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German Pages 280 Year 2008
Horst Bredekamp
DIE FENSTER DER MONADE
Acta humaniora Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie
Horst Bredekamp
DIE FENSTER DER MONADE Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst
Zweite Auflage
^ ^ ^ Akademie Verlag
Inhalt Vorworte
I
II
III
EINLEITUNG 1. Das Vorhaben 2. Der Strumpfbandknoten
11 12
3. Der Kosmos der gefalteten Tunika 4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand
14 17
DAS THEATER DER EXPONATE 1. Die Rolle der Kunstkammern 2. Die Besuche von Sammlungen
23 29
3. Begriffsvarianten des Theaters 4. Bechers „Theater der Natur und Kunst"
34 40
DER PARISER „GEDANKENSCHERZ" 1. 2. 3. 4.
IV
V
Der Text Guerickes Kugeln Modelle und Automaten Straßenkünstler und Spielpaläste
45 49 54 59
DAS SPIEL VON LICHT UND SCHATTEN 1. Schatten theater 2. Schatten als Lichtbringer
64 66
3. Das Konfliktpotential der Perspektive 4. Kreisende Schnittflächen und rotierende Kegel
73 77
DAS MATHEMATISCHE KALKÜL 1. Anamorphosen 2. Kritik des Visuellen 3. Bildlichkeit mathematischer Zeichen 4. Unendlichkeit und transmathematische Schau
81 85 87 100
VI
VII
SINNLICHE ERKENNTNIS U N D INTUITION 1. Die Kraft der Sachen selbst 2. Die Stärken natürlicher Sprachen 3. Die Seele und der Körper der Monaden 4. Der coup d'oeil und die göttliche Blickform
106 110 111 113
FOSSILIEN U N D DIE K U N S T T H E O R I E DER ERDE 1. Die Künstlerin Natur 116 2. Die Kunst der Reproduktion 122 3. Das Dilemma der Naturgeschichte 125 4. Die Natur als Perspektivkünstlerin 126
VIII Z E I C H N U N G E N U N D E N T W Ü R F E 1. Eigenschaften der Zeichnung 2. Der Louvre des Claude Perrault 3. Die Ovalbauten von Wolfenbüttel und Wien 4. Ikonographische Entwürfe für Medaillen und Zeremonien
129 131 137 144
IX
DER BILDERATLAS ALS LEBENDIGE BIBLIOTHEK 1. Pariser Vorbilder 150 2. Die Konzepte des Bilderatlas 156 3. Die Inventarisierung der Ikonologie 160 4. Die Lebendigkeit der Bilder und die Utopien 165
X
DIE A K A D E M I E N U N D IHRE THEATER 1. Der Berliner Teilerfolg 2. Die Bemühungen in Dresden 3. Die Ambitionen in Bezug aufWien 4. Die posthume Erfüllung in St. Petersburg
170 174 176 179
XI
SCHLUSS 1. Der Glanz des Zeigens
190
2. Kalkül und Intuition: Leibniz'Aktualität
193
ANHANG 1. Quellen (1668-1716)
197
2. Ubersetzung des Drôle de Pensée
237
3. Abkürzungen und Literatur
247
4. Register der historischen Personen
275
Vorwort zur zweiten Auflage Angesichts der scheinbaren Spezialität des Stoffes war nicht vorherzusehen, daß der vorliegende Versuch zu Leibniz in so relativ kurzer Zeit eine zweite Auflage erreichen würde. Bereits im Titel ausgewiesen, begründet er eine Alternative zur lange vorherrschenden Leibniz-Forschung. Keinesfalls, so lautet die Grundannahme, bedeutet die Formel von der „Fensterlosigkeit der Monade", daß Leibniz' Philosophie eine gegen die Sinne gerichtete Grundlage besessen habe; vielmehr finde seine Theorie der Entfaltung aller mentalen Fähigkeiten in der Institution des „Theaters der Natur und Kunst" seine mitreißende, lebenslang verfolgte Idee. Als ein Modell dieser Mischung aus Museum und Wissenslabor hatte Leibniz die Verbindung der von ihm gegründeten Berliner Akademie der Wissenschaften mit der dortigen Kunstkammer des Schlosses im Auge. Die gegenwärtig verfolgte Idee, im neu zu errichtenden Schloß ein „Humboldt-Forum" einzurichten, beruht auch auf diesem Konzept. Da sich dieses Projekt zu konkretisieren beginnt, ist ihm diese zweite Auflage umso stärker gewidmet. Der Text ist bis auf die Korrektur einer Reihe von Fehlern unverändert geblieben. Unter der neueren Literatur sind zwei Titel hervorzuheben. Die vorzüglichen Beiträge einer Wolfenbütteler Tagung zum Licht im 17. Jahrhundert, die noch vor dem Erscheinden des Buches stattfand, sind kürzlich publiziert worden.1 Eine Weiterentwicklung bietet sodann die Berliner Dissertation von Jan Lazardzig. Durch eine genaue Untersuchung von Leibniz' Pariser Lebensumständen ist ihm gelungen, jene Maschinen zu erschließen, die Leibniz in seinem furiosen Drôle de Pensée von vermutlich 1675 kannte und als Anregung nutzte.11 Auch hierdurch ist nochmals bekräftigt worden, in welch dichter Weise Leibniz die haptisch-visuellen und auditiven Ereignisse seiner Zeit aufgenommen und für seine Theorie der Entfaltung mentaler Fähigkeiten genutzt hat. Schließlich ist anzuzeigen, daß die Trilogie zu Galileo Galilei, Thomas Hobbes und eben Leibniz, die in der Erstauflage avisiert wurde, inzwischen durch die Mo-
I
Carolin Bohlmann, Thomas Fink und Philipp Weiss (Hg.), Lichtgefiige des 17. Jahrhun-
derts. Rembrandt und Vermeer - Leibniz und Spinoza, München 2008. II Jan Lazardzig, Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin 2007.
8
VORWORT
nographie zu Galilei abgeschlossen werden konnte.111 Zu hoffen ist, daß durch diese Publikation der Zusammenhang zwischen diesen drei Denkern nochmals verdeutlicht wird. Vor der philosophischen Wende der Okularkritik haben sie in ihren Forschungen alle Stärken zusammengefaßt, die das körperbezogene Denken zu bieten und bis heute als Anspruch vorzustellen vermag. Horst Bredekamp, 1. Februar 2008
Vorwort zur ersten Auflage Der vorliegende Versuch, Frucht einer vor zehn Jahren begonnenen Erschließung von Gottfried Wilhelm Leibniz' Projekt eines Theaters der Natur und Kunst,1 geht auf eine Vorlesung zurück, die im Wintersemester 2002/2003 am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten wurde. Die Untersuchung ist Teil des Vorhabens, das um 1900 entwickelte Konzept der Kunstgeschichte als historischer Bildwissenschaft an Hand herausragender Gestalten des siebzehnten Jahrhunderts weiterzuentwickeln. 2 Diese Epoche besitzt darin einen paradigmatischen Stellenwert, daß sie durch die Erfindung optischer Instrumente vom Fernrohr bis zum Mikroskop und von der Camera Obscura bis zur Laterna Magica die Erforschung der sehenden Erkenntnis in einer Intensität forciert hat, wie sie erst wieder durch die Erfindung der Photographie im neunzehnten Jahrhundert ermöglicht wurde. Im Zentrum des Gesamtprojektes steht dieses Phänomen. Nach dem Naturwissenschaftler Galileo Galilei, für den die Zeichnung ein fundamentales Erkenntnismittel war und dem Staatstheoretiker Thomas Hobbes, dessen Begriff der staatlichen Souveränität wesentlich durch optische Versuche mit multifokalen Linsen bestimmt wurde, folgt nun der Philosoph Leibniz. 3 Der kunsthistorische Zugang zu einem Denker, der selbst unter Philosophen bisweilen als Arkanum gehandelt wird, versteht sich nicht von selbst. Er gründet im Vertrauen darauf, daß Bilder und die von ihnen ausgelösten Reflexionen philosophische Dimensionen bergen können, die schwer zu entschlüsseln sind, wenn sie nicht aus der Sphäre der Bilder selbst und der ihnen eigenen Geschichte entwickelt werden. Auch für Leibniz, diese Annahme liegt dem vorliegenden Buch zu Grunde, bieten Bilder eine semantische Schwerkraft, die das Denken auf eigenwillige Weise ermöglicht und konditioniert.
111
Horst Bredekamp, Der Mond. Die Sonne. Die Hand. Galileo Galilei als Künstler, Berlin
2008. 1
Bredekamp, 1993, S. I i i . Die seither publizierten Artikel sind zum Teil in veränderter
Form in die vorliegende Arbeit eingeflossen. 2
„Bildwissenschaft", in: Pfisterer, 2 0 0 3 , S. 56f.
3
Bredekamp, 2 0 0 1 , Galileo; ders., 2 0 0 3 , Thomas Hobbes, S. 83ff.
VORWORT
Leibniz hat seine Überlegungen zur Rolle der bildlichen Erkenntnis im Projekt eines Theaters der Natur und Kunst gebündelt. Daß diese Idee so gut wie unbekannt geblieben ist,4 liegt auch an der Textlage. Leibniz hat betont, daß seine publizierten Schriften keinesfalls ein authentisches Bild seiner Philosophie ermöglichen.5 Durch die jüngsten Publikationen beginnt sich die Lücke zwischen dem veröffentlichten Werk und dem Riesencorpus der verbliebenen Handschriften jedoch zu schließen. Die sukzessiv erscheinenden Bände der Akademie-Ausgabe und insbesondere der schier unausschöpfliche Band 4 der Reihe VI bieten erstmals die Möglichkeit, Leibniz' Wertschätzung der tastenden und zeichnenden Hand und des neugierigen und geschulten Auges im Zusammenhang zu verfolgen. Leibniz' unbegreiflich vielfältigen Denkbewegungen und Aktivitäten erhalten mit dem Theater der Natur und Kunst den Zielort seiner Überlegungen zur Frage sinnlicher Erkenntnis. Seine Wertschätzung dieses Projektes betrifft das Gesamtbild seiner Philosophie, weil es die bislang unüberbrückbar scheinende Hüft zwischen Kalkül und Anschauung überspannt. Die Textbasis liegt in den im Anhang in chronologischer Ordnung zusammengestellten Quellen, die, obwohl sie sämtlich in gedruckter Form vorlagen, erfaßt wurden, um dem Leser angesichts der zersplitterten Überlieferung von Leibniz' veröffentlichten Schriften die Mühen des Aufsuchens zu ersparen. Zitate im Textteil wurden grundsätzlich modernisiert; sie können im Anhang kontrolliert werden, dessen Einträge buchstabengetreu übernommen wurden. Bei nicht im Anhang aufgeführten Schriften sind die Originaltexte, falls sich bei der Modernisierung gravierende Abweichungen ergaben, zur Überprüfung als Anmerkung zitiert. In den letzten Jahren wurde die Untersuchung durch die Abteilungen „Das Technische Bild" und „Bild Schrift Zahl" des Helmholtz-Zentrums fur Kulturtechnik der Humboldt-Universität unterstützt, für deren Förderung dem Getty-Center (Los Angeles) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken ist. Eine ungeahnte Wendung hat die Arbeit durch die gemeinsam mit Jochen Brüning durch das Helmholtz-Zentrum vollzogene Rekonstruktion der Sammlungen der Berliner Humboldt-Universität erfahren, deren Ergebnisse in der Ausstellung Theatrum Naturae etArtis im Winter 2000/2001 im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wurden.6 Der Grund lag darin, daß sich der Kern der Bestände zu einem beträchtlichen 4
Titel, die sich auf Begriffe wie „Kunstkammer", „Wunderkammer", „Museum" oder auch
„Theatrum" beziehen, sind in den einschlägigen Bibliographien kaum vorhanden. Stützen konnte sich die vorliegende Arbeit lediglich auf einen abgelegenen und ohne Anmerkungen versehenen Aufsatz (Ennenbach, 1978), einen knappen, aber hellsichtigen Artikel im Katalog der Bonner Ausstellung Wunderkammer
des Abendlandes
(Nielsen, 1994) sowie Bemerkungen aus Sicht der
Geologiegeschichte (Ariew, 1998, S. 285Í). Eine vorzügliche allgemeine Grundlage bot die jüngere, umfassende Analyse von Leibniz' Societätsplänen (Böger, 1997). 5
Brief an Placcius, 21. 2. 1696, in: Leibniz, 1768, Bd.V, 1, S. 65.
6
Theater der Natur und Kunst, 2000.
9
10
VORWORT
Teil aufjene Kunstkammer des Berliner Schlosses zurückfuhren ließ, die Leibniz fur sein Modell eines Theaters der Natur und Kunst vor Augen stand. Diese Tradition ist in die Überlegungen zur Nutzung des zukünftigen Berliner Schlosses eingegangen. Das als Herz der öffentlichen Nutzung avisierte „Humboldt-Forum" zielt auf eine Annäherung an das von Leibniz erhoffte Unternehmen. 7 Für vielfältige Hilfen, Anregungen und Korrekturen ist Herbert Beck, Gabriele Bickendorf, Gottfried Boehm, Jochen Brüning, Reiner Cunz, Hélène Doucet, Markus Friedrich, Almut Goldhahn, Barbara Herrenkind, Wolfram Hogrebe, Anke Hölzer, Stephan von Huene (t), Andreas Kreul, Friedrich Kittler, John Michael Krois, Hans-Joachim Kunst, Sybille Krämer, Thomas Leinkauf, Herbert Lachmeyer, Hellmut Lorenz, Jean-Louis Martinoty, Jasmin Mersmann, Jürgen Mittelstraß, Hans Poser, Birgit Recki, Hartmut Rudolph, Steffen Wawra, Vladimir Velminski, Gabriele Werner und Birgit Zimny herzlich zu danken. Ein besonderer Dank gilt Herbert Breger, Ulrike Feist, Hartmut Hecht, Eberhard Knobloch, Rebekka Maiwald, Josef Nietzsch, Margarete Pratschke, Franz Reitinger, André Rottmann, Ulrich Johannes Schneider, Pablo Schneider und Reinhard Wendler, die zudem das gesamte Manuskript oder Teile von ihm gelesen und korrigiert haben. Schließlich sei Petra Florath für die gestalterische Umsetzung und Gerd Giesler fur die erneut so sorgfältige wie inspirierte Betreuung seitens des Akademie-Verlages in besondererWeise gedankt. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin bot mir die Freiheit, das Manuskript im Winter 2003/04 zu beenden. Wie die Arbeit über Thomas Hobbes visuelle Strategien, so wurde auch dieses Buch auf dem Rehmstackerdeich, einem der Innendeiche von Eiderstedt in Schleswig-Holstein, geschrieben. Auf Schafe wie in einen Spiegel zu blicken, während man über Leibniz brütet, hat etwas ungemein Tröstliches.
7
Historische Mitte Berlin. Abschlußbericht, 2002, S. 24f.; Mlynek, 2002; Bredekamp und
Brüning, 2002.
