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German Pages [424] Year 1985
V&R
Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer
Band 21
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die evangelische Strafgefangenenseelsorge Geschichte - Theorie - Praxis
Von Peter Brandt
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
C I P - K u r z t i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Brandt,
Peter:
Die evangelische Strafgefangenenseelsorge : Geschichte - T h e o r i e Praxis / von Peter Brandt. - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1985. (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 21) ISBN 3-525-62309-7 NE: G T
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985. - Printed in Germany. - O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf f o t o - oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Druck und Bindearbeit: H u b e r t & Co., Göttingen
Vorbemerkung Ziel dieser Arbeit ist e s , Ansätze einer Theoriebildung f ü r die Seelsorge u n t e r den speziellen Bedingungen des Justizvollzuges zu entwickeln, die in den letzten J a h r e n ein v e r s t ä r k t e s kirchliches und wissenschaftliches Interesse gefunden h a t . Die Basis der Untersuchung bilden Analysen historischer Einsichten und gegenwärtiger Fragestellungen. Ein Leitgedanke ist die Einsicht in die Korrelation von Einzelhaftentwicklung und inhaltlicher Entfaltung der institutionellen Strafgefangenenseelsorge. Ein zweiter wesentlicher Aspekt liegt auf der Frage nach einem theologisch und erfahrungswissenschaftlich reflektierten Selbstverständnis der Kirche f ü r Gefangene, das es ermöglicht, christlich motivierte Sorge um den Menschen in der Strafe u n t e r einem ganzheitlichen Seelsorgeverständnis zu üben. Angeregt wurde diese Arbeit von Herrn Professor Dr. Friedrich Wintzer, dem ich besonders f ü r die wissenschaftliche und ermutigende Begleitung des Prozesses der Entstehung dieser Untersuchung danke. In g e r i n g f ü gig erweitertem Umfang wurde die Arbeit im Sommer-Semester 1983 als Dissertation von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn angenommen. Für wohlwollende Unterstützung danke ich der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig und f ü r Druckkostenzuschüsse der Evangelischen Kirche im Rheinland sowie der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands.
Abbenrode, im April 1985
Peter Brandt
Inhalt
Vorbemerkung
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0. EINLEITUNG
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1. ENTWICKLUNG DES STRAFVOLLZUGES
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1. Erste Ansätze der Freiheitsstrafe 2. Der theoretische Neuansatz im Strafvollzugssystem des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Aufklärung in Deutschland 3. Howard und Fry 4. Die Weiterentwicklung des Gefängnis we sens in Deutschland bis ins 19. Jahrhrundert 5. Fliedner und Julius: Die Übertragung des englischen Ansatzes zur Gefängnisreform nach Preußen 6. Johann Hinrich Wicherns Rolle bei der Neugestaltung des Gefängniswesens in Preußen 7. Die Weiterentwicklung des Gefängniswesens und der Straftheorie bis 1918 2. DIE BEGRÜNDUNG UND ENTWICKLUNG DER GEFANGENENSEELSORGE BIS IN DIE PHASE DER INSTITUTIONALISIERUNG IM AUSGEHENDEN 19. JAHRHUNDERT 1. Vorstufen zur Gefangenenseelsorge in der Alten Kirche und in der Zeit bis zur Reformation 2. Luthers Stellung zur Kriminalität und Gefangenenfrage 3. Ansätze zu einer institutionalisierten Seelsorge an Delinquenten in den Kirchenordnungen 1. Zusammenfassung 4. Die Weiterentwicklung der Seelsorge an Verurteilten im 18. Jahrhundert 1. Zusammenfassung 5. Die Seelsorge an zum Tode Verurteilten im 19. Jahrhundert .. 6. Die Stellung der christlich motivierten Gefängnisreformer Fliedner, Julius, Wichern und Krohne zur Gefangenenseelsorge 1. Fliedners Ansatz der Gefangenenseelsorge
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2. Julius: Die sittliche Wiedergeburt als Aufgabe der Gefangenenseelsorge 3. Wicherns grundlegende Perspektiven der institutionalisierten Gefangenenseelsorge 4. Krohnes Weiterführung Wichernscher Reformen 5. Zusammenfassung 7. Die Konsolidierungsphase der institutionalisierten Gefangenenseelsorge 8. Die Stellung und Funktion des Gefängnisgeistlichen im 19. J a h r h u n d e r t 3. DIE PHASE DER INHALTLICHEN KONSOLIDIERUNG DER GEFANGENENSEELSORGE BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG
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1. Die Aufgaben des Gefängnispfarrers 107 2. Die Gefangenengemeinde 108 3. Die Stellung der Gefangenenseelsorger zur Beg r ü n d u n g der staatlichen Strafe 110 4. Gefangenenseelsorge und Einzelhaft 114 5. Die individuelle Seelsorge 115 1. Der Ort des Seelsorgegespräches 115 2. Die psychische Situation des Menschen in der Haft 116 3. Der Wert der Persönlichkeit des Pastoranden 117 4. Seelsorge an k r a n k e n Inhaftierten 119 5. Unschuldige Inhaftierte als Problem der Gefangenenseelsorge 119 6. Seelsorge an Untersuchungsgefangenen 120 7. Die theologische B e g r ü n d u n g der Gefangenenseelsorge . . . 123 8. Gottes Wort und Wirken als Basis der Gefangenenseelsorge.. 124 9. Zielsetzung der individuellen Seelsorge an den Gefangenen . 125 10. Methodische Überlegungen zur individuellen Seelsorge . . . . 1 2 6 11. Der Beginn des Seelsorgekontaktes beim Neuzugang 127 12. Das seelsorgerliche Gespräch 129 13. Tat und Schuld als Themen des Seelsorgegespräches 130 14. Tat und Sünde 132 15. Reue und Buße 133 16. Gnade und Rechtfertigung 135 17. Gesetz und Evangelium 136 18. Die "Heuchelei" als Problem des Seelsorgegespräches 139 19. Erziehung und B e s s e r u n g als Inhalt der Gefangenenseelsorge 141 6. Die allgemeine Seelsorge im Strafvollzug 143 1. Der Gottesdienst in der Strafanstalt 143 2. Der Religionsunterricht im Strafvollzug 148 3. Die Lektüre der Gefangenen als Hilfsmittel der Seelsorge . . . 149 4. Die seelsorgerliche Begleitung der Entlassung 150
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7. Die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber den Gefangenen als Problem f ü r die Gefangenenseelsorge 8. Fürsorge f ü r Gefangene und Entlassene als Ergänzung und F o r t f ü h r u n g der Gefangenenseelsorge 9. Zusammenfassung: Die Entwicklung der Gefangenenseelsorge bis 1918 4. DIE ENTWICKLUNG DES STRAFVOLLZUGSWESENS UND DER GEFANGENENSEELSORGE VON 1918 BIS 1933 1. Das Strafvollzugswesen 1. Grundstrukturen der Vollzugsgestaltung nach 1918 2. Die soziologisch orientierte Neugestaltung des S t r a f v e r ständnisses und ihre Konsequenzen f ü r den Strafvollzug . . . 3. Neuansätze auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Strafvollzugsordnung 4. Die Haftsysteme des Erziehungsstrafvollzuges 5. Zusammenfassung: Das Vollzugswesen 1918- 1933 2. Die Seelsorge in Strafvollzugsanstalten 1. Grundsatzprobleme nach 1918 2. Die rechtlichen Grundlagen der Gefangenenseelsorge und ihre Funktionsbestimmung von Seiten der Vollzugsorgane .. 3. Theologische Grundlegung und Zielsetzung der Gefangenenseelsorge nach 1918 4. Das seelsorgerliche Gespräch 5. Theologische Aspekte des gleichberechtigten Seelsorgeverhältnisses 6. Schuld und Sühne als Thema der Gefangenenseelsorge 7. Reue und Vergebung im seelsorgerlichen Gespräch 8. Religiosität und Psyche des Häftlings 9. Zusammenfassung der Tendenzen der individuellen Seelsorge nach 1918 10. Die allgemeine Seelsorge im Gefängnis: Der Religionsunterricht 11. Gottesdienst und Predigt 12. Die Fürsorgetätigkeit des Geistlichen 13. Der Gefängnisseelsorger: Amt - Stellung - Funktion - Qualifikation 14. Zusammenfassung: Strukturen der Gefangenenseelsorge nach 1918 5. STRAFVOLLZUG UND GEFANGENENSEELSORGE IM 'DRITTEN REICH' 1. Strafvollzug und Rechtswesen 1. Das Rechtsverständnis des Nationalsozialismus 2. Grundzüge des Strafvollzuges nach 1933
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2. Die Situation der Gefangenenseelsorge 1. Organisation und rechtliche Stellung der Gefangenenseelsorge 2. G r u n d f r a g e n der individuellen Seelsorge 3. Seelsorge an zum Tode Verurteilten 4. Allgemeine Seelsorge und Fürsorge 5. Zusammenfassung 6. STRAFVOLLZUG UND GEFANGENENSEELSORGE SEIT 1945 1. Strafvollzugsentwicklung nach 1945 1. Der sichernde Verwahrvollzug 2. Vom Sicherungsdenken zur Resozialisierungsdebatte 3. Umorientierung im Bereich der Kriminologie und der Strafrechtsdogmatik 4. Diskussion im Vorfeld des Strafvollzugsgesetzes: Alternativentwurf 5. Das Strafvollzugsgesetz 6. Der Strafvollzug nach I n k r a f t t r e t e n des Strafvollzugsgesetzes 7. Neuere realistische und restaurative Tendenzen in der Diskussion über Behandlungsvollzug und Resozialisation . . 8. Die Rolle des Rechtsbrechers in der Gesellschaft 9. Konsequenzen des Strafvollzuges f ü r das Sozialerleben des Delinquenten 2. Die f ü r das Selbstverständnis der Gefangenenseelsorge grundlegende Diskussion über ein theologisch zu v e r a n t wortendes Strafverständnis 1. Der 'ordnungstheologische' Ansatz und das d a r a u s resultierende Verständnis von Recht und S t r a f e , dargestellt an den A u s f ü h r u n g e n von Althaus 2. Karl Barths christologisch orientiertes S t r a f v e r s t ä n d n i s . . 3. Die Ansätze von Althaus und Barth in Relation zum positiven S t r a f r e c h t 4. Das theologische Interesse an der Schuldfrage 5. Von der Sühne zur Versöhnung 6. Traditionelle christliche Symbole im seelsorgerlichen Umgang mit Schuld und Strafe 7. Ethik und Strafvollzug: Gemeinsame und trennende Strafinterpretationen zwischen Juristen und Theologen im Blick auf das Arbeitsfeld der Gefangenenseelsorge 3. Entwicklungstendenzen in der Gefangenenseelsorge nach 1945 1. Entwicklungstendenzen innerhalb der 'Konferenz der e v a n gelischen P f a r r e r an den Justizvollzugsanstalten' 2. Identität und staatliche Macht: Der Bruch der inhaltlichen Verbindung zwischen Gefangenenseelsorge und Strafvollzug
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4.
5. 6. 7. 8.
3. Gefangenenseelsorge und Identitätsfindung: Orientierung an humanwissenschaftlichen Ansätzen 4. Versuch einer theologischen Standortbestimmung: Die Denkschrift zur Seelsorge in Justizvollzugsanstalten aus dem Jahre 1979 5. Konsequenzen aus der Entwicklung der Gefangenenseelsorgediskussion nach dem Zweiten Weltkrieg f ü r die gegenwärtige Situation Rechtliche und organisatorische Aspekte der Gefangenenseelsorge 1. Die unklare Definition des Begriffes 'Seelsorge' innerhalb der rechtlichen Regelungen 2. Der Gefangenenseelsorger als Landes- oder Kirchenbeamter Institutionssoziologische Aspekte der Arbeit des Seelsorgers im Justizvollzug Aufgaben der Gefangenenseelsorger Aus- und Fortbildung der Gefangenenseelsorger Grundprobleme und Perspektiven der Seelsorge am Menschen u n t e r den Bedingungen des Justizvollzuges 1. Der Mensch in der Strafe als Aufgabe der Gefangenenseelsorge 2. Das seelsorgerliche Gespräch 3. Der soziale Einsatz des Gefangenenseelsorgers 4. Der Gottesdienst 5. Die Gruppenarbeit innerhalb der Gefangenenseelsorge . . . 6. Die Konsequenzen des kirchlichen Auftrages gegenüber Gefangenen f ü r die christliche Gemeinschaft
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Anmerkungen
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Literaturverzeichnis
400
Namenregister
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0. Einleitung
Modellhaft finden sich die S t r u k t u r e n des modernen Strafvollzuges in den Klöstern der alten Kirche u n d des Mittelalters. Die O r d e n s r e g e l n 1 , auf denen das Zusammenleben der klösterlichen Gemeinschaft b a s i e r t e , enthielten Bestimmungen über Klosterstrafen gegen Mönche, die den Ordensregeln zuwiderhandelten. Strafmittel war der Ausschluß im Klostergefängnis . Die Klosterstrafe war funktional orientiert: "Der Gefangene soll Buße t h u n (Sühne leisten) und sich b e s s e r n " 2 . Um diesen Zweck zu e r r e i c h e n , wurde der detinierte Mönch von O r d e n s b r ü d e r n b e s u c h t , die ihn zu demütiger Buße mahnten, aber auch Trost und Zus p r u c h während der Haftzeit gaben^, damit ihm vor seinem Tode d u r c h die Kommunion Vergebung der Schuld gewährt werden konnte. Die klösterliche Disziplinarstrafe intendiert "correctio", basierend auf Gebet und Arbeit im "ergastulum". Die Konzeption wurde im 16. bis 19. J a h r h u n d e r t modifiziert t r a d i e r t . Das säkularisierte Modell der "correctio" bildete die Grundlagen und Zielvorstellungen der Freiheitsstrafe, die sich gegen die K ö r p e r s t r a f e n d u r c h s e t z t e . Trotz der weitgehenden Loslösung vom christlich motivierten U r s p r u n g wurde das Konzept der "korrigierenden Sozialisation"4 bis ins 20.Jahrhundert hinein nicht u n t e r rein säkularem Aspekt v e r s t a n d e n : "Das Gebet in der Abgeschlossenheit der Zelle als personaler Sozialisationsprozeß, u n t e r s t ü t z t d u r c h Arbeit als innerweltliche Askese, das ist das Modell, das in seinen Restbeständen auch heute noch den Strafvollzug p r ä g t , wenn auch im 'halbsäkularisierten' Strafvollzug der Gegenwart die Arbeit zur 'Grundlage' des Vollzuges gedieh und der u r s p r ü n g l i c h transzendent v e r a n k e r t e Sozialisationsprozeß zur 'Seelsorge' institutionalisiert und in das 'Recht des Gefangenen auf den Zuspruch des Geistlichen' verwandelt wurde Aus diesen Überlegungen folgt, daß es nicht möglich i s t , Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der Geschichte der Gefangenenseelsorge zu u n t e r s u c h e n , ohne Parallelen zur Entstehungsgeschichte der Freiheitsstrafe zu ziehen®. Die Annahme eines Interdependenzgefüges bezieht sich nicht nur auf den institutionellen Rahmen der Seelsorge, den das Haftsystem darstellte, sondern auch auf die innere Entwicklung der Inhalte der Gefangenenseelsorge in Relation zu den Innovationstendenzen, die zur Einf ü h r u n g der Freiheitsstrafe g e f ü h r t h a b e n . Diese zielten in i h r e r Konkretion auf eine individuelle E r f a s s u n g und Behandlung des I n h a f t i e r t e n : Einzelhaft und individuelle Seelsorge galten
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bis ins 20. J a h r h u n d e r t als Erfüllung aller Reformforderungen 7 . Hieraus ergibt sich die e r s t e These, die f ü r die folgende Arbeit erkenntnisleitend bestimmend i s t : Die Entwicklung einer institutionalisierten Gefangenenseelsorge steht in Korrelation zur E i n f ü h r u n g der Freiheitsstrafe als Regelstrafe in i h r e r speziellen Ausformung als Einzelhaft, wobei der vielfältig zu i n t e r p r e t i e r e n d e Oberbegriff 'Besserung' den Schnittpunkt der Beziehung darstellt. Das diesem Prozeß u r s p r ü n g l i c h zugrunde liegende Rechtsverständnis wurzelte in einer wenig d i f f e r e n z i e r t e n , bäuerlich-agrarischen Gesells c h a f t , die ihre grundlegenden S t r u k t u r e n t r a n s z e n d e n t v e r a n k e r t e . Mit dem Übergang in eine industrielle Gesellschaft, die eine höhere strukturelle Komplexität mit einer Differenzierung in je n u r partiell definierende Kommunikationsfelder v e r b a n d , verlor die metaphysischnaturrechtliche Legitimation des Rechts ihre Bedeutung gegenüber einer pointierten positiven G r ü n d u n g : "Das, was Verbrechen und kriminalrechtliche Sanktionen sind, wird ausschließlich definiert und findet seinen Ausdruck in den positiv-rechtlichen Regelungen des S t r a f r e c h t s "8. Aus der konkreten Ausformung des positiven Rechtsverständnisses folgte f ü r die Gefangenenseelsorge, daß sie nicht mehr im Sinne des 'ora et labora' ein funktional dominierendes Element darstellen k a n n . Ihre Aufgabe im modernen Strafvollzug besteht vielmehr d a r i n , im weitesten Sinne Kirche u n t e r den Konditionen des gesellschaftlichen Teilsystems S t r a f vollzug zu r e p r ä s e n t i e r e n . Die bisherigen Überlegungen f ü h r e n zu einer zweiten die Untersuchung bestimmenden These: Die Gefangenenseelsorge befindet sich heute in einem Ablösungsprozeß von der bisherigen funktionalen Integration in den Justizvollzug und steht vor der Aufgabe, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das es ihr ermöglicht, christlich motivierte Sorge um den Menschen in der Strafe zu ü b e n , ohne inhaltlich und final an die Intentionen des Vollzuges gebunden zu sein. Aus den beiden grundlegenden Thesen ergibt sich eine methodische Schwerpunktsetzung der Arbeit: Um die Entstehung und Entwicklung der Aufgaben der Seelsorge an Inhaftierten und i h r e r Relation zur Strafvollzugsentwicklung nachzuvollziehen, werden Quellen, E r f a h r u n g s b e r i c h t e u n d praktisch-theologische Darstellungen historisch b e trachtet und ausgewertet. In der wissenschaftsgeschichtlichen A u f a r beitung bilden Fragen der theologisch-inhaltlichen Grundlegung, der institutionellen Interdependenzen von Gefangenenseelsorge und S t r a f vollzug und der poimenischen Praxis die erkenntnisleitenden G r u n d s t r ä n g e . Die jeweils der Gefangenenseelsorgediskussion vorgeordneten Übersichten über die historischen Implikationen der Strafvollzugsentwicklung dienen zur Verdeutlichung von parallelen Problemfeldern. In die grundlegend historisch und theologisch orientierte Darstellung
- 15 fließen - besonders in der Diskussion in der Gefangenenseelsorgetheorie nach 1945 - erfahrungswissenschaftliche Problemstellungen ein. Damit unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung methodisch und in der Aufgabenstellung von der Dissertation Ellen Stubbes aus dem Jahre 1976/77, die, unter dem Titel "Seelsorge im Strafvollzug" veröffentlicht , das Arbeitsfeld der Gefangenenseelsorge unter dem psychoanalytisch orientierten Ansatz von "Identifikation und Projektion" aufarbeitete. Das aufgenommene historische Material und die theologische Theoriebildung wurden dem erfahrungswissenschaftlichen Grundansatz subordiniert . In der praktisch-theologischen Wissenschaft ist in den letzten Jahren ein deutliches Interesse an der historischen Betrachtung der Arbeitsfelder pastoralen Handelns unter der Fragestellung gewachsen, Problemfelder gegenwärtiger Diskussionen von Theorie und Praxis im Kontext ihrer Entwicklung adäquat zu reflektieren. Die vorliegende Arbeit fühlt sich diesem Forschungsbereich verpflichtet und stellt sich die Aufgabe, historische Perspektiven zur Diskussion von inhaltlichen und funktionalen Fragen der Gefangenenseelsorge aufzuzeigen. Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte ist aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Einmal ist die vorliegende Literatur vorrangig deskriptiv ausgerichtet, an der Praxis orientiert oder aus der Praxis erwachsen. Ansätze zu einer zeitübergreifenden Reflexion oder Theoriebildung liegen kaum vor. Zum anderen bietet die bisherige Forschungsgeschichte keine detaillierten Darstellungen der Entfaltung der Gefangenenseelsorge im Raum der evangelischen Kirche seit der Reformations zeit. Der katholische Forscher F.A.Karl Krauß hat in seinem noch nicht überholten Werk "Im Kerker vor und nach Christus", 1895, eine weitreichende Übersicht über die christlich motivierte Fürsorge und Seelsorge an Inhaftierten seit den Tagen der ersten Christen bis in die beginnende Neuzeit hinein vorgelegt, so daß dieser Zeitraum nur in knapper Übersicht behandelt werden soll. In einer juristischen Dissertation intendierte Alert ζ (1961) eine umfassende Darstellung der institutionalisierten Gefangenenseelsorge, beschränkt sich hauptsächlich aber auf die Diskussion der formaljuristischen Hintergründe und Organisationsfragen der von der katholischen Kirche im Vollzug geleisteten Arbeit in der Zeit von ca. 1850 bis 1960^. Die bisherigen Veröffentlichungen bieten keine wesentlichen Überschneidungen mit der Aufgabenstellung der vorliegenden Arbeit. Das gilt sowohl in Bezug auf die Darstellung der Entstehungsgeschichte seit der Reformation., als auch für die damit verbundene Übersicht über die Entwicklung der Freiheitsstrafe. Beide Entwicklungsstränge sollen umfassend seit Beginn der Neuzeit verfolgt werden. Das Zentrum der Untersuchung liegt im 19. Jahrhundert. Diese Schwerpunktbildung ergibt sich aus der Tatsa-
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che, daß im 19. J a h r h u n d e r t die E i n f ü h r u n g der modernen Freiheitsstrafe und der institutionalisierten Gefangenenseelsorge maßgeblich von c h r i s t lich motivierten Ansätzen getragen wurde, die Fliedner, Julius, Wichern und Krohne in Deutschland publizierten. Wenn bei der Reflexion der Genese der Gefangenenseelsorge in der Zeit der Reformation angesetzt wird, so geschieht das a u f g r u n d der These, daß die Diskussion des 19. J a h r h u n d e r t s ohne die inhaltliche G r u n d s t r u k t u r , wie sie in den Kirchenordnungen formuliert worden ist, nicht nachzuvollziehen ist. Die Grundzüge der Gefangenenseelsorge wurden im 16. J a h r h u n d e r t entwickelt, haben aber erst d r e i h u n dert J a h r e später ihre institutionelle Ausformung e r f a h r e n . Die Bearbeit u n g dieses Problemkreises geschieht u n t e r dem heuristischen Aspekt, die Traditionsstränge herauszuarbeiten, die die institutionalisierte Gefangenenseelsorge im 19. J a h r h u n d e r t geprägt haben und die Theoriediskussionen bis in die Gegenwart mitbestimmen. Neben der zeitlichen Abgrenzung ist es notwendig, eine inhaltliche Definition des Themenbereiches zu geben. Für die Darstellung des Vollzugswesens erübrigt sich dieser Schritt, da die Begriffe Leibesstrafe, Freiheitss t r a f e und Einzelhaft als Termini wissenschaftlich in i h r e r historischen Entwicklung geklärt sind. Einer formalen Beschreibung bedarf der die Untersuchung t r a g e n d e Begriff der Seelsorge. Verbunden ist damit die Frage des Aufgabenfeldes der Gefangenenseelsorge. Luther und die Kirchenordnungen beschrieben die Gefangenenseelsorge als die geistliche Betreuung des einzelnen 'Missethäters'. Diese Eingrenzung findet sich noch in den Lehrbüchern der Praktischen Theologie bis ins 19. J a h r h u n d e r t . Die Tätigkeit des Gefangenenseelsorgers wird im Sinne der 'cura animarum specialis' als Seelsorge an dem einzelnen Inhaftierten v e r s t a n d e n . Sie besteht in einem "besonderen Verhältnis zwischen dem Geistlichen und einem einzelnen Gemeindegliede" (Schleiermacher) oder fällt u n t e r den Begriff der "eigenthümlichen Seelenpflege" (Nitzsch), der "besonderen Seelsorge" (Otto), der "pastoralen Behandlung specieller Seelzustände" (Harnack) und der "individuellen Hirtensorge" (Oosterzee). Doch mit dieser, der reformatorischen und pietistischen Tradition entstammenden E n g f ü h r u n g des Seelsorgebegriffes auf das seelsorgerliche Gespräch gelingt es nicht, umfassend den Bereich zu beschreiben, den die Gefangenenseelsorge ausfüllt. So betont Fendt mit Recht: "Auf den e r s t e n Blick erscheint die Gefangenenseelsorge als Domäne der Einzelseelsorge. Sieht man aber näher zu, so erkennt man: sie zerbröckelt unweigerlich und fällt ins Unwahre und Gequälte, wenn nicht die allgemeine Seelsorge, nämlich in Predigt, Gottesdienst ü b e r h a u p t , besonders Abendmahlfeier, die Vorauss e t z u n g bildet und b l e i b t ' ' ^ . In Weiterführung des Ansatzes Fendts werden in dieser Arbeit alle katechetischen, homiletischen, liturgischen und auch karitativen Aufgaben des G e f ä n g n i s p f a r r e r s u n t e r dem Begriff der 'allgemeinen Seelsorge' zusammengefaßt, die in enger Beziehung zur 'cura specialis' auf seelsorgerlichen Intentionen basieren.
1. Entwicklung des Strafvollzuges
1.1 Erste Ansätze der Freiheitsstrafe Ein strafrechtliches System, dessen Sanktionen auf einem zeitlich limitierten Entzug der persönlichen Freiheit des Delinquenten basieren, läßt sich bis in die Neuzeit nicht nachweisen 1 . Die Strukturen der Strafrechtspflege im Altertum und Mittelalter sind von einem Bekämpfungsmodell geprägt, das den Verurteilten der Staatsgewalt bedingungslos auslieferte. Das erste deutsche Reichsstrafgesetz Karls V. aus dem Jahre 1532 (Carolina) gründete das Sanktionssystem auf Todes- oder Leibesstrafen. Die Vollstreckung der peinlichen Strafen war umgeben von "grotesk-grausigen Zeremonien", zu denen auch die Henkersmahlzeit gehörte, an der außer dem Verurteilten und dem Henker der Richter und mancherorts die Geistlichen teilnahmen^. Die im späten Mittelalter aufkommenden 'Türme' und 'Lochgefängnisse' dienten der Verwahrung der Straftäter bis zur Verurteilung oder Vollstreckung der Leibesstrafe und hatten wesentlich "den Zweck unserer heutigen Untersuchungsgefängnisse" 3 . Die Zustände in den Haftlokalen, die sich in Kellern von Klöstern und Rathäusern, in den Mauern oder Verließen der Städte befanden, waren von unmenschlicher Grausamkeit geprägt: "In engen, ungesunden, vielfach das Tageslicht entbehrenden Löchern finden wir die Gefangenen eingesperrt, häufig in Fesseln, körperlich und geistig vernachlässigt, ohne Arbeit, oft bewußter Quälerei ausgesetzt "4. Rache und Vergeltung, mit diesen beiden Begriffen läßt sich die Strafrechtspflege charakterisieren, die auf Unschädlichmachung und Abschreckung abzielte. In den Wirren der Reformations- und Gegenreformationszeit wurden die Grausamkeiten religiös mit dem Argument gerechtfertigt , daß man dem Delinquenten "einen Teil der Höllenstrafe erspare Wenn für den behandelten Zeitraum überhaupt von einem organisierten Gefängniswesen gesprochen werden könnte, so im Hinblick auf die 'Schuldhaft'6, die bei Zahlungsunfähigkeit oder -unwilligkeit auferlegt wurde. Doch hieße es den Begriff zu überziehen, bezeichnete man diese Haftart, die in speziellen Schuldgefängnissen vollzogen wurde, als Freiheitsstrafe, da sie nur den Charakter der Verwahrung trug und auf keinem Strafurteil beruhte. Im deutschen Raum finden sich
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die e r s t e n Ansätze zur Freiheitsstrafe in den Landgesetzgebungen des 16. J a h r h u n d e r t s , wie in den Cursächsischen Constitutionen: Sie bieten die Möglichkeit einer Gefängnisstrafe, die je nach Beschluß des Gerichtes mit Fesselung oder Hungerkost v e r s c h ä r f t wurde (carcer cum carena)^ als Ersatz f ü r minder peinliche S t r a f e n . Als im 16. J a h r h u n d e r t räuberische Horden d u r c h Europa zogen, stand die Justiz vor der erschreckenden Tatsache, daß trotz b r u t a l e r S t r a f mittel die Kriminalitätsrate stieg. Die Erkenntnis der gesellschaftspolitischen Sinnlosigkeit, Menschenleben zu v e r n i c h t e n , ohne den erwünschten Zweck der Abschreckung zu e r r e i c h e n , setzte sich in den Gedanken um, Kleinkriminelle u n t e r Entziehung i h r e r Freiheit nützlich im Interesse des Staates zu b e s c h ä f t i g e n . Es wurden Zuchthäuser e r ö f f n e t , die ihre E n t s t e h u n g "der Wirtschaftspolitik, nicht der Strafpolitik"8 v e r d a n k e n . Die Anstalten sollten die Gesellschaft vor Asozialen schützen und diese zugleich an produktive Arbeit h e r a n f ü h r e n 9. Für die Geschichte des Strafvollzuges bedeutsam wurden die Zuchthausg r ü n d u n g e n in Holland^®. Deren Motivation wurzelte in der calvinistischen B e r u f s - und Arbeitsethik, die eine "strenge Bekämpfung von Bettel und Armut mittels A r b e i t s b e s c h a f f u n g , ja Arbeitszwang"H implizierte und damit das Institut der mittelalterlichen Armenpflege der Klöster e r setzte. Demgemäß r e k r u t i e r t e n sich die Zuchthausinsassen aus a r b e i t s fähigen Bettlern, Prostituierten, gerichtlich verurteilten Dieben und Einb r e c h e r n . Neben den Zwang zu Arbeit, Sauberkeit und Disziplin t r e t e n Unterricht und Gebet als Erziehungsmittel, f ü r deren D u r c h f ü h r u n g "Prädikanten und Schulmeister"·^ eingestellt w u r d e n . Die praktischen Erfolge des Amsterdamer Zuchthauses, besonders auf dem Gebiet der Erziehung und Besserung jugendlicher Delinquenten und Kleinkrimineller, e r r e g t e n bald Aufmerksamkeit in Europa. In Deutschland nahm man die Anregungen des Amsterdamer Vorbildes auf und gründete zwischen 1616 (Hamburg) und 1629 (Danzig) in mehrer e n größeren Städten ähnliche Anstalten. "Alles zur Besserung" 1 "*, in diesem Leitthema schlägt sich ein tiefgreifender Wandel des Verständnisses von Strafe und Strafvollzug nieder: Nicht mehr rächende Vergeltung und Abschreckung definieren allein die Sanktionen, hinzu tritt der V e r s u c h , den Delinquenten wieder in das Gemeinschaftsleben einzugliedern. "Zwangsweise Erziehung und Besserung d u r c h Arbeit anstatt bloßer Abschreckung und U n s c h ä d l i c h m a c h u n g " ^ , diese Strafziele gingen einher mit einer menschlicheren Behandlung der Detinierten. Sie erhielten Kleidung und Verpflegung und mancherorts sogar eine Arbeitsprämie. Die Zuchthäuser stehen daher nicht in der Tradition der mittelalterlichen 'Türme', sondern bedeuten ein völlig neues Sanktionssystem. Trotz der Ausweitung der Zuchthausstrafe zu Lasten der Leibesstrafen wurde diese Strafart nicht von strafrechtlichen Bestimmungen abgesichert, die weiterhin dem Prinzip der peinlichen S t r a -
- 19 fen verpflichtet blieben. Wenn auf Haft erkannt wurde, so lag das im Rahmen "richterlicher Willkür wichern findet eine Erklärung f ü r die aufgezeigte Entwicklung in der protestantischen Tradition der Städte Niederdeutschlands. Unter der Devise: "Es sollen nicht hingerichtet werden, die Gott der Herr nicht selber in seinem Gesetz an dem Leben zu s t r a f e n gebot"·'·® galt es den f ü r die Rechtsprechung Verantwortlichen als a n g e b r a c h t , bei kleineren Vergehen Strafen in Zuchtund Arbeitshäusern zu dulden. Ohne den Abschreckungsgedanken zu negieren, galt die Sanktion zugleich als Erziehungsmittel. So wurden in Hamburg "christlich fromme, ehrliebende, getreue Personen u n d B ü r ger" als Vorsteher des Zuchthauses b e r u f e n oder als Hausväter a n g e stellt, die den Detinierten "die Gebote vorlesen und dieselben im Christentum u n t e r r i c h t e n sollten "17, Eine grundlegende Umstrukturierung des Strafwesens wurde d u r c h die Wirren des Dreißigjährigen Krieges v e r h i n d e r t . Die d u r c h die zerstörte staatliche Ordnung verunsicherten Menschen verloren das Verständnis f ü r die Intentionen eines humanen Strafvollzuges. Die peinlichen S t r a fen b e h e r r s c h t e n bald wieder die Szene der Gerichte. In den Zuchthäusern griff eine Verwahrlosung um sich, die anfänglich bestehende Disziplin und strenge Ordnung z e r b r a c h . Der Strafvollzug fiel in mittelalterliche Formen z u r ü c k . Die in Europa unterbrochene Entwicklung zu einem auf den Prinzipien der Erziehung basierenden Strafvollzug wurde in Amerika von Penn und Franklin w e i t e r g e f ü h r t . Das quäkerische Ideal der Askese wurde bestimmend f ü r die Formulierung der Grundsätze des pennsylvanischen S t r a f systems: "separate confinement" und "imprisonment individual". Das 'Eastern Penitentiary' wurde als e r s t e auf Zellenhaft ausgerichtete, strahlenförmig erbaute Anstalt bei Philadelphia e r ö f f n e t . Man hielt die Verurteilten in kleinen, fensterlosen Zellen völlig isoliert, der Kontakt zum Personal wurde u n t e r b u n d e n . Arbeitsmöglichkeiten gab es in der Regel nicht. Allein Bibellektüre und die Reflexion der Tat sollten den Gefangenen zur Selbstbesinnung und Besserung f ü h r e n ^ . Schon 1828 sah man sich gezwungen, von diesem die Gefangenen psychisch und physisch zerrüttenden Prinzip abzugehen. Ein gelockertes T r e n nungssystem (separate system) verhinderte zwar den Kontakt zu anderen Gefangenen, ermöglichte aber den Besuch von Gefängnisgesellschaften oder philanthropischen und religiösen Vereinigungen. Darüber hinaus wurden Zellenarbeit und Unterricht e i n g e f ü h r t . Trotzdem konnte die rigorose Einzelhaft ihren theoretischen A n s p r u c h , die Gefangenen zu b e s s e r n , nicht einlösen. Um die Zuchthausstrafe effektiver zu gestalten, entwickelte man im Zuchthaus zu Auburn ein zweites Einzelhaftmodell, das sich vom pennsylvanischen System hauptsächlich darin u n terscheidet, daß die T r e n n u n g n u r bei Nacht in speziellen Schlafzellen d u r c h g e f ü h r t wurde. Am Tage war die Gemeinschaft der Häftlinge bei Arbeit, Unterricht und Gottesdienst g e s t a t t e t , allerdings mit der Auf-
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läge eines strengen Schweigegebotes, das jede Kontaktnahme unterbinden sollte und mit Disziplinarstrafen erzwungen wurde 1 ^. Die Möglichkeit der kriminellen Beeinflussung wurde weiter reduziert durch eine Klassifizierung der Häftlinge nach Alter, Geschlecht, Arbeitsfähigkeit und Straftat. In den amerikanischen Systemen sind europäische Ansätze aufgenommen und weiterentwickelt sowie die Strukturen der Freiheitsstrafe erprobt worden, die die Diskussion um das geeignete Sanktionssystem in Deutschland in den folgenden einhundert Jahren bestimmten. Das Prinzip der Freiheitsstrafe als Regelstrafe wurde aus Amerika nach Europa zurückgeführt, nachdem eine aus mehreren Quellen gespeiste Reformdiskussion den Weg für eine Neuorganisation des Strafwesens eröffnet hatte.
1.2 Der theoretische Neuansatz im Strafvollzugssystem des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Aufklärung in Deutschland In Deutschland stand der Strafvollzug weiterhin unter dem Einfluß der Abschreckungstheorie. Dementsprechend war die Zuchthausstrafe zu einer Leibesstrafe degeneriert, die den Gefangenen so stark körperlichen Belastungen aussetzte, daß viele die Strafhaft nicht überlebten. "Von einer sittlichen Hebung der Gefangenen war dabei nicht die Rede; die Kirche und der Geistliche waren in diesen Häusern, wenn überhaupt vorhanden, im günstigsten Falle ein überflüssiger Zierrat, wenn der Geistliche aber in der Schenkstube des Gefängnisses mit den Schuldgefangenen zechte und würfelte, ein Spott der Religion"20. Die Unsicherheit über die inhaltliche Gestaltung der Freiheitsstrafe führte dazu, die Behandlung der Gefangenen der Willkür der Kerkermeister zu überlassen. Die Haftlokale dienten als Verwahrstelle für sozial Unangepaßte. Der von Brutalität und Disziplinlosigkeit geprägte desolate Zustand des Gefängniswesens wurde aufgrund der sozialen Distanzierung von den Inhaftierten in der Gesellschaft kaum reflektiert. Um einen Wandel zu schaffen, bedurfte es einer Bewegung, die "die Schranken zwischen den bevorrechtigten und niederen Klassen aufhob", und eines strafrechtlichen Neuansatzes, der "der richterlichen Willkür und Korruption eine Schranke zog" 2 ^. Die soziale und rechtswissenschaftliche Reformdiskussion wurde von Philosophen der Aufklärung angeregt, von aufgeklärten Fürsten aufgegriffen und in der Französischen Revolution fortgeführt. Die in Italien formulierten rechtlichen Prinzipien entwickelten Hobbes, Grotius, Thomasius und Montesquieu weiter. Bestimmend waren drei Grundsätze: Die Säkularisierung des strafrechtlichen Denkens, die Humanisierung und die Rationalisierung der Strafrechtspflege mit der Konsequenz, Sinn und Zweck des staatlichen Strafens ausschließlich im Bereich
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der politischen und sozialen Beziehungen zu v e r a n k e r n . Im Anschluß an die naturrechtliche Schule Pufendorfs wurden richtungweisend die S t r a f zwecke rational formuliert, die nichts anderes implizierten als "Generalprävention, d.h. Abschreckung der Allgemeinheit durch das S t r a f g e s e t z , und Spezialprävention, d . h . Unschädlichmachung, Abschreckung oder Resozialisierung des einzelnen Verurteilten durch Richterspruch und St rafvoll zu g " 2 2. Die Humanisierungstendenzen fanden ihren Ausdruck in der Ablehnung der Leibesstrafen und ihres öffentlichen Vollzuges. Der Verurteilte sollte die Möglichkeit haben, körperlich u n v e r s e h r t und möglichst gebessert in das soziale Leben z u r ü c k z u k e h r e n . Die weitreichenden Reformforderungen blieben jedoch vorerst größtenteils Strafrechtstheorie. Als Haupterfolg der aufklärerischen Bemühungen ist jedoch die kontinuierliche E i n f ü h r u n g der Freiheitsstrafe als dominierendes Sanktionssystem anzusehen. Mit dem Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s ist also die Entwicklungsgeschichte der modernen Freiheitsstrafe anzusetzen. Es wurden zwar in der äußeren Gestaltung dieser Sanktionsart die Formen weiter t r a d i e r t , die schon im 1 6 . J a h r h u n d e r t eingeführt worden waren, doch der Hauptunterschied zu den Zuchthausstrafen vor dem Dreißigjährigen Krieg besteht d a r i n , daß mit der Aufklärung auch das strafrechtliche Fundament f ü r die S t r a f h a f t geschaffen worden i s t . Inhalte und Ziele der Freiheitsstrafen wurden genauer definiert und die peinlichen S t r a f e n - b i s auf die Todesstrafe - abgelöst. Die wichtigste Grundlage eines Strafsystems, die Gesetzeskonformität, war mit dem philosophischen und strafrechtswissenschaftlichen Neubeginn gegeben. Nun bestand die Hauptaufgabe darin, die Strafvollzugspraxis demgemäß zu reorganisieren.
1.3 Howard und Fry Die auch f ü r die Gestaltung des deutschen Gefängniswesens relevanten Initiativen zur Gefängnisreform haben ihren U r s p r u n g in den religiös philanthropisch motivierten Bemühungen um die Verbesserung des Loses der Gefangenen in Kreisen der englischen Quäker. Deren Grundü b e r z e u g u n g , "daß die erbarmende Liebe, welche das Christentum p r e digt, auch dem Verbrecher gegenüber sich zeigen müsse, daß man ihn als einen gefallenen B r u d e r behandelte, der durch die Strafe zur Buße und B e s s e r u n g zu f ü h r e n sei"23, wurde bestimmend f ü r das Lebenswerk John Howards (1726 bis 1790). In den Jahren 1775 bis 1781 durchreiste er ganz Europa, um sich über die Zustände in den Gefängnissen zu u n t e r r i c h t e n . Die E r f a h r u n g e n war e n fast überall gleich trostlos: In dumpfen Gewölben und verfallenen
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Kerkern wurden Verurteilte, Schuldgefangene und Untersuchungshäftlinge unter menschenunwürdigen Verhältnissen verwahrt 2 "*. Schlechte Ernährung, Kettenhaft, Feuchtigkeit und Schmutz führten zu Krankheit oder Tod der Gefangenen. Der äußere Zustand der Haftlokale war ein Indikator für den praktizierten Vollzug, der die kriminellen Tendenzen verstärkte. Ganz im Gegensatz zu seinen erschütternden Erkenntnissen auch über das deutsche Gefängniswesen standen die Eindrücke, die Howard in den Strafanstalten der Niederlande sammeln konnte. Deren funktionierende Organisation, die bestehenden Arbeitsprogramme, der Unterricht und die religiöse Betreuung durch Geistliche beeindruckten Howard so stark 2 5 , daß er das niederländische Haftsystem zum Vorbild seiner Reformbemühungen nahm, die sich auf die Grundforderungen reduzieren lassen: 1. Gewöhnung der armen und vor allem der jugendlichen Delinquenten an Arbeit und Ordnung; 2. Strafhaft als Erziehungsmittel, um durch Arbeit, Unterricht und religiöse Unterweisung zu einem neuen Leben in Freiheit zu befähigen ; 3. Vorzeitige Entlassung bei evidenter Besserung und Aussicht auf ein straffreies Leben. Zu seinen Lebzeiten als Enthusiast abgetan, wurde Howards Bedeutung erst in den folgenden Jahrzehnten erkannt. Sie besteht wesentlich darin, daß er die glückliche Gabe besaß, bisher punktuell realisierte Organisationsstrukturen der Freiheitsstrafe zu vereinigen. Er setzte sich für die Einzelhaft und Isolierung der Gefangenen bei Tag und Nacht ein, forderte den Arbeits zwang für alle Inhaftierten, die mit den Anteilen am A r beitsertrag nach niederländischem Muster ihre Schulden abtragen sollten. Für den Fall, daß Isolierung der Gefangenen nicht möglich oder angebracht war, entwickelte er ein Klassifizierungssystem, das es den Gefangenen ermöglichen sollte, durch gute Führung in eine bessere Klasse mit leichterer Haft und Arbeit zu gelangen. Besonderen Einfluß auf die weitere Entwicklung der Vollzugsreform hatte Howards Einsatz gegen die Demoralisierung und Verwahrlosung der Inhaftierten. Er forderte menschwürdige Unterkunft und entwickelte als erster Fürsprecher der Häftlingsinteressen die Grundlagen der beginnenden praktischen Reformen. Da die Vollzugsbehörden wenig Bereitschaft zu Änderungen zeigten, wurden die Reformvorstellungen Howards von privaten Gefängnisgesellschaften weiter vertreten. Elizabeth Fry (1780 bis 1845), die sich um die Behebung der desolaten Zustände im Frauengefängnis Newgate bemühte, gründete die "Association for improvement of the Female Prisoners in Newgate" (1817) 2 6 , deren Hauptaufgabe darin bestand, aus Privatmitteln das Gefängnis zu reformieren. Um dieses Ziel zu erreichen, nahm sie die Ansätze Howards auf. Besonderen Wert legte Fry auf die Arbeit als Erziehungsmittel neben dem Unterricht.
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In Ermanglung anderer Unterrichtsmittel diente die Bibel als Lehrbuch. Um zur Selbstverantwortlichkeit anzuregen, wurden erste Schritte zu einer Selbstverwaltung der Gefangenen getan, die Fry als Idealvorstellung anstrebte. Die Fürsorge an den Gefangenen wurde von den Mitgliedern des Vereins nach der Entlassung weitergeführt, um die Rückfälligkeit zu reduzieren. Die Arbeit des Vereins und die Selbstverwaltung der Anstalt waren so überzeugend, daß Fry staatliche Zuschüsse erhielt und das vorher berüchtigte Newgate zu einer Modellanstalt für spätere Planungen wurde. Die Reformen fanden auch auf dem europäischen Festland, das Fry 1838 bereiste, großes Interesse. Es gelang Elizabeth F r y , die Gedanken Howards und ihre eigenen Vorstellungen einflußreichen Kreisen bekannt zu machen. Ihrem Einsatz ist zu verdanken, daß der Besserungsgedanke einen weiten Raum in der Diskussion um neue Formen des Vollzuges einnehmen k o n n t e ^ . Die christlich motivierte Bewegung zur Humanisierung des Strafvollzuges führte in England schnell zu Erfolgen. 1842 wurde das Zuchthaus "Pentonville" nach dem philadelphischen System errichtet, ein fünfstrahliger Zellenbau, in dem zum ersten Mal in Europa systematisch die Einzelhaft durchgeführt wurde. Pentonville galt als "modell prison" auch außerhalb Englands^®. Mit dem Bau von Pentonville waren die nach Amerika übertragenen Modellvorstellungen der holländischen Zuchthäuser in weiterentwickelter Form nach Europa zurückgeführt und mit den Forderungen der von den Quäkern initiierten Gefängnisreform verbunden worden.
1.4 Die Weiterentwicklung des Gefängniswesens in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert Angesichts der hohen Rückfälligkeitsrate stellt Wagnitz gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Frage: "Wie kommts, daß Zuchthäuser und Zuchthausstrafen so selten b e s s e r n ? " ^ . Und er zeigt auf, daß eine als Sanktion ausgesprochene Freiheitsstrafe, die mit körperlicher Züchtigung verbunden ist, nicht bessern kann, sondern darauf angelegt ist, eher "den Funken des Guten, der etwa noch da i s t , auszulöschen als anzufachen"30. Wenn die Strafe den Täter von anderen Übeltaten abschrecken soll, so ist es damit nicht zu erreichen, daß ihm mit bloßem "Abschneiden der Gelegenheit" während der Haftzeit die Möglichkeit zu Straftaten genommen wird. Sinnvoller ist e s , ihm die Chance zu eröffnen, "für die Zukunft bessere Entschließungen zu f a s s e n " 3 1 . Bevor Wagnitz seine Vorschläge zu einem bessernden Strafvollzug unterbreitet, analysiert er die psychologischen und soziologischen Ursachen von Delinquenz und zeigt dabei eine für seine Zeit ungewöhnliche Sensibilität gegenüber den gesellschaftlichen Bezügen von Straftaten. "Ver-
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kehrte Erziehung", "schlechte Gesellschaft", "wenig Unterricht" sind f ü r ihn die Gründe d a f ü r , daß die S t r a f t ä t e r sich unkontrolliert "nur nach sinnlichen Eindrücken" verhielten^ 2 . Aufgrund dieser Analyse ist es notwendig, daß der Strafvollzug darauf ausgerichtet wird, die Gefangenen von "Innen" zu b e s s e r n , ihnen eine " e r n s t h a f t e r e Denkart" zu v e r mitteln, die die "Rückkehr ins geschäftige Leben" ermöglicht, damit sie nicht wieder auf den "Irrweg" z u r ü c k k e h r e n ^ U m den Kräften der Inhaftierten "die rechte Richtung wiederzugeben", sollte der Gefangenenseelsorger mit dem Gefängnispersonal zusammenarbeiten. Zugleich e r scheint es Wagnitz notwendig, den Strafvollzug in folgenden Punkten zu reformieren: 1. Da die Strafe nicht a b s c h r e c k e n d , sondern b e s s e r n d wirken soll, ist es sinnlos, kurzzeitige H a f t s t r a f e n zu v e r h ä n g e n , die nicht genügend Zeit zur moralischen Erziehung bieten. 2. Die Arbeit soll so eingerichtet werden, daß die Gefangenen ständig in Bewegung sind und keine Zeit f ü r "böse Gedanken" haben. 3. Besondere Sorgfalt soll darauf verwendet werden, die Kommunikation und kriminelle Infektion der Häftlinge zu v e r h i n d e r n . Sie d ü r f e n niemals sich überlassen bleiben. 4. Für die Zeit nach der Entlassung muß vor gesorgt werden, indem der Magistrat oder der Gefängnisvorsteher eine Arbeitsstelle bereitstellt , "denn viele zwingt Armut und Mangel des Unterkommens, auf ihre vorigen Wege und zu i h r e r vorigen bösen Gesellschaft zurückzukehren"^. Wagnitz artikuliert parallel zu den Ansätzen der amerikanischen und e n g lischen Gefängnisreformer die Forderungen nach weitgehender Vermeidung der kriminalitätsfördernden Häftlingsgemeinschaft d u r c h Sprechverbot und Isolierung, nach Arbeitszwang und - was besonders zu betonen ist - auch nach Begleitung beim Übergang von der Haft zur Freiheit. Sittliche Besserung zum Ziele der Integration in die Arbeitswelt, mit dieser Formel ist der Ansatz Wagnitz's zu beschreiben. Leider läßt sich eine praktische Umsetzung dieser Reformideen zu Lebzeiten Wagnitz's nicht nachweisen. Er blieb, vor allem wegen seines sozialpsychologischen Ansatzes, f ü r den seine Zeitgenossen kein V e r s t ä n d nis aufbringen konnten, ein avantgardistischer Theoretiker. Auch der zweiten bedeutenden Persönlichkeit auf dem Gebiet der Gefängnisreform um die Wende vom 18. zum 19. J a h r h u n d e r t war es nicht möglich, ihre theoretischen Reflexionen in konkrete Praxis umzusetzen. Die vom preußischen Justizminister von Arnim geforderte Reform des Haftwesens wurde durch die ausbrechenden Freiheitskriege v e r h i n d e r t . Die Bedeutung von Arnims besteht d a r i n , daß es u n t e r seiner Aegide gelang, die Vorrangstellung Preußens im Bereich des Gefängniswesens weiter a u s zubauen. Schon 1794 waren die Grundsätze friderizianischer Kriminalpolitik in ihrer Tendenz zum humanen Vollzug der Freiheitsstrafen in das
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"Allgemeine Landrecht" aufgenommen worden. Es erfolgte im Anschluß daran eine Revision der bestehenden Haftanstalten mit dem Ergebnis, daß deren Untauglichkeit f ü r eine sinnvolle, b e s s e r n d e S t r a f r e c h t s p f l e ge aufgezeigt wurde. Um diesem Übelstand abzuhelfen, wurde bis zum Jahre 1804 im preußischen Justizministerium der "Generalplan zur allgemeinen E i n f ü h r u n g einer b e s s e r e n Kriminal-Gerichts-Verfassung und zur V e r b e s s e r u n g der Gefängnisse und Strafanstalten" in mühevoller Kleinarbeit erstellt. Er sollte die Grundlage f ü r die Neugestaltung des Vollzugswesens bilden. Der Generalplan zeichnete sich dadurch a u s , daß er vom Rachegedanken des peinlichen Rechts abging und den Strafvollzug im Kontext der Einsicht in soziale Interdependenzen von Kriminalität definierte. Die S t r a f zwecke sollten am Täter ausgerichtet sein. Der Staat übernahm qua Gesetz die Verantwortung f ü r die soziale Integration der D e l i n q u e n t e n · ^ . Jedoch die aus den Kriegswirren von 1815 resultierende soziale und wirtschaftliche Krise, die zugleich die Inhaftiertenzahlen steigen ließ, machte nicht n u r in Preußen die notwendige Gefängnisreform u n d u r c h f ü h r b a r . Die "staatliche Zerrissenheit" der Kleinstaaten paralysierte zudem eine einheitliche Neuorientierung der Strafrechtspflege in Deutschland37. Nach einer Phase der innenpolitischen Konsolidierung wird die Gefangen e n f r a g e wieder a u f g e g r i f f e n . Die Strukturelemente der bisher e r a r b e i teten Reformen wurden rezipiert. Aus Amerika kamen Anregungen zum Einzelhaftsystem. Es setzte ein jahrelanger Streit über dessen konkrete A u s f ü h r u n g ein. Die privaten Initiativen zur Humanisierung der S t r a f haft orientierten sich an den Vorbildern der englischen Reformer Howard und Fry und identifizierten sich mit der Besserungsidee. Die von den S t r a f r e c h t l e r n der Aufklärung formulierten Forderungen nach einer Rationalisierung und Säkularisierung der S t r a f g e s e t z g e b u n g wurden wieder aufgenommen, hierbei dominierte der Strafzweck der Vergeltung, der dem Besserungszweck n u r sekundäre Bedeutung zumaß. Zentralthema der anbrechenden Reformdiskussion zwischen Parlamentar i e r n , S t r a f r e c h t l e r n und christlich motivierten Reformern wurde die Diskussion um Legalität und Inhalte der Einzelhaft. Bedeutung f ü r die Weiterentwicklung des S t r a f r e c h t s gewann nach 1815 der von Feuerbach aufgenommene und entfaltete Ansatz Kants, der das Postulat beinhaltete, der einzelne Mensch könne sich n u r aus eigenem sittlichen Antrieb, dem kategorischen Imperativ folgend, zum rechten Handeln überwinden. Die sittliche Selbstentfaltung, die die Würde des Menschen definiert, d ü r f e nicht durch staatlichen, heteronomen Zwang, der n u r ein legales, aber kein moralisches Handeln evozieren könne, beeinflußt w e r d e n ^ . Feuerbach kritisierte daher den 'spezialpräventiven' Ansatz der erzieherischen Gestaltung des Vollzuges als Verstoß gegen die Idee des Menschlichen und als Überschreitung der Strafkompetenz des Staates. Der einzig rechtliche Strafzweck ist nach Feuerbachs Theo-
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rie der generalpräventive. Es soll jedem S t a a t s b ü r g e r selbst überlassen bleiben, ob er sich dem Rechtssystem unterwirft oder einen Rechtsbruch b e g e h t , über dessen Folgen er sich a u f g r u n d der bestehenden Gesetze Klarheit v e r s c h a f f e n k a n n . Wird eine Straftat b e g a n g e n , so b e r u h t die Zufügung des Strafübels auf dem autonomen Willen des T ä t e r s , "denn niemand kann die Bedingung (d.h. die gesetzlich u n t e r Strafe gestellte Tat) wollen, ohne nicht auch mit dem Eintritt des Bedingten ( d . h . der gesetzlich angekündigten Strafe) einverstanden zu sein"39. Das auf der freien Entscheidung der Persönlichkeit basierende S t r a f v e r ständnis Feuerbachs fand großen Anklang in der vom Frühliberalismus geprägten bürgerlichen Gesellschaft und bestimmte die Strafgesetz geb u n g , in die keine Aussagen über die inhaltliche Gestaltung der Freih e i t s s t r a f e aufgenommen w u r d e . Die Reaktion auf die T a t , nicht der b e s t r a f t e Mensch, stand im I n t e r e s s e des Gesetzgebers. Demgemäß hatte der Strafvollzug die Funktion, den Ernst der S t r a f a n d r o h u n g im Falle des Rechtsbruchs zu dokumentieren. Die generalpräventive S t r a f a u s r i c h t u n g Feuerbachs wurde in der Strafrechtswissenschaft v e r b u n d e n mit dem S t r a f v e r s t ä n d n i s Hegels. Dieser sah im S t r a f r e c h t einen Teil der "allgemeinen V e r n u n f t " , mit der auch die Wirklichkeit jedes einzelnen Menschen identisch i s t . Die ideelle Bedeutung der Strafe besteht demnach darin, "daß der Verbrecher 'als Vernünftiger geehrt' wird d a d u r c h , daß der 'allgemeinen Vernunft in ihm' wiederum zum Siege gegenüber seinem das Recht negierenden besonderen Willen verholfen w i r d . Die Straftat erscheint als Negation des Rechts, die Strafe als Negation der Negation, also als Position des Rechts. Den dialektischen Ansatz Hegels formten die 'Hegelianer' u n t e r den S t r a f rechtlern des f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t s in eine Vergeltungslehre um. Sie definierten Strafe als Vergeltung f ü r den R e c h t s b r u c h , den Strafvollzug als Übelauferlegung in Reaktion auf das Übel der Tat. Das Spezifikum der theoretisch deduzierten Vergeltungsstrafe besteht d a r i n , die sozialen Interdependenzen von Delinquenz zu n e g i e r e n ^ . Das vom generalpräventiven V e r g e l t u n g s s t r a f r e c h t bestimmte Rechtsdenken hatte wesentlichen Einfluß auf die aus der Notwendigkeit zu Reformen resultierende Frage nach dem geeigneten neuen Haftsystem. Die preußische Justiz widerstand der planvollen D u r c h f ü h r u n g der Einzelh a f t bis über die Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s , da die von den Anhängern der Einzelhaft intendierte Humanität und der Besserungszweck im S t r a f vollzug dem Abschreckungszweck nicht e n t s p r a c h e n . Als Kompromiß e n t schied man sich f ü r ein gemischtes System, n u r in wenigen Anstalten f ü h r t e man die Einzelhaft versuchsweise ein. Daß es überhaupt zu Reformbestrebungen kam, lag an dem betonten Wunsch Friedrich Wilhelms III. nach Eingrenzung der steigenden Kriminalität. Von 1818 bis 1840 wurden elf größere Anstalten neu e r b a u t , alte Gefängnisbauten erweitert oder umgestaltet. Es "entwickelte sich
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ein bestimmtes System der baulichen Anlage: der Strahlenplan in seiner älteren Form, f ü r Gemeinschaftshaft mit Classifizierung, mit einzelnen Isolierzellen"^^. Die Hauptaufgabe bestand zunächst d a r i n , in den großen Anstalten die mit dem Problem der Überbelegung v e r b u n d e n e Frage der Aufsicht zu bewältigen. Für den Aufsichtsdienst stand eine große Zahl nach den Freiheitskriegen verabschiedeter Offiziere und Unteroffiziere zur Verf ü g u n g . Mit der Übernahme in den Gefängnisdienst wurde die Versorgung dieser sonst arbeitslosen B e r u f s g r u p p e gesichert. Zudem bekamen die Anstalten ein williges, disziplingewohntes Aufsichtspersonal. Daher ist es verständlich, daß die Haftanstalten ein stark militärisches Gepräge erhielten. Einsichtige Menschenführung und Rücksichtnahme auf die Probleme der Gefangenen konnte von den "gewesenen Militärs nicht erwartet werden. Zucht, O r d n u n g und Sicherheit waren die Hauptprämissen der rein "polizeilichen Aufsicht "44. Mit Hilfe der militärischen Kommandostrukturen war das gesteckte Ziel schnell zu erreichen: Trotz der hohen Belegungszahlen wurde ohne große Kosten ein sicherer Verwahrvollzug gewährleistet. Um eine s t r a f f e Verwaltungsorganisation in allen Anstalten zu garantieren, wurde vom Innenministerium die u r s p r ü n g l i c h f ü r die Strafanstalt Rawicz erlassene Verwaltungsordnung generell e i n g e f ü h r t . Das Rawiczer Reglement ging von einem Gemeinschaftsstrafvollzug nach Auburnschem Modell aus. Ersttäter und Rückfällige wurden in verschiedene Klassen eingeteilt, die Isolierung wurde selten oder nur als Disziplinarmaßnahme vollzogen und das Schweigegebot bei gemeinsamer Arbeit v e r h ä n g t . Der Paragraph 1 bestimmte die Inhalte des Vollzuges dahingehend, "daß der Sinn der Sträflinge . . . in sittlicher und religiöser Beziehung gebessert und zugleich die geistige Bildung sowie die körperliche Geschicklichkeit so weit, als es die Individualität des Sträflings und die Verhältnisse der Anstalt g e s t a t t e n , in der Art erweitert werden, daß von dem Sträflinge nach seiner Entlassung die F ü h r u n g eines geregelten Lebenswandels zu e r warten ist"45. Diese inhaltliche Definition war vom Geist der von Arnimschen Reformbes t r e b u n g e n geprägt und widersprach der Intention des von leitenden J u risten des Innenministeriums geforderten V e r g e l t u n g s s t r a f r e c h t s . Die Diskrepanz von Form und Inhalt hatte zur Folge, daß das Reglement als Verwaltungsordnung dem rechtlichen Element der Strafe nicht gerecht werden konnte. Das Grundproblem des Verwahrvollzuges, die kriminelle Beeinflussung der Gefangenen u n t e r e i n a n d e r , wurde zwar mit der Einf ü h r u n g des Schweigegebotes v e r r i n g e r t , doch stellte eine konsequente D u r c h f ü h r u n g dieser Regel so große Anforderungen an die Überwachung, daß von einer Einhaltung des Gebotes nicht ausgegangen werden konnte. Die Überbewertung von militärischem Drill, die "mechanisch-bureaukratische Verwaltung"46 und die schematische Behandlung aller Häftlinge
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ließen die Bemühungen, ein Haftsystem zu s c h a f f e n , mit dem erfolgreich gegen die wachsende Kriminalität vorgegangen werden konnte, s c h e i t e r n . Die an statische S t r u k t u r e n gebundene militärische Gefängnisleitung hatte kein Verständnis f ü r die neuen Gedanken des b e s s e r n d e n Vollzuges.
1.5 Fliedner und Julius: Die Ü b e r t r a g u n g des englischen Ansatzes zur Gefängnisreform nach Preußen In der e r s t e n Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s finden wir in Preußen Initiativen zur Gefängnisreform, die die englische Tradition der p r i v a t e n , christlich geprägten E r n e u e r u n g a u f g r i f f e n und im Rahmen der in Deutschland gegebenen Möglichkeiten weiterentwickelten. Charakteristisch war die Ausrichtung der Reformbestrebungen, den Menschen u n t e r den Bedingungen des Strafvollzuges, und damit v e r b u n d e n die Frage nach Zielen und Inhalten des Strafsystems, in den Vordergrund zu stellen. Der Strafgedanke sollte mit der Erziehung zu einem christlichen, ethisch v e r antwortlichen Menschen v e r b u n d e n werden. Der "praktische B a h n b r e c h e r " 4 7 dieses Ansatzes war Theodor Fliedner. Die e r s t e n Kontakte zu Inhaftierten hatte Fliedner im Jahre 1820, als er alle vier Wochen im A r r e s t h a u s zu Köln p r e d i g t e . Die f ü r seine spätere Wirksamkeit im Gefängniswesen grundlegenden E r f a h r u n g e n sammelte er auf einer Kollektenreise nach Holland und England im Jahre 1824. Fliedner lehnte die auf einer ü b e r s p a n n t e n Abschreckungstheorie basierende S t r a f p r a x i s , die den Täter noch weiter sozial deklassierte, ab. Er zeigte daher großes Interesse an der Arbeit der "Nederlandsch Genootschap tot zedelijke v e r b e t e r i n g der gevangenen", die sich um eine Integration Gefangener und Entlassener bemühte. Auch in England, wo er mehrere christlich orientierte Gefangenenhilfsorganisationen, u n t e r anderem auch den Mitarbeiterkreis Elizabeth F r y s , k e n n e n l e r n t e , beeind r u c k t e ihn die "christliche Liebestätigkeit" der privaten Gefängnisgesellschaften. Fliedner erschien es verantwortungslos, daß es in Deutschland keine vergleichbaren Institutionen gab und beschloß, "diese Versäumnisse nachzuholen". Die Umsetzung seiner E r f a h r u n g e n beginnt er im A r r e s t h a u s zu Düsseldorf. Im Oktober 1825 erhält er die Erlaubnis, dort erstmals unentgeltlich "alle 14 Tage Sonntags-Nachmittags . . . den evang. Gefangenen zu predigen und Seelsorge an ihnen zu üben" 4 ®. Die Untätigkeit von Staat und Kirche im Bereich der seelsorgerlichen und sozialen Betreuung von Gefangenen veranlaßte Fliedner, weitere Initiativen zu e r g r e i f e n . Im Januar 1826 bereiste er die meisten Hauptgefängnisse der Rheinprovinz, um sich einen Eindruck von den äußeren und inner e n Zuständen der Haftlokale zu v e r s c h a f f e n . Besonders v e r b i t t e r t zeigte sich Fliedner im Blick auf die Inhaftierten über "eine f u r c h t b a r e Unwissenheit, die man in unserem d u r c h Schulen berühmten Preußen nicht erwartet h a t t e " 4 9 .
- 29 Die Arbeit war unzureichend organisiert, viele Gefangene hatten keine Beschäftigung und verbrachten den Tag mit Karten- und Würfelspielen. Die Kommunikation verlief ungehindert. Nach Fliedners Überzeugung ermöglichte besonders die nächtliche Einschließung in Massenquartieren den kriminellen Erfahrungsaustausch. In seinem Bericht an die Regierung in Düsseldorf faßte Fliedner seine Eindrücke in der Beschreibung der "Gefangenenhäuser" als "moralische Pestanstalten" zusammen^. Um die herrschenden Zustände zu ändern, fügte er Vorschläge für ein Reformmodell an, dessen Grundstrukturen er Frys Arbeit entlehnte. Der Leitdedanke, "der Hauptzweck aller Gefangenenhäuser ist Besserung" 5 ^, mündete in die Forderung nach gottesdienstlicher und seelsorgerlicher Betreuung der Inhaftierten, Unterricht durch hauptamtliche Lehrer, Klassifikation, geregelter Arbeit und menschenwürdiger Unterkunft. Obwohl Fliedner den Besserungsgedanken als dominierend ansieht, vertritt er eine harte Strafinterpretation: Der Gefangene muß "äußere Entbehrungen e r l e i d e n . . . , damit die verderblichen Folgen der Sünde ihm auch körperlich fühlbar w e r d e n " 5 2 · Aber im Erleiden der Strafe dürfen die Gefangenen nicht sich selbst überlassen bleiben, da sonst die Gefahr bestehe, daß sie "an den Menschen und sich selbst" 5 "^ verzweifeln. Anstatt gebessert die Anstalt zu verlassen, stehen sie in der Gefahr, sich "geistig und sittlich" noch zu verschlechtern, wenn sie "in böser Gesellschaft, aller Hilfsmittel zu i h r e r . . . Belehrung und Erziehung, namentlich des besten aller Hilfsmittel, der Religion entbehren" 5 4 . Der Besserungsgedanke war für Fliedner untrennbar mit der Forderung nach christlicher Unterweisung v e r b u n d e n 5 5 . Er formulierte die inhaltiche Aufgabe des Strafvollzuges als planmäßige sittlich-religiöse "Erziehung im Sinne des Evangeliums" 5 6. Diese Zielsetzung kann vom Staat, der für den organisatorischen Rahmen des Vollzuges, für "Sicherheit, Ordnung und Aufsicht" 5 ^ verantwortlich i s t , nicht vertreten werden. Fliedner intendiert also keine Einmischung in die staatliche Organisation des Gefängniswesens, sondern die Ausübung christlicher Liebestätigkeit durch freie Mitarbeiter im Vollzug, ergänzend zu den staatlichen Aufgaben. Das Vorbild der britischen privaten Gefängnisgesellschaften war für Fliedner so überzeugend, daß er für seine Zielsetzungen keine Unterstützung von der Institution Kirche erwartete. In Analogie zu den Organisationsformen der Heidenmissionsvereine 5 ® plante er die Stiftung einer Gefängnisgesellschaft "zur Besserung der Gefangenen und zur Vervollkommnung der Gefängnisse" 5 ^. Fliedner ist als der geistige Vater der 'Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft' anzusehen, die am 18.6.1826 ihre " G r u n d g e s e t z e v e r ö f f e n t l i c h t e . Die ersten sieben Paragraphen beinhalteten die Zielsetzung der Gesellschaft: "Den Gegenstand" der Arbeit bildet nach § 2 "eine mit den Staatsgesetzen übereinstimmende Beförderung der sittlichen Besserung der Gefangenen". Weiter will die Gesellschaft zu diesem Zweck "für jede christliche Konfession" einen Haus geistlichen und Lehrer für den "Elementarunterricht" anstellen und besolden (§ 3), "die Klassification der Gefan-
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genen b e f ö r d e r n " (§ 4), "vermittels der Gefängnisgeistlichen" über die Bibel und religiöse Literatur eine "wohltätige Bildung und geistige Beschäftigung veranlassen" ( § 5 ) ; die "leibliche Beschäftigung" f ö r d e r n (§6) und den Entlassenen Arbeit v e r s c h a f f e n , um sie bei "Aufsicht christlich gesinnter Menschen" vor e r n e u t e r Delinquenz zu bewahren ( § 7 ) . Zur näheren Erläuterung wurde den 'Grundgesetzen' der "Plan der Wirksamkeit b e i g e f ü g t , der auf einem Entwurf Fliedners b e r u h t e . In diesem Plan wird ausdrücklich b e t o n t , daß die Gesellschaft ihre A r beit darauf a u s r i c h t e t , die Rückfälligkeitsquote von "zwei Dritteilen" zu senken. Als Mittel dazu wird die Erziehung "zur Religion und Sittlichkeit" angesehen. Mit diesem Programm stellt sich die e r s t e deutsche Gefängnisgesellschaft die Aufgabe, die inhaltliche Gestaltung des Strafvollzuges zu ü b e r n e h men, f ü r die der Staat weder Interesse zeigt, noch Mittel zur V e r f ü g u n g stellt. Das gilt besonders f ü r die Anstellung von Geistlichen und Lehrern und die ausreichende Beschaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Verdienst der Rheinisch-Westfälischen Gefängnis-Gesellschaft ist darin zu sehen, daß sie "durch ihre mündlichen Verhandlungen und Druckschriften zur Klärung der einschlägigen Fragen nicht unwesentlich beigetragen"®2 hat. Diese vorsichtige Formulierung Krohnes weist darauf hin, daß es der Gesellschaft nicht im geplanten Maße gelungen i s t , auf die Reform des Vollzuges Einfluß zu nehmen. Der "Idealismus dieser Menschenfreunde" - so von Rohden®"* - erwies sich "als zu hoch g e s p a n n t " . Das Reformprogramm war zu umfangreich, um in allen Punkten verwirklicht werden zu können. Das Schwergewicht der Arbeit v e r lagerte sich auf die Bestallung von Geistlichen und die Fürsorgearbeit an Gefangenen und deren Familien®^. Auf diesen Gebieten waren die Leistungen der Gesellschaft b a h n b r e c h e n d . Sie gewinnt ihre historische Relevanz f ü r die Gestaltung des Gefängniswesens u n t e r dem Aspekt, daß zum e r s t e n Mal in Deutschland eine private Organisation einen p r a xisbezogenen Versuch zur inhaltlichen Gefängnisreform gewagt h a t , der nicht ohne Einfluß auf die öffentliche Meinung und die weitere Diskussion um ein zeitgerechtes Vollzugssystem geblieben i s t . Fliedner stand ganz im Dienste der Gesellschaft bis zu seiner zweiten Reise zum Studium des Gefängniswesens in Holland und England, deren zentrales Erlebnis 1832 die Zusammenkunft mit E . F r y in Newgate d a r stellte . Fliedner formuliert es zwar nach seiner Rückkehr als seine "doppelte Pflicht", "die aufs neue gesammelten reichen E r f a h r u n g e n auch zum Besten u n s e r e r Gefangenen zu benutzen"®"', wendet sich aber bald von der Arbeit in den Haftanstalten ab und sieht seine weitere Aufgabe d a r in, die aus der Entlassenenfürsorge hervorgegangene Organisation der weiblichen Diakonie in Kaiserswerth zu übernehmen. Fliedners Bedeut u n g f ü r die Entwicklung des Gefängniswesens besteht darin, die An-
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sätze Frys sowie der holländischen und englischen Gefängnisgesellschaften in Deutschland bekannt gem acht und in eine Organisation ausgeformt zu h a b e n . Obwohl Fliedner die Inhalte seiner Reformbestrebungen weitestgehend übernommen h a t , ist als eigene Leistung herauszustellen, daß e r die inhaltliche Neuorientierung aus dem Bereich der theoretischen Diskussion in die Praxis des Vollzuges ü b e r f ü h r t h a t . Er kann als der Initiator der geregelten Gefängnisseelsorge und des Unterrichts in Haftanstalten gelten. Die einer christlichen Motivation entspringende Sorge um das Wohl der Inhaftierten ging in seine Forderung nach Besserung ein. In vielen Briefen artikuliert Fliedner die biblische Orientierung seines Engagements. Eine Kernstelle, auf die er sich immer wieder b e r u f t , ist Matthäus 25,36, die er mit "Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich b e s u c h t " ü b e r s e t z t e . Aus dieser Weisung Jesu folgte f ü r Fliedner die Verpflichtung, den Dienst an den Gefangenen als "inländische Missionssache"®® zu übernehmen. Wie Fliedner wurde auch der Hamburger Arzt Nikolaus Heinrich Julius® 7 in seinen Ansätzen vom angelsächsischen Gefängniswesen i n s p i r i e r t , das er auf einer Studienreise 1825, in deren Verlauf er auch mit Fry zusammentraf, kennengelernt h a t t e . Die aus seinen E r f a h r u n g e n und Untersuchungen resultierenden Reformgedanken brachte Julius mit seinen "Vorlesungen" über die Gefängniskunde an die Öffentlichkeit. Wenn auch die 'Vorlesungen' von christlichen Gedanken geprägt sind, so v e r s t e h t doch Julius - im Unterschied zu Fliedner - die Reform der Gefängnisse nicht als eine 'innere Missionssache', die zum staatlichen Gefängniswesen hinzutreten sollte. Er intendierte ein grundlegendes Reformprogramm und i n t e r p r e t i e r t e seine A u s f ü h r u n g e n als eine "Bauh ü t t e " f ü r eine "dereinst zu b e g r ü n d e n d e Gefängnißwissenschaft"®**. Die Motivation zu seinem Werk ist wissenschaftlich empirisch g e g r ü n d e t . Charakteristisch f ü r Julius' Ansatz ist - ähnlich wie bei Wagnitz - , daß er sich auf eine Analyse der "Triebfedern" von Kriminalität stützt®®, die in der "menschlichen Natur" 7 ^ gegründet und aus der "Unsittlichkeit, Unwissenheit und Gottlosigkeit"'^ abzuleiten sind. Verstärkt wird die Neigung zur Devianz von der sozioökonomischen Entwicklung der ersten industriellen Revolution, die er als Zerbrechen der stabilisierenden bürgerlichen und familiären S t r u k t u r e n a u f g r u n d des Zurückstellens der sittlichen Komponente des Lebens zugunsten der F o r t s c h r i t t s gläubigkeit und des P r o f i t s t r e b e n s beschrieb. Julius möchte nun das "Gleichgewicht" 7 ^ der Lebensverhältnisse wiederherstellen, indem er die "Gesittung", die "Unterordnung des Menschen u n t e r den Willen Gottes" als Grundlage des Handelns des Einzelnen und des Staates p o s t u liert73. Doch die sozialen Gegebenheiten zwingen den Staat, zunächst einmal auf Verbrechen mit der Strafe zu reagieren, in der er die "Idee des Sittlichen" 7 ^ konkretisiert und das Unrecht durch "Widervergeltung"
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a u f h e b t . Das Hegel entlehnte S t r a f v e r s t ä n d n i s und das Idealbild einer christlich-sittlich orientierten Gesellschaft verbindet Julius zu der Theorie eines dem Rechtsprinzip und dem göttlichen Willen entsprechenden Haftsystems. Da die Gefahr b e s t e h t , daß auch Unschuldige inhaftiert werden, muß die S t r a f h a f t die Minimalforderung e r f ü l l e n , "daß der Verhaftete nicht böses t h u e , noch e r f a h r e " ^ . Doch ein rechtskonformes Sanktionssystem ist nicht Selbstzweck, sondern gewinnt f ü r Julius seine inhaltliche Bestimmung erst d a d u r c h , daß eine "erreichbare moralische und physische B e s s e r u n g der Sträflinge"'' 6 intendiert wird. Die Organisation der Haftanstalt muß auf das Ziel ausgerichtet sein, den Gefangenen moralische Werte zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, das weitere Leben r e c h t s konform zu gestalten. Um der Individualität des Gefangenen weitestgehend gerecht werden zu können, entwickelt Julius ein differenziertes Klassifikationsmodell, das den Inhaftierten über verschiedene Stufen kontinuierlich auf die Freiheit vorbereiten s o l l ^ . Für den auf die Täterpersönlichkeit abgestellten Besserungsprozeß bilden Arbeit und religiöser Unterricht die zentralen Erziehungsmittel. Entsprechend der dualistisch geprägten Welt- und Menschensicht Julius' stehen die Grundelemente des menschlichen Lebens "Gebet und Arbeit" als Chiffren f ü r die "geistige" und "leibliche" Existenz des Menschen. Erst wenn beide Faktoren in Wechselbeziehung s t e h e n , kann der Mensch in Übereinstimmung "mit den geltenden göttlichen und menschlichen Gesetzen" einen "unbescholtenen Lebenswandel" f ü h r e n . Beim Verbrecher hingegen dominiert das "körperlich-irdische", die höherwertige "himmlisch-geistige" Existenz muß ihm während der Haftzeit als Korrektiv des Handelns wiedergegeben oder erst eröffnet werden. Deshalb fordert J u lius auch ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Unterricht Die Beschäftigung ist zwar, und das betont Julius immer wieder, "einer der Haupthebel zur sittlichen Besserung des gesunkenen S t r ä f l i n g s " ^ , ist aber dem "Höheren"*^ u n t e r g e o r d n e t . Vom Handwerksunterricht soll der Besserungsprozeß über Schulunterricht und Katechisierung zum sittlich-religiösen Unterricht des Geistlichen f ü h r e n . Hinter diesem Ansatz steht die These, "daß Unwissenheit und die aus derselben e n t s p r i n gende Gottlosigkeit als die Mutter des Verbrechens betrachtet werden muß". Daher folgert Julius konsequent, daß allein aus einer gründlichen Unterweisung "eine Umkehr und wahre Wiedergeburt" zu erwarten ist®·*·. Damit hat sich der Kreis der Überlegungen und Forderungen in den "Vorlesungen" geschlossen: Unsittlichkeit, Unwissenheit und Gottlosigkeit waren die Ursachen der Delinquenz, in die der Rechtsbrecher v e r strickt wurde, weil er a u f g r u n d der Gesellschaftszustände seine leibliche Existenz überbetont h a t . Der Strafvollzug muß diesen Prozeß wieder umkehren, die "geistige Existenz" zurückgeben und die Wiedergeb u r t ermöglichen, um die Basis f ü r ein s t r a f f r e i e s Leben zu legen.
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Die 'Vorlesungen', die er dem damaligen Kronprinzen und späteren preußischen König Friedrich Wilhelm IV. widmete, machten die Reformb e s t r e b u n g e n Julius' in Preußen b e k a n n t . Julius veranlaßte 1827 die G r ü n d u n g des 'Berliner Vereins zur B e s s e r u n g f ü r Strafgefangene' und gab 1829- 1832 die "Jahrbücher der S t r a f - und Besserungsanstalt e n , Erziehungshäuser, Armenhäuser" h e r a u s , die ab 1842 als "Jahrbücher der Gefängniskunde und Besserungsanstalten" weitergeführt wurden. Diese Blätter wirkten als Organ der Gefängnisreform. In ihnen sprach sich Julius f ü r die E i n f ü h r u n g der Einzelhaft nach pennsylvanischem Vorbild a u s . Seine umfangreiche literarische und praktische Tätigkeit bewirkte, daß besonders in Berlin die "ausgewählten K r e i s e " ^ auf das bisher unbeachtete Problem der Gefangenen aufmerksam wurden. In der Kabinettsorder vom 13. Juli 1840 v e r k ü n d e t e Friedrich Wilhelm IV. offiziell seinen Willen zur Gefängnisreform. Julius erhielt den A u f t r a g , zusammen mit zwei Vollzugsbeamten und einem Zuchthausgeistlichen Richtlinien f ü r die E i n f ü h r u n g des pennsylvanischen Gefängnissystems zu entwerfen. Im Rückblick ist das Jahr 1840 entscheidend f ü r die Gefängnisreform in P r e u ß e n . Daß es Julius gelungen i s t , seinen Plänen eine größere Verbreitung und Wirksamkeit zu v e r s c h a f f e n , als es Fliedner erreicht h a t , liegt im Wesentlichen an zwei Faktoren:Einmal an der f ü r seine Zeit sehr f u n d i e r t e n theoretischen Auseinandersetzung mit der Problemlage, die die Basis seiner Reformforderungen und praktischen Vorschläge bildete. Zum anderen an der Protektion des Königs und einflußreicher Kreise in Berlin, ohne die Julius am Widerstand der Ministerialbürokratie gescheitert wäre.
1.6 Johann Hinrich Wicherns Rolle bei der Neugestaltung des Gefängniswesens in Preußen "Mit dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelm IV beginnt eine neue Periode in der Geschichte des Preußischen G e f ä n g n i s w e s e n s " ^ , die von zwei gegenläufigen Bewegungen gekennzeichnet ist: Dem von Julius eingeleiteten Versuch, die religiös motivierten Ansätze einer Gefängnisreform organisch mit den rechtlichen Grundlagen des Strafvollzuges zu v e r b i n d e n , den Wichern f o r t z u f ü h r e n v e r s u c h t , und dem kontinuierlichen Widerstand der preußischen Juristen und Politiker gegen christlich motivierte Reformen. Im Mittelpunkt dieses Streites steht die Einzelhaftfrage. Die vom König zu Beginn seiner Amtszeit eingesetzte 'Immediatcommission' setzte sich in ihrem Gutachten 1842 d a f ü r ein, die Einzelhaft e i n z u f ü h r e n , allerdings mit der B e s c h r ä n k u n g , daß sie nur f ü r Freiheitsstrafen mit maximal sechs Jahren Haftzeit anzuwenden sei. Hier zeigt sich ein gewisser Wandel in der Reformpolitik. Die Klassifikationsforderung wich den Bestrebungen nach Isolation und Individuation der I n h a f t i e r t e n . Als
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grundlegend galt die Überzeugung, "dass die T r e n n u n g s h a f t allein die Häftlinge vor dem gegenseitigen Verderb sicher bewahren und dass in der Einzelzelle die individualisierende Behandlung der Gefangenen am wirksamsten bewerkstelligt werden könne" . Nach einem Besuch in dem neu eröffneten Zellengefängnis Pentonville ist Friedrich Wilhelm IV. von dem dortigen System so ü b e r z e u g t , daß er nach seiner Rückkehr in der Kabinettsorder vom 26.3.1842 gegen die Forderungen der Immediatkommission die E i n f ü h r u n g der Einzelhaft f ü r alle Gefangenen anordnete. Als Musteranstalt f ü r den Zellenvollzug wurde 1844 bis 1849 die "Moabiter Königliche Strafanstalt" zu Berlin als Kopie von Pentonville erbaut**"'. Die E i n f ü h r u n g der Einzelhaft erfolgte somit auf rein administrativem Wege und e n t b e h r t e einer gesetzlichen Grundlage. Ein T a t b e s t a n d , der f ü r die folgenden Auseinandersetzungen um das Einzelhaftproblem grundlegende Bedeutung gewinnen sollte. In Deutschland entsteht nur in Baden u n t e r Leitung des Ministerialr a t e s von Jagemann eine mit Moabit vergleichbare Anstalt, die 1848 eröffnet wird, das Männerzuchthaus zu Bruchsal In dieser Anstalt wurde die Freiheitsstrafe in s t r e n g e r Einzelhaft mit sechsjähriger Begrenzung d u r c h g e f ü h r t . Die übrigen deutschen Staaten ü b e r nahmen die Einzelhaftmodelle n u r partiell® 7 . In Preußen bildete sich bald eine Opposition gegen die neue Haftform, "die Gefängnisverwaltung stemmte sich dieser Absicht des Königs mit der ganzen Zähigkeit einer selbstzufriedenen Bureaukratie entgegen"®®. Die Gegner der Einzelhaft beriefen sich auf das Raviczer Reglement, das die D u r c h f ü h r u n g des a u b u r n s c h e n Systems v o r s a h , und weigerten sich, ohne eine Gesetzesgrundlage den Vollzug zu modifizieren. So wurde auch in Moabit die Haft nach einem gemilderten a u b u r n s c h e n Modell organisiert: Die Kommunikation wurde nicht u n t e r b u n d e n ; die Zellentüren blieben o f f e n ; die Gefangenen arbeiteten gemeinschaftlich auf den Gängen und Wände zwischen Zellen wurden h e r a u s g e b r o c h e n , Einzelspazierhöfe a b g e r i s s e n , um Gemeinschaftsräume zu gewinnen. Die von Friedrich Wilhelm IV. intendierte Isolierhaft wurde nicht eing e f ü h r t , sondern von den verantwortlichen Praktikern boykottiert. Auch die Presse zog gegen die Einzelhaft zu Felde, die der Öffentlichkeit als "Lebendig-begraben-werden" vor Augen g e f ü h r t wurde®®. Der erstaunliche B e f u n d , daß sich in einem absolutistischen Staat wie Preußen trotz des erklärten Willens des Königs die N e u s t r u k t u r i e r u n g des Gefängniswesens nicht durchsetzen ließ, ist aus v o l l z u g s s t r u k t u rellen Gründen zu e r k l ä r e n . Die dem alten Reglement entsprechende Organisation der Anstalten war auf Massenverwahrung a u s g e r i c h t e t . Sie hatte ihre Aufgabe e r f ü l l t , wenn die Gefangenen ins System eingefügt waren. Der Begriff der Individualität war dem Militärpersonal fremd. Von daher implizierte das Einzelhaftsystem eine Ü b e r f o r d e r u n g
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der Vollzugsbeamten, da sie sich auf ein Haftmodell umstellen sollten, in dem der Gefangene als Einzelperson behandelt werden mußte. Die Problemanalyse zeigt die Grundschwierigkeit der Reformversuche Friedrich Wilhelms IV.: Das Einführenwollen von Veränderungen ohne gesetzliche Grundlagen und geeignetes Personal, das diese t r a g e n konnt e . Aufgrund der fehlenden Rechtsmittel konnte der König sich nicht gegen eine Verwaltung d u r c h s e t z e n , die der Solidarität des Anstaltspersonals, das sich seiner Existenzberechtigung enthoben s a h , v e r t r a u e n konnte. Der Widerstand der Justizverwaltung ist d a r ü b e r hinaus damit zu e r k l ä r e n , daß die Reformansätze nicht von Juristen entwickelt, sondern vom König englischen Vorbildern entlehnt worden waren, die der Mediziner Dr.Julius vermittelt h a t t e . Die Opposition der Juristen sollte sich noch v e r s c h ä r f e n , als ein Mann der Kirche, Johann Hinrich Wichern, auf Seiten des Königs in die Debatte um das zu organisierende neue Haftsystem eingriff. Während f ü r Fliedner die Arbeit f ü r die Gefangenen Anregungen f ü r den Aufbau der weiblichen Diakonie lieferte, f ü h r t e Wichern sein im "Rauhen Haus" zu Hamburg begonnenes Rettungswerk f ü r verwahrloste Jugendliche zu einem umfassenden Engagement auf dem Gebiet des Strafvollzuges. Nachdem das 'Rauhe Haus' eine gewisse Bekanntheit erlangt h a t t e , suchten Wichern dort auch entlassene Strafgefangene auf, so daß er mit deren Problemstellungen konfrontiert w u r d e ^ . Schon als Student in Berlin hatte Wichern ansatzweise Fragen der Gefängniskunde a u f g e g r i f f e n . Prägend wurde f ü r ihn die Bekanntschaft mit D r . J u l i u s , dessen Werke er studierte und der Wichern in die Ideen Frys und Howards e i n f ü h r t e . Julius vermittelte Wichern die Einsicht in die Notwendigkeit der Reform des Gefängniswesens mit der Folge, daß Wichern den staatlichen, vom König protegierten Maßnahmen wesentlich näher stand als Fliedner. Dennoch fühlte sich Wichern stets als ein Vert r e t e r der Kirche, der den Gedanken der "Inneren Mission"91 ins Gefängnis tragen wollte. Er nahm die Ziele der Gefängnisreform, die durch Julius und das Engagement des Königs inauguriert waren, auf und stellte es der Kirche als Aufgabe, an der V e r b e s s e r u n g der Zustände in den Haftanstalten mitzuwirken. Die Kirche sollte ihre "selbständige Einflußsphäre" bewahren, aber "mit dem Staate zu diesem Zweck zusammenarbeiten"^. Deshalb bemühte sich Wichern auch darum, daß B r ü der des 'Rauhen Hauses' f ü r das Wirkungsfeld Gefängnisarbeit Interesse entwickelten. 1843 ging der erste 'Bruder' als Aufseher in die S t r a f a n stalt Dreibergen. Doch das s t r e n g von der lutherischen Orthodoxie geprägte Kirchenregiment u n t e r Kliefoth betrachtete die Arbeit von 'Bruder Woestenberg' als eines V e r t r e t e r s des Gedankens der inneren Mission in der Haftanstalt mit Mißtrauen, deshalb beschränkte sich Wichern im weiteren d a r a u f , Mitarbeiter des 'Rauhen Hauses' n u r in preußischen Anstalten e i n z u s e t z e n ^ .
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Es bedeutete für Wichern einen ersten Erfolg seiner Bemühungen, daß der König im Anschluß an eine von Julius vermittelte Audienz am 5. IL 1844, in der über das Gefängniswesen diskutiert wurde, zwei "Pensionate" auf drei Jahre in der Brüderanstalt stiftete mit der Auflage, daß die ausgebildeten Brüder später das "Amt eines Lehrers und Erziehers" für jugendliche Verbrecher in preußischen Haftanstalten übernehmen sollten. 1845 Schloß Wichern mit dem Kultusministerium einen Vertrag, der die Ausbildung von sechs Brüdern für die Gefängnisarbeit finanziell absicherte. 1846 wurde die Zahl auf zwölf erhöht und der Staat zahlte 2040 Taler Pension an das 'Rauhe Haus'. Grundsätzlich betont Wichern 1845, daß Staat und Kirche gemeinsam die Aufgabe "der Rettung der Gefangenen aus ihrem sittlichen Verfall"^ übernehmen müssen. Da der Staat jedoch hauptsächlich an der Schaffung neuer Haftsysteme arbeitet, vernachlässigt er den "Mitzweck" der Haft, die "Besserung der Gefangenen". Bei der Behebung dieses Defizits kann die christliche Gemeinde mithelfen, indem sie "Wärter" in die Anstalten entsendet, die "mit dem Geist des Gehorsams den Geist der Weisheit und Erfahrung und wahrhaft seelsorgerlichen Wirkens verbinden". Je intensiver sich Wichern in die Problematik des Strafvollzuges einarbeitete, um so deutlicher wurde ihm, daß die "gesellschaftliche Erneuerung der evangelischen Christenheit und durch diese des deutschen Volkes"^ 5 , die er als Aufgabe der inneren Mission formulierte, auch das Engagement für eine Reform des Strafwesens implizierte. So fand der Gedanke der christlichen Gefangenenarbeit Eingang in die "Denkschrift an die Deutsche Nation"^ vom 21.4.1849, der "Klassischen Urkunde der inneren Mission"^ 7 , in der Wichern das Programm der weiteren Arbeit entwickelte. Den Gefangenen bezeichnete Wichern als "gefallenen Bruder", dem die seelsorgerliche Betreuung durch Vertreter der inneren Mission "die Freiheit in Christo, den Trost der göttlichen Vergebung im Evangelio bringen und zur Umkehr und Wiedererlangung der Ehre und Gerechtigkeit vor Gott und den Menschen verhelfen" soll. Die biblische Begründung findet Wichern in der klassischen Stelle Matthäus 25,36. Wie Fliedner bezog er dieses Wort auf die Vollzugsinsassen. Aber auch den Entlassenen sollte Schutz und Hilfe zuteil werden, denn nur die Sorge um den "Verbrecher" in und nach der Haft kann vor erneuter Devianz bewahren Im weiteren entwirft Wichern seine Reformideen: Die Prüfung der Vollzugssysteme unter dem Aspekt, wie sie der sittlichen Entwicklung der Inhaftierten optimal gerecht werden können; Beschaffung von geeignetem Lesematerial für die Gefangenen; Anstellung von hauptamtlichen Geistlichen und Lehrern. Erneut greift Wichern die Personalfrage auf. Der Gefängnisdienst dürfe nicht länger als "Belohnung bürgerlicher Kriegsdienste" vergeben werden. Das Personal muß seine Arbeit als einen "Dienst der erbarmenden Christenliebe" verstehen. Die Ausbil-
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d u n g eines mit dieser "Gesinnung" begabten Beamtenstabes kann die innere Mission - wie das 'Rauhe Haus' bewiesen hat - adäquat ü b e r n e h men®^. Die Zeit f ü r Reformen ist nach Wicherns Ansicht ü b e r r e i f , denn die hohe Zahl der Rückfälligen weist signifikant darauf hin, daß die "Gefängnisse vom alten Systeme" das sittliche Verderben noch v e r s t ä r k e n und die Kriminalitätsrate s t e i g e r n 1 0 0 . In der 'Denkschrift' sind drei f ü r Wichern charakteristische Reformfelder enthalten: 1. Die Frage nach einem neuen Haftsystem. Wichern spricht sich zwar noch nicht f ü r die isolierende Einzelhaft a u s , wendet sich aber gegen das a u b u r n s c h e System, als dessen Hauptmangel er die potentielle kriminelle Beeinflussung herausstellte. 2. Die Forderung nach E r n e u e r u n g des Gefängnispersonals a u f g r u n d der Erkenntnis, daß die militärische Zucht die kriminelle Neigung der Gefangenen nicht positiv zu beeinflussen vermag. 3. Die Frage der sittlichen B e s s e r u n g , d . h . der Sozialisierung und Integration der S t r a f t ä t e r , die im Gefängnis beginnen und nach der Entlassung durch Fürsorge auch f ü r die Familien weitergeführt werden muß. Bis zum Revolutionsjahr 1848, das die Gefängnisreform wieder einmal in den Hintergrund t r e t e n ließ, war Wichern hauptsächlich mit Fragen der Ausbildung von Gefängnispersonal und der inneren Mission b e s c h ä f t i g t . Erst ab 1850 wird das Engagement f ü r das Gefängniswesen in Wicherns Arbeit dominierend. 1849/50 besuchte er verschiedene Anstalten ΙΟ 1 , um sich aus eigener Anschauung ein Bild des deutschen Gefängniswesens zu machen. Besonders intensiv studierte er die Übertragung des pennsylvanischen Systems auf deutsche Verhältnisse in Bruchsal. Hatte Julius schon v e r s u c h t , Wichern von den Vorteilen der Einzelhaft zu ü b e r z e u g e n , so d ü r f t e nach dem Besuch in Bruchsal Wicherns grundsätzliche Entscheidung f ü r dieses Haftsystem gefallen s e i n 1 0 2 . In einer zweiten Audienz beim König am 8.10. 1850 eröffnete der Innenminister von Westphalen seinen Plan, Wichern mit der kommissarischen Revision aller preußischen Gefängnisse zu bea u f t r a g e n . Vorrangig erwartete er von Wichern Vorschläge zur Neuorganisation der Anstalten und des Beamtenwesens. Das "Gutachten an den Centraiausschuß f ü r die innere Mission über die Aufgaben der Gefängnisreform" aus dem Jahre 1851 läßt e r k e n n e n , daß f ü r Wichern die Hauptaufgabe in der Forcierung der "sittlichen Erneuer u n g der Gefangenen"10^® b e s t a n d . Erst wenn dieses Ziel erreicht sei, könne die äußere Reform der Gefängnisse begonnen werden. Folglich stand die Revision der Ausbildung des Dienstpersonals an e r s t e r Stelle im Prioritäten-Katalog. Das Gutachten wurde von von Bethmann-Hollweg an den Oberkirchenrat mit der Bitte weitergeleitet, Wichern mit der Begutachtung aller p r e u ß i -
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sehen Strafanstalten zu b e t r a u e n . Am 1.April erklärte sich Wichern ber e i t , diese Aufgabe zu übernehmen. Wenig s p ä t e r , am 17.Juli, erfüllte sich mit der Kabinettsorder des Königs die zentrale Forderung Wicherns: Den sogenannten "Staatspensionären" des 'Rauhen Hauses' wird die Anstellungsberechtigung in Preußen "ein f ü r alle Mal" verliehen 1 ® 4 . Von einer Reise nach England z u r ü c k g e k e h r t , t r a t Wichern zusammen mit dem Strafanstaltsgeistlichen Viol die e r s t e Inspektionsreise in den Anstalten des Rheinlands, Westfalens, Sachsens und B r a n d e n b u r g s an. Wichern fand u n t r a g b a r e Zustände v o r . In seinen Tagebuchnotizen bezeichnet er die Gefängnisse als "Greuelstätte" 1 0 5 und "Räume der Sünde und des L a s t e r s " 1 0 6 . Alles ist in "großer Verwahrlosung" 1 0 ^, di e Aufsicht u n g e n ü g e n d , das Unterkommen und die Verpflegung schlecht, die Beamten sind oftmals "schändliche B e t r ü g e r " 1 0 8 . Die kirchliche Versorgung ist mangelhaft. Seine Impressionen verdichtet er zu einer Anklage gegen den Staat: "Diese Gefängnisse sind die größte Ironie, die der Staat gegen sich selbst aufgerichtet h a t ; er verhöhnt sich selbst mit ihnen"109. Von den Eindrücken der Inspektionsreise ist das Referat auf dem 5.evangelischen Kirchentag in Bremen bestimmt 1 1 0 : Wichern charakterisiert die Haftanstalten "als die Schule der V e r b r e c h e n " 1 1 1 . Er entwirft als Ideal das Bild eines "christlichen Gefängnisses", welches ein "Heiligtum Gottes i s t , wo Gott sein Gesetz d u r c h die von ihm gesetzte Obrigkeit heiligt und durch die Strafe als gerechte Vergeltung den Weg in die Herzen und Gewissen der Gefallenen s u c h t " 1 1 ^ . Wicherns stark von Luthers Gedanken bestimmtes S t r a f v e r s t ä n d n i s stellt dem Staat im Strafvollzug die Aufgabe, "in den Gestraften die Anerkennung der Gerechtigkeit der Strafe zu e r z e u g e n " 1 1 ^ . Von daher wäre das Ziel des Vollzuges e r r e i c h t , wenn die Inhaftierten e r l e b t e n , daß die a u f erlegte Strafe "ihnen zur Wohltat und besten Erquickung f ü r ihren inwendigen Menschen geworden" sei. Doch das "Schreckenerregende" des praktizierten Strafvollzuges ist die große Zahl von "unbußfertigen Sündern", die das weltliche Gesetz nicht mehr zur Reue vor Gott f ü h r e n k a n n . Die auferlegte Strafe wird nicht als Konsequenz des "Gottesgesetzes" i n t e r p r e t i e r t , das den Menschen r i c h t e t , um die Sünde des Rechtsbruchs "ersterben" zu l a s s e n 1 1 4 . Solange die Gefangenen nicht angehalten werden, ihr Leben dem göttlichen Willen entsprechend g r u n d legend zu revidieren, bleibt das Gefängnis "die Wiege des Verbrechens". Die steigenden Verbrechenszahlen g r ü n d e n in der "national gewordenen Sünde" des Unglaubens. Das Elend der Gefangenen ist eine u n ü b e r s e h bare Konsequenz des "im Innersten zerfallenen, weil von dem Worte und Gebote Gottes abgefallenen Volkslebens". Daher darf sich die Christengemeinde nicht in Selbstgerechtigkeit von der Welt der Gefangenen distanzieren. Der gemeinsame Stand in der Sünde ist f ü r Wichern die Ursache, daß die Christen solidarisch das Gefangenenproblem als "heilige Pflicht" und "Sache des öffentlichen christlichen Gewissens" aufgreifen müssen115.
- 39 In diesen Überlegungen wird Wicherns volksmissionarischer Ansatz deutlich, der letztendlich die Erneuerung der gesellschaftlichen und kirchlichen Strukturen vom Auftrag des Wortes Gottes her intendiert. Die christliche Gemeinschaft ist aufgerufen, die praktischen Konsequenzen ihres Glaubens zu erkennen, um das Zusammenleben in der Staatsgemeinschaft wieder auf eine tragfähige Basis zu stellen und die aus der Abwendung von Gott resultierenden Mißstände zu beheben. Das impliziert zugleich, daß sie mitarbeiten muß an der Erneuerung des Haftsystems. Das "heilige Wort" - "Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen"11(> - bildet gleichsam die Überschrift und den Anstoß für eine Reihe von drängenden Aufgaben. Wichern faßt sie thesenartig zusammen: "1. Es soll ausreichende Predigt in jedem Gefängnis geordnet werden, und zwar durch ordentliche, wohlerfahrene, praktisch tüchtige Geistliche. - Ebenso darf in keinem Kerker die genügende Anzahl von Bibeln fehlen. 2. Besuchung der Gefangenen durch christliche Privatleute unter den notwendigen Garantien, die sich die Obrigkeit von der Kirche zu verschaffen hat. 3. Pflege der Familien und insbesondere auch der Kinder der Gefangenen, nicht durch polizeiliche Unterbringung, sondern durch christlich kirchliche Fürsorge. 4. Festgeordnete Gefangenenpredigt in der Gemeinde von Seiten des Gemeindepastors und der Gefängnisgeistlichen; festgeordnete und liturgisch formulierte Fürbitte für die ganze Gefangenenwelt. 5. Kirchlicher Akt der Wiederaufnahme der Gefangenen in die Gemeinde. 6. Mehrung und Stärkung der Schutzvereine für entlassene Sträflinge, die aber den humanistischen und kirchlich indifferenten Standpunkt verlassen, und sich auf christlicher, und zwar konfessioneller Grundlage gründen müssen, mit Bestellung von Agenten zur persönlichen Besorgung der Schützlinge. 7. Die Gründung von Asylen für entlassene männliche und weibliche Sträflinge, namentlich für l e t z t e r e . " 1 1 ^ Bedingt durch das Auditorium des Vortrages sind diese Forderungen unter dem Blickwinkel aufgestellt, was die evangelische Kirche und kirchliche Vereine für den "gefallenen Bruder" im Gefängnis leisten können. Wichern verweist auf die Schlüsselrolle der Kirche bei dem Versuch, die öffentliche Meinung über die Gefangenen zu modifizieren: Solange auch engagierte Christen den Gefangenen ihre Hilfe verweigern, dürfen sie über die Ablehnung der Gefangenen durch die Bevölkerung, die jegliches Engagement und Reformbemühen blockiert, nicht klagen. Die Wiederaufnahme des Entlassenen in die christliche Gemeinde gewinnt daher als Restitution der "kirchlichen Ehre" symbolischen Charakter und impliziert einen ersten Schritt zur Erlangung der verweigerten "bürgerlichen E h r e " 1 1 8 .
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Im Mittelpunkt der kirchlichen Bemühungen muß der Gefangene s t e h e n . Ihm soll die "Zukunft"· 1 · 1 ^ eröffnet werden, auf die hin er schon im Gefängnis leben k a n n . Die Kirche und ihre Mitglieder sind die T r ä g e r des heiligen Geistes, der allein die Inhaftierten "zu der Freiheit von Sünde und Verderben f ü h r e n " und dem Staat "Gerechtigkeit liebende Untertanen" schaffen kann* 2 ®. in der praktischen Arbeit muß die Kirche daher ihre Unabhängigkeit wahren, ohne die staatliche Autorität zu u n t e r g r a b e n . Wichern bietet dem Staat ein Bündnis "zur Heilung tiefer sittlicher Schäden"* 2 ! an, v e r b u n d e n mit der Hoffnung, daß die staatliche Verwaltung die kirchlichen Anregungen f ü r ihre eigenen Planungen übernimmt. Wicherns programmatischer Vortrag fand die Unterstützung des Zentralausschusses der Inneren Mission, der ihn zusammen mit einer Denkschrift 122 a n d j e deutschen Kirchenregierungen weiterleitete und in 4000 Exemplaren publizierte. Die positive Resonanz, auch von Seiten des preußischen O b e r k i r c h e n r a t e s , gab Wichern Gewißheit, in der Zustimmung der Kirchenleitung eine sichere Grundlage f ü r weitere Bemüh u n g e n zu haben. Seiner Personalpolitik, die "Civilversorgung f ü r Militärpersonen" d u r c h eine "Kirchliche Korporation f ü r das Gefängnis"! 2 ^ zu e r s e t z e n , sicherte Ende 1853 das Finanz- und Innenministerium weitere U n t e r s t ü t z u n g zu. Nur das Kriegsministerium bereitete Wichern Schwierigkeiten, da es die Einstellung von kirchlich ausgebildetem Personal als Einbruch in die staatliche Domäne a n s a h . Da Wichern auf das Wohlwollen des Königs v e r t r a u t e , stellte er sich darauf ein, die Auseinandersetzung mit dem Militär aufzunehmen. Wicherns Ansatz zur Veränderung des Personalstandes wurde von der Überzeugung g e t r a g e n , daß die rechtschaffene Persönlichkeit des Vollzugsbeamten f ü r den Erziehungsprozeß des Inhaftierten Vorbildcharakt e r besitzt. Indem der Beamte den Gefangenen vorlebte, wie eine c h r i s t lich geordnete L e b e n s f ü h r u n g zu gestalten i s t , wurde er sowohl Mittel als auch Methode der erzieherischen B e s s e r u n g . Nach Müller-Dietz sind diese methodischen Reflexionen Wicherns einem Patriarchalismus v e r b u n d e n , in dem "ein gutes Stück lutherische Tradition" s t e c k t , "das Bild des Hausvaters, der sein Haus wohl bestellt, dem alle Glieder des Hauses ebenso a n v e r t r a u t wie untergeordnet sind"124_ Eine zweite und dritte Inspektionsreise f ü h r t e Wichern 1852/53 in die östlichen und südlichen Gebiete Preußens*-^. Dj e E r f a h r u n g e n dieser Reisen sind ebenso negativ wie die der e r s t e n . So schreibt er aus Ratibor: "Bis heute habe ich . . . etwa elf große Gefängnisse gesehen und kann umso mehr das Elend u n s e r e s Volkes beweinen, das in sein Verderben geht"* 2 ®. Die Mißstände der Gemeinschaftshaft überzeugen Wichern, die Forderung Friedrich Wilhelms IV. nach s t r e n g e r Einzelhaft zu u n terstützen.
- 41 Wichern greift von nun an aktiv in den Streit um die Gestalt des Strafvollzuges ein und modifiziert seine Position. In den vergangenen Jahren waren seine Vorschläge aus der Zielsetzung der inneren Mission erwachsen und intendierten vorrangig die Organisation der kirchlichen Betreuung und Fürsorge Inhaftierter, wobei ihn das Problem der Vollzugsform nur vermittelt über die Personalfrage tangierte. Ab 1854 dominiert die politische Auseinandersetzung um die Einführung und Gestaltung der Einzelhaft. Die für die Einzelhaftdiskussion in Preußen entscheidende Sitzung fand am 13.Juni 1854 unter Vorsitz des Königs in Sanssouci statt. Außer Wichern nahmen an ihr die Minister des Innern und der Justiz mit ihren zuständigen Räten teil. Diskussionsthema war die Einzelhaft in Moabit. Ihre Durchführung war von den Behörden unter anderem mit der Begründung verzögert worden, daß aufgrund der Isolierhaft Selbstmordfälle und Geisteskrankheit aufgetreten seien. Der König ließ daraufhin eine Kommission einsetzen, um die Vorfälle zu untersuchen. Wiehern sollte die Berichterstattung übernehmen, ein Zeichen dafür, daß er das Vertrauen des Königs besaß. In der Kommission kam es bald zum Bruch. Die Mitglieder, die in Moabit arbeiteten, sprachen sich einstimmig gegen das pennsylvanische System aus. Wichern erteilte seine Zustimmung zu dem Gutachten der Kommission nicht, sondern erstellte auf Wunsch des Königs ein "Separatvotum"127 ( ( j a s auf persönlichen Gesprächen mit fast allen Gefangenen, Erkundigungen beim Personal und intensivem Aktenstudium basierte. Zu Beginn des Votums beschreibt Wichern die Kriterien des Isoliervollzuges, vergleicht sie mit den Verhältnissen in Moabit und kommt zu dem Schluß, "daß benannte Anstalt mit jenem System wenig mehr als die Architektur gemein hat". Dagegen artikuliert Wichern seine Vorstellungen über die Gestaltung der Einzelhaft: Sie stelle eine optimale Form des Strafvollzuges dar, wenn "die Verbrecher voneinander geschieden würden, um einen ausreichenden Umgang mit sittlich qualifizierten Menschen zu erlangen. Nur so wäre unter dem Segen des göttlichen Wortes eine sittliche Umkehr der Gestraften und das Verlassen ihrer verbrecherischen Wege . . . ermöglicht. Die Aufhebung der sittlich gefährlichen Gemeinschaft und die Stiftung einer sittlich erneuernden und tröstenden Gemeinschaft fiele dann zusammen mit der strikten Erfüllung der Forderung der die Gnade verkündenden und bringenden Heilsanstalt der christlichen Kirche"128. i n diesen kurzen Sätzen ist Wicherns Reformprogramm in nuce enthalten: Strafe als Isolierung der Inhaftierten, Besserung durch Gemeinschaft mit sittlich hochstehenden Kontaktpersonen. Wichern hält der Anstaltsleitung in Moabit in polemischer F o r m i c vor, in völliger Unkenntnis des Systems die Einzelhaft als disziplinierende "Ganz-Isolation"130 angewendet zu haben, ohne den Kontakt mit Seelsorgern oder anderen sittlich und geistig zur Gefangenenpflege geeigneten Personen zu ermöglichen. Da die Einzelhaft keine Disziplinarstra-
- 42 fe darstellt und das pennsylvanische Modell in Moabit nicht sachgerecht realisiert worden war, spricht Wichern den übrigen Kommissionsmitgliedern das Recht ab, irgendwelche Folgerungen aus den Geschehnissen in Moabit über das oder gar die Ablehnung des Einzelhaftsystems abzul e i t e n ^ ! . Wichern beschließt das Separatvotum konstruktiv mit Überlegungen zur Realisierbarkeit der Einzelhaft in Moabit. Er setzt zwei Prämissen: Änderungen im "Gefangenenpersonal" und im "Beamtenpersonal". Das bedeutet konkret, daß die Gefangenen in der Einzelhaft aus der Isolieruntersuchungshaft überstellte Ersttäter sein sollten, die noch nicht den verderblichen Einflüssen der Gemeinschaftshaft ausgesetzt waren und körperlich und geistig gesund nicht länger als sieben Jahre inhaftiert werden sollten. Bei dieser Gruppe von Häftlingen besteht nach Wichern die größte Wahrscheinlichkeit einer positiven Beeinflussung. Aber die Gefangenenselektion garantiert erst dann einen erfolgreichen Einzelhaftvollzug, wenn er von einem qualifizierten "Organismus" des Gesamtpersonals getragen wirdl32. Ein von christlichen Motiven geleiteter Beamtenstab sollte Geistliche und Lehrer bei der Aufgabe der sittlichen Besserung unterstützen. Wie das für eine konsequente Durchführung des Modells notwendige engagierte Personal gefunden werden kann, ist für Wichern eine sekundäre Frage. Unabdingbar jedoch bleibt, daß das alte "Prinzip der Zivilversorgung" fallen muß, wenn die Einzelhaft nicht zu einem "schädlichen Experiment"133 herabsinken soll. In diesem Votum hat Wichern zum ersten Mal seine Vorstellungen zur Einzelhaft explizit entfaltet, die er in bewußter Konfrontation mit der Justizverwaltung kompromißlos einzuführen gedenkt. Am 18.4.1856 fand die Abschlußsitzung der Immediatkommission statt. Wichern überzeugte den König mit seinen Reformvorschlägen, so daß dieser ihn - laut Kabinettsorder vom 21.4.1856 - mit der Durchführung des pennsylvanischen Systems als Modellversuch für den preußischen Strafvollzug in Moabit beauftragte. Das benötigte Personal sollte nur im Einvernehmen mit Wichern eingestellt werden. Die Einzelspazierhöfe wurden in der Anstalt wieder errichtet und die Kirche nach Wicherns Wunsch mit abgeschlossenen Einzelbetstühlen (stalls) versehen. Über die Ausführung der Order entstand eine Kontroverse zwischen dem Innenminister von Westphalen, der für die Einführung der Einzelhaft auf verwaltungsrechtlichem Wege plädierte, und dem Justizminister Simons, der eine Gesetzesgrundlage forderte. Wichern vertrat die Ansicht von Westphalens und konnte sich vorerst durchsetzen. In einem Gutachten vom 29.Mai 1856 weist Wichern die Brüder des 'Rauhen Hauses' als geeignetes Personal für die neuen Haftanstalten aus. Die "evangelische Korporation"134 d e r Gefängnisbeamten sollte der Vollzugsbehörde unterstellt werden, aber in der Ausbildung des Nachwuchses autonom bleiben. Nachdem eine königliche Kabinettsorder
- 43 die Brüder des 'Rauhen Hauses' mit der Gefangenenaufsicht in Moabit beauftragt hatte, wurden bis zum Herbst 1856 von Wichern alle Aufseh e r - , Werkmeister- und Lehrerstellen mit Brüdern besetzt. Ein neuer Anstaltsleiter und ein evangelischer Seelsorger wurden berufen. Wichern wurde am 11. 1.1857 zum Oberkonsistorialrat und Mitglied des evangelischen Oberkirchenrates ernannt, zudem mit 2000 Talern Normalgehalt und 1000 Talern Zulage als Vortragender Rat in Angelegenheiten der Strafanstalten und des Armenwesens in den Staatsdienst übernommen. Daneben durfte er die Leitung des 'Rauhen Hauses' weiterführen. Mit diesem Einstellungsvertrag gelang es Wichern, drei für die Gefängnisreform wichtige Elemente, das staatliche, das kirchliche und das der freien Trägerschaft, in Personalunion zu vereinigen, ohne seine doppelte Identität als Mann der Kirche und Staatsbeamter aufzugeben. Er konkretisierte gleichsam in eigener Person seine Uberzeugung, daß die Beantwortung der Gefangenenfrage eine gemeinsame Aufgabe des Staates und der Kirche darstellt. Außer der Verwaltung der Strafanstalten des Innenministeriums fielen die Regelung des Unterrichts, die Personalfragen, die Neueinrichtung und Beaufsichtigung von Einzelhaftanstalten in Wicherns Ressort. Die praktische Arbeit begleitete er mit einer ausgeprägten Informationstätigkeit, um die Öffentlichkeit für Gefängnisfragen zu interessieren. Er hielt in Berlin im Februar 1857 vor dem Königspaar und zahlreichen Mitgliedern der Hofgesellschaft zwei zusammenhängende Vorträge^^ö über die Gefangenenfrage, in denen er Gedanken zum Problemkreis Strafvollzugsreform zusammenfaßte und noch einmal die wichtigsten Reformpunkte markierte. Wichern beginnt mit der Feststellung, daß die Gefangenenfrage in ihrer Komplexität "als eine der Zentralfragen des großen sozialen Problems unserer Gegenwart bezeichnet werden muß"^®. Aber erst eine geschichtliche Betrachtung "im Lichte des Evangeliums" ermöglicht eine von Verirrungen freie Problemsicht. Nur von Bekenntnis zur "christlichen Freiheit" wird der "wahre göttliche Wert" des Menschen erkannt, kann der Gefangene als "christlicher Bruder" angenommen werden, "der durch Buße für seine Missetat vor Gott wieder zu ewiger Ehre und zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes gelangen kann"!·^. Daher widerspricht es der göttlichen Weltordnung, wenn die staatliche Rechtspflege darauf hinausläuft, den Delinquenten sozial zu isolieren, anstatt ihn mit "solchen sittlichen Bedingungen" zu umgeben, "die das Innerste des Menschen vor dem Ruin behüten können und wollen". Nur auf dieser Basis kann die Strafe vom "geweckten Gewissen" des Täters als das empfunden werden, was sie sein soll: "Vergeltung für die Missetat". Wird dem Inhaftierten die Möglichkeit zur Buße und zur Suche nach der "wahren göttlichen Freiheit" eröffnet, verliert er auch den "Fluch des Schreckens und der Abscheu, den ihm die Öffentlichkeit anheftet. Die Rückkehr in die Gesellschaft wird ihm auf diesem Wege als Zukunft eröffnet" 1 ·^, D a s bedeutet für Wichern aber nicht,
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daß der Strafbegriff durch "abgeschwächte Philanthropie oder Humanismus" abgemindert wird, denn nur in einer mit aller Strenge auferlegten Strafe kann sich die "Fülle göttlicher und menschlicher Barmherzigkeit" entfalten 1 3 9 . Die der christlichen Wahrheit verpflichtete Gefangenenpflege ist jedoch weit entfernt von Grausamkeit. Sie beruht vielmehr auf der ernsten Barmherzigkeit, "die dem Geiste Christi entstammt" 140 und im Engagement der christlichen Gemeinde für die Sache der Gefangenen konkretisiert wird. Nachdem Wichern die Grundstrukturen eines christlichen Strafverständnisses entfaltet hat, untersucht er im zweiten Vortrag die Entwicklung des Strafwesens unter der Leitfrage, ob es einer staatlichen Macht gelungen ist, die mit der Strafe verbundene "sittliche Aufgabe an den Gefangenen" zu lösen 1 4 1 . Einen Lösungsansatz findet Wichern in den Zuchthäusern der Niederlande, in denen die Gefangenen aus der Passivität herausgeführt wurden. Besuche aus der christlichen Gemeinde, Arbeit und Unterweisung aus Gottes Wort bringen sie in eine "gesunde, sittliche Aktivität", die sie anleitet, die "Gerechtigkeit ihrer Schuld- und Strafwürdigkeit" anzuerkennen und somit "zur Buße und sittlichen Umkehr" zu gelangen 1 4 ^. Der in diesem Modell initiierte Besserungsprozeß wird im pennsylvanischen Einzelhaftsystem für Wichern noch intensiviert, indem die "verderbliche Gemeinschaftshaft durch die Position einer sittlich untadeligen Gemeinschaft von Menschen" überwunden w i r d 1 4 3 . Diese schwere Aufgabe haben die Beamten, an die hohe Persönlichkeitsanforderungen gestellt werden, zu erfüllen: Sie müssen mit jedem Gefangenen Gesprächskontakte pflegen und ihm bei Arbeit und Unterricht aus christlicher Überzeugung Anstöße zur Selbstreflexion geben. Über persönliche Vorbilder kann der Verlust der Freiheit in der Einzelhaft den Inhaftierten in eine neue Freiheit vor Gott führen, werden ihm neue Perspektiven des Sittlichen eröffnet. Aufgrund seines Strafverständnisses, daß der gnädige göttliche Rechtswille sich in der weltlichen Gerechtigkeit realisiert, wendet sich Wichern gegen die von England ausgehende Betonung des Besserungszweckes zu Lasten der vergeltenden Strafausrichtung 1 4 4 . Wichern intendierte zwar auch das Ziel, den Inhaftierten zu bessern, aber "er verwahrte sich gegen jede philanthropische Mechanisierung" 14 ^. Die sittliche Erneuerung setzt nach Wichern eine Auseinandersetzung mit der Tat voraus, daher soll der Staat mit aller Härte der Sanktionen dem Inhaftierten die Folgen seines Fehlverhaltens spürbar werden lassen. Die gleichen Gedanken vertrat Wichern auch auf dem internationalen Wohltätigkeits- und Gefängniskongreß 1857 in Frankfurt/Main vor Strafrechtlern und Strafvollzugspraktikern. Mit starker Mehrheit sprach sich der Kongreß für die Einführung der Einzelhaft aus 14 ®.
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In Preußen "stand der eigentliche Kampf um die G e f ä n g n i s r e f o r m " 1 4 7 e r s t am Anfang seiner Eskalation. Wichern bemühte sich, Moabit zu einer Musteranstalt auszubauen, um mit Erfolgen·'-^ seinen Reformvorstellungen Nachdruck verleihen zu können. Eine weitere Kabinettsorder vom 1.6. 1875 betonte noch einmal die Berechtigung, im 'Rauhen Haus' Gefängnispersonal auszubilden. Doch sollte der Gefängnisdienst auch für Militäranwärter offenbleiben. Wichern erhob dagegen keinen Einspruch, da er nicht genügend Ausbildungskapazität zur Verfügung hatte. Zur Lösung des Personalproblems entwarf Wichern das "Votum betreffend die Gewinnung geeigneter Kräfte für den Strafanstaltsdienst". Er wandte sich darin gegen die weitere Anwendung des Raviczer Reglements, das den Aufsichtsdienst unter polizeilichen Aspekten definierte. Um der Order gerecht zu werden, ohne die eigenen Erwartungen an die Beamten aufzugeben, forderte e r , die Stellen der "Unterbeamten" nur mit "in sittlicher Beziehung vorzüglich begabten" und "zu ganz positiven Leistungen befähigten" Männern zu b e s e t z e n * ^ Das Prinzip der "Zivilversorgung" müsse als Einstellungskriterium fortfallen. Die Würdigkeit für den Dienst im Gefängnis dürfe nur nach eingehender Schulung zugesprochen werden. Eine hierzu notwendige spezielle Ausbildungsstätte könne nach dem Ausbildungsmodell des 'Rauhen Hauses' in Berlin errichtet werden. Als erste Resonanz auf das Votum verdoppelte das Innenministerium die finanzierten Ausbildungsplätze im 'Rauhen Haus' auf 48. Im Oktober 1857 erkrankte der König und mußte seinen Bruder Wilhelm die Regentschaft übertragen. Damit hatte Wichern seinen wichtigsten Verbündeten und Gönner verloren. Er befürchtete, nach dem Regierungswechsel nicht mehr die notwendige Unterstützung für seine Arbeit zu finden. Sehr bald traten, wie erwartet, die Gegner der Einzelhaft mit ihrer Kritik vor das Parlament. Die Juristen bemängelten, daß Wicherns Pläne die strafrechtlichen Bestimmungen umgingen. Verwaltungsbeamte opponierten gegen Wicherns Personalpolitik mit dem Argument, er wolle das Personal der Staatsaufsicht entziehen. In der Öffentlichkeit wurde die Meinung verbreitet, daß die Gefahr einer religiösen Überfrachtung der Anstalten bestehe, die die Gefangenen zu Heuchlern erziehe. Die Frage der Einzelhaft war nach dem Eintreten Wicherns in den Staatsdienst von einer Systemfrage zu einer politischen geworden. Die Diskussion in den Sitzungen des preußischen Landtages der Jahre 1858, 1861, 1862 wurde nicht nur um die Frage geführt, ob die Einzelhaft ein geeignetes Sanktionssystem sei, sondern wesentlicher darum, ob man einer als einseitig bezeichneten religiösen, mit angeblich politischer Reaktion verbundenen Gruppe maßgebenden Einfluß im Strafvollzug gewähren solle. Am 8.4.1858 kam während der Beratung des Etats des Innenministeriums in Wicherns Abwesenheit die Gefangenenfrage zur Debatte. Der 'freisinnige' Abgeordnete Dr.Wentzel vertrat die Ansicht, daß die Einzelhaft nur auf dem Gesetzeswege einzuführen und bis dahin abzulehnen sei. Er
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b e g r ü n d e t e seine A u s f ü h r u n g e n damit, daß die Einzelhaft eine S t r a f v e r s c h ä r f u n g bedeute und warnte zugleich vor der Gefahr, daß die Innere Mission sich mit ihren konfessionellen Grundsätzen des ganzen Gefängniswesens bemächtigen wolle. Mit U n t e r s t ü t z u n g von Westphalens und der konservativen Abgeordneten wurde der Antrag Dr.Wentzels abgelehnt. Weitere Angriffe gegen Wichern richtete der katholische Abgeordnete O s t e r r a t h . Er bemängelte die Höhe des Einkommens Wicherns sowie den Umstand, daß Wichern die Hälfte seiner Zeit zur Leitung des 'Rauhen Hauses' verwandte. Wieder war es dem Eingreifen von Westphalens zu v e r d a n k e n , daß Wicherns Gehalt als Etatposten beibehalten b l i e b 1 5 0 . Wegen der heraufziehenden Schwierigkeiten v e r s u c h t e von Westphalen in seinen letzten Amtstagen, die Stellung Wicherns weiter zu festigen, indem er die Anstellung der Brüder in Moabit bestätigte und eine Kommission zur D u r c h f ü h r u n g der Einzelhaft einsetzte, in der auch Wichern v e r t r e t e n war. Um seine Position noch einmal umfassend darzustellen, veröffentlichte Wichern auf Wunsch des Justizministers Simons u n d des neuen Innenministers von Schwerin am 22.8.1859 die "Denkschrift b e t r e f f e n d die Einzelhaftfrage und ihre D u r c h f ü h r u n g in P r e u ß e n " . In dieser "Apologie der Einzelhaft" 1 5 1 setzt sich Wichern eingehend mit den Angriffen seiner Gegner auseinander und weist sie z u r ü c k . So betont e r , daß die Einzelhaft keine S t r a f v e r s c h ä r f u n g , sondern eine selbständige Strafform darstelle. Pointiert wendet er sich gegen den Vorwurf der Überbewertung des Besserungszweckes. Die "Besserungstheorie" enthalte zwar "Wahrheit", müsse aber dem Sinn der Strafe als "Akt der Gerechtigkeit" u n t e r geordnet bleiben. Wenn sich Wichern hier von den Ansätzen F r y s und Fliedners zu distanzieren scheint, die der B e s s e r u n g Priorität einräumten, so v e r d e u t lichen seine folgenden A u s f ü h r u n g e n , daß er sich gegen die Theorie wendet, die Strafe gewinne ihren Sinn d a r i n , allein auf dem Wege der Isolation eine V e r ä n d e r u n g des Verhaltens erzwingen zu können. Wichern verurteilt diese Fehlinterpretation als eine "mechanische" Behandl u n g , die "der sittlichen Natur" des Menschen zuwiderläuft 1 5 2 . Daß er prinzipiell mit den Intentionen der genannten Reformer übereinstimmt, zeigt seine Feststellung, daß die Besserungstheorie darin ihre Berechtigung h a t , die Gefängnisverwaltung darauf hinzuweisen, "den ethischen Verhältnissen und Beziehungen des Strafgefangenen Rechnung zu t r a gen, ihm zur Wiedererlangung des persönlichen sittlichen Verlustes, den er d u r c h sein Verbrechen erlitten h a t , dienlich zu sein, ihm zur Heilung des sittlichen Schadens, aus dem sein Verbrechen h e r v o r g e g a n gen, zu helfen und ihn damit vor Rückfall zu bewahren" 1 5 ^. Diese Überlegung f ü h r t zu einer erneuten Kritik an der Gesellschaft, die die Rückfälligkeit "potenziert", weil die Gefängnisse "für so viele i h r e r Bewohner zu Pflegeanstalten der Verbrechen geworden sind" 1 5 ^.
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Die Denkschrift enthält keine neuen Gedanken. Wichern ist aber erstmals in der Lage, a u f g r u n d seiner Tätigkeit in Moabit eine Skala praktischer E r f a h r u n g e n vorzulegen, die sein Argument untermauern, daß die Einzelh a f t positive Einflüsse auf das Verhalten von mittelstrafigen E r s t t ä t e r n h a t . Er begründet damit die F o r d e r u n g , in jeder preußischen Provinz wenigstens ein Zellengefängnis zu e r r i c h t e n , um dem Anstieg der Kriminalitätsrate wehren zu können. Nachdem Wichern sich um die Neuordnung der Seelsorge in den Haftanstalten bemüht h a t t e , entwickelte er in einer Ministerialverfügung vom 3.7.1860 einen weit angelegten Plan des Unterrichts f ü r Gefangene. Er geht davon a u s , daß Kriminalität in der Regel aus Unbildung und sittlicher Verwahrlosung r e s u l t i e r t , daher bekommt die "Strafanstaltsschule" die Aufgabe, die "sittliche E r n e u e r u n g und Hebung" zu f ö r d e r n 155_ Wichtig ist nach Wichern eine intensive Zusammenarbeit von Lehrern und Geistlichen, damit der katechetische Unterricht eine w e i t e r f ü h r e n de Vertiefung des Elementarunterrichts leisten k a n n . Große Mühe verwendet Wichern bei der Edition des Berichtes über "die neue Strafanstalt spez. das Zellengefängnis (zu Moabit) in Berlin" (1861). Diese letzte ausführliche Dokumentation beinhaltet E r f a h r u n g e n mit der Einzelhaft in Moabit. Wicherns Möglichkeiten zur praktischen Reformarbeit werden immer mehr eingeengt, da die eskalierende politische Auseinandersetzung mit den Gegnern ihn zunehmend belastet. Nachdem ein renitenter Gefangener auf Befehl des 'Bruders' Kügler am 23.8.1859 in einer Arrestzelle erschossen worden w a r ^ 5 ^ erhob sich in der Presse und Öffentlichkeit eine Welle der Proteste gegen Wichern und seine Mitarbeiter. Als profilierte Gegner t r a t e n neben liberalen Politikern die Rechtsprofessoren Röder und Mittermaier h e r v o r . In s c h a r f e r Polemik griff auch der junge Berliner S t r a f r e c h t l e r von Holtzendorff in mehreren Broschüren die Brüder des 'Rauhen Hauses' a n . Die christliche Motivation der neuen Gefängnisbeamten gab den H a u p t a n g r i f f s p u n k t , von dem aus man Wicherns Einzelhaftreformen kritisch ablehnte. Von liberaler Seite wurden die Brüder als "Orden" c h a r a k t e r i s i e r t , den "Seelenfängerei" und "fanatische Bekehrungswut" motiviere Die Affäre Küglers lieferte den Gegnern den billigen Beweis f ü r ihre These, daß die B r ü d e r s c h a f t unfähig sei, die Einzelhaft zu tragen 15 ** Wesentlich f u n d i e r t e r und juristisch berechtigt waren die Bedenken gegen die unsichere rechtliche Grundlage der Reformen. Der Streit wurde um den § 11 des preußischen S t r a f gesetzbuches a u s g e t r a g e n , der in seiner Fassung vom 14.4.1851 lautete: "Die zu Zuchthausstrafen Verurteilten werden in einer Strafanstalt v e r wahrt und zu den in derselben eingeführten Arbeiten angehalten"159. Diese unscharf formulierte Bestimmung ließ den Begriff 'Verwahrung' o f f e n , da eine genaue Definition der Vollstreckung von Zuchthausstrafen fehlte. Daher hatte Wichern angenommen, die Einzelhaft in Ubereinstimmung mit dem König auf dem Verwaltungswege einführen zu können, um E r f a h r u n g e n f ü r eine mögliche Gesetzesänderung zu sammeln. Von-
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seiten der Strafrechtslehrer und liberaler Abgeordneter wurde dagegen betont, daß ein gravierender Eingriff in die Vollzugspraxis ohne Gesetzesbasis nicht legitim sei. Vom rechtlichen Standpunkt aus waren beide Auslegungen des § 11 gleich ungesichert. Doch Wichern befand sich in der schwierigeren Ausgangsposition, er mußte sich gegen eine Mehrheit verteidigen, ohne sich, wie früher, auf die Unterstützung des Königs berufen zu können, die ihm die Aktion im rechtsfreien Raum ermöglicht hatte. In den Jahren 1859/60 ging im Landtag die Diskussion weiter. Zur parlamentarischen Erörterung verfaßte Wichern auf Antrag des Innenministers eine "Denkschrift über die Einzelhaft" (1861) als Grundlage der weiteren Beratungen. Wichern stellt noch einmal seine bekannten Argumente dar. Auffällig allerdings ist an dieser Denkschrift, daß die christlich motivierte Argumentation stark zugunsten einer sehr pragmatisch orientierten zurückgenommen wird. Wichern reagiert indirekt auf die Angriffe, er wolle das Gefängniswesen religiös überfrachten. Die 62. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses beherrschte der Streit um die Auslegung des § 11. Wichern vertrat im Einvernehmen mit der Regierung die Meinung, daß eine gesetzliche Regelung nicht notwendig sei. Dagegen formulierte eine Majorität der Abgeordneten den Antrag zur Schaffung einer Gesetzesregelung. Wichern setzte sich in zwei Beiträg e n 1 ^ m it (j e n Angriffen gegen die Einzelhaftreform und seine Personalpolitik auseinander, ohne daß es ihm gelang, eine Klärung der Problemlage herbeizuführen. Gegen den Willen der Regierung konnte keine Entscheidung getroffen werden. Der Debatte folgten 1861/62 unter der Ägide von Holtzendorffs 1 6 1 neue Proteste der Liberalen gegen die Beschäftigung der Brüder im Staatsdienst, die von Presse und Vollzugspraktikern unterstützt wurden. Am 21.10.1862 kam es zu der für Wichern entscheidenden Sitzung. Es lag ein Kommissionsantrag vor, die Regierung aufzufordern, für die nächste Session ein Gesetz über die Vollstreckung der Zuchthausstrafe vorzulegen und den Ausbildungsvertrag mit dem 'Rauhen Haus' nicht mehr zu verlängern 1 ®^. Um dem Widerstand gegen die Einzelhaft die Basis zu entziehen, rückt die Regierung von der Position Wicherns ab, der sich gezwungen sieht, eine Erklärung im Namen des Innenministers von Jagow abzugeben, daß ein Gesetzesentwurf noch in der laufenden Session vorgelegt werden könne. Noch gravierender war es für Wichern, daß auch der zweite Teil des Antrages mehrheitlich angenommen wurde, obwohl er in einer langen Rede1®^ versucht hatte, die Vorurteile gegen seine Personalpolitik auszuräumen. Wichern versuchte noch einmal vergebens, den auslaufenden Vertrag im Januar 1864 in reduzierter Form erneuern zu lassen. Er mußte neben der politischen Niederlage nun auch den für ihn vernichtenden Stoß gegen die Grundlage seiner Reformbestrebungen, die Revision der Beamtenausbildung hinnehmen. Die Folge der zermürbenden Aus-
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einandersetzungen zeigte sich bald: Wichern zog sich aus der Gefängnisarbeit zurück, resignierte und quittierte 1874 aus Gesundheitsgründen den Staatsdienst. Die Tatsache, daß die Aufhebung des Ausbildungsvertrages das Gesamtkonzept Wichernscher Personalpolitik scheitern lassen konnte, weist es als den organisatorisch schwächsten Punkt seiner Reformbestrebungen aus. Wichern "betrachtete offenbar das Gebiet des Gefängnisbeamtenwesens als seine Domäne, in die er sich nicht von anderer Seite hineinreden lassen w o l l t e " ! ^ Deswegen lehnte er auch eine Kooperation mit anderen potentiellen Ausbildungsstätten, z.B. Fliedners Kaiserswerther Anstalten, ab. Er konzentrierte sich auf das 'Rauhe Haus', dessen Kapazitäten der neuen Anforderung nicht gewachsen waren. So liegt die Vermutung nahe, daß Wicherns "groß angelegter Plan . . . über kurz oder lang an der Unzulänglichkeit der eigenen Kräfte hätte scheitern m ü s s e n " ! · ^ auch wenn die Gelder nicht gestrichen worden wären. Als Beweis dafür mag dienen, daß im Jahre 1862 nur ca. 7,5% der Gefängnisbeamten in Preußen aus dem 'Rauhen Haus' kamen. Mit einigem Vorbehalt ist auch der Vorwurf der Gegner aufzunehmen, Wichern habe den Brüdern eine elitäre Stellung im Strafvollzug zugeordnet und die Aus- und Fortbildung des alten Personalstamms v e r nachlässigt. Die Kritik hat ihre berechtigte Basis, da Wichern sich sehr abwertend über die Bildungsfähigkeit und in seinem Sinne "zu fordernde G e s i n n u n g " 1 6 6 d e r Militäranwärter ausgesprochen und wenig Verständnis für ihre Probleme gezeigt hat. Die zu einlinige Personalpolitik Wicherns hat den Erfolg seines zentralen Reformansatzes verhindert, ein für Menschenführung qualifiziertes Anstaltspersonal auszubilden, das die nur zum Wachdienst befähigten Militäranwärter ablösen sollte. Daß Wichern als Ausbildungsideal einen christlich motivierten und seelsorgerlich ambitionierten Vollzugsbeamten anstrebte, der die Gefangenen persönlich weiterführen konnte, ist zwar von den Gegner als Missionseifer abqualifiziert worden, aber aus Wicherns Grundansatz nur folgerichtig. Wichern hat nie den Anspruch erhoben, weltanschaulich neutral zu sein. Hieran allein entzündete sich die Kritik der Liberalen, die allerdings ausblendete, daß Wichern als Erster Mittel und Wege gesucht hat, die unzureichende Personallage zu verbessern. Über dem weltanschaulichen Streit, der in Relation zur Personalfrage sekundär erscheint, wurden die Versuche einer vollzugsgerechten Ausbildung in den Hintergrund gedrängt. Erst Carl Krohne, der 1883 die Leitung von Moabit übernahm, griff die Personalreform wieder auf, ohne allerdings Wicherns kirchlichen und seelsorgerlichen Begründungszusammenhang zu übernehmen. Krohne stützte sich auf vollzugswissenschaftliche und praxisorientierte Argumente für eine vollzugsorientierte Beamtenausbildungl^.
- 50 Bei der Reflexion der Ansätze Wicherns zur Lösung des Personalproblems ist zu bedenken, daß er weder auf theoretische Modelle, noch auf praktische Erfahrungen zurückgreifen konnte. Einen weiteren Faktor, der seine Reformen behinderte, bildete Wicherns Unvermögen, als Staatsbeamter eine politische Majorität für seine Ziele zu gewinnen. Die Aktivitäten im Bereich der inneren Mission sicherten Wichern zwar einen Rückhalt in der Bevölkerung und der Kirche, aber dieses Potential konnte er nur solange einsetzen, wie er die Protektion des Königs und des Innenministers von Westphalen besaß. In der Zeit der Schwäche des Staates vor dem Revolutionsjahr 1848 war es Wichern möglich, sich auf dem Gebiet des Gefängniswesens zu engagieren, auf dem die Regierung völlig untätig war. Die auf eine grundlegende Erneuerung auf christlicher Basis ausgerichtete Zielprojektion der Inneren Mission legitimierte Wichern als einen Mann der Kirche, starken Einfluß auf die staatliche Sphäre des Vollzugswesens zu nehmen. Der desolate Zustand des Gefängniswesens war für ihn ein Paradigma für die Verfallenheit des Staates, der sich seiner Aufgabe innerhalb der göttlichen Weltordnung verweigert hatte. Die neue Ära Wilhelms I. war dadurch gekennzeichnet, den kirchlichen Einfluß im Staatswesen zu reduzieren 1 ^ 8 . Die nach dem Thronwechsel einsetzende staatliche Konsolidierung führte zugleich zu einer Stärkung der bürgerlichen Strukturen der Gesellschaft. Das liberale Bürgertum wendete sich von der praktisch orientierten Theologie Wichernscher Prägung ab. So kamen politische und theologische Faktoren zusammen, die die Arbeit der Inneren Mission ins gesellschaftliche Abseits drängten. Staatliche Organe bemühten sich, wie im Strafvollzug, die von der Inneren Mission aufgegriffenen sozialpolitischen Defizite in eigener Regie weiter zu bearbeiten, während in der Öffentlichkeit das Unverständnis gegenüber der Motivation und der Aufgabenstellung der Inneren Mission anwuchs. Das von Wichern vertretene Staatsverständnis, das auf der lutherischen ZweiReiche-Lehre basierte, kollidierte zwangsläufig mit dem erstarrten säkularen Bewußtsein des Parlaments. So sind die Angriffe gegen die Intentionen Wicherns aus dem Geist des sich ausbreitenden Liberalismus zu erklären und richteten sich primär gegen Wichern als Repräsentanten der Kirche im Staatsdienst und nur sekundär gegen die strukturellen Veränderungen des Haftsystems. Beweis für diese These ist, daß die Hauptgegner Wicherns nur wenige Jahre später für die Einführung der Einzelhaft plädierten. Die politische und theologische neue Orientierung bewirkte die überraschende Entwicklung, daß der Hauptinitiator der Gefängnisreform in Preußen selbst zur Ursache für deren Verzögerung geworden ist. Wenn auch der christlich-soziale Ansatz Wicherns zu seiner Zeit umstritten war, so hat doch Wichern mit seiner breiten publizistischen und praktischen Tätigkeit die Diskussion der Gefängnisreform konstruktiv weitergeführt und die Grundlagen und Modelle erarbeitet,
- 51 die in modifizierter Form den Strafvollzug noch heute prägen. Das gilt besonders für die Einzelhaft, die in ihrer konsequenten Gestaltung als Isolierhaft aus heutiger Sicht als unmenschlich erscheint, deren Grundüberlegung aber, daß die unkontrollierte Gemeinschaftshaft wesentlich zur Erhöhung der Rückfälligkeits- und Kriminalitätsrate beiträgt, von der Gefängniswissenschaft im nachhinein bestätigt wurde. Die Fähigkeit, übernommene angelsächsische Reformmodelle inhaltlich und formal so zu überarbeiten, daß sie den speziellen Anforderungen der deutschen Strafrechtspflege und deren strafrechtsdogmatischen Grundlagen entsprachen, und gleichzeitig durch bauliche und organisatorische Bemühungen deren Einführung vorzubereiten, war die Voraussetzung für Wicherns nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung des deutschen Gefängniswesens.
1.7 Die Weiterentwicklung des Gefängniswesens und der Straftheorie bis 1918 Nach Wicherns Rücktritt verlief die Entwicklung dahin, vorrangig Jugendliche und Gelegenheitstäter in Einzelzellen zu inhaftieren. Die Tendenz zur Einzelhaft verstärkte sich zwar in den 80er Jahren, aber die fehlende Gesetzesgrundlage verhinderte ihre systematische Durchsetzung, so daß in Preußen fast alle Formen des Strafvollzuges nebeneinander existierten. Mit der Einführung des Reichsstrafgesetzbuches im Jahre 1871 war der Versuch verbunden, gleiche Grundbedingungen und Formen für die Strafvollstreckung in Deutschland zu schaffen. Das Gesetzbuch markiert zwar einen Fortschritt, da die Vollzugsgestaltung die Aufgabe erhielt, die Strafe in Zuchthäusern, Gefängnissen und Haftlokalen zu v o l l z i e h e n ® ^ aber inhaltliche Regelung der Freiheitsstrafe wurde nicht definiert. Zu diesem Zweck sollte ein Reichsstrafvollzugsgesetz geschaffen werden, das allerdings nicht über das Entwurfsstadium hinauskam und aufgrund des bayrischen Widerstandes 1876 endgültig scheiterte 1 7 *). Im Oktober 1897 gelang im Bundesrat die Einigung auf einige gemeinsame "Grundsätze" 1 7 1 über den Strafvollzug. Die §§ 11 bis 13 empfehlen die Anwendung der Einzelhaft bei Zuchthaus- und Gefängnisstrafen "vorzugsweise" für gesunde Ersttäter im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die eine Strafe unter drei Monaten zu verbüßen haben. Interessant wegen der Anlehnung an Wicherns Forderungen ist der § 14: "Jeder Gefangene wird täglich mehrmals von Beamten der Anstalt sowie monatlich mindestens einmal von dem Vorstand und dem Arzt besucht". Für die Gemeinschaftshaft galt die Bestimmung, daß die Gefangenen wenigstens nachts zu isolieren seien. 1
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Die Auswirkungen der Grundsätze auf die Vollzugspraxis der Einzelstaaten waren gering, da sie keine Rechtsverbindlichkeit besaßen und keine Bestimmungen über die Aufgaben und Ziele des Vollzuges enthielt e n . Die preußische Gefängnisordnung vom Dezember 1898 beinhaltet den ersten Versuch, den Vollzug der Freiheitsstrafe inhaltlich zu normieren. § 6 schreibt v o r , daß die Strafen "unter tunlichster Förderung des sittlichen Wohles des Gefangenen und u n t e r Vorbereitung desselben zu einem geordneten Leben nach der Rückkehr in die Freiheit vollstreckt werden"·'' . Es hat also fast 150 Jahre g e d a u e r t , bis die Grundgedanken der Gefängnisreform , die Howard und Fry entwickelt und Fliedner, Julius und Wichern in Deutschland aufgegriffen h a t t e n , sich als Zielformulierung in einer preußischen Verwaltungsvorschrift wiederfinden. Die intendierte Neuorientierung des Vollzugswesens hatte sich bis Ende des 19. J a h r h u n d e r t s nicht realisieren lassen. Aber die kontinuierliche Diskussion des Themas hatte zumindest bewirkt, daß die unmenschlichen Lebensverhältnisse in den Haftanstalten in der Regel überwunden waren. Intensive Bemühungen um bauliche V e r b e s s e r u n g e n , Gesundheitspflege und menschenwürdigere Behandlung hatten bewirkt, daß die Tendenz, die Haft zur Leibesstrafe umzuwerten, als überholt angesehen werden k a n n . Forciert wurde die V e r b e s s e r u n g der Ausbildungs- und Schulsituation in den Anstalten. Für Arbeit und Beschäftigung wurde gesorgt. Neben dem Aufsichtspersonal wurden vermehrt Werkmeister angestellt, die die Arbeit organisierten. Interessant ist im Verlauf der Vollzugsgeschichte, daß die Forderung nach einem b e s s e r n d e n Vollzug u n t e r einer modifizierten Argumentation von einem der s c h ä r f s t e n Gegner Wicherns a u f g e g r i f f e n wird. Franz von Holtzendorff geht davon a u s , daß die ursprüngliche Reaktion einer Gemeinschaft auf einen Rechtsbruch Rache war, die zugleich potentielle Delinquenten abschrecken sollte. Damit waren die Grundlagen einer Gerechtigkeit stheorie gelegt, die die Strafrechtswissenschaft in der absoluten und generalpräventiven Straftheorie e n t f a l t e t e t · 7 ^ Der Strafvollzug kann - so von Holtzendorff - auf keine der möglichen Reaktionen auf Delinquenz reduziert werden. Dem Gesetzgeber stellt sich vielmehr die Aufgabe, f ü r "den Strafvollzug die Theorie der Gerechtigkeit (Vergeltung), Prävention und B e s s e r u n g in . . . Strafmittel zu ü b e r s e t z e n , welche vom Standpunkt der E r f a h r u n g aus f ü r die einzelnen Gruppen von Verbrechen oder Verbrechern als regelmäßig wirksame betrachtet werden m ü s s e n " 1 7 ^ . In dieser Forderung findet sich der von Julius in die Vollzugswissenschaft e i n g e f ü h r t e methodische Ansatz wieder, die Kriterien der Vollzugsgestaltung auch a u f g r u n d der empirischen Aufarbeitung des Phänomens Kriminalität zu erheben und nicht n u r von rechtsphilosophisch deduzierten Sätzen auszugehen. Von daher wendet sich von Holtzendorff gegen die traditionelle mecha-
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nisch berechnende Anwendung des absoluten Vergeltungsprinzips. Er faßt den Gerechtigkeitsgedanken völlig n e u , indem er den "Grundsatz der Individualisierung", die Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit, in der S t r a f g e s t a l t u n g als "wahre Erfüllung" der Gerechtigkeit darstellt Neben Vergeltung und Abschreckung wird der Besserungszweck als "Nebenzweck" a n e r k a n n t , der in speziellen Fällen, wie bei jugendlichen S t r a f t ä t e r n , sogar zum "Hauptzweck"werden k a n n . Einen Fortschritt auf dem Gebiet der empirisch orientierten Gefängniswissenschaft bietet das "Lehrbuch der Gefängniskunde" aus dem Jahre 1889, in dem Krohne die Lehrsätze der Strafrechtswissenschaft u n t e r dem Aspekt i h r e r Anwendbarkeit auf einen zweckgerichteten Strafvollzug u n t e r s u c h t . Er setzt an bei einer Analyse der Kriminalitätsursachen: Der Egoismus, der unberechenbare freie Wille einer Einzelperson, die z e r r ü t t e t e n sozialen Bindungen oder finanziellen Situationen sowie der Versuch, die staatliche Macht mit s u b tilen Methoden zu u n t e r l a u f e n , sind als kriminalitätsauslösende Faktoren anzusehen. Nach diesen Vorüberlegungen entwickelt Krohne seinen Ansatz, Strafe als Gesellschaftsschutz zu i n t e r p r e t i e r e n . Da er am Postulat des freien Willens innerhalb der sozialen Interaktion festhält, ist es konsequent, daß der Gesetzesbrecher mit dem Entzug der Freiheit b e s t r a f t werden soll, die er mißbraucht h a t . Die Freiheitsstrafe beinhaltet neben dem sanktionierenden Zweck auch die Verpflichtung, "zum rechten Gebrauch der Freiheit innerhalb der staatlichen O r d n u n g " ! ? 6 anzuleiten. Krohne verbindet den Vergeltungscharakter mit einer finalen A u s r i c h t u n g , die er analog zu den Zielen mittelalterlicher Klosterzucht als "Reue, Buße, sittliche B e s s e r u n g " ! 7 ? beschreibt. Die intendierte spezialpräventive Wirkung kann nach Krohne mit der modernen Form der Freiheitsstrafe der Einzelhaft erreicht werden, die von Arbeit, Seelsorge und Unterricht begleitet, den Willen zur Besserung beim Inhaftierten nicht u n t e r d r ü c k t , sondern f ö r d e r t . In Verbindung mit umfassenden erzieherischen Begleitmaßnahmen entspricht die Einzelhaft "dem sittlichen Grunde und dem staatlichen Zwecke der Strafe am vollkommensten"! 7 ^. In seinem Amt als Gefängnisdirektor bemüht sich der ehemalige Gefängn i s p f a r r e r Krohne um eine E i n f ü h r u n g der Einzelhaft und nimmt die Ansätze Wicherns in Moabit wieder a u f . Allerdings fordert er nicht die rigorose Isolation, sondern hält eine mildere Form mit Aufsicht und T r e n nung außerhalb der Zellen f ü r ausreichend. Krohnes Ansatz, daß die Staatsgewalt a u f g r u n d eines Rechtsbruchs gezwungen i s t , gegen den Täter einzuschreiten, um dessen weitere Delinquenz zu v e r h i n d e r n , f ü h r t über das S t r a f v e r s t ä n d n i s der 'klassischen' Strafrechtsschule hinaus, obwohl er mit dem Postulat des freien Willens deren kriminalätiologischen Ansatz v e r t r i t t . Die von der klassischen S t r a f r e c h t s l e h r e v e r t r e t e n e Wesensbestimmung der Strafe als gerechte Vergeltung ("malum passionis, quod infligitur p r o p t e r malum actionis " ) 1 7 9 hatte maßgeblich das Reichsstrafgesetzbuch
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beeinflußt. Schon einige Jahre nach dessen E i n f ü h r u n g zeigte sich, daß es den Erwartungen nicht e n t s p r a c h . Die seit 1882 bestehende Kriminalstatistik lieferte den Beweis d a f ü r , daß das generalpräventive Tatvergeltungsprinzip die Kriminalitätsrate nicht zu senken vermochte. Die I n e f f e k tivität der auf logisch juristischen Konstrukten b e r u h e n d e n zeitgenössischen S t r a f r e c h t s p f l e g e motivierte Franz von Liszt zu seiner F o r d e r u n g nach einer "rationellen Umgestaltung der S t r a f g e s e t z g e b u n g " 1 8 ^ , (ji e i m sogenannten 'Marburger Programm' von 1882 ihren Ausdruck f a n d . Von Liszt geht davon a u s , daß die gerechte Strafe eine ambivalente Maßnahme darstellt, die a u f g r u n d des Rechtsschutzes notwendig, aber d u r c h den Zweckgedanken bestimmt wird, "Rechtsgüterschutz d u r c h Rechtsg ü t e r v e r l e t z u n g " zu l e i s t e n 1 8 1 , Um den Zwangscharakter der Strafe zu wahren. Die zwingenden Maßnahmen der Strafe können entweder indirekt zur psychischen Beeinflussung der Motive und kriminellen Neigungen des T ä t e r s ausgerichtet werden, oder direkt als Gewalt seine zeitliche oder andauernde E n t f e r n u n g aus der Gesellschaft bewirken. Daraus ergeben sich die drei unmittelbaren Zwecke der S t r a f e : "Besserung, Abschrekk u n g , Unschädlichmachung", die niemals gleichzeitig eingesetzt werden können. Der Strafzweck ist n u r sinnvoll zu erzielen, wenn er an den Bed ü r f n i s s e n und Möglichkeiten der Täterpersönlichkeit orientiert wird. Daraus ergibt sich folgende Zuordnung: " 1 . B e s s e r u n g der b e s s e r u n g s f ä h i g e n und b e s s e r u n g s b e d ü r f t i g e n Verbrecher; 2. Abschreckung der nicht b e s s e r u n g s b e d ü r f t i g e n V e r b r e c h e r ; 3. Unschädlichmachung der nicht b e s s e r u n g s f ä h i g e n V e r b r e c h e r " 1 8 ^ . Wegweisend ist von Liszts Ansatz des zweckgebundenen S t r a f e n s , den Täter als Orientierungspunkt zu definieren: Von ihm wird das S t r a f v e r fahren provoziert und auf ihn wirkt der Strafvollzug ein, der u n t e r der Einbeziehung der Einzelhaft dem Täter angemessen differenziert werden muß. Im Gegensatz zu der seit der Mitte des 19.Jahrhunderts h e f t i g diskutierten kriminal-anthropologischen Schule, die im Gefolge des Turiner Psychiaters Lombroso die Lehre vom geborenen Verbrecher zur Erklärung von Straffälligkeit v e r t r a t 1 8 ^ , s a h V on Liszt in den sozialen Verhältnissen und deren sozioökonomischen Grundlagen die tieferen Ursachen des Verb r e c h e n s . Die Eigenart jedes Rechtsbrechers verweise auf das "soziale Milieu", in dem er aufgewachsen und das ihn mehr geprägt hat als seine angeborenen Anlagen. Kriminalität ist f ü r von Liszt eine sozial-pathologische Erscheinung, auf die zweckmäßig doppelgleisig mit strafrechtlichen und sozialpolitischen Maßnahmen reagiert werden muß. Während der Sozialpolitik die Aufgabe der Reduktion der gesellschaftsbedingten Ursachen von Kriminalität zufällt, intendiert die Strafrechtspflege "die Bekämpfung des Verbrechens d u r c h individualisierende Einwirkung auf den V e r b r e c h e r " 1 8 ^ . Der Ansatz von Liszts, den spezialpräventiv a u s gerichteten Strafvollzug als ultima ratio der Sozialpolitik zu i n t e r p r e t i e r e n , schaffte die Grundlagen der "soziologischen R i c h t u n g " 1 8 5 der modernen Strafrechtswissenschaft und ist als konsequente Weiterentwick-
- 55 lung der kriminologischen Intentionen der Aufklärungszeit zu erklären. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die deutsche Strafrechtswissenschaft von dem scharfen Gegensatz der 'klassischen' und der 'soziologischen' Schule beherrscht, der sich in der Diskussion um das Postulat des freien Willens manifestierte und verbunden wurde mit der Frage nach dem Verhältnis von General- und Spezialprävention. Als konstruktives Ergebnis erbrachte der 'Schulenstreit' die richtungweisende Erkenntnis, "daß jedes Verbrechen das Produkt der aus der Eigenart des Verbrechers und der diesen umgebenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse" s e i 1 8 6 » Daraus resultierte die Aufgabenstellung an den Strafvollzug, die zum Schutze der Gesellschaft notwendige sichere Verwahrung mit Maßnahmen zu begleiten, die den Rechtsbrecher befähigen, mit den Regeln der Gesellschaft umzugehen und zu leben, ohne erneut gegen sie zu verstoßen. Im Rückblick auf die Geschichte des Strafvollzuges zeigt sich, daß der Gedanke der Besserung im Mittelpunkt aller Reformvorstellungen gestanden hat, zugleich aber je nach vertretenem Ansatz sehr differenziert interpretiert worden ist. So ist bis zum Ersten Weltkrieg die Forderung nach Besserung in den juristisch gefärbten Begriff der Reintegration in die Rechtsgemeinschaft umformuliert worden. Damit wurde auch formal die christlich-religiöse Komponente ausgeklammert, die die ersten Reformer in England und Deutschland zu ihren Ansätzen motiviert hatte. Und doch läßt sich feststellen, daß die Forderungen Howards bis Wicherns sich dahingehend erfüllt haben, daß der Mensch mit seinen Problemen, die zu Delinquenz und Inhaftierung geführt haben, in den Vorderung der Überlegungen um die Erneuerung des Strafvollzuges getreten i s t . Der auf der Rache beruhende Vergeltungscharakter der reinen Verwahrung und Isolation ist der Aufgabenstellung gewichen, dem Straftäter, soweit er nicht unter die geringe Zahl der hoffnungslos delinquenten gezählt werden muß, die Gelegenheit zu bieten, sich über die eigene Situation Rechenschaft zu geben und Ansätze zu entwickeln, die ein Leben in gesellschaftlicher Konformität ermöglichen. Denn nur über das Einwirken auf den Inhaftierten im Sinne seiner Besserung, verbunden mit einer wirkungsvollen sozialpolitischen Kriminalitätsvorsorge - darauf haben Wichern und von Liszt ausdrücklich hingewiesen - , kann der Grund aller Reformbestrebungen, das Postulat der Sicherung der Rechtsgemeinschaft, in konkrete Modelle umgesetzt werden.
2. Die Begründung und Entwicklung der Gefangenenseelsorge bis in die Phase der Institutionalisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert
2.1 Vorstufen zur Gefangenenseelsorge in der Alten Kirche und in der Zeit bis zur Reformation "Seelsorge u n t e r Gefangenen gibt es bei den Christen bereits seit den Tagen der Urgemeinde." Dieser Befund ergibt sich nach Voigts "aus der Haltung Jesu gegenüber seinen 'geringsten B r ü d e r n ' (Matth 25, 35-40) und aus der Tatsache, daß Apostel als Gefangene u n t e r Gefangenen leben mußten"-*-. Es finden sich zwar in den Briefen des Neuen Testaments 2 und in der Apostelgeschichte^ einige Textstellen, die d a r auf hinweisen, daß die e r s t e n Christen sich um die gefangenen Gemeindeglieder gekümmert haben, doch das vorliegende Material reicht nicht a u s , um von einer Seelsorgetätigkeit an Gefangenen in der Urchristenheit sprechen zu können^. So erscheint es historisch unangemessen, wenn Voigts den Philemonbrief als Beispiel einer "seelsorgerlichen Resozialisierungshilfe"^ des Paulus an Onesimus i n t e r p r e t i e r t . Der neutestamentliche Textbefund läßt sich adäquat eher im Sinne einer Liebestätigkeit oder Fürsorge f ü r Detinierte auslegen, die sich aus dem Gebot der Nächstenliebe ableitete®. Mit der wachsenden Zahl von Gemeinden v e r größerte sich das Problem der B e t r e u u n g der aus Glaubensgründen von der römischen Staatsgewalt inhaftierten Christen^. Erste Ansätze einer s t r u k t u r i e r t e n Fürsorge werden e r k e n n b a r : Die Gemeindeglieder werden ermahnt, f ü r die gefangenen Glaubensbrüder zu sorgen und sie zu besuchen. Nach der E i n f ü h r u n g des Diakonenamtes übernahmen Frauen und Männer die Aufgabe, Liebesgaben oder Geld zu sammeln, um Gemeindegliedern die Gefangenschaft zu erleichtern oder sie freizukaufen^. "So erklärt es Ambrosius f ü r die höchste Aufgabe der christlichen Freigiebigkeit, Gefangene loszukaufen, . . . weil es nützlicher ist, . . . dem Herrn Seelen zu erhalten, als Gold aufzubewahren. Einen ersten Versuch, die freie karitative Tätigkeit f ü r Gefangene zu institutionalisieren, unternahm das Konzil von Nicäa (325). Es bestellte im 80.Kanon "procuratores pauperum", die den A u f t r a g erhielten, in ihren Orten die Gefangenen zu besuchen, sich f ü r die Freilassung der u n r e c h t mäßig Verhafteten zu verwenden, "für die Speisung der Gefangenen und
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ihre sonstigen Bedürfnisse zu sorgen, ihre Bürgen zu werden, selbst die V e r b r e e h e r , welche die Entlassung nicht v e r d i e n t e n , mit Kleidung, Nahr u n g und allen Vertheidigungsmitteln vor Gericht zu versehen und all' diese Angelegenheiten vor die Gemeinde zu b r i n g e n , damit diese freiwillige Beiträge f ü r die Gefangenen sammle"·^. Vergleichbare Bestimmungen stellte auch die Synode von Clermont (549) im 20.Kanon auf: "Die Gefangenen sollen vom Archidiakon oder Probst der Kirche alle Sonntage besucht werden, damit ihre Not nach dem Gebote Gottes durch Barmherzigkeit erleichtert w e r d e " H . Dieser k u r z e Abriß über die e r s t e n fünf J a h r h u n d e r t e der christlich motivierten Sorge f ü r Gefangene läßt Ansätze zu einer Intensivierung der Gefangenenpflege e r k e n n e n . Eine organisierte Seelsorge an Gefangenen oder gar Strafgefangenen - ist jedoch nicht nachzuweisen. Im Mittelpunkt des karitativen Engagements stand der 'geringste B r u d e r ' , dessen "Not" 1 ^ dem Gebot Gottes gemäß aus Barmherzigkeit erleichtert wurde und den man v e r s o r g t e und b e s u c h t e . Einzelne Beschlüsse haben zwar auf Synoden und Konzilien die Sorge um Gefangene als Aufgabe der Kirche deklar i e r t , ohne jedoch die Gefangenenfürsorge organisatorisch zu festigen. Im Mittelalter werden diese Ansätze sogar wieder v e r s c h ü t t e t . Die Gefangenendiakonie bleibt der Einzelinitiative weniger Personen und Organisationen ü b e r l a s s e n ^ . Die vom Vergeltungsgedanken und der Leibesstrafe bestimmte Öffentlichkeit und Strafrechtspflege sah keine Veranlassung, B e s t r a f t e zu betreuen oder ihr Los zu erleichtern 14. Auch die Kirche zeigte kein I n t e r e s s e , Seelsorge und Gottesdienste f ü r Gefangene einzur i c h t e n . Erst f ü r das 14. und 15. J a h r h u n d e r t sind an einigen Orten spezielle Gottesdienstformen f ü r Delinquenten belegt. In Lübeck erbauten Dominikaner 1377 mit Erlaubnis des Rates eine Kapelle, in der zum Tode verurteilte Verbrecher die Beichte ablegen und das Sakrament empfangen konnten. Der F r a n k f u r t e r Rat erlaubte 1467 die Austeilung des Abendmahls an Gefangene, die danach v e r l a n g t e n . Und in N ü r n b e r g wurden "zwei 'Lochkapläne' angestellt, die an drei der Hinrichtung vorhergehenden Tagen den Delinquenten im 'Lochgefängnis' besuchen, mit ihm b e t e n , ihn zur Reue und zum Sittenbekenntnis sowie zum Empfange des hl.Abendmahles vorbereiten m u ß t e n " 1 5 . Die mittelalterliche, kirchlich gelenkte Seelsorge an Inhaftierten b e g r ü n det eine Entwicklung, die bis ins 18.Jahrhundert zu verfolgen ist: Die Gefangenenseelsorge wird primär "nur als Seelsorge an den zum Tode Verurteilten" vollzogen. Dieser f ü r das ausklingende Mittelalter typische Befund erklärt sich aus der Dominanz der peinlichen Leibesstrafen. Da die Haft n u r als vorbereitende und sichernde Maßnahme bis zur Hinr i c h t u n g vollzogen wurde, kam die Ausübung der Seelsorge n u r in der Zwischenzeit bis zur Vollstreckung in B e t r a c h t . Sie war als Sorge um das Seelenheil auf den Tod des Delinquenten ausgerichtet. Die seelsorgerlichen Bekehrungsbemühungen unterscheiden sich grundsätzlich von der karitativen Gefangenenfürsorge der Alten Kirche. Nicht mehr der lei-
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dende Glaubensbruder, sondern der ausgestoßene Sünder steht im Mitt e l p u n k t . Sündenbekenntnis, Absolution und Abendmahl sind drei bestimmende Elemente des Seelsorgevollzuges. Trotz einiger regional begrenzter Ausnahmen ist in der Regel bis zum Beginn der Neuzeit keine geordnete Seelsorgetätigkeit in Haftlokalen zu konstatieren.
2.2 Luthers Stellung zur Kriminalität und Gefangenenfrage Eine weiterführende Entwicklung in der Gefangenenseelsorgepraxis, die die Überlegungen von Nicäa aktualisierte·*·^, setzt in Deutschland im 16. J a h r h u n d e r t ein. Erste Impulse gehen von Luthers S t r a f v e r s t ä n d n i s und A u s f ü h r u n g e n zur Gefangenenbehandlung a u s . Sie werden von den Kirchenordnungen aufgenommen und in Bestimmungen zur Gefangenenseelsorge gefaßt. Von Martin Luther wird das Wort ü b e r l i e f e r t , man müsse den Haß der Strafe in Liebe zur Strafe v e r w a n d e l n ^ . Um dieses Programm in der Seelsorge zu konkretisieren, geht er von der Frage aus: "Wie soll denn ein P f a r r h e r r oder Seelsorger die Uebelthäter, welche das Leben v e r wirkt h a b e n , trösten?"·*^ Luther setzt bei seinen Überlegungen ein auf Vergeltung und Abschreckung ausgerichtetes S t r a f v e r s t ä n d n i s v o r a u s : Die Todesstrafe geschieht "den Anderen zum Exempel und zur Besser u n g " ^ . Darin spiegelt sich Luthers Überzeugung wider, daß die weltliche Strafe in Übereinstimmung mit der göttlichen Gerechtigkeit vollzogen wird. Demgemäß soll der Geistliche den verurteilten Übeltäter folgendermaßen belehren: "Lieber Mensch, du bist des Todes schuldig, erstlich vor Gott, darum daß du in Sünden empfangen und geboren, und ein sündiger Mensch b i s t , wie alle Adamskinder, auf welche die Sünde der Welt geerbt i s t , Rom 5; darnach bist du des Todes schuldig vor der Welt, daß du diese Uebelthat begangen h a s t " ^ . Weiter soll der Seelsorger auf den Verurteilten einwirken, seinen Tod in Geduld zu t r a g e n , um Gottes Gesetz und der Welt Genüge zu t u n und Sühne f ü r die Tat zu leisten, denn in der Vollstreckung der Leibesstrafe schlägt sich Gottes Gericht und Strafe nieder. Aufgrund dieses S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s hat der Geistliche seinen A u f t r a g e r f ü l l t , wenn der Delinquent sich vor seinem Tode als vor Gott schuldig bekennt und sich der Strafe im Gehorsam vor Gott u n t e r w i r f t . Die Liebe zur Strafe äußert sich also f ü r Luther im willigen Annehmen des Todesurteils. Um dieses Ziel zu e r r r e i c h e n , werden die Inhaftierten unterwiesen, mit ihrem Sündersein vor Gott konfrontiert und a u f g e f o r d e r t , dem gottgewollten Recht Sühne zu leisten. Aber Luther warnt die mit der Gefangenenseelsorge befaßten Geistlichen vor einer falschen Interpretation des Todes eines V e r b r e c h e r s , wie sie der katholischen22 Praxis zugrundelag. Mit der willigen Übernahme der Hinrichtung könne zwar dem Recht entsprochen werden, die Sünde vor
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Gott aber bleibe b e s t e h e n . "Denn der Tod kann die Sünde nicht wegnehmen, weil er selbst verflucht und eben die ewige Strafe Gottes Zornes i s t . Darum müssen wir hier einen Andern h a b e n , der f ü r uns einen unschuldigen, reinen Tod gelitten, und Gott damit bezahlet h a t , daß solcher Zorn und Strafe von uns genommen würde. Der T r o s t , der dem Delinquenten zugesprochen werden k a n n , b e r u h t nicht auf der Tatsache, daß seine Sünde durch den Tod gesühnt ist, sondern auf der R e c h t f e r t i g u n g s b o t s c h a f t , die dem reuigen Sünder v e r kündet wird. Auf Christi Heilstat sollen die Geistlichen die auf die Exekution wartenden Gefangenen verweisen. Der Glaube an die versöhnende Kraft des Todes Christi soll dem Delinquenten Trost geben und ihn geduldig seinen Tod erwarten lassen. Die Ehre bei Gott, die Vergebung der Sünden ist ihm zugesichert. Luthers Überlegungen zur Seelsorge an Todeskandidaten gehen von dem zentralen Bekenntnis a u s , daß das Kreuzesgeschehen allein zur "Seligkeit vor Gott" f ü h r t A u c h den gröbsten Verbrechern ist Vergebung von Gott zugesichert, wenn sie sich im Glauben zu ihm bekennen, wozu die Gefangenenseelsorge beitragen muß. Lut h e r verweist auf das Vorbild des Schächers am Kreuz, der seine Schuld anerkannte und von Jesus Vergebung zugesprochen bekam 25. Nicht 'billige Gnade' möchte Luther als Trost v e r k ü n d e t wissen. Er stellt den S t r a f täter in die Verantwortung vor Gottes Gesetz, das ihn als Sünder ausweist, der gegen die Gesetze der Obrigkeit und die Gebote Gottes verstoßen h a t . Das muß der Delinquent e r k e n n e n , bevor ihm aus dem Evangelium Trost gespendet werden k a n n . So bilden Gesetzesverkündigung und Evangeliumszuspruch die Brennpunkte der lutherischen Konzeption. Sündenerkenntnis und Heils zusage sollen die Strafe f ü r den Verurteilten sinnvoll werden lassen und ihn zugleich in seinem Leiden t r ö s t e n a u f g r u n d der gnädigen Vergebung Gottes, die größer i s t , als die von ihm begangenen Verstöße gegen die göttliche Weltordnung.
2.3 Ansätze zu einer institutionalisierten Seelsorge an Delinquenten in den Kirchenordnungen Für den Zeitraum von 1528 (Braunschweig) bis 1618 (Osnabrück) finden sich in den Kirchenordnungen verschiedener Städte-^ Bestimmungen über die Seelsorge an verurteilten Gesetzesbrechern. Die Abschnitte sind eingeordnet zwischen den Kapiteln über Beichte und Besuch von Kranken, und oft folgen Begräbnisordnungen. Sie werden damit den 'ceremonien' zugerechnet, "deren kirchenrechtliche Regelung im agendarischen Teil der KOO e r f o l g t " ^ . Die Kirchenordnungen weisen eine deutliche Tendenz zur Ausweitung auf, die knappen A u s f ü h r u n g e n über die Behandlung von Missetätern werden nach 1550 mit theologischen Begründungen und Reflexionen des pastoralen Handelns erweitert. Unter diesem Aspekt
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lassen sich die Ordnungen für die systematisch historische Darstellung in drei Gruppen unterteilen: 1. Braunschweig (1528), Hamburg (1529), Goslar (1531), Wolfenbüttel (1543), Osnabrück (1543), dazu der Bericht aus Breslau (1557), diese Ordnungen sind rein praxisorientiert. 2. In den Ordnungen von Kurpfalz (1563 und 1601), Schwarzburg (1574) und Thorn (1575) sind die relevanten Passagen wesentlich erweitert, doch das Interesse am praktischen Vollzug der Seelsorge dominiert. 3. Theoretische Einzelüberlegungen und breiter angelegte Reflexionen charakterisieren die Kirchenordnungen von Kurpfalz (1556), Hessen (1566), Wolfenbüttel (1569), Lüneburg (1575), Hoya (1581), Verden (1606) und Osnabrück (1618). Die behandelten Kapitel enthalten Bestimmungen über die Behandlung von " g e f a n g e n e n " ^ , "misdederen"^^ oder "misthetern" 30 , "bussfertigen Sündern" 3 ^. Es ergibt sich daher die Frage, auf welche Gruppe von Rechtsbrechern sie abzielen. Die Hessische Ordnung von 1566 zählt zwar auch die, "so da unschüldig umb des bekantnus des glaubens willen gebunden und gefangen werden", zu ihrer Zielgruppe, doch lassen die anderen Kirchenordnungen deutlich werden, daß sie vorrangig auf Kriminalverbrecher abgestellt sind, die "schollen utgevoret werden" 3 ^ und "die man richten will""*"*. Die Seelsorgekapitel gelten also nicht Langzeitinhaftierten, sondern der speziellen Gruppe derer, deren Hinrichtung nahe bevorsteht. Eine Ausnahme bietet der Bericht über die Handhabung der Kirchenordnung zu Breslau (1557), der zwischen - allerdings nicht näher bestimmten - "armen gefangenen, so in eines erbarn rads gefengnis ligen" und "denjenigen, so zum gericht ausgefuret werden" 3 4 unterscheidet. Die spezielle Zielrichtung der Ausführungen erklärt sich aus dem Strafverständnis, das den Kirchenordnungen z u g r u n d e l i e g t . Die Strafe wird als gottgewollt und gottbegründet interpretiert: "Gottes zorn" hat aufgrund seiner "sünden" 3 ® den Gefangenen getroffen. Seine "misshandlung" hat "gott seinen herren, die weltlich oberkeit und seinen nechsten beleidigt und erzörnet" 3 7 . Der Kriminelle hat "wider Gott und weltliche oberkeit gesündiget" und das wiegt besonders schwer, "da er gewußt, Gott habe es verbotten, da er manchmal gesehen an andern, so dergleichen wider Gott und oberkeit getan, was für ein ende mit ihnen genommen hat" 3 8 . Die weltliche Obrigkeit bestraft also - im Sinne von Luthers Ausführungen - im Auftrage Gottes die Verstöße gegen die weltlichen Gesetze, in denen sich die göttliche Weltordnung niederschlägt. Daher kann die Strafe auch als "väterliche Züchtigung Gottes" 3 9 definiert werden. Auf den Verstoß gegen die gottgewollte weltliche Ordnung wird nach absolutem Strafverständnis reagiert: "was du verdienet hat, das widerfehrt d i r " 4 0 . Der Vergeltungsgedanke dominiert. Die Hinrichtung beinhaltet die von Gott auferlegte "verdiente straffe ihrer s ü n d e " 4 1 . Daneben wird die möglichst harte Todesstrafe auch generalpräventiv ein-
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gesetzt als "ein öffentlich e x e m p e l " ^ f ü r andere Menschen. Das S t r a f ziel Abschreckung wird mehrfach formuliert. Die O r d n u n g von Schwarzb u r g (1574) betont demgemäß, daß die öffentliche Hinrichtung das Ziel habe, daß "die jugent und jederman erinnert und gewarnt werde, von misshandlunge abzusehen und f u r sünden sich zu hüten"43. Da das S t r a f v e r s t ä n d n i s der Reformationszeit noch stark von den mittelalterlichen Vollzugsvorstellungen geprägt wird, ist es zu e r k l ä r e n , daß in den Kirchenordnungen die Todesstrafe als abschreckende und vergeltende Kriminalstrafe anerkannt wird. Gleichsam als e r s t e Stufe der Sanktionen wird bei geringfügigen Verstößen die K i r c h e n z u c h t a n g e w e n d e t . Greifen deren Sanktionen n i c h t , so hat der Delinquent in den meisten Fällen bei Rückfälligkeit mit der Todesstrafe zu r e c h n e n . Aufgrund der theologischen und juristischen Aspekte des S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s "gebüret" es der christlichen Obrigkeit, "nicht allein die uebeltheter am leibe zu s t r a f f e n , sondern auch darnach zu t r a c h t e n , das die arme seele erettet und also b e y d e , leib und seel, dem lieben Gott zum ewigen leben erhalten w e r d e n " 4 5 . Die Verpflichtung zur Seelsorge beschränkt sich allerdings auf die Kriminalgefangenen, Schuldgefangene werden in der Regel nicht von "Kirchendienern" b e t r e u t . Alle vorliegenden Kirchenordnungen f o r d e r n die Geistlichen a u f , die Gefangenen a u f z u s u c h e n , um Seelsorge zu ü b e n , sei es, daß ihnen das Vorhandensein von Inhaftierten angezeigt wurde, oder daß sie sich von sich aus ins Haftlokal begaben. Der Besuch bei den Missetätern soll aber nicht e r s t am Tage der Hinrichtung stattfinden - darauf weisen fast alle Ordnungen hin - , sondern mindestens "einen dach edder mehr dage thovorne, ehr se gerichtet werden"^®. Waren mehrere Geistliche am Gerichtsorte anwesend, so scheinen sie diese Aufgabe abwechselnd übernommen zu h a b e n d . 2
Eine ausführliche Schilderung des B e s u c h s v e r f a h r e n s bietet die Lüneb u r g e r O r d n u n g des J a h r e s 1575^8; Wenn dem "Superintendenten" die bevorstehende Hinrichtung eines Delinquenten gemeldet wird, so r u f t er "das ganze ministerium" zusammen, "das sie derowegen die Ordnung machen wollen, wehr mit ihme hinausgehen und welche stunde ihne ein jeglicher t r o s t e s halben besuchen soll". Dieser Einteilung entsprechend "gehet einer nach dem andern zu ihme ins gefenknus und redet eine stunde oder anderthalb mit ihme zu tröste aus Gottes worte". Nach jedem Besuch erhält der Gefangene eine halbe Stunde Zeit, um das zu ü b e r d e n k e n , was ihm gesagt worden ist. Danach erscheint der nächste Geistliche. Die Geistlichen wiederum verständigen sich untereinand e r , "was ehr zugenommen, oder worinne es ihme noch mangelt, damit ehr nach aller n o t t u r f t mit heilsahmer lehre und lebendichmachendem tröste desto b e s s e r vorsehen werden möge". Der Seelsorgekontakt wird in der Regel im Haftlokal aufgenommen. Nur wenige Ordnungen benennen d a f ü r einen besonderen "reinen, gelegenen ort"49. Die älteste der vorliegenden Kirchenordnungen, die Braunschweiger (1528), sieht das Ziel der Bemühungen der "prestere" um die auf die
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Hinrichtung wartenden "misdeder" d a r i n , "dat se mögen kamen to der erkanntnisse des evangelii"^ 0 . Ihre Aufgabe erfüllten die Geistlichen mit dem Mittel des Gesprächs und der Unterweisung. Die Seelsorgetätigkeit wird b e g r ü n d e t als "eyn werk der barmherticheit, dat Christus wert erkennen tome jungesten dage". Der Verfasser der O r d n u n g - Bugenhagen - geht dabei nicht vom Pastoranden a u s , vielmehr wird dem Pastoren Christi gnädiges Urteil im Weltgericht (Matth 25,36) zugesichert. Kommt der Delinquent d u r c h Gottes Gnade zum Bekenntnis des wahren Glaubens, so soll der Pastor ihm das "sacramente" ein, zwei Tage vor der Hinrichtung nicht v e r w e h r e n . Zeigt sich der Pastorand trotz aller Bemühungen nicht bekehrungswillig, so sei er Gott befohlen. Einen w e i t e r f ü h r e n d e n , theologisch bedeutsamen Aspekt bietet die Kirchenordnung der Stadt Osnabrück (1543), indem sie den Seelsorgevollzug differenziert: Die "mißdeder" werden von den "predicanten" " . . . u p dat flitigste mit Godes worde underwisen", das beinhaltete zwei Aspekte: "se v o r e r s t dorch dat gesette bringen to erkenntnisse e r e r s ü n d e n , darna sie t r ö s t e n met dem evangelio, dat se dorch Christum hebben einen gnädigen Gott und vergevinge e r e r s ü n d e n , so sie dat leven"52. i n dieser Konzeption wird der Seelsorge, die zur Erkenntnis des Evangeliums anleiten soll, die Gesetzesbelehrung vorgeschaltet, um den Täter zum Sündenbekenntnis zu bewegen. Beide Schritte sind b e wußt nacheinander geordnet. Erst wenn das Ziel 'Sündenbekenntnis' e r reicht i s t , darf der Geistliche dem auf den Tod wartenden Missetäter den Trost der Sündenvergebung zusprechen. Zum Abschluß des Seelsorgeverf a h r e n s soll das Abendmahl gewährt werden. Als Erweiterung f ü h r t die Wolfenbütteler Ordnung Absolution und Beichte vor dem Abendmahl ein. Daneben ist die biblische B e g r ü n d u n g der Seelsorge aus dem Handeln Christi am Kreuz (Lk 23,42) beachtenswert. Das Wolfenbütteler Seelsorgekapitel enthält folgende Handlungsaufträge: 1.Besuch; 2.Unterricht u n g durch das Gesetz ( S ü n d e n e r k e n n t n i s ) ; 3.Zuspruch des Evangeliums ( T r o s t ) ; 4.Beichte; 5.Absolution; 6.Abendmahl; 7.biblische Beg ü n d u n g des seelsorgerlichen Handelns. Der Bericht über die in Breslau bestehende Ordnung zählt d a r ü b e r hinaus zu den seelsorgerlichen Bemühungen auch die Predigt: "Man helt auch alle freitags einen sermon den armen g e f a n g e n e n . . . Dieser Brauch ist in keiner anderen Kirchenordnung erwähnt. Die bisher herausgearbeiteten inhaltlichen Elemente werden in den Kirchenordnungen der 2.Gruppe weiter entfaltet: Die Kirchendiener sollen die Inhaftierten t r ö s t e n , weil sie "nit weniger trosts bedörfen dann die k r a n k e n " · ^ . Mit dieser B e g r ü n d u n g stellt die Kirchenordnung der Kurpfalz (1563) die Trostfunktion des Besuches als wichtigsten Aspekt h e r a u s . Die Hinführung zur Sündenerkenntnis verliert gegenüber einer katechetischen Zielsetzung an Schärfe. Da dem Pastoranden die Grundtatsachen des Glaubens unbekannt s i n d , er daher auch das Maß seiner Schuld nicht ermessen k a n n , muß er zuerst einmal d a r ü b e r belehrt wer-
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d e n . Danach sollen Bibelstellen, die Gnade und Vergebung Gottes v e r heißen, vorgetragen und erklärt werden. Deutlich ist die Intention, Gesetz und Evangelium nicht n u r vorzuhalten, sondern auch v e r s t e h b a r zu machen. Die Konzeption ist insofern bemerkenswert, als zum e r s t e n Mal Ansätze eines 'Religionsunterrichtes' angedeutet werden. Die völlig entgegengesetzte Position v e r t r i t t die Kirchenordnung von Schwarzburg (1574). Hier wird Nachdruck darauf gelegt, daß der Delinquent "mit gottes wort vleissig ersucht und ermahnet" wird, "seine misshandlung zu erkennen", durch die er nicht nur Gottes Zorn und der Obrigkeit Strafe auf sich gezogen habe, "sondern vielmehr zu seiner seelen ewigen tod und Verdammnis . . . habe u r s a c h g e g e b e n " ^ . Die Androhung der ewigen Verdammnis, die die weltliche Strafe ü b e r h ö h t , soll den Täter dazu b r i n g e n , sich b u ß f e r t i g in Gottes Willen zu f ü g e n , den die Obrigkeit im Urteil formuliert h a t . Dem Ziel der geduldigen Unt e r w e r f u n g unter die Strafe werden die seelsorgerlichen Bemühungen subsummiert: Die Seelsorge bekommt die Funktion eines beruhigenden Faktors innerhalb der Vollzugsvorbereitung. Zwei bisher noch nicht angesprochene Aufgabenbereiche stellt die Thorner Kirchenordnung (1575) den Kirchendienern: Den Delinquenten an die "gerichtsstatt beim tode" zu begleiten und sich zu Beginn der seelsorgerlichen Bemühungen über den psychischen Zustand des I n h a f t i e r ten zu informieren. Von dem Auftreten und der Haltung des Missetäters wird das seelsorgerliche Verfahren abhängig gemacht. Nicht jedem Pastoranden werden Gesetz und Evangelium zugleich zugesprochen. Den "wilden und wüsten gesellen" soll "mit scharfen gesetzpredigten" begegnet werden, um sie zur Buße zu bringen, "den erschrockenen und bet r ü b t e n mit starkem t r ö s t e . . . " 5 6. Als Ergebnis der bisherigen Untersuchungen läßt sich feststellen, daß die ausführlichere Darstellung in den jüngeren Kirchenordnungen auf der Erweiterung der Elemente Gesetzes- und Sündenerkenntnis und Trostzuspruch aus dem Evangelium b e r u h t . Hier deuten sich die beiden Brennpunkte in den Seelsorgekonzeptionen der Kirchenordnungen an. Innerhalb der 3.Gruppe bieten die Kapitel über die Gefangenen in den Kirchenordnungen von Kurpfalz (1556) und Hessen (1566) die breiteste Entfaltung des Problems 'Gesetz und Evangelium'. Die Detinierten werden vom Geistlichen g e f r a g t , "warumb sie da gefangen ligen", um zu sehen, "wie es umb ihr hertz s t e h e " ^ . Dementsprechend wird entschieden, ob sie des Trostes oder der Gesetzeseinschärfung b e d ü r f t i g sind. Die Methodik des Seelsorgeverfahrens wird u n t e r den Überschriften "vom schrecken" und "vom trösten" entfaltet. Zuerst müssen dem "armen" die Verstöße gegen die zehn Gebote vorgehalten werden, denn er ist vor Gott ein S ü n d e r , ob er die Gebote gekannt hat oder nicht. Das "schrecken" ist darauf ausgerichtet, dem Missetäter klarzumachen, daß der Gesetzesbruch nicht n u r ein Verstoß gegen weltliche Gesetze, sondern eine Sünde
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darstellt, die Gottes Zorn bewirkt. Dieser Ansatz wird von der Sorge um das Seelenheil g e t r a g e n . Sündenerkenntnis und Buße sollen v e r h i n d e r n , daß der Kriminelle nach dem weltlichen Gericht auch dem Gericht Gottes v e r f ä l l t , das keine Umkehr mehr ermöglicht. In diesem Kontext wird zum e r s t e n Mal in den Kirchenordnungen theologisch b e g r ü n d e t , warum das Hauptgewicht auf das Sündenbekenntnis vor der Hinrichtung gelegt wird. Um den Weg zum ewigen Leben zu sichern, darf der Geistliche auch bei Unbußfertigen mit den B e k e h r u n g s v e r s u c h e n nicht aufgeb e n . Aber mehr, als Gottes Vergebungsbereitschaft immer wieder zu v e r k ü n d e n , auch wenn der Missetäter sie ablehnt, kann der Geistliche nicht leisten. Es bleibt den Pastoranden ü b e r l a s s e n , ob sie Einsicht zeigen wollen. Bereuen sie, so d ü r f e n sie auf zweierlei Weise T r o s t ^ e r f a h r e n : Der "trost deß gewissens" sichert dem v e r ä n g s t i g t e n Gefangenen Gnade und Vergebung zu, die schon darin e r k e n n b a r i s t , daß er ins Gefängnis eingeliefert, zur Buße gebracht und zum rechten Sterben unterwiesen wurde. Gott hätte ihn auch "ob frischer that" in "sünde . . . e r w ü r g e n , den halß abfallen oder sonst umbbringen lassen" können. Da Gott aber die ewige Seligkeit schenken möchte, will er dem reuigen Sünder v e r g e b e n . Der Trost gipfelt demgemäß im Zuspruch der Heilstat Christi, der die Sünden des Delinquenten "getragen und d a f ü r bezahlet habe", um zu ermöglichen, daß dieser "ein kind Gottes in ewigkeit bleiben" k a n n . Die Heilszusage, die mit dem Abendmahl bekräftigt wird, soll dem zum Tode Verurteilten Trost "wider die schandt und den todt" geben, da der zeitliche Tod als Übergang zum ewigen Leben seinen Schrecken verloren h a t . Aus diesem Grund sollte der Delinquent die Hinrichtung in Geduld erwart e n , weil "ein Christenglauben und christlich bekanntnuß" ihn "vor Gott höher zieret, dann solche weltliche schmach f ü r der weit immer mehr schenken kann". Im weiteren Verlauf des Seelsorgeverfahrens wird der Verurteilte b e l e h r t , daß es eine Ehre f ü r ihn i s t , mit dem Tod der "Gottes Ordnung", der gegenüber er ungehorsam gewesen i s t , Gehorsam leisten zu können. Daher soll er gegenüber allen Verzeihung ü b e n , die ihn angezeigt oder verurteilt h a b e n , denn es war Gottes Wille, den das Gericht mit der Verurteilung a u s g e f ü h r t h a t . Weigert sich der Delinquent, zu vergeben und hegt Zorn gegenüber seinen Richtern, so soll der Geistliche ihm das Sakrament verweigern. Die Kirchenordnung Wolfenbüttels (1569) und im Anschluß daran die der Grafschaft Hoya (1581) stellen den praktischen Vollzug der Seelsorge auf "drey hauptstück" ab. Die e r s t e n beiden Phasen unterscheiden sich in ihrem Inhalt nicht von den bisher u n t e r s u c h t e n Gesetz- und EvangeliumsS t r u k t u r e n . Interesse gewinnt das dritte "hauptstück": Es "sollen die prediger darauf sehen, das die armen leute vleissig vermanet werden, das sie sich mit christlicher gedult, demuth und gehorsam in die straff . . . ergeben sollen"59. In vergleichbarer Weise wie Luther weist die Wolfenbütteler Ordnung darauf hin, daß der Trost nicht darin bestehen d a r f , den Delinquenten - "wie im bapsttumb" - den Tod als Genugtuung f ü r die Sünde zu i n t e r p r e t i e r e n . Die Sündenvergebung resultiert allein aus dem Tode
- 65 Christi am Kreuz. Für die Delinquenten bedeutet der Tod "eine verdiente straffe ihrer sünde, ihnen von Gott auferlegt". Eine weitere Spitze gegen die katholische Praxis, die in keiner anderen Kirchenordnung auftritt, beinhaltet die Einleitung: Dem "bapsttumb" wird vorgeworfen, die Gefangenen weder mit Absolution noch durch das Abendmahl getröstet und so von der christlichen Gemeinschaft getrennt zu haben^O. Gleichsam als Gegenmodell wurden die Prediger beauftragt, den Trostzuspruch auch auf dem Richtplatz weiterzuführen. Die Aufgabe des Seelsorgers, aus dem Evangelium Vergebung zuzusprechen, betont die Ordnung des Stiftes Verden. Schon die begründende Einleitung setzt Akzente: "dieweil kein sünde so groß und schwer, die dem bußfertigen nicht könnte vergeben werden, auch keine büß und bekehrung zu langsam oder zu spate (Luc 23, vers 43), wenn sie nun noch zu diesem leben, auch am letzten end, von grund des herzens geschiehet, derhalben sollen ihnen die prediger solche arme gefangene und zum tode verurteilete leut sonderlich und fürnehmlich befohlen sein"61. Aufgrund dieser Vorüberlegung wird die Einwirkung auf den Sünder mit "gesetz und straffpredigt zu herzlicher und schmerzlicher reu und leid über seine begangne sünde" nur kurz in einem Absatz abgehandelt. Über drei Abschnitte dagegen erstreckt sich konsequent die Anweisung, Vergebung und Gnade zuzusprechen. Um dem Delinquenten die zentralen Glaubensaussagen einsichtig zu machen, soll er aus dem Katechismus examiniert und mit Gottes Wort belehrt werden. Die Unterweisung geht vom "sündopfer" Christi aus, dessen Relevanz für das Seelenheil verdeutlicht werden soll. Darüber hinaus wird auf den vergebenden Zuspruch Jesu gegenüber dem Schacher am Kreuz verwiesen, mit dem sich Christus als der rechte "seelenarzt" gezeigt hat. Die Ordnung ist von einem katechetischen Interesse bestimmt, die Rechtfertigungsbotschaft so nahe zu bringen, daß sie der Delinquent verinnerlichen und aus ihr Trost gewinnen kann. In der Einleitung der Lüneburger Ordnung (1575) wird explizit das Amt des Seelsorgers definiert: "Und der sehelsorger ambt erfordert, das sie sich jederzeit aufs allergetreulichste darnach bearbeiten sollen, wie sie viele sehelen retten und dem Herrn zubringen mugen". Von diesem Amtsverständnis her wird um die Bekehrung jedes Einzelnen "mit ungespartem vleisse gearbeitet und gestritten"62. Die Person des Verurteilten steht im Mittelpunkt der methodischen Überlegungen. Daher bezieht die Lüneburger als einzige Kirchenordnung den Pastoranden aktiv mit ins Seelsorgegeschehen ein: Der Geistliche "redet . . . mit ihme zu tröste aus Gottes worte, betet auch mit ihme umb einen wahren, vesten glauben"^. Spezifisch für die Lüneburger Ordnung ist auch, daß der Pastorand sich aus den Geistlichen, die ihn besuchen, denjenigen aussuchen darf, dem er beichten und von dem er Absolution und Sakrament empfangen möchte. Die Anweisungen der Ordnung orientieren sich an den Bedürfnissen der Detinierten, auf die hin die seelsorgerliche Methodik entwickelt wurde
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2 . 3 . 1 Zusammenfassung Die Untersuchung der letzten Gruppe von Kirchenordnungen hat die Vermutung verifiziert, daß Gesetz und Evangelium die zentralen Aspekte der Seelsorge an den den Tod erwartenden Delinquenten geworden sind. Während die Gesetzesvermahnung schon in den älteren Ordnungen darauf a u s gerichtet war, den Verurteilten zur Sündenerkenntnis zu f ü h r e n , Buße und Reue zu wecken sowie ihn davon zu ü b e r z e u g e n , daß seine Strafe gottgewollt und daher gerecht i s t , zeigte die Entfaltung der Evangeliumsv e r k ü n d i g u n g verschiedene Variationen. Die inhaltliche Ausweitung zeigt sich schon formal in der Entwicklung der Abschnitte über den T r o s t . Die Gnade Gottes, die dem Sünder die Möglichkeit der Buße während der Haft e r ö f f n e t ; das Sühneopfer Christi, das dem reuigen Sünder Gottes Vergeb u n g erwirkt hat und der Trost in Schande und Qual des Todes d u r c h die Zusicherung des ewigen Lebens bilden die Themen, in die der Evangeliums Zuspruch differenziert wurde. Unterschiedlich sind die Gewichte, die die Ordnungen auf Gesetz und Evangelium legen. In den älteren Ordnungen stehen beide gleichwertig nebeneinander. Bei den jüngeren - Schwarzburg (1574) und Pfalz (1601) wird die Sündenerkenntnis b e t o n t , während die Ordnungen der Kurpfalz (1563) und besonders Lüneburgs (1575) das Gewicht auf den tröstenden Charakter der Seelsorge legen. Die Kirchenordnungen der Kurpfalz (1556), Wolfenbüttels (1569) und Thorns (1575) setzen die Möglichkeit v o r a u s , daß nicht alle Inhaftierten zur Erkenntnis i h r e r Sünden gebracht werden müssen, sondern n u r die uneinsichtigen und verstockt e n . Die b u ß f e r t i g e n e r f a h r e n ohne vorherige Gesetzesbelehrung den Trost aus dem Evangelium. Die Sorge um die 'salus aeterna' der Gefangenen motiviert die Seelsorge aus Gesetz und Evangelium. Es soll v e r h i n d e r t werden, daß der S t r a f fällige nach dem Tode vor Gottes Gericht gestellt und f ü r seine Taten erneut verurteilt wird. Nur dem S ü n d e r , der e r n s t h a f t b e r e u t , wird die Vergebung im Gericht Gottes zugesichert. Der Begründungszusammenhang wird verständlich auf dem Boden d e r von Luther b e g r ü n d e t e n theologischen Konzeption der göttlichen Gerechtigkeit, die stellvertretend von der weltlichen Obrigkeit vollzogen wird. Der vor dem Gesetz Schuldige steht zugleich auch als Sünder vor Gott. Die Strafe kann zwar dem weltlichen Recht Genüge t u n , aber Gottes Vergebung folgt erst der Buße des S ü n d e r s , der den Verstoß gegen Gottes Willen b e r e u t . Einen anderen Ansatz, der sich in den Kirchenordnungen Braunschweigs (1528) und Goslars (1531)widerspiegelt, hat Bugenhagen v e r t r e t e n : Er stellt die Seelsorge an den Todeskandidaten "ganz und ohne Vorbehalt u n t e r das Evangelium". Sein Ziel ist allein, "daß der Verurteilte 'to der erkanntnisse des evangelii' kommt"®^. Bugenhagens Konzeption konnte sich nicht gegenüber den von Luthers Gedanken getragenen Ordnungen b e h a u p t e n . Den beiden Zentralthemen Gesetz und Evangelium werden im
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Laufe der Entwicklung die anderen inhaltlichen Komponenten beigeordnet. Das informative Gespräch zu Beginn entscheidet, ob der Verurteilte schon des Trostes würdig ist oder erst zur Buße gebracht werden muß. Die Beichte bildet den Abschluß der Gesetzesvermahnung. Die Absolution leitet über zum T r o s t . Das Sakrament sichert die Vergebung Gottes zu. Das Seelsorgeverfahren endet mit dem Zuspruch des Evangeliums am Richtplatz. Zeigt sich der Pastorand selbst hier noch u n b u ß f e r t i g , so wird er dem Zorn Gottes und der ewigen Verdammnis ü b e r a n t w o r t e t . Formal lassen sich folgende Strukturelemente der Seelsorge an zum Tode Verurteilten e r h e b e n , die in den Kirchenordnungen - wenn auch in v e r schiedener Reihenfolge und Ausführlichkeit - enthalten sind: 1. der Besuch d u r c h Geistliche 2. das informative Gespräch zu Beginn 3. die Gesetzesbelehrung a . Sündenerkenntnis b . Buße, Reue und Bekehrung c. Einsicht in die gottbegründete Strafe 4. der Evangeliumszuspruch a . Trost in Leiden und Strafe b . Gottes Gnade in der Strafe c. Sündenvergebung a u f g r u n d des Sühnopfers Christi d . Aufforderung zum geduldigen Tragen der Strafe 5. die Beichte 6. die Absolution 7. das Sakrament (Abendmahl) 8. die A u f f o r d e r u n g an Gefangene, zu vergeben 9. die Behandlung der Unbußfertigen 10. das Geleit auf dem letzten Gang Das dominierende theologische Argument f ü r den seelsorgerlichen Einsatz besteht in der Zuwendung Jesu zum Schächer am Kreuz: "Christus vorsmadede den scheker nicht"66. Aber auch f ü r den Verurteilten gewinnt Lk 23, 43 Vorbildcharakter. Am Beispiel des bußfertigen Schächers kann er e r kennen, daß "keine sünde so groß und schwer, die den bußfertigen nicht möge vergeben w e r d e n " ^ . Die Hessische O r d n u n g (1566) argumentiert ekklesiologisch mit 2.Tim 1, 16f und Hebr 13,3, daß es "ein gutes christliches werk" sei, "das Gott von uns haben wolle", die Gefangenen zu besuchen und ihnen "handreichungen zur leibesnotturft" zu geben sowie sie mit Trost zu v e r s o r g e n ^ . Denn die Gefangenen sind "auch desselbigen leibs g l i e d e r " 6 9 . Die bei Matth 25,36. 39. 43f überlieferten Worte des kommenden Weltenrichters zieht die Ordnung von Osnabrück (1618) als biblische B e g r ü n d u n g h e r a n . Im gleichen Sinne - vom Endgericht h e r , in dem die Sorge um die Gefangenen gelohnt wird - argumentiert auch Bugenhagen in der Braunschweiger Kirchenordnung von 1528.
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Der Bezug auf das Spektrum alt- und neutestamentlicher Schriftstellen ist aus der Intention zu e r k l ä r e n , die seelsorgerlichen Pflichten als gottgewollt auszuweisen. Den Geistlichen wird damit die Verantwortung f ü r das Seelenheil der zum Tode Verurteilten ü b e r g e b e n . Ihnen obliegt e s , den Willen Gottes zur Vergebung den Verurteilten nahezubringen. Methodisch wird diese Aufgabe allerdings kaum entfaltet. Das Seelsorgeverfahr e n intendiert die Bekehrung des S t r a f t ä t e r s d u r c h das Medium einer monologischen Konfrontation mit biblischen Texten. Weil die seelsorgerlichen Aktivitäten die Rettung vor ewiger Verdammnis beinhalten, berücksichtigen die meisten Kirchenordnungen die persönlichen Probleme des v e r u r teilten Menschen vor seiner Hinrichtung nicht. Dieser wird als Objekt der Seelsorge, als Seele, die zu t r ö s t e n und um deren Heil zu kämpfen i s t , relevant. Was die Thorner O r d n u n g mit der Formulierung, die Geistlichen sollen in "gebührlicher weise"^ 0 auf die Seelenzustände der Gefangenen eingehen, ansatzweise ermöglicht, wird einzig in der Lüneburger O r d n u n g von 1575 auf breiterer Basis realisiert: Diese bietet dem Geistlichen eine begrenzte Entscheidungsfreiheit in der Gestaltung des Seelsorgevollzuges im Blick auf die Person des Pastoranden. Die Seelsorger handeln im A u f t r a g der Kirche, sie sind weder f ü r das Seelsorgeamt an Verurteilten freigestellt, noch werden sie vom T r ä g e r des Haftlokals besoldet. Sie übernehmen ihre Aufgabe, sobald ein Täter verurteilt i s t . Ein spezielles Seelsorgeamt f ü r den Strafvollzug hat sich nicht herausgebildet. Gottesdienste oder Religionsunterricht wurden in der Regel nicht eingerichtet, da die Sorge um die Verwahrten n u r auf die kurze Zeit zwischen Urteil und Vollstreckung beschränkt war. Ansätze zur katechetischen Unterweisung, um eine Grundlage zur Seelsorge an religiös ungebildeten Inhaftierten zu legen, sind in drei Ordnungen angedeutet. Die Funktion des Geistlichen wird nicht explizit definiert, läßt sich aber aus seinem A u f t r a g , zu t r ö s t e n und zu Geduld zu mahnen, erschließen. Seine Tätigkeit bedeutete innerhalb des Vollzugsablaufs einen b e r u h i g e n den Faktor; denn ein Verurteilter, der von der Rechtmäßigkeit seiner Strafe überzeugt und mit dem Ausblick auf ein besseres Jenseits über irdische Pein hinweggetröstet worden i s t , wird der Exekution ohne größere Auflehnung entgegengegangen sein. Auch die theologische Begründ u n g des weltlichen Strafens d ü r f t e in der Praxis dazu g e f ü h r t haben, daß der Seelsorger als Interpret der obrigkeitlichen Strafgerechtigkeit a u f t r a t , der seine Funktion darin erfüllte, den Sinn des Strafleidens zu formulieren. Die A u s f ü h r u n g e n Luthers und die relevanten Passagen der Kirchenordnungen verdeutlichen, daß nach der Reformation die Betreuung von zum Tode verurteilten Gefangenen in den Verantwortungsbereich der Kirche aufgenommen und kontinuierlich entwickelt worden i s t . Die Seelsorgebestimmungen bedeuten einen "Fortschritt gegenüber der Behandlung der
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Gefangenen im Mittelalter" . Wenn sich auch einzelne Kirchenleitungen ihre Verpflichtung gegenüber ihren dem kirchlichen Leben entzogenen Mitgliedern bewußt machten, f ü h r t e n diese Ansätze noch nicht zu einer "institutionellen Konkretisierung" 7 ^ des Seelsorgeauftrages. Ungeklärt muß abschließend die Frage bleiben, inwieweit die Seelsorgeanweisungen der Kirchenordnungen im konkreten Einzelfall in die Praxis übersetzt worden sind und welche Probleme sich den Seelsorgern stellten, da keinerlei Berichte über die Rezeption der Seelsorge vor der Hinricht u n g vorliegen.
2.4 Die Weiterentwicklung der Seelsorge an Verurteilten im 18. J a h r h u n d e r t Bis zum Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s hat sich die Seelsorge an Detinierten allgemein v e r b r e i t e t , ist aber inhaltlich nicht über die Regelungen der Kirchenordnungen hinaus entwickelt worden. So definiert Haas (1706) als Aufgabe des Geistlichen, dem Delinquenten mit h a r t e n Worten seine Schuld vorzuhalten und ihn zur Reue und zur Zustimmung zur Todesstrafe zu bewegen 7 ^. Ab 1720 entwickelt sich eine T r a k t a t l i t e r a t u r 7 ^ , die ausführlich von Bek e h r u n g e n zum Tode v e r u r t e i l t e r Missetäter berichtete. Die vielgelesenen Schriften sind ein Beweis d a f ü r , daß die öffentliche Hinrichtung im Volk ein großes Interesse f a n d . Zu dem Ritual der Strafvollstreckung zählten auch die Bemühungen mehrerer Geistlicher vor den Augen der Neugierigen, den Todeskandidaten mit Belehrungen aus der Bibel zum Sündenbekenntnis zu motivieren. Die Möglichkeit zur Selbstreflexion im seelsorgerlichen Gespräch wurde nicht gegeben, vielmehr sollte mit der Androhung der ewigen Verdammnis die Buße erzwungen werden 7 5. Das zu einer Volksbelustigung p e r v e r t i e r t e Seelsorgeverfahren e r r e g t e die Kritik des Breslauer Oberkonsistorialrats Rambach 7 6 . Er f o r d e r t e um die Mitte des 1 8 . J a h r h u n d e r t s , die seelsorgerlichen Bemühungen aus der Öffentlichkeit herauszunehmen und spezielle Gefängnisgeistliche zu ber u f e n , die sich im persönlichen Gespräch um den Verurteilten kümmerten, ohne v o r r a n g i g die Bekehrung bewirken zu wollen. Rambach kritisierte f e r n e r , daß die Geistlichen die Kriminal- und Schuldgefangenen nicht beachteten, die über längere Zeit inhaftiert waren. Die Reformvorschläge Rambachs machen deutlich, daß die einsetzende Verhängung längerer Freiheitsstrafen die Kirchenleitungen mit einem neuen Aufgabenfeld konf r o n t i e r t e . Neben die Seelsorge an Todeskandidaten t r i t t Anfang des 18. J a h r h u n d e r t s 7 7 die Seelsorge an S t r a f g e f a n g e n e n , die 'eigentliche Gefangenenseelsorge'. Für die Seelsorge an den 200 Inhaftierten des Zuchthauses zu Celle im J a h r e 1732 wurden innerhalb der allgemeinen Zuchthausordnung die äl-
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testen erreichbaren Regelungen von Strafgefangenenseelsorge in Deutschl a n d ^ erlassen. Ausgehend von der programmatischen Überzeugung, daß "die Anführung zu einer wahren Furcht GOTTES das Fundament aller guten Zucht" darstellt und dazu die Grundlage "zeitlichen und ewigen Wohlergehens ist", wird der Aufgabenbereich des "beym Zucht-Hause bestellten Predigers" festgelegt. Er hat sein "Hauptgeschäfte" darin zu sehen, dem "Züchtlinge" die Strafe als Fügung Gottes zu interpretieren, die die Möglichkeit zur Umkehr und Besserung eröffnet. Es ist das Amt des Geistlichen, die Reue über die Untat hervorzurufen und den Gefangenen zu motivieren, nicht wieder gegen Gesetze zu verstoßen. Die Besserung, die Veränderung des delinquenten Verhaltens, steht in enger Beziehung zum "Seelen-Heyl". Die Ergebung in die weltliche Strafe wird als Grundbedingung der göttlichen Vergebung postuliert. Die von der Gefängnisverwaltung verfaßte Ordnung stellt damit die vom Geistlichen getragene Seelsorge in ein funktionales Verhältnis zum erklärten Zweck des Zuchthausvollzuges, "böseste und ruchlose Menschen zur Strafe und Besserung gefänglich" zu behalten. Den Kontakt zu einem neu eingelieferten Züchtling soll der Geistliche in einem Gespräch unter vier Augen beginnen, um den "Zustand" der "Seele" des Pastoranden, seine "Erkenntnisse im Christenthum" zu erheben, damit er ihm "so viel besser ins Hertz reden könn e " ^ . Um den ersten Eindruck abzurunden, bekommt der Seelsorger von den Zuchthausbedienten eine Liste, in der die Taten des Gefangenen v e r zeichnet sind. Neben dem Aufnahmegespräch schreibt die Ordnung seelsorgerliche Gespräche unter zwei Aspekten vor: Zur Vorbereitung der "Communion" und im Falle der Krankheit. Acht Tage vor der viermal im Jahr gefeierten Communion besucht der Seelsorger die Züchtlinge, die am Abendmahl teilnehmen möchten, in ihren "Zimmern", um eine "GewissensPrüfung" v o r z u n e h m e n ^ , Die "Privat-Catechisationen" über die Bedeutung des Abendmahls werden, wenn es nötig erscheint, mit Gesprächen begleitet, in deren Verlauf der Geistliche den Pastoranden "scharff ins Gewissen" reden soll, um "zur hertzlichen Reue über ihr Verbrechen, zur Versöhnlichkeit, Verträglichkeit und einem willigen Gehorsam, auch gebührenden Fleisse, aufs nachdrücklichste zu ermahnen". Die Vorschrift verdeutlicht, wie sehr die theologisch motivierte Aufgabe der Abendmahlsvorbereitung mit Vollzugsinteressen verbunden wird. Selbst im Falle einer schweren K r a n k h e i t ^ ! · steht das gesetzliche "Ermahnen zur Buße" im Mittelpunkt der "Seelen-Sorge", um noch "von den letzten Stunden eines Züchtlings zum Heyle seiner Seelen nützlichen Gebrauch zu machen". Breiten Raum nehmen die Reglementierungen der Gottesdienste und "Catechisationen" ein. Eine Besonderheit des Sonntagsgottesdienstes, der durch eine Catechisation am Nachmittag ergänzt wird, besteht darin, daß er zusammen mit Besuchern von außerhalb der Gefängnismauern gefeiert wird, Zuchthaus gemeinde und Ortsgemeinde im Gottesdienst eine Gemeinschaft b i l d e n ^ . Allerdings wird der gemeinsame Gottesdienst nicht im Sinne
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einer symbolischen Einheit zwischen Züchtlingen und Freien gestaltet, sondern dazu b e n u t z t , aus der "Vorstellung des jammervollen Zustandes dieser in eben dem Hause detinierten unglücklichen Leute oftmals Gelegenheit zu beweglichen und guten Ermahnungen zu nehmen". Darüber hinaus wird neben den "täglichen Bät-Stunden" 8 ^ a m Mittwoch n u r f ü r die Gefangenen eine Morgenandacht gehalten, in der der Prediger Bibeltexte auslegen soll, "welche von Erkänntniß der Sünden, von wahrer Busse, und von der Fürtrefflichkeit, Anmuth und Seligkeit eines Gottgefälligen Wandels zu handeln Gelegenheit geben". Um den Züchtlingen die "nöthige Erkänntniß der Christlichen Lehre" 8 4 zu vermitteln, hält der Geistliche zu bestimmten Zeiten "auf denen Werck-Stuben eine ordentliche Catechismus-Lehre". Bei der christlichen Unterweisung wird der Geistliche u n t e r s t ü t z t von einem "hiezu bestellten Schulmeister", der aus der Ortsschule ins Zuchthaus kommt. Die Seelsorge an den Inhaftierten findet ihren Abschluß mit einem Gespräch vor der E n t l a s s u n g 8 5 . Der Prediger läßt den "dimitierenden Züchtling" zu einer letzten Vermahnung r u f e n , damit er sich "in Zukunft vor bösen Thaten, und allen Sünden sorgfältig h ü t e , und anderweit die Göttliche Gerechtigkeit nicht r e i t z e . . . " . Die von der Celler Zuchthausordnung reglementierte Gefangenenseelsorge unterwarf den Inhaftierten einem V e r f a h r e n , das methodisch mit stet e r Ermahnung seine B e s s e r u n g zu erreichen suchte. Die G r u n d s t r u k t u r der Seelsorge an zum Tode verurteilten Delinquenten wird in der Celler O r d n u n g übernommen, jedoch a u f g r u n d der speziellen Situation der Freiheitsstrafe in einen katechetischen Prozeß umgesetzt. Die theologische Identifizierung von weltlichem und göttlichem Gesetz f ü h r t e dazu, die Seelsorgepraxis als eine Erziehung zum gesetzeskonformen Verhalten zu gestalten, in der das Evangelium n u r als Bitte um die Gnade im Gebet Platz greifen konnte. Die Stellung des Geistlichen im Zuchthaus regelte ein Vertragsverhältnis. Die "Salierung" wurde aus den Gaben in den Klingelbeutel und den Abgaben, die die Gottesdienstbesucher von außerhalb der Anstalt f ü r die Benutzung der Kirchenstühle zu entrichten h a t t e n , finanziert. Das Privileg der innerhalb der Zuchthausordnung freien Tätigkeit genoß nur der lutherische Geistliche. Die Seelsorge an katholischen und reformierten Gefangenen konnten Geistliche der entsprechenden Konfession zwar übernehmen, sie unterlagen aber s t r e n g e n , mit Strafe bedrohten Eins c h r ä n k u n g e n , um eine Einflußnahme auf die lutherischen Gefangenen zu verhindern 8 ®. Im Bereich der sächsischen Landeskirche ging die Initiative zur Einführ u n g der Gefangenenseelsorge in den Zuchthäusern Torgau und Zwickau von der Kirchenleitung a u s . Nach einem e r s t e n Plan aus dem Jahre 1771 sollte die Seelsorge einem nicht ordinierten Katecheten, die gottesdienstliche Versorgung dem Stadtgeistlichen ü b e r t r a g e n werden. Doch diese A u f g a b e n t r e n n u n g erwies sich als unpraktikabel; so entschloß sich das
- 72 Oberkonsistorium, für Torgau einen hauptamtlichen Anstaltsseelsorger zu berufen. Als Begründung wurde angeführt, daß den Gefangenen jegliche Kenntnis des Christentums fehle und "mithin der Unterricht im Christentum und die Cura animarum als eins derer vorzüglich nötigen Schritt e . . . " zu betrachten sein d ü r f t e 8 7 . Die Einsicht, daß die "cura specialis animarum" im Mittelpunkt der Gefängnisseelsorge stehen müsse und hierzu ein "Schulmeister" nicht befähigt sei, führte 1772 auch in Zwickau zur Vokation eines Zuchthausseelsorgers. Um dessen Einstellung bemühte sich besonders der zuständige Superintendent , der es für notwendig hielt, daß die geistliche Betreuung kontinuierlich und von einem Geistlichen getragen wurde. Denn nur die "Anstellung eines eigenen Seesorgers" garantiere, daß die Anstalt ihren Zweck erfüllen könne, die Inhaftierten so zu bessern, daß sie "nach ihrer Entlassung einen ordentlichen Lebenswandel führen könnten" 8 8 . Die Verquickung von theologischer und pragmatischer Argumentation innerhalb der 1771 von der sächsischen Kirchenleitung erlassenen Instruktion*^ zeigt, wie sehr die Seelsorger sich den Intentionen des freiheitsentziehenden Strafvollzuges verpflichtet fühlten und sich dessen Strukturen bedienten. Diese Tendenz wird evident in den Einzelbestimmungen. Der Seelsorger hatte das Recht, einen Gefangenen dem Hausverwalter zu harter Bestrafung zu übergeben, falls er sich weigerte, Haltung und Gesinnung den Vorstellungen des Geistlichen entsprechend zu verändern. Andererseits wird der Seelsorger verpflichtet, den Inhaftierten zu ermahnen, verschwiegene Taten der Obrigkeit zu gestehen, um sein Gewissen zu entlasten. Eine neue staatliche Instruktion^ 0 aus dem Jahre 1787 ordnete die Seelsorge unter vier Schwerpunkten: 1. Das Aufnahmegespräch, um die Persönlichkeit des Inhaftierten zu erfassen und sein Gottesverhältnis zu erforschen. 2. Unterricht und Unterweisung im Christentum, die der Seelsorger übernehmen sollte, solange kein Lehrer angestellt war. 3. Die "Unterredung" mit dem Inhaftierten, die sowohl "privatim" wie "publice" zu führen ist: Der Seelsorger soll den Pastoranden die "begangenen Bosheiten und Verbrechen" vorhalten und sie zu "herzlicher Busse und Reue" bewegen, die notfalls mit Hausstrafen erzwungen werden kann. Darüber hinaus besteht seine Aufgabe darin, "selbigen die obliegende Besserung treulich anzurathen" und "zur Erreichung des wahren Endzwecks des Hauses alles nur mögliche beyzutragen". 4. Der Trost einer speziellen Gruppe von Gefangenen gegenüber: "Die Einfältigen, Schwachgläubigen, Niedergeschlagenen und Betrübten hergegen wird er liebreich unterweisen, und mit Trost kräftigst aufzurichten und zu stärken suchen, die Kranken und Sterbenden in der Gedult und beständigen Vertrauen auf Gott zu
- 73 befestigen und ihnen die gewisseste Rettung, Hülfe und endliche Erlösung von allem Übel tröstlich versichern." Mit den Punkten 3 und 4 wird die schon in einigen Kirchenordnungen angelegte methodische Aufspaltung der Gefangenenseelsorge in Vermahnung und tröstenden Zuspruch wieder aufgenommen, die die psychische Konstitution und die Bußbereitschaft als Kriterien des Seelsorgeverfahrens heranzieht. Aus der Tatsache, daß die Anweisungen zur Vermahnung in der sächsischen wie in der Celler Ordnung dominieren, ist zu schließen, daß der Inhaftierte grundsätzlich als verstockter Sünder betrachtet wurde. Dieses negative Bild spiegelt sich besonders in den abwertenden Beschreibungen des Inhaftierten als "Unverschämte, Muthwillige" wider, die als Menschen, die aus Bosheit die bestehenden Ordnungen und den Willen Gottes verletzen, keinen Anspruch auf annehmenden Zuspruch erheben können. Nur wenige Jahre nach der Einführung der Gefangenenseelsorge in Zuchthäusern entwickelt der Haller Zuchthausprediger Wagnitz 1787 ein eigenständiges Seelsorgemodell analog seinem Vollzugsprogramm der moralischen Besserung der Gefangenen. Wagnitz setzt bei der die bisherige Seelsorgepraxis weitgehend verwerfenden Einsicht an, daß "Besserung nach dem Compendio methodice gelehrt und g e p r e d i g t . . . keine Besserung oder Sinnesänderung"^ 1 bewirken kann. Soll die Seelsorge für den Gefangenen hilfreich sein, so muß dessen persönliche Problematik im Mittelpunkt des Seelsorgeverfahrens stehen. Für den Geistlichen ist "Menschenkenntnis" wichtiger als methodisch formale Vorentscheidungen. Bei jedem einzelnen Gefangenen ist zu berücksichtigen, inwieweit typische Charakterelemente eines Kriminellen und individuelle Wesenszüge zusammentreffen, deren "Abstuffungen und M i s c h u n g e n " 9 2 das seelsorgerelevante Persönlichkeitsbild des Pastoranden prägen. Unter diesem Vorbehalt beschreibt Wagnitz die Delinquenten als Menschen, die aufgrund mangelnder religiöser und allgemeiner Erziehung nicht in der Lage sind, ihre Affekte zu steuern und ihr Leben nach christlich ethischen Grundsätzen zu gestalten. Die aus sozialen Defiziten resultierende Unfähigkeit, Lebensbezüge zu strukturieren, führt in der Regel dazu, daß Gefangene die Strafe mit einem gewissen Fatalismus als Fügung Gottes über sich ergehen lassen und keine Unterscheidung zwischen selbstverschuldetem und unverschuldetem Leiden vornehmen, das Phänomen der Strafe nicht bewältigen können. Ferner sollte der Seelsorger bedenken, daß Reue selten aus der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit erwächst, sondern spontan geäußert und emotional besetzt w i r d D a s Wissen um die vielschichtigen psychischen und sozialen Probleme der Gefangenen verpflichtet den Seelsorger, der deren "moralische Bedürfnisse"^^ berücksichtigen will, zu intensiven Gesprächen und Aktenstudien, um ein genaues Bild jedes einzelnen Pastoranden zu erhalten. Die auf die Persönlichkeit des Pastoranden Bezug nehmenden methodischen Vorüberlegungen bilden den Interpretationshintergrund der prak-
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tischen Vorschläge, die Wagnitz a u f g r u n d eigener E r f a h r u n g e n als S t r a f vollzugsgeistlicher entwickelt. Die " H a u p t r e g e l " ^ f ü r den Seelsorger, der den Gefangenen "Lehrer, Freund und Rathgeber" werden möchte, besteht d a r i n , sie in den "Stuben" zu besuchen und bei der Arbeit zu "belauschen", um sie in ihren Lebensbezügen genau kennenzulernen. Wagnitz kritisiert das Selbstverständnis vieler Geistlicher als "Bußprediger". Der Seelsorger sollte vielmehr ein "Freund" sein, der aufmerksam zuhört und die Gefangenen nicht gleich vom e r s t e n Tag an mit "moralischen Belehrungen" ü b e r h ä u f t . Den neu Eingelieferten ist Ruhe zur Besinnung zu geben. Erst nachdem der Seelsorger sein Gegenüber näher kennengelernt h a t , sollte er das Gespräch auf die "Schändlichkeit der Sünde" b r i n g e n ^ . Ausgehend von der Tat ist "Gelegenheit zu f r u c h t baren Bemerkungen und Ermahnungen" zu nehmen oder das "Seelenheil" im Gespräch zu reflektieren, in dem die "unglückliche Macht der Sünde" dargestellt wird. Doch bei allem E r n s t , mit dem der Seelsorger a u f t r i t t , darf er nicht aus den Augen verlieren, "daß er immer sein ganzes Mitleid über einen solchen Gefangenen und von der Sünde so b e h e r r s c h t e n zu erkennen giebt"97. Innerhalb der speziellen Seelsorge betont Wagnitz die Konzeption der "liebreichen Unterredung" und lehnt a u f g r u n d seiner Überzeugung, daß "Strenge v e r b i t t e r t " , die Zusammenarbeit mit zu b r u talen Methoden neigenden Zuchthausbediensteten ab. Diese Grundhaltung Wagnitz' prägt auch die A u s f ü h r u n g e n zur allgemeinen Seelsorge in Gott e s d i e n s t , Betstunden und Unterricht. Wagnitz v e r t r i t t das homiletische Prinzip, "im Geiste Christi zu reden", da er die Gefangenen nicht als "hartherzige Bösewichter" und "Lasterhafte" ansieht wie manche Zuchthausprediger, die mit "donnernder" Sprache r e d e n , "die Mark und Bein zerschmettert und Fluch und Tod verkündigt". Die scharfe Gesetzespredigt hält er f ü r genauso unwirksam wie einen Strafvollzug, der auf Zwang und Gewalt b e r u h t . Demgegenüber hat er die Überzeugung gewonnen, "daß wenn ich im Vaterton mit der Stimme des Mitleids zu ihren Herzen r e d e t e , mehr die Aufmerksamkeit und das Nachdenken r e g t e , als wenn ich b r a u s t e , und mehr Eingang f a n d , wenn ich in meinen Urtheilen Gerechtigkeit und Billigkeit bewies, als wenn ich alle als Teufel in Menschengestalt s c h i l d e r t e " 9 8 . Wagnitz' Bemühen, auch in B e t s t u n d e n ^ , im Unterricht und bei der Abendmahlsvorbereitung die vergebende Gnade Gottes in die Situation der Häftlinge hinein zu v e r k ü n d i g e n , b e g r ü n d e t eine christologisch orientierte und auf der Berücksichtigung der Individualität der Klienten aufbauende Seelsorgepraxis mit dem Ziel der "Herzensverbesserung"100. jj m d i e s z u erreichen, verlangt Wagnitz vom Gefangenen die Einsicht in die Sündhaftigkeit seines bisherigen Lebens und echte Reue, die sich nicht auf ein Lippenbekenntnis zu einem neuen Lebenswandel beschränken d a r f , sondern in einem nicht delinquent en Verhalten während und nach der Haft manifest werden muß.
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Der Seelsorgeprozeß wird mit einem Entlassungsgespräch abgerundet, in dem der Pastorand ein letztes Mal beraten wird, "wie er die erlittene Strafe zu seinem Heil anwenden, den Flecken wieder austilgen und immer mehr, auch bei der Freiheit, die er hat, ein guter Mensch werden kann" 1 ^ 1 . Wagnitz ist sich jedoch darüber klar, daß das Ziel, aus dem Gefangenen einen guten Menschen zu machen, nur dann realisiert werden kann, wenn dem Entlassenen zur dauerhaften Integration in die Gesellschaft Hilfen angeboten werden: Die Gemeinschaft muß ihn aufnehmen und ihm Arbeit geben, sonst sei der Rückfall in delinquente Verhaltensmuster kaum zu verhindern. Geht man der Frage nach, wie die Ansätze zu einer strukturierten Seelsorge an Inhaftierten in den Schriften zur Pastoralwissenschaft und Seelsorgelehre um die Wende zum 19.Jahrhundert rezipiert worden sind, so ist deutlich festzustellen, daß die Ausführungen über die Seelsorge an zum Tode verurteilten Delinquenten überwiegen. Auf die seelsorgerliehe Betreuung von Kriminalgefangenen wird entweder überhaupt nicht 102 oder nur mit wenigen Sätzenl03 eingegangen. Dieser Befund deutet darauf hin, daß die Träger der Seelsorge auf ihren überkommenen Aufgabenbereich, die Vorbereitung des Todeskandidaten, fixiert blieben und sich nur langsam auf die neue Art des Strafvollzuges einstellten. Das von Strafrechtslehrern in der Aufklärungszeit eingebrachte finale Strafverständnis, das längere Freiheitsstrafen implizierte, initiierte einen relativ langwierigen Prozeß der Neuorientierung auf dem Gebiet der Gefangenenseelsorge, der sich erst mit einer Phasenverschiebung in den Schriften der deskriptiv arbeitenden Pastoralwissenschaft niederschlagen konnte. Aber auch bei der "Vorbereitung der zum Tode verurtheilten Uebelthät e r "104 jäßt sißh e j n e veränderte Konzeption gegenüber der Seelsorgepraxis zu Beginn des 18.Jahrhunderts konstatieren. So fordert Niemeyer, daß die "Anwesenheit neugieriger Fremder" während des Seelsorgegespräches zu unterbleiben habe. Die Seelsorge solle vom Richtplatz in die Stille des Haftlokals verlegt werden, da die Mitwirkung von Geistlichen am "Schauspiel" der Hinrichtung zu abergläubischen Mißverständnissen geführt habe, "als könne die Nähe eines Geistlichen in den Himmel helf e n nl05_ Aus vergleichbarer Argumentation fordert Schlegell 0 ^, daß die Begleitung zum Richtplatz nur eine ausnahmsweise gewährte Vergünstigung darstellen d ü r f e , die Prediger sich aber in jedem Falle einer öffentlichen "Seligpreisung" der "bußfertigen Missethaeter" zu enthalten hätten. Der Kampf um die Buße des Delinquenten als öffentliches Schauspiel gehört damit der Vergangenheit an. Hat der Geistliche einen Verurteilten vor sich, der aus "Widersätzlichkeit ganz stumm"107 i s t , so soll er ihn verlassen und warten, bis er von sich aus einen Geistlichen ruft 108. Der Verzicht auf die unabdingbare Bekehrung jedes Verurteilten führte zu einem veränderten Selbstverständnis der Seelsorger. So fordert Jacobi, im Gespräch darauf hinzuweisen, die Geistlichen "wären nur Bothen des Evangeliums, den Sün-
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dern die Gnade Gottes, die ihnen durch Jesum erworben, anzutragen und ihnen Buße und Glauben zu p r e d i g e n , und den Weg zum Himmel zu zeigen"109_ Gesetzmäßige Starrheit tritt im seelsorgerlichen Bemühen zurück. Der aufgeklärte Seelsorger weiß den Pastoranden eher zu e r reichen, wenn er ihm als "Menschenfreund" 1 !" begegnet: "Ohne Liebe zum Guten ist keine B e s s e r u n g zu erwarten. Furcht aber ist nicht in der L i e b e " m . Da die ungebildeten Delinquenten in der Regel keine "Erkänntnis der nöthigen Heilswahrheiten"! 1 2 besitzen, oder "es ihnen an allgemeinen moralischen Begriffen f e h l t " 1 1 ^ steht der Seelsorger vor der Aufgabe, "ihre Erkenntnisse" zu v e r b e s s e r n 1 1 4 . Dj e Basis zu einem f r u c h t b a r e n seelsorgerlichen Gespräch wird mit der Belehrung über die Grundtatsachen der christlichen Heilslehre gelegt, die "erbaulich" vorgetragen und nach genauem Plan beigebracht werden muß 1 1 5 . Erst nach einer eingehenden Vorbereitungsphase, die das Studium der Gerichtsakten und ein persönliches Gespräch mit dem Delinquenten über dessen Leben und Taten einschließt, kann der Seelsorger den "Zweck" des Gespräches e r r e i c h e n , die zum Tode Verurteilten "entweder zur lebendigen Erkenntniß i h r e r Strafbarkeit zu bringen und die Gefühle der Reue in ihnen zu wecken, oder sie in den schon erwachten besseren Gesinnungen zu befestigen, oder Furcht vor dem Tode zu mäßigen"!!®. Wenn es dem P f a r r e r gelungen i s t , den Täter dazu zu bewegen, seine "bisherige Gesinnung" ernstlich vor Gott zu b e r e u e n ! ! ? , seine "Uebert r e t u n g e n " zu bekennen 1 1 ® oder ihn der "herrschenden Triebe" 11 ® zu entwöhnen, hat die Seelsorge Erfolg. Um die "wahre Bekehrung" als Ä n d e r u n g "der Gedanken und Begierden" des Pastoranden zu bewirken, so daß ihm "die Sünden v e r h a ß t , und Gott und die Tugend angenehm werde", soll nach Jacobi der Seelsorger argumentativ vorgehen und "die Abscheulichkeit der Sünden aus i h r e r innern Natur und Wirkung in der menschlichen Gesellschaft.. .beweisen" 1 2 ^. Für gleichermaßen sinnvoll hält es Gräffe, dem Täter die "Ursachen" seiner Tat zu erklären , die darin b e s t e h e n , die Religion verachtet und sich ungehorsam gegen Eltern und Erzieher verhalten zu h a b e n 1 2 1 . Da im Seelsorgegespräch nach aufklärerischem Ideal eine "gründliche Sinnesänderung" d u r c h verstandesmäßige Verarbeitung der christlichen Heilsaussagen intendiert w u r d e , sollte der Pastorand intellektuell nicht ü b e r f o r d e r t werden. Seine "Fassungskraft" bestimmte "die Lehrweise". Die besten Möglichkeiten, zu ü b e r z e u g e n , eröffnet nach Niemeyer "das Gespräch, wobey der Delinquent aus sich heraus g e h t " 1 2 2 . Der Gefangene hat ein Recht d a r a u f , mit seiner Person und Problematik angenommen zu werden, wie jedes andere Gemeindeglied a u c h , denn er bleibt "ein Mitmensch, ein Geschöpf Gottes, er ist ein Erlöster Jesu Christi" 12 "*. In der Zusage der Erlösung und der Gnade Gottes, die "ihn f ü r die Ewigkeit noch r e t t e n will", findet die Seelsorge am Todeskandidaten ihre E r f ü l l u n g 1 2 4 . Urteil und Strafe werden als Gegebenheit respektiert und vom Seelsorger im Gespräch d i s k u t i e r t , der Todeskandidat wird davon ü b e r z e u g t , sich der Strafe "mit Gelassenheit" 1 2 5 oder E r g e b u n g
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zu unterwerfen. Unter funktionalen Gesichtspunkten des Vollzuges ist die Arbeit des Seelsorgers als Beruhigung der Delinquenten durch den Evangeliumszuspruch zu bewerten. Die theologisch motivierte justizkonforme Haltung der Geistlichen barg die latente Gefahr, die Freiheit des Evangeliums den Gesetzmäßigkeiten des Strafvollzuges unterzuordnen. Ein Indikator dafür ist, daß die Theologen die Diskussion um den Sinn der Todesstrafe, die auch zu damaliger Zeit nicht mehr unumstritten war, nicht aufnahmen. Die Ansätze Jacobis, Schlegels, Gräffes und Niemeyers führten jedoch zu einer Weiterentwicklung der Seelsorge, da sie methodisch und inhaltlich übereinstimmend die Seelsorgetheorie aus dem mechanistischen Ansatz des Bekehrungsbemühens herausgeführt haben. Charakteristisch ist die Einarbeitung des aufklärerischen Bildungsideals in die Seelsorge, womit zugleich Strukturelemente der allgemeinen Seelsorge angelegt wurden, die bei der Betreuung langstrafiger Inhaftierter im weiteren Verlauf der Seelsorgeentwicklung aufgenommen werden konnten. Wenig aussagekräftig sind die Aussagen Gräffes und Niemeyers zur Seelsorge an mit Freiheitsstrafe belegten Inhaftierten. Die Gefangenen benötigen nach Gräffe "den moralischen Beistand des Predigers". Wie er allerdings aus zusehen hat, wird nur grob umschrieben: "Jeder Verbrecher erfordert seine besondere Bearbeitung, je nachdem sein Verbrechen, sein Charakter und der übrige Zustand beschaffen"126 Kaum präziser bestimmt Niemeyer die "specielleren Pflichten" des Geistlichen!^. j n Analogie zu Niemeyer definiert auch Gräffe die Seelsorge allgemein als "moralische und religiöse Besserung . . . vermittels besonderer Belehrung e n " ! ^ . Die sittlich religiöse Bildung wird von beiden in den Mittelpunkt der Gefangenenseelsorge gestellt. Gleichzeitig wird aber konstatiert, daß die bestehenden Zuchthäuser zwar theoretisch "Erziehungshäuser" sein sollten, praktisch aber nur "zur sittlichen Verschlimmerung dienen können". Von daher wird es als eine "allgemeine Pflicht des Geistlichen" angesehen, bei der "inneren Verbesserung" der Haftanstalten, in denen er angestellt ist, mitzuwirkenl29. Darüber hinaus sollte er sich auch darum bemühen, die gesamte Haft für die Gefangenen zu erleichtern. Die Sorge um das materielle Wohl bietet dem Seelsorger Gelegenheit, sich "der Gefangenen Liebe" zu erwerben und "dadurch seinen Ermahnungen einen glücklichen E i n g a n g " 1 3 0 zu sichern. In diesem Satz wird zum ersten Mal die für die spätere Seelsorgediskussion relevante Beziehung von karitativem und pastoralem Handeln des Geistlichen angesprochen.
2.4.1 Zusammenfassung Im Rückblick ist ein deutlicher Prozeß der Entwicklung innerhalb der Gefangenenseelsorge des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen: Die ersten
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Ansätze zu einer Seelsorge an länger inhaftierten Gesetzesbrechern, wie sie die Ordnungen von Celle und aus dem Bereich der sächsischen Kirche beinhalten, waren im methodischen Ansatz von der Seelsorge an zum Tode Verurteilten geprägt. Im Mittelpunkt der seelsorgerlichen Bemühungen standen Gesetzesermahnung und Anleitung zur Buße. Die Person des Delinquenten wurde nur als Objekt der Seelsorge relevant. Da sich die seelsorgerliche Betreuung im Zuchthaus über einen längeren Zeitraum erstreckte, konnte die allgemeine Seelsorge ausgeweitet werden. Gottesdienst und Katechese gewinnen jedoch vorerst Bedeutung unter dem Aspekt der Vermahnung. Erst wenn im Gefangenen die Furcht vor der Strafe Gottes geweckt war, konnte die Veränderung des delinquenten Verhaltens angestrebt werden. Die frömmigkeitsgeschichtlich aus den Gedanken der Orthodoxie und des Pietismus erwachsene monofinale Ausrichtung der Seelsorge als Bußkampf wurde von Wagnitz, der den aufklärerischen Ansatz der Besserung betonte, als unzureichend kritisiert und überwunden. Wagnitz forderte die Berücksichtigung der sozialen und psychischen Faktoren des Täters in der Praxis der Seelsorge. Der Zuspruch der Erlösung wurde zum Maßstab der Seelsorge. Die aus dem aufklärerischen Ansatz resultierende Hinwendung zum Delinquenten prägte auch die Seelsorge beim Todeskandidaten. Der Versuch, den Delinquenten mit der christlichen Lehre zu überzeugen, löste die Androhung von göttlichen Strafen als Medium zum Sündenbekenntnis ab.
2. 5 Die Seelsorge an zum Tode Verurteilten im 19. Jahrhundert Das Hauptgewicht des Strafvollzuges verlagert sich im 19. Jahrhundert auf die Freiheitsstrafen. Die Todesstrafe wird immer seltener ausgesprochen. Dementsprechend verliert das Aufgabenfeld der Seelsorge an zum Tode Verurteilten an Bedeutung. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Lehrbüchern der Praktischen Theologie: Ausführungen über die Seelsorge an Gefangenen vor der Hinrichtung erscheinen nun als Anhang der Kapitel über Seelsorge an länger Inhaftierten. In den zeitgenössischen Bestimmungen findet sich nur in den "Vorschriften für die Thätigkeit der Geistlichen" des preußischen Oberkirchenrats aus dem Jahre 1859131 ein Passus (§ 28), der die seelsorgerliche Behandlung der zum Tode Verurteilten der "besonderen Aufmerksamkeit" empfiehlt, ohne nähere Anweisungen zum Seelsorgeverfahren zu geben. Innerhalb der Seelsorgeliteratur wird die Verurteilung zum Tode zum Anlaß unterschiedlicher theologischer Reflexionen über ein adäquates seelsorgerliches Vorgehen genommen: In Bezug auf Luthers Gedanken zur Todesstrafe befürwortet Köstlin das "Äußerste, was die menschliche Rechtsordnung verhängt", als ein "Heilsmittel", das den "letzten Gang zu einem Segensgang" wer-
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den läßt. Als Konsequenz des ordnungstheologisch orientierten Ansatzes stellt Köstlin dem Geistlichen die Aufgabe, dem Verurteilten die gottgewollte Rechtmäßigkeit des Todesurteils unter dem Aspekt zu erklären, "daß Gott ihm nicht bloß die Unverbrüchlichkeit der ewigen Ordnung empfindlich zum Bewußtsein bringt, sondern ihn anhalten und zur Besinnung bringen will"^^^. "Etwas Heiliges, auch eine Heimsuchung von Gott", die im Verurteilten "ein Gefühl der Genugthuung" aufkommen lassen sollte, sieht auch N i t z s c h · ' - ^ in der Todesstrafe. Er verweist aber einschränkend auf die "Gemeinschuld", die die Gemeinschaft am gewaltsamen Tode des Verurteilten hat. Noch einen Schritt weiter geht Krauss, der die Frage stellt: "Ist nicht jedes Todesurteil ein Verdammungsurteil für die Gesellschaft, in der eine solche Gesetzesverletzung möglich w a r ? " ^ Die Todesstrafe wird damit aus dem Legitimationsrahmen der Sünde des Täters vor Gott herausgenommen. Demgemäß soll der Seelsorger "sowohl im Missethäter, als wo möglich auch im Volke die durch den Tod bewirkte Befriedigung des Gesetzes als Sühne und demgemäß Versöhnung dem Gemüthe zum Bewußtsein" b r i n g e n ! 3 5 . Jedoch führt der Bezug auf die soziale Interdependenz von Schuld nicht zu einer Relativierung der Tatschuld, sondern zu einer problematischen stellvertretenden Sühnefunktion des Delinquenten für die Gesellschaft. Die schwere Aufgabe, zur "Versöhnung mit Gott" zu führen, steht nach S c h w e i z e r 136 i m Zentrum der seelsorgerlichen Bemühungen, die den Verurteilten aus christlicher Liebe in seiner schweren Situation begleiten. Die Liebe zum Delinquenten bestimmt auch für Schleiermacher das Seelsorgeverfahren. Die Sorge um die Bekehrung darf sich nicht darauf beschränken, dem Pastoranden ein "dogmatisches System" aufzuzwingen. Die Relevanz christlicher Aussagen muß vielmehr dem Delinquenten individuell vermittelt werden, um ihn "zu einem Selbsturteil und zur Buße zu bringen" 1 ^ 7 . Je nach theologischer Position des Seelsorgers wird innerhalb der Hinführung zur Buße und Versöhnung der Aspekt des Evangeliumszuspruches betont, um "tröstend zu bekehren, bekehrend zu trösten"138 oder - das mahnende Gesetz mit einbezogen - , um v e r stockte Sünder "mit den ernstesten Mahnungen zum Bekenntnis und zur Buße zu b e w e g e n " 1 3 9 . Aufgrund seiner theologischen Entscheidung, die Todesstrafe nicht mehr als einzige Möglichkeit der Sühne für einen Rechtsbruch zu vertreten, fällt nach Otto die Veranlassung, die Frage nach Schuld und Sünde bei zum Tode Verurteilten anders zu behandeln als bei Strafgefangenen. Die spezielle Ausprägung gewinnt die Seelsorge an Todeskandidaten aus der fehlenden Zukunftsperspektive. Der Delinquent ist wie ein Sterbender auf den Tod vorzubereiten. Um die kurze Zeit bis zur Hinrichtung "zum Heile seiner Seele zu benutzen"140 ; sollte das seelsorgerliche Gespräch Raum geben, belastende Aspekte der Vergangenheit, die Beziehung des Pastoranden zum Tod und seine Ängste zu besprechen.
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In der Zielsetzung unterscheiden sich die Ausführungen über die Seelsorge vor der Hinrichtung nur unwesentlich. Das Sündenbekenntnis als Voraussetzung der Versöhnung mit Gott erhält bei allen Konzeptionen Priorität. Unterschiede werden jedoch beim Vergleich der theologischen Vorentscheidungen, die den Seelsorgekonzeptionen zugrundeliegen, erkennbar. Der gesetzlich orientierte Ansatz Köstlins und Ottos identifiziert Sündenbekenntnis und Unterwerfung unter den in der Strafe manifesten Willen Gottes, während Schleiermacher, Nitzsch, Krauss und Schweizer die Anleitung zur Erkenntnis der aktualen Sünden mit dem befreienden Charakter des Evangeliums motivieren, um die Annahme der Versöhnungsbotschaft zu bewirken. Eine Mittelposition nimmt Achelis ein, der Gesetz und Evangelium nacheinander schaltet, den Trost des Evangeliums aber nur bußfertigen Sündern zusprechen möchte.
2.6 Die Stellung der christlich motivierten Gefängnisreformer Fliedner, Julius, Wichern und Krohne zur Gefangenenseelsorge Im Blick auf die Geschichte der Gefangenenseelsorge stellt von R o h d e n - ^ l die These auf, daß in Deutschland bis zu Beginn des 19.Jahrhunderts keine "Seelsorge im evangelischen Sinne" für Gefangene nachzuweisen ist, die über "eine Darbietung von Gelegenheit zur Erfüllung kirchlicher Pflichten" hinausgegangen sei. Die Untersuchung der Zuchthausordnungen in Celle und Sachsen hat diese These falsifiziert. Ebenso unhaltbar ist die Behauptung von Rohdens, Elizabeth Fry sei die "Urheberin der eigentlichen Gefängnisseelsorge". Wenigstens für den deutschen Raum ist nicht zu übersehen, daß Wagnitz ein Konzept der Gefangenenseelsorge entworfen hat, dessen fundierter Ansatz und theologische Implikationen der pragmatischen Motivation der englischen Reformerin theoretisch überlegen sind. Unter dem Aspekt der Wirkungsgeschichte allerdings hat von Rohdens These eine gewisse Berechtigung, da die Ansätze Frys für die Entwicklung der Gefangenenseelsorge in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmender wurden als die Wagnitz'. Das gilt besonders, da Fliedner die Gedanken Frys aufnahm und weiterentwickelte.
2 . 6 . 1 Fliedners Ansatz der Gefangenenseelsorge Fliedner sah die Hauptaufgabe seiner seelsorgerlichen Tätigkeit im Arresthaus zu Düsseldorf zunächst darin, "den armen Gefangenen das Evangelium"142 zu verkündigen. In diesem kurzen Wort wird zugleich die Grundintention des seelsorgerlichen Ansatzes deutlich: Den Gefangenen das Wort Gottes als allein gültigen Maßstab zur Beurteilung
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des bisherigen und zur N e u s t r u k t u r i e r u n g des zukünftigen Lebens nah e z u b r i n g e n ! 4 3 . Die Seelsorgekonzeption korreliert mit der I n t e r p r e t a tion der Strafe als Reaktion auf einen Verstoß gegen die menschliche O r d n u n g und zugleich als Ausdruck der Heiligkeit Gottes. Diese doppelte S t r u k t u r der B e s t r a f u n g soll der Gefangene verinnerlichen, um eine Motivation zu einem b e s s e r e n Leben zu gewinnen. Dem Seelsorger kommt die Aufgabe zu, den Pastoranden über die Einsicht in seine Schuldhaftigkeit vor Gott zur Anerkennung des Willens Gottes zu f ü h r e n , von dem her das Wert- und Normensystem des Gefangenen neu geordnet werden muß. Zu diesem Zweck strebt Fliedner^ 1 ^^ die "Erziehung zur Religion Christi" a n , die als wahrhaftige "Bändigerin aller wilden Leidenschaften" allein in der Lage i s t , "gute Sitten" zu f ö r d e r n . Die pädagogische Ausrichtung seiner Seelsorgekonzeption b e g r ü n d e t Fliedner mit dem Verweis auf die "christliche Erziehungs- und B e s s e r u n g s o r d n u n g " , die im Evangelium vorgeschrieben ist!45. Fliedners Bemühen ist u n v e r k e n n b a r , den humanistisch orientierten Erziehungsgedanken mit dem Postulat christlich zu überhöhen, daß B e s s e r u n g n u r auf dem Wege einer gründlichen christlichen Unterweisung zu erreichen ist. Demgemäß faßt er Kriminalität in der Tradition der Seelsorge der Aufklärung als ein Problem mangelnder ethischer Bildung auf. Der Gefangene wird beschrieben als ein Mensch, dessen Defizit an Gotteserkenntnis ein unmoralisches Verhalten bedingt. Unter diesen Aspekten wird auch Fliedners Umschreibung der Gefangenenseelsorge als Missionssache v e r s t ä n d l i c h , die "Menschen von meistens heidnischer Unwissenheit und Lebensweise zu wahren Christen zu bilden" hat 146. Innerhalb der allgemeinen Seelsorge hat neben dem Sonntagsgottesdienst der tägliche Hausgottesdienst eine wichtige Stellung. Für den Gefangen e n , der durch sein tägliches "Bösetun" moralisch tief gesunken i s t , ist es nach Fliedner unbedingt notwendig, täglich an die aus Gottes Willen resultierenden Pflichten, an die Religion und das Sittengesetz erinnert zu werden, um aus Gottes Wort Kraft zur moralischen Hebung zu s c h ö p f e n ^ ? . Die spezielle Seelsorge im Gespräch dient der v e r t i e f e n den Begleitung im Prozeß der B e s s e r u n g . Der Seelsorger sollte den Pastoranden bei der Bewältigung seiner Schuld begleiten, denn speziell Matth 25,36 verpflichtet den P f a r r e r , dem Inhaftierten "den Arm der Liebe zu reichen und durch unermüdliche Hirtentreue zu zeigen, daß wir ihn nicht a u f g e b e n , damit er sich nicht a u f g e b e " ! ^ . Die von Christus aufgetragene Liebe zum 'geringsten u n s e r e r B r ü d e r ' bildet die Motivation und die t r a g e n d e Ebene der Gefangenenseelsorge, a u f g r u n d der e r Fliedner die Hoffnung auf B e s s e r u n g seiner Klienten nicht aufgibt. Die n u r v e r s t r e u t in Briefen und Schriften aufweisbaren Äußerungen zur G e f a n g e n e n s e e l s o r g e ^ ^ f a ß t Fliedner zusammen im 'Plan der Wirksamkeit' der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft: "Das Umwandeln und Erziehen böser Menschen zu guten läßt sich nicht dadurch erreichen, daß alle acht oder vierzehn Tage einmal Messe gelesen oder
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gepredigt wird. Dazu ist nötig, daß ein Geistlicher mit der ganzen Liebe und dem ganzen Ernste seines Berufes sie täglich im Guten erziehe, d u r c h anhaltenden Unterricht ihren Verstand erleuchte und ihr Herz erwärme; d u r c h seinen täglichen Umgang und sein Beispiel ihre Acht u n g , Liebe und Vertrauen e r w e r b e , und d u r c h tägliche Übung in ihr e n höheren Pflichten sie an religiöse und sittliche Gesinnung gewöhne"150. Die komplexe Umschreibung des Aufgabenfeldes des Seelsorgers ist als Entfaltung der Überzeugung Fliedners zu v e r s t e h e n , daß die Erziehung der Gefangenen zur Religion und Sittlichkeit den "ersten Gegenstand der Wirksamkeit" der von ihm initiierten Gefängnisgesellschaft dazustellen habe. Die konkrete Arbeit der Gesellschaft begann im Düsseldorfer A r r e s t h a u s . Es wurde v e r s u c h t , die theoretischen und praktischen Ansätze Fliedners umzusetzen und zugleich die Gefangenenseelsorge institutionell abzusichern. Die dem Geistlichen zugesprochenen Aufgaben, wie informatives Gespräch, Besuche, Gottesdienst und Unterricht, sind nicht neu. Sie gewinnen aber ihren spezifischen Charakter d u r c h ihre Subsummierung u n t e r die generelle Zielsetzung, die sittlichen Verhältnisse des Gefangenen zu b e s s e r n . Damit wurde die Prävalenz des v e r kündigenden und belehrenden Elements innerhalb der allgemeinen Gefangenenseelsorge b e s t ä r k t . Gleichzeitig f ö r d e r t e die pädagogische Ausricht u n g der Gefangenenseelsorge ihre Integration in den Strafvollzug. Da der Staat nur die Verwahrung und Beschäftigung der Häftlinge g a r a n t i e r te , stand der Seelsorger vor der doppelten Aufgabe, die inhaltlichen S t r u k t u r e n des Vollzuges zu formulieren und zu t r a g e n , was in der P r a xis dazu f ü h r t e , daß er auch Aufgaben der Vollzugsverwaltung, wie Aufsicht über das sittliche Betragen der Gefängnisbeamten und Mitarbeit bei Begnadigungsakten und Beurteilung von Gefangenen, übernehmen mußte. Fliedners Initiativen zur Gründung der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft und seine Mitarbeit an der Formulierung der Inhalte der von ihr getragenen Gefangenenseelsorge r e c h t f e r t i g e n e s , Fliedner als den Initiator der institutionalisierten Gefangenenseelsorge zu bezeichnen. Die Arbeit der Gefängnisgesellschaft hatte "eine große B e d e u t u n g " 1 5 1 f ü r die Entwicklung der Gefangenenseelsorge in Deutschland. Sie b e wirkte, daß in größeren Strafanstalten h a u p t - und nebenamtliche Seelsorger eingestellt und Besuchsdienste privater Gefängnisvereine zugelassen wurden. Die Gesellschaft hatte einen wesentlichen Aspekt i h r e r Zielsetzung e r r e i c h t , als der preußische Staat die T r ä g e r s c h a f t der Gefangenenseelsorge übernahm. Neben der Würdigung des Fortschritts auf dem Wege zu einer geregelten Seelsorge im Strafvollzug bleibt jedoch kritisch anzumerken, daß die Gefangenenseelsorge funktional mit dem Strafvollzug v e r b u n d e n und ihr ein Organisationsschema gegeben wurde, das vorrangig an der Effektivität des Vollzuges orientiert war. Fliedners Bemühungen bleiben damit einen
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Schritt hinter dem Ansatz Wagnitz' zurück, der versucht hatte, die Individualität des Gefangenen im Seelsorgeverfahren weitestgehend zu berücksichtigen. Fliedners monokausale Sicht delinquenten Verhaltens als mangelnde sittliche Befähigung und die daraus resultierende Überbewertung des erzieherischen Aspekts der allgemeinen Seelsorge bedingten einen gewissen Schematismus der Behandlung, der den aus der Haft erwachsenen Problemen der Gefangenen wenig Raum gab. Allerdings darf bei einer kritischen Beurteilung die Tatsache nicht ausgeklammert werden, daß Fliedner einen Strafvollzug vorfand, der auf Verwahrung ausgerichtet war und Ansätze einer erzieherischen Arbeit behinderte. So mußten die von der Gefängnisgesellschaft eingesetzten Seelsorger notgedrungen die Aufgaben übernehmen, die die Vollzugsbehörden vernachlässigten, um einen auf Reduzierung der Delinquenz ausgerichteten Strafvollzug zu ermöglichen. Fliedners Seelsorgeverständnis kann daher nicht von seinen Bemühungen um die Reform des Strafvollzuges abstrahiert werden. Da erst die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden mußten, gewannen für Fliedner zwangsläufig die Fragen der inhaltlichen Gestaltung von Vollzug und Seelsorge eine dominante Stellung.
2.6.2 Julius: Die sittliche Wiedergeburt als Aufgabe der Gefangenenseelsorge Der Ansatz Julius', die 'sittliche Wiedergeburt' als Ziel des Strafvollzuges zu formulieren, führte, auf die Gefangenenseelsorge übertragen, zu inhaltlichen Konvergenzen mit Fliedners Überlegungen, die aus dem Rückbezug beider Verfasser auf angelsächsische Vorbilder zu erklären sind. Julius stellt dem Seelsorger im Strafvollzug die Aufgabe, dem Inhaftierten "das in seinem ruch- und sittenlosen Leben ganz ungekannt gebliebene religiöse Element" zu vermitteln. Nur über die Verkündigung des Evangeliums "kann der Gefangene zu einer wahren Erkenntniß seiner Sündhaftigkeit und zur Zerknirschung und Buße über den begangenen Frevel geführt werden, die aller Besserung voran gehen müsse". Der religiös sittliche Unterricht hat demgemäß auch in Julius' System eine zentrale Bedeutung. Er erhält jedoch im Vergleich mit Fliedners Intentionen eine spezielle inhaltliche Prägung, die von der Ausrichtung auf den Gedanken der Erlösung bestimmt wird. Die religiöse Unterweisung soll über den kognitiv-pragmatischen Bereich hinaus den Gefangenen auch emotional ansprechen: Es soll "an ihm...die rettende Hingebung der Erlösung, die beseligende und überzeugende Kraft des seinen Sinnen und seinen Gefühlen entfremdeten Wortes Gottes erprobt werden" 1 5 2 . Der Gefangene ist für Julius kein verstockter Sünder, sondern ein Mensch, dessen Beziehung zu Gott verdeckt oder nicht entfaltet worden ist. Die latente religiöse Komponente seines Lebens muß ihm nur bewußt gemacht werden. Um die sittliche Wiedergeburt des Gefangenen zu errei-
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chen, schreibt Julius dem Evangelium als Medium des Zuspruchs und der Ermunterung größere Bedeutung zu als dem Gesetz. Die "Kraft zum Guten" braucht den Pastoranden nicht - wie Fliedner meinte - anerzogen zu werden. Der Geistliche soll vielmehr "den Funken der.Frömmigkeit und Gottseligkeit" wecken und die im Häftling verborgenen oder durch Umwelteinflüsse verschütteten Kräfte zum gesetzeskonformen Leben fördern. In vielen Fällen braucht nur Hilfe zur Selbsthilfe gegeben zu werden!53_ Julius geht von der Hoffnung aus, daß jeder Gefangene unter geeigneter seelsorgerlicher Anleitung soziale Verantwortung entwickeln kann. Voraussetzung ist jedoch, daß der Geistliche die individuelle und vollzugsbedingte Situation des Häftlings in die Reflexion der Seelsorgegestaltung einbezieht. Eine wesentliche Komponente, die f ü r die Gefangenen wie den Erfolg der Seelsorge relevant ist, liege in der verderbten Gesellschaft der Gemeinschaftshaft, deren dyssozialisierender Druck nur durch eine intensive religiöse F ü r s o r g e ! ^ kompensiert werden könne. Neben dem physischen Element des Inhaftiertseins, das den Delinquenten prägt, sollte der Seelsorger auch die psychische Lage des Pastoranden f ü r die Gestaltung von Gesprächen bedenken. Besonders ansprechbar sei der Gefangene in den Augenblicken, "wo der Geist zum Nachdenken erweckt und das Gemüth mit Sorgen überladen ist". Die emotionale Gesprächsbereitschaft sollte der Seelsorger dazu benutzen, die "Warnungen, die Zusagen und die Tröstungen des Evangeliums mit verdoppelter Kraft zum G e w i s s e n " ^ z u bringen. Das individuelle Gespräch wird aufgrund der vorangegangenen Überlegungen zum zentralen Medium der Seelsorge. Der Pastor sollte seinem Gesprächspartner nicht mit der "kalten Förmlichkeit eines amtlichen Lehrmeisters" begegnen, sondern das Gespräch mit einer Atmosphäre der warmfühlenden Zuneigung tragen. Julius vertritt das Bild des Seelsorgers, der als Freund, ohne zu bedrängen, für die Gefangenen "der Prüfer ihrer Bedürfnisse, der Aufbewahrer ihrer Sorgen und der Erneuerer ihrer Hoffnungen werden"·'·^® kann. Den Hauptakzent legt Julius eindeutig auf die "mitleidsvollen Bemühungen" um den einzelnen Gefangenen, die auch die Sorge um seine Familie einschließen und nach der Entlassung weitergeführt werden sollen. Das Engagement des Gefängnisgeistlichen im weiten Bereich der speziellen und allgemeinen Seelsorge wird von der Liebe zu den Gefangenen und der Motivation getragen, das "Beste" für sie zu erreichen. Die Präsenz des Seelsorgers im Strafvollzug hat für die Gefangenen eine große Bedeutung, da er "der einzige Herold der Wahrheit, des Trostes und des Friedens"157 j m System der Unfreiheit ist. 1
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Die Funktion der Gefangenenseelsorge innerhalb des Strafvollzuges wird von Julius ambivalent bestimmt: Einerseits leistet sie zur Erreichung des Vollzugszieles der Besserung wesentliche Beiträge, andererseits soll sie die individuellen Interessen der Gefangenen aufnehmen. Julius löst diese Spannung, indem er die Sorge um die Pastoranden nicht so stark gewichtet, daß der Pfarrer in den Verdacht geraten könnte, dysfunktional im Sinne des Vollzuges zu arbeiten. Jedoch verhindert Julius durch die op-
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timistische Beurteilung der Eigenkräfte der I n h a f t i e r t e n , die in der Seelsorge entfaltet werden sollen, daß diese dem anonymen Schema des Freiheitsstrafvollzuges unterworfen wird. Zusammenfassend charakterisiert Julius das intendierte Bild des Gefängnisseelsorgers: "Fest auf der Erde s t e h e n d , den gläubigen Blick nach oben gerichtet, muß er mit s t a r k e r Hand die Gesunkenen hinaufziehen zu seiner Nähe, und sie mit unerschütterlichem, Sicherheit gewährenden Vertrauen erfüllen an die Verheißung, die höher steht als aller Lohn der Erde, deren Erfüllung aber n u r dem wird, der sich ihr hingiebt, mit ganzem Gemüthe, mit ganzem Geiste, und mit ganzer Gesinnung. " ^ δ
2 . 6 . 3 Wicherns grundlegende Perspektiven der institutionalisierten Gefangenenseelsorge Wicherns immer wieder erhobene Anklage, die Kirche sei mitverantwortlich f ü r die desolaten Zustände des Gefängniswesens, resultiert aus seiner G r u n d ü b e r z e u g u n g , die ihn zum Engagement f ü r Gefangene motiviert: Die christliche Gemeinschaft lädt eine schwere Schuld auf sich, wenn sie die "apostolische Vorschrift" v e r l e u g n e t : "Wo ein Glied leidet, da leidet der ganze Leib". Der ekklesiologische Bezug auf l . K o r 12,19 stellt f ü r Wichern pointiert den Anspruch der Gefangenen h e r a u s , als gleichberechtigte Mitglieder der christlichen Gemeinschaft behandelt zu werden. Von daher ist der Kirche a u f g r u n d der Vernachlässigung der Gefangen e n b e t r e u u n g vorzuwerfen, daß sie sich von der Basis des Evangeliums e n t f e r n t h a t . Denn sie hat die Verurteilten ausgestoßen, statt deren Strafe "als Mittel evangelischer Erziehung und innere Erkenntnis der Sünde gewährenden Zuchtmeister auf Christum" zu b e t r a c h t e n . "Daher hat sie sich die zuverlässige Wahrheit, daß die überaus sündig gewordene Sünde es oft dem Sünder erleichtert, sein Herz der Gnade Gottes in Jesu Christo hinzugeben, verdunkeln lassen und zu wenig daran gedacht, dem v e r ordneten Diener Gottes und selbst dem geschriebenen Gotteswort einen freien und immer offenen Zugang in alle Kerker zu bewahren und dann n u r erfolgreich ihr immer gebührendes Recht geltend gemacht, wenn es nicht mehr darauf anzukommen schien, einen lebenden Verbrecher zu bek e h r e n , sondern einen sterbenden mit Gott zu versöhnen." 1 "'® Wichern wendet sich damit gegen die Dominanz der Seelsorge an zum Tode Verurteilten und fordert speziell die Sorge um l ä n g e r f r i s t i g I n h a f t i e r t e . Will die Kirche ihren missionarischen A u f t r a g "als Kirche f ü r das Volk" nicht v e r l e u g n e n , muß sie ihre Schuld an den Gefangenen a b t r a g e n , indem die von Christus erhaltene Aufgabe erneut ins Bewußtsein gebracht wird, die göttliche Gnadenszusage auch den Rechtsbrechern zu v e r k ü n digen, damit die Haftanstalt f ü r sie eine "Durchgangsstätte zum Heile werde"160.
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Die von der Solidarität der christlichen Gemeinde getragene Seelsorge leitet ihren A u f t r a g aus Gottes Sündenvergebung a b . Ihre Arbeit wird inhaltlich von dem Ziel g e p r ä g t , die Inhaftierten auf den d u r c h die Vergebungszusage eröffneten Weg zur "sittlichen Neugeburt" 1 ®·'· zu f ü h r e n . Da Wichern die B e s s e r u n g der S t r a f t ä t e r nur als sekundären Strafzweck a n e r k e n n t , umgeht er im theoretischen Ansatz die Gefahr, die Gefangenenseelsorge funktional in die Zielsetzung des Vollzuges zu integrieren oder dessen Inhalte zu formulieren. Die Gefängnisgeistlichen sollen die zur Besserung förderlichen "physischen und sittlichen Bedingungen", die der Vollzug bietet, f ü r ihre Aufgabe nutzen und dem Verurteilten "das über ihn gekommene Gericht als Krisis zur Genesung" 1 ®^ i n t e r p r e t i e r e n . Wichern ist schon a u f g r u n d seines S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s weit davon e n t f e r n t , die Wechselbeziehung von Strafvollzug und Seelsorge a u f zubrechen, aber er achtet scharf d a r a u f , daß das "Proprium" beider Institutionen gewahrt bleibt: Die Seelsorge orientiert sich am Evangelium, während der Strafvollzug vom gesetzlich f u n d i e r t e n S t r a f v e r s t ä n d nis normiert wird. Außer dem theologisch rechtlichen Argument v e r h i n dert Wicherns umfassendes kirchen- und sozialreformerisches Programm, daß die Gefangenenseelsorge inhaltlich von staatlich formulierten Vollzugszielen abhängig wird. Die christologisch v e r a n k e r t e Sorge um den sittlichen Verfall der Gesellschaft impliziert die Integration der Seelsorge an Inhaftierten in das weite Aufgabenfeld der Inneren Mission. Wichern nimmt damit Fliedners Begriff der Seelsorge an Strafgefangenen als "inländische Missionssache" auf und erweitert i h n , indem er die Verpflichtung aller Christen h e r a u s s t e l l t , sich aus Nächstenliebe der Menschen in den Haftanstalten, der "nächtlichen Region der Christenheit", anzunehmen 1 ®^. Wichern betont wiederholt, daß eine Reform des Gefängniswesens nur dann im Kontext der sozialen E r n e u e r u n g des Volkes e r folgreich sein kann,wenn sie von einer "Reform der Gefangenen" begleitet wird. Die innere E r n e u e r u n g der Gefangenenwelt wird initiiert, indem "der Same der Wiedergeburt" 1 von der Kirche in die Haftlokale getragen wird. Die Gefangenen d ü r f e n "der Freiheit der Gemeinschaft mit der Gemeinde des Herrn nicht entbehren". Sie müssen integriert bleiben in der "Gemeinschaft des ewigen Lebens", denn "der Herr hat sein Volk auch u n t e r den Missetätern, sie sind sein; es kommt n u r d a r auf a n , ihn u n t e r denselben und in denselben zu glauben und zu s u chen (wie sein Wort es gebietet), um ihn in ihnen zu finden" 1 ®^. Matth 25,36 beinhaltet "das Wort aus des Herrn Mund", auf das sich Wichern zur biblischen B e g r ü n d u n g der Sorge um die Gefangenen b e r u f t . Die Schriftstelle gewinnt f ü r i h n , ähnlich wie f ü r Fliedner, nachgerade Gebotscharakter als eine F o r d e r u n g des H e r r n , "das Wort von der Versöhnung" in den Gefängnissen zu predigen 1 ®®. Im Sinne einer typologischen Schriftauslegung verbindet Wichern Matth 25 mit der Aussage von Jes 61,1: "den Gefangenen eine Erledigung und eine Öffnung den Gebundenen zu predigen". In der Inkarnation und dem vorbildhaften Wir-
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ken des Gottessohnes in der Welt hat sich f ü r Wichern das Prophetenwort erfüllt und ist unabweisbar demonstriert worden, daß Gott durch Christus "sein gefangenes Volk" erlösen will. Daraus folgert Wichern, daß die Christen verpflichtet s i n d , sich der Gefangenen in F o r t f ü h r u n g des Werkes Christi zu erbarmen, zumal zugesichert i s t , daß diese Halt u n g im Endgericht mit dem "ewigen Paradies" belohnt werden w i r d l 6 7 . Wichern erweitert die biblische Deduktion der Gefangenenseelsorge mit dem christologisch orientierten Argumentationsgang, daß die "Gnadenoffenbarung" Christi am Kreuz, "sein f ü r u n s e r und aller Welt Sünden vergossenes Blut" auch dem Gefangenen Vergebung zuspricht, worauf sich sein Anrecht g r ü n d e t , in "das Reich der einen wahrhaftigen Freiheit" g e f ü h r t zu werden. Das Heilshandeln Christi ist paradigmatisch f ü r jeden Christen: Er war der e r s t e , der einem schuldigen Mörder, der seine Schuld bekannt h a t t e , Vergebung zugesichert h a t , als er selbst am Kreuz u n t e r die "Missethäter" gerechnet wurdel69. Christus ist in die "Reihe der Gefangenen" hinabgestiegen, darin erreicht "seine Liebe und Gnade den höchsten Gipfel". Im Tod am Kreuz hat Christus sich mit dem Leiden der Strafgefangenen identifiziert, er hat sie zu einem integrierten Teil seines Erlöserlebens gemacht. Daher gewinnt f ü r Wichern die "Verkündigung seines Namens und die Entfaltung seines Gnadengeistes u n t e r den Gefangenen" f ü r die Gefangenenseelsorge Priorität. Die u n t e r der Last des Strafleidens stehenden Häftlinge sollen sich nicht vergeblich nach der zugesicherten "Freiheit der Kinder Gottes" sehnen 1 7 ®. Mit seiner theologischen Argumentation zur Begründung der Gefangenenseelsorge vereinigt Wichern ekklesiologische und christologische Ansätze und betont zugleich soteriologische und inkarnatorische Motive: Die Erniedrigung des Menschensohnes zum Heil der Menschen wird zum Motiv der Sorge f ü r den Menschen in der S t r a f e . Neben der theologischen Grundlegung prägt auch Wicherns Analyse der Befindlichkeit der Gefangenen die Zielformulierung der Gefangenenseelsorge. Weitreichende Unbildung und sittlicher Verfall der Häftlinge resultieren aus der Abwendung des Volkes von den Grundlagen der christlichen Welto r d n u n g . Die gesellschaftlichen Zustände, die "von Sünde ohne Leid über sie" charakterisiert sind, haben f ü r Wichern in den Gefängnissen "ihr am grellsten ausgebildetes Gepräge empfangen". Deswegen ist dem Täter die von der Gesellschaft mitverantwortete Straftat nicht in alleiniger Verantwortung anzurechnen. Die Sünde des Inhaftierten wird vielmehr dann erst manifest, wenn er eine Haltung der Unbußfertigkeit zeigt: "Wo der Mensch das s t r a f e n d e Gesetz nicht als solches in sein Gewissen einzeichnen läßt und k r a f t des Gottesgesetzes sich selber richtet und s t r a f t , da empört sich das Fleisch gegen den lebendigen Gott, und die Sünde e r s t i r b t nicht u n t e r der S t r a f e , sondern wird lebendig u n t e r ihr und vertieft sich zuletzt bis zu einem unermeßlichen A b g r u n d e , in dessen Schöße immer tiefer wuchernde Sünde geboren wird"·'· 7 !. jjj e tiefe Schuld liegt in der Negation der göttlichen O r d n u n g und der daraus folgenden
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Selbst gerechtigkeit, die zu immer neuen Rechtsbrüchen führen muß. Diese Haltung der Gefangenen wird negativ verstärkt im Gemeinschaftsvollzug, der nach Wicherns Überzeugung alle Ansätze zu einer Befreiung von der eigenen sündhaften Haltung im Keim erstickt. Während der kollektive Druck der Gemeinschaft der Sünder jede Hoffnung auf Einsichtigkeit aussichtslos macht, initiiert die Einzelhaft, die nur Kontakte mit sittlich und moralisch höherstehenden Personen ermöglicht, einen Prozeß der Reflexion über das Ausmaß der eigenen Schuld und der Sünde vor G o t t l 7 2 . Der Häftling gerät in der Einzelzelle in einen "verzweiflungsvollen Zustand", in dem er die Hilfe des Seelsorgers benötigt, der die aufkommenden Schuldgefühle aufzunehmen versteht. Da der Gefängnispfarrer dafür verantwortlich ist, daß eine emotionale Auseinandersetzung mit der Schuldfrage einsetzt und in eine grundsätzliche Neuorientierung des Lebens übergeleitet wird, darf er nicht warten, bis der Pastorand ihn zu sich r u f t , sondern soll nach dem Vorbild Jesu die in ihren Sünden Verlorenen aufsuchen. Die in einigen Haftanstalten v e r breitete Regelung, daß Pastoranden sich zur Sprechstunde des Geistlichen melden müssen und in einem speziellen Raum nacheinander zu Gesprächen vorgeführt werden, bietet für Wichern keinen Ersatz für den Besuch des Seelsorgers, "der durch sein Kommen und Aufsuchen eben die persönliche Teilnahme und Liebe, die dem Betrübten oder Gefallenen nachgeht, zu bekunden hat und nach demselben f r a g t , auch wenn dieser selber nicht f r a g t , der gerade den, der ihn, den Pastor, nicht begehrt, zu dem Quell des Lichts und des Trostes, zu dem er sonst nicht kommen würde, führen m ö c h t e " D Gefangenen darf das "Christenrecht an Gottes Wort und Sakrament" nicht genommen werden. Unter dieser Prämisse fordert Wichern, daß auch für kleinere Gefängnisse ein hauptamtlicher Seelsorger eingestellt wird und wendet sich dagegen, daß in vielen Haftanstalten die Seelsorge im "Nebenamt" versehen wird, was zu einer unzureichenden Betreuung der Gefangenen f ü h r t G r o ß e Anstalten sind personell unterbesetzt, wenn ein Geistlicher, "der das Mittel der Einzelhaft zur kirchlichen Seelsorge auszubeuten versteht", allein die Seelsorge zu tragen hat. Wichern möchte daher neben dem christlich motivierten Gefängnispersonal "seelsorgerliche Gehilfen für die Gef a n g e n e n p f l e g e " ! ^ ausbilden lassen. Die private, aus dem christlichen "Gebot des Gefangenenbesuches"^^ erwachsende Besuchstätigkeit soll in "lebendiger Wechselbeziehung" mit der Seelsorge des Pfarrers stehen, sie ergänzen. Die Besucher sollten nur für einen kleinen Kreis von Gefangenen verantwortlich sein und diese auch nach deren Entlassung weiter betreuen. Der regelmäßige Kontakt mit den Gefangenen, der das tragende Element des pennsylvanischen Systems darstellt, hat für Wichern einen hohen Stellenwert innerhalb der seelsorgerlichen Betreuung von Inhaftierten: "Alle Tätigkeit der übrigen Beamten unter den Gefangenen arbeitet in der Einzelhaft dieser speziellen Seelsorge der Geistlichen..." zu!77 t in der Beschreibung des Aufgabenfeldes der Gefangenenseelsorger stellt Wichern immer wieder heraus, daß Einzelhaft und spezielle Seele
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sorge Korrelatbegriffe sind^iS. Diese funktionale Verquickung verleiht Wicherns Seelsorgekonzeption eine spezifische P r ä g u n g : Alle Aufgabenbereiche werden aus dem Kernelement, dem persönlichen Kontakt mit dem Pastoranden, deduziert. Wichern v e r k n ü p f t die allgemeine mit der speziellen Seelsorge, die die Impulse von Gottesdienst und Unterricht aufnehmen und im Gespräch vertiefen soll. Dieses Modell konnte n u r in Moabit praktisch verwirklicht werden. Wicherns Bestrebungen liefen jedoch darauf h i n a u s , sein Seelsorgekonzept v e r b u n d e n mit anderen Reformforderungen - in Preußen durchzusetzen; dieser Versuch scheiterte, wie schon dargestellt. Trotzdem gelang es Wichern, Einfluß auf die Organisationsstrukturen der Gefangenenseelsorge in Preußen zu nehmen. Er entwarf im Januar 1859 "Instruktionen f ü r die B e r i c h t e r s t a t t u n g der Strafanstaltsgeistlichen"l?9, die einen doppelten Zweck verfolgten: Material über die Arbeit der Gefangenenseelsorge zu sammeln, um einen Oberblick über deren Aktivitäten zu erlangen, und die Kontinuität der Seelsorgearbeit zu f ö r d e r n . Da eine sehr detaillierte B e r i c h t e r s t a t t u n g vorgeschrieben wurde, implizierten die Instruktionen eine Arbeitsanleitung f ü r G e f ä n g n i s p f a r r e r . Zur inhaltlichen Gestaltung der Seelsorge in den Haftanstalten des J u stizministeriums wurde am 24.2.1858 vom preußischen Oberkirchenrat eine Dienstanweisung erlassen, an der Wichern maßgeblich mitgearbeitet h a t t e . Die Anweisung fußte auf dem Gefängnisreglement vom 21.2. 1856, das den organisatorischen Rahmen der Gefängnisseelsorge abgesichert h a t t e . Aufgrund des § 80 - "Keinem Gefangenen darf der seelsorgerliche Zuspruch versagt werden" - wurde f ü r jedes Gefängnis des Justizministeriums mit über zehn Gefangenen ein Geistlicher eingestellt, der mit Gottesdienst, Unterricht und Einzelseelsorge b e a u f r a g t wurde Die Kosten und die "Renomerationen" des Geistlichen übernahm die Staatskasse. Der Seelsorger hatte die Erlaubnis, jeden Gefangenen frei zu b e s u c h e n 1 ^ 1 . Die Anstaltsleitung war v e r p f l i c h t e t , d a f ü r zu s o r g e n , daß der Gefängnispfarrer bei seiner Arbeit nicht behindert wurde. Auf dieser institutionellen Absicherung des Gefängnispfarrers bauten die Aufgabenbeschreibungen des Oberkirchenrates auf, der zugleich die Dienstaufsicht ü b e r n a h m 182, Die "unmittelbare Amtspflicht" des Gefängnisgeistlichen umfaßte vier Gebietel83 : " 1 . die Abhaltung der Gottesdienste, 2. die Austheilung des heiligen Abendmahls, 3. die Ausübung der speziellen Seelsorge, 4. die Fürsorge f ü r die religiöse Bildung der jugendlichen Gefangenen". Bei der Gestaltung des Gottesdienstes soll der P f a r r e r besonderen Wert auf den "geistlichen Gesang", der "die Gemüther der Gefangenen" e r h e b t , und die Predigt 184 legen, die möglichst einfach gestaltet und auf die "eindringliche Darstellung der evangelischen Grundwahrheiten von der Sünde und Gnade" ausgerichtet sein sollte. Bei der Austeilung des
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mindestens viermal im Jahr zu feiernden A b e n d m a h l s 185 j s t z u beachten, daß nur diejenigen Gefangenen teilnehmen, "deren Herzens zustand dem Geistlichen bekannt ist und von deren Bußfertigkeit und Heilsbegierde er unzweideutige Zeichen empfangen hat", um zu verhindern, daß sie "durch unwürdigen Gebrauch" des Sakraments nicht "noch mehr dem Gerichte Gottes verfallen". Besondere Aufmerksmakeit soll der Geistliche den jugendlichen Gefangenen zuwenden, um deren "religiöse, sittliche und intellektuelle Fortbildung" zu fördern. Falls notwendig, sind die noch nicht konfirmierten Jugendlichen auf die Konfirmation vorzube1
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reiten 1 0 0 . Die Zusammenarbeit mit dem Anstaltslehrer wird hierbei angestrebt . Die konstruktive Mitarbeit Wicherns wird besonders im umfangreichen Teil C - "Ausübung der speziellen Seelsorge" - deutlich: Die aus dem Seelsorgeauftrag resultierende spezielle Seelsorge an Inhaftierten hesteht "in der Anwendung der geoffenbarten und durch die Predigt Allen gemeinsam zu verkündigenden göttlichen Wahrheit auf den Zustand der einzelnen Seele" mit dem Ziel, "ein lebendiges Schuldbewußtsein vor dem heiligen Gott und ein herzliches Verlangen nach Sündenvergebung zu wecken, auf die gläubige Zuneigung derselben hinzuwirken, den bekümmerten und angefochtenen Seelen Trost zu geben und sie in christlicher Erkenntnis und gottseligem Wandel zu fördern". Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, wird Wicherns Forderung aufgenommen, daß der Seelsorger "auch unaufgefordert von Zeit zu Zeit die Gefangenen zu besuchen und sich von deren inneren Zuständen zu unterrichten" hat!87 # um das Bild vom Gefangenen abzurunden, hat der Gefängnispfarrer das Recht, Einsicht in die Akten zu nehmen. Im Verlauf des Seelsorgegespräches sollte der Geistliche sich bemühen, nicht die Rolle eines Richters zu übernehmen, vielmehr ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das für die Seelsorgearbeit unbedingt notwendig ist. Die von einer erbarmenden Liebe geprägte Gesprächshaltung des Seelsorgers , die ein Stück der Vergebung Christi konkretisiert, sollte im Sinne Wicherns - den Hinweis auf den Ernst der Gesetze Gottes beinhalten: Denn die Arbeit des Seelsorgers ist darauf auszurichten, daß die Pastoranden "ihren jetzigen Zustand... gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, der Obrigkeit, und in Bezug auf Gottes Reich im rechten Licht der Wahrheit erkennen, die objektive göttliche Nothwendigkeit des Strafgesetzes und der Freiheitsstrafe begreifen lernen, und sich der in das Gefängnis hereinleuchtenden und wirkenden Strahlen christlicher Liebe desto dankbarer erfreuen" 188. Gesetz und Evangelium bleiben eigenständige Strukturelemente, doch umgreift die vergebende Tröstung des Evangeliums die Vorhaltung des Gesetzes. Die aus dem Evangelium abgeleitete Haltung der annehmenden Liebe impliziert, daß der Seelsorger auf einer Ebene mit den Gefangenen kommuniziert, sich deren persönlicher und familiärer Probleme annimmt und auch die notleidenden Familien der Inhaftierten betreut 1 8 ^.
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Der Gefangene soll eine "schonende und achtende Berücksichtigung seiner Person" e r f a h r e n , um ein Selbstwertgefühl entwickeln zu können, das eine wichtige Voraussetzung zur "geistigen Hebung" bietet. Wird der Gefangene als Person ernstgenommen, bedeutet das f ü r das seelsorgerliche Gespräch, daß es offen und rückhaltlos g e f ü h r t wird, wenn "es darauf ankommt, Unwahrheit und Heuchelei zu beseitigen und a u f richtige Buße zu e r w e c k e n " ! ^ . j ) e r Seelsorger ist gehalten, darauf zu achten, daß die Schuld des Gefangenen in den Gesprächen thematisiert wird. Die vom Beichtgeheimnis geschützte vertrauensvolle Atmosphäre des Seelsorgegespräches darf der Pastor jedoch nicht d u r c h b r e c h e n , indem er den Pastoranden zu Geständnissen bewegt und diese dann dem Gericht weiterleitet. Prinzipiell wird der Seelsorger in der Anweisung davor gewarnt, in laufende Verfahren einzugreifen. Ausnahmen sollten n u r in schweren Kriminalfällen gestattet sein, bei denen Gefangene dazu bewegt werden sollten, bisher verschwiegene Taten der Untersuchungsbehörde zu offenbaren 191. Die seelsorgerlichen Bemühungen werden mit einem vertraulichen Gespräch vor der Entlassung abgeschlossen. Um dem Entlassenen den Übergang in die Freiheit zu erleichtern, wird der Seelsorger v e r p f l i c h t e t , den Pastoranden dem zuständigen P f a r r e r seiner Heimat gemeinde zur weiteren Betreuung a n z u v e r t r a u e n . Über die Mitarbeit an der "Anweisung f ü r die bei den Gerichtsgefängnissen mit der gottesdienstlichen und seelsorgerlichen Pflege der Gefangenen b e a u f t r a g t e n evangelischen Geistlichen" ist es Wichern gelungen, die G r u n d s t r u k t u r e n seiner Gefangenenseelsorgekonzeption in die Praxis zu ü b e r t r a g e n . Allerdings u n t e r der wesentlichen Reduktion, daß die Seelsorge nicht mehr unbedingt an den Vollzug der Einzelhaft gebunden i s t . Die Anweisung beweist, daß Wicherns k o n s t r u k t i v e s Engagement f ü r die Lösung des Gefangenenproblems maßgeblich dazu beigetragen h a t , die institutionalisierte Gefangenenseelsorge a u f z u b a u e n . Mit dem Erfolg, daß deren Existenz um die Mitte des 1 9 . J a h r h u n d e r t s in Preußen außerhalb der Diskussion s t e h t . Während die E i n f ü h r u n g neuer Haftsysteme noch umstritten i s t , wird die Gefangenenseelsorge, die vom Staat mitgetragen oder doch wenigstens toleriert wird, auch von den liberalen S t r a f r e c h t s l e h r e r n nicht bekämpft. Wichern hat es e r r e i c h t , eine umfassende theologisch f u n d i e r t e B e g r ü n d u n g der Seelsorge in Vollzugsanstalten und zugleich bis ins Detail durchdachte Pläne f ü r deren praktische Verwirklichung zu einem System zu v e r b i n d e n , das in seiner Zielsetzung den Reformtendenzen im Bereich des Strafvollzuges eine adäquate Seelsorgekonzeption an die Seite stellte. Das gilt auch d a n n , wenn man die Vorstellungen Wicherns von der Verbindung mit der Einzelhaftfrage löst. Besonders bedeutungsvoll und vorausschauend f ü r die weitere Diskussion über die Gefangenenseelsorgepraxis bis in die Gegenwart sind Wicherns theologisch motivierte Forderungen,
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auch die Gefangenenseelsorge ü b e r die Einbeziehung des Laienelements in F ü r s o r g e u n d Besuchsdienst als gesamtkirchliche Aufgabe zu b e schreiben.
2 . 6 . 4 Krohnes W e i t e r f ü h r u n g Wichernscher Reformen Als Leiter d e r Haftanstalt Moabit nahm d e r ehemalige G e f ä n g n i s p f a r r e r Krohne Wicherns Ansatz zur seelsorgerlichen B e t r e u u n g d e r I n h a f t i e r t e n a u f . In Analogie d e f i n i e r t Krohne "die Pflege d e s Religiösen" in d e r S t r a f a n s t a l t als eine Aufgabe "aller P e r s o n e n , welche im Strafvollzug mitwirken". Er u n t e r s c h e i d e t allerdings die Pflege "des allgemein menschlich Religiösen", die jeder übernehmen k a n n , von d e r "des kirchlich Religiösen", die den P f a r r e r n ü b e r l a s s e n bleibt. Krohne geht davon a u s , daß "ohne Religion" d e r "sittliche Zweck des S t r a f v o l l z u g e s , E r z i e h u n g , Umb i l d u n g des B e s t r a f t e n nicht zu e r r e i c h e n " i s t . Der Begriff d e r Religion wird im "allgemein menschlichen Sinne" gefaßt als die "Sehnsucht nach dem Unendlichen und Göttlichen"192 ( die auch im Gefangenen latent v o r h a n d e n i s t . Auf d e r - schon von Julius v e r t r e t e n e n - religiösen Disposition des Gefangenen a u f b a u e n d , werden die G r u n d s t r u k t u r e n eines p r a k t i s c h e n Gottesglaubens u n d einer ethischen L e b e n s h a l t u n g e n t f a l t e t . Der Gefangene soll a u f g r u n d seines Glaubens "das Bewußtsein von d e r s i t t lichen Haftbarkeit des Menschen seinem Gott g e g e n ü b e r " entwickeln. Das S t r a f u r t e i l b e k r ä f t i g t die Pflicht, das Leben dem göttlichen Gesetz e n t s p r e c h e n d zu g e s t a l t e n . Die S t r a f e beinhaltet die Konsequenz des Verstoßes gegen die vom Staat g e t r a g e n e göttliche Weltordnung. Aus dieser Ü b e r l e g u n g formuliert Krohne die Inhalte d e r "religiösen Pflege" i n n e r h a l b d e s Vollzuges: Dem Gefangenen die Implikationen d e s Gesetzesb r u c h s zu v e r d e u t l i c h e n und zur A n e r k e n n u n g d e s göttlichen Willens zu bewegen. Die religiöse Pflege wird als ein E r z i e h u n g s p r o z e ß in den S t r a f vollzug i n t e g r i e r t . An diesem Prozeß d e r sittlichen Neuorientierung des Häftlings wird auch die von d e r Kirche g e t r a g e n e "konfessionell religiöse Pflege" mitbeteiligt. Krohne wendet sich gegen die Form d e r institutionalisierten Gefangenenseelsorge, in d e r d e r Staat die Geistlichen besoldet u n d als "staatliche Organe im Gefängnisdienst" e i n s e t z t , somit Einfluß auf die Gestaltung i h r e s Dienstes nehmen k a n n . Er a r t i k u l i e r t die Ü b e r z e u g u n g , daß die Seelsorge auf engem Kontakt zu den Gefangenen b a s i e r e n und damit i h r e A u f g a b e , die konfessionelle religiöse P f l e g e , e f f e k t i v e r u n d f r e i e r gestalten k ö n n t e , "wenn sie als freie Liebesthätigkeit d e r Kirche u n d nicht als eine vom Staate bezahlte u n d reglementierte d a r g e b o t e n würde"193. Krohnes F o r d e r u n g nach einer u n a b h ä n g i g e n Gefangenenseelsorge ist auf dem H i n t e r g r u n d der Entwicklung zu v e r s t e h e n , daß die Institution a l i s i e r u n g die reglementarische Abhängigkeit von d e r Vollzugsorganisation bewirkt h a t t e u n d zu einem Problem f ü r die u n g e b u n d e n e Seelsor-
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gearbeit geworden war mit der Konsequenz f ü r die Praxis, daß der Gef ä n g n i s p f a r r e r oftmals als Vertreter des Vollzuges angesehen und von den Häftlingen emotional abgelehnt wurde. Obwohl die Organisation der Seelsorge im Strafvollzug erst seit wenigen Jahrzehnten b e s t e h t , ist sie schon so institutionell v e r f e s t i g t , daß es Krohne resignativ f ü r sinnvoller hält, das Modell der freien 'religiösen' Seelsorgearbeit zu realisieren. Die formale Unterscheidung von 'religiöser' und 'konfessioneller religiöser' Pflege f ü h r t Krohne weiter in einer inhaltlichen S t r u k t u r i e r u n g der Seelsorge an Gefangenen als "allgemeine S e e l s o r g e " 1 9 4 U nd "kirchliche S e e l s o r g e " ! ^ . D e r singulär von Krohne v e r t r e t e n e zweigleisige Aufbau der Seelsorge ist als Versuch zu i n t e r p r e t i e r e n , Wicherns Ansatz, die Seelsorge als Aufgabe der gesamten christlichen Gemeinde darzustellen, konsequent weiterzuführen. Krohnes Überlegungen sind jedoch d a r a u f hin zu b e f r a g e n , ob nicht der Begriff der Seelsorge so weit i n t e r p r e t i e r t wird, daß er nur schwer von der Erziehung zu unterscheiden i s t . Im Kontext der "allgemeinen Seelsorge" definiert Krohne Seelsorge als "Sorge f ü r die Seele, f ü r das i n n e r e , geistige, religiös-sittliche Leben, dessen Gestaltung und äußere Bethätigung". Eine sinnvolle Seelsorgebeziehung muß auf einem Vertrauensverhältnis basieren, das - in Anlehnung an Wicherns Konzept - darin b e g r ü n d e t i s t , daß der Gefangene zum Seelsorger aufsehen kann "als zu einem Ueberlegenen, der ihm gerade das geistliche Gut erwerben k a n n , welches ihm fehlt". Die geistige und sittliche Überlegenheit qualifiziert den Seelsorger, dessen Amt und Stellung - er kann aus den Reihen der Beamten, L e h r e r , Geistlichen kommen - sekundär sind. Das von Krohne mit Vertrauen umschriebene Verhältnis der sittlichen Überlegenheit des Seelsorgers soll es dem Inhaftierten erleichtern, sich ganz in das Gespräch mit dem Seelsorger einzugeben. Denn e r s t wenn das "Herz" des Pastoranden "aufgeht", kann die Schuldfrage thematisiert werden, indem dem S t r a f t ä t e r "sein v e r k e h r t e r geistlicher und sittlicher Zustand zum Bewußtsein" gebracht wird. Alle Versuche, die Verantwortung f ü r die Tat abzulehnen, hat der Seelsorger mit dem Argument zurückzuweisen, daß der Delinquent allein die Schuld t r ä g t . Krohne geht vom Postulat des freien Willens aus und distanziert sich von einer soziologisch orientierten Sicht der Kriminalit ä t . Unter diesem Ansatz sieht er in der "rücksichtslosen Anerkennung der eigenen Schuld" den "ersten Erfolg der Seelsorge". Er aktualisiert damit eine Seelsorgepraxis, die die Vermahnung aus dem Gesetz zum Ausgangspunkt nahm. Den tröstenden Zuspruch des Evangeliums, den Wagnitz und Wichern betont h a t t e n , nimmt Krohne nicht auf. Haben die seelsorgerlichen Gespräche die Anerkennung der Schuld e r r e i c h t , wird die "allgemeine Seelsorge" zu einem Erziehungsprozeß umgestaltet, in dem der Inhaftierte lernen soll, in Zukunft "ordentlich" zu leben, dem "Gesetz gehorsam" zu sein und "böse Gemeinschaft" zu m e i d e n d e . Die von allen Beamten des Vollzugs im täglichen Umgang mit den Gefangenen geübte Seelsorge mündet in einen Anpassungsprozeß an geltende
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bürgerliche Normen, denen der Gefangene unterworfen wird. Da nicht die Bedürfnisse der Gefangenen im Vordergrund s t e h e n , sondern die Forderungen der Vollzugsorgane nach Übernahme gesetzeskonformer Werte und Normen, erscheint es angemessen, nicht von Seelsorge, sond e r n von einem Umerziehungsprozeß zu s p r e c h e n , den die Gefangenen nach Krohnes Konzeption durchlaufen müssen. Krohne nimmt zwar formal die Ansätze Wicherns a u f , die Häftlinge in der Einzelhaft über den Umgang mit sittlich höherstehenden Personen zu b e s s e r n , löst aber die "allgemeine Seelsorge" aus dem christlich orientierten Begründungszusammenhang Wicherns. Dadurch werden die vermittelten Inhalte aus dem Rahmen der "allgemeinen Sittlichkeit" deduziert und mit dem Vollzugszweck gekoppelt, so daß die christliche Komponente auf die Anwendung des göttlichen Gesetzes reduziert wird. Der funktional integrierten "allgemeinen" stellt Krohne die "kirchliche Seelsorge" g e g e n ü b e r , die einen Freiraum im Vollzug b e a n s p r u c h e n k a n n ; denn nach Matth 25,36 kommt der Geistliche als ein Abgesandter des Herrn und nicht des Staates zu den Gefangenen. Der Seelsorger sollte das Gespräch mit dem Pastoranden s u c h e n , "um die Sache der a r men sündigen Menschenseele vor Gott u n t e r vier Augen zu v e r h a n d e l n " . Der kontinuierliche Kontakt zu den Häftlingen dient als Zeichen, daß der P f a r r e r den Sorgen, Problemen und dem Lebenskreis der Inhaftierten aufgeschlossen g e g e n ü b e r s t e h t . Dementsprechend muß sich das Seelsorgegespräch an den Bedürfnissen der Inhaftierten ausrichten: Sie sollen das Gefühl bekommen, daß der Pastor f ü r sie da ist und sich ihm gegenüber frei aussprechen - das "Herz ausschütten" - können. Die "seelsorgerliche Kunst" der G e s p r ä c h s f ü h r u n g besteht d a r i n , den Pastoranden zur Reflexion der eigenen Person und Situation zu bewegen, wozu ihm ein Artikulationsfreiraum eröffnet wird. Der Seelsorger sollte, je nach Lage des Gesprächs, "mit kurzen t r e f f e n d e n Worten b e r u h i g e n , belehr e n , t r ö s t e n , ermahnen, aber auch ernst z u r e c h t - und zurückweisen", allerdings mit der Selbstbeschränkung, dem Gegenüber möglichst viel Gelegenheit zur Aussprache zu bieten, damit das Seelsorgegespräch nicht zu einer "Privatpredigt" umgestaltet wird. Die Haltung des Geistlichen sollte nach Krohne von "herzlichem Erbarmen" und sein Handeln von "aufopfernder Liebesthätigkeit" bestimmt sein. Beides gehört zusammen, denn "der Gefangene will nicht bloß Worte h ö r e n , sondern Taten sehen"197. Di e kirchliche Seelsorge schafft innerhalb des Vollzuges dem Gefangenen einen Freiraum, innerhalb dessen er mit seinen Problemen angenommen i s t . Indem Krohne den Gefangenen in den Mittelpunkt der kirchlichen Seelsorge stellt, wird die Kontrastierung zwischen "allgemeiner" und kirchlicher Seelsorge" noch einmal besonders deutlich: Während die erste Forderungen an den Gefangenen h e r a n t r ä g t , wirkt die zweite b e f r e i e n d .
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Es ist zu vermuten, daß Julius' dualistisches Denkmodell in diese Konstruktion Krohnes eingeflossen ist. Unklar bleibt bei der gegensätzlichen Aufgabenstellung die Rolle des Geistlichen, der auch die "allgemeine Seelsorge" mitträgt. Die Ambivalenz der Argumentation in Krohnes Ansatz ist signifikant. Krohne ist es nicht gelungen, das Laienelement und die vom Geistlichen getragene Seelsorge zu vermitteln und beide Aspekte der Gefangenenseelsorge aus der Integration in den Strafvollzug zu lösen. Zukunftsweisend an Krohnes Ansatz bleibt die theoretische Tendenz - im Sinne von Wagnitz und Julius -, der kirchlich getragenen Gefangenenseelsorge einen Eigenwert innerhalb des Vollzugswesens zu geben.
2.6.5 Zusammenfassung Der Vergleich der Ansätze Fliedners, Julius', Wicherns und Krohnes läßt als Gemeinsamkeit erkennen, daß die Gefangenenseelsorge als notwendige Begleitung des Freiheitsstrafvollzuges anerkannt wurde. Nach einer langwierigen Grundlagendiskussion war die Phase der Einführung der Seelsorge an Inhaftierten relativ kurz. Während Wagnitz noch vor der Aufgabe stand, die Seelsorge an zu Freiheitsstrafe Verurteilten aus dem Bezugsrahmen der Seelsorge an Todeskandidaten zu lösen und deren spezielle Inhalte zu formulieren, forderte rund hundert Jahre später Krohne, die kirchliche Gefangenenseelsorge aus dem organisatorischen Rahmen des Vollzugswesens herauszunehmen, um wieder eine an den Problemen des Gefangenen orientierte Seelsorge zu gewährleisten. Der Vorstoß Krohnes verweist auf den ambivalenten Charakter der Gefangenenseelsorge, der aus der organisatorischen Verbindung mit der Institution Strafvollzug resultierte. Die Konzeptionen Julius' und Wicherns, die die Sorge um den einzelnen Gefangenen und das seelsorgerliche Gespräch als die Kernpunkte der Gefangenenseelsorge herausgearbeitet hatten, wurden in der Phase der Institutionalisierung in eine Praxis überführt, die in enger Verbindung mit der inhaltlichen Gestaltung des Vollzuges stand. Dadurch, daß besonders dem Einzelhaftvollzug formal die Aufgabe gestellt wurde, die sittlich niedrig stehenden Gefangenen zu bessern, ohne zugleich die inhaltlichen Kriterien der sittlichen Erneuerung zu entwickeln, konnten die Seelsorger aufgrund ihres theologischen Selbstverständnisses die Aufgabe mit übernehmen, aus der ordnungstheologisch orientierten Ethik die Ziele des Strafvollzuges zu formulieren, die sich weitestgehend mit denen der Seelsorge deckten. Besonders deutlich wird die Bereitschaft, Inhalte für den staatlichen Vollzug zu formulieren, bei Fliedner, der der pädagogisch ausgerich-
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teten Gefangenenseelsorge die Aufgabe zuordnete, das die Wertvorstellungen der Gefangenen prägende Defizit an religiöser Erkenntnis d u r c h Erziehung zur Religion Christi aufzuarbeiten. Dahinter stand die Überzeugung, daß n u r das Anerkennen des göttlichen Willens die Grundlagen f ü r ein nicht delinquentes Leben des Gefangenen legen k a n n , das auch der Strafvollzug intendierte. Wenn Wichern dagegen v e r s u c h t e , die Gefangenenseelsorge theologisch und den Strafvollzug gesetzlich zu fundieren und eine Scheidung der Zielsetzung durchzuhalten, so gelang es ihm nicht, die theoretische T r e n n u n g in der Vollzugspraxis zu realisieren, da er an der theologischen Deduktion des weltlichen Gesetzes aus der gottgewollten Weltordnung festhielt. Krohne v e r s u c h t e das Problem der Zielparallelität zu d u r c h b r e c h e n , indem er "allgemeine" und "kirchliche" Seelsorge u n t e r s c h i e d . Solange sich die Ansätze zur Gefangenenseelsorge im Bereich des theoretischen und theologischen Reflektierens von Zielen und Inhalten bewegten, war es möglich, die Seelsorge aus dem A u f t r a g Christi nach Matth 25 als Sorge um den geringsten B r u d e r zu i n t e r p r e t i e r e n , die von der Liebe und der Sorge um das Heil des einzelnen Gefangenen bestimmt wurde. Bei der praktischen Umsetzung entstand jedoch die Schwierigkeit, zuerst die inhaltlichen S t r u k t u r e n eines Strafvollzuges zu s c h a f f e n , die eine geordnete Seelsorge ermöglichen. Das Grundproblem lag also im Ausgleich der I n t e r e s s e n , einerseits die Institutionalisierung der Seelsorge zu e r r e i c h e n , andererseits aber die Eigenständigkeit der durch den A u f t r a g des Evangeliums motivierten Gefangenenseelsorge zu sichern. Der Versuch, das Problem zu lösen, indem die Seelsorgetätigkeit einer freien Trägerschaft übergeben wurde, wie es Fliedner mit der Gründung der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft v e r s u c h t h a t t e , scheiterte an finanziellen Schwierigkeiten. So war es unabwendbar, daß der Staat den organisatorischen Rahmen der Gefangenenseelsorge stellte und aus eigenem Interesse deren Integration in das Vollzugssystem vorantrieb. Um das Evangelium, als Wort der Versöhnung, in Gefängnisse zu b r i n gen, b e d u r f t e es eines institutionellen Rahmens, der a u f g r u n d der Initiativen Fliedners und Wicherns geschaffen worden i s t . Aus dieser Überlegung resultierte die Bereitschaft, dem Staat die T r ä g e r s c h a f t zu ü b e r lassen. Die Gefahr, die daraus f ü r die Freiheit der Seelsorge e r w u c h s , war, daß das Gesetz - sowohl theologisch qualifiziert als Gottes Willen, der die Sanktion der Strafe f o r d e r t , als auch vollzugsorientiert in der Forderung nach Unterwerfung u n t e r die Bedingungen der S t r a f h a f t über die evangeliumsgebundene Gefangenenseelsorge gestellt wurde und somit nicht mehr die Person des Gefangenen, sondern das System der S t r a f h a f t die Inhalte der Gefangenenseelsorge bestimmte. Fliedner, Julius, Wichern und Krohne haben neben ihren Bemühungen, den Strafvollzug menschenwürdiger und - im Sinne der Rückfälligkeits-
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minderung - effektiver zu gestalten, die wichtige Aufgabe der Kirche an den unter das Gesetz gezwungenen Häftlingen herausgestellt, ihnen auf dem Wege zur Selbstfindung und Neuorientierung aus christlicher Nächstenliebe beizustehen. Da die Gefängnisreformer gleichzeitig aus christlicher Motivation bestrebt waren, den Strafvollzug durch die Einführung der Einzelhaft - in der der Gefangene zur Reflexion seiner Lage, nicht zuletzt mit Hilfe des Seelsorgers, motiviert werden sollte zu meliorisieren, ist es ihnen aufgrund der Verquickung beider Systeme nicht gelungen, der Gefangenenseelsorge die notwendige Freiheit zu schaffen.
2.7 Die Konsolidierungsphase der institutionalisierten Gefangenenseelsorge Das Desinteresse des Staates an Gefangenenfragen, die vollzugsgeschichtliche Entwicklung, daß die christlich motivierte Gefängnisreformbewegung und die Ansätze zur Gefangenenseelsorge von denselben Männern in Deutschland getragen wurden, und nicht zuletzt Wicherns volksmissionarischer Ansatz, bewirkten als ineinandergreifende Faktoren, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der kirchliche Einfluß strukturbildend im Strafvollzug dominierte. Die Kirche überschritt nach von Rohden ihren eigentlichen Kompetenzbereich, die Einführung und Organisation der Gefangenenseelsorge, indem sie das "Erziehungsprinzip der Strafvollzugsreform überhaupt als ihren Anteil auf ihre Schultern nahm und es durchzuführen suchte". Diese Entwicklung ergab sich aus der Grundtendenz, zur Einführung der Gefangenenseelsorge ein Gegenmodell zur äußerlichen Verwaltung und "mechanischen Dressur in den Strafanstalt e n " ! * ^ einführen zu wollen. Im Laufe der Entwicklung artikulierte die staatliche Vollzugsverwaltung den Anspruch, die Organisation rein kirchlicher Funktionen, wie die Seelsorge im Strafvollzug, unter staatliche Aufsicht zu stellen. Die Tendenzwende in der Gefängnispolitik wurde in Preußen besonders in den Haftanstalten der Justizverwaltung spürbar. Einen Kompromiß zwischen Staat und Kirche beinhaltete die Anweisung des preußischen Oberkirchenrates, bei deren Abfassung die Justizverwaltung Einfluß genommen hatte. Die Justizverwaltung erhielt die disziplinarische Kompetenz, während die Kirchenleitung das Recht der inhaltlichen Gestaltung der Seelsorgearbeit behielt. Die Justizverwaltung zeigte grundsätzliches Interesse an der Seelsorge als Erziehungsmittel, während sie es den Geistlichen überließ, "für rein religiöse Bedürfnisse der Inhaftierten besondere Vorsorge zu t r e f f e n " 1 9 9 _ i der funktionalen Interpretation der Gefangenenseelsorge als Besserungsmittel liegt auch die Erklärung dafür, daß das Innenministerium wesentlich stärkeren Einfluß auf die Strukturierung der Gefangenenseelsorge zu nehmen suchte als das Justizministerium. Denn in den Zuchthäusern des Innenministen
- 98 riums befanden sich fast nur Langstrafige, für die man Programrae der planmäßigen Einwirkung und Umerziehung zu entwickeln suchte, in deren Rahmen die Seelsorge eingefügt werden sollte. Diesen Ansatz zeigte das vom Innenministerium erlassene Raviczer Reglement, das erstmals Bestimmungen über die Seelsorge in preußischen Zuchthäusern beinhaltete. Sie wurde als Medium "der unmittelbaren Einwirkung auf das Innere der Gefangenen" zum Zwecke der "Sorge für die sittliche und religiöse Besserung der Sträflinge" in die Gesamtzielsetzung des Vollzuges integriert^®®. Das Schwergewicht der Vorschriften liegt auf der Regelung des Gottesdienstes, des Unterrichts und der Privaterbauung der Gefangenen^®·*·. Das Leitinteresse des Reglements an der belehrenden Einwirkung auf die Gefangenen, die auch vom Seelsorger erwartet wird, ist unverkennbar und normiert in § 100 auch das seelsorgerliche Gespräch: Der Geistliche wird verpflichtet, nach Maßgabe des Gemütszustandes und der "Individualität des Sträflings auf die sittliche und religiöse Besserung desselben hinzuwirken.. .und von Zeit zu Zeit mit den einzelnen Sträflingen unter vier Augen moralische Besprechungen zu h a l t e n " 2 0 2 > Der Tendenz des Staates, Gefangenenseelsorge als Mittel der Erziehung zu interpretieren, stellen in der zweiten Hälfte des 19.Jahrunderts Theologen die ekklesiologisch orientierte Motivation gegenüber, diejenigen Glieder der christlichen Gemeinschaft aufzusuchen, die von der Gesellschaft ausgestoßen und abqualifiziert wurden. Gerade in der Sorge um die "Verlorenen" sieht der Gefängnispfarrer Hoffmann in Analogie zum Handeln Jesu die Legitimation der Gefangenenseelsorge, die über Vollzugsinteressen h i n a u s f ü h r t ® D i e Schuld des Straftäters bedingt zwar den strafrechtlichen Ausschluß aus der bürgerlichen Gesellschaft, gibt aber der Kirche nicht das Recht, ihn von der Gemeinschaft des Wortes und des Sakramentes auszuschließen. Daher ist es nach Köstlin die Pflicht der Kirche, nicht "mit der Erfüllung des Berufs, das Wort zu predigen . . . halt zu machen vor den Gefängnismauern" 2 ®^. Die Gefangenengemeinde hat dasselbe Anrecht auf pastorale Betreuung wie jede andere Gemeinde auch. Das kirchliche Handeln im Strafvollzug gewinnt nur unter dem Aspekt einen besonderen Charakter, daß es die Verbindung von Inhaftierten und christlicher Gemeinde aufrechterhält, "Entfremdeten aufs neue oder überhaupt erst" die Gemeinde nahebringt und die Sorge um diejenigen beinhaltet, "die in der Freiheit so gut wie unerreichbar für sie s i n d " ® · * . Eine vergleichbare Intention verfolgen auch die Anweisungen über den Dienst der evangelischen Geistlichen an den Gefangenen, die das Oberkonsistorium zu Darmstadt 1855 erlassen hat. In § 2 wird der Seelsorger ermahnt, "jede Gelegenheit wahrzunehmen, um solche Gemüter, die der Kirche und dem Wort Gottes entfremdet sind, wieder zum Bewußtsein der Güter zu bringen, die zu verlieren sie im Begriffen s i n d " 2 0 6 . 2
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Trotz der Rückbesinnung auf den ekklesiologischen Begründungszusammenhang der Gefangenenseelsorge, wie ihn Wichern herausgestellt hat,
- 99 gelang es nicht, die Entwicklung zu modifizieren, daß die Seelsorgearbeit durch Einflußnahme des Staates den Zielen des Vollzuges angepaßt wurde. Während 1852 die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft in einer Verlautbarung forderte, die Gefängnisse sollten "inniger und tiefer . . . in den Organismus der Kirche eingeführt w e r d e n " 2 0 7 t interpretiert der Gefängnispfarrer Hindberg nur wenige Jahre später die Gefangenenseelsorge als notwendiges Element des Strafvollzuges mit der Begründung, ein "Pönitentiarsystem" gewinne erst seinen vollen Sinn in Verbindung mit der "religiösen B e l e h r u n g " 2 0 8 . Noch weiter versucht der Gefängnispfarrer Koblinski die Seelsorge in den Vollzug zu integrieren: "Die Mission der Kirche sehe ich darin, daß sie die richtige Auffassung der Strafe hervorrufen k a n n " 2 0 9 . MU dieser Überlegung wird den Seelsorgern der Anspruch zugeschrieben, die verbindliche Interpretation von Strafe geben zu können, auf der der Strafvollzug aufbauen kann. Hierbei wird ausgeklammert, daß die Vollzugstheoretiker mit einem positiven Strafverständnis argumentieren, das theologische Implikationen ausschließt. Aus dieser Spannung resultierte das Problem der Vermittelbarkeit beider Strafbegriffe in der Vollzugspraxis. Der theologische Ansatz, die staatliche Sanktion als Konsequenz des göttlichen Rechtswillens zu interpretieren, wurde in den selbstgestellten Arbeitsauftrag umgesetzt, den Strafvollzug "erzieherisch zu durchdringen und fruchtbar zu m a c h e n " 2 1 0 . Der Ansatz, die Gefangenenseelsorge bewußt so zu gestalten, daß aus der Anerkennung des göttlichen Willens Motive zur nichtdelinquenten Lebensgestaltung erwachsen konnten, prägte die Gefangenenseelsorge nach Wichern. Dabei ging man die Gefahr ein, in den Vollzugsorganismus integriert zu werden, um die Strukturen des freiheitsentziehenden Vollzuges für die Seelsorgearbeit nützen zu können. Die Institutionalisierung der Gefangenenseelsorge hatte somit in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Entwicklung forciert, die theologische Begründung des pastoralen Handelns an Gefangenen als Norm der Praxis gegenüber der an der Besserung orientierten pädagogischen Ausrichtung der Seelsorge zurückzustellen. Die These von Rohdens, daß die Kirche ihre Eigenständigkeit dadurch verloren hat, daß sie die Erziehungsaufgabe im Strafvollzug übernommen hatte, kann als verifiziert gelten. Im Zuge der Institutionalisierung hatte es die Kirche versäumt, die in der Vergangenheit notwendige, aber von der Entwicklung überholte protagonistische Rolle bei der inhaltlichen Reform des Vollzuges im Sinne der Sorge um den Menschen in der Strafe zu modifizieren. Solange sich die Gefangenenseelsorger mitverantwortlich fühlten für die Erfüllung des Strafzwecks, konnte ihre eigentliche Aufgabe, die kirchliche Begleitung der Gefangenen, nur zweitrangige Bedeutung gewinnen. Aufgrund dieser problematischen Entwicklung forderte von Rohden zu Beginn des 20.Jahrhunderts zu Recht: Die Kirche "muß diese Sache wieder vom Kopf auf die Füße stellen... die umgekehrte Ordnung der religiösen Versorgung der Gefangenen anstreben. Sie muß sich stark machen, die Orga-
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nisation der Gefängnisseelsorge auf die eigenen Schultern zu nehmen" 2 1 1 , Von Rohden hatte allerdings mit seinem programmatischen Ansatz nicht den intendierten Erfolg, die f e s t g e f ü g t e organisatorische Verquickung zu lockern oder in einer Strukturdiskussion in Frage stellen zu können. Zur s t r u k t u r e l l e n Konsolidierung und zum Verlust der Flexibilität h a t te wesentlich die Übernahme d e r Gefängnispfarrer als Beamte in den Staatsdienst beigetragen. Die Konsequenzen der Verbeamtung der Seelsorger f ü r deren Stellung und Funktion im Strafvollzug sollen im folgenden untersucht werden.
2.8 Die Stellung und Funktion des Gefängnisgeistlichen im 1 9 . J a h r h u n d e r t Die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft v e r s u c h t e als e r s t e Institution freier T r ä g e r s c h a f t in Deutschland Gefängnispfarrer anzustellen und zu besolden. Gemäß § 3 der Grundgesetze sollten sie nach "Rücksprache mit den geistlichen und den Schulbehörden u n t e r höherer Bestätigung" 2 1 ^ b e r u f e n werden. Die Regierung erhielt nur ein Mitspracherecht bei der Einstellung, wenn sie einen Teil der Besoldung übernahm. Die Gesellschaft stand a u f g r u n d i h r e r geringen finanziellen Mittel bald vor dem Problem, Geistliche zu finden, die bereit waren, die schwierige Aufgabe bei geringer Besoldung zu übernehmen, zumal die Dauer der Anstellungsv e r t r ä g e daran gekoppelt war, daß die Mittel zur Weiterbeschäftigung a u s r e i c h t e n 2 1 3 . Ab 1832 mußte der Staat die Besoldung übernehmen, da die Eigenmittel nicht ausreichten. So wurde die Verwirklichung der Aufgaben der Gefängnisgesellschaft erst d u r c h staatliche Subventionen ermöglicht, die Gesellschaft verlor aber zugleich ihre e r s t r e b t e Unabhängigkeit. Nach 1852 wurde auch die inhaltliche vertragliche Bindung der Gefängnisseelsorger an die Gesellschaft gelöst, sie wurden als Staatsbeamte übernommen und blieben der Gesellschaft in ideeller Hinsicht v e r b u n d e n . 1861 konstituierte sich eine eigenständige Konferenz der Anstaltsgeistlichen Rheinlands und Westfalens, um E r f a h r u n g e n und Probleme des Arbeitsgebietes auszutauschen. Die Konzeption, die Gefangenenseelsorge nach angelsächsischem Vorbild unabhängig vom Staat auf freier T r ä gerschaft zu organisieren, wurde in Deutschland nicht wieder aufgegriffen. In P r e u ß e n , wie in anderen Staaten, wurden zwei Formen des Dienstverhältnisses konzipiert: Der Staat stellte f ü r große Anstalten einen h a u p t amtlichen Geistlichen als Staatsbeamten mit vollem Gehalt, in kleinen Anstalten, a u f g r u n d eines V e r t r a g s v e r h ä l t n i s s e s , nebenamtliche Seelsorger ein. Die Kirchenleitungen hatten das Recht, der B e r u f u n g zuzustimmen und die Visitation d u r c h z u f ü h r e n 2 1 4 . Die Möglichkeit, auch das Aufsichtsrecht a u s z u ü b e n , blieb den Kirchenleitungen f ü r die Seelsorger, die als nebenamtlich Tätige im Kirchendienst s t a n d e n . Der P f a r r e r als Staatsbe-
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amter unterlag der Disziplinaraufsicht der Justizbehörden, die seinen Einsatzrahmen bestimmten und von ihm erwarteten, daß er aufgrund seiner weisungsgebundenen Stellung im Sinne der Anstaltsleitung am Vollzugsgeschehen mitarbeitete. Die disziplinarrechtliche Integration in die Anstaltshierarchie brachte den Geistlichen in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Direktor und verpflichtete ihn zur Loyalität gegenüber dem Vollzugs system. Im Bereich der inhaltlich theologischen Ausgestaltung der Seelsorge mußte der Pastor allein gegenüber der Kirchenleitung Verantwortung tragen. In Analogie zu Wicherns Gedanken, daß alle Beamten des Vollzuges g e meinsam zur Besserung der Inhaftierten beitragen sollten, wurde mit der Integration der Seelsorge in das Vollzugssystem die Hoffnung v e r bunden, daß die eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Gefängnispfarrer und Beamtenstab positiv auf die Arbeitsmöglichkeiten und das Gesamtklima innerhalb der Anstalt wirkten. In der Praxis klagten allerdings Gefängnisgeistliche über Probleme bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, die aus Konflikten mit der Gefängnisbürokratie result i e r t e n ^ ^ . Der Geistliche stand "oft in fataler Mitte zwischen den Juristen resp. gewesenen Militärs, die vielfach zu hart, schabionisierend v o r g e h e n , und den Ä r z t e n , die angesteckt von Lombroso und anderen Bestreitern der Zurechnungsfähigkeit, das Verbrechen so gern aus physischer Nötigung oder psychischer Abnormität herleiten und dadurch der die sittliche Energie ansprechenden Behandlung die Kraft lähmen"216_ Diese Feststellung Baumgartens verdeutlicht, daß die der Arbeit der Seelsorger und Gefängnisbeamten zugrundeliegenden Sinnsysteme divergierten und eine konstruktive Zusammenarbeit erschwerten. Unklare Ressortgrenzen und Kompetenzbereiche führten neben inhaltlichen auch zu organisatorisch bedingten Spannungen mit der Gefängnisverwaltung. Der haupt- und nebenamtliche Gefängnispfarrer war den Beamten rangmäßig übergeordnet, ihnen gegenüber aber nicht weisungsgebunden. Besonders spannungsreich gestaltete sich das Verhältnis zu den ehemaligen Militärpersonen, die nach Hoffmanns^? hartem Urteil "vom Gefangenen nur durch die Kleidung" zu unterscheiden waren und den Inhaftierten gegenüber ihre Machtposition ausspielten. Sie v e r t r a ten einen harten Verwahrvollzug und brachten kein Verständnis für die Bemühungen des Gefängnisgeistlichen auf. Der Gefängnispfarrer Hoffmann riet seinen Amtskollegen, sich wegen der zum Teil ablehnenden Haltung des Personals zu behaupten, indem er "sein Amt und Ansehen merken" läßt. Einschränkend gibt Hoffmann jedoch zu bedenken, daß der Seelsorger seine Autorität nicht zu sehr herausstellen sollte, denn sein A u f t r a g gilt den Gefangenen und "über dem den BeamtenSpielen geht das Amt verloren". Vorrangig sollte der Seelsorger Nachgiebigkeit und Kommunikationsbereitschaft zeigen, da seine unverrechenbare Stellung im Vollzugssystem die Chance e r ö f f n e t , eine vermittelnde Position einzunehmen, die es zu nützen gilt.
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Die bisherigen Untersuchungen haben e r g e b e n , daß die Integration in die Vollzugsorganisation, die die Arbeit erleichtern sollte, die P f a r r e r vor die Aufgabe stellte, innerhalb der hierarchisch-autoritären Institution einen eigenen Standort zu finden, ein Prozeß, der nicht ohne Konflikte ablaufen k o n n t e ^ l ^ Aus den latenten Spannungen zwischen zugesicherter freier Ausübung der Seelsorge und der dienstrechtlichen Unt e r o r d n u n g , die dem Anstaltsleiter Möglichkeiten gab, über disziplinarische Maßnahmen auf das Arbeitsfeld des Anstaltsseelsorgers Einfluß zu nehmen, erwuchs den Geistlichen das Dilemma, sich das Wohlwollen des Vorgesetzten zu erhalten, ohne die Pflichten gegenüber den Gefangenen zu verletzen. Dieser Problembereich wurde in der Regel umgangen, indem die Bedingungen des Strafvollzuges anerkannt und so Konflikten mit der Leitung aus dem Wege gegangen wurde219, Die I n t e g r a tion in den Beamtenstab b r a c h t e auch einen positiven Aspekt mit sich. Der Seelsorger vermochte zugunsten der Gefangenen Einfluß auf das Anstaltsklima zu nehmen; Voraussetzung war dazu, daß ein gutes Einvernehmen mit dem übrigen Personal b e s t a n d . Die eröffnete Chance zur strukturellen Einflußnahme wurde jedoch d u r c h das Grundproblem relativiert , die "Freiheit des Evangeliums™ u n t e r den depravierenden S t r u k t u r e n des Freiheitsstrafvollzuges zu realisieren. Die "innere Sendung", die zur Verkündigung des Evangeliums g e h ö r t , wurde nach Schultes h a r t e r Kritik über den Beamtenstatus zu einer behördlichen Aufgabe. Es setze eine große "geistige Kraft" v o r a u s , wenn sich der Geistliche von seinem Status und der damit v e r b u n d e n e n Einengung innerlich wieder lösen wollte. Der Prozeß einer Identitätsfindung wurde jedoch dad u r c h e r s c h w e r t , daß der staatlich beamtete A n s t a l t s p f a r r e r den Kontakt zu seiner Kirche weitestgehend verloren hatte und auch von seinen Amtsbrüdern in den Gemeinden isoliert war. Auch die Kommunikation zwischen Gefangenen und Seelsorger wurde e r schwert, wenn die Bemühungen des Geistlichen als Seelsorge eines 'Staatsdieners' rezipiert w u r d e n . Es war u n ü b e r s e h b a r , daß die Vorurteile gegen die Kirche als 'Dienerin des Staates' anwuchsen. Der Geistliche geriet in den Verdacht, der "Handlanger des U n t e r s u c h u n g s - oder S t r a f v e r f a h r e n s " zu sein 2 ^0. Die Gefangenen entwickelten eine Sensibilität f ü r die Besuchsmotive des Seelsorgers. Sie r e g i s t r i e r t e n , ob ihn die Sorge um das Schicksal des Einzelnen bewegte oder die Intention, zur Anpassung an die Haftsituation zu f ü h r e n . Das vorurteilsbeladene Rezipieren der Gefangenenseelsorge läßt den Schluß zu, daß Seelsorger oftmals der Gefahr erlegen sind, ihre Amtsautorität in d e r Begegnung mit Gefangenen s t ä r k e r zu betonen als den christlich orientierten Seels o r g e a u f t r a g . Denn der Eindruck der Gefangenen, der Seelsorger als 'schwarzer Gendarm 1 t r e t e n u r fordernd an sie h e r a n , und die daraus resultierende Ablehnung seiner Bemühungen, wird nicht ohne entsprechende E r f a h r u n g e n seitens der Inhaftierten entstanden sein.
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Dieser Problemkreis wird in der Literatur unterschiedlich behandelt: Otto geht davon a u s , daß die Bemühungen des Seelsorgers dadurch beeinträchtigt werden, daß er der Anstaltsleitung zugerechnet wird. Deshalb sollte er sich bewußt so v e r h a l t e n , daß er nicht "als Vollzieh e r des s t r a f e n d e n Gesetzes e r s c h e i n t " 2 ^ . Auch Nitzsch sieht im Auft r e t e n des Seelsorgers, das von "einer wahren Menschlichkeit und Herzl i c h k e i t " 2 ^ u n ( j Offenheit gegenüber den Problemen der Pastoranden geprägt i s t , das einzige Mittel, die latenten Vorurteile zu widerlegen. Nach Köstlin ist es unumgänglich, daß der Gefängnispfarrer ein Selbstverständnis entwickelt und den Gefangenen gegenüber v e r t r i t t , das ihn von den Vollzugsinteressen a b g r e n z t : Er kommt zum Gefangenen "weder als Vertreter göttlicher Gerechtigkeit, . . . n o c h als Vertreter und Anwalt der irdischen G e r e c h t i g k e i t . . . , sondern er kommt im Namen und A u f t r a g der Gemeinde Jesu Christi, um dem Gefangenen d u r c h treue Darbietung des Heilswortes zu helfen, daß er seine Lage . . . zu seiner ewigen E r r e t t u n g nütze" 22 "*. Einen konträren Ansatz v e r t r i t t Stade, der keine Gefahr f ü r die Seelsorgearbeit darin sieht, sich zum Advokaten des Strafvollzuges und dessen Verwaltung zu machen. Und so setzt er sich bewußt gegen Nitzsch und Köstlin a b , indem er h e r a u s stellt , daß der Geistliche "auch den Charakter eines Strafanstaltsbeamten t r ä g t , und daher der Gefangene von gar keinem so unrichtigen und berechtigten Gefühle oder einem Vorurteile oder gar einem Argwohn geleitet wird, wenn er . . . zuerst zu dem Geistlichen als zu einem solchen aufschaut und ihn zu den Strafanstaltsbeamten rechnet". Die "Eigenschaft als Gefängnisbeamter" stellt nach Stade sogar "eine S t ä r k u n g und Förder u n g " der seelsorgerlichen Wirksamkeit d a r 2 2 ^ . Auch in der Funktion als Beamter des Vollzuges manifestiert der Seelsorger die Prävalenz des Gesetzes, die - so Stades Ansatz - im Kontakt mit den Gefangenen betont werden muß. Der Gefangenenseelsorger als V e r t r e t e r der göttlichen und weltlichen O r d n u n g darf keine Gelegenheit ungenutzt lassen, dem Gefangenen zu verdeutlichen, daß er "nicht von Menschen verurtheilt und gerichtet wurde, sondern von Organen der ewigen göttlichen Gerechtigkeit und Heiligkeit" 2 2 ·'. Die theologische Qualifizierung der Gefängnisordnung stellt dem Geistlichen die Aufgabe, diese u n h i n t e r f r a g t und u n h i n t e r f r a g b a r vor den Inhaftierten zu v e r t r e t e n . Die theologisch deduzierte Identifikation mit der Vollzugsordnung p r ä g t das seelsorgerliche Verhalten gegenüber den Gefangenen, die wegen des Verstoßes gegen die Hausordnung isoliert sind. Bei seinem Besuch soll der Seelsorger die Rechtmäßigkeit der B e s t r a f u n g verdeutlichen "und dem Gefangenen unumwunden . . . e r k l ä r e n , d a ß , wenn ihm etwas an der p e r sönlichen Theilnahme seines Geistlichen liege, er diese vor allem d u r c h sein sittlich e r n s t e s Allgemeinverhalten zu suchen und sich zu erhalten h a b e " 2 2 6 . Stade v e r t r i t t hiermit eine Haltung, die der Annahme diametral e n t g e g e n s t e h t : Der Pastorand muß sich das Wohlwollen des Pastors erst durch gesetzeskonformes Verhalten verdienen. Daß Inhaftierte einem Seelsorger, der die Konzeption Stades realisierte, mit Abwehr begeg-
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n e t e n , kann als wahrscheinlich gelten. Die Anpassung an die E r f o r d e r nisse der Vollzugsordnung wurde in der Regel als selbstverständlich angesehen. Die Gefangenen sollten "zur Geduld, Gottergebenheit und Befolgung der O r d n u n g " 2 2 ? ermahnt werden, sie "sind anzuweisen, den A n f o r d e r u n g e n , welche die Anstalt an ihren Fleiß und ihr Wohlverhalten stellt, zu genügen" 22 **. £) em neueingelieferten Häftling ist gleich zu Beginn der Haft vom Geistlichen "die Zweckmäßigkeit der disciplinären Regeln" auseinanderzusetzen, denen er sich "in unbedingtem Gehorsam zu unterwerfen" h a t 2 2 ^ . D a nach Hindberg "Religion und Disciplin die Hauptfaktoren zur B e s s e r u n g " 2 ^ sind, sollte der Einsatz des Seelsorgers zur Wahrung der O r d n u n g und Beruhigung der Gefangenen so weit gehen, bei A u f r u h r in der Anstalt vor die Inhaftierten zu t r e t e n , um sie zur Unterwerfung u n t e r das Anstaltsreglement zu mahnen. Mit der Bereitschaft zur Durchsetzung der Gefängnisordnung wirkte die Gefängnisseelsorge als integrierendes Element. Der Seelsorger übernahm a u f g r u n d seiner persönlichen Einflußmöglichkeiten eine beruhigende Funktion, die das militärisch vorgeprägte Personal nicht erfüllen konnte. In der Literatur dagegen wurde die Funktion des Gefängnisgeistlichen weniger im disziplinarischen als in einem erzieherisch fürsorglichen Bezugsrahmen bestimmt, wobei der Akzent entweder auf institutionelle Gesichtspunkte oder auf den christlichen Seelsorgeauftrag gelegt wurde. Haenell setzte mit seinen Überlegungen beim Gesamtorganismus des Vollzuges ein, in den integriert das "geistliche Amt . . . zur A u s f ü h r u n g des Strafsystems" mithelfen sollte 2 ^!. Wie das in der Praxis aussehen sollte, beschreibt A n s t a l t s p f a r r e r Sagemüller: "Wir Geistlichen an den S t r a f a n stalten nehmen in dem Kampf gegen das Verbrechen eine hervorragende Stellung ein. . . .So sind wir doch gerade d u r c h u n s e r Amt und unsere Mission an e r s t e r Stelle b e r u f e n , auf die B e s s e r u n g des Verbrechers und die Abschreckung vor dem Verbrechen e i n z u w i r k e n " ^ 2 . Wenn sich auch Sagemüller vom Vergeltungszweck der Strafe aus seelsorgerlicher Überlegung distanziert, so definiert er doch die "Sicherung der menschlichen Gesellschaft" als ein Hauptziel des Strafvollzuges und der Seelsorge. Einen Schritt weiter geht Stade, indem er die T r e n n u n g von Vollzugsund Seelsorgeaufgaben aufzuheben v e r s u c h t . Er entwickelt ein ideales Amtsverständnis, das "ein inniges H a n d i n h a n d g e h e n . . . e i n e Verschmelzung des juristisch weltlichen und des religiös seelsorgerlichen Gebietes zur Erreichung des einen gemeinsamen Zieles" i m p l i z i e r t 2 ^ . Die Ansätze, die Seelsorgearbeit im Sinne der Stabilisierung des Vollzugsorganismus zu i n t e r p r e t i e r e n , nahmen den Seelsorgern die Möglichkeit, spezifische Konturen ihres Dienstes zu formen und Funktionen innerhalb des Strafvollzuges zu übernehmen, die ihre christlich motivierte Orient i e r u n g zugunsten der Gefangenen umsetzen konnten. So kritisierte von Rohden pointiert, daß der Seelsorger im Rahmen der "edukatorischen Maßnahmen der Gefangenenbehandlung" n u r als deren "Chorführer"
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angesehen und zu einem "technischen Beamten" degradiert w u r d e , dessen Eigenständigkeit n u r in Predigt und Sakramentsverwaltung unwidersprochen blieb. Um diesem Trend des ausgehenden 1 9 . J a h r h u n d e r t s entgegenzuwirken, plädiert er f ü r eine sachliche Abgrenzung von der der Seelsorge "entgegengesetzten Strafvollzugsmaxime": So wenig die Gefangenenseelsorge "sich als einen bloßen Teil der Erziehungsmaßregeln betrachten soll, ebenso wenig hat sie sich auch einem s t a r r e n Vergeltungsprinzip als dienstwillige Handlangerin u n t e r z u o r d n e n " 2 ^ . Bemühungen, den Ansatz Wicherns zu aktualisieren, die Gefangenenseelsorge von den Bedingungen, u n t e r denen sie realisiert wird, nicht normieren zu lassen, sondern aus dem biblisch theologischen Bezugsrahmen zu motivieren, sind schon vor von Rohden in Praxisberichten einiger Seelsorger zu konstatieren. Hindberg v e r s u c h t e die Abhängigkeit zu mindern, indem er sich nicht d a f ü r verantwortlich e r k l ä r t e , die "Gemeinordnung" gegenüber Inhaftierten d u r c h z u s e t z e n . Denn der Gefängn i s p f a r r e r habe eine "andere, höhere und wesentlichere Aufgabe" zu e r füllen, "die ihm a n v e r t r a u t e n zu der Kirche, zu der christlichen Gemeinde z u r ü c k z u f ü h r e n " . Die Reintegration der Gefangenen in die kirchliche Gemeinschaft bildet f ü r Hindberg den "Unterbau" f ü r die staatlichen Erziehungsbemühungen2^. Der Naumburger Gefängnispfarrer Becker nimmt Hindbergs A u s f ü h r u n gen wörtlich auf2*^® und bewertet die Aufgabe des Geistlichen, die "innere Lebensbesserung" des Pastoranden zu bewirken, höher als die Mitarbeit an staatlichen Vollzugszielen. Bei einem vergleichbaren Ansatz formuliert Hildebrand das Kriterium f ü r ein verantwortungsvolles Handeln des Geistlichen, das sich darauf b e s c h r ä n k t , "die Erziehung zur Gottseligkeit, die Z u r ü c k f ü h r u n g der Verirrten zu Christo" 2 ^ 7 zum Inhalt zu nehmen. Nitzsch wendet sich noch s t ä r k e r gegen die Priorität des Erziehungsprinzips und begrenzt die Funktion des Geistlichen auf die Erfüllung der "geistlichen Bedürfnisse" der Gefangenen. Innerhalb des Vollzugssystems hat der dem Nächstenliebegebot verpflichtete Seelsorger d a f ü r einzustehen, daß die Interessen der Gefangenen in physischer wie psychischer Hinsicht nicht verletzt werden und die Haftanstalt zu einer "Heilanstalt" umgewandelt wird. Da f ü r Nitzsch die Bedürfnisse der Gefangenen Priorität f ü r die Gestaltung der Seelsorge besitzen, weigert er sich, die Gegebenheiten innerhalb der Strafanstalt als u n v e r ä n d e r b a r hinzunehmen: "Die wesentliche Aufgabe bleibt, in welche Lage auch der Gefangene vermöge der Verfassung des Hauses versetzt worden sei, daß ihm durch die Predigt der Buße und Vergebung das Heil möglichst nahe, noch näher als es in den Tagen seiner weltlichen Freiheit geschehen, zugebracht und zu diesem Behufe seine Situation im Gefängnis unhinderlich, ja förderlich gemacht w e r d e " ^ . 2
Die A u s f ü h r u n g e n über die Situation, Stellung und Funktion des Geistlichen innerhalb der Vollzugsorganisation haben exemplarisch deutlich gemacht, welche Belastungen die Institutionalisierung der Gefangenen-
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seelsorge f ü r die praktische Arbeit der Seelsorger mit sich gebracht h a t . Die Integration des Gefängnispfarrers in den Beamtenapparat implizierte die Notwendigkeit, die Stellung gegenüber der Anstaltsleitung a b z u g r e n z e n , um die Gefangenenseelsorge nicht völlig den Inhalten des Vollzuges anzupassen. Andererseits läßt sich aber auch feststellen, daß Geistliche die Position als Staatsbeamte einsetzten, um größeren Einfluß auf die Gefangenen zu gewinnen und sich mit den Zielen der Vollzugsleit u n g identifizierten. Diese Haltung wurde theologisch untermauert durch eine staatskonforme E n g f ü h r u n g des lutherischen ordnungstheologischen Ansatzes. Es läßt sich in der Literatur zur Gefangenenseelsorge des ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t s keine einheitliche Reaktion auf die Integration der Seelsorge in das staatliche Vollzugswesen konstatieren. Es besteht die Neig u n g , die Gefangenenseelsorge funktional im Sinne der 'allgemeinen Seelsorge' Krohnes zu i n t e r p r e t i e r e n , aber andererseits auch Bestrebungen zu verfolgen, die 'kirchliche Seelsorge' so weit wie möglich mit theologisch f u n d i e r t e n , ekklesiologischen und soteriologischen Schwerpunkten zu e r halten. Die Entscheidung, welche Alternative er wählen wollte, lag im theologischen Selbstverständnis des Seelsorgers und seiner Fähigkeit, sich gegenüber der Anstaltsleitung d u r c h z u s e t z e n . Die Möglichkeit, eigene Konzeptionen zu realisieren, wurde jedoch d u r c h die Spannung der doppelten Loyalität gegenüber Vollzugs- und Kirchenleitung b e einträchtigt .
3. Die Phase der inhaltlichen Konsolidierung der Gefangenenseelsorge bis zum Ersten Weltkrieg
3.1 Die Aufgaben des Gefängnispfarrers In Weiterführung des Ansatzes Wicherns werden im ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t die allgemeinen und speziellen Aspekte poimenischen Handelns im Strafvollzug in enger Korrelation gesehen. Die Differenzier u n g des Seelsorgeauftrags in Gottesdienst, Unterricht liehe Veranstaltungen und Einzelseelsorge wird in allen Bestimmungen und Vorschriften vollzogen, die von kirchlicher und staatlicher Seite zur Regelung des seelsorgerlichen Dienstes in den Haftanstalten erlassen worden sind, und findet ihren Niederschlag in der Literatur. Unterschiedlich ist die Gewichtung, die den einzelnen Aufgaben zugeordnet wird: Innerhalb der Dienstanweisungen und Bestimmungen wird der gottesdienstliche Bereich am weitesten a u s g e f ü h r t , gefolgt von der Regelung des U n t e r r i c h t s , während das seelsorgerliche Gespräch kaum b e r ü c k sichtigt wird. Die Berichte aus der Praxis und die entsprechenden Kapitel innerhalb der theologischen Lehrbücher widmen dagegen der speziellen Seelsorge größte Aufmerksamkeit. Aufgrund der Initiativen Fliedners und Wicherns entwickelt sich ein vierter Aufgabenbereich, die Fürsorgetätigkeit f ü r Gefangene, deren Familien sowie f ü r Entlassene, der aus der speziellen Seelsorge e r wächst und diese w e i t e r f ü h r t . Die Seelsorger sahen sich v e r a n l a ß t , die in persönlichen Gesprächen artikulierten individuellen und familiären Notlagen mit praktischer Hilfe zu bearbeiten, da die Vollzugsbeamten hierzu nicht kompetent waren. Die Teilbereiche des Seelsorgedienstes in der Haftanstalt haben sich erst in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s voll ausbilden können, nachdem mit der E i n f ü h r u n g der Freiheitsstrafe als Regelstrafe die Voraussetzungen kontinuierlicher seelsorgerlicher Arbeit geschaffen worden waren. Die relativ lange Verweildauer in Zuchthäusern und Gefängnissen ermöglichte eine planvolle religiöse Betreuung der Gefangenen: Die Seelsorger übernahmen den Unterricht. Regelmäßige Gottesdienste wurden e i n g e f ü h r t . In kleineren Anstalten blieben der Gottesdienst und die Gespräche die Haupteinsatzgebiete des nebenamtlichen Seelsorgers. Vergleicht man die Aufgabengebiete des G e f ä n g n i s p f a r r e r s mit denen des Gemeindepfarrers, so ist eine strukturelle Konvergenz zu konsta-
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tieren. Haenell b e g r ü n d e t diesen Befund theologisch damit, daß die Gefangenen grundsätzlich denselben Anspruch auf kirchliche Betreuung h a b e n , wie jedes andere Gemeindeglied auch. Die "Gnadenmittel" zu vermitteln, macht das Amt jedes Geistlichen a u s . Spezifisch wird die Amtsausübung des P f a r r e r s im Gefängnis durch die Situation der Gefangenengemeinde, in der das Bedürfnis nach "der speciellen Berathung aus Gottes Wort" vor dem Wunsch nach "gemeinsamer Erbauung" besonders h e r v o r t r i t t : "Ohne specielle Berathung kann die gemeinsame Erbauung nicht den rechten Segen b r i n g e n , ja in der Regel muß jene erst f ü r diese empfänglich machen" 1 .
3.2 Die Gefangenengemeinde Die Personalgemeinde der Gefangenen wurde beschrieben als Gemeinde von jugendlichen und erwachsenen M ä n n e r n " a u s allerlei Ständen, auf den verschiedensten Bildungsstufen s t e h e n d , doch vorwiegend aus den arbeitnehmenden Kreisen, dazu meist von geringer Schulbildung und mangelhafter christlicher Erkenntnis. . . .Ein großer Teil derselben ist mehr oder weniger verwahrlost, dem kirchlichen und christlichen Leben e n t f r e m d e t , dem Unglauben e r g e b e n , wenn nicht im bewußten Gegensatz zu Kirche und Gottes Wort stehend" 3 . Das mangelnde Vertrautsein mit den Vertretern der Kirche f ü h r t e bei vielen Gefangenen zu distanzierender Kritik an den Gefangenenseelsorg e r n . Köstlin^ weist eindrücklich darauf hin, daß die signifikant hohe Kommunikationsfeindlichkeit der Inhaftierten nicht dahingehend i n t e r pretiert werden d ü r f e , sie als verstockte Sünder abzuqualifizieren. Global wertend dagegen umschrieb Oosterzee die psychische Verfassung der Inhaftierten: "Sie sind nicht n u r unglücklich, sondern s c h l e c h t . . ."5. Das v e r b r e i t e t e Verdikt der 'Schlechtigkeit' wurde in der Literatur u n terschiedlich anhand moralischer und theologischer Wertmaßstäbe ges t ü t z t . Seine Überzeugung vom ethischen Tiefstand der Gefangenen versuchte Hindberg zu r e c h t f e r t i g e n , indem er verschiedene T ä t e r t y pen nach dem Maß ihrer "Verderbtheit"® c h a r a k t e r i s i e r t e . Der Verstoß gegen die Gesetze der Obrigkeit qualifizierte den Gefangenen nicht nur moralisch a b , sondern war f ü r viele Seelsorger zugleich ein Indikator der Sündigkeit 7 . Die Delinquenz hat nach Nitzsch ihre Genese in der ungeordneten Vita der Täter: "Böse Gesellschaft, Unordnung und Ueppigkeit lassen nicht lange auf fleischliche Sündenfälle warten; wer schon in der Jugend gern Schule und Kirche umgeht, dem Spiele und Scherze nachgeht, weder arbeiten noch beten will, geht, zumal wenn er auch noch spotten gelernt h a t , einen sicheren Weg zum Falle in heimliche oder offenbare Schande"**. Diese v o r d e r g r ü n d i g e Beschreibung des Sünderstandes überhöhte Haenell in der Gleichung: "Jeder Gesetzesü b e r t r e t e r ist aber ein S ü n d e r , welcher B e k e h r u n g bedarf"9.
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Die dargestellten Ansätze nehmen die dogmatische Unterscheidung von 'habitueller' und 'aktualer' Sünde auf und stellen die 'aktuale' Sünde als das den Gefangenen vor nicht delinquenten Mitmenschen Abwertende dar: Der Gesetzesbruch hat die besondere Sündhaftigkeit des Täters manifestiert. Mit dieser Aussagerichtung gab auch Harnack zu bedenken: "Zwar sind alle Menschen Sünder, hier aber haben wir es mit solchen zu thun, die sich entweder einer besonderen Thatsünde schuldig machen, oder die in groben That- und Gewohnheitssünden d a h i n l e b e n " 1 ^ , Die Überbetonung der 'Thatsünde' konnte im Extremfall zu einer Abqualifizierung der Gefangenen führen, die der Gefängnispfarrer Sagemüller als "schlimmes Menschenmaterial" diffamierte!!. Von dem gesetzlich moralisch geprägten Sündenverständnis, das die Delinquenz als Maßstab für Sünde und moralische Wertung setzte und somit der Gefahr erlegen war, den biblisch definierten Sündenbegriff durch bürgerliche Moralvorstellungen zu verdrängen oder ihn mit diesen zu identifizieren, setzte sich von Rohden bewußt ab: Er wies darauf hin, daß die einzelne Tat nicht zufällig im Leben des Menschen steht, sondern ein "Symptom seines gesamten, nach höherem Maßstab unzulänglichen, unheiligen L e b e n s " 1 2 darstellt. In adäquater Anwendung von Luthers Sündenbegriff wird zur Beschreibung des Sünderseins des Täters von der "habituellen" Sünde ausgegangen. Die einzelne Tat wird nur relevant als Indikator der selbstbezogenen Lebenshaltung. Damit wurde theologisch die Möglichkeit negiert, den Inhaftierten vor den Nicht-Delinquenten als besonders sündhaft abzuqualifizieren. Die theologisch anthropologische Prämisse, daß die Sünde als "latente Macht" in jedem Menschen vorhanden ist, führt Krauss zu dem Votum, daß "das Christenthum als solches . . . keine Verbrecher, sondern nur Sünder" kennt Aufgrund dieses Reflexionsganges wurde das Problem virulent, die Sünde vor Gott und die justiziable Schuld als Kriterien der Beschreibung der Gefangenengemeinde genauer zu bestimmen. Zwei Lösungsansätze bildeten sich heraus: Einerseits wurde ein Schuldbegriff vertreten, der die manifeste Tat über den Aspekt der 'aktualen' Sünde mit der Sünde des Delinquenten vor Gott verband. Andererseits wurde die Frage der Tatschuld getrennt vom Sündenbegriff diskutiert, der allein auf die 'habituelle' Sünde reduziert wurde. Für die strikte Trennung von juristisch erfaßbarer Schuld und theologisch bewerteter Sünde plädierte besonders Hafner. Er verwarf die "Idee", das "Axiom" vieler Gefängnispfarrer, daß "die Sünde vor Gott und die Schuld auf Erden vor Menschen" kongruent s e i e n 1 " * . In den verschiedenen Konzeptionen der Gefangenenseelsorge wurde prinzipiell davon ausgegangen, Seelsorge am sündigen Menschen zu betreiben, ohne allerdings von identischen Kriterien zur Bestimmung des Sündenbegriffs auszugehen. Die Vertreter des aus dem Gottesverhältnis abgeleiteten Sündenbegriffs insistierten auf der qualitativen
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Identität von S t r a f t ä t e r und freiem Gemeindeglied, während die Anhänger des moralisch ausgerichteten S ü n d e n b e g r i f f s , die die Aktualität der Sünde in den Vordergrund stellten, den Inhaftierten a u f g r u n d der Tat moralisch negativ charakterisierten. Vergleichbar mit diesem Befund ist die unterschiedliche Stellung der Gef ä n g n i s p f a r r e r zum staatlichen Gesetz. War der Seelsorger a u f g r u n d seiner theologischen Position davon bestimmt, das weltliche Gesetz als Ausformung des göttlichen Willens zur Weltordnung zu i n t e r p r e t i e r e n , wertete er auch konsequent den Verstoß gegen dieses Gesetz als Sünde. So setzte zum Beispiel vom Endt die Koinzidenz von Schuld und Sünde als ein Postulat seines Ansatzes: "Wir können Sünde nicht definieren, ohne das Schuldmoment hervorzuheben". Die Sünde hat nach seiner Sicht die Ursache d a r i n , daß der Täter auch a n d e r s hätte handeln können und nicht zwangsläufig straffällig werden mußte. Der freie Wille macht ihn schuldig; so wirft vom Endt den Gefangenen v o r : "Ihr habt nicht gewollt" 1 5 . Vertrat der Seelsorger dagegen die Eigenständigkeit des positiven Rechts, so wertete er den Rechtsbruch nicht theologisch als Sünde, sondern als Schuld des Täters gegenüber der Rechtsgemeinschaft. Diese Position v e r trat Krauss prägnant in dem Satz, der Staat habe es "nicht mit Sünden, sondern n u r mit Vergehen und Verbrechen zu t h u n , das Christenthum aber gerade umgekehrt" 1 ®. Damit schnitt Krauss einen Problemkreis a n , der die Gefangenenseelsorge wesentlich bestimmte: Die Relevanz der staatlichen Strafe f ü r den Seelsorgevollzug.
3. 3 Die Stellung der Gefangenenseelsorger zur B e g r ü n d u n g der staatlichen Strafe Die Gefangenenseelsorger bemühten sich um Gemeindeglieder, die "von weltlich-bürgerlicher Strafe betroffen sind". Diese beinhaltet nach Zezschwitz den "Beweis" d a f ü r , "dass die göttliche Gerechtigkeit selbst schon an ihnen ihr Werk getan h a t " 1 7 . Die Verurteilung nach dem Gesetz erfolgt als Konkretisierung der göttlichen S ü h n e f o r d e r u n g a u f g r u n d des Rechtsb r u c h s . Der Seelsorger muß nach der Überzeugung des G e f ä n g n i s p f a r r e r s Sieveke dazu beitragen, daß das Gesetz "sein ihm durch das Wort Gottes zuertheiltes Zuchtamt auf's Kräftigste ausübe" 1 **. Der hier angedeutete Ansatz, die weltliche Strafe als Willen Gottes theologisch zu r e c h t f e r t i g e n , bestimmte die Konzeptionen der Gefangenenseelsorge im 19.Jahrhundert wesentlich. Er soll daher im folgenden anhand der A u s f ü h r u n g e n des Göttinger P f a r r e r s Haenell exemplarisch d a r gestellt werden. Indem er Gottes Strafwillen als G r u n d , aber auch als Begrenzung der weltlichen Strafe voraussetzte, richtete sich Haenell gegen die theoretischen Grundlagen der S t r a f r e c h t s w i s s e n s c h a f t , die in
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Weiterführung der Ansätze der Aufklärung das säkulare Prinzip des positiven Rechts vertrat. Er dagegen nahm die Gedanken Luthers und der "traditionellen Soziallehre"·'·® auf und interpretierte die Strafe "als eine Äußerung der heiligen, gerechten und . . . gnädigen Liebe Gottes", die warnend und vergeltend straft, um "letztendlich Vergebung und Kraft zur Besserung" anzubieten. Gott hat ganz bestimmten Ständen den " B e r u f gegeben, die "Aufrechterhaltung seines Gesetzes auf Erden" zu sichern und ihnen deshalb das Recht zugesprochen, zu strafen "im Namen und Auftrag Gottes"2*^. Aus dem Vorbildcharakter der gnädigen Strafe Gottes folgt, daß der Staat neben der "vergeltenden Gerechtigkeit" stets das Element der "züchtigenden Gnade" im Urteil berücksichtigen muß, das erst die Unterscheidung von Rache und Gerechtigkeit ermöglicht. Die aus Gottes Willen zur gerechten Weltordnung resultierende Straftheorie Haenells beinhaltet alle Strukturelemente der juristischen Strafbetrachtung: Die Strafziele Abschreckung, Vergeltung, Rechtsgüterschutz, das Postulat des freien Willens und vor allem den Besserungszweck. Doch diese Elemente werden nicht aus einem positiv rechtlichen, sondern einem theologischen Sinnzusammenhang entwickelt, auf dem Haenell das Strafvollzugssystem aufbauen möchte. Er spitzt seine Prämisse in der Formel zu: "Das Zuchthaus selber soll ein Gotteshaus sein!" 2 1 . Haenells auf Wicherns Vorstellungen fußende Konzeption ist als Versuch zu interpretieren, die eigenständige Mitarbeit der Gefangenenseelsorge im staatlichen Vollzug zu rechtfertigen. Weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung und Rezeption der Gefangenenseelsorge des 19.Jahrhunderts ergaben sich aus der Tatsache, daß das theologische und das juristische Strafverständnis zwar formal konvergierten, aber inhaltlich divergierten. Zu untersuchen ist nun, ob sich der von Haenell vertretene Ansatz auch in der Theorie und Praxis anderer Gefangenenseelsorger wiederfinden läßt. Die Strafen, die die "Grenzen wahrer Humanität" nicht überschreiten, beinhalten ein Übel, "welches dem Verbrecher in gerechtem Verhältnis zu seiner Verschuldung zugefügt wird", sollen aber zugleich auch wieder zu Gott z u r ü c k f ü h r e n 2 2 . "Sühne und Besserung" sind die beiden B e g r i f f e , mit denen Bienengräber sein Strafverständnis definiert, das in einer doppelten Struktur den Ausgleich des gebrochenen Verhältnisses zu Staat und Gott enthält. Undeutlich bleibt allerdings der Sühnebegriff, der formal die Reaktion auf das Verbrechen zu umschreiben scheint. Klärender wirken die Ausführungen Meyers, der betont, daß der "Zweck der Freiheitsstrafe" vorrangig in der "Sühne für die Verletzung des Gesetzes" besteht. Die göttliche Gerechtigkeit fordert als Äquivalent zum "gottwidrigen Thun" des Rechtsbruches die Belastung des Täters mit dem Strafübel. Die Sühne vollzieht sich nach M e y e r a u f zwei Ebenen, innerweltlich als Ausgleich des Schadens zwischen Täter und Geschädigtem und in der Beziehung zu Gott als Änderung des Selbstver-
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ständnisses von dem Grundgefühl eines Selbstbestimmten zu dem eines Beschenkten. Mit der Neubegründung des Gottesverhältnisses ist zugleich auch der Ausgleich mit dem Strafgesetz geleistet, die Sühneford e r u n g e r f ü l l t . Dieser Prozeß impliziert eine erzieherische Ausrichtung der Vollzugselemente, deren inhaltliche Gestaltung von den Gefangenenseelsorgern geleistet werden soll. Die Subsumierung der Vollzugsziele u n t e r die S ü h n e f o r d e r u n g f ü h r t e bei Meyer zu einer weitgehenden Negierung des Rechts der Persönlichkeit des Inhaftierten und des r e c h t lichen Aspekts der Strafe. Ein S t r a f v e r s t ä n d n i s , das die relativen Strafzwecke als sinnlos oder sek u n d ä r e i n s t u f t , v e r t r i t t Baumgarten. Dominant ist f ü r ihn die vergeltende Reaktion auf die Tat. Die "sittliche Empfindlichkeit" des Volkes e r f o r d e r e eine "Selbstunterscheidung von den ' S ü n d e r n ' , eine heilsame Schutzwehr der objektiven Moralität, f ü r deren Herzenshärtigkeit nun einmal die Normen der Bergpredigt nicht anwendbar sind" 2 ^. Er negiert damit den Aspekt der Gnade in Gottes Rechtswillen, reduziert die göttliche Rechtsordnung auf eine absolute, auf die Verteidigung der Rechtsgemeinschaft abgestellte Straftheorie und argumentiert zugleich mit einem S ü n d e n b e g r i f f , der mit der Kategorie der objektiven Moralität v e r b u n d e n i s t . Da die beiden Postulate der göttlichen Rechtsordnung und des freien Willens die S t r a f b e t r a c h t u n g innerhalb der Gefangenenseelsorge um die Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s wesentlich mitbestimmten, ist als methodische Konsequenz die Skepsis und sogar Ablehnung gegenüber einer soziologisch orientierten Kriminalitätsbetrachtung nur folgerichtig. Der Gefängn i s p f a r r e r Hoffmann konnte demgemäß 1860 die Frage nach der Entsteh u n g von Delinquenz mit den knappen Worten beantworten: "Sünder sind's; Verlorene sind's! Die Sünde i s t ' s , die überall a u f t r i t t und ihr Verderben offenbart". Er lehnte es a u f g r u n d seiner theologischen Position ab, nach "psychologischen Räthseln und interessanten E r f a h r u n g e n aus der Nachtseite des menschlichen Herzens" 2 ^ zu forschen. Erst um 1900 ist zu beobachten, daß die Theologen sich nicht mehr grundsätzlich dagegen s p e r r t e n , die e r n s t h a f t e Auseinandersetzung mit den sich v e r breitenden Ideen von Liszts und der wissenschaftlichen Kriminologie einzugehen. So stellte von Rohden die Frage, "inwieweit die soziologische Betrachtungsweise die sittliche Würdigung und Beeinflussung der Persönlichkeit fördert oder hemmt". Es erschien ihm u n v e r t r e t b a r , den Humanit ä t s g e d a n k e n , der der "soziologischen Auffassung" zugrundelag, so weit zu i n t e r p r e t i e r e n , daß die "wirkliche Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit" aufgehoben und die individuelle Verantwortung nicht mehr diskutiert wurde. Zugleich widersprach er dem Gedanken, den Kriminellen als Produkt der Verhältnisse zu definieren, als einen "unselbständigen Bestandteil der Masse" 2 6 . Obwohl die soziologische Sicht in letzter Konsequenz f ü r von Rohden die Gefahr der Verleugnung der Persönlichkeit beinhaltete, so erkannte er doch an, daß der Seelsorger
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nicht auf soziologische Gesichtspunkte verzichten k a n n , wenn er die Person des Pastoranden voll erfassen und berücksichtigen möchte. Von Rohden v e r t r a t daher eine vermittelnde Position, die die I n t e r dependenzen von Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Zuständen berücksichtigte, ohne die verantwortliche Persönlichkeit und Schuldfähigkeit des S t r a f t ä t e r s zu negieren. In die Praxis ü b e r tragen folgte aus diesem Ansatz f ü r den Seelsorger, sich zuerst d a r um zu bemühen, bei jedem Inhaftierten "Einsicht in die soziale Bedingtheit seines sittlichen Gesamtzustandes und seines Verbrechens" zu gewinnen. Das darf aber nach von Rohden nicht zu einer totalen Entschuldigung f ü h r e n , da der Bruch der Rechtsordnung als "Widerstreit gegen Gottes heiligen Willen" zu bewerten i s t . Doch der "Einblick in die t r a u rigen Lebensumstände" sollte die Seelsorger veranlassen, "freunliches Mitgefühl" zu empfinden und den Inhaftierten nicht als moralisch minderwertig abzulehnen. Grundsätzlich bleibt der Täter f ü r seine Tat verantwortlich. Seine Schuld muß im seelsorgerlichen Gespräch thematisiert werden: "Der Sünder muß nur an seiner Tat erkennen l e r n e n , wie er ist und zugeben, daß er hätte anders sein sollen. So sieht er sich selbst verwirklicht als Täter seiner Taten und macht sich selbst verantwortlich"27. Für von Rohden bedeutete die Verantwortlichkeit des Täters die Wahrung seiner Menschenwürde, die Voraussetzung daf ü r , daß ein Erziehungsprozeß initiiert werden k o n n t e ^ . Auch Nitzsch betrachtet den Besserungszweck 2 ^ als wesentliche Aufgabe der Strafanstalten mit der B e g r ü n d u n g , daß sich das "christliche Gemeinwesen" zu der Pflicht b e k e n n t , "diejenigen noch ein- und herumzuholen, die das Vertrauen zu i h r e r sittlichen Gesellschaftsfähigkeit vorderhand verwirkt haben". Mit vergleichbaren Argumenten sützten Gefängnispfarrer ihre Mitarbeit im Vollzugsorganismus^O, da " g r ü n d liche und stichhaltige Besserung""*! nicht vom Menschen allein zu e r warten sei. In diesem Zusammenhang erinnert Beneke an Wicherns Einsicht, daß der Aufenthalt in der Einzelzelle ohne begleitende Maßnahmen keine bessernden Konsequenzen haben könne·* 2 . Da der Staat bemüht i s t , die notwendige "bürgerliche Sittlichkeit" a u f r e c h t z u e r h a l t e n , die Kirche parallel dazu auch "volkserzieherische" Aufgaben ü b e r nimmt und gegen sittliche Verwahrlosung im Volk kämpft, erscheint es dem Gefängnispfarrer Schulte folgerichtig, wenn "ihre Kraft auch zur Bekämpfung der Illoyalität verwendet" w i r d ^ 3 . Die im 19. J a h r h u n d e r t von den Gefangenenseelsorgern v e r t r e t e n e n Verhältnisbestimmungen der eigenen Aufgaben zum staatlichen Strafen gingen von einem theologisch deduzierten S t r a f v e r s t ä n d n i s aus. Sie mündeten in das Bemühen, zwischen Tat und persönlichen Antrieb e n , Vergeltung und B e s s e r u n g , richterlichem Urteil und göttlichem Rechtswillen innere Beziehungen herzustellen und daraus Ansatzpunkte f ü r die Seelsorgearbeit zu gewinnen.
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3.4 Gefangenenseelsorge und Einzelhaft Die Erwartungen, auf die Seele der Gefangenen besser einwirken zu können, motivierte das Engagement der Gefängnispfarrer für die Einführung der Einzelhaft. Jedoch warnen sie davor, die Einzelhaft als "einsame Haft"34 zu gestalten, da mit der Isolation allein "keinerlei sittliche Erhebung und Kräftigung"35 zu erreichen sei. Auch der Pastoraltheologe Vilmar verwies in seinem Lehrbuch auf die latente Gefahr, daß der Gefangene in der totalen Isolation abstumpfen und nach langer Haftzeit geradezu "kindisch" werden könne^®. Die eingeführte Problematik der geistigen Verkümmerung in der Einzelhaft wurde in der Literatur zur Gefangenenseelsorge nicht weiter aufgenommen, da die Überzeugung vorherrschte, die Inhaftierten erführen durch Seelsorge, Gottesdienste und Untericht adäquate Abwechslung und Anregung. Als wesentlich galt, daß der Gefangene zur Reflexion in der Einsamkeit gezwungen wurde: "Der Mensch, der mit sich allein und darum mehr mit sich beschäftigt ist, kann das verlorene Gebiet seiner Seele wieder entdecken, kann Gott suchen und finden, ist darum eher als sonst religiösen Einflüssen zugänglich"^. Die Einzelhaft wurde auch unter dem Aspekt positiv bewertet, daß "sie das Gefühl der Schuld wachruft und zur Erkenntnis der Sünde mitverhilft"38. Der Inhaftierte wird gleichsam in einen Dialog mit Gott gestellt, der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des bisherigen Lebenswandels aufbrechen läßt. In diesem Stadium der Selbstinfragestellung^^ sollte der Seelsorger dem Pastoranden zur Seite stehen und die Unfähigkeit, die auftretenden Fragen selbst zu lösen, als Anlaß zum seelsorgerlichen Gespräch nehmen. Die "Zellenhaft" forcierte den Prozeß der "Annäherung zwischen Gefangenen und Geistlichen", da sie optimale Voraussetzungen bot, Kommunikationsbedürfnis und -angebot zu korrelieren. Auch unter dem Aspekt der allgemeinen Seelsorge galt die Einzelhaft als für die Rezeption von Gottesdienst und Unterricht förderlich. Der Inhaftierte konnte "in stiller Selbstbeschauung, ungehemmt von widrigen Einflüssen über das Gehörte ruhig nachdenken und dasselbe auf sich einwirken l a s s e n " ^ . Der Leidensdruck und die mangelnde Kommunikation in der Einzelhaft wurden von den Seelsorgern nicht aufgrund humaner Rücksichten hinterfragt, da sie eine Gesprächsbereitschaft evozierten, auch wenn der Gefangene keine direkte Motivation zum Seelsorgekontakt hatte. Kritisch anzumerken ist hierzu, daß der Einsamkeitsfaktor als Mittel bewußt eingesetzt wurde, ohne aber das Leid des Gefangenen als solches zu thematisieren. In diesem Verfahren widerspiegelte sich der weitverbreitete Ansatz, daß erst nach der Unterwerfung unter das verschärfte Strafübel der Weg der moralischen Besserung beschritten werden könne.
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3.5 Die individuelle Seelsorge Betrachtet man das Verhältnis zwischen Seelsorge und Einzelhaft nicht nur eingeengt auf den Effektivitätsaspekt, so ist festzuhalten, daß deren Einführung die Grundlage dafür darstellte, den Aufgabenbereich der individuellen Seelsorge weiter auszubauen und gleichberechtigt neben Gottesdienst und Untericht zu stellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Befund zu erklären, daß gegen Ende des 19.Jahrhunderts die Literatur zu Fragen der speziellen Seelsorge anwuchs, während vordem der Gottesdienstbereich und die katechetischen Aufgaben im Mittelpunkt der Überlegungen zur Seelsorge an Strafgefangenen gestanden hatten.
3.5.1 Der Ort des Seelsorgegesprächs Harms schlug 1834 folgende Möglichkeiten zur Aufnahme von Gesprächskontakten vor: Den Pastoranden in ein separates Zimmer führen zu lassen oder, um den "Wärter" nicht zu bemühen, "durch die Klappe der Gefängnisthür" zu reden oder den Haftraum selbst zu betreten . Einige Jahre später klagte Vilmar über die Umstände der Gemeinschaftshaft als größtes Erschwernis einer individuellen Seelsorge 4 2 . Um ein persönlichkeitsbezogenes Seelsorgegespräch unter vier Augen zu ermöglichen, wurde in größeren Gemeinschaftshaftvollzugsanstalten die Regelung eingeführt, daß die Inhaftierten dem Geistlichen "einzeln in seinem Amtszimmer vorgeführt" wurden 4 ^. Für die Einzelseelsorge in der Gemeinschaftshaft dominierte das Sprechzimmer 44 als Ort der Seelsorge, dessen Vorteil darin gesehen wurde, daß sich die Gefangenen "empfänglicher" 4 ^ zeigten als unter dem Eindruck des Haftlokals. In der Seelsorgelitera"tur wird darauf verwiesen, daß es sinnvoll sei, die Pastoranden auch in ihrem Lebensraum, in den Gemeinschaftsunterkünften und Arbeitsräumen, aufzusuchen, um "für die täglichen Mühen und das tägliche Schaffen der Gefangenen eine Theilnahme und ein Wort der Anerkennung und Ermuthigung aus zusprechen... Eine systembedingte Modifikation erfuhr die Praxis der Seelsorge im Einzelhaftvollzug: "Die Zelle ist der geeignete Ort, um Seelsorge zu treiben" 4 ^. Diese Erkenntnis Specks ist allgemeingültig für die Seelsorger des ausgehenden 19.Jahrhunderts. Der Besuch in der Einzelzelle wurde dem Seelsorgegespräch im Amtszimmer vorgezogen, da die Zelle den Lebensbereich des Pastoranden darstellt, der, als Gesprächsrahmen mit einbezogen, das Gespräch auch inhaltlich prägte. Ferner erleichterte es die Vertrautheit des Ortes dem Inhaftierten, daß "der Mund vertraulicher und wahrer redet und auch das züchtigende, ernste Wort leichter den Weg zum Gewissen finde" 4 ^. Die Überlegungen zum adäquaten Ort der Seelsorge lassen sich mit den Worten des Gefängnispfarrers Stade zusammenfassen: "So werden denn
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alle u n s e r e bisherigen E r ö r t e r u n g e n zu der Erkenntnis g e f ü h r t haben, daß in dem persönlichen Einzelverkehr und in der persönlichen Einwirk u n g auf den Einzelnen der Grundstock u n s e r e r Thätigkeit zu liegen hat. Der Zellenbesuch oder überhaupt die seelsorgerliche Unterredung u n t e r 4 Augen ist u n s e r uns an e r s t e r Stelle angewiesenes A r b e i t s f e l d " ^ .
3.5.2 Die psychische Situation des Menschen in der Haft Innerhalb der zeitgenössischen Literatur bis 1918 ist auffällig, daß zwar ausführliche Überlegungen und Darstellungen zum äußeren Vollzug und den Modalitäten der Seelsorge vorliegen, aber kaum auf das Erleben und die psychische Situation der Inhaftierten eingegangen wird. Der Pastorand wurde eindimensional betrachtet als Gesetzesbrecher, sittlich Verkommener und S ü n d e r . Der Aspekt seines Hafterlebens kam daher nicht in den Blick. Der einzelne Gefangene fand Interesse als Objekt des Vollzuges und der Seelsorge, die emotionalen Folgen des Vollzuges wurden n u r periphär r e f l e k t i e r t . Hinzu kam, daß der Bereich der 'Seele' nur vorwissenschaftlich beschrieben wurde als der innere Bereich des Menschen , der zum Handeln motiviert und in dem das verankert i s t , was die Beziehung des Einzelnen zu Gott definiert. Bei Beneke, Hoffmann und Meyer finden sich kurze Passagen über den psychischen Zustand der I n h a f t i e r t e n . Beneke beschreibt die Lage des Häftlings nach seiner Einlieferung als einen Zustand des E r s c h r e c k e n s . Die sozialen Beziehungen sind abgebrochen, die Fragen von Strafe und Schuld brechen a u f , und ein Gewirr von Aggressivität und Verzweiflung "reißen . . . sein Gemüth hin und h e r " . Daher gab Beneke den methodischen Rat, erst einige Tage nach der Einlieferung, wenn "irdisches Feuer und irdische Leidenschaft" v e r r a u c h t sind, mit dem Seelsorgeprozeß zu beginnen"^. Den E r s t t ä t e r belastet das Gefühl der Verlassenheit und der scheinbar e n Aussichtslosigkeit der Haftsituation, das v e r b u n d e n ist mit der Veru n s i c h e r u n g , die die fremde Welt des Gefängnisses evoziert. Auch der zum "wiederholtenmal" eingelieferte Täter ist nach Hoffmann von diesem Ohnmachtserleben b e t r o f f e n : "Er weiß alles, wie es i s t , umso geringer sein Hoffen"51. Der Gefangene, der sich den emotionalen Belastungen der Einzelhaft ausgesetzt sieht, erlebt eine Einsamkeit, die ihn e r s c h ü t t e r t und zu "menschlicher T r a u r i g k e i t " 5 2 f ü h r t . Die innere Unruhe beschrieb Meyer als Charakteristikum des Einzelhäftlings, als ein Symptom seiner psychischen Unausgeglichenheit, mit der sich der Seelsorger auseinandersetzen muß. Die kurzen Beschreibungen der emotionalen Befindlichkeit der Pastoranden stimmten in der Erkenntnis ü b e r e i n , daß der Strafvollzug einen bedrängenden und verunsichernden Einfluß auf die Gefangenen h a t t e . Die Seelsorger erkannten wenigstens ansatzweise, daß der Strafvollzug nicht n u r die äußeren Lebensumstände normierte, sondern auch eine innere Labilität der Häftlinge erhöhte.
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3.5.3 Der Wert der Persönlichkeit des Pastoranden Neben der Beachtung der emotionalen Situation des Häftlings in der Gestaltung des Seelsorgevollzuges gewann bei den Seelsorgern, die den moralisch gesetzlichen Sündenbegriff ablehnten, die Frage nach der Wahrung der Menschenwürde Bedeutung. Gerade der Aufenthalt in einer Zwangsgemeinschaft e r f o r d e r t e es nach von Rohden, in der Gefangenenseelsorge das christliche Postulat des uneingeschränkten Wertes der Persönlichkeit herauszustellen 5 ^. Der Rückbezug auf die anthropologischen Grundlegungen der Seelsorge f ü h r t e in der Gefangenenseelsorgetheorie zu der - in den damaligen Seelsorgekonzeptionen nicht ohne weiteres selbstverständlichen - Einsicht, daß n u r ein als Person r e spektierter Häftling als verantwortungsfähiger Gesprächspartner des Pastors angesprochen werden könne. Wurde der Gefangene als Objekt der Seelsorge behandelt, so war nicht zu e r w a r t e n , daß er von sich aus Initiativen zur Veränderung seiner Haltung und Einstellung e r g r e i f t . Daher betonen die Instruktionen f ü r die Geistlichen in den Haftanstalten des Justizministeriums (1858): "Auch dem Gefangenen werde schonende und achtende Berücksichtigung seiner Person zu Theil, als Mittel seiner geistigen Hebung" 5 ^. Achelis verwahrte sich mit Recht dagegen, ein Unwerturteil über den S t r a f t ä t e r auf der Tatsache zu g r ü n d e n , daß sich die "sittliche Inferiorität' 5 5 in der I n h a f t i e r u n g manifestiert habe, denn auch außerhalb des Gefängnisses lebten sittlich noch t i e f e r s t e h e n de Menschen, die sich d u r c h Schlauheit oder Rechtskenntnis der Verhaft u n g entzogen h ä t t e n . Daraus folgt f ü r die Seelsorge, daß die Inhaftierten wie "unbescholtene Glieder der Gemeinde . . . nicht als Nummer, sondern als Menschen und Christen" 5 ® zu behandeln seien. In der Konkretisierung des Ansatzes mußten die Seelsorger bewußt den Konflikt mit den verwahrenden S t r u k t u r e n der Haftanstalt eingehen. Denn in der christlichen Gemeinde gilt f ü r die Seelsorge, so Schleiermacher 5 ^, daß sie als Angebot gegenüber dem Gemeindeglied zu v e r stehen i s t , es also ihm f r e i s t e h t , das "Anerbieten" des seelsorgerlichen Kontaktes anzunehmen oder nicht. Vom Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen kann die Seelsorge nicht auf einem Zwangsverhältnis ber u h e n . Das Seelsorgeverfahren muß von seiten des G e s p r ä c h s p a r t n e r s gelöst werden können, wenn es zwanghafte Züge anzunehmen d r o h t . In Analogie dazu beinhaltet f ü r Köstlin die Seelsorge einen Dienst, "der jeden Zwang, sei es der äußeren Gewalt (Inquisition), sei es der Gewissensschreckung (Methodismus), ausschließt, weil sie sich an die freie Entscheidung des Christenmenschen wendet" 5 ^. Diese Freiheit innerhalb der Gefangenenseelsorge zu realisieren, war auch das Anliegen von Rohdens. Er verwies jedoch auf die Schwierigkeiten, die dem Prinzip der "Freiheit und Freiwilligkeit" der Seelsorge im S t r a f vollzug e n t g e g e n s t a n d e n . Alle Lebensumstände innerhalb der Anstalt werden von der "Norm der strikten Gebundenheit, des Zwanges" bestimmt. Von daher stand der Gefangenenseelsorger vor der schwieri-
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gen Aufgabe, "dies Zwangssystem d u r c h die in ihrem Wesen gegebenen Direktiven evangelischer Freiheit zu durchbrechen". Trotzdem sollten sich die Geistlichen bemühen, ihre Seelsorgearbeit von allem Zwanghaften zu befreien und einen Raum der Freiheit in der Unfreiheit zu schaff e n . Denn die Seelsorge paralysierte sich s e l b s t , wenn die Gefangenen das Gefühl d a f ü r verlören, "daß es sich bei der Seelsorge wirklich um eine Wohltat und niemals um einen drückenden Zwang handelt"^ 9 . Die von Gott b e g r ü n d e t e persönliche Freiheit muß von der Seelsorge als Grenze der Einflußnahme respektiert werden: Die "sittliche Freiheit" auch der "Räuber und Mörder"60 sollte davor bewahren, das Evangelium a u f z u zwingen oder das Gewissen zu b e d r ä n g e n . In enger Korrelation zum Problem der christlichen Freiheit w u r d e , im Anschluß an Wagnitz und Julius, die Frage der Beachtung der Individualität in den Seelsorgekonzeptionen bedacht. Sie fand e r s t e n Niederschlag in den Bestimmungen des Rawiczer Reglements zur speziellen Seelsorge: Der Seelsorger sollte "nach Maßgabe . . . der Individualität des Sträflings auf die sittliche und religiöse Besserung desselben" hinwirken®!. In der Literatur zur Poimenik wurde der Begriff der Individualität von Otto in Bezug auf "die eigenthümlichen Bedürfnisse Einzelner" e x p l i z i e r t ^ . Die spezielle Situation und individuelle Problematik des Pastoranden bieten auch nach von Harnack den Ansatzpunkt f ü r seelsorgerliche Bemühungen: "Die Seelsorge in Beziehung auf den Einzelnen hat es mit den Gemeindegliedern zu thun nach ihren persönlichen Herzenszuständen und nach ihren bestimmten L e b e n s v e r h ä l t n i s s e n " ^ . Von Rohden bemühte sich, die allgemeinen Ansätze der Seelsorgediskussion auf die spezielle Situation der Gefangenenseelsorge u n t e r dem Programm der Würdigung der "Gesamtpersönlichkeit des Rechtsbrechers" zu übertragen®^. Dem Gefängnispfarrer erwuchs daraus die Aufgabe, im Rahmen der speziellen Seelsorge den Bewußtwerdungsprozeß der Individualität im Gesprächspartner anzuregen und zu f ö r d e r n , indem er die individuellen Bedürfnisse seines Gegenübers aufnahm. Dem Gefangenen sollte das Gefühl vermittelt werden, persönlich den Bezugspunkt der Bemühungen des Seelsorgers zu bilden. Obwohl die Forderungen nach individueller Behandlung des Gefangenen schon von Wagnitz erhoben und von Julius und Wichern e r n e u e r t worden waren, fanden sie erst im letzten Drittel des 1 9 . J a h r h u n d e r t s ansatzweise Eingang in die Gefangenenseelsorgeliteratur. In einer Zeit, in der die Konsolidierungsphase der institutionell abgesicherten Gefangenenseelsorge zu einem gewissen Abschluß gekommen und Anfangsschwierigkeiten gelöst waren, konnten sich die Seelsorger auch den persönlichen Problemen des einzelnen Gefangenen widmen.
- 119 3.5.4 Seelsorge an kranken Inhaftierten In einer speziellen Situation innerhalb des allgemeinen Vollzugsbetriebes befanden sich die kranken Häftlinge, die neben den Pressionen der Haft die Beschwernisse der Krankheit zu tragen hatten. Speziell bei Schwerkranken stellte die Angst vor dem Sterben® 5 in der Isolation der Haft eine wesentliche seelische Belastung dar. Für Hoffmann war es eine Erfahrungstatsache, daß das "Krankenbett" dem Pastoranden "am ehesten das Herz aufthut" und den Zugang zum Geistlichen "bahnt"®®. Als weitere Erleichterung für die seelsorgerliche Arbeit wurde vermerkt, daß die beschäftigungslose Zeit auf dem Krankenlager die Inhaftierten mit dem vollen Ausmaß ihres Elends konfrontierte. Die leidensbestimmte Situation nutzten die Seelsorger, um tröstend oder ermahnend einzuwirken®''. Aus humanitären Rücksichten hielt es von Rohden dagegen für lieblos, die Lage des Kranken durch Vermahnungen noch zu verschärfen, zumal er keinen Besuch empfangen darf und auf Zuspruch oder ermunternde Worte von Freunden oder Familienmitgliedern verzichten muß. Der Seelsorger sollte deshalb besondere Mühe darauf verwenden, die Kranken aufzumuntern, ihnen Lebensmut zu geben und den fehlenden Besuch zu kompensieren. Besonderer Aufmerksamkeit empfiehlt von Rohden diejenigen Gefangenen, die an Geisteskrankheiten leiden und "nur durch eine besonders verständnisvolle Behandlung . . . vor häufigen Explosionen und schweren Disziplinarverfehlungen zu bewahren sind". Ohne daß der Ernst des Strafvollzuges diesen Menschen gegenüber gemildert werde, sollte der Geistliche in Zusammenarbeit mit dem Personal versuchen, sie "sozusagen bei guter Laune zu erhalten". Unverständlich bleibt jedoch, daß von Rohden für die geistig behinderten Gefangenen das "Erziehungsprinzip" der Seelsorge mit der Begründung in den Vordergrund stellte, daß "die eigentliche Seelsorge . . . bei ihrer geistigen Unzulänglichkeit nur geringe Bedeutung" habe®^.
3.5.5 Unschuldige Inhaftierte als Problem der Gefangenenseelsorge Die schuldlos angeklagten oder verurteilten Inhaftierten standen nach Achelis in der Gefahr, "durch Unwahrhaftigkeit oder Selbstbefreiung eine Aenderung ihrer Lage zu bewirken". Die Haltung der "Verbitterung" und "Verzagtheit" sollte der Seelsorger in einer Reihe von Gesprächen zu verändern suchen, indem er argumentativ und tröstend darauf hinwies , daß "Gott das Recht lieb hat und seiner Zeit den Unschuldigen rechtfertigen wird". Da die sittliche Würde "unverloren sei", könne der Betroffene Mut fassen und sich demütig unter Gottes Schickung beugen®^. Scharf wurden die Geistlichen davor gewarnt, zur Flucht zu raten oder diese gar zu begünstigen, um den Häftling "mit List oder Gewalt aus den Händen rechtmäßiger Obrigkeit zu befreien" 7 ^. Der Spruch des Gerichtes wurde als Akt der absoluten Gerechtigkeit anerkannt. Die Geistli-
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chen sahen es als Verpflichtung an, Unschuldige "um i h r e r Seele willen vor provocativem Trotz, vor Schwärmerei zu bewahren und zur Geduld in Treue bis in den Tod zu ermuntern"?!. Dem Unschuldigen wurde zugestanden, sich zu verteidigen. Verfiel er aber in ein "Murren wider Gottes Führung", so sollte er zum Vertrauen auf Gott ermahnt werden, "der das Verborgene ans Licht zu bringen Weg und Mittel genug hat"?2. Das gleichsam justiz-apologetische Seelsorgeverfahren gegenüber Justizopfern basierte auf der in sich konsequenten Argumentationskette, daß die Obrigkeit im A u f t r a g Gottes s t r a f t und folglich, wenn ihr ein Fehler u n t e r laufen sollte, allein Gott das Recht und die Macht innehat, die Unschuld des Verhafteten zu offenbaren und ihn zu b e f r e i e n . Bis zu diesem Geschehen muß sich der Detinierte seinem Schicksal u n t e r w e r f e n , um den Rechtswillen Gottes nicht zu verletzen. Fand trotz evidenter Unschuld keine Rehabilitierung s t a t t , so i n t e r p r e t i e r t e n das die Gefängnispfarrer als Willen Gottes zur Züchtigung des b e t r e f f e n d e n Menschen aus G r ü n d e n , die außerhalb menschlicher Erkenntnis lagen. War der Geistliche fest davon ü b e r z e u g t , daß der Pastorand zu Unrecht inhaftiert sei, so wurde ihm zugestanden, dem Häftling zu helfen, indem er sich auf legalem Wege bemühte, dessen Recht zu o f f e n b a r e n . Bestanden jedoch Zweifel, sollte der Geistliche n u r "freundlich" an die Wahrhaftigkeit des Pastoranden appellieren und auf den "Allwissenden" verweisen, "der das verlorene Recht an den Tag b r i n g t " ^ . Hier zeigte sich die Aporie der Gefängnisgeistlichen, die an dem Postulat festhielten, das Urteil des Gerichts impliziere die Manifestation des göttlichen Rechtswillens, gegenüber dem Problem des Justizopfers: Die latente Gefahr von Fehlurteilen war theologisch n u r schwer zu qualifizieren. Innerhalb der Seelsorgepraxis wurde die Frage transzendiert und in dem T r o s t z u s p r u c h gelöst, Gottes Rechtswillen werde sich in der b e s s e r e n Einsicht des Gerichts o f f e n b a r e n . Unter Aufnahme der speziellen Situation des Unschuldigen f o r d e r t e allein Schweizer den besonderen Einsatz des Geistlichen "zur Aufhebung . . . widerfahrenen Unrechts"^.
3.5.6 Seelsorge an Untersuchungsgefangenen Aufgrund der besonderen Haftsituation der Untersuchungsgefangenen, die in der Regel nur kurzzeitig in einer Anstalt verweilten und oft zu Verhören mit Untersuchungsbehörden durchgeschlossen w u r d e n , war es in der Literatur umstritten, ob überhaupt eine seelsorgerliche Bet r e u u n g angebracht sei, zumal auch die Untersuchungsbehörden mit der B e g r ü n d u n g Widerspruch erhoben, die Seelsorge könne die Ermittlungsarbeiten s t ö r e n . Noch 1896 wiederholte Baumgarten das gegen die Seelsorge an Untersuchungshäftlingen häufig a n g e f ü h r t e Argument, diese seien "in ihrer gespannten Situation kein r e c h t e s Objekt der Seel-
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sorge, die eben Ruhe und innere Fassung b e a n s p r u c h t " ^ . Dagegen wendete Beneke, der entschieden f ü r die seelsorgerliche B e t r e u u n g der Unt e r s u c h u n g s g e f a n g e n e n e i n t r a t , ein, mit der Diskontinuität könne nicht gegen die seelsorgerliche B e t r e u u n g argumentiert werden. Deren Qualität werde vorrangig vom "Ernst und der Eindringlichkeit des seelsorgerlichen Z u s p r u c h s " ^ bestimmt. Auch das Argument, die Seelsorge störe die Untersuchungen, lehnte er mit der klaren B e g r ü n d u n g ab, die Seelsorge habe nicht die Aufgabe, die gegenwärtigen oder äußeren Verhältnisse zu u n t e r s u c h e n , u n t e r deren Druck der Mensch im Augenblick s t e h t , sondern befasse sich mit "dem inneren Verhältnis der Seele zu G o t t " ^ . Die Gesamtproblematik wurde von der Tatsache bestimmt, daß die Untersuchungsgefangenen keine Strafe verbüßen. Die Vollzugsverwaltung zeigte wenig Bereitschaft, die Arbeit der Seelsorger in der Untersuchungshaft zu u n t e r s t ü t z e n , da das staatliche Hauptinteresse, das erzieherische Einwirken auf den Gefangenen, nicht durchzusetzen war. Die Verh a f t e t e n hatten das Recht, jede erziehende Maßnahme abzulehnen. Jedoch konnte im Regelfall die Seelsorge nicht u n t e r b u n d e n werden, da a u f g r u n d der Rechtslage keinem Inhaftierten der Zuspruch des Geistlichen u n t e r s a g t werden d u r f t e . Positiv wurde von den Vollzugsorganen v e r m e r k t , daß bei regelmäßiger seelsorgerlicher B e t r e u u n g die Zahl von Selbstmordfällen signifikant a b n a h m W e n n diese Konsequenz aus seelsorgerlichem Interesse zu v e r t r e t e n war, so war der gelegentlich angebotene Kompromiß umstritten, als Gegenleistung f ü r tolerierte Seelsorgearbeit Mitarbeit bei der Erlangung von Geständnissen zu erwarten. Der Gefängnisseelsorger Knoke stellte diesen fremdbestimmten Inhalt seiner Tätigkeit bewußt h e r a u s , bei der Klärung von Schuldfragen Inhaftierter mitzuwirken und sie zu einem "Geständnis der Wahrheit zu beweg e n " ^ . Zwar war der Geistliche nicht v e r p f l i c h t e t , als "Ausfrager" zu f u n g i e r e n , trotzdem hielt es Otto f ü r a n g e b r a c h t , darauf zu d r ä n g e n , daß der Häftling "ein offenes Geständnis" ablegte80. Gegen eine direkte oder indirekte Mitarbeit an den Untersuchungen wendete sich Haenell, der davor warnte, daß das Vertrauensverhältnis zum Pastoranden zerbrechen müsse, wenn der Pastor dahin ziele, "ihn zur Strafe zu bring e n ti81 Mit gleicher Intention plädierte Vilmar d a f ü r , bei der Seelsorge an Untersuchungsgefangenen das Beichtgeheimnis besonders sorgfältig zu wahren*^. Aus eigener E r f a h r u n g in der seelsorgerlichen Arbeit wußte von Rohden um die Gesprächshemmungen der Gefangenen und die Schwierigkeiten, eine vertrauensvolle Offenheit zu erreichen. Von daher b e g r ü ß t e er e s , daß in der Hamburger Gefängnisinstruktion ausdrücklich bestimmt wurde, der Geistliche habe "sich jeder Einwirkung auf Ablegung von Geständnissen zu enthalten"83. Diese Mahnung sollte nach von Rohden f ü r jeden Seelsorger verbindlich sein, da "die Seelsorge mit dem Verfahren der Kriminalpolizei und des U n t e r s u c h u n g s r i c h t e r s gar nichts zu thun hat"84.
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Während bei der Beantwortung der Frage^ ob der Geistliche zur Erzielung eines Geständnisses beitragen solle oder nicht, zwei konträre Positionen zu konstatieren waren, ist die einstimmige Ablehnung deutlich, in laufende Verfahren e i n z u g r e i f e n ^ S . Genauso verweigerten sich die Gefängnispfarrer den Wünschen von Untersuchungshäftlingen, den Untersuchungsgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen oder Kontakte mit Richtern oder Staatsanwälten a u f z u n e h m e n * ^ . Deutlicher als in den Konzeptionen der Seelsorge an Strafgefangenen wird in den Ansätzen zur Seelsorge an Untersuchungsgefangenen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die psychische Situation des Pastoranden reflektiert. Neben den Unsicherheiten des noch ausstehenden Strafverfahrens wird die Sorge um die Familie beschrieben, die oft mittel- und hilflos, von der Gesellschaft geächtet, sozial isoliert zurückgelassen war. Das Konglomerat aus sozialen und psychischen Belastungen sowie der Druck der Verhöre führten zu resignativer Selbstaufgabe oder gar zu SuizidgedankenS?. Die Seelsorger fanden die Untersuchungsgefangenen in einer besonderen "Erregung des Gemüts", die "bis zu den Grenzen des W a h n s i n n s " 8 8 reichen konnte. Gravierende emotionale Spannungen erlebte der Inhaftierte in den Tagen vor der Urteilsverkündung. In dieser Situation hielt es Haenell für sinnvoll, den Pastoranden damit zu trösten, daß das "Gericht im Namen Gottes" über ihn gehalten wird und es "viel schrecklicher ist, in die Hand des lebendigen Gottes, als in die der Menschen zu fallen". Diejenigen, die angesichts der nahen Verurteilung aufgrund der seelsorgerlichen Vermahnungen Reue und Sühnebereitschaft zeigten, sollten in dem Zuspruch Trost finden, "daß Christus in jener schweren Stunde bei ihnen bleiben werde, wenn sie ernstlich darum bitten"** 9 . Nach Beneke hat der Untersuchungsgefangene das grundlegende Bedürfnis, von einem Menschen besucht zu werden, "dem er sein unbedingtes Vertrauen schenken darf, der seine Erzählung und seine Sorgen anhört und in beruhigender Form ihm zuspricht" 9 ^. Auch von Rohden betonte die seelsorgerliche Notwendigkeit, die Untersuchungsgefangenen zu besuchen, um ihrer "zerrissenen Seele . . . die befreienden Kräfte des Evangeliums" zu vermitteln. Da der Seelsorger als einzige Kontaktperson die Chance dazu hatte, sich um Untersuchungshäftlinge zu bemühen, sollte er keine Möglichkeit auslassen, ihnen ihre Sünden "vom Gewissen" zu nehmen 9 *. Die Ausführungen zur seelsorgerlichen Betreuung an Untersuchungsgefangenen stimmten darin überein, die psychische und soziale Motivation im Seelsorgevollzug zu berücksichtigen. Unterschiedliche Intentionen der speziellen Seelsorge ergaben sich aus der Orientierung der Seelsorger einerseits am Gesetz mit der methodischen Konsequenz, den Inhaftierten zu Geständnissen zu bewegen, andererseits am Evangelium, wobei die Seelsorger die Hauptaufgabe darin sahen, die psychischen Belastungen der Pastoranden aufzunehmen und ihnen Trost und Beistand in der verunsichernden Situation zu vermitteln.
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Auch in diesem Themenkreis läßt sich die Entwicklungstendenz innerhalb der Seelsorgetheorie erkennen, daß die jüngeren Veröffentlichungen die Betonung des gesetzlichen Vorgehens ablehnten und eine evangeliumsorientierte Seelsorgepraxis vertraten.
3.5.7 Die theologische Begründung der Gefangenenseelsorge Als biblische Belegstelle 9 2 für die Berechtigung und Verpflichtung der seelsorgerliche Annahme des Gefangenen, die die Sorge für sein ewiges Heil impliziert, wurde im klassischen Sinne Matth 25,36 herangezogen. Hoffmann dagegen beruft sich auf das Wort: "Ich bin gekommen nicht zu richten, sondern zu suchen und selig zu machen, was verloren i s t " , und zog daraus die Konsequenz, daß die in den Augen der Öffentlichkeit Verlorenen besonderen Anspruch auf geistliche Betreuung haben. Das Gefängnis war für ihn kein "verfluchter Boden, sondern ein Boden, den der Herr durch dieses Wort geheiligt hat" 9 ^. Der Gedanke der Suche des Verlorenen wurde zu einem festen Topos der theologischen Reflexion der Gefangenenseelsorge. So interpretiert vom Endt die Liebespflicht des Seelsorgers als Aufgabe, sich "christlicherseits" um die "Verirrten und Verlorenen" besonders zu bekümmern, da "der Herr neben den Kranken, Nackten, Hungernden auch der Gefangenen Erwähnung gethan" 9 ^. Im gleichen Sinne konnte auch Krauss seine Überlegungen zusammenfassen: "Der leitende Gesichtspunkt, aus welchem die Seelsorge an den Gefangenen betrieben werden soll, ist der des Suchens von Verlorenen" Die biblisch theologische Deduktion der Gefangenenseelsorge charakterisierte diesen speziellen Bereich pastoralen Handelns als eine Implikation der Nachfolge Christi. Neben rein biblische Begründungen traten auch systematisch theologische. Für Beneke beinhaltet der Sühnetod Christi 9 ® in seiner universellen Bedeutung auch für Inhaftierte, daß der Gefängnisseelsorger sich intensiv um die "Arbeit an den Gefangenen" bemühen muß. Die problematische psychische und soziale Situation des Gefangenen darf - so Köstlin - nicht als Argument dafür angeführt werden, ihm entgegen Gottes Willen "Rettung und Bewahrung zum ewigen Leben" 9 ? vorzuenthalten, denn jeder Gefangene, ob er unschuldig oder schuldig in der Haft leidet, verpflichtet zur Seelsorge, die die "Probe d a f ü r " 9 8 ist, ob die Gefangenen von ihren christlichen Mitbrüdern geliebt werden. "Die christliche Liebe, die die einzelne Seele schätzt", ist nach von Rohden das zentrale Motiv, das "sämtliche Bestrebungen zur geistigen Versorgung und sittlichen Hebung der Gefangenen" umgreift und dem "Vorbild des göttlichen Hirtenamtes" 9 9 v e r bunden ist. Das christologisch qualifizierte Liebes Verständnis gab den Gefängnispfarrern die Basis zum Engagement für den gesellschaftlich
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diskriminierten Häftling und wirkte als Hoffnungssymbol, den Seelsorgekontakt im Blick auf die E r r e t t u n g des Pastoranden auch bei Rückschlägen w e i t e r z u f ü h r e n * 0 0 .
3.5.8 Gottes Wort und Wirken als Basis der Gefangenenseelsorge Die theologische Argumentation f ü r die Verpflichtung zur Gefangenenseelsorge ist als A u s f ü h r u n g der G r u n d ü b e r z e u g u n g zu i n t e r p r e t i e r e n , daß das Wort Gottes Norm und Inhalt des poimenischen Handelns im Strafvollzug s e t z t . Harnack definierte die Gefangenenseelsorge als "Mittheilung des göttlichen Wortes", als "die specielle Application des Wortes von der v e r g e b e n den Gnade"·1·0·1·. "Des Herrn Wort" prägt den " B e r u f ' des Gefängnisgeistlichen, der in ihm "reiche Weisung"l°2 findet. Köstlin beschreibt das Wort Gottes als das "Organ" der Seelsorge schlechthin, "in welchem d e r heilige Geist an das Gewissen des Menschen herankommt, ihm das in Jesus Christus erschienene und dargebotene Heil n a h e b r i n g t , die Gnade anbietet und aufschließt, d u r c h welches er ordnungsgemäß auf den Menschen einwirkt"!®^. Aus diesem Ansatz folgte f ü r das Selbstverständnis des Seelsorgers, sich als Mittler zu v e r s t e h e n , der das Wort Gottes dem Inhaftierten nahezubringen h a t t e . Den a n g e s t r e b t e n Erfolg, die Lebensbasis der Gefangenen zu v e r ä n d e r n , erwartete der Seelsorger nicht allein vom Einsatz der ihm gegebenen Möglichkeiten, sondern letztendlich a u f g r u n d des Wirkens Gottes. Haenell betonte stellvertretend f ü r eine große Gruppe von Seelsorgern, "daß das Werk der Bekehrung allein von Gott gethan werden k a n n " l ° 4 , u n d zwar vermittelt im Heiligen Geist. Da Gottes Handeln die Sinnhaftigkeit des Seelsorgevollzuges t r a n s z e n dierte, konnte in den Seelsorgekonzeptionen des 19. J a h r h u n d e r t s die Überlegung reaktiviert werden, daß auch die I n h a f t i e r u n g auf Gottes Wirken z u r ü c k z u f ü h r e n i s t : Gott selbst hat in den nicht seinem Willen gemäßen Lebenswandel des Delinquenten e i n g e g r i f f e n , um ihn nicht völlig der Sünde verfallen zu lassen. Die S t r a f h a f t wurde als "göttliche Züchtigung"* 0 '' i n t e r p r e t i e r t . Der Gefängnispfarrer sah sich Menschen g e g e n ü b e r , "die der Herr . . . so gewaltig heraus gegriffen aus ihrem Treiben, und dem Geistlichen z u g e f ü h r t , als solche, die er auch noch r e t t e n will"l°6. Diesen Gedanken nimmt auch von Rohden a u f , f ü r den die Straftat seelsorgerlich als Anlaß relevant wird, "der in der Hand Gottes den I r r e n d e n zur B e s t r a f u n g , Züchtigung gebracht hat und dadurch zur Einkehr und Umkehr hat zwingen wollen"* 0 ^ Der Gefangene ist in der Haft dem umgreifenden Willen Gottes u n t e r worfen. Die darin bekannte Relativierung der Relevanz patoralen Handelns wirkte sich im Vollzug der Seelsorge dahingehend a u s , daß der Geistliche in "Demuth" a n e r k a n n t e , bei Gottes Werk n u r "Handlanger-
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dienste" leisten zu können und davor bewahrt wurde, "die Einzelnen in bestimmte feste Formen der Erkenntnis und des Lebens zu g i e s s e n " 1 ^ . Der Geistliche konnte sich zugleich in scheinbar hoffnungslosen Situationen vom Erfolgszwang des Seelsorgeverfahrens entlastet f ü h l e n , da er darauf v e r t r a u e n konnte, "daß noch ein höherer Seelsorger über dem ganzen Strafvollzug und seinen menschlich unvollkommenen Einrichtungen w a l t e t ! " 1 ^ . e r davon ausging, daß die Bekehrung der Pastoranden letztendlich "Sache des göttlichen Geistes" 11 ·) war, brauchte er sie nicht zu erzwingen. Diese Einsicht f ü h r t e Stade zu dem methodischen Grundsatz, "die spezielle seelsorgerliche Einwirkung auf den Einzelnen nicht zu überspannen". Der Häftling d ü r f e die Muße h a b e n , "sich selbst zu leben und das gehörte Wort in der Stille auf sich wirken und in sein Gewissen eindringen zu l a s s e n " 1 1 1 . Hoffmann faßte diese Überlegungen in die Formel, daß das "ora" des Geistlichen ihn davor bewahrt, "das Gelingen dem eigenen labora zuzuschreiben" 1 1 ^. Die Gefangenenseelsorger des 19. J a h r h u n d e r t s deduzierten ihr Selbstv e r s t ä n d n i s aus dem bestimmenden theologischen Kriterium der Wort gemäßheit. Das Wort Gottes gründete und normierte die Seelsorgertätigk e i t , die wiederum darauf ausgerichtet war, an der Verwirklichung des Heilswillens Gottes zur Rettung der Gefangenen vor dem völligen Verfall an die Sünde mitzuarbeiten. Zugleich aber war man sich bewußt, daß der umfassende Wille Gottes die menschlichen Bemühungen relativierte und den Seelsorger entlastete.
3.5.9 Zielsetzungen der individuellen Seelsorge an den Gefangenen Oosterzee sah seine Aufgabe d a r i n , "wirklich etwas Gutes in diesen Höhlen der Sünde" 1 1 ^ z u erreichen. Dieser Satz kann als globale Umschreib u n g der seelsorgerlichen Bemühungen innerhalb der Mauern der Gefängnisse gelten, er bedarf jedoch einer genaueren inhaltlichen Bestimmung. Einen Ansatz dazu bietet Köstlin mit dem Programm, "daß der Gefangene im Lichte des göttlichen Wortes in der S t r a f e , die er leidet,... die Hand des guten Hirten erkennen und begreifen lerne" 1 1 ^. Der Seelsorger begleitete den Gefangenen auf seiner Suche nach dem "inneren Frieden in Gott", ermutigte ihn in Gesprächen "zur Bekämpfung der Sünde, Ueberwindung des Irrtums" und leistete "Stärkung wider die Anfechtung" 1 1 ''. Innerhalb dieses Prozesses wurde es als notwendig e r a c h t e t , den Pastoranden zur Auseinandersetzung mit den fundamentalen Fragen seiner Existenz zu veranlassen: "Was ist Sünde? wie kommt es zu Sünde? was sind ihre Folgen und wie wird sie gesühnt und bekämpft?" 1 1 ^. Die Idealkonzeption der Seelsorger bestand d a r i n , "die Gefangenen im Gefängnis aus ihrem Sündenleben a u f z u r ü t t e l n , ihnen den heiligen Gott bekannt zu machen, sie auf den Sünderheiland hinzuweisen und sie d u r c h den tiefen
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Ernst der Buße hindurch zum Glauben an die alles v e r g e b e n d e Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu f ü h r e n " 1 1 7 . War die Strafe als heilsame Züchtigung Gottes a n e r k a n n t , so wurden die Seelsorgegespräche im traditionellen Sinne mit der Intention f o r t g e s e t z t , dem Gefangenen Beistand und "Stärkung" zu geben, um es ihm zu erleichtern, "unverrückt auf dem Wege der Heiligung f o r t z u s c h r e i t e n " 1 1 ^ . o i e Heiligung, der Ausgleich zwischen dem Vergebung erbittenden Sünder und dem Gnade zusagenden Gott, galt den Geistlichen als höchstes Ziel, zu dessen Anbahnung sie ihre Möglichkeiten im Auftrage Gottes einsetzten. Kritisch gab Hindberg 1 1 ^ im Blick auf die Bedingungen des Vollzuges und die persönlichen Voraussetzungen der Gefangenen zu b e d e n k e n , daß sie wenig Affinität zu den Inhalten der Seelsorge h ä t t e n . Daher seien die Erwartungen an die Arbeit der Gefangenenseelsorger nicht zu hoch anzusetzen. Er wertete es in der Realität als einen v e r t r e t b a ren Erfolg, wenn der "Entlassene die B e s s e r u n g seiner Gesinnung und seines Lebens dadurch beweist, daß er nicht arbeitsscheu und nachlässig i s t , daß er sich nicht öfter gegen die Strafgesetze v e r s ü n d i g t " . Denn damit hätte der Gefängnisgeistliche schon das fast Unerwartete e r r e i c h t , "daß ein Mensch der bürgerlichen Gesellschaft gerettet und wiedergegeben worden ist". Die d a r ü b e r h i n a u s f ü h r e n d e "christliche B e k e h r u n g und Erneuerung" a n z u s t r e b e n , sollte zwar die Idealvorstellung jedes Gefängnispfarrers bestimmen, ihn aber nicht dazu v e r a n l a s s e n , das "Minimalziel" der "bürgerlichen Besserung", das zu realisier e n schon schwer genug i s t , abzuqualifizieren. Hindberg e r k a n n t e sehr wohl die Gefahr seiner Konzeption, der Identifikation mit den staatlichen Vollzugszielen Vorschub zu leisten, betonte aber in realer Selbsteinschätzung seiner seelsorgerlichen Möglichkeiten, daß bei vielen Gefangenen n u r die Hoffnung bestehen konnte, daß eine grundlegende Neuorientierung des Lebens der Pastoranden aus christlichen Motiven erfolgt e , wenn er auch d u r c h positive äußere Verhältnisse darin b e s t ä r k t wurde.
3.5.10 Methodische Überlegungen zur individuellen Seelsorge In der Literatur finden sich methodische Überlegungen zu einer intensiven und sinnvollen Gestaltung des Seelsorgeverfahrens. So schlägt Schweizer v o r , in der Behandlung der Pastoranden "freimütig" 1 2 ^ zu sein, die Tat nicht zu entschuldigen, aber den Täter nicht zu v e r a c h t e n . Harms möchte, was die "geistliche Behandlung" b e t r i f f t , keine besonderen Ratschläge geben, außer daß sich der Seelsorger so verhalten solle, daß der Gefangene ihn "gerne bey sich s i e h e t " 1 2 1 . Ausführlicher e Überlegungen zum Seelsorgeprozeß bietet H i n d b e r g 1 2 2 : Der Geistliche sei gut b e r a t e n , trotz der Verschiedenheit der Rechtsbrecher davon auszugehen, "daß bei der Mehrzahl die Betrübnis vorhanden ist". Um diese aufzunehmen, sollte er den Gefangenen das Gefühl vermitteln,
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von ihrem Schicksal betroffen zu sein und Mitleid zu empfinden. Daraus folge f ü r den Aufbau eines kontinuierlichen Kontaktes die methodische F o r d e r u n g , dem Pastoranden zu v e r s i c h e r n , daß der Seelsorger als ein "Freund in der Noth" zu ihm kommt, an den er sich wenden kann "mit Allem, was grämt und d r ü c k t " . Auf der emotionalen Ebene besteht f ü r S a g e m ü l l e r d i e Chance des Seelsorgers, eine Gesprächssituation zu e r ö f f n e n , da gerade die Gefangenensituation eine ständige Unmittelbarkeit der Lebensbezüge impliziere. Vor dem Mißbrauch der Möglichkeiten des Seelsorgeamtes im Zwangssystem Gefängnis warnte von Zezschwitz mit dem Argument, gerade um das Prinzip der Heteronomie zu d u r c h b r e c h e n müsse sich der Seelsorger als "wahrer Menschenf r e u n d " erweisen, der beim Zellenbesuch "teilnehmendes und achtungsvolles Annehmen" r e a l i s i e r t 1 2 4 . Zugleich ist die seelsorgerliche Methodik im "prophylaktischen Sinne" zu gestalten, "keinen Menschen wie einen aufzugebenden anzusehen und zu behandeln". Um eine moralische Abqualifizierung zu vermeiden, ist der Seelsorger v e r p f l i c h t e t , dem Pastoranden das "Bruderrecht" z u z u g e s t e h e n 1 ^ . Gegen die u n t e r Seelsorgern v e r b r e i t e t e Praxis, aus der gerichtlichen Verurteilung des Gefangenen eine Bewertung des Gefangenen abzuleiten, wendete sich Hafn e r 1 2 6 u n ( j forderte seine Amtskollegen a u f , sich von allen Fremdurteilen zu lösen und "aus allerlei Symptomen" selbst "auf den inneren Zustand des Sträflings seine Diagnose zu stellen". Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! - dieses "Wort des Herrn" mahne zu einer vorurteilsfreien Einschätzung, die die Voraussetzung f ü r einen offenen Seelsorgekontakt biete. Um eine dem Pastoranden adäquate "Handhabung der Seelsorge" methodisch zu entwickeln, erschien es M e y e r w i c h t i g , den "Seelenzustand" des Gefangenen genau zu p r ü f e n . Auch auf den Seelsorger bezogen gilt, daß er sich - so Hindberg - immer wieder bewußt machen muß, daß von der "Gesinnung", mit der er "zu Werke" geht, seine seelsorgerliche Methode s t ä r k e r geprägt wird als von der "Geschicklichkeit" seiner Mittel: Gegen "die präjudizierende Macht der Vorurteile" sei die " L i e b e " 1 ^ zu setzen. Die Freiheit und Individualität des Pastoranden wurde von den Seelsorgern gegen Ende des 19. J a h r h u n d e r t s immer deutlicher als Grenze seelsorgerlicher Methodik a n e r k a n n t . Die Entscheidung, im Seelsorgegespräch Annahme zu konkretisieren, gewann gegenüber der bedrängenden und individuellen Forderung nach Bekehrung an Bedeutung. Der Gefangene wurde nicht mehr n u r als passives Objekt in der Seelsorgebeziehung b e t r a c h t e t .
3.5.11 Der Beginn des Seelsorgekontaktes beim Neuzugang Die Relevanz des e r s t e n Kontaktes zwischen Seelsorger und dem neu eingelieferten Gefangenen f ü r den Verlauf des Seelsorgeprozesses wurde in der praktischen Arbeit deutlich. Der Gefangene, der k u r z nach
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seiner Einlieferung dem Geistlichen "zugeführt" 129 wurde, sollte vom ersten Tage an der Aufmerksamkeit des Seelsorgers unterstellt sein, um zu gewährleisten, daß ihm "gleichzeitig mit seinem Eintritt in die Strafanstalt der Mann entgegentritt, dem die Leitung seines Seelenwohles anvertraut ist und an den sich anzuschließen ihm frommen wird"130# Hatte sich der Geistliche in den ersten Gesprächen "ein ziemlich zuverlässiges Bild von dem Seelenzustandes des Eingelieferten" 1 **! erarbeitet, so dienten folgende Besuche dazu, die "fühere Lage des Häftlings, seine Erziehung, seine Familienverhältnisse, seine L e b e n s w e i s e " 1 3 2 z u besprechen, um sich ein "Lebensbild" zu erstellen, aufgrund dessen die Entscheidung getroffen wurde, ob der "warnenden oder mahnenden Z u r e d e " 1 3 3 Priorität in der Seelsorge zu geben sei. Als positiver Aspekt der Einbeziehung von Lebens- und Familienfragen und der Anteilnahme am Geschick der Angehörigen des Inhaftierten wurde herausgestellt, daß auch distanzierte Gefangene bei diesem Themenbereich emotional reagierten und gesprächsbereit wurden. Speck riet seinen Amtsbrüdern sogar, zur "besseren" Durchdringung der Persönlichkeitssphäre des Gefangenen bei den Besuchen von Familienangehörigen zugegen zu sein und dessen private Post "aufmerksam" zu lesen*·^. Eine vieldiskutierte unpersönliche Möglichkeit, sich zu informieren, bestand darin, Einsicht in die Akten und Verhandlungsberichte zu nehmen oder von "befugter Seite" über die Gefangenen Erkundigungen^^ einzuziehen. Die Informationen aus den "richterlichen Untersuchungsakten" schätzte Stade hoch ein, um dem Versuch eines Gefangenen wehren zu können, im ersten Gespräch das Vergehen zu verharmlosen, seine Unschuld zu beteuern oder sich gar in "lügnerischen Phantasien" zu ergehen. Als weiteres Argument für die Vorinformation anhand des Aktenmaterials fügte Stade an, es erleichtere von der ersten Stunde an eine individualisierendere Behandlung des Gefangenen·^®. Die Skepsis gegenüber der Wahrheitsliebe der Pastoranden mag Stade aufgrund negativer Erfahrungen entwickelt haben, was ihn jedoch nicht vor dem Verdacht bewahrt, mit vorgefertigten Fremdurteilen das Seelsorgeverhältnis zu belasten und damit weitestgehend die Möglichkeit zu begrenzen, dem Gefangenen als Individuum gerecht zu werden. Bei diesem Problembereich setzte die harte Kritik von Rohdens ein, der zwar konstatierte, daß das Studium der Gerichtsakten für den erfahrenen Seelsorger "viele nützliche Anhaltspunkte und Winke zur Beurteilung und Diagnose seines Patienten" beinhaltete und die Gefahr reduzierte, sich "so viel vorlügen zu lassen". Andererseits aber betonte er, daß eine verantwortliche Seelsorge nur auf einem realistischen Bild des Pfleglings beruhen dürfe, das sich der Seelsorger selbst erarbeitet habe. Auf keinen Fall dürfe dieser sich aufgrund von Aktenstudien das Urteil über den Pastoranden vorprägen lassen, ohne ihn persönlich kennengelernt zu haben. Nur wenn der Inhaftierte ganz offensicht-
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lieh "verlogen" sei, könne das Aktenstudium weiterhelfen. Grundsätzlich forderte von Rohden jedoch, der Seelsorger solle sich von "solchen Schrift stücken emanzipieren" 137. Es bestand in der Seelsorgeliteratur weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die erste Phase des Kennenlernens von Pastor und Pastorand den Prozeß der gegenseitigen Vertrauensfindung als Wechselbeziehung beinhaltete: Der Geistliche mußte dem Gefangenen Vertrauen entgegenbringen, erst dann konnte er erwarten, daß dieser Vertrauen faßte. Diese methodische Einsicht implizierte die grundsätzliche wenn auch kritische Bereitschaft des Seelsorgers, den Worten des Klienten Glauben zu schenken, gerade weil den Inhaftierten nur Mißtrauen entgegengebracht wurde. Die Gefangenenseelsorger stießen in der Praxis immer wieder auf Schwierigkeiten, wenn sie versuchten, bei "verschlossenen" und "mißtrauischen" Gefangenen ein Vertrauensverhältnis zu begründen und "in die innersten Geheimnisse des Gefangenen" einzudringen. Hoffmann betonte daher zu Recht: "Das Vertrauen kann nicht erzwungen werden, es muß selber kommen"!^. i n diesem Sinne sah auch Beneke es für sinnvoll an, daß der Geistliche sich "als Mensch zum M e n s c h e n " ^ gegenüber dem Pastoranden verhielt. Nach Potel war es selbstverständlich, daß "die Art des ersten Verkehrs eine väterlich freundliche sein muß", damit der Neueingelieferte von Anbeginn den Eindruck gewinnen konnte, der Geistliche bemühe sich, die repressiven Kommunikationsstrukturen der "Diener des Gesetzes" zu durchbrechen, indem er auf den "eisernen Ernst des Gesetzes" in den Gesprächen verzichtete und ein "herzliches Erbarmen gegen die G e f a l l e n e n " 1 4 0 zum Grundsatz seiner Haltung machte. 1
Der Seelsorger sollte ferner ein Gesprächspartner des Gefangenen sein, der auch als Vermittler zwischen ihm und der Gesellschaft auftrat, um ihn mit dieser auszusöhnen 1 ^. Indem der Seelsorger als " F r e u n d " ^ 2 Annahme in dem Seelsorgegespräch konkretisierte, wurde ein gewisser Freiraum innerhalb der Vollzugspressionen eröffnet, der es dem Gefangenen ermöglichte, als geachtete Person zu agieren. Zugleich hatte der Seelsorger die Möglichkeit, seine Rolle konträr zu der der übrigen Beamtenschaft als die eines Helfers und Beistandes konkret darzustellen. Wieweit das in der Praxis gelang, hing von der Fähigkeit des Seelsorgers ab, von der ersten Begegnung an ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das es dem Gefangenen ermöglichte, sich emotional akzeptiert vorbehaltlos in das seelsorgerliche Gespräch einzugeben.
3.5.12 Das seelsorgerliehe Gespräch Zu Beginn des Seelsorgegesprächs war zu erwarten, daß der Pastorand vorsichtig sondierte, ob er sich anvertrauen könne. Daher vermieden
- 130 manche Seelsorger bewußt, das Gespräch direkt auf Kernprobleme des Pastoranden zu lenken. Speck machte seinen Amtskollegen ausdrücklich Mut zu einem offenen Gesprächseinstieg: "Es braucht ja nicht immer ein religiöses Gespräch zu sein, die Unterredung kann den Charakter eines harmlosen Besuches tragen und die Rede sich um die gewöhnlichen Dinge des Lebens drehen" 1 4 ·*. Der Gefangene sollte nicht überfordert, ihm sollte die Freiheit zugestanden werden, über redundante Gesprächsphasen Artikulationssicherheit zu gewinnen. Mit diesem ganzheitlichen Seelsorgeverständnis konnte es der Pfarrer nicht als verlorene Zeit ansehen, wenn sich das Gespräch im Rahmen von Alltäglichkeiten bewegte, die den Bezugsrahmen des Gefangenen bildeten. Stade sah es sogar als außerordentlich glücklichen Umstand an, wenn der Seelsorger "auch mit einem praktischen Blicke für das diesseitige Leben begnadet" war und "auch nach dieser Seite hin . . . ein wirklicher Berather" sein k o n n t e 1 4 4 . Wurde dem seelsorgerlichen Gespräch eine gewisse thematische Flexibilität zugestanden, so betonten Gefängnisseelsorger auch immer wieder, daß "das Zeitliche" nur den Wert eines Anknüpfungspunktes haben könne, während das Eigentliche des Seelsorgegesprächs im "Geistlichen" bestehe. Das bedeutete aber nicht, die "eigentlichen" Themen erzwingen zu müssen, denn - so argumentierte Hindberg - "das religiös moralische Element thut auch seine Wirkung, wenn es als ein gedämpfter Klang das ganze durchzieht" 1 4 5 . Wie dieses Ineinander von geistlichen und weltlichen Themen in der Praxis aussehen konnte, schildert von Koblinski: "Mit einem Schneider sprach ich über Uniformen, über die Livree des Verbrechens, über den Rock und den Menschen und kam zuletzt darauf, daß wir Christum anziehen sollen" 14 **. In den Gesprächen wurde in der Regel von allgemeiner Thematik zu individuellen und persönlichen Fragen übergeleitet. Dem Inhaftierten sollte die Möglichkeit eröffnet werden, sich aus zusprechen, während dem Geistlichen geraten wurde, mit entsagungsvoller "Geduld" 14 ? zuzuhören. Dieser Ansatz kam einerseits dem Aussprachebedürfnis des Häftlings in der Einzelzelle entgegen, wurde aber zugleich als seelsorgerliches Mittel eingesetzt , um anknüpfend an die Ausführungen des Pastoranden den Dialog mit ihm über tiefergreifende Fragen aufzunehmen oder "seelsorgerliche Ermahnungen" auszusprechen 1 4 ^.
3 . 5 . 1 3 Tat und Schuld als Themen des Seelsorgegesprächs Zu den Themen, die für viele Gefangenenseelsorger zentral waren, zählte die Frage von Tat und Schuld. Oft wurde sogar das volle Geständnis als 'conditio sine qua non' für längerfristige Seelsorgekontakte gefordert Von Rohden hielt diese Bedingung für völlig inadäquat, da die "Entwir-
- 131 rung von verschlungenen Fäden der eigentlichen S c h u l d f r a g e " 1 ^ nicht Aufgabe des Seelsorgers sein könne. Sein Ansatz, die Tat- und Schuldfrage zu "ignorieren", stellt eine singulare Position innerhalb der Gefangenenseelsorgeliteratur dar. Die extreme Gegenposition vertrat der Gefängnispfarrer Stade. Nach seiner Ansicht müsse der Inhaftierte bedingungslos zu einer Auseinandersetzung mit seiner Tat gezwungen werden, da er unfähig sei, das Ausmaß seiner Schuld selbst zu erkennen und immer wieder versuche, sich darüber hinwegzutäuschen^^. Äußerte sich der Inhaftierte im Seelsorgegespräch über seine Straftat, so wurde - ähnlich wie bei der Seelsorge an Untersuchungsgefangenen die Frage akut, ob der Geistliche Informationen weitergeben dürfe oder nicht. Baumgarten artikulierte als einziger die Ansicht, "das Beichtsiegel" gelte für Gespräche mit Gefangenen n i c h t ^ l . Di e Mehrzahl der Geistlichen dagegen vertrat die Überzeugung, Tatgeständnisse dürfen "um keinen P r e i s " ^ weitergeleitet werden. Die Instruktionen des preußischen Oberkirchenrates sichern in § 23 das Beichtgeheimnis mit Androhung des Amtsverlustes und untersagen dem Seelsorger, "Geständnisse, welche ein Gefangener macht, zur gerichtlichen Anzeige zu bringen". Hielt der Pfarrer um des Seelenfriedens des Gefangenen willen ein Geständnis für angebracht, so wurde ihm angeraten, "diesen selbst zur offenen Enthüllung eines vor Gericht verschwiegenen Verbrechens" zu bewegen!53_ Eine Ausnahme wurde nur gestattet, wenn durch die Anzeige des Geistlichen Schäden oder neue Kriminalitätsfälle verhindert werden konnten. In diesen Fällen sollte der Häftling möglichst von der Anzeige informiert werden. Die Wahrung des Beichtgeheimnisses wurde im Interesse beider Gesprächspartner als Grundbedingung respektiert, um den Schutzraum des seelsorgerliehen Gesprächs zu sichern und dem Pastoranden die Auseinandersetzung mit dem Tat- und Schuldkomplex zu erleichtern. 1 5
Aufgrund des theologisch fundierten Rechtsverständnisses der Gefangenenseelsorger des 19. Jahrhunderts, daß der Täter für die Tat selbst verantwortlich sei und die Schuld voll auf sich zu nehmen habe, galt es als ein Ziel der seelsorgerlichen Aussprache, beim Inhaftierten "erstlich schmerzliche Erkenntnis seiner Schuld und sodann reumüthiges Be1S4 kenntnis derselben zu wecken"A . Die Intention der tatorientierten Seelsorgegespräche bestand demgemäß darin, "zur Kenntnis der S c h u l d " 1 ^ zu führen und, darauf aufbauend, im Pastoranden "ein lebendiges Schuldbewußtsein vor dem heiligen Gott" l·* 6 zu entwickeln. Bei der Erhebung der Schuld entstand das Problem, aufgrund welcher Kriterien die Angaben der Gefangenen bewertet werden konnten. Hoffraann^^ löste diese Frage kategorisch, indem er dazu riet, Unschuldsbeteuerungen nicht anzunehmen, da sie nur deshalb eingebracht würden, um das latente Schuldbewußtsein, das jeder Gefangene habe, zu
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v e r d r ä n g e n . Allein die Tatsache, daß Gott einen Mensehen ins Gefängnis g e f ü h r t habe, sei Beweis genug f ü r seine Schuld.
3.5.14 Tat und Sünde Die Gefangenen "sind blind gegen den Zusammenhang der Sünde"!·'®*, sie verweisen auf die einzelne Tat. Der Seelsorger hat dagegen die schwierige Aufgabe, die Einzeltat als den Indikator der Sündhaftigkeit im Seelsorgegespräch verständlich zu machen, wobei die Begriffe Schuld und Sünde in der Regel ineinander übergingen. Koblinski legt seinen Überlegungen ein Sündenverständnis z u g r u n d e , das den Gefangenen bei seiner habituellen Sünde b e h a f t e t e . Knoke dagegen akzentuierte die aktuale Sünde: Bei den Strafgefangenen habe sich der Seelsorger "ähnlich zu verhalten wie bei solchen, die sich einer einzelnen akuten Sünde schuldig gemacht haben"159. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der dogmatischen Bestimmung der Sünde wurde im praktischen Vollzug der Seelsorge weitestgehend nivelliert. Die Seelsorger argumentierten mit dem Faktum der B e s t r a f u n g , das aus der Tat r e s u l t i e r t e , und behandelten den Gefangenen als Menschen, der vor Gott den Status des Sünd e r s innehatte. Nachdem der Täter die Straftat eingestanden und seine Schuld anerkannt h a t t e , bestand die nächste Phase des Seelsorgegespräches d a r i n , ihn zum Sündenbekenntnis zu führen* 6 ®. Die Umsetzung der theologisch hoch besetzten Zielvorstellung e r f o r d e r te einen großen Zeitaufwand des G e f ä n g n i s p f a r r e r s , da der Mehrzahl der Gefangenen sowohl die theologische Begrifflichkeit als auch die emotionale Bereitschaft fehlte, sich mit dem Status des Sünderseins zu identifizieren. Die bei den Inhaftierten erlebte Schuldverdrängung und -projektion "auf andere Menschen oder selbst auf Gott"·'·®! b e s t ä tigte das Bild von den Gefangenen, "die in pharisäischer Selbstgerechtigkeit oder frechem Trotz sich verstocken"l®2 u r K j intensivierte das Bemühen um die Durchsetzung der seelsorgerlichen Konzeption, die Entschuldigungsmechanismen der Pastoranden zu d e s t r u i e r e n , die als Beweis d a f ü r gewertet w u r d e n , daß sie den "Bund mit der Sünde" a u f rechterhalten wollten. Demgegenüber sah sich Harnack v e r p f l i c h t e t , "jede Selbstrechtfertigung abzuschneiden" und deren "Nichtigkeit, Absichtlichkeit, Unwahrheit" a u f z u d e c k e n * 6 ^ Als geeigneten Weg, die Widerstände gegen die Sündeneinsicht abzubauen, erscheint Beneke der Nachweis der Sündhaftigkeit des gesamten Lebensweges des Gefangenen. Dieses argumentative Vorgehen setzte einen langen ans t r e n g e n d e n Gesprächsprozeß v o r a u s . Daher sah es Beneke als notwendig a n , eher ein intensives Gespräch zu f ü h r e n , als mehrere k u r z e , denen die nötige Tiefendimension fehlte. Zugleich schätzte er die t h e rapeutische Dimension des Seelsorgegesprächs hoch ein, da man als Erfolg konstatieren könne, "wie erleichtert"* 6 4 die Gefangenen seien,
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wenn sie die Schuldfrage im Gespräch lösen könnten. Wesentlich p r o blemloser f ü r den Seelsorger wurde in der Literatur das Gespräch mit Gefangenen beschrieben, die emotional bereit waren, sich über ihr "Leben Rechenschaft zu ertheilen"! 6 5 . Sie benötigten die Hilfe des Gefängn i s p f a r r e r s als B e s t ä r k u n g des Vorsatzes, mit der Sünde zu b r e c h e n , und verlangten nach Stabilisierung, wenn sie d a r ü b e r r e f l e k t i e r t e n , wie s e h r sie der Macht der Sünde ausgeliefert waren. Hierbei befand sich der Seelsorger in der Rolle des Begleiters auf dem Wege zur Restitution des Gottesverhältnisses. Als Erleichterung der Durchsetzung der Forderung nach Sündenbekenntnis vor Gott empfanden die Seelsorger die E i n f ü h r u n g der Einzelhaft, in der die Rechtfertigungsmechanismen nicht von der Solidarität der Mithäftlinge immer wieder b e s t ä r k t w u r d e n . Der kontinuierliche Vorwurf des Sünderseins initiierte beim Betroffenen einen Reflexionsprozeß, der ein Schuldbewußtsein entstehen ließ, das wiederum vom Gefängnispfarr e r aufgenommen und als Grundlage einer sich selbst v e r s t ä r k e n d e n Überzeugungskette bis zum Sündenbekenntnis herangezogen werden konnte.
3.5.15 Reue und Buße Im Verlauf des von Stade konzipierten Seelsorgeverfahrens wurde "die schmerzliche Erkenntnis" des Verstoßes gegen "das heilige Gottesgesetz" weiterführend aufgenommen, um die "weltliche Traurigkeit" des Pastoranden über die "Sündenfolge" zur "rechten göttlichen" T r a u r i g keit über die Sünde zu "vertiefen" und zu "verklären" 1 6 ®. Stade t r a dierte damit die seelsorgerliche Methode, die die Seelsorger des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s entwickelt h a t t e n : mit der Vermahnung des Gesetzes zur Reue zu f ü h r e n . Gegen das gesetzliche Verfahren wendete sich von Rohden, der die Vorhaltung der Schuld als seelsorgerliche Methode ablehnte. Dennoch sah er es als u n a u f g e b b a r a n , den Pastoranden zur Reue zu bewegen, die er als das selbst ausgesprochene "verwerfende Urteil" über die eigene Person definierte. Ohne den "Ärger" des "natürlichen Menschen" über die Straftat und deren Konsequenzen wäre allerdings der Anlaß zur Reue nicht gegeben. Doch beinhaltet diese Ausprägung der Reue kein "verwerfendes Urteil über das handelnde Ich und seine Sünde selbst", sondern bleibt im Bereich der "fleischlichen Reue", die aus dem Strafübel r e s u l t i e r t . Die echte Reue - das "Leidtragen über die Sünde selbst" - , die von Rohden in der Seelsorge intendierte, sollte im "Zeichen des Hasses gegen das Böse oder der Liebe zu Gott" ihren Ausdruck f i n d e n 1 6 7 . Sie hatte ihren Sitz im Gewissen und löste sich von den äußeren Folgen der Straftat ab. Auf diesem gedanklichen Hintergrund ist von Rohdens Über-
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zeugung zu i n t e r p r e t i e r e n , daß Vermahnungen den Menschen zwar zur Anerkennung von Schuld f ü h r e n könnten, aber nicht zur Reue: Den emotionalen Prozeß, der im Verurteilten abläuft und ihn zur Selbstverurteilung motiviert, kann zwar der Seelsorger initiieren, aber niemals erzwingen. Die Gefängnisseelsorger von Rohden und Stade v e r t r e t e n a u f g r u n d i h r e r unterschiedlichen theologischen Ansätze konträre Seelsorgemodelle, jedoch mit einer vergleichbaren Zielsetzung: die Gefangenen von der "fleischlichen Reue" - Stade spricht von der "weltlichen Traurigkeit" - zur wahren Reue über die Sünde zu f ü h r e n . Die von beiden Verfassern vorgenommene Unterscheidung von Reue, die aus dem Strafübel resultiert und d e r , die a u f g r u n d der Sündenerkenntnis e n t s t e h t , findet sich in der allgemeinen Seelsorgelehre wie in der speziellen Literatur zur Gefangenenseelsorge. Achelis unterscheidet "weltliche Traurigkeit", die von "Verzagtheit und Verzweiflung" über d a s , was nicht rückgängig zu machen gekennzeichnet i s t , ohne daß der Glaube an die Vergebung in Christus zum Ausd r u c k gebracht w u r d e , und die "göttliche T r a u e r " , die aus dem Glauben an die Vergebung der Sünden resultiert 1 ®**. Eine vergleichbare Terminologie benutzt auch Otto, der die Aufgabe des Seelsorgers im Gespräch darin s a h , zur "göttlichen Traurigkeit" zu f ü h r e n , "in welcher der Fehlende sich willig äußeren Nachteilen u n t e r w i r f t , welche er sich durch die Sünde zugezogen hat und die er nicht allein als verdiente Strafe b e t r a c h t e t , sondern auch als eine Gnadenfügung Gottes, der ihn von der Sünde reinigen und auf den Weg des Heiles f ü h r e n w i l l " 1 ^ . Die seelsorgerliche Methode, Reuebereitschaft vom Inhaftierten als Unt e r w e r f u n g u n t e r Gottes Gericht zu f o r d e r n , resultierte aus der schon in den Kirchenordnungen v e r t r e t e n e n B e a u f t r a g u n g des Gefängnispfarr e r s zur E r r e t t u n g des S t r a f t ä t e r s zum Seelenheil, die vom Endt in dem Satz aktualisierte: "Die Seelsorge hat es mit dem Menschen zu t h u n , dessen unsterbliche Seele f ü r das ewige Leben zubereitet und gerettet werden soll" 1 7 ^. Bereute der Gefangene seine Sünde nicht, so blieb er ihr v e r b u n d e n , auch nachdem die S t r a f h a f t verbüßt war. Bereute er a b e r , so war er von der Sünde b e f r e i t , auch wenn er ewig eingeschlossen wäre. Diese Kausalkette von Sünde, Reue und Seelenheil wurde in den seelsorgerlichen Gesprächen dargelegt und galt als theologische Leitlinie der Gefangenenseelsorge. Aufgrund anthropologisch-theologischer Implikationen gingen die Seelsorger davon a u s , daß der Inhaftierte in der Zelle nicht aus eigener Kraft seine s ü n d h a f t e Existenz überwinden könne. Daher sollte ihm auch nicht eher der volle "Trost der G n a d e " 1 7 ! zugesprochen werden, als bis er d u r c h Einwirken des Seelsorgers die Selbstgerechtigkeit überwunden und "das Herz sich vor dem Herrn gedemüthigt hatte"!72. Die verbalisierte Reue mußte in der emotionalen Haltung der "aufrichtigen Bußfertigkeit" 1 7 3 ihren Ausdruck finden. Während die Reue das Un-
- 135 Werturteil über den bisherigen Lebenswandel beinhaltete, signalisierte die Buße die "Loslösung aus der Gebundenheit des gottfremden Wesens von der Sinnenwelt und Hinwendung zur oberen Welt"174> j n d e r Bereitschaft zur Buße zeigte sich die Sinnesänderung des Pastoranden, begangene Taten wieder gutzumachen und das Leben zukünftig nur nach den Maßstäben auszurichten, die dem Willen Gottes entsprachen. Das Ja zur Buße gab den Seelsorgern den Ansatzpunkt zur pädagogischen Ausrichtung des seelsorgerlichen Gesprächs, um dem Inhaftierten sein "Ermannen und Wiederaufstehen vom Fall" 1 , 7 5 zu ermöglichen.
3 . 5 . 1 6 Gnade und Rechtfertigung Die zukunftsorientierte Seelsorgephase ging von dem Wunsch des Pastoranden aus, neue Perspektiven des Lebens aus dem Glauben an die christliche Botschaft von der Vergebung der Sünde zu gewinnen. Die Gnadenzusage sprach den Gefangenen von seinem schuldhaften Lebenswandel frei, band ihn zugleich aber an die Verpflichtung, "Gottes Willen zu thun im Gehorsam gegen seine Gebote"176. Ihm wurde verdeutlicht, daß die Heilstat Christi auch für diejenigen Gültigkeit besitzt, die bisher nicht an sie geglaubt haben. In der "rein geistlichen Berathung" intendierte der Seelsorger, "das Verlangen nach der göttlichen Gnade im Gefangenen zu w e c k e n " ! ^ . Im Verlauf der Seelsorgegespräche sollte der Pastorand erkennen, daß Gottes Gnade größer ist als jede Sünde und auch seine Sünde vergebbar i s t , wenn er danach verlangte. War diese Zuversicht geweckt, so galt die Grundvoraussetzung dafür als erfüllt, daß im Gefangenen der Entschluß reifen konnte, "der Gnade Gottes würdig zu leben"178. Die Zusicherung der "Rechtfertigung des Sünders" stellte nach P o t e l ^ ö "das Herz unseres seelsorgerlichen Wirkens" dar. Hatte der Pastorand den Stand des gerechtfertigten Sünders im Glauben ergriffen, so galt ihm die Heilszusage, daß der Weg zur ewigen Seligkeit e r öffnet war. Das Seelsorgegespräch wurde nun davon bestimmt, neue Sinnsetzungen zu vermitteln. Beide Aspekte der christlichen Liebe, die Zukunfts- und Gegenwartsorientierung müssen - so Köstlinl^O - j n der Seelsorgebeziehung einander zugeordnet werden. Die Forderung ist auf dem praktischen Erfahrungshintergrund zu interpretieren, daß der Zuspruch der Liebe Gottes unglaubwürdig erscheinen mußte, solange der Gefangene nicht spüren konnte, daß der Geistliche diese Liebe auch praktiziert. Nur wenn es aus der Haltung des Seelsorgers im Gespräch erlebbar wurde, was es bedeutete, aus der Gnade Gottes heraus zu leben, konnte der Gefangene die Impulse erhalten, die es ihm erleichtert e n , auf die für ihn neue Lebensweise einzugehen. Unter dieser Zielsetzung beschrieb Haenell die Ausrichtung des seelsorgerlichen Gesprächs: "In dem Namen und mit dem Erbarmen Christi muß der Seelsorger an die Gefangenen herantreten; sie müssen es ihm anmerken, daß er etwas von
- 136 jenem Jammer in sich trägt, mit dem Christus das verirrte und zerstreute Volk angeblickt und gesucht hat" . go sollte es nach Meyer nur einen Maßstab für die Gesprächshaltung geben: Jesus Christus, den großen " S ü n d e r f r e u n d " ^ . Erlebte der Pastorand, daß der Pfarrer sich mit selbstloser Liebe um ihn bemühte, so fühlte er sich "innerlich gehoben" 1 *^ eine Erfahrung, die es ihm erleichterte, die Ängste vor emotionaler Öffnung abzubauen. Wenn auch die Strafe mit ihrem äußeren Zwang als notwendige Folge der göttlichen Gerechtigkeit anerkannt wurde, so sollte der unter der Strafe leidende Gefangene im Seelsorgegespräch "wenigstens inneren Trost und F r i e d e n " ® ^ finden können. 1
1
"Die pastorale Seelenpflege an verurtheilten Verbrechern hat den heiligen Ernst mit der theilnehmenden Liebe zu v e r b i n d e n " 1 8 5 . Mit diesem Satz beschrieb der Pastoraltheologe Schweizer den Rahmen, innerhalb dessen sich die Gefangenenseelsorge des 19.Jahrhunderts bewegte. Zugleich signalisierte er damit einen bedeutsamen Problemkreis, der in der Gefangenenseelsorgeliteratur weitgreifend diskutiert wurde: Die Frage nach der Relation von Gesetz und Evangelium innerhalb des seelsorgerlichen Handelns.
3.5.17 Gesetz und Evangelium Die "alte homiletisch-pastorale Hauptfrage" 1 ^® nach der Anwendung von Gesetz und Evangelium hatte methodische Konsequenzen für die Gestaltung der speziellen Seelsorge wie auch für den homiletischen Aufgabenbereich. Im Blick auf die Auseinandersetzung um die Relevanz von Gesetz und Evangelium innerhalb der Gefangenenseelsorge des 19.Jahrhunderts sind zwei grundlegend konträre Konzeptionen zu konstatieren. Eine Gruppe richtete ihre Bemühungen darauf, den "Gefangenen vor allen Dingen den reichen Trost des Evangeliums zu bringen", während eine andere betonte, "daß der Gefängnisgeistliche in erster Linie mit der Predigt des Gesetzes zu beginnen und ohne die Erschütterung des Herzens durch den Hinweis auf das verletzte heilige und unverbrüchliche Gottesgebot auf keinen tieferen erwecklichen Erfolg zu rechnen h a b e " 1 ^ . Köstlin1®^ ging davon aus, daß Rettung und Bewahrung des Pastoranden nur mit Hilfe des Evangeliums zu erreichen sei, während das Gesetz den staatlichen Strafen zugeordnet bleiben müsse. Eine etwas nuanciertere Konzeption vertrat van Oosterzee, indem er den Trost des Evangeliums nicht von Gottes heiligem Gebot trennte und das Gesetz immer als vom Evangelium umgeben i n t e r p r e t i e r t e 1 ^ . Er stellte damit den heilenden Aspekt des Gesetzes heraus. Für Nitzsch stand es außer Frage, daß die Seelsorge im Gefängnis angesichts der vom Zwang bestimmten Lebenssituation des Pastoranden sich darauf beschränken sollte, das Evangelium anzuwenden 1 ^ 0 .
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Hoffmann vertrat im Gegensatz zu den Seelsorgern, die die Bußpredigt für unaufgebbar hielten, die Ansicht, daß die permanente Verurteilung den Gefangenen innerlich zum Widerstand provoziere, die Neigung zu Selbstrechtfertigung und Entschuldigung steigere und letztendlich "die Flucht vor Gott und allem was ihn mahnt" bewirke, um die ständige Beunruhigung loszusein. Diese auf psychologischem Feingefühl basierende Erkenntnis, daß der Geistliche niemals als Verurteilender auftreten könne, ohne seiner Seelsorgearbeit zu schaden, motivierte Hoffmann zu der evangeliumsorientierten Seelsorge, um dem Gefangenen die Umkehr zu erleichtern: "Die Predigt des Evangeliums thut dem armen Sünder das Herz auf, daß er Gott nicht mehr flieht, er faßt Muth und Zutrauen zu Gott, der nicht will, daß er verloren gehe"191. Die Konzeption, das Evangelium als Ausgangspunkt und Inhalt der Seelsorge zu definieren, beinhaltete die Zielsetzung, die belastende hoffnungslose Egozentrik im Leben des Gefangenen aus der hoffnungsgebenden Gnade Gottes zu überwinden. Einen entgegengesetzten Ansatz, speziell für die Ausrichtung der Gefangenenpredigt, vertrat der Gefängnispfarrer Jäger , der die Hauptaufgabe der Verkündigung dahingehend definierte, die Gefangenen mit aller Schärfe des Gesetzes zu vermahnen, um sie einzuschüchtern und so weit zu ängstigen, daß sie nicht anders konnten als sich zu bekehren. Zur Stützung seiner Position führte Jäger Erfahrungen an, die denen Hoffmanns diametral entgegenstanden, wonach gerade mit "ernsten strafenden Worten an den verschiedenen Gefangenen . . . eine bedeutend nachhaltigere Wirkung erzielt" worden sei, als bei einer Verkündigungspraxis, die das Evangelium in den Vordergrund stellt. Jäger berief sich zudem auf die vorbildhafte Bußpredigt Jesu als Legitimation für den Strafanstaltsgeistlichen , "mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln seine Pflegebefohlenen zur Entscheidung" zu drängen. Unter der Prämisse der Praeponderanz des Gesetzes entwickelte Beneke eine eigenständige Konzeption, indem er Gesetz und Evangelium verschiedenen Ebenen der Seelsorge zuordnete: "In der Zelle" vertrat er "mehr das Gesetz, in der Kirche mehr das E v a n g e l i u m " ! ^ . Zugleich "die Gnade zu verkündigen" sei "oft nicht ratsam, da sich dann der Eindruck von dem Ernste Gottes sogleich wieder v e r f l a c h t e " ^ 4 . Erst nachdem im Gespräch aus Angst vor der strafenden Gerechtigkeit durch Vermahnung die Erkenntnis der Sünde gereift sei, dürfe der Inhaftierte im Gottesdienst "die Verkündigung von Gottes Barmherzigkeit hören" 195 Neben den aufgezeigten Extrempositionen orientierte sich die Mehrzahl der Gefangenenseelsorger an einer dritten vermittelnden Konzeption, die die Anwendung von Gesetz und Evangelium korrelierte. So vertrat Otto die poimenische Methode, zuerst die Erkenntnis der begangenen Sünde über das Gesetz zu bewirken und dann zur Befestigung der Bußhaltung die gnädige Vergebung Gottes aufgrund des Kreuzestodes Chri-
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sti zu verkündigenl96 # Eine vergleichbare Verbindung von Gesetz und Evangelium realisierte auch Hindberg, der der "Berufsthätigkeit" des Geistlichen eine tadelnde und tröstende Funktion z u o r d n e t e ^ ? . Vilmar setzte bei seiner seelsorgerlichen E r f a h r u n g an, daß angesichts der Zwangssituation der S t r a f h a f t der Evangeliumszuspruch als "vorläufiger Trost"198 zu verkündigen sei, der ein Gegengewicht zu der Vollzugshärte biete, bis unter Vorhaltung des Gesetzes die Gefangenen "zur Erkenntnis i h r e r Sünden" g e f ü h r t worden sind. Den Ansatz, Gesetz und Evangelium in der Seelsorgearbeit Geltung zu geben, f ü h r t e Haenell in einem Dreischritt aus: "Zuerst müssen sie alle gereizt werden, daß sie den Muth und den Entschluß f a s s e n , sich zu bek e h r e n . Und diese Reizung kommt n u r aus dem Evangelium, nicht aber aus dem Gesetz. Haben sie aber mit der B e k e h r u n g einen Anfang gemacht, dann ist ihnen d u r c h das Gesetz das Gewissen recht zu s c h ä r f e n . Und erst d a n n , wenn sie wahrhaft bußfertig geworden s i n d , darf ihnen der volle und ganze Trost der göttlichen Gnade aus dem Evangelium v e r k ü n det werden"199. Völlig k o n t r ä r fand Stade die theologische Legitimation seines Ansatzes im Bußruf J e s u : So wie die F o r d e r u n g nach Umkehr am Beginn des Heilswirkens Jesu s t a n d , so müsse auch in der Gefangenenseelsorge die "Bußp r e d i g t " der "evangelischen Heilspredigt" vorangehen. Da Stade der theologischen Tradition des pädagogischen Gesetzesverständnisses v e r haftet blieb, war es ihm u n d e n k b a r , mit der "Predigt von der v e r g e b e n den Gnade Gottes in Christo" 2 0 0 einen Straffälligen f ü r seine Wiedergeb u r t zu gewinnen. Von Rohden bemängelte in dieser und vergleichbaren Konzeptionen die "äußerliche" und "gesetzliche Betrachtungsweise" des Wortes Gottes, "als ob das Gesetz die Buße wirke und dem Evangelium dann die Gnade und der Trost verbliebe". Diese funktionale Differenzierung lehnte er u n t e r B e r u f u n g auf die Verkündigung Jesu a b , da dieser die Zöllner, S ü n d e r , den Schächer und Saulus nicht d u r c h das Gesetz, sondern d u r c h das Evangelium überzeugt habe. Daher sei allein aus dem Evangeliumszuspruch in den Häftlingen "Heilsbegierde, Buße und Demuth" zu erwecken 2 0 ^. Dieser christologisch orientierte Ansatz schloß die "präparatorisch gesetzliche Bearbeitung der Seelen" a u s . Demgegenüber plädierte von Rohden f ü r ein aus tiefer Einsicht in das Wesen der Heilso r d n u n g resultierendes und Luthers Ansätze aufnehmendes Verständnis von Gesetz und Evangelium. Aus dem Evangelium sei das Gesetz als der gute und gnädige Wille Gottes zu e r k e n n e n . Damit war die Aufgabenstellung des Gefangenenseelsorgers klar umrissen. Während die gesetzliche Behandlung der Gefangenen den amtlichen Hütern des S t r a f g e s e t zes überlassen blieb, hatte der Seelsorger "durchs Evangelium die Herzen der Sträflinge und ihr Vertrauen . . . f ü r den heiligen und gnädigen Gott zu gewinnen" 2 0 2 . Doch warnte von Rohden vor der Fehldeutung,
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eine mechanische Scheidung zwischen den Aufgaben des Vollzuges und der Gefangenenseelsorge vornehmen zu können. Die Spannung zwischen Vollzugsbehörden entsteht aus der divergierenden Beauftragung. Doch besteht für den Christen die Verpflichtung, vom Evangelium her das Strafgesetz so zu verändern, daß das Vollzugswesen zum Wohl der Gefangenen ausgestaltet werden könne, ohne daß die Eigenständigkeit beider Institutionen aufgegeben werde. Die Sorge um den Menschen in der Strafe, von der sowohl Gesetzes- als auch Evangeliumsanwendung nach Gottes Heilswillen geprägt sein sollte, mache aber ein Zusammenwirken von Seelsorge und Strafvollzug möglich. Der Überblick über die dargestellten Positionen verdeutlicht, daß von den Gefangenenseelsorgern keine einheitliche Position in der Frage von Gesetz und Evangelium vertreten wurde, sondern daß theologische Vorentscheidungen das seelsorgerliche Selbstverständnis und die Seelsorgepraxis bestimmten.
3.5.18 Die "Heuchelei" als Problem des Seelsorgegespräches Bei der Umsetzung des Seelsorgeprogramms, den Menschen mit Gott zusammenzubringen, wurde die Aporie deutlich, daß die Inhalte der Gefangenenseelsorge zwar kognitiv oder emotional vermittelt wurden, der Gefangene aber deren Konsequenzen in seinen Sozialbezügen nicht erlernen oder erleben konnte. Die zur Bewährung des neuen Wert- und Normensystems notwendigen Kommunikations- und Interaktionsprozesse außerhalb der Seelsorgebeziehung waren in der Einzelhaft genommen. Die institutionell weitgehend verhinderte Lebbarkeit des Glaubens implizierte nach Beneke die Gefahr, daß der Gefangene unter den depravierenden Bedingungen der Haft eine Form der Religiosität ausprägte, deren Bestand an die seelsorgerliche Begleitung gebunden war. Auch wenn der Pastorand mit innerer Beteiligung eine Neuorientierung und Umkehr e r strebt haben sollte, so konnte die völlig veränderte soziale Situation nach der Entlassung die Kontinuität der Glaubenshaltung in Frage stellen. Der Entlassene stand v o r dem Problem der je situationsbezogenen ethischen Entscheidung, die er aus seinem Glauben heraus selbstverantwortlich zu fällen hatte. Da in der Haft die Kriterien zur Analyse einer Entscheidungssituation vom Seelsorger vorgegeben wurden, ohne daß der Gefangene sie internalisieren konnte, lag es nahe, daß er später auf die v e r trauten Normen seines schon vor der Haft bestehenden sozialen Bezugsfeldes rekurierte. Mit dieser kritischen Reflexion hinterfragte Beneke203 die langfristige Wirksamkeit der Gefangenenseelsorge. Eine Kontinuität der erstrebten Neuorientierung über die Entlassung hinaus sah Beneke im Anschluß an Wichern nur gewährleistet, wenn auch eine intensive seelsorgerliche Betreuung des Entlassenen geleistet würde.
- 140 Die weitestgehende Wirkungslosigkeit der Seelsorgebemühungen manifestierte sich für ihre Gegner in der hohen Rückfälligkeitsquote bei entlassenen Strafgefangenen. Da sich eine große Zahl der Gefängnispfarrer für den Erfolg des Strafvollzuges mitverantwortlich erklärte, mußten sie sich dem Vorwurf gegenübersehen, sie erzögen die Gefangenen zur Heuchelei. Diese zum Teil polemisch überspitzt vorgetragene Kritik verdeutlichte Schmölder mit dem Hinweis auf die Gefahren der Verquickung von Seelsorge und Vollzugsstrukturen: "Der Gefangene kann dem Geistlichen nicht wie der in der Freiheit Lebende solange ausweichen, bis die zu seiner Bekehrung geeignete Stimmung über ihn gekommen ist. Egoismus lehrt ihn, . . . , jenes schnelle Vonsichwerfen des Unglaubens macht ihn dem Geistlichen und dann auch dem ganzen Beamtenpersonal gegenüber zum Heuchler. Und Heuchler bleibt er dann auch, soweit er es für zweckdienlich hält, nach seiner Entlassung" 20 "^. Daß diese Beurteilung Schmölders nicht nur ein gängiges Klischee wiedergibt, zeigen Belege aus der Seelsorgeliteratur, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen. So betonte Vilmar, daß die Geistlichen sich nicht von demonstrativer Frömmigkeit der Gefangenen täuschen lssen sollten, da diese sehr wohl einkalkulierten, "daß von dem Urteil des Pfarrers sehr oft die Begnadigung abhängt" und sich deshalb bewußt verstellten205. Der Gefängnisgeistliche stand vor der diffizilen Aufgabe, echte Frömmigkeit zu stabilisieren und "Unwahrheit und Heuchelei zu beseitigen" 20 **. Die latente Gefahr, "durch geheuchelte Reue zum B e s t e n " 2 0 7 gehalten zu werden, stellte einen Faktor der Verunsicherung für die Gefangenenseelsorger dar. Daraus erwuchs die Erkenntnis, daß der Geistliche "stürmischen Bekehrungseifer" zurückstellen sollte, um keine "oberflächlich wurzelnde Reue" zu bewirken und die Unterscheidungskriterien zu verlieren, "ob die Besserung nicht bloßer Schein oder Phrase s e i " 2 0 8 . Von Rohden versuchte, diesen Problemkreis abzuwerten, indem er betonte, ein Seelsorger mit Berufserfahrung und psychologischem Einfühlungsvermögen sei durchaus in der Lage, Scheinfrömmigkeit zu entlarven. Er gab jedoch zu bedenken, daß "das Gerede von der 'ekelhaften Zuchthausfrömmigkeit'" einen wahren Kern beinhaltete, "die unbestreitbare, psychologisch selbstverständliche, allgemeine Erfahrung, daß Abhängigkeit und Zwang nie und nirgends die reine Wahrhaftigkeit fördern" 2 0 ^. Hinzu kam, daß ein Geistlicher, der zugleich ein Mitglied der Gefängnisverwaltung ist und Einfluß auf Gnadenentscheide oder Gewährungen von Haftvergünstigungen nehmen konnte, in der Gefahr stand, Gefangene, die ihm entgegenkamen, zu begünstigen. Aus den Darstellungen ist zu erkennen, daß das Phänomen der Scheinfrömmigkeit als schwerwiegende Belastung erkannt wurde. Aber es erscheint unangemessen, sie als Schlüssel zur Erklärung der relativ geringen Wirkungen der Gefangenenseelsorge heranzuziehen und damit die mangelnden sozialen Einübungsmöglichkeiten für eine neue Lebensorientierung als rückfälligkeitsförderndes Element auszuklammern. Die
- 141 Frage der Effektivität der Gefangenenseelsorge ist umfassender anzusetzen in Verbindung mit dem Vorwurf, den von Rohden gegenüber den Gefangenenseelsorgekonzeptionen vorgetragen hat, die wesentlich pädagogisch ausgerichtet waren: Daß die eigentliche Seelsorgeaufgabe, den einzelnen Gefangenen ohne Rücksicht auf die Ziele des Strafvollzuges aus christlichen Motiven anzunehmen, zu Gunsten der Mitarbeit an den Zielen des staatlichen Vollzuges zurückgestellt worden ist.
3 . 5 . 1 9 Erziehung und Besserung als Inhalt der Gefangenenseelsorge "Der Sträfling soll als neuer Mensch das Gefängnis verlassen" 2 1 ®. Im Bemühen darum besteht nach Krauß der "Hochwerth" der Gefangenenseelsorge für den Strafvollzug. Dieser programmatische Satz des katholischen Seelsorgers Krauß verdeutlicht die Tendenz innerhalb der Gefangenenseelsorgetheorie des 19. Jahrhunderts, die der § 100 des Rawiczer Reglements in die Verpflichtung faßt, der Geistliche müsse auf die "sittliche und religiöse B e s s e r u n g " 2 1 1 der Inhaftierten hinwirken. Die angedeutete Entwicklung ist verständlich, da die Seelsorge sich erst in einem Strafvollzugssystem voll entfalten konnte, das neben dem Gedanken der Gerechtigkeit auch dem Erziehungszweck des humanen Strafrechts Raum geben, das heißt die sittliche Wirkung als ein Strafziel anerkennen konnte. Das Programm der sittlichen Besserung stellte das Verbindungsglied von Gefangenenseelsorge und pädagogischer Ausrichtung des Freiheitsstrafvollzuges dar. So konnte sogar von Rohden, der einer zu sehr an staatlichen Zielen orientierten Gefangenenseelsorge kritisch gegenüberstand, betonen, daß die Gefangenenseelsorge dem Erziehungsgedanken der Strafe so nahestehe, daß jeder Widerspruch gegen den humanitären Erziehungszweck der Strafe zugleich einen Widerspruch gegen die Gefangenenseelsorge darstelle, die eine "feinere innere Erziehung" vertrete212. Trotz der verschiedenen Grundvoraussetzungen erstrebten beide Institutionen vergleichbare Ergebnisse. Von Rohden vertrat daher ein Modell wechselseitiger Kooperation 2 1 ^, um eine nivellierende Fremdbestimmung der Gefangenenseelsorge durch staatliche Vollzugsinhalte zu verhindern. Zu dieser Nivellierung hatte die Neigung vieler Seelsorger beigetragen, die erzieherische Ausrichtung der Seelsorge herauszustellen: So besteht nach Knoke der Sinn der Seelsorge darin, eine "Sünde v e r hütende und an das Gute gewöhnende Aufsicht" 2 1 4 zu sein. Seit Julius galt die sittliche Verwahrlosung als Ursache von deviantem Verhalten, und so war es eine logische Konsequenz, mit poimenischen Methoden den Grad der ethischen Beziehungslosigkeit der Gefangenen abzubauen, "auf das Innenleben der Gefangenen einen reinigenden und vertiefenden Einfluß a u s z u ü b e n " 2 U n d sie "dem weiteren Abgrund" fernzuhalten216.
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Aus der Qualifizierung des Vollzuges als gottgewolltes Züchtigungsmittel (nach Hebr 12) folgte für den Inhalt der seelsorgerlichen Unterredungen, die Delinquenten "mit dem Strafgesetze a u s z u s ö h n e n " 217 oder gar disziplinierend zu fordern: "Du sollst lernen, deine Leidenschaften beherrschen, schlechte Gewohnheiten abzulegen, pünktlich gehorchen, sittliches und menschliches Gesetz achten" 2 1 8 . Die von Wichern und von Rohden angestrebte Zusammenarbeit von Strafvollzug und Gefangenenseelsorge wurde in dieser Zuspitzung zu einer Identifikation umgeprägt, die darauf verzichtete, eine eigenständige Definition der erzieherischen Arbeit der Gefangenenseelsorge zu geben. Grundsätzlich standen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Ausprägungen des Besserungsbegriffs gegenüber: Die religiös orientierten Bemühungen der Gefangenenseelsorger, eine Veränderung der Lebensbezüge über die Begründung oder Wiederherstellung der Gottesbeziehung anzustreben, und die säkulare Ausrichtung des Strafvollzuges, der die Anpassung an gesetzliche und gesellschaftliche Normen intendierte. Vom methodischen Ansatz her war die Gefangenenseelsorge auf eine Innensteuerung des Gefangenen ausgerichtet, wohingegen der Strafvollzug eine Veränderung durch Außensteuerung über disziplinierende Maßnahmen erstrebte. Prinzipiell war damit die Abgrenzung der Arbeitsfelder beider Institutionen gegeben. Da aber die Bewährungsmöglichkeit der christlichen Neuorientierung außerhalb der seelsorgerlichen Gesprächskontakte nicht gegeben war, lag es nahe, daß diejenigen Seelsorger, die einen moralisierenden Sündenbegriff vertraten und zugleich im Strafvollzug den göttlichen Rechtswillen manifestiert fanden, die Anpassung an die Inhalte des Strafvollzuges als Bewährungsmöglichkeit für die veränderte Lebenshaltung betrachteten und konsequent die staatlichen Mittel der Ordnung und Disziplinierung auch für die Gefangenenseelsorge als Hilfsmittel anerkannten und anwendeten. Diese Entscheidung führt zu einer Entwicklung, innerhalb derer der ursprünglich für die Seelsorge klar umrissene Begriff der Besserung an Konturen werlor und letztendlich die Eigenständigkeit inhaltlicher Zielformulierungen immer mehr in den Hintergrund tritt. Hinzu kam, daß der Ansatz der Bekehrung der Gefangenen auf einen Prozeß der Anpassung an die Gegebenheiten des Vollzuges reduziert wurde mit der Konsequenz, daß die Seelsorgearbeit einerseits in manchen Fällen von den Gefangenen als Disziplinierungsmittel im Sinne des Vollzuges rezipiert wurde, andererseits die Gefangenenseelsorger den Erfolg ihrer Arbeit mit der Effektivität des staatlichen Strafvollzuges korrelierten, sich mit dessen Zielsetzungen identifizierten und letztlich auch an dessen Scheitern partizipierten. Auf diesem Hintergrund wird die 1908 von von Rohden erhobene Forderung verständlich, die Gefangenenseelsorger müßten sich wieder auf ihren Auftrag als kirchliche Seelsorger besinnen und sich schwerpunktmäßig um die religiöse Komponente im Leben des Gefangenen bemühen.
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Das zentrale Medium der Seelsorge, das Gespräch, innerhalb dessen die Person des Inhaftierten Anerkennung und Annahme erfahren kann, sollte innerhalb des Vollzugssystems ein Leben aus christlicher Freiheit, das die Existenzberechtigung des Inhaftierten als gleichberechtigten Bruder anerkennt, präfigurativ erlebbar werden lassen und somit einen Freiraum zur Aussprache innerhalb des gesetzlichen Zangsraums bieten. Auf dieser emotionalen Basis könne das Bemühen wachsen, den Häftling von der Fehlorientierung seines bisherigen Lebens zu überzeugen, das auf einer selbstgerechten Sinnsetzung beruhte und den Prinzipien der christlichen Freiheit widersprach, da es weder Verantwortung vor Gott noch den Mitmenschen beinhