Die Pevetera erreicht jedoch in den Gebirgen nicht die Zone der Befaria; sie wächst im Tal von Chacao , und die Damen in Caracas gebrauchen sie zur Verfertigung eines sehr angenehmen Riechwassers . Wir verweilten lange bei der Untersuchung dieser schönen harzigen und wohlriechenden Pflanzen des Pejual . Der Himmel wurde immer finsterer. Das Thermometer sank unter 110, eine Temperatur, bei der man in dieser Zone bereits anfängt zu frieren . Verläßt man das Buschwerk alpiner Stau­ dengewächse , befindet man sich wieder auf einer Savanne . Wir erstiegen einen Teil des westlichen Gipfels , um in die Einsenkung des Sattels oder des Tals , welches beide Gipfel der Silla trennt , hinabzusteigen . Hier war wegen des ungemein kräftigen Pflanzenwuchses nur schwer durchzukommen. Ein Botaniker würde nicht leicht erraten , daß das dichte Gehölz, das dieses kleine Tal bedeckt, aus Gruppen einer zur Familie der Bananen (Musaceen oder Scitamineen) gehörenden Pflanze besteht. Es ist wahrscheinlich eine Maranta oder eine Heliconia; sie hat breite und glänzende Blätter, erreicht die Höhe von 14 bis 15 Fuß , und ihre saftigen Stengel stehen, gleich dem Schilf [Arundo donax] in feuchten Regionen des südlichen Europa, nahe beisammen . Durch diesen Muscaeenwald hindurch mußte ein Weg gebahnt werden. Die Neger gingen mit ihren Messern oder machetes voran. Das Volk verwechselt diese alpine B anane mit den baumartigen Gräsern (carice) ; wir haben weder ihre Blüte noch die Frucht gesehen. Man ist überrascht, eine Familie der Monocotyledonen, von der man glaubt, sie sei ausschließlich den niedrigen und heißen Region der Tropen eigen , in 1100 Toisen Höhe , weit über den Andromeden , Thibaudien und Alpenrosen der Cordilleren [Befaria] anzutreffen. Auf einer ebenso hohen und noch nördlicheren Ge­ birgskette , den Blauen Bergen von Jamaica, wachsen Papagaien-Heliconia und Bihai auch vorzugsweise an schattigen , alpinen Standorten. Während des Umherschreitens in diesem dichten Gehölz von Musaceen oder baumartigen Krautgewächsen nahmen wir unsere Richtung stets nach der östlichen Bergspitze hin, die wir erreichen mußten. Von Zeit zu Zeit wurde sie durch eine Wolkenlücke sichtbar. Plötzlich aber waren wir in dichten Nebel gehüllt. Die Bussole allein konnte uns den Weg weisen ; weil dieser aber nordwärts ging, liefen wir bei jedem Schritt Gefahr, an den Rand der ungeheuren Felsenmauer zu geraten, die fast senkrecht 6000 Fuß zum Meer abfällt. Wir mußten stehenbleiben, und von Wolken eingehüllt, die den Boden streiften , fingen wir zu zweifeln an , ob es möglich sein werde , vor Einbruch der Nacht den östlichen Gipfel zu erreichen. Zum Glück waren die Neger, die das Wasser und unsere Vorräte trugen, inzwischen eingetroffen ,

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und wir nahmen nur einige Nahrung zu uns . Unsere Mahlzeit dauerte nicht lange; denn sei es nun , daß der Pater Kapuziner nicht an unsere zahlreiche Begleitung gedacht hatte oder daß die Sklaven unterwegs sich ihre Bürde er­ leichtert hatten : Wir fanden nichts als Oliven und fast kein Brot . Horaz hat in seinem Ruhesitz in Tibur kein einfacheres und leichteres Mahl gepriesen ; aber Oliven, die einen dem Studieren und dem Zimmerleben ergebenen Dichter sättigen mochten , sind für Bergsteiger eine allzu magere Kost . Wir hatten den größten Teil der Nacht durchwacht und waren nun seit neun Stunden unterwegs , ohne Quellen anzutreffen . Unsere Führer hatten allen Mut verloren; sie wollten durchaus umkehren, so daß es Herrn Bonpland und mir nur mit viel Mühe gelang, sie zurückzuhalten . Mitten im Nebel versuchte ich den mit einem Docht versehenen Elektro­ meter von Volta. Trotz der Nähe des dichten Heliconien-Gehölzes erhielt ich sehr deutliche Zeichen atmosphärischer Elektrizität. Sie ging öfters aus der positiven in die negative über, und ihre Intensität wechselte jeden Augen­ blick. Diese Variationen und der Kampf mehrerer kleiner Luftströmungen, die den Nebel zerteilten und in Wolken von bestimmten Umrissen verwan­ delten, schienen mir untrügliche Zeichen eines Wechsels der Witterung zu sein. Es war erst zwei Uhr nachmittags . Wir schöpften einige Hoffnung , die östliche Spitze der Silla vor Sonnenuntergang zu erreichen und wieder in das beide Gipfel trennende Tal hinabsteigen zu können . Hier dachten wir bei einem großen Feuer und unter einer durch unsere Neger aus den breiten und dünnen Blättern der Heliconie aufzurichtenden Hütte zu übernachten. Die Hälfte unserer Begleiter sandten wir mit dem Auftrag zurück, uns am fol­ genden Morgen, jedoch nicht mit Oliven, sondern mit einem Vorrat eingepö­ kelten Fleisches entgegenzukommen. Kaum waren diese Anstalten getroffen, als der Wind mit Ungestüm von der Meeresküste her zu wehen begann . Das Thermometer stieg auf 12 ,5°. Es war zweifellos ein aufsteigender Wind, der die Temperatur hob und die Dünste auflöste . Es dauerte keine zwei Minuten, da waren die Wolken ver­ schwunden . Die beiden Gipfel der Silla stellten sich in außerordentlicher Nähe dar. Wir öffneten das Barometer an der tiefsten Stelle des Einschnitts , welcher beide Gipfel trennt, nahe einer kleinen Pfütze mit schlammigem Wasser. Hier wie auf den Antillen trifft man schlammiges Erdreich in großen Höhen an , nicht weil die bewaldeten Gebirge die Wolken anziehen , sondern weil sie vermöge der nächtlichen, durch die Wärmestrahlung des Bodens und des Parenchyms der Blätter verursachten Abkühlung den Dunst kon­ densieren. Das Quecksilber hielt sich auf 21 Zoll 5,7 Linien. Wir stiegen nun in gerader Richtung zum östlichen Gipfel auf. Die Vegetation wurde uns nach und nach weniger beschwerlich ; doch mußten noch Heliconien umge­ hauen werden; aber diese baumartigen Krautgewächse waren niedriger und standen auch nicht mehr so dicht . Die Spitzen der Silla selbst sind, wie wir

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schon mehrmals bemerkt haben, nur mit Gramineen und niedrigen Befaria­ Stauden bewachsen . Ihre Nacktheit beruht nicht auf ihrer Höhe . Die Baum­ grenze ist in dieser Zone noch um 400 Toisen höher, denn nach der Analogie anderer Berge zu schließen, fände sich diese Grenze hier nur auf 1800 Toisen Höhe . Der Mangel hoher Bäume auf den zwei Felsengipfeln der Silla scheint vielmehr von der Aridität des Bodens , von der Heftigkeit der Seewinde und von den auf allen Gebirgen der Äquinoktialländer so häufigen Feuersbrün­ sten herzurühren. Um die höchste , östliche Spitze zu erreichen, muß man sich soviel wie möglich dem äußerst steilen, gegen Caravalleda und die Küsten sich sen­ kenden Abhang nähern . Bis hierher hatte der Gneis seine blättrige Textur und sein ursprüngliches Streichen beibehalten; aber da, wo wir den Gipfel der Silla erstiegen, geht er in Granit über. Seine Textur wird körnig; der Glimmer kommt seltener und ungleicher verteilt vor. Granate sieht man keine mehr, wohl aber einige vereinzelte Hornblendekristalle . Ein Syenit ist es jedoch keineswegs , sondern eher ein Granit neuer Formation . Wir brauchten drei Viertelstunden , um die Spitze der Pyramide zu erreichen . Ge­ fährlich ist dieser Teil des Wegs keineswegs, wenn man nur vorsichtig die Fe­ stigkeit der Felsblöcke prüft , auf die man den Fuß setzt. Der über dem Gneis liegende Granit zeigt keine regelmäßige Trennung in Bänke; er wird durch Spalten, die sich oft in rechten Winkeln durchschneiden, zerteilt . Prismati­ sche Blöcke von einem Fuß Breite und zwölf Fuß Länge treten schräg aus dem Boden hervor und erscheinen am Rand des Abgrunds wie große über­ hängende Balken. Auf der Spitze des Berges genossen wir jedoch nur wenige Minuten lang einen vollkommen klaren Himmel. Eine sehr ausgedehnte Fernsicht be­ schäftigte unseren Blick , der sich gleichzeitig nordwärts über das Meer und südwärts über das fruchtbare Tal von Caracas ausdehnte. Das Barometer hielt sich auf 20 Zoll 7,6 Linien ; die Lufttemperatur betrug 13 ,7°. Wir be­ fanden uns auf 1350 Toisen Höhe . Das Auge umfaßt eine See fläche von 36 lieues im Halbmesser. Wem der Blick in die Tiefe Schwindel bereitet, der muß sich im Mittelpunkt der kleinen Ebene halten, die den östlichen Gipfel der Silla begrenzt. Der Berg ist durch seine Höhe nicht bemerkenswert, die fast 80 Toisen weniger beträgt als die des Canigou; aber er unterscheidet sich von allen mir bekannten Bergen durch den ungeheuren Absturz, welchen er auf der See seite darbietet. Die Küste bildet nur einen schmalen Saum, und wenn man von der Spitze der Pyramide auf die Häuser von Caravalleda hin­ absieht, so hält man infolge einer optischen Täuschung, die wir öfters er­ wähnt haben, die Felsenmauer für fast senkrecht . Die wahre Neigung des Hanges schien mir bei genauer Berechnung 53° 28' zu betragen. Die mittlere Neigung des Pic von Teneriffa beträgt kaum 12° 30' . Ein 6000 bis 7000 Fuß hoher Absturz wie der der Silla von Caracas ist eine viel seltenere Erschei-

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nung, als die glauben , welche die Berge besteigen , ohne sich mit Messungen ihrer Höhen, Massen und Hänge zu befassen . Seit man sich in verschiedenen Ländern Europas neuerdings mit Versuchen über den Fall der Körper und ihre südöstliche Abweichung beschäftigt, hat man vergeblich in allen Schweizeralpen eine Felsenmauer von 250 Toisen senkrechter Höhe ge­ sucht. Der Absturz des Mont Blanc gegen die Allee Blanche erreicht nicht einmal einen Winkel von 450, obgleich in den meisten geologischen Werken die Südseite des Berges als ein fast senkrechter Abhang dargestellt wird. Der ungeheure nördliche Absturz der Silla von Caracas ist trotz seiner Steilheit zum Teil mit Pflanzen bewachsen. Gebüsche von Befarien und An­ dromeden scheinen an der Felswand wie aufgehängt. Das kleine Tal, wel­ ches die zwei Gipfel südwärts trennt, verlängert sich auf der Seeseite. Die al­ pinen Pflanzen füllen die Einsenkung; sie wachsen den Bergkamm hinab und folgen den Windungen der Schlucht. Man möchte unter den frischen Schatten dieser grünenden Pflanzenwelt das Dasein verborgener Wildbäche vermuten, und die Anordnung der Vegetabilien ebenso wie die Gruppierung so vieler unbeweglicher Objekte geben der Landschaft den Reiz von Bewe­ gung und Leben . Sieben Monate früher befanden wir uns auf dem Gipfel des Vulkans von Teneriffa , von welchem man eine Oberfläche der Erdkugel übersieht, die dem vierten Teil Frankreichs an Ausdehnung gleichkommt . Der scheinbare Horizont des Meeres ist dort sechs lieues entfernter als auf dem Gipfel der Silla, und doch konnten wir ihn wenigstens eine Zeitlang sehr deutlich er­ blicken . Er war genau begrenzt und verschwamm nicht mit den benach­ barten Luftschichten . Auf der Silla, die 550 Toisen niedriger ist als der Pic von Teneriffa , blieb der nähergerückte Horizont dennoch gegen Nord und Nordnordost unsichtbar. Beim Überschauen der einem Spiegel gleichenden Meeresfläche fiel uns die stetige Abnahme des reflektierten Lichts auf. Da, wo der Sehstrahl die äußerste Grenze dieser Oberfläche berührt, vermischte sich das Wasser mit den über ihm befindlichen Luftschichten . Dieser Aspekt hat etwas Außerordentliches . Man erwartet den Horizont im Niveau des Auges zu sehen; statt aber in dieser Höhe eine scharfe Grenze zwischen beiden Elementen zu unterscheiden, scheinen die entferntesten Wasser­ schichten wie in Dunst aufgelöst und mit dem Luftozean gemischt. Dasselbe erlebte ich nicht an einem einzelnen Teil des Horizonts , sondern an mehr als 1600 Ausdehnung, in der Nähe der Südsee, als ich mich zum ersten Mal auf dem spitzen Felsen befand , der den Krater des Pichincha , eines Vulkans , der höher als der Mont Blanc ist, beherrscht. Die Sichtbarkeit eines sehr ent­ fernten Horizonts hängt, wenn keine Luftspiegelung (mirage) stattfindet, von zwei verschiedenen Ursachen ab : von der Lichtmenge nämlich, die der Teil des Ozeans empfängt, welchen der Sehstrahl erreicht, und von der Ab­ nahme , welche das reflektierte Licht während seines Durchgangs durch die

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dazwischenliegenden Luftschichten erfährt . Es kann geschehen , daß trotz heiteren Himmels und durchsichtiger Atmosphäre der Ozean auf 35 bis 40 lieues Entfernung nur schwach beleuchtet ist oder daß die der Erde zunächst stehenden Luftschichten durch Absorption der durchgehenden Strahlen die Stärke des Lichts beträchtlich vermindern . Wenn auch die Wirkungen der Refraktion unberücksichtigt bleiben , sollte man von der Silla herab bei schönem Wetter die Inseln Tortuga, Orchila , Los Roques und Aves erblicken, deren Entfernung für die nächstgelegenen 25 lieues beträgt . Wir sahen jedoch keine dieser Inseln, sei es, daß der Zu­ stand der Atmosphäre daran Schuld trug oder daß die Zeit, welche wir bei klarem Himmel zum Suchen verwenden konnten, allzu kurz war. Ein gebil­ deter Seemann, der den Berg in unserer Gesellschaft ersteigen wollte , Don Miguel Areehe , versicherte, die Silla in der Nähe der Salzklippen , bei der Roca de Fuera, in 12° I / Breite erkannt zu haben. Würde die Aussicht nicht durch die umstehenden Berggipfel beschränkt, müßte man von der Silla herab die Küste ostwärts bis zum Morro de Piritu sehen und westwärts bis zur Punta deI Soldado , zehn lieues unter dem Wind von Puerto Cabello . Südwärts im Inneren des Landes wird der Horizont durch die Bergkette , die Yare und die Savanne von Ocumare vorn Tal von Caracas trennt, wie durch einen in paralleler Richtung mit dem Äquator sich in die Länge zie­ henden Wall begrenzt. Hätte dieser Wall eine Öffnung oder Lücke , wie man solche Breschen so häufig in den Salzburger und Schweizer Gebirgen an­ trifft, genösse man einen staunenswerten Anblick . Man sähe durch die Lücke hindurch die Llanos oder die weiten Steppen von Calabozo , und weil diese Steppen die Höhe des Auges des Beobachters erreichen würden, über­ sähe man die ähnlichen Horizonte der See und des Landes vorn gleichen Standpunkt aus . Der abgerundete Pic oder der westliche Dorn der Silla entzog uns die Aus­ sicht auf die Stadt Caracas ; wir erkannten hingegen die zunächst gelegenen Häuser, die Dörfer Chacao und Petare , die Kaffeepflanzungen und den Lauf des Rio Guaire , der sich als ein silberfarbiges Licht reflektierender Wasser­ faden darstellte . Der schmale bebaute Strich Land kontrastierte angenehm mit dem düsteren und wilden Anblick des umliegenden Gebirges . Kaum wird man beim Überblick an dieser ausgedehnten Landschaft bedauern , daß keine Bilder vergangener Zeiten die Einsamkeit der Neuen Welt verschö­ nern . Überall, wo in der heißen Zone eine gewächsreiche , mit Bergen be­ setzte Landschaft ihre ursprüngliche Gestalt beibehielt, erscheint der Mensch nicht mehr als Mittelpunkt der Schöpfung. Weit entfernt, die Ele­ mente zu beherrschen, geht sein Bestreben nur dahin , sich ihrer Gewalt zu entziehen. Was die Wilden seit Jahrhunderten auf der Erdoberfläche verän­ derten, verschwindet neben den Umwälzungen , die durch unterirdisches Feuer, Überschwemmungen großer Flüsse und heftige Stürme bewirkt

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wurden . Der Kampf der Elemente unter sich ist es , der das Schauspiel der Natur im Neuen Kontinent auszeichnet. Dem Europäer kommt eine unbevölkerte Gegend als ein von ihren Be­ wohnern verlassenes Land vor. Wer in Amerika, in den Wäldern des flachen Landes oder auf dem Rücken der Cordilleren jahrelang lebte und Land­ schaften , die an Ausdehnung Frankreich gleichkommen , nur mit einzelnen verstreuten Hütten besetzt sah, dessen Phantasie entsetzt sich über große Einöden nicht mehr. Man wird vertraut mit der Vorstellung einer Welt , die nur Pflanzen und Tiere nährt und worin menschliche Freuden und Leiden ihre Jubel- und Klagetöne nie hören ließen . Wir konnten nur kurze Zeit die Vorteile genießen, welche die alle umlie­ genden Berge beherrschende Lage der Silla gewährt. Während wir mit dem Fernrohr den Teil der See , dessen Horizont gen au begrenzt war, und die Bergkette von Ocumare untersuchten , in deren Rücken die unbekannte Welt des Orinoco und Amazonenflusses anfängt, stieg aus der Ebene ein dichter Nebel in die höheren Gegenden empor. Anfangs bedeckte er den Grund des Tals von Caracas . Der von oben herab beleuchtete Dunst hatte eine gleichförmige milchweiße Färbung. Das Tal schien mit Wasser bedeckt und glich einer Meerenge , deren steile Ufer die umliegenden Berge bil­ deten. Wir hatten vergeblich die Ankunft des Sklaven erwartet, der unseren Ramsdenschen Sextanten trug. Um den Zustand des Himmels zu nutzen , mußte ich mich entschließen , einige Sonnenhöhen mit dem Troughtonschen Sextanten von zwei Zoll Radius aufzunehmen. Die Sonnenscheibe war zur Hälfte durch Nebel verhüllt. Der Unterschied der Länge zwischen der Ge­ gend von Trinidad und der Ostspitze der Silla schien 0° 3' 22" kaum zu über­ steigen. Während ich auf einem Felsen saß und mit Beobachtung der Inklination der Magnetnadel beschäftigt war, wurden meine Hände auf einmal mit einer Art kleiner, behaarter Bienen überdeckt, die nicht ganz so groß sind wie die Honigbiene des nördlichen Europa. Diese Insekten bauen ihre Nester in der Erde . Sie fliegen nur selten , und der Langsamkeit ihrer Bewegungen nach konnte man glauben , sie seien von Frost auf dem Berg erstarrt . Das Volk hierzulande nennt sie Engelchen , angeütos, weil sie nur höchst selten ste­ chen. Sie gehören ohne Zweifel zur Gruppe der Meliponen in der Bienenfa­ milie . Trotz der Angabe verschiedener Reisender ist es doch unrichtig, daß diese Amerika eigentümliche Bienenart gar keine Angriffswaffe habe. Sie besitzen einen schwächeren Stachel, und sie bedienen sich seiner seltener. Solange man mit der Sanftheit dieser angelitos nicht vertraut ist , kann man sich einiger Furcht nicht erwehren, und ich gestehe , daß ich während meiner astronomischen Beobachtungen öfters nahe daran war, die Instrumente fallen zu lassen, wenn die behaarten Bienen mir Antlitz und Hände be­ deckten. Unsere Führer versicherten , diese Insekten setzten sich nur dann

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zur Wehr, wenn man sie reize und bei den Füßen fasse ; ich hatte keine Lust , den Versuch an mir selbst anzustellen . Die Inklination der Magnetnadel war auf der Silla u m einen Grad der hun­ dertteiligen Skala kleiner als in der Stadt Caracas . Aus der Zusammenstel­ lung der Beobachtung, die ich bei stillem Wetter und unter sehr günstigen Umständen teils auf den Bergen , teils längs der benachbarten Küsten vor­ nahm, scheint sich beim ersten Anblick in diesem Erdteil ein gewisser Einfluß der Höhen auf die Inklination der Nadel und auf die Stärke der ma­ gnetischen Kraft zu ergeben; doch es darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß die Inklination in Caracas ungleich beträchtlicher ist , als man der Lage der Stadt zufolge glauben sollte , und daß die magnetischen Er­ scheinungen durch die Nähe gewisser Felsen modifiziert werden, die ebenso viele absonderliche Mittelpunkte oder kleine Anziehungssysteme bilden. Magnetische Orte

(1800)

Erhöhung

Nördliche

Westliche

inToisen

Breite

Länge

Inklination , neue Einteilung

Guaira Caracas (Trinidad) Venta (de Avila) Silla

3 454 606 1350

10° 36' 10° 30' 10° 33' 10° 31'

19" 50" 9" 15"

69° 27' 69° 25 ' 69° 28' 69° 21'

42,20° 42,90° 41 ,75" 41 ,90°

Oszillationen, welche die Stärke der Kraft bestimmen

237 132 234 230

Die Temperatur der Atmosphäre wechselt auf dem Gipfel der Silla zwi­ schen 11 und 14°, je nachdem, ob die Luft still war oder Wind aufkam. Man weiß, wie schwer es auf den Berggipfeln ist, die Temperatur zu verifizieren , welche man zu den barometrischen Berechnungen braucht . Der Wind wehte aus Osten , welches nahezulegen scheint , daß die See- oder Passatwinde sich in dieser Breite weit über 1500 Toisen Höhe ausdehnen. Herr von Buch hat bemerkt , daß auf dem nahe an der nördlichen Grenze der Passatwinde ste­ henden Pic von Teneriffa, auf 1900 Toisen Höhe meist ein entgegengesetzter Wind (vent de remou) , der von Westen kommt, vorherrscht . Die Academie des Sciences hatte die Naturforscher, welche den unglückli­ chen La Perouse begleiteten, eingeladen, sich kleiner aerostatischer Ballone zu bedienen, um auf See, zwischen den Wendekreisen , die Ausdehnung der Passatwinde zu erforschen. Diese Untersuchungen sind mit großen Schwie­ rigkeiten verbunden , wenn der Beobachter auf der Erde bleibt . Die kleinen Ballons erreichen gewöhnlich die Höhe der Silla nicht , und die leichten Wolken, die man bisweilen in Höhen von 3000 bis 4000 Toisen wahrnimmt, die Schäfchen zum Beispiel, stehen völlig still oder ihre Bewegung ist so langsam, daß sich über ihre Richtung nicht urteilen läßt.

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Während des kurzen Zeitraums , wo der Himmel im Zenit heiter war, fand ich das Blau der Atmosphäre merklich dunkler als an den Küsten. Es betrug 26,5° auf Saussures Cyanometer. In Caracas zeigte dieses Instrument über­ haupt bei heller und trockener Witterung nur 18°. Wahrscheinlich ist in den Monaten Juli und August der Unterschied der Himmelsfarbe an den Küsten auf dem Gipfel der Silla noch viel größer. Die meteorologische Erscheinung aber, welche Herrn Bonpland und mir während der Stunde , die wir auf dem Berg weilten, am meisten auffiel, war die offensichtliche Trockenheit der Luft, die nach Maßgabe, wie sich der Nebel bildete , zuzunehmen schien. Als ich, um Versuche damit anzustellen, das Fischbeinhygrometer aus seinem Behälter hob , zeigte es 52° (87° Sauss . ) . Der Himmel war heiter, jedoch zogen Dunststreifen, deren Umrisse gen au begrenzt waren, von Zeit zu Zeit über dem Boden hin zwischen uns durch . Delucs Hygrometer ging auf 49° (85° Sauss .) zurück . Eine halbe Stunde später umhüllte uns eine dichte Wolke ; wir konnten auch die zunächst befindlichen Gegenstände nicht mehr unterscheiden und sahen mit Befremden das Instrument immer mehr Trok­ kenheit andeuten und bis auf 47,7° (84° Sauss.) zurückgehen . Die Tempe­ ratur der Luft betrug damals 12 bis 13°. Obgleich beim Fischbeinhygrometer der Sättigungspunkt in der Luft nicht bei 100, sondern bei 84 ,5° (99° Sauss .) liegt , kam mir doch diese Wirkung einer Wolke auf den Gang des Instru­ ments im höchsten Grad der Sättigung der Luft außerordentlich vor. Der Nebel hielt lange genug an , daß das Fischbeinstreifchen infolge seiner Anzie­ hung der Wasserteilchen sich hätte verlängern können. Unsere Kleider wurden nicht feucht. Ein in Beobachtungen dieser Art geübter Reisender versicherte mir neulich , auf dem Berg Pelee der Insel Martinique eine gleich­ artige Wirkung der Wolken auf das Haarhygrometer gesehen zu haben. Dem Naturforscher ist es Pflicht, die Naturerscheinungen, welche sich ihm dar­ bieten, mitzuteilen, zumal wenn von seiner Seite nichts versäumt wurde , um Irrtümer der Beobachtung zu vermeiden. Herr de Saussure sah einen hef­ tigen Regenguß , wobei sich sein Hygrometer, das nicht von Regen feucht ge­ worden war (ungefähr wie im Nebel der Silla) , auf 84,7° (48,6° Deluc) hielt ; indes versteht man eher, wie die zwischen den Regentropfen befindliche Luft nicht vollkommen gesättigt ist , als man erklären kann , wie die Dunst­ bläschen, welche die hygroskopische Substanz unmittelbar berühren, eben diese Substanz die Feuchtigkeit nicht anzeigen lassen. Wie ist der Zustand eines Dunstes, der nicht befeuchtet, während er doch dem Auge sichtbar ist? Man muß, denke ich , annehmen, eine trocknere Luft sei der beigemischt, in der sich der Nebel bildete , und die Dunstbläschen, deren Volumen viel kleiner ist , als das der dazwischen befindlichen Luft, ließen die glatte Oberfläche des Fischbeinstäbchens unbefeuchtet. Die durchsichtige Luft , welche einer Wolke vorangeht, kann zuweilen feuchter sein als die Luftströ­ mung, die uns mit der Wolke erreicht.

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Es wäre unklug gewesen , in dieser dichten Nebelhülle am Rand eines 7000 bis 8000 Fuß tiefen Abgrunds längere Zeit zu verweilen . Beim Abstieg vom östlichen Gipfel der Silla fanden wir eine Graminee , die nicht nur eine neue , sehr merkwürdige Gattung bildet, sondern die wir zu unserem großen Er­ staunen in der Folge auch auf der Spitze des Vulkans Pichincha auf der süd­ lichen Halbkugel, 400 lieues von der Silla entfernt , wieder antrafen . Der im nördlichen Europa so häufig vorkommende Lichen fioridus überdeckte die Zweige der Befaria und der Gaultheria odorata und reichte bis an die Wur­ zeln dieser Staudengewächse hinab . Bei Untersuchung der Moose , welche den Gneisfelsen des Tals zwischen beiden Pies bekleiden, war ich über­ rascht, regelrechten Kies und abgerundete Quarzstücke anzutreffen . Es ist begreiflich, daß das Tal von Caracas vormals ein Landsee sein konnte , zur Zeit , wo der Rio Guaire noch keinen östlichen Abfluß in der Nähe von Cau­ rimare , am Fuß des Hügels von Augamas , gefunden hatte , und ehe noch die Bergschlucht von Tipe westwärts gegen Catia und Kap Blanco geöffnet war; wie aber mag man sich erklären, daß die Gewässer die Höhe des Pies der Silla erreichten , während die ihm gegenüberstehenden Berge von Ocumare allzu niedrig sind , um ihren Abfluß in die Llanos zu hindern? Durch Berg­ ströme konnten die Geschiebe von keinem höheren Standpunkt zugeführt werden, weil keine die Silla beherrschende Erhöhung vorhanden ist . Soll man annehmen, daß sie wie die gesamte Bergkette , welche die Küste säumt , gehoben worden ist? Es war 4.30 Uhr abends , als wir unsere Beobachtungen beendet hatten. Vergnügt über den glücklichen Erfolg unserer Reise vergaßen wir, daß das Hinuntersteigen über steile , mit glattem und schlüpfrigem Rasen bedeckte Abhänge in der Dunkelheit gefährlich sein könnte . Der Nebel entzog un­ seren Blicken die Aussicht ins Tal . Hingegen unterschieden wir deutlich die zwei Hügel der Puerta, die , wie es mit fast senkrecht unter uns liegenden Ge­ genständen immer der Fall ist , außerordentlich nahe schienen . Wir gaben den Gedanken auf, die Nacht auf dem Berg zwischen beiden Silla-Gipfeln zuzubringen ; und nachdem wir den Fußpfad wieder gefunden hatten, auf welchem wir durch das dichte Heliconiengehölz gestiegen waren, gelangten wir auf ihm zum Pejual , in die Region der starkriechenden und harzigen Staudengewächse . Die Schönheit der Befarien und ihre mit großen Purpur­ blüten bedeckten Zweige zogen unsere Aufmerksamkeit nochmals an . Wer in diesen Erdstrichen Pflanzen für Herbarien sammelt , hat die Qual der Wahl, weil die Fülle der Vegetation größer ist . Soeben abgeschnittene Zweige wirft man weg , weil sie anderen, die man erreichen kann, an Schön­ heit nachzustehen scheinen. Verläßt man endlich , mit Pflanzen beladen, das Wäldchen , bedauert man , nicht noch mehr mitgenommen zu haben. Wir hatten so lange im Pejual verweilt , daß uns die Nacht beim Eintritt in die Savanne auf mehr als 900 Toisen Höhe überraschte . Weil die Dämmerung

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zwischen den Wendekreisen ausnehmend kurz ist , geht man aus der vollen Tageshelle fast plötzlich in Finsternis über. Der Mond stand über dem Hori­ zont ; seine Scheibe wurde von Zeit zu Zeit durch dichte , von einem kalten und heftigen Wind getriebene Wolken verdeckt. Die steilen , mit gelbem und dürrem Gras bekleideten Abstürze waren bald beschattet, bald stellten sie sich wieder beleuchtet dar und schienen dem forschenden Auge tiefe Ab­ gründe darzustellen . Wir gingen in langer Reihe einer nach dem anderen; man bot sich die Hände , um beim Fallen nicht in die Tiefe zu rollen. Die Führer, welche unsere Instrumente trugen , hatten uns allmählich verlassen, um auf dem Berg zu übernachten . Unter den zurückgebliebenen bewun­ derte ich die Gewandtheit eines Kongonegers, der eine große Inklinations­ Bussole auf dem Kopf trug und sie trotz der äußerst steilen Felsabhänge im Gleichgewicht hielt. Der Nebel war nach und nach im Talgrund ver­ schwunden. Die zerstreuten Lichter, die wir in der Tiefe wahrnahmen , verur­ sachten eine doppelte Täuschung. Die Abstürze schienen gefährlicher, als sie in der Tat waren, und während sechs Stunden ununterbrochenen Nieder­ steigens glaubten wir den Höfen am Fuß der Silla immer gleich nahe zu sein . Wir unterschieden sowohl sehr deutlich Menschenstimmen wie die durch­ dringendsten Gitarrentöne . Überhaupt wird der Ton von unten nach oben so gut fortgepflanzt , daß man in einem Luftballon in 3000 Toisen Höhe bis­ weilen das Bellen der Hunde hört . Um zehn Uhr abends trafen wir erst , ermüdet und von Durst gequält , im Talgrund ein. Nahezu fünfzehn Stunden waren wir fast ununterbrochen auf den Füßen geblieben ; der rohe steinige Boden und der ausgetrocknete harte Rasen hatten unsere Fußsohlen aufgerissen , da der schlüpfrige Boden uns zum Ausziehen der Stiefel genötigt hatte ; an Abhängen, wo weder Sträucher noch holzige Gewächse vorkommen, woran man sich mit den Händen fest­ halten kann, ist das Hinuntersteigen mit nackten Füßen sicherer. Zur Abkür­ zung des Weges ließ man uns von der Puerta de Silla nach dem Hof von Ga­ llegos einen Fußpfad einschlagen, der zu einem Wasserbehälter, el tanque , führt. Wir verfehlten den Fußweg, und dieser letzte Absturz, der steilste von allen, brachte uns in die Nähe der Bergschlucht von Chacaito . Das Geräusch der Wasserfälle gab dieser Nachtszene einen erhabenen und wilden Cha­ rakter. *

Wir übernachteten am Fuß der Silla ; unsere Freunde in Caracas hatten uns durch Fernrohre auf dem Gipfel des östlichen Pics erkannt . Die Erzäh­ lungen unserer beschwerlichen Reise fanden viel Teilnahme , hingegen war man mit einer Messung übel zufrieden , welche der Silla nicht einmal die Höhe der höchsten Pyrenäenspitze einräumte . Wer möchte dieses volkstüm­ liche Interesse tadeln , das sich Denkmale der Natur aneignet, wo Denkmale

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der Kunst nicht vorhanden sind? Wen sollte es wundern, daß die Bewohner von Quito und von Riobamba, die seit Jahrhunderten auf die Höhe des Chimborazo stolz waren , den Messungen mißtrauen , welche das Himalaja­ Gebirge Indiens über alle Kolosse der Cordilleren erheben?

[Spuren des Bergbaus]

Während der Bergreise nach der Silla, die ich soeben beschrieben habe , und während aller unserer Exkursionen im Tal von Caracas forschten wir aufmerksam nach Erzgängen und Spuren von Bergwerken im Gneisgebirge . Weil nirgends regelmäßige Arbeiten fortgesetzt worden sind , muß man sich auf Untersuchungen der Bergspalten , Schluchten und Bergrutsche be­ schränken, die durch Waldströme in der Regenzeit bewirkt werden . Das Gneisgebirge, welches bisweilen den Übergang zu einem Granit neuer For­ mation und bisweilen zum Glimmerschiefer zeigt , gehört in Deutschland zu den metallreichsten Gesteinen. Im Neuen Kontinent hingegen hat sich der Gneis bis dahin an bauwürdigen Erzen keineswegs reich gezeigt . Die be­ rühmtesten Bergwerke von Mexico und Peru finden sich im Urgebirgs- und Übergangsschiefer, im trappartigen Porphyr, in der Grauwacke und im AI­ penkalkstein . An verschiedenen Stellen im Tal von Caracas zeigt der Gneis wenig Gold in kleinen Quarzgängen zerstreut, geschwefeltes Silber, lasur­ blaues Kupfer und Bleiglanz; es ist jedoch zweifelhaft, ob diese metallhaI­ tigen Lager nicht alle zu arm sind, um der Bearbeitungsversuche wert zu sein . Solche Versuche wurden gleich nach Eroberung der Provinz gegen Mitte des 16. Jahrhunderts angestellt . Vom Vorgebirge Paria bis jenseits des Kaps Vela hatten die Seefahrer bei den Küstenbewohnern Goldschmuck und Goldstaub angetroffen. Man suchte landeinwärts die Stätten, wo dieses kostbare Metall herkäme ; und ob­ gleich die in der Provinz Coro sowie auf den Märkten von Curiana und von Cauchieto gesammelten Angaben deutlich genug machten, daß ein wahrer Reichtum von Erzen nur westwärts oder südwärts von Coro , nämlich in den an Neu-Granada grenzenden Bergen , zu finden wäre , wurde dennoch die ganze Provinz Caracas mit nicht minderem Eifer durchforscht . Ein kürzlich auf diesem Küstenland eingetroffener Gouverneur mußte , um sich dem Hof zu empfehlen, die Bergwerke seiner Provinz rühmen , und um den niedrigen und häßlichen Charakter der Goldgier einigermaßen zu decken, rechtfer­ tigte man sie durch den Gebrauch, welchen man von den durch List und Ge­ walt gesammelten Reichtümern machen zu wollen vorgab . "Das Gold" , sagt Christoph Columbus in seinem letzten, an König Ferdinand geschriebenen Brief, "ist eine Ihrer Majestät um so notwendigere Sache , als zur Erfüllung einer alten Weissagung Jerusalem durch einen Fürsten der spanischen Dyna-

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stie wiederhergestellt werden soll . Das Gold ist das vortrefflichste aller Me­ talle . Was ist das Schicksal der Edelsteine , die man an den äußersten Enden der Erde aufsucht? Man verkauft sie und verwandelt sie endlich in Gold . Mit Gold kann nicht nur in dieser Welt alles erhalten werden, was man will ; es ist auch noch brauchbar, um die armen Seelen aus dem Fegefeuer zu erretten und um das Paradies zu bevölkern . " Diese mit so natürlicher Offenheit ge­ sprochenen Worte tragen den Stempel des Jahrhunderts, worin Columbus lebte ; es befremdet aber dennoch , ein so pomphaftes Lob der Reichtümer von einem Manne zu hören , dessen ganzes Leben die edelste Uneigennützig­ keit offenbarte . Weil die Eroberung der Provinz Venezuela an ihrem westlichsten Ende anfing, waren es die Berge von Coro , Tocuyo und Barquisimeto , welche am frühesten die Aufmerksamkeit der conquistadores auf sich zogen. Durch diese Berge werden die Cordilleren von Neu-Granada ( die von Santa Fe , von Pamplona, von la Grita und von Merida) mit der Küstenkette von Ca­ racas in Verbindung gesetzt. Dem Geognosten ist diese Landschaft um so in­ teressanter, als bis dahin keine Karte die Bergverzweigungen angibt, welche von den Paramos von Niquitao und von las Rosas nordöstlich ausgehen, die letzten , deren Höhe 1600 Toisen erreicht . Zwischen Tocuyo , Araure und Bar­ quisimeto erhebt sich die Berggruppe des Altar. Sie verknüpft sich südwest­ lich mit dem Paramo de las Rosas . Ein Zweig des Altar verlängert sich nord­ östlich über San Felipe el Fuerte und schließt sich den Granitbergen des Kü­ stenlandes in der Nähe von Puerto Cabello an . Der andere Zweig richtet sich ostwärts gegen Nirgua und Tinaco , um sich der inneren Bergkette von Yusma, Villa de Cura und Sabana d'Ocumare anzuschließen . Diese ganze hier beschriebene Landschaft trennt die dem Orinoco zufließenden Ge­ wässer von denen , die sich in den großen Seen von Maracaibo und ins An­ tillen-Meer ergießen . Ihr Klima ist eher gemäßigt als heiß , und im Lande selbst wird sie trotz der Entfernung von mehr als hundert lieues als eine Ver­ längerung des metallführenden Bodens von Pamplona angesehen. In dieser Gruppe der westlichen Berge von Venezuela hatten die Spanier bereits 1551 das Goldbergwerk von Buria eröffnet und dadurch die Gründung der Stadt Barquisimeto veranlaßt; allein diese Arbeiten wurden gleich mehreren an­ deren nacheinander eröffneten Bergwerken bald wieder aufgegeben . Hier, wie in allen Bergen von Venezuela, zeigten sich die Erzlager in ihrem Ertrag sehr unbeständig . Die Gänge trennen und verengen sich häufig; das Erz kommt nur nestweise vor und bietet sich in sehr täuschender Gestalt dar. In­ dessen wurde doch nur in eben dieser Berggruppe von San Felipe und von Barquisimeto bis in die gegenwärtige Zeit der Bergbau fortgesetzt. Die Bergwerke von Aroa, bei San Felipe el Fuerte, welche im Mittelpunkt eines sehr fieberreichen Landes liegen , sind die einzigen, die im ganzen Kapitanat von Caracas bebaut werden. Sie liefern eine geringe Ausbeute an Kupfer,

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und wir werden später darauf zurückkommen, wenn wir die schönen Täler von Aragua und die Ufer des Valenciasees durchwandert haben. Nach dem Bergbau von Buria bei Barquisimeto ist der im Tal von Caracas und in den der Hauptstadt zunächst gelegenen Bergen der älteste . Francisco Fajardo und seine Gattin Isabella aus dem Guaikeri-Stamm, die beiden Stifter der Stadt Collado , besuchten die Bergebene häufig, auf der jetzt die Hauptstadt von Venezuela erbaut ist. Sie nannten sie Valle de San Francisco , und weil sie Goldkörner in den Händen der Eingeborenen bemerkt hatten, gelang es Fajardos Nachforschungen , bereits im Jahr 1560 die Bergwerke von los Teques südwestwärts von Caracas, in der Nähe der Berggruppe von Cocuiza, durch welche die Täler von Caracas und Aragua getrennt werden, zu entdecken. Man glaubt, es hätten die Eingeborenen im ersteren dieser Täler, nahe bei Baruta (südwärts vom Dorf Valle) , sogar einige goldhaltige Quarzgänge abgebaut und danach zum Zeitpunkt der ersten Niederlassung der Spanier und der Errichtung von Caracas die bereits vorhandenen Gruben unter Wasser gesetzt . Es ist unmöglich , diese Tatsache gegenwärtig zu erhärten; gewiß ist hingegen, daß Goldkörner schon lange vor der Erobe­ rung ein, ich will nicht sagen allgemeines, aber unter gewissen Völkern der Tierra Firme übliches Tauschmittel gewesen sind. Man tauschte Perlen gegen Gold ein, und es hat nichts Befremdliches, wenn Völkerschaften, die feste Wohnsitze besaßen und sich mit Landbau beschäftigten , nachdem sie lange Zeit Goldkörner in Bächen sammelten, versucht haben sollten, gold­ haitigen Gängen bis zu ihrem Austreten zu folgen . Eine friedliche Arbeit in den Bergwerken von los Teques wurde erst möglich nach der Niederlage des Kaziken Guaycaypuro , des berühmten Häuptlings der Teques-Indianer, der den Spaniern den Besitz der Provinz von Venezuela so lange streitig gemacht hatte . Noch muß ein dritter Ort erwähnt werden, welcher durch Anzeichen von Erzgängen bereits Ende des 16 . Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der con­ quistadores auf sich zog . Durchwandert man das Tal von Caracas ostwärts, über Caurimare hinaus, auf der Straße von Caucagna, gelangt man in eine bergige und waldige Gegend, wo gegenwärtig viel Kohle gebrannt wird und die vormals Provincia de los Mariches hieß. In diesen östlichen Bergen von Venezuela geht der Gneis in Talkschiefer über. Er enthält, wie im Salzburgi­ schen, goldhaltige Quarzgänge . Der in sehr früher Zeit angefangene Bau dieser Gänge ist oftmals aufgegeben und wieder begonnen worden. Die Bergwerke von Caracas waren länger als ein Jahrhundert vernachläs­ sigt und vergessen geblieben, als in jüngster Zeit, gegen Ende des verflos­ senen Jahrhunderts, ein Intendant von Venezuela, Don Jose Avalo , sich neu­ erdings allen Täuschungen hingab , welche vormals der Habsucht der conqui­ stadores geschmeichelt hatten. Er meinte , die in der Nähe der Hauptstadt befindlichen Berge enthielten große Metallschätze . Da zu dieser Zeit ein

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junger Vizekönig von Neu-Spanien , der Graf von Galvez, die Küsten der Tierra Firme bereiste , um ihre Befestigungswerke und ihre Verteidigungs­ mittel zu prüfen , ersuchte der Intendant den Vizekönig, ihm einige mexica­ nische Bergleute zu senden. Die Auswahl geschah nicht glücklich ; sie war auf Leute gefallen, die keine Gesteine kannten und die alles, den Glimmer sogar, für Gold und Silber hielten . Den zwei ersten dieser mexicanischen Bergleute hatte man je 15 000 Franken Gehalt angewiesen. Ihr Vorteil erfor­ derte es, eine Regierung nicht abzuschrecken, die zur Beschleunigung der Arbeiten keinerlei Kosten scheute . Diese wurden teils in der Bergschlucht von Tipe, teils in den vormaligen Bergwerken von Baruta, südwärts von Ca­ racas , vorgenommen, wo die Indianer noch zu meiner Zeit einiges Wasch­ gold sammelten . Nach einiger Zeit verlor sich der Eifer der Unternehmer, und nachdem viele unnütze Ausgaben vergeblich gemacht waren, gab man den Bergbau von Caracas wieder völlig auf. Man hatte goldhaltige Schwefel­ kiese , geschwefeltes Silber und etwas gediegenes Gold, jedoch von allem nur geringe Spuren gefunden ; und in einem Land, wo die Arbeiter sehr teuer sind, konnte ein Bau von solch geringem Ertrag mit keinerlei Vorteil fortge­ setzt werden. Wir besuchten die Bergschlucht Tipe in der nach dem Kap Blanco sich öff­ nenden Talgegend . Der Weg führt beim Verlassen von Caracas neben der großen Kaserne von San Carlos vorbei über einen unfruchtbaren , felsigen Boden, worauf kaum einige Pflanzen der Argemone mexicana wachsen . Der Gneis liegt überall zutage : man könnte sich auf dem Plateau von Freiberg glauben. Erst kommt man über den Bach Agua salud, dessen helles Wasser keinerlei mineralischen Geschmack besitzt, und hernach über den Rio Cara­ guata. Zur Rechten erheben sich der Cerro de Avila und der Cumbre , zur Linken der Berg Aguas Negras . In geologischer Hinsicht ist dieser Engpaß sehr merkwürdig: Es ist die Stelle, wo das Tal von Caracas durch die Täler von Tacagua und Tipe mit dem Küstenland in der Nähe von Catia zusammen­ hängt. Ein Felsenkamm, dessen Spitze 40 Toisen über dem Talgrund von Ca­ racas und mehr als 300 Toisen über dem Tal von Tacagua steht, teilt die dem Rio Guaire und dem Kap Blanco zuströmenden Gewässer. Auf diesem Standpunkt, am Eingang der Öffnung, ist die Aussicht sehr angenehm. Das Klima verändert sich, sowie man westlich vom Berg hinabsteigt. Im Tal von Tacagua trafen wir wieder Wohnungen an und conucos , die mit Mais und Pisangbäumen bepflanzt waren . Eine sehr weitläufige Tuna- oder Kaktus­ Pflanzung erteilt dieser unfruchtbaren Landschaft einen eigentümlichen Charakter. Die kerzenartigen Kakteen wachsen bis 15 Fuß hoch und er­ heben sich , den afrikanischen Euphorbien gleich , leuchterförmig. Man pflanzt sie , um ihre kühlenden Früchte in Caracas auf den Markt zu bringen . Es ist die dornenlose Spielart , die man etwas seltsam in den Kolonien Tuna de Espafia nennt . Am gleichen Ort maßen wir die Magueys oder Agaven ,

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deren mit Blüten beladener Schaft bis 44 Fuß hoch ist . Wie allgemein dieses Gewächs auch heutzutage im südlichen Europa überall ist, bewundert der Nordländer darum nicht minder den üppigen Pflanzenwuchs in der sich schnell entwickelnden Lilienpflanze , die gleichzeitig einen Zuckersaft und eine zusammenziehende, ätzende Feuchtigkeit enthält, der man sich bei Heilung der Wunden als Ätzmittel bedient . Im Tal von Tipe fanden wir mehrere zutage liegende Quarzadern . Sie ent­ halten Pyrite , Spateisen , Spuren von Glaserz und graues Kupfer oder Fahl­ erz. Die teils zur Gewinnung des Erzes , teils zur Untersuchung seiner Lager­ stätten begonnenen Arbeiten schienen sehr oberflächlich. Die Gruben waren infolge Erdrutsches wieder ausgefüllt, so daß wir über den Reichtum dieser Gänge kein eigenes Urteil fällen konnten. Trotz aller unter der Inten­ danz von Don Jose Avalo gemachten Ausgaben scheint die große Frage , ob die Provinz Venezuela Bergwerke besitzt, die des Abbaus wert sind , noch un­ entschieden . Obgleich in Ländern , die an Arbeitern Mangel leiden , un­ streitig der Landbau die Fürsorge der Regierung zunächst beansprucht, be­ weist doch das Beispiel Neu-Spaniens hinlänglich , daß der Bergbau den Fortschritten der Landwirtschaft gar nicht immer nachteilig ist. Die am be­ sten bebauten mexicanischen Felder, die dem Reisenden die schönsten Landschaften Frankreichs und des südlichen Deutschlands ins Gedächtnis rufen , dehnen sich von Silao gegen Villa de Le6n aus; sie grenzen an die Bergwerke von Guanajuato , die allein ein Sechstel allen Silbers der Neuen Welt liefern . [Es folgen am Schluß des Kapitels XIII Anmerkungen zum Vierten Buch : Anmerkung A: Zur Sonnenfinsternis vom 28. 10. 1799; Anmerkung B : Aragos scharfsinnige Erklärung des Sternflimmerns ; Anmerkung C : Über das Problem des Vergleiches des Lichts zweier Sterne nach einem Verfahren Humboldts; Anmerkung D : Auszug der Beobachtungen der Luftspiege­ 1ung; Anmerkung E: Diskussion der mittleren Jahreswärme und ihrer Be­ . deutung für das Klima mit Meßtabellen . Es folgt als Supplement : Bemerkungen zu dem für die > Relation Historique< vorgesehenen Frontispiz; diese wichtigen Zeilen strich vermutlich der Cotta-Verlag in der deutschen Übersetzung, weil das auf dem Titelblatt be­ reits angekündigte Bild nicht erschien . "Das Frontispiz, gestochen nach der Zeichnung des Herrn Gerard, stellt das von Minerva und Merkur über die Übel der conquista getröstete Amerika dar. Man liest unten auf dem Kupferstich die Worte : humanitas, literae , fruges. Der jüngere Plinius schrieb an Maximus, Quästor Bithyniens und zum Gouverneur der Provinz Achaja ernannt: ,Denken Sie daran, daß die Griechen den anderen Völkern die Zivilisation , die Wissenschaften und den Weizen gegeben haben. ' Diese gleichen Wohltaten schuldet Amerika dem

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Alten Kontinent . Die Waffen , die Kleidung und die Monumente sind von exakter Treue . (Siehe Atlas Pittoresque oder Vues des Cordilleres , Kupfer­ stich 1 [dieses Frontispiz] , 7, 9, 14, 16, 21, 38, 49. )" ; s. hierzu Helga v. Kü­ geIgen Kropfinger: EI frontispicio de Fran!,(ois Gerard para la obra de viaje de Humboldt y Ikmpland. In: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 20 ( 1983) , S . 575-616; der Autorin wird für die Übersendung dieser Arbeit gedankt. Es folgt der Hinweis auf die Forschungen auf den Canarischen Inseln von Leopold v. Buch und Christian Smith (März bis Dezember 1815) ; ihnen ver­ dankte Humboldt das Naturgemälde-Profil des Pico de Teide (s. Atlas du Nouveau Continent , Kupferstich 2) . Nach diesen Forschungen berichtigte Humboldt eigene Angaben . - RH, I, S. 623-640; P. U. u. a. , S . 457-495 . ]