.Aber die Monaden haben Fenster." (EdmundHusserl)
I EINLEITUNG 1. Das Vorhaben Vor gut hundert Jahren ereignete sich ein einschneidender, bis heute nachwirkender Wandel in der Bewertung von Gottfried Wilhelm Leibniz. Durch Bertrand Russeis Critical Exposition of the Philosophy ofLeibnizvon 1900 und mehr noch durch Louis Couturats brillante Logique de Leibniz von 1901 wurde er als Begründer der formalen Logik zu einem der Wegbereiter des zwanzigsten Jahrhunderts.8 Seine Rechenmaschine und sein binäres, auf 0 und 1 aufgebautes System der Dyadik ließen ihn später als Vater des Computers erscheinen, und dasselbe galt schließlich fur die Kybernetik.9 Zwar war das zwanzigste Jahrhundert von vielfältigen Versuchen erfüllt, Leibniz von der grandiosen Einseitigkeit dieser Wertschätzung zu lösen,10 aber trotz aller Einsprüche ist die Grundüberzeugung, daß seine Philosophie einer inneren Logik gehorcht, die sich gegenüber der Außenwelt und ihren haptischen und visuellen Ereignissen abschirmt, die unübersteigbare Barriere der Leibniz-Forschung geblieben. Selbst Autoren, die sich etwa aufseine Bildreflexionen bezogen,11 versetzten Leibniz schließlich in einen mächtigen Parcours der Philosophie, der den in Leidenschaft, Krankheit und Tod so unbeherrschbaren wie treulosen Körper gedanklich zu überwinden suchte und dem insbesondere die Welt des Visuellen und Haptischen nicht als Element der Erkenntnis, sondern als Mittel der Denkhemmung erschien. Ein ausgewiesener Kenner kam 1986 in Bezug auf Leibniz' Italien-Reise zum Ergebnis: „Leibniz hat nichts gesehen112, und eine nicht weniger profunde Historikerin der Entwicklung von Leibniz' Metaphysik kam 2001 zum Ergebnis: „er entwickelte keine seiner Ideen durch das sorgfältige Studium der Natur."13 Man fragt sich, was Leibniz zu diesen Konklusionen 8
Rüssel, 1900; Couturat, 1901. Zur Erfolgsgeschichte: Mercer, 2001, S. 3ff. ' Kilcher, 2003, S. 463f. 10 Einen Uberblick bietet: Phänomenologie und Leibniz, 2000, S. 296-345. 11 Hierzu gehört Jean-Paul Sartre, der sich intensiv mit Leibniz' Bildbegriff auseinandergesetzt hat (Sartre, 1982, S. 105ff.), oder Helmut Pape, dem eine tiefgreifende Analyse von Leibniz' Perspektivstudien gelungen ist (Pape, 1997, S. 204). 12 13
„Leibniz n'a rien vu" (Robinet, 1986, Iter Italicum, S. 2).
„(...) he did not develop any of his ideas through the careful study of nature" (Mercer, 2001, S. 471).
12
I
EINLEITUNG
gesagt hätte, als er im Jahre 1685 teils auf dem Bauch kriechend die Höhlen des Harzes nach Gesteinsproben und Versteinerungen absuchte oder als er zur selben Zeit aus den Ergebnissen der Mikroskopforschung eine der Grundlagen seiner Monadologie aufbaute. Dietrich Mahnkes im Jahre 1917 formuliertes Gegenprogramm, „das Doppelwesen des historischen Leibniz zu seinem Recht kommen" zu lassen, „dem die Erlebnisfiille des empirischen Stoffs ebenso wertvoll war wie die Einheit der mathematischen Form", erscheint heute als so berechtigt wie uneingelöst. 14 Weitgehend unbeachtet, hat der Kunsthistoriker William S. Heckscher im Jahre 1974 in einem subtilen Essay eine eigene Alternative geboten, indem er die Ikonologie Aby Warburgs, die sich den gleichsam in Details eingefalteten, abseitigen oder scheinbar irrelevanten, aber umso wirkmächtigeren Phänomenen des Bildlichen gewidmet habe, mit Leibniz' Konzept der „kleinen Perzeptionen" in Verbindung setzte.15 Der vorliegende Versuch ist Mahnkes Vorstoß einer Vermittlung von Empirie und Kalkül ebenso verpflichtet wie Heckschers Brückenschlag zwischen Warburgs Analyse der psychophysischen Energien wandernder Bilder und Leibniz' Theorie der „petites perceptions".
2. Der Strumpfbandknoten Die Problematik verschränkt sich mottohaft in einer kleinen Zeichnung, die Leibniz am Rand einer seiner zahllosen Texte und Exzerpte i m j a h r e l 6 8 5 skizziert hat (Abb. 1 ).16 Mit ihren zwei nach oben weisenden Schlaufen, der nach unten fallenden Schleife und den ausfransenden Streifen erweist sie sich als Variante des Kleeblattknotens.17 Sie wirkt zunächst wie ein Scherz, aber die Erläuterung dieses Gebindes, die in atemberaubender Geschwindigkeit zu fundamentalen Fragen der Erkenntnistheorie gelangt, zeigt, dal? Leibniz den Knoten im Sinne einer Tradition anführt, die von der Antike bis zu jener theoretischen Kosmologie der Gegenwart reicht, die das Universum als geknotete und in sich eingefaltete Räume begreift.18 Leibniz geht es um die Unterscheidung von undeudicher und deudicher Erkenntnis: „Das Strumpfband mit drei Falten, mit oben zwei Zipfeln zu binden, gibt ein schönes Beispiel der undeutlichen und deutlichen Erkenntnis, wie auch der aus der un-
14
Mahnke, 1 9 1 7 , S. 3; vgl. Phänomenologie und Leibniz, 2 0 0 0 , S. 324.
15
Heckscher, 1974, S. 129f.
16
AA, VI, 4, B, Nr. 2 4 1 , S. 1230. Leibniz' Text bietet eine Auseinandersetzung mit dem
Hamburger Naturforscher und Philosophen Joachim Jungius. Eine ausfuhrlichere Analyse dieser Zeichnung habe ich Gottfried Boehm auf dem aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstages durchgeführten Symposium gewidmet. 17
Die Knotenkunde wurde durch den Mediziner Heraklas im ersten nachchristlichen Jahr-
hundert begründet und von Vidus Vidius und Francesco Primaticcio im sechzehnten Jahrhundert wieder aufgenommen (Epple, 1999, S. 32f., 40.). 18
Epple, 1999.
2. DER STRUMPFBANDKNOTEN
Abb. 1. G. W. Leibniz, Strumpfbandknoten, Zeichnung, Mitte 1 6 8 5 (?), Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek, LH, IV, 7C, Bl. 120r
deutlichen und deutlichen Erinnerung bestimmten Handlung."19 Die Begriffe der undeutlichen und deutlichen Erkenntnis nehmen Gedanken auf, die Leibniz kurz zuvor in einer seiner einflußreichsten Schriften, den im Jahre 1684 veröffentlichten Meditationes de Cognitione, Ventate etldeis, erörtert hat. Sie entwickelt den Fortschritt der Erkenntnisse über sich aufgabelnde Alternativen. Am Beginn trennt sich die dunkle von der klaren Erkenntnis, die sich in einem zweiten Schritt ihrerseits in eine undeutliche und eine deutliche Seite aufgliedert. Eine deutliche Erkenntnis wird erreicht, wenn die Formen und Eigenschaften einer Sache gekennzeichnet und darin in ihrer Spezifik gefasst werden. Indem etwa der Münzmeister das Gold durch Zahl, Größe und Bezeichnung von anderen Edelmetallen unterscheidet, erzeugt er einen deutlichen Begriff seines Gegenstandes. Es ist überaus bezeichnend, daß Leibniz zu diesen Spezifika auch die seelischen Bestimmungen wie etwa die Angst und die Hoffnung zählt, die durch den Gegenstand ausgelöst werden.20 Mit seiner Gegenüberstellung von undeutlicher und deutlicher Erkenntnis bewegt sich der Strumpfband-Text auf dieser zweiten Stufe, die im System der fortschreitenden Erkenntnis von größter Bedeutung fur die Wahrnehmung der Ideen und der Perzeption der Welt der Sinne ist. An der Fähigkeit zum Wissen und zum Handeln sind die Augen und die Hände, aber auch der sprechende Mund und das hörende Ohr betei-
" „Confusio Conceptuum. Strumpfbandel binden mit 3 falten ohn die zwey zipfelgibt ein schohn ««CTHpi/confusae cognitionis et distinctae, item operationis ex confusa memoria et ex distincta" (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 4-6). 20 AA, VI, 4, A, Nr. 141, S. 586, Z. 21 - S. 587, Z. 4; Leibniz, 1985,1, Opuscules, S. 34/35.
13
14
I
EINLEITUNG
ligt,21 um durch jene Wiederholungen zur deutlichen Erkenntnis zu führen, die in Piatons Höhlengleichnis der aus der Dunkelheit der Höhle Aufsteigende aushalten muß: „Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben"22. Durch Praxis, dies führt zum entscheidenden Schritt, vermag der Knabe nicht nur den Mechanismus zu begreifen, sondern ihn auch sprachlich wiederzugeben und damit zu belegen, daß seine klare Erkenntnis von der undeutlichen in eine deutliche, distinkte übergegangen war: „Wenn er es nun deutlich wußte, konnte er einem sagen, was seiner Hand zufolge das längste [Band] sein und dann wie eine Schürze oder Schlinge in welcher Ordnung übereinander gehen mußte."23 Hieraus resultiert die Verallgemeinerung: „Diese zweite Verbindung ist in allen Schürzen, die auch vier oder zwei Falten aufweisen."24
3. Der Kosmos der gefalteten Tunika Die Erläuterung eines zunächst banal wirkenden Phänomens wird auf diese Weise zu einem Modell der Erkenntnis und der Fähigkeit zur Praxis. Indem Leibniz die Schlaufen eines Strumpfbandknotens, zu dessen Herstellung nicht nur die Hand und das Auge, sondern auch Mund und Ohr zusammenwirken, „Falten" nennt, verwendet er einen der zentralen Begriffe seiner Philosophie. Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet zur Bedeutungsgeschichte der „Falten" zunächst die des Tuches „in kleid, gewand und schmuckbinde"; an zweiter Stelle kommen die der Haut und des Gesichtes, und schließlich die des „herzens, der sinne, seele, des gemüts."25 In all diesen Bedeutungen hat auch Leibniz diesen Begriff verwendet. Seine „Falten" des Strumpfbandes erfüllen zumindest die erste Bestimmung des Begriffes als gebundener Stoff sowie dessen dritte Sinnschicht als Seele, die sich durch „gewohnheit und übung" eine Falte schafft, „wohin die aufmerksamkeit bei erblickung eines gegenständes sich lenken soll."26 Es handelt sich um einen Ausschnitt von Leibniz' Bestimmung der Falte, deren Geltung er von der Beschaffenheit des kosmischen Raumes als in sich gefalteter Sphäre bis hin zur Theorie allen Lebens ausdehnt. Vermutlich angeregt durch die Vorstellung Pierre Gassendis, daß sich die Unmengen von Erinnerungsspuren in einem Gewebe
21
„(...) also confuse behalten und gewohnt, wie ein knabedie lettem im mundeformiren lernet"
(AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 9f.). 22
Platon, Politela, 7, 2, 516a.
23
„ Wenn ers nun distincte wüste kondte er einem sagen, was nach seiner hand das längste seyn
mus, und denn wie eine schürz oder schlinge und mit was ordnungüber einander gehen" (AA, VI, 4, B, Nr. 241, S. 1230, Z. 10-12). 24
„Diese andre confusio ist in allen schürzen, die auch von 4 oder 2falten seyn" (AA, VI, 4, B,
Nr. 241, S. 1230, Z. 12f.). 25
G r i m m , Bd. 3, Sp.l297f.
26
G r i m m , Bd. 3, Sp.1299.
3. DER KOSMOS DER GEFALTETEN TUNIKA
Abb. 2. Gianlorenzo Bernini, Büste Ludwigs XIV., Marmor, 1665, Versailles, Schloß
von Myriaden kleiner und kleinster Falten speichern lassen,27 imaginiert Leibniz ein von einer aktiven Kraft gedrücktes Universum, das seine Bestandteile als eine sich nach innen unendlich tief hinabdifferenzierende Einfaltungsmaschine bruchlos und ohne Sprünge in immer neue Wirbel- und Kreisbewegungen und neue Einfaltungen zwingt. Diese kennen keinen leeren Raum und kein letztes Atompartikel, sondern allein die sich im gekrümmten Raum einschichtende und einfaltende Materie: „Man kann daher die Teilung des Stetigen nicht mit der Teilung des Sandes in Körner vergleichen, sondern mit in Falten gelegtem Papier oder Stoff. Wenn so auch Falten von unendlicher Zahl entstehen, von denen die einen kleiner als die anderen sind, so ist deshalb doch niemals ein Körper in Punkte oder kleinste Teile [minima] aufgelöst."28 Das Leben in der geschaffenen Welt ist Leibniz zufolge unauslöschlich, weil die verschiedenen Wesen dieselben Organismen sind, die sich lediglich unterschiedlich ein- und ausfalten.29
27
Gassendi, Syntagma philosophicum, in: ders., 1964, Bd. II, S. 406f.; vgl. Busche, 1997,
S. 77, Anm. 146. 28
Leibniz, Pacidius an Philaletes, in: Leibniz, 1903, S. 615. Ubers, nach: Leibniz, 1955,
S. 144; vgl. Deleuze, 1995, S. 15f.; zu Leibniz Faltentheorie zuletzt: Albus, 2001, S. 145ff. 25
Leibniz, 1985,1, S. 210. Die Übersetzung (S. 211) verwandelt die gefalteten („les organes
sont plies") in „gestaltete" Organe und versäumt damit den spezifischen Gehalt.
15
16
I
EINLEITUNG
Abb. 3. Anonym, „Wie man die Falten angemessen in die Stoffbahn bringen muß", Radierung, 1651, in: Fréart de Chambray, 1651, S. 126
Mit dem Stoffcharakter des Kosmos nimmt Leibniz den in allen Offenbarungsreligionen auftretenden spirituell-körperlichen Doppelcharakter des Tuches auf.30 Wenn er das Universum als einen kontinuierlichen Körper bestimmt, der „nicht geteilt, sondern nach Art des Wachses transfiguriert und wie eine Tunica aufverschiedene Weise gefaltet" wird,31 so verweist die Zusammenstellung der Modellierung des Wachses und das Arrangements der Draperie insbesondere auf die zeitgenössische Skulptur, wie sie unübertroffen in den Figuren Gianlorenzo Berninis repräsentiert war. So wird etwa die Büste Ludwigs XIV. (Abb. 2) durch einen hochfliegenden Stoff umhüllt, der die Falten der Kleidung mit den Wolken des Himmels verbindet, um die irdisch-kosmischen Faltenvolumina mit den Haarlocken in eine gesteigerte Korrespondenz zu bringen.32 Nicht weniger Aufsehen erregten die Falten in Leonardo da Vincis im Jahre 1651 in Paris publiziertem Malereitraktat. Den Ausführungen des Kapitels über die Kunst der Faltendrapierung steht eine Radierung voran, in deren Mittelpunkt ein in eine Tu-
30
Eberlein, 1982; in bildtheoretischer "Wendung: Wolf, 2003.
31
„Totum universum est u n u m corpus continuum. Ñeque dividitur, sed instar cerae
transfiguratur, instar tunicae varie plicatur" (AA, VI, 4, B, Nr. 332, S. 1687, Z. lf.). 32
Zitzlsperger, 2002, S. 126f.
4. DAS PENTAGRAMM UND DIE SCHWINGENDE LEINWAND
nika gehüllter Malerphilosoph die Linke zur Geste der kontemplativen Versenkung zum Mund fuhrt (Abb. 3) .33 Er wird durch einen Globus begleitet, der den universalen Charakter seiner Denkbewegungen betont. Der Raum ist zudem mit eingerollten und herabhängenden Bandstreifen, Büchern und Instrumenten der Geometrie erfüllt, und durch das schräg einfallende Licht betonen sowohl der Denker wie auch die platonischen Körper die Probleme von Licht- und Schattenwurf. Da all diese Requisiten und Effekte auch für Leibniz von höchster Bedeutung sein werden, wirkt der leonardeske Theoretiker der Falten wie eine Präfiguration seiner selbst. Leibniz kann die Welt nicht betrachten, ohne sie in ihren Faltungen zu deuten.
4. Das Pentagramm und die schwingende Leinwand Leibniz' Metaphern der Erkenntnis, der Knoten und die Falten, rechnen offenkundig mit der Beteiligung aller Sinne, und sie zeigen eine Affinität zur Bildenden Kunst. Die körperliche und insbesondere visuelle Komponente geistiger Tätigkeit würde sich geradezu aufdrängen, hätte nicht Leibniz' vielleicht berühmtestes Diktum einen solchen Bezug scheinbar kategorisch ausgeschlossen. Es bezieht sich mit der Monade als der nicht mehr teilbaren, elementaren Substanz auf das Zentrum all seiner Überlegungen. Da dieses „Atom der Natur" 34 nicht untergliedert werden könne, sei es auch nicht aufzufüllen, und daher könne es nur als geschlossene Einheit gedacht werden: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas ein- oder austreten könnte." 35 Da Leibniz diese Feststellung noch mehrfach wiederholt hat, 36 gilt sie als unumstößlicher Kernpunkt seiner Philosophie. Gegenüber Leibniz' stofflichen Metaphern der Erkenntnis steht die Fensterlosigkeit der Monaden jedoch in einem keineswegs nur oberflächlichen Widerspruch. Die Irritation verstärkt sich angesichts einer Zeichnung, mit deren Hilfe Leibniz als Student in Jena im Jahre 1663 vermutlich nach Maßgabe seines Mathematikprofessors Erhard Weigel das Verhältnis von Leib und Seele zu bestimmen suchte (Abb. 4a). 37 Die geometrische Zeichnung, die als „Initialschema der Monadologie" gedeutet werden kann, zeigt das Pentagramm der Pythagoräer als eine Art Gesamthaut des Körpers, dessen fünfSeiten die Sinnesfunktionen des Tastens, des Riechens, des Sehens, des Hörens und des Schmeckens repräsentieren.38 Der tangential eingeschriebene äußere „Sinnes33 Fréart de Chambray, 1651, S. 126; vgl. den italienischen Text in: Leonardo, 1995, Nr. 525f., S. 265. 34
Leibniz, Monadologie, § 3 (1998, S. 10/11).
35
Leibniz, Monadologie, § 7 (1998, S. 12/13).
Vgl. Busche, 1997, S. 507. 37 AA, VI, 1, Nr. 3, S. 53-60, Anm. 55. Vgl. hierzu und zum Folgenden die an dieser Stelle nicht angemessen wiederzugebende, ausführliche Analyse der Zeichnung und ihrer philosophischen Voraussetzungen durch Busche, 1997, S. 57-91. 36
38
Busche, 1997, S. 58. Zur Geschichte des Fünfecks: Fredel, 1998, S. 128ff„ 280ff.
17
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EINLEITUNG
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Abb. 4a. G. W. Leibniz, Leib-Seele-Peritagramm, Zeichnung, ca. 1663, in: Thomasius, 1661 [Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover, Leibn. Marg. 32] Abb. 4b. Leibniz' Leib-Seele-Pentagramm mit Erläuterungen (Hubertus Busche; mitfreundl. Genehmigung entn. aus: Busche. 1997, S. 59)
4. DAS PENTAGRAMM UND DIE S C H W I N G E N D E LEINWAND
kreis" bedeutet jene Schicht, aufder die äußeren Reize die inneren Lebensgeister in eine Bewegung versetzen, deren Information an das innere Fünfeck vermittelt wird. Sowohl dieses innere Pentagramm wie auch der folgende innere Kreis des physischen und psychischen Zentrums sind um der Klarheit willen weitaus größer gebildet als tatsächlich angenommen. Durch das Empfindungsorgan des inneren Kreises, dies versucht Leibniz deutlich zu machen, wird der Sinnesreiz als eigene Wahrnehmung erkannt. Besonderes Gewicht legt er auf die von rechts unten einfallenden visuellen Strahlen, die von dem Gegenstand f aus über die Brechungen g, h und i auf die Netzhaut r fallen und von dort zum geistigen Gesichts-Punkt e im Zentrum des Gebildes gehen. Dieses „Auge des Geistes" tastet die Anschauungen ab, deutet sie nach Maßgabe seiner Vorkenntnisse und überformt sie durch eigene Vorgaben, um sie als Vorstellungen auf den inneren Kreis k zurückzuprojizieren, der somit zur Membran passiver, von außen kommender und aktiver, von innen erzeugter Bilder wird, die gemeinsam das produzieren, was das Auge scheinbar selbsttätig sieht. Johannes Keplers Umkehrung der Sehpyramide war ein Beispiel dieses Wechselvorganges, bei dem die Sinneseindrücke und die Einbildungskraft zusammenspielten. 39 D a Leibniz die Seiten des äußeren Fünfeckes in architektonischen Termini als Festungsbauwerk metaphorisierte, muß er ftir dieses Wechselspiel von nach innen wirkendem Sinnesreiz und von innen nach außen gerichteter Vorstellungskraft implizit jene Öffnungen vorgesehen haben, die er der Monade später kategorisch absprechen wird: Fenster und Tore.40 Die Monadologie suchte demgegenüber die mechanistische Banalität zu vertreiben, daß sich äußere Einflüße in die tabula rasa der Seele einschreiben und diese deterministisch bestimmen. Die Metaphorik architektonischer Durchlässe muß Leibniz daher in einem Moment befremdet haben, als er die Seele von allen mechanischen Erklärungsweisen zu lösen suchte.41 Seine Abschottung der Monade bezog ihre Radikalität vor allem aus der selbstkritischen Abwendung von der eigenen Mechanistik. Unter denselben Vorzeichen auch gegen René Descartes gerichtet, erhielt die „Fensterlosigkeit" aus dieser Frontstellung ihre apodiktische Entschiedenheit.42 In dieser kritischen und selbstkritischen Polemik hat die Abgeschiedenheit von Leibniz' Monade ihr Angriffsziel, aber in dieser Zuspitzung ist ihre Geltung auch erschöpft. Die Monadologie selbst wird zeigen, daß Leibniz schon aus dem Grund keinesfalls an einem absoluten Ausschluß von Innen- gegen Außenwelt gelegen sein konnte, weil jede Monade über einen Körper verfugt, über den sie das Universum ausdrückt. Ohne diesen wären ihre inneren Repräsentationen leer.43
39
Busche, 1997, S. 6 4 - 6 6 .
40
AA, VI, 1, Nr. 3, S. 56, Z. 19; vgl. Busche, 1997, S. 70.
41
Busche, 1997, S. 507.
42
Busche, 1990.
43
Leibniz, 1998, §61f.; vgl. Busche, 1997, S. 513, 525
19
20
I
EINLEITUNG
Dieser Zwiespalt zeigt sich insbesondere in Bezug auf Leibniz' frühes Schema der Leib-Seele-Verbindungen. In seiner kausalen Einwirkungsstruktur wurde es durch das Diktum der „Fensterlosigkeit" der Monade außer Kraft gesetzt, aber als vermitteltes System wechselseitiger Entsprechungen, in deren Verlauf die Monade aus eigenem Antrieb eine Repräsentation des äußeren Geschehens entwickelt, behielt es seine Gültigkeit.44 Eines der markantesten Sprachbilder von Leibniz' Spätwerk enthält eine Modifikation jenes inneren Kreises des Pentagramm-Schemas, in dem sich die eigenproduzierten Bilder des,Auges des Geistes" mit den abgelenkt von außen einfallenden Strahlen kreuzen. Es handelt sich um das in den Nouveaux Essais sur L'Entendement Humain entwickelte Modell des menschlichen Gehirnes, das Leibniz zunächst mit einer dunklen Kammer vergleicht: „Nicht übel könnte man den Verstand mit einem ganz dunklen Zimmer vergleichen, das nur einige kleine Öffnungen hat, um von außen die Bilder der äußeren sichtbaren Dinge einzulassen. Wenn diese Bilder, die sich in dem dunklen Zimmer abzeichnen, dort verbleiben und in einer bestimmten Ordnung aufgestellt werden, so daß man sie bei gegebenem Anlaß wiederfinden könnte, so gäbe es eine große Ähnlichkeit zwischen diesem Zimmer und dem menschlichen Verstände."45 Dieser imaginierte Raum reagiert auf John Lockes Bild des Gehirnes als einem dunklen Raum, in den Bilder eindringen.46 Wie schon gegenüber seinem eigenen Fünfeck-Schema, so nutzt Leibniz auch diese Metapher, um sich von deren mechanischer Anordnung zu distanzieren, ohne auf die Notwendigkeit der Außenwelt fur die Tätigkeit des Inneren zu verzichten. Die Bilder wirken Leibniz zufolge dynamisch auf eine im Raum des Gehirns aufgestellte Leinwand, die „jedoch nicht eben, sondern durch Falten aufgegliedert" ist, „die die eingeborenen Kenntnisse darstellen sollen." Da in diese membrane die angeborenen, universalen Kenntnisse eingefaltet sind, gerät die Leinwand bereits dadurch, daß sie aufgespannt wird, in die Schwingung einer „Art Elastizität oder Wirkungskraft." Zusätzlich stimuliert durch die von außen einfallenden Bilder, vollzieht diese Leinwand ständige vibrations und oscillations, die dem tonerzeugenden Schwingen einer gespannten Saite gleichkommen: „Und diese Tätigkeit würde in bestimmten Schwingungen und Wellenbewegungen bestehen, wie man sie an einer ausgespannten Saite wahrnimmt, wenn man sie berührt, derart, daß sie gewissermaßen einen musikalischen Ton hervorbringt."47 Die gestaltete Projektionswand nimmt die Bilder nicht unmittelbar und passivisch auf, sondern nutzt sie als Impulsgeber einer die eingesenkten Bilder lösenden Eigendynamik, deren Vibrationen mit der Malerei auch die Musik und mit ihr auch die Mathe44
Busche, 1997, S. 507.
45
Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985, Bd. III/l, S. 180/181.
46
Locke, 1975, II/XI, §17, S. 163. Vgl. hierzu: Wiesing, 2002, S. 2 4 - 2 7 , 84f.
47
Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985, Bd. III/l, S. 180/181. Vgl. zum Bezug zum
Pentagramm: Busche, 1997, S. 60, Anm. 96.
4. DAS PENTAGRAMM UND DIE SCHWINGENDE LEINWAND
matik in ihrer höchsten, harmonischen Form repräsentiert.48 Die Mathematik, die in den Tönen der wie eine Saite zitternden Leinwand mitschwingt, wird in die Fähigkeit der Bilder eingebettet, die Dynamik der Selbstentfaltung der Ideen anzufeuern. Die Töne der membrane ergeben gleichsam die Musik der Selbstentfaltung. Die wie eine Saite schwingende Leinwand verdeudicht, daß die einfallenden Bilder nicht etwa eine kausal meßbare Wirkung erzielen, sondern daß sie das zerebrale Repräsentationstheater dazu anregen, eigentätig wirksam zu werden. Hierin ereignet sich die für Leibniz „ewige Staunenswürdigkeit" derprästabilierten Harmonievon Seele und Körper, die sich in einer kontinuierlichen, vorformulierten Parallelität von Außenereignis und Innenbewegung ausprägt.49 In immer neuen Metaphern hat Leibniz das Mysterium des Zusammenspiels von Exklusion und Entsprechung gefaßt. Hierzu gehört die in ihrer Paradoxie gültige Formulierung, daß die Seele einen „Wiederhall" äußerer Töne gebe, von denen sie vollständig unabhängig sei.50 Sie läßt sich in Bezug aufdie Fensterfrage variieren: die Seele spiegelt äußere Bilder, um ihre fensterlose Bestimmung zur Erfüllung kommen zu lassen. Ohne daß ihre spezifische Stoßrichtung und ihre interne Widersetzlichkeit bedacht worden wäre, wurde die Formel von der „Fensterlosigkeit" der Monade gleichwohl zu einem starren Dogma verfestigt, das die gleichsam flirrenden Austausch- und Stimulierungsprozesse des zerebralen Repräsentationstheaters in die Sphäre reiner Geistigkeit verflüchtigte. Es hat klamorose Fehlleistungen produziert.51 Falls Vulgarität auf beharrlicher Eindimensionalität beruht, dann wirkt das Dogma der „Fensterlosigkeit" der Monade, dies hat Leibniz selbst betont, nicht weniger als ein Produkt von „Vulgärphilosophen" als die Mechanik der scholastischen Influxuslehre, gegen die sie sich wendet. Leibniz zufolge gibt es keinen noch so abstrakten Gedanken, der „nicht von materiellen Bildern oder Spuren" begleitet worden wäre.52 „Begleitung" ist aber mehr als nur eine berührungslose Parallele.
48 Lingua universalis, in: AA, VI, 4, Nr. 22. S. 68; Übers, nach Rudolph, 2001, S. 57. Vgl. auch Pazzini, 2001, S. 157f., 171, Anm. 10. 45
„merveille perpetuelle" (Fünftes Schreiben an Clark, Leibniz, 1875-90, Bd. VII, S. 412; vgl. Busche, 1997, S. 515). 50
„Etiam anima est Echo externorum, et tarnen ab extemis est independens" (Brief an Bosses, 29. 5. 1716, in: Leibniz, 1875-90, Bd. II, S. 516; vgl. Busche, 1997, S. 519). 51 So hat etwa Gilles Deleuze Leibniz' Faltentheorie mit einer Skizze des menschlichen Gehirnes zu illustrieren versucht, bei dem die von außen („par dehors" [Nouveaux Essais, II, XII, in: Leibniz, 1985,Bd. III/l, S. 180/181]) einfallenden Bilder des Leibnizschen Gehirnmodells von unten, aus den subrationalen Regionen des Ich kommen (Deleuze, 1995, S. 13). Damit aber war der Reiz des Zusammenklanges von Bildern, Leinwand und Saite verfehlt, was umso bedauerlicher ist, als Deleuzes Versuch, die haptisch-visuellen Anregungsquellen ins Kalkül zu nehmen, durch das Vertauschen des „von außen" in ein „von unten" sein vielleicht bestes Argument versäumte. 52
„(...) les philosophes vulgaires debitoient une doctrine touchant les ames separées et les fonctions de l'ame indépendantes du corps et des organes, qu'ils ne pouvoient pas assez justifier. (...)
21
22
I
EINLEITUNG
Edmund Husserl hat in einer seiner nachgelassenen Schriften ( 1921-28) betont, daß jedes Ich als Monade „für sich" sei, um angesichts ihrer „phänomenale[n] Doppeleinheit von Leib und Seele" jedoch hinzuzufügen: „Aber die Monaden haben Fenster".53 Wenig später, im Jahre 1929, hat sich Aby Warburg vor seinem Besuch bei Albert Einstein, mit dem er die Relativität kultureller Überlieferungen erörterten wollte, ähnlich wie Husserl geäußert. Er bezog sich auf die Leibnizsche Spannung, daß „Monaden ohne Fenster" seien, um im selben Atemzug ihre „Berührung mit dem selektiven Wollen der Epoche" zu betonen.54 Dem sind in jüngerer Zeit der Versuch, die Komplexität des seelischen Repräsentationstheaters als einen zwischen Körper und Psyche wirkenden „wechselseitigen Expressionismus" zu begreifen,55 sowie die Annahme an die Seite zu stellen, daß die Monade dann über Fenster zu verfugen vermag, wenn sich ein Zustand von Außer-Sich-Sein einstellt, nachdem jedes Eigeninteresse und jede Mechanik von Effekt und Nutzen verlassen sind.56 Der vorliegende Versuch wählt einen anderen Weg in dieselbe Richtung. Er bezieht sich aufdie in der Strumpfbandzeichnung angelegte Frage, warum die Monade in ihrer unendlichen Komplexität gleichsam autark ist, ihre Selbstentfaltung aber nicht ohne die Perzeptionen ihres sinnesbegabten Körpers anzustoßen und auszuschöpfen vermag. Die Antwort liegt in Leibniz' von 1671 bis 1716 verfolgtem Theater der Natur und Kunst. Es besaß die Bestimmung, nicht nur Stofffiir die Außenfenster des Körpers der Monaden zu bieten, sondern auch eine Übungsstätte für die Intuition als der höchsten Fähigkeit geistiger Tätigkeit zu sein. Mit keiner anderen Frage, und selbst nicht mit der Idee einer ars characteristica, hat sich Leibniz über einen längeren Zeitraum beschäftigt als mit dem Theater der Natur und Kunst, und kein Vorhaben hat ihn in seinen letzten Lebensjahren stärker bewegt. Es war seine idée-force. Sie bildet nicht nur eine Ergänzung, sondern einen neuen Rahmen seiner Philosophie.
je trouve pourtant, qu'il n'y a jamais pensée abstraite, qui ne soit accompagnée de quelques images ou traces materielles" (Leibniz, 1875-90, VI, S. 532). Vgl. Horn, 1958, S. 86ff„ Busche, 1990, S. 115 undders., 1997, S. 505ff. 53 34
Husserl, 1973, S. 260; vgl. Cristin, 2000, S. 229f. Warburg, 2001, S. 339; vgl. Raulff, 2003, S. 136f.
55
Busche, 1997, S. 508.
56
Leinkauf, 2004, S. 295f.
II DAS THEATER DER EXPONATE 1. Die Rolle der Kunstkammern Im Uberschwang seiner im Alter von zweiundzwanzig Jahren erfolgten Anstellung am Mainzer Hof hat Leibniz erstmals seine alle Lebensphasen durchziehende Hoffnung aufdas Theater der Natur undA!«ttrfformuliert.57 In dem vermudich 1671 niedergelegten Grundriß hat er die Errichtung einer deutschen Akademie der Wissenschaften und der Künste entwickelt, deren Befugnisse von der VorsorgefìirNahrungsmittelspeicher über die Reorganisation von Zuchthäusern und Maßnahmen zur Förderung des Handels bis zur Verbesserung der Schulausbildung reichen sollten. Leibniz propagierte einen Gelehrtenstaat, der die Forschung „mit andauerndem, unbestechlichem Feuer" in der Chemie, Mechanik, Glasbläserei, in der theoretischen und praktischen Kunsttechnologie, in der Bildenden Kunst und der Buchdruckerei sowie demTextilwerk und schließlich auch der Metallverarbeitung entfachen sollte.58 Dieses „Feuer" würde sich wie ein Brand fortsetzen, insofern die anfangs bescheiden zugeschnittene Akademie im Laufe ihrer Entwicklung durch „keinerlei Grenzen" beschränkt sein sollte.59 Leibniz hat sein Akademiekonzept zwar ausdrücklich von den Utopien des Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon abgesetzt,60 aber seine Societätsidee war kaum weniger utopisch, weil sie auf eine Wissensbehörde hinauslief, die im Zuge ihrer Entwicklung die Staatsorganisation ausfüllen und schließlich ersetzen sollte.61 Von Zweifeln nicht belastet waren auch seine Überlegungen zu den Institutionen und Arbeitsmitteln der Akademie. Mit dem Ziel, in der Harmonie von Natur und Kunst die Allmacht Gottes und die Weisheit der Schöpfung spüren zu lassen,62 sah Leibniz vor, ein „Theatrum naturae et artis oder auch eine Kunst-, Raritäten- und Ana-
57
In seinen ersten Texten der Societas Philadelphia! sowie der Societas Confessionum Conciliatrix, mit denen er in den Jahren 1668 und 1669 das Programm einer Gelehrtensocietät als einer Art Weltstaat formulierte, spielten Kunstkammern dagegen noch keine Rolle (AA, IV, 1, Nr. 45, S. 552-557; AA, IV, 1, Nr. 46, S. 557-568). 58 59 60 61 62
AA, IV, 1, Nr. 43, S. 537, Z. 6 - 9 ; AI, 3, Z. 5 - 9 . AA, IV, 1, Nr. 43, S. 536, Z. 21f. und S. 537, Z. 30; A I , 3, Ζ. 1-3. AA, IV, 1, Nr. 43, S. 536, Z. 11-14. Schneiders, 1975; Kanthak, 1987, S. 80. AA, IV, 1, Nr. 43, S. 534, Z. 13f.
24
II
DAS THEATER DER EXPONATE
tomie-Kammer zum leichteren Erlernen aller D i n g e " zu bilden. 63 Der Komparativ verdeutlicht, daß Leibniz die angesprochenen S a m m l u n g e n auch aus dem G r u n d favorisierte, weil sie erlaubten, die überkommenen Ordnungssysteme der „Apotheken, Gärten u n d Bibliotheken" zu überwinden. 6 4 In der zweiten Fassung seines Mainzer Akademieproj ektes hat Leibniz ein Ensemble zu Kunstkammern, Raritätensammlungen, Bilderkabinetten, anatomischen Theatern, A p o t h e k e n , Heilgärten u n d Tiergehegen genannt, das er insgesamt als ein Theatrum Naturae etArtis definierte. 6 5 I m Gegensatz zur starren u n d damit implizit toten Welt der Bibliotheken sollte es „lebendige Eindrücke u n d Kenntnisse von allen D i n g e n " ermöglichen. 6 6 Hierin liegt die bildungspolitische Herausforderung jenes Wissenstheaters, das Leibniz bis an sein Lebensende propagieren wird. D i e Idee, das Sammlungswesen auszubauen u n d verwandte Institutionen anzuschließen, u m das Lernen u n d Forschen unter N u t z u n g des Visuellen u n d Haptischen zu erleichtern, hat ihn in immer neuen Variationen beschäftigt. Sie wurde z u m Kern seiner kulturpolitischen Bemühungen. Indem Leibniz das Theater der Natur und Kumt Ai Synonym fur Kunst-, Raritätenu n d Anatomiesammlungen nutzte, griff er die v o m sechzehnten bis z u m achtzehnten Jahrhundert vorherrschende S a m m l u n g s f o r m der K u n s t k a m m e r auf, in deren Idealform diese K o m b i n a t i o n repräsentiert war. D i e im Jahre 1 6 7 0 publizierte U t o p i e des Kieler Arztes u n d Naturforschers J o h a n n Daniel Major, in der ein „königlicher Palast der V o l k o m m e n h e i t " die M e n s c h e n „gleichsam zu irdischen G ö t t e r n " werden läßt, kam seinen Mainzer Plänen nahe. 67 In ihm sind die Menschen in die Lage versetzt, alle verborgenen u n d offenen Schätze der N a t u r u n d alle menschlichen K ü n s t e u n d Wissenschaften mit „Luchs- u n d Argusaugen" zu besehen. 6 8 I m „ L u s t - H a u s der N a t u r " finden sich Darstellungen der „ K u n s t - u n d N a t u r a l i e n k a m m e r n , M u s é a , G a z o phylacia, Antiquaria, Gallereien, Cimeliarchia, Pinacothecas, Cabinette, oder
63
A A , IV, 1, N r . 4 3 , S. 5 3 7 , Z . 11 f.; A I , 3, Z . 1 2 - 1 3 .
64
A A , I V , l , N r . 4 3 , S . 5 3 7 , Ζ . 1 3 ; Α Ι , 3 , Ζ . 14. A n den Bibliotheken vermißte Leibniz die
Möglichkeit, Extrakte, flüchtige Texte u n d übergeordnete Kriterien festzuhalten u n d zu indizieren, und an den Apotheken u n d Gärten lehnte er vermutlich die astrologischen O r d n u n g e n ab. Es wird in seinem S i n n gewesen sein, w e n n der K u r f ü r s t das Inventar der Brandenburgisch-Preußischen K u n s t k a m m e r ändern ließ, weil es nach diesem ü b e r k o m m e n e n S c h e m a aufgebaut war (Segelken, 2 0 0 0 , S. 4 5 ) . 65
A A , IV, 1, N r . 4 3 , S . 5 4 0 , Z . 16; A I , 4, Ζ . 1.
66
A A , IV, 1, Nr. 4 3 , S . 5 4 0 , Z . 18; A I , 4 , Z . 3 - 4 .
67
Major, 1 6 7 0 , S. B l r . Leibniz hat diese Schrift im Jahre 1 6 8 6 in eine den Stand des Wissens
repräsentierende Liste von B ü c h e r n a u f g e n o m m e n (AA, V I , 4, N r . 159, S . 6 8 1 , Z . 5). Vgl. zu M a j o r s Schriften u n d S a m m l u n g e n : Becker, 1 9 9 2 / 9 3 ; z u m „ L u s t h a u s der N a t u r " : S . 7 2 f . ; zu M a j o r s See=Fahrf.
B r a u n g a r t u n d B r a u n g a r t , 1 9 8 7 ; zu M a j o r u n d Leibniz: B r a u n g a r t , 1 9 8 9 ,
S. 166ff. 68
Major, 1 6 7 0 , S . b l r . D i e N e n n u n g der Luchs-Augen k ö n n t e als Hinweis a u f die berühmte
. A c c a d e m i a dei Lincei" sein: hierzu Freedberg, 2 0 0 2 .
1. DIE ROLLE DER KUNSTKAMMERN
Abb. 5. Willem Swanenburg nach einem Entwurf von Jan C. van't Woudt, Das anatomische Theater der Universität Leiden, Kupferstich, 1610
Raritären-Gemächer der Welt", die Major in großer Zahl auffuhrt und damit eine Summe der europäischen Sammlungen bietet, um dann die Akademien als nachzuahmendes und zu verbesserndes Vorbild aufzuführen. 69 Leibniz wie Major waren beide vom Bestreben geleitet, im Rahmen der Kunstkammer verschiedene Sammlungstypen zu differenzieren: die „Raritäten"- oder „Naturalienkammer", 70 die sowohl Gemälde wie auch Trachten und Schmuckgegenstände umfassende Bildersammlung und schließlich das anatomische Kabinett, das, wie die Ansicht des Leidener Anatomietheaters zeigt (Abb. 5), durch seine vielfältigen Skelette und anatomischen Geräte zum Naturkundemuseum im Kleinen werden konnte. 71 Wie ein Memorandum des Jahres 1680 unterstreicht, blieb die Kunstkammer im Visier von Leibniz' Sammlungs- und Forschungsinteressen. In seinem vermutlich für den Ersten Minister Franz Ernst von Platen verfassten Schreiben, mit dessen Hilfe Leib-
69
Major, 1670, S. E3r-G4r.
70
Major, 1674, S. A2r„ C2r; vgl. hierzu AA, III, 4, Nr. 289, S. 651, Ζ. 11-14.
71
Major, 1674, S. B4r (Pinacotheca); ebda., S. D3r. (anat. Kabinett); zu Leiden: Wiesenfeldt,
2002, S. 118ff.
II
DAS THEATER DER EXPONATE
Abb. 6. Anonym, Idealdarstellung einer Kunstkammer, Kupferstich, in: Happel, 1687, vor S. 117
niz den neuen Herzog Ernst August von Hannover fur seine Ziele zu gewinnen hoffte, erläuterte er seine Privilegierung dieses Sammlungstypus: „Große Fürsten haben ebenso auf ihre Reputation wie auf den allgemeinen Nutzen zu sehen. Dergleichen Ornamente geben nicht nur den Stoff zu herrlichen Erfindungen, sondern sind auch ein Kleinod des Staates und werden in der Welt mit Bewunderung angesehen. Dieser Kunstkammer wären allerhand nützliche Maschinen oder auch, wo diese zu groß sind, deren Modelle hinzuzufügen." 72 Mit der Betonung, daß die Kunstkammer als ein „Kleinod des Staates" durch die Pracht der Objekte vom Rang des Herrschers zeuge und durch die Apparate und Maschinenmodelle auch einen praktischen Nutzen biete, markierte Leibniz die beiden Schwerpunkte des Sammlungswesens.73 Das in einem Sammelwerk der zeitgenössischen Sehenswürdigkeiten publizierte Musterbild einer Kunstkammer demonstriert, wie die Sphären der drei Naturreiche ebenso wie alle Sektoren menschlicher Artefakte und Wissensmittel unter einem Dach verbunden wurden (Abb. 6). Der Kupferstich zeigt im linken Schiff einer hallenartigen Ausstellungsarchitektur eine Reihe von Mineralienschränken, auf denen Töpfe mit Pflanzen stehen, während an der Wand darüber Tierskelette aufgehängt sind.74 Mit seiner Zusammenstellung von Steinen, Pflanzen und Tieren erfasst dieser Bereich die drei Naturreiche des Mineralischen, Vegetabilen und Animalischen. Im rechten Sei72
AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 2 6 - 3 0 ; AI, 21, Z. 2 4 - 2 7 .
73
Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 66ff.
74
Vgl. Hoppe, 1994, S. 2 5 5 - 2 5 8 .
1. DIE ROLLE DER KUNSTKAMMERN
tenschiffsind Skulpturen, Gemälde, Reliquiare und Etimologica als Beispiele menschlicher Artefakte repräsentiert, während das zurückgesetzte Mittelschiff den Blick auf die technischen und wissenschaftlichen Geräte der Scientifica freigibt, mit denen die Naturalia und dizArtificialia erforscht und verarbeitet werden sollten. Das Modell dieser Einteilung geht auf das Inventar der Prager Sammlung Kaiser Rudolfs II. zurück, das die Exponate den drei Bereichen der Natur, der Kunst und der Wissenschaft zugeordnet und diesen auch Laboratorien, Nutzgärten und Tiergehege angeschlossen hatte,75 wie auch Leibniz es forderte. In seiner im Jahre 1679 verfassten S c h r i f t . ^ « ^ , in der er allgemeine Lebensregeln zu bestimmen suchte, hat Leibniz mit einem einzigen Satz verdeutlicht, warum ihm die Sammlungen so wichtig waren: „Damit die Imagination oder Phantasie in gutem Zustand erhalten und nicht ausschweifend werde, muss man all seine Einbildung aufeinen gewissen Zweck richten und sich bemühen, die Dinge nicht nur obenhin zu bedenken, sondern stückweise zu betrachten, soweit es fur unsere Vorhaben vonnöten ist. Zu diesem Zweck ist es überaus gut, viele Sachen zu sehen und, wie die Kunst-, Raritäten- und Anatomiekammern, genau zu betrachten."76 Das „stückweise Sehen" bezieht sich sowohl auf die Materialität der Objekte als auch ihre Vereinzelung, welche die Phantasie zwingt, schwärmerische Ausschweifungen zu fokussieren und abrufbare Einzelformen im Gedächtnis zu verankern.77 Für diese Schärfung der Einbildungskraft am Einzelobjekt war die Kunstkammer prädestiniert, weil sie die Exponate sowohl als Singularitäten ernst nahm, zugleich aber in den Spielraum assoziativer Möglichkeiten stellte. Der Besucher konnte daher sowohl die Ausweitung wie auch die konkretisierende Kontrolle der Imagination optimieren. Daß die Exponate der Kunstkammer keinesfalls „bloße Kuriositäten, welche mehr Ansehen als Vorteil bringen",78 seien, hat Leibniz am Beispiel des Harzes auf eine besonders anschauliche Weise erläutert. Er betrachtete dieses Gebirge umso mehr als eine natürliche Außenstelle der Kunstkammer, als es beide Seiten, die künstlerische Schönheit wie auch den Nutzen, verkörpere; da der Harz „nichts anderes als ein wunderbarer Schauplatz" sei, „an dem die Natur mit der Kunst gleichsam streitet",79 käme es darauf an, seine Exponate aufzunehmen und wissenschaftlicher Forschung zuzuführen.80 Hierzu aber sei es nötig, daß man in die hannoversche „fürstliche Kunstkammer alle erfindlichen Spezies und Stufen der Erze sowie bergmäßigen Metalle und Mineralien mitsamt all ihren Unterarten und allergeringsten Abweichungen einsende. Deren Na75
Bauer und Haupt, 1976; vgl. Da Costa Kaufmann, 1978; ders., 1993, S. 174-194; ders.,
1994; Scheicher, 1979, Olmi, 1992, und Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 54-65. Zur Frühgeschichte der zoologischen Gärten: Baratay und Hardouin-Fugier, 2000, S. 2 7 - 8 1 . 76
AA, IV, 3, Nr. 136, S. 898, Z. 6 - 8 ; AI, 19, Z. 1 ^ .
77
AA, IV, 3, Nr. 136, S. 898, Z. 9 - 1 7 ; AI, 19, Z. 4 - 1 4 .
78
AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 31f.; AI, 21, Z. 2 9 - 3 0 .
75
AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 33-35; AI, 21, Z. 3 2 - 3 3 .
80
AA, I, 3, Nr. 17, S. 17, Z. 3 3 - 3 5 ; AI, 21, Z. 2 9 - 3 2 .
28
II
DAS THEATER DER
EXPONATE
men und exakte Beschreibungen mit nicht nur dem Ort und der Umgebung, an dem sie gebrochen werden, sondern auch die Notizen der erfahrenen Bergleute, was sie von deren Natur, Ursprung und Wirkung halten, sind hinzuzufügen." 81 Angesichts des Umfanges der zu sammelnden und zu erforschenden Naturobjekte dachte Leibniz daran, die Staatsbediensteten zu Mitarbeitern der Kunstkammer zu machen. Die Entdeckungen der Bergleute sollten den Schichtmeistern übergeben werden, die anläßlich der wöchentlichen Lohnzahlungen die Kunstwerke der Natur mitsamt den zugehörigen Protokollen fur die Kunstkammer abzuliefern hätten, wofür sie von anderen, lästigen Schreibarbeiten befreit werden würden.82 Man solle eine Liste der maßgeblichen Fachleute anfertigen, um sie auffordern zu können, in der Bibliothek und Kunstkammer persönlich zu erscheinen und dort ihre Mitteilungen, Abrisse, Modelle und Konzepte schriftlich abzugeben wie auch mündlich zu erläutern.83 Leibniz' Bemühen um die Hannoveraner Kunstkammer verdeutlicht, daß er das Ziel seiner Mainzer Utopie auch dann verfolgte, wenn nur ein begrenzter Realisierungsrahmen zur Verfügung stand. Wie in Mainz das gesamte Theater der Natur undKunst, so war es in Hannover die Kunstkammer, die zum Zielort der Naturbeobachtungen, Funde und Forschungen aller Staatsbediensteten werden sollte. Als Sammlung, die neben Kunstwerken auch Maschinen, Modelle und mineralische Funde umfasste, sollte die Kunstkammer der allgemeinen Forschung dienen. Leibniz' Interesse für die Kunstkammern erlahmte nicht. Zwei Jahre nach den Hannoveraner Überlegungen ließ er sich von seinem Korrespondenten Christoph Daniel Findekeller über die Dresdener Sammlungen informieren. Dieser wies ihn auf Tobias Beutels Monographie über die 1560 von Kurfürst August begründete Dresdener Kunstkammer von 1671 hin, kritisierte aber, daß diese eine relativ sterile Schrift darstelle, die nicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Sammlung für Wissenschaften und Künste eingehe.84 Diese Informationen werden dazu beigetragen haben, daß Leibniz im Jahre 1704 versuchte, mit dem Posten eines Präsidenten der sächsischen Akademie der Wissenschaften auch die Direktion der in der Dresdener Residenz bewahrten Kunstkammer übertragen zu bekommen. 85 Leibniz hat ab 1690 der Kunstkammer von Wolfenbüttel vorgestanden und dieses Amt beibehalten, auch nachdem sie im Jahre 1704 nach Salzdahlum verlegt wurde.86 In dieser Funktion entwickelte er im Januar 1697 fur die Herzöge Rudolf August und Anton Ulrich das Konzept einer Stempelsteuer, mit deren Hilfe die Mittel aufge-
81
AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z . 9 - 1 1 ; AI, 21, Z . 3 8 - 4 1 .
82
AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z . 15f.; AI, 2 1 , Z . 4 1 - 4 7 .
83
AA, I, 3, Nr. 17, S. 18, Z. 3 5 - S. 19, Z . 5; AI, 2 1 , Z . 5 0 - 5 6 .
84
AA, I, 3, Nr. 4 9 2 , S. 555, Z . 13f.; AI, 22, Z . 7. Vgl. Beutel, 1671, Cedern-Wald.
85
Leibniz, 1875, S. 2 3 5 ; AI, 45, Ζ . 3 - 5 ; z u m Ausgang dieses Versuches s. u. S. 175.
86
Bodemann,
1888, Nr. 93, S. 2 3 9 ; AI, 63, Z . 1 - 6 ; vgl. Böger, 1 9 9 7 , II, S. 61,
A n m . 3 0 6 . Vgl. zu diesen S a m m l u n g e n zuletzt: Weltenharmonie, 2 0 0 0 , S. 19f.
2. DIE BESUCHE VON S A M M L U N G E N
bracht werden sollten, um fehlende Bücher fur die Wolfenbiitteler Bibliothek nachzulcaufen und die Bestände der Kunstkammer zu stärken, wobei er erneut betonte, daß die Förderung beider Bereiche den Zweck verfolge, „nicht weniger glorios als nutzbar" zu sein.87 Und noch fast zwanzig Jahre später, von Wien aus, befasste sich Leibniz in einem Briefan Herzog Anton Ulrich mit dieser Kunstkammer.88
2. Die Besuche von Sammlungen Kunstkammern waren kein Privileg von Herrschern, und Leibniz hat ihnen auf Schritt und Tritt begegnen können. In seiner Geburtsstadt Leipzig gab es bedeutende Kunstkammern wie die überregional bekannte Sammlung des Bürgermeisters Christian Lorenz von Adlersheim;89 sein jenenser Lehrer, der Mathematiker Erhard Weigel, besaß eine elaborierte Kunstkammer, die als eines der sieben Wunder der Stadt galt,90 und in der nürnbergischen Reformuniversität Altdorf, an der er im Jahre 1667 studierte, waren neben dem Theatrum anatomicum auch das Naturalienkabinett, das chemische Labor und der botanische Garten des Mediziners Mauritius Hofmann zu sehen.91 In der Verbindung von Museum, Labor und Garten waren hier drei tragende Elemente von Leibniz' Akademieprojekten ausgebildet, was auch deshalb von Bedeutung ist, weil Leibniz in Altdorf mit rosenkreuzerischen Vorstellungen in Berührung kam, die mit derartigen Ensembles operierten.92 Reflexe dieser Sammlungen finden sich in Leibniz' museologischer Hauptschrift, dem 1675 verfassten Drôle de Pensée, in den aber vor allem die Eindrücke eingingen, die ervon 1672 bis 1675 in Paris gewonnen hatte.93 Auf seinen Reisen von Hannover aus besuchte er im November 1687 das Naturalienkabinett des Arztes Friedrich Lachmund in Hildesheim, dessen Versteinerungen er fur seine erdgeschichtliche Arbeit Protogaea nutzte, sowie die landgräfliche Kunstkammer in Kassel;94 im Dezember folgte die naturkundliche Sammlung der Maria Sybille Merian in Frankfurt am Main,95 und zum Jahreswechsel studierte er die Nürnberger Sammlungen und Kunstkammern des Kaufmanns Guttöchter, des Apothekers Johann Leonhard Stöberlein, des Herrn Viatis, des Johann Joachim Witzel, des Arztes Paul Wurfbein und des Ratsherrn Karl
87
AA, I, 13, Nr. 86, S. 138, Z. 16-17; AI, 33, Z. 8.
88
Bodemann, 1888, Nr. 93; AI, 63; vgl. Böger, 1997, II, S. 61, Anm. 306.
85
Döring, 1996, S. 3 5 - 3 7 .
50
Β aisiger, 1971, S. 661.
"
Leibniz, 1864-1884, Bd. I, 1, S. 135; Ennenbach, 1978.
92
Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 52f.
93
Sie haben sein Konzept des Theaters der Natur und Kunst und, wie sich zeigen wird, auch des
Atlas Naturalis entscheidend geprägt; vgl. o. S. 43f. und 156fF. 94
Leibniz, 1864-1884, Bd. 5, 1866, S. 387.
95
Müller und Krönert, 1969, S. 83f.
29
30
II
DAS THEATER DER EXPONATE
Velser.96 Mit der Sammlung Besler lernte er eines der größten zeitgenössischen Naturalienkabinette kennen, dessen älteste Bestände aus dem sechzehnten Jahrhundert stammten.97 Auf dem Weg nach Italien hat er zudem das Naturalienkabinett von Elias Wolfgang Talientschger de Gläneggs in Sulzbach fur seine Theorie der Versteinerungen genutzt.98 Von besonderer Bedeutung war auch der Besuch der ungewöhnlich reichen und qualitätsvollen Münchner Kunstkammer im April 1688. Ihrer Einrichtung war der grundlegende Text zur nachantiken Museologie, Samuel Quicchebergs Theatrum amplissimum von 1565, gewidmet worden.99 Im Mai folgten Besichtigungen der Schatzkammer und der Bibliothek der Wiener Burg,100 wo Leibniz im Oktober anläßlich der Audienz beim Kaiser auch sein museologisches Programm erläuterte.101 Nicht weniger stark waren seine Eindrücke der folgenden Italienreise vom März 1688 bis zum März 1690, während der er eine Fülle von Sammlungen kennenlernte. Eine der Attraktionen von Florenz war das Museum von Antonio Magliabecchi, dem Hofbibliothekar der Medici in Florenz, zu dem Leibniz enge Beziehungen unterhielt. Die Besichtigung seiner Sammlung war so selbstverständlich, daß er Einladungen in sein Haus mit ihrem Besuch gleichsetzte.102 Magliabecchi verschaffte Leibniz Zutritt auch zu Sammlungen in Bologna, wo er die Kunstkammer des Ferdinando Cospi (Abb. 7), in welche die überragende Sammlung des Ulisse AJdrovandi eingegangen war, ebenso besichtigen konnte wie die des Luigi Ferdinando Conte de Marsigli.103 In Rom hat Leibniz vermutlich auch die Kunstkammer des Athanasius Kircher (Abb. 8) studiert. Leibniz hatte mit Kircher im Frühsommer 1670 über die ars combinatoria korrespondiert,104 und er war auch mit dessen Gesamtwerk vertraut, zumal er den Jesuitenorden als ein Modell fur seine eigenen Akademiepläne sah.105 Schon
96
Müller und Krönert, 1969, S. 85; Ennenbach, 1978, S. 56; vgl. zu einigen der Sammlun-
gen: Balsiger, 1 9 7 1 , S. 696. 97
Balsiger, 1 9 7 1 , S. 691f.; Age of the Marvellous, 1 9 9 1 , S. 236f.
58
Müller und Krönert, 1969, S. 86.
99
Müller und Krönert, 1969, S. 86; Ennenbach, 1978, S. 55.ZuQuiccheberg:Roth,2000.
100
Müller und Krönert, 1969, S. 90; Ennenbach, 1978, S. 23, 58f.
101
S. o. S. 176.
102
AA, I, 5, Nr. 3 1 2 , S. 546f.; AI, 3 1 , Z. 1 - 2 ; vgl. AA, I, 5, Nr. 286, S. 5 1 6 .
103
Age of the Marvellous, 1 9 9 1 , S. 240f.; Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 45, 54.
Ein Empfehlungsschreiben Magliabecchis öffnete Leibniz die Tür zu dem Mathematiker Domenico Guglielmini, der ihn seinerseits mit den Gelehrten der Stadt bekannt machte, unter denen sich auch der Kustos des Museums, Silvestro Bonfiglioli, befand (Findlen, 1996, S. 132). 104
AA, II, 1, Nr. 23, S. 48f. (Knobloch, 1973, S. 22. Zur Rezeption Kirchers durch Leib-
niz: ebda., S. 19ff.). Zu Kircher als Anreger von Leibniz' kombinatorischer Sprachtheorie: Leinkauf, 1993, S. 2 5 7 (vgl. die Veröffentlichung des Extraktes aus Kirchers Ars magna sciendi
in:
AA, VI, 4, B, Nr. 238, S. 1 2 0 1 - 1 2 0 3 ) . 105
AA, I, 1, Nr. 320, S. 4 7 7 , Z. 5f.; zur Korrespondenz und zur Geschichte von Leibniz'
Beziehung zu Kircher: Friedländer, 1937; zum Jesuitenorden: S. 244f.
2. DIE BESUCHE VON SAMMLUNGEN
Abb. 7. Anonym, Kunstkammer des Ferdinando Cospi, Holzschnitt, in: Legati, 1677, Frontispiz
im Jahre 1675 hat Leibniz Kirchers Kunstkammer als Vorbild und Teil seines eigenen Museumskonzeptes erwähnt.106 In Rom besichtigte Leibniz die Antikensammlung des Antiquars Rafael Fabretis, und in Neapel kam vermutlich die Kunstkammer des Ferrante Imperato hinzu (Abb. 9).107 Auftragsgemäß trieb Leibniz in Italien vor allem seine historischen Studien in den Archiven voran, ohne jedoch eine Gelegenheit auszulassen, um die verschiedensten Sammlungen zu besichtigen, in denen zumeist auch die Treffen mit den einheimischen Gelehrten stattfanden. Leibniz' Museumsgänge sind teils nur indirekt zu erschliessen, und wenn die Uberlieferungslage vollständiger wäre, könnten vermudich zahlreiche Besuche hinzugefügt werden.108 Ein im September 1676 verfasster Brief des befreundeten Helfers Friedrich
106
AA, IV, 1, Nr. 49, S. 564, Z. 1; AI, 5, Z . 66.
107
Müller und Krönert, 1969, S. 98; Ennenbach, 1978, S. 56; zur Kunstkammer
Imperatos: Age of the Marvellous, 1991,S. 234f.; Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 57. 108
Hierzu gehören Sammlungen, deren Besuch Ennenbach aufgefìihrt, aber nicht nachge-
wiesen hat und deren Verifikation bislang nicht gelungen ist. 1690: Museum von Georg Hieronymus Welsch in Augsburg (Ennenbach, 1978, S. 42); 1706: Naturalienkabinett des Naturforschers Raetzel in Halberstadt (Ennenbach, 1978, S. 47); September 1707: Kunsthaus in Kassel, das ab 1696 das Gebäude für die landgräfliche Kunstkammer abgab (Ennenbach, 1978, S. 26f.); Sommer 1710 in Kiel: Kunst- und Naturalienkammer Johann Daniel Majors (Zur Sammlung Majors: Becker, 1992/93, S. 7 5 - 7 9 ; zum Besuch Leibniz: Ennenbach, 1978, S. 51); Kabinett
31
II
DAS THEATER DER EXPONATE
K i r c k e n a n a Dorum n a t i i r r trbüj^ P a r C M η * dlil»» cernere |μ>ι"·
Λ M S Τ Xt, Ο Ό Α. ΛI Τ * Jínfionio-Wafíbcman» Αι Abb. 8. Anonym, Kunstkammer des Athanasius Kircher, Rom, Radierung, in: De Sepibus, 1678, Frontispiz
2. DIE BESUCHE VON SAMMLUNGEN
Abb. 9. Anonym, Kunstkammer des Ferrante Imperato, Holzschnitt, in: Imperato, 1599, Frontispiz
Adolf Hansen gibt ein plastisches Bild davon, wie sehr sich Leibniz für Sammlungen interessierte.109 Unter den Sehenswürdigkeiten Amsterdams, die Leibniz', Aufmerksamkeit würdig" wären, beginnt Hansen mit den Malern Wallerant Vaillant und Eibembourg, die er als „gelehrt und exzellent" charakterisiert. Die weiteren Punkte betreffen Sammlungen; so erwähnt Hansen den kostbaren Kunsttisch des deutschen Intarsienkünsders Dietrich von Reiswig, der in Philipp von Zesens Amsterdam-Führer von 1664 ausführlich gewürdigt worden war. Seine aus Perlmuttmuscheln gefertigten, auf den Tischplatten angebrachten Tiere schillerten jeweils in der in Natur vorkommenden Farbe, was Zesen veranlaßte, hier die wechselseitige Konkurrenz von Natur und Kunst anzusprechen, die Leibniz vier Jahre später in den Produkten des Harz erkennen wird: „In dieser köstlichen Kunsttafel spielen die Natur und die Kunst so wunderbar durcheinander, daß man nicht weiß, welche von beiden den höchsten Preis davon
von Günther Christoph Schellhammer, der wie Major ein Mitglied der Leopoldina war; Kunstkammer Samuel Reyhers, mit dem Leibniz über dreißig Jahre in brieflichem Kontakt stand (Ennenbach, 1978, S. 51); 1710: Kunstkammer von Gottorf (Ennenbach, 1978, S. 47); 1716: Naturalienkabinett von August H e r m a n n Francke in Halle (Ennenbach, 1978, S. 47; zu den Franckeschen Stiftungen: Müller-Bahlke und Goltz, 1998). 109
AA, I, 1, Nr. 315, S. 458, Z. 28 - S. 459, Z. 6; AI, 7.
II
DAS THEATER DER EXPONATE
trägt."110 Hansen läßt sodann die Sammlung des Arztes und Naturforschers Jan Swammerdam,111 einen riesigen Globus, bei dem es sich vermudich um einen der Himmels-und Erdkugeln des Neuen Rathauses handelte,112 die Sammlungvon Skeletten, Tieren und Monstra des Frederic Ruysch113 und schließlich das Haus des Privatmannesjost Kempes folgen, das so reich und kunstvoll gestaltet sei, daß es selbst der Großherzog von Florenz als Prinz besichtigt habe. Mit traumwandlerischer Sicherheit nennt Hansen von der Antiken- und Medaillensammlung über naturwissenschaftliche Kabinette und Instrumente, einem NaturKunsttisch sowie einer anatomischen Sammlung bis schließlich zu zeitgenössischer Kunst und gelehrten Künstlern markante Elemente von Leibniz' Interessen. Ein Dankesbrief Hansens für die detaillierte Beschreibung der sehenswerten Dinge, die Leibniz „in England und Holland gesehen" habe, zeigt, daß dieser seinen Empfehlungen gefolgt ist.114 Er war ein passionierter Museumsgänger, und dieser Erfahrungsschatz bildete das Rückgrat all seiner Überlegungen zur Errichtung des Theaters der Natur und Kunst.
3. Begriffsvarianten des Theaters Die Formel Theatrum Naturae etArfts, unter der Leibniz die Kunstkammer als dessen wichtigstes Element subsumiert, besitzt als Ganze wie auch in ihren Komponenten eine komplexe Bedeutungsvielfalt. Der heutige Gebrauch des Theaters als Bezeichnung eines Gebäudes für Schauspielauffiihrungen oder fur die Darbietungen selbst nahm im siebzehnten Jahrhundert nur einen kleinen Sektor des Wortsinnes ein. '15 Das Theatrum bezeichnete einen Ort oder ein Mittel, das die Anschauung von einem Gegenstand oder einer Idee intensivierte.116 Es konnte von landschaftlich ausgewiesenen Orten über 110
Zesen, 2000, S. 463 (Zitat modernisiert). Zum Harz: S. o. S. 27.
111
Zu Swammerdams Sammlung anatomischer Präparate, nach der von Ruysch eine der reichsten des siebzehnten Jahrhunderts: Balsiger, 1971, S. 463ff. 112 Zesen, 2000, S. 328f. 113 Radzjoen, 1996; Kistemaker, 2003, S. 58ff. 114 A A I , 2, Nr. 214, S. 242, Z. 29f.; AI, 8. 115 Selbst wo der moderne Wortsinn gemeint war, besaß er eine ausgreifende Bestimmung. In seiner Bedeutung als Bühne reichte das Theatrum von Andrea Palladlos und Vincenzo Scamozzis antikischem Teatro Olimpico von Vicenza (Beyer, 1987; Grötz, 2001) über die hoch geschlossenen Rundbauten der Shakespeare-Zeit bis zu Spontanarchitekturen in Zeltform, freien Podien oder auch in die Landschaft gestellten Bühnenrahmen, welche die Gärten in Theaterräume verwandelten (vgl. zu Italien: Lavin, 1990; allgemein: Brauneck, 1993 und 1996 sowie Teatro, 2001). Diese Möglichkeiten, die den Zuschauerraum und die Bühne entweder dicht aufeinander bezogen oder die eine Umkehrung von Innen und Außen illusionierten, erzeugten jene metaphorische Transformation, die von der Welt als Theater und dem Theater als der wahren Welt sprechen ließ (Bernheimer, 1956; Curtius, 1948, S. 149ff.; Alewyn, 1989). 116 Grundlegend zur Begriffsgeschichte: Kirchner, 1985, Schramm, 1996, S. 22f„ 49ff. und Blair, 1996.
3. BEGRIFFSVARIANTEN DES THEATERS
Gebäude bis zu Bildersammlungen, sinnliche Verdeutlichungen von Begriffen, Enzyklopädien und allen Arten von Büchern reichen, die ein Problem oder einen Gegenstand beschreibend oder illustrativ zu veranschaulichen suchten.117 Ein besonders prägnantes Beispiel ist Giulio Camillos L'Idea del Theatre von 1552, weil es sowohl als mnemotechnische Veranschaulichung des Wissens der Welt und damit ebenso als Enzyklopädie wie auch als gebautes Amphitheater in Miniaturform gemeint war.118 Daß Leibniz dieses Werk kannte, ist allerdings nicht gesichert, und dies gilt auch fur Samuel Quicchebergs Theatrum amplissimum von 1565, das einen ähnlichen Ansatz in Bezug auf die Kunstkammer verfolgte. Quiccheberg ging davon aus, daß Sammlungen nicht etwa der Stillstellung vormals lebendiger Objekte zu dienen haben, sondern daß sie einen Ort der Bewegung bieten sollen, indem die Exponate durch Veränderungen der Anordnung bislang unerkannte Beziehungen eingehen und auch als Ausgangsmaterial für wissenschaftliche Untersuchungen fungieren. 119 In diesem Sinn entwickelte Quiccheberg das Modell des Museums als bewegliches Labor des Wissens, und wenn Leibniz dieses Theatrum nicht gekannt haben sollte, so stand er doch in dessen Tradition.120 Daß er sich von anatomischen Theatern hat anregen lassen, geht bereits aus seinen Mainzer Reformplänen hervor. Indem diese medizinischen Ausbildungsstätten, in denen anatomische Sektionen durchgeführt wurden, auch über Sammlungen von Skeletten, besonderen Spezies, Antiken, Wachsfiguren, allegorischen Gemälden und Kupferstichen verfugten, bildeten sie, wie erwähnt, Kunstkammern im Kleinen.121 Der Beweglichkeit dieser Exponate entsprachen die mobilen Bühnen der Komödianten und Gaukler122 sowie die Sportarenen, die zumindest in der Florentiner Form des Calcio als Theater begriffen wurden. Einer der Theoretiker des Calcio hat ausgeführt, daß sich die Spieler besonders bei Großveranstaltungen befleißigen sollten, „geschmückt und besonders in gutem Zustand aufzutreten, als das Theater an einem solchen Tag mehr als sonst von Leuten voll ist."123 All diese Anregungsquellen, die von Leibniz benannt wurden oder gleichsam in der Luft lagen, bezeugen ein weit ausgreifendes Verständnis des Theaters als Ort oder
117
Kirchner, 1985, S. 135f., Anm. 14; Blair, passim.
118
Bologna, 1991; Camillo, 1991 ; vgl. zu Camillo und zur Rezeption seiner Mnemotech-
nik: Bernheimer, 1956; Yates, 1990; Falguières, 1992; Bolzoni, 1994; Roth, 2000. 119
Leibniz hatte Kenntnis von der museologischen Literatur seiner Zeit (AA, I, 5, Nr. 247,
S. 445, Z. 8f.; AI, 30, Z. 1 - 2 ) , aber er hat diesen früheren Text nirgendwo zitiert. 120
Vgl. die kommentierte Neuedition des Theatrum amplissimum durch Roth, 2000 und die
Bestimmung seiner Wirkungsgeschichte durch Brakensiek, 2003, S. 78ff. 121
Blair, 1996, S. 156f.; s. o. S. 25.
122
S. u. S. 48.
123
„(...) e tanto più si de[v]ono sforzare di comparire adorni, e bene in aßetto nel giorno
solenne della Livrea: perchè in tal di il Teatro è più che mai pieno di genti" (Bardi, 1615, S. 15).
35
II
DAS THEATER DER EXPONATE
Mittel des Zeigens und Vorführens. Dasselbe gilt fur das in zahlreichen Varianten verwendete Theatrum Naturae.124 Auch dieses Kompositum umfaßte alle Bestimmungen des Begriffes im Sinne eines Schauplatzes der Natur, der auch Druckwerke einschloß, die, wie etwa das 1590 erstmals publizierte Universae naturae Theatrum]ean Bodins, keineswegs illustriert waren, sondern eine systematische Beschreibung der Welt boten. Im Sinne der zeitgenössischen Bestimmung des Theatrum als Medium des Zur-Schau-Stellens hatte Bodin sein Opus als „eine Art Tafel der vom unsterblichen Gott geschaffenen Dinge" definiert, „die den Augen von Jedermann präsentiert werden. "125 Diese Bestimmung könnte Leibniz, der Bodins Werk besonders geschätzt hat, aufgenommen haben.126 Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hat der Nürnberger Arzt und Humanist Michael Rötenbeck ein gleichnamiges Theatrum Naturae zusammengestellt, das darin eine Alternative bot, daß es weniger auf Texte als vielmehr aufBilder setzte. Es vereinigte 545 Tier- und Pflanzenaquarelle, die von dem überragenden Miniaturisten Lazarus Rötting gemalt worden waren. In der Vorrede erläuterte Rötenbeck, daß er das Werk unter den Titel Theater der Natur gesteilt habe, „weil darin, wie in einem offenen Schauplatz, mancherlei Kreaturen Gottes jederman gleichsam lebendig vor Augen gestellt werden (...); und die Betrachter und Liebhaber der Kunst sollten durch dieses Theatrum Naturae angereizt werden, Gott aus seinen Wunderwercken zu erkennen und ihn auch weiterhin umso mehr zu loben und zu preisen."127 Auf dem zugehörigen Titelkupfer des Augsburger Kupferstechers Wolfgang Kilian (Abb. 10) bilden der mit lebhaftem Zeigegestus vor den gedrehten Doppelsäulen des Orients postierte Salomon und der korrespondierende Perserkönig Cyrus Repräsentanten einer arkanen Weisheit, deren Stätte sich hinter dem Portal als Natur selbst offenbart. Ein adamitischer Mensch wird, als solle der Fluch der Erbsünde zurückgenommen werden, von einer gottvaterhaften Gestalt durch ein paradiesisches Reich geführt, dessen Artenvielfalt im Buch zu studieren ist. Indem es sich durch an124 Vgl. etwa das Theatrum Naturae von Philander Colutius, Professor fur Medizin am Gymnasio Romano, von 1611, das eine aktualisierte Fassung von Camillos Idea in Form eines Memorial theaters entwickelt, indem das Frontispiz sechzehn antike Philosophen durch ihre Büsten und ihre markantesten Aussagen auf einer Bühne präsentiert. Die Mitte und die Ränge nehmen naturphilosophische Lehrsätze vor allem von Aristoteles ein (Colutius, 1611 ; vgl. Harms, 1985, Bd. I, Nr. 5, S. 1 6 - 1 9 ; Blair, 1996, S. 172ff.). 125 Bodin, 1590, sig. v; vgl. Blair, 1996, S. 1 6 0 - 1 6 3 . Johann Heinrich Aisted, dessen Encyclopaediav on 1630 Leibniz bei all seinen Bemühungen um eine Universalsprache als Herausforderung vor Augen stand und die er ebenfalls in die Liste der lesenswerten Werke aufnahm (AA, VI, 4, A, Nr. 159, S. 683, Z. 4), hat Bodins tabula gepriesen und als Modell für sein eigenes Vorhaben gewertet (Aisted, 1630, Bd. I, S. 787; Blair, 1996, S. 172), und spätestens hier wird sich Leibniz das Konzept des Theatrum Naturae als ein dem Auge zugänglicher „Schauplatz" erschlossen haben.
AA, VI, 4, A, Nr. 159, S. 681, Z. 8f. Handschriftliche Vorrede Michael Rötenbecks, modernisiert, nach der Transkription in: Hackethal, 1990, S. 56; vgl. Jahn, 1970, S. 186. 126
127
3. BEGRIFFSVARIANTEN DES
THEATERS
Abb. 10. Wolfgang Kilian, Theatrum Naturae, Stich, 1615, in: Michael Rötenbeck, Theatrum Naturae, Nürnberg 1615, Klebebuch, Titelblatt, Berlin, Humboldt-Universität, Museum für Naturkunde
schauliche Erkenntnis auszeichnet, bietet es ein Theater der Natur. Der Maler, so betont die lateinische Inschrift, habe die Spezies „auf eine die Natur nachahmende Kunst gemalt u n d in lebendigen Farben illustriert." 128 O b Leibniz dieses kostbare Papier-
128
„(...) arte naturam aemulante, pietà, vivisque coloribus illustrata" (zit. nach Hackethal,
1990, S. 51).
38
II
DAS THEATER DER EXPONATE
m u s e u m während seiner Aufenthalte in N ü r n b e r g oder im Verlauf seines Studiums im benachbarten Altdorf studiert hat, ist nicht zu belegen; in j e d e m Fall aber traf es m i t seinen „lebendigen" Farben ein wesendiches Element seiner Bestimmung des Theaterbegrifis. 129 „Lebendig" war fur Leibniz alles, was in haptischer und visueller Weise über die festgelegte Schriftform hinausging. Als er ca. 1671 in M a i n z das Theater der Natur undKunstáeñiúeite, können.
130
erhoffte er, „lebendige Eindrücke und Kenntnis" produzieren zu
Diese Erwartung trug auch bereits Rötenbecks Theatrum
NaturaevoT.
In einer seiner letzten Äußerungen, der Denkschrift fur Zar Peter I. aus d e m Jahre 1716, hat Leibniz die Kurzformel des Theaters der Natur in jene Richtung gelenkt, in die sich der moderneTheaterbegriff als Inszenierungen entwickelte, gleichwohl aber einen denkbar weiten Rahmen beibehalten, der von Grotten über Gärten bis zu zoologischen Gärten u n d anatomischen Theatern reichte: „zum theatro naturae gehören ganze Grotten, in denen allerhand Sorten von Mineralien und Muschelwerken zu sehen sind, ein Garten, in d e m besondere Sorten von Bäumen, Stauden, Wurzeln, Kräutern, Blumen u n d Früchten zu finden sind, u n d endlich Tiergärten u n d Lebendgehege, in denen lebende vierfussige Tiere, Vögel u n d Fische zu sehen sind, samt einem anatomischen Theater, in d e m die Skelette der Tiere gezeigt werden." 1 3 1 Leibniz' Denkschrift fur den Zaren definierte schließlich auch das letzte Element der Gesamtformel, das Theatrum Artis: „ Z u dem theatro artis gehört, was ein Observatorium, Laboratorium, Rüsthaus u n d Magazin erfordern; darin sollen sich auch M o delle von allerhand nützlichen Inventionen in ziemlicher Größe finden, insbesondere von allerhand Mühlen, Hebewerkzeugen, Wasserwerken sowie auch vielen Arten der bei den Bergwerken gebräuchlichen Maschinen." 1 3 2 Diese Betonung von Geräten, Maschinen und Werkzeugen stand in der Tradition von Maschinenbüchern, die wie etwa J a c q u e s Bessons Theatrvm Instrvmentorvm Machinarvm
von 1578 u n d Heinrich Zeisings oftmals aufgelegtes Theatrum
et
Machi-
narum den Theaterbegriff im Titel führten. 1 3 3 Leibniz hat zumindest G e o r g Andreas Böcklers Theatrum Machinarum
Novum von 1661 gekannt u n d geschätzt. 134 D a s eine
veritable B ü h n e zeigende Frontispiz dieses Werkes (Abb. 11) wird ihn darin bestärkt haben, die Theatermetapher zu verwenden. A u f d e m Kupferstich ziehen Archimedes u n d Mechanicus, sein moderner Schüler, den Vorhang zur Seite, u m den Blick auf a m Straßenrand stehende M ü h l e n freizugeben, deren Antriebsräder von einem Wasserturm über Aquaedukte gespeist werden. 1 3 5
Vgl. zum Topos der „lebendigen" Farben: Fehrenbach, 2003, S. 158ff. AA, IV, 1, Nr. 43, S. 540, Z. 18; AI, 4, Z. 1-4. Vgl. S. 42f„ 158. 131 Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 351; AI, 66, Z. 18-23. 132 Guerrier, 1873, Nr. 240, S. 351; AI, 66, Z. 24-28. 133 Besson, 1578; vgl. Bredekamp, 2000, Antikensehnsucht, S. 26f.; Zeising, 1673. Vgl. zum MaschinenbegrifFund zum Schaucharakter des Theatrum der Maschinen: Lazardzig, 2004. 134 Leibniz, 1899, S. 515; AI, 41, Ζ. 3. 135 Stöcklein, 1969, S. 177. 129
130
3. BEGRIFFSVARIANTEN DES
THEATERS
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Abb. 11. Georg Andreas Böckler (inv.), Theatrum Machlnarum Novum, Stich, 1661, in: Böckler, 1661, Titelblatt
Alle Varianten decken verschiedene Aspekte von Leibniz' Formel des Theatrum Naturae etArtis ab. Sie verband den Begriff des Theaters mit allen Bestrebungen, die im weitesten Verständnis von Natur, Kunst u n d Technik Phänomene u n d Probleme zur intensivierten Anschauung zu bringen versuchten und damit unter der H a n d eine Verbindung von Sammeln, Forschen, Zur-Schaustellen und Verlebendigen bewirkten.
40
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DAS THEATER DER EXPONATE
4. Bechers „Theater der Natur und Kunst" Die Formel selbst gehört nicht zu Leibniz' Erfindungen; vielmehr wurde sie durch eines der bekanntesten Bücher zur Didaktik des Spracherwerbs, Johann Joachim Bechers Methodus Didactica voη 1668, geprägt. Der Arzt, Ökonom und Abenteurer Becher, der in den sechziger Jahren ein Vorgänger von Leibniz am Mainzer Hof gewesen war, hatte mit diesem Werk nicht nur eine Anleitung zum Sprachunterricht, sondern auch zur Gedächtniskunst vorgelegt, die einen „Fürstenweg" zur Vernunft bahnen sollte. In seiner Einleitung betonte Becher mit der ihm eigenen, farbigen Metaphorik, daß er mit seiner Schrift Gruben zu tiefgründigen Argumentationen zugeschüttet, Hügel unnützer Schlüsse geschleift, Wälder von Absurditäten ausgerottet, von Worten verstrüppte Pässe eröffnet, Sümpfe der Zeitverschwendung trocken gelegt, den Sprachweg mit einem Zaun versehen, die Wurzeln der lateinischen Sprache als Bäume gepflanzt, ihre Derivate als Äste angebracht und schließlich die Irrgärten der Grammatik in Blumengärten verwandelt habe. Zudem habe er, und hier nennt Becher erstmals die gesamte Formel, durch das „Theatrum Naturae & Artis die Wörter mit den Sachen vereinigt. "136 Da dem Lernenden die Bedeutung der Wörter so nah als irgend möglich mit den Signifikaten zusammengebracht und „alle lebendigen Tiere, Kräuter, Steine, Metalle und Artefakte, Instrumente und Sachen und auch deren Teile lebendig vor Augen" gestellt werden sollten,137 sei ein solches Theater der Natur und Kunst zu gründen: „Ich habe einmal die Spekulation gehabt, wenn ein Herr wäre, der als Muster an Wohlgefälligkeit die Mittel gäbe, ein Theatrum Naturae etArtis solchergestalt aufzurichten, daß alle Naturalia und Artefatta, Instrumente und Manufacta darin wären, so viele man immer bekommen könnte. "138 Im ersten Stock dieses Theaters sollten ausgestopfte Tiere oder deren Nachbildungen in Holz oder Wachs aufgestellt werden, so daß an einem Tag mehr gelernt werden könne „als in der blutigen Anatomie in vielen Wochen."139 Die Pflanzen waren fiir die zweite Etage vorgesehen; sie sollten ebenfalls in Holz oder Wachs nachgebildet werden und solcherart einen Sommer wie Winter grün bleibenden Garten repräsentieren. Im dritten Stockwerk sollte sich das Reich der Mineralien ausbreiten können. Die drei unteren Stockwerke repräsentierten Becher zufolge die gesamte Natur, um ein allgemeines Publikum anzuziehen: „wäre nun dieses nicht ein schönes Theatrum Naturae, fur Alte und Junge, Geist- und Weltliche, Gelehrte und Handwerksleute, da man an einem Ort zusammen hätte, was die gütige Natur in der ganzen Welt erschaffen hat, ja was einer wohl, selbst wenn er die ganze Welt durchreiste, nicht zu sehen bekom-
136 137 138 139
Becher, Becher, Becher, Becher,
1668, 1668, 1668, 1668,
S. 4r-Av. S. 50; AI, 1, Z. 1 - 2 . Vgl. Smith, 1994, S. 85f. S. 51; AI, 1, Z. 1 0 - 1 3 . S. 51; AI, 1, Z. 22.
4. BECHERS „THEATER DER NATUR UND KUNST"
men werde. Sollte dieses nicht ein edler Magnet sein, wißbegierige Geister [Ingenia] aus nahen und fernen Landen anzuziehen?"140 Im vierten Stock sah Becher als zusätzliche Attraktion die menschgemachten Gegenstände und Instrumente vor.141 Von besonderer Bedeutung ist seine Überlegung, daß die einzelnen Exponate auf Postamente gestellt werden sollten, denen Inschriften in verschiedenen Sprachen beizugeben wären. Zudem könnten die Tiere nach ihrer Artenzugehörigkeit gruppiert werden: „auch könnten die Körper ihrer physischen Abteilung nach in gewisser Ordnung stehen, wie die Vierfüßler und besonders die Lufttiere, Wasserwesen, Insekten etc."142 Bechers Überlegungen fruchteten zumindest bei Athanasius Kircher, Johannes Andreas Schmidt und Leibniz. Kircher hatte seine riesige römische Kunstkammer im Jahre 1659 gegenüber Herzog August von Braunschweig-Lüneburg bereits als „Theater der Stadt und der Welt bezeichnet",143 und er hatte dessen Sohn Ferdinand Albrecht 1662undl663 durch Rom geführt und wesentliche Anregungen dafür geliefert, daß dieser auf seinem Schloß in Bevern eine anspruchsvolle Kunstkammer zusammenbrachte.144 Insofern war es nicht ohne programmatische Geste, wenn er seine eigene Sammlung aufdem so prachtvollen wie geheimnisvollen Titelkupfer des im Jahre 1678 erschienenen Kataloges im Anklang an Bechers Konzept als Haus des naturae artisque theatrum ausgab (Abb. 12). Möglicherweise hat sich der Helmstedter Professor fur Kirchengeschichte Johann Andreas Schmidt auf Kircher bezogen, als er Leibniz im Jahre 1697 mitteilte, oft daran gedacht zu haben, ein öffendiches naturae etartis theatrum zu errichten;145 ebenso aber ist denkbar, daß er Bechers Methodus didacticta im Auge hatte. Für Leibniz ist dies gewiß. Er hat das Museum Kircherianum wie erwähnt als ein Modell und zugleich Exponat seiner Pariser Ausstellungsschrift von 1675 aufgeführt, und ihm war der Katalog von Kirchers Sammlung bekannt,146 aber die größte Wirkung ging zunächst von Bechers Schrift aus. Er hat sie bald nach Erscheinen gelesen und in seinen Anmerkungen auch das Projekt des Theaters der Natur und Kunst kommentiert. Ebenso wie zahlreiche andere Zeitgenossen hat er Becher als eine problematische Per-
140
Becher, 1668, S. 52; AI, 1, Z. 4 5 - 4 6 .
141
Becher, 1668, S. 51f.; AI, 1, Z. 3 3 - 3 4 .
142
Becher, 1668, S. 52; AI, 1, Z. 3 7 - 3 8 .
143
„in hoc Vrbis et Orbis Theatro" (Brief vom 13.6.1669, in: Athanasius Kircher, 1988,
S. 107; vgl. Findlen, 1995, S. 641). 144
Barocke Sammellust, 1988, S. 74f„ 118.
145
AA, I, 14, Nr. 301, S. 508, Z. 15f.
146
AA, IV, l , N r . 49, S. 564, Z. 1 ; A I , 5 , Z . 66. In den Aufzeichnungen zum 1674 erschie-
nenen Briefwechsel zwischen Kircher und Quirin Kuhlmann erwähnt Leibniz den „höchst exakten" Katalog Giorgio de Sepibus aus dem Jahre 1671 (AA, VI, 3. Nr. 14. S. 211, Z. 17-19), der sich jedoch nicht verifizieren ließ. Möglicherweise handelt es sich um eine Vorform von De Sepibus, 1678.
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DAS THEATER DER EXPONATE
K i r c k e n a a *
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Abb. 12. Titel des Museum Kircherianum, Ausschnitt aus Abb. 8
sönlichkeit wahrgenommen, dessen Ingenium und Mut aber bewundert.147 Von diesem Zwiespalt war auch seine Bewertung von dessen Theater der Natur und Kunst çpprägt. Sein Kommentar zu Bechers Methodus didactica war eine Mischung aus Zustimmung und Kritik: „Und in der Tat ist die Zuordnung sowohl der Sachen wie der Worte zweifach, leblos und lebendig. Die Zuordnung der Dinge in lebloser Form ist in einer Kunstkammer, ebenso in jenem vom Autoren vorgezeichneten theatrum naturae et artis."l4s Schon indem Leibniz dem becherschen Theater der NaturundKunstattesúette, Gefäß der leblosen Dinge zu sein, widersprach er dessen Hoffnung aufeine gleichsam immergrüne lebendige Präsentation. Im Gegensatz zu späteren Äußerungen, die bereits in täuschend lebensechten Nachbildungen das Kriterium der Lebendigkeit erfüllt sahen, suchte Leibniz nun nach Orten, an denen die Eigenbewegung der lebenden Pflanzen, Tiere und Mineralien zu beobachten war: „im thiergarten, im Blumengarten, im 147 148
Breger, 1993, S. 71ff. AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 13-15; AI, 2, Z. 1-3; vgl. Breger, 1993, S. 71.
4. BECHERS „THEATER DER NATUR UND KUNST"
Bergwerck."'49 Insofern die Bewegung das Prinzip des Lebendigen war, erachtete Leibniz auch die bechersche Anordnung der zu lernenden Worte als „unlebendig", wohingegen er Jan Amos Comenius eine vitale Methode attestierte, weil diese die Sprache mit der Bewegung verband.150 Wie sich zeigen wird, gehörten auch die Bilder von Comenius Orbispictum, von denen der Impuls des Lernens ausging, zum Kriterium der Lebendigkeit. Bechers Theatrum naturae etartis dagegen hatte in Leibniz' Augen das Defizit, daß sich die Bewegungen nicht repräsentieren konnten, wie es etwa die Weltmaschine seines jenenser Mathematikprofessors Erhard Weigel vermochte. Weigel verfügte nicht nur über die erwähnte Kunstkammer, sondern auch über verschiedene Globen. Vermutlich hat sich Leibniz hier von Weigels sphaera moralis, einem Globus zur Kombinatorik von Ethik und Rechtslehre, inspirieren lassen, den er im Jahre 1663 als höchst beweglich gepriesen hatte und den er später in semen Atlas universalis aufnehmen wird.151 Offenbar hat sich Leibniz von Bechers Publikation der eigenen Kunstkammer, die zur Buchmesse des Jahres 1669 unter dem Titel Katalog aller Körper, die im becherschen Theater der Natur und Kunst zufinden sind herauskommen sollte,152 mehr versprochen als von dessen methodus didactica. Er hat sich den gesamten Inhalt mitsamt der Erwähnung der Laboratorien notiert, die seinem Begriffvon Lebendigkeit entgegenkommen mußten.153 Umso enttäuschter wird er darüber gewesen sein, daß dieses Buch trotz der Ankündigung nie herauskam. Leibniz stand Bechers Projekt mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde gegenüber; Bechers Wortschöpfung aber hat bei ihm geradezu gezündet. Von 1669 an hat er über einen Zeitraum von 47 Jahren nicht nachgelassen, sein eigenes Konzept der Errichtungeines Theaters der Natur und Äwrarfzu betreiben. Bechers Versuch, im Theater der Natur undKunst die Wörter und die Sachen so eng wie irgend möglich zu verkoppeln, hat er aufgenommen, zugleich aber das Defizit der Lebendigkeit und der inneren Motorik der Darstellung und des Lernens zu kompensieren versucht. Was ihn von Becher unterschied, war vor allem die Erweiterung des Theaterbegriffes. Bechers Formel des Theaters der Natur und Kunstbedeutete zunächst eine Variante der Kunstkammem. Diese Bestimmung hat Leibniz zwar übernommen, ihr aber weitere Sphären hinzugefügt und vor allem einen theatralen Zusammenhang hergestellt, der den Begriff des Lebendigen insofern zu realisieren versuchte, daß er aufallen Ebenen die Eigenmotorik und Dynamik als Zeichen der Lebendigkeit stärkte. Sein Theater der Natur und Kunst
149
AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 15f.; AI, 2, Z. 3 - 5 .
150
AA, VI, 2, Nr. 52, S. 392, Z. 16f. ; AI, 2, Z. 4.
151
AA, VI, 1, Nr. 3, S. 55, Z. 33; Vgl. hierzu Busche, 1997, S. 73; AA, VI, 4, A, Nr. 31,
S. 90, Z. 3; AI, 12, Z. 81. 152
„Catalogus omnium corporum, quae in theatro naturae et artis Becheriano reperiuntur"
(AA, VI, 2, S. 392, Z. 26f.; vgl. Hassinger, 1951, S. 264). 153
AA, VI, 2, S. 394, Z. 5 - 8 ; AI, 2, Z. 10-15.
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geht daher noch über die Summe der Einzelbedeutungen hinaus; es umfasst Kunstkammern mit den drei Reichen der Natur, wissenschaftliche Geräte, Werke der bildenden Kunst und der Kunsttechnologie, physikalische und chemische Laboratorien, botanische Gärten und Menagerien, anatomische Theater und Mustergrotten. Durch alle Bereiche, und dies ist der entscheidende Gedanke, wirkt ein dynamischer, die Kunstkammern mit dem Theater verbindender Begriff des Sammeins, Forschens und Vermitteins.
III DER PARISER „GEDANKENSCHERZ" 1. D e r T e x t Mit seinen in Mainz formulierten Überlegungen hat Leibniz auf die Entwicklungen reagiert, die mit der Gründung der Akademie der Künste ( 1648) und der Akademie der Wissenschaften (1666) in Paris angestoßen worden waren. Während seines dortigen Aufenthaltes vom März 1672 bis zum Oktober 1676 war Leibniz von der anfänglichen Schwierigkeit, im Kreis der Akademieforscher zu reüssieren, zwar zunächst irritiert, aber die Dynamik des intellektuellen Lebens und die Erfahrung der Großstadt versetzten ihn dennoch in eine kaum jemals wieder erlebte Hochstimmung. Von dieser Euphorie zeugt vor allem der Text Drôle de Pensée, touchant une nouvelle sorte de REPRESENTATIONS ( Gedankenscherz, eine neue Art von REPRÄSENTATIONEN betreffend} vom September 1675 (Abb. 13). Ausgelöst durch Versuche von Zeitgenossen, mittels Apparaturen auf der Seine zu gehen oder sich in die Lüfte zu erheben (Abb. 14),154 hat Leibniz in diesem Text seine um den Begriff des Theaters der Natur und Kunst kreisende Strategie zur Förderung des Wissens abundant entfaltet.155 In seiner atemlosen Wirrnis, seinen wilden Assoziationen, seinen Wiederholungen und seinen Einschüben wirkt diese verblüffende Schrift auf den ersten Blick wie eine karnevaleske Skizze, aber schon die relativ saubere Handschrift belegt, daß Leibniz' Gedanken hier keineswegs entglitten sind. Sie fügen sich vielmehr in das heute nur mehr mühsam zu rekonstru-
154 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562, Z. 19-21; AI, 5, Z. 14-15. Zur Abbildung: Hooke, 1679, fig. 2 zu S. 16; vgl. hierzu und zu Hookes Quelle: AA, IV, 2, S. 740f. Das Fluggerät und die Kraftübertragung des Körpers wären bei vergrößerten Flügeln allenfalls für ein Gleiten geeignet gewesen. Diese Flugversuche des Schlossers Besnier aus der Provinz Maine haben nicht in Paris stattgefunden, aber der Seiltänzer Allard hatte dort vergleichbare Unternehmungen gestartet. Leibniz war zudem die Harsdörffersche Ausgabe von Daniel Schwenters „physico-mathematische Erfreuungen" von 1651 und 1653 bekannt, in der ein ähnlicher Versuch abgebildet war (Gerland, 1906, S. 246, Anm. 1; Wiedeburg, II, 3,1970, S. 292, Anm. 985). Auch dies mag zu seiner Schlußbemerkung geführt haben, daß sich in dem im Titel angesprochenen Scherz ein ernster Kern verhüllt. 155 AA, IV, 1, Nr. 49, S. 562-568; AI, 5. Vgl. Gerland, 1906, S. 246ffi; Wiener, 1940; Beiaval, 1958; Wiedeburg 1970, II, 1, S. 610ff.; Ennenbach, 1981; Böger, 1997, Bd. I, S. 98ff.
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DER PARISER „GEDANKENSCHERZ"
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QUELLEN
qvelqve drôle qv'elle paroisse, ne laisseroit pas d'estre de conseqvence, si elle estoit executée. Supposons qve qvelques personnes de consideration, entendues aux belles curiositez, et sur tout aux machines, soyent d'accord ensemble, pour en faire faire des representations publiques. Pour cet effect il faudrait qu'elles pussent avoir un fonds, à fin de faire des depenses nécessaires; ce qvi ne serait pas difficile si qvelqves uns au moins de ces personnes fussent en état d'avancer. Comme par exemple le Marqvis de Sourdiac, Möns. Baptiste, Möns, le Brun, ou peut estre qvelqve grand Seigneur, comme Möns, de la Feuillade, Möns, de Roannez; ou même si vous voulez, Möns, de Meclembourg, Möns, de Mazarini, et qvelqves autres. Il vaudrait pour tant mieux, qv'on pût se passer des grand Seigneurs, et mêmes des gens puissans en Cour, et il seroit bon d'avoir des particuliers capables de soûtenir les frais nécessaires. Car un seigneur puissant se rendrait maistre tout seul de l'affaire, lors qv'il en verrait le succès. Les choses allant bien on pourrait tousjours avoir des protecteurs en Cour. Outre les personnes capables de faire les frais, il en faudroit aussi qvi puissent donner tousjours des nouuelles inventions. Mais comme le grand nombre fait naistre des desordres; je croy qve le meilleur seroit qv'il n'y en eût qve deux ou trois associez, maistres du privilege, et qve les autres fussent à leurs gages, ou receus avec condition, ou à l'égard de certaines representations, ou jusqv'à un certain temps, ou aussi long temps qv'il plairait aux principaux, ou jusqv'à ce qv'on leur aurait rendu certaine somme d'argent qv'ils pourraient avoir fourni. Les personnes qv'on aurait à gage, seraient des peintres, des sculpteurs, des charpentiers, des horlogers, des [...] et autres gens semblables. On peut adjouter des mathématiciens, ingénieurs, architectes, bateleurs [,] charlatans, Musiciens, poëtes, libraires, typographes, graveurs, et autres, le tout peu à peu et avec le temps. Les representations seraient par exemple des Lanternes Magiques (on pourrait commencer par là), des vols, des meteores contrefaits, toutes sortes de merveilles optiques; une representation du ciel et des astres. Cometes. Globe comme de Gottorp ou Jena; feux d'artifices, jets d'eau, vaisseaux d'estrange forme; Mandragores et autres plantes rares. Animaux extraordinaires et rares. Cercle Royal. Figures d'animaux. Machine Royale de course de chevaux artificiels. Prix pour tirer. Representations des actions de guerre. Fortifications faites, elevées, de bois, sur le theatre, tranchée ouuerte, etc. Le tout à l'imitation du faiseur des [...] luts qve j'ay veu; un maistre de fortification expliqveroit l'usage de tout. [232 r / 232 v ] Guerre contrefaite. Exercice d'infanterie de Martinet. Exercice de cavalerie. Bataille navale, en petit sur un canal. Concerts extraordinaires. Instrumens rares de Musiqve. - Trompettes parlantes. Chasse. Lustres, et pierreries contrefaites. La Representation pourrait tousjours estre meslée de qvelqve histoire ou comedie. Theatre de la nature et de l'art. Luter. Nager. Danseur de cordes extraordinaires. Saut perilleux. Faire voir, qv'un enfant leve un grand poids avec un fil. Theatre Ana-
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ANHANG tomiqve. Iardin des simples. Laboratoire, suivront. C a r outre les representations publiqves, il y aura des particulières, c o m m e des petites machines de Nombres, et autres [,] tableaux, médaillés, bibliotheqve. Nouuelles experiences, d'eau, air, vuide.
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Pour les representations grandes serviroit aussi la machine de M ö n s . Gvericke, de 2 4 chevaux, etc. Pour les petites [son] globe. Qvantité de choses de chez Möns. Dalencé; item pour l'aimant. M ö n s . Denis, ou M ö n s . - les expliqveroient.
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distribueroit m ê m e certaines raretez, c o m m e eaux stiptiqves etc. O n y feroit l'opération de transfusion et infusion. Item pour congé on donneroit aux spec65
tateurs le temps qv'il fera le lendemain, s'il pleuura ou non; par le moyen du petit h o m m e . Cabinet du pere Kircher. O n fera venir d'Angleterre l ' h o m m e qvi mange du feu etc. s'il est e n c o r en vie. O n feroit voir au soir la lune par un Telescope aussi bien qve d'autres astres. O n feroit chercher un beuueur d'eau. O n feroit l'epreuue des machines, qvi jetteroient juste, sur un point donné. Des representations des
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muscles, nerfs, os, item machine representan! le corps humain. Insectes de Möns. S c h w a m m e r d a m , Goedartius, Iungius. M y r m e c o l e o n . Boutiqve de Messieurs Galineé et des Billets. Arts de M ö n s . Thevenot. Disputes plaisantes, et colloqves. Faire voir des Chambres obscures. Peintures qvi ne se voyent qve d'un [ . . . ] de certaine maniere, et d'un autre de tout autre. [ . . . ] asie d'un certain M ö n s à Γ isle
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N [ o t r e ] D [ a m e ] . Termes c o m m e à Versailles qvi bordent un canal. Rejouissances publiqves. Grotesqves peintes sur du papier huylé et des lampes dedans. O n pourrait avoir des figures qvi marcheraient, illuminées [de] dedans, pour voir ce qvi serait sur le papier. Pour les lanternes magiqves, on auroit n o n seulement des simples choses peintes sur d u transparent, mais démembrables, pour représenter des
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m o u u e m e n s bien extraordinaires et grotesqves qve les h o m m e s ne sçauroient faire. Ballets des chevaux. Courses de bague; et de la teste de Turc. M a c h i n e des arts, telle que j'ay vu en Allemagne. Force d u miroir ardent. Feu Gregeois de Callinicus. Jeu d ' É c h e c nouueau d ' h o m m e s sur un theatre. C o m m e dans Harsdorffer. Auffziigeà. la m o d e d'Allemagne. O n y pourrait apprendre et représenter d'autres especes de jeux
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en grand. Jouer une comedie entière des jeux plaisans de toutes sortes de pays. Les gens les imiteroient chez eux. O n aurait dans la maison jeu de paume, et autres, et [ . . . ] o n inventerait peut estre une nouuelle espece de jeu utile. O n y pourroit à la fin établir des Academies d'Exercices, et des Colleges p o u r la jeunesse, peut estre le pourroit on joindre au College de 4 nations. Comedies des modes différentes de
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chaqve pays. U n e comedie Indienne, une Turqve, une persane etc. Comedies des métiers; une pour chaqve métier, qvi représenterait leur adresses, fourberies, plaisanteries, chefs d'oeuures, loix et modes particulières ridicules. A u lieu des bouffons Italiens, S c a r a m u c h a et autres [ 2 3 2 v / 2 3 3 r ] o n chercherait des bouffons françois qvi joueraient qvelqves fois des bouffonneries. Dragons volans de feu, etc. Pour-
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raient
estre de papier huylé, illuminé. Moulins à tout vent. Vaisseaux qvi iroient
contre le vent. Le C h a r i o t à voiles de Hollande ou plustost de Chine. Instruments qvi joueraient eux mêmes. Carillons etc. Machine de Hauz d'une cavalerie et infanterie contrefaite, qvi se bat. L'experience de casser un verre en criant. Petter deuuroit venir. Inventions de Möns. Weigel. Faire voir l'égalité des battemens des pendules. Globe de Möns. Gvericke. Tours de passe passe. Tours de carte. On pourrait faire entrer ces choses dans les Comedies, ν. g. jouer un bateleur. A la fin l'opera pourra estre jointe à tout cela, et bien d'autres choses. Postures dans les Comedies à la mode d'Italie et d'Allemagne, serait nouueau. Tirer le rideau, ce ne serait pas mauvais, car pendant l'intervalle on pourrait faire voir qvelqve chose dans l'obscurité. Et les Lanternes Magiqves pourraient estre propres à cela. On pourrait faire représenter ces actions faintes de ces marionettes transparentes représentées par qvelqve parole ou chant. On pourrait faire une representation des antiqvitez de Rome et autres. Des hommes illustres. En fin de toutes sortes de choses. L'usage de cette entreprise, serait plus grand qv'on ne se pourrait imaginer, tant en public, qv'en particulier. En public il ouuriroit les yeux aux gens; animeroit aux inventions, donnerait des belles veües, instruirait le monde d'une infinité de nouueautez utiles ou ingenieuses. Tous ceux qvi auraient une nouuelle invention, ou dessein ingenieux, pourraient y venir, ils y trouueroient de qvoy gagner leur vie, faire connoistre leur invention, en tirer du profit; ce serait un bureau general d'adresse pour tous les inventeurs. On y aurait bien tost un theatre de toutes les choses imaginables. Menagerie. Iardin des simples, laboratoire, theatre anatomiqve. Cabinets de raretez. Tous les curieux s'y adresseraient. Ce seroit le moyen de debiter ces choses. On y joindrait des Academies, colleges, jeux de paume, et autres; concerts, galeries de tableaux. Conversations et conferences. Le profit en particulier seroit grand apparemment. Les curiositez optiqves ne couteroient gueres et feraient une grande partie de ces inventions. Tous les honnestes gens voudraient avoir veu ces curiositez la pour en pouuoir parler. Les dames de qvalité mêmes voudraient y estre menées, et cela plus d'une fois. On seroit tousiours encouragé à pousser les choses plus loin, et il seroit bon, qve ceux qvi l'entreprissent s'asseurassent du secret, dans les autres grandes villes, ou cours principales. Comme Rome, Venise, Vienne, Amsterdam [,] Hambourg; par des gens de leur dépendance. Ayant privileges des Roys et republiqves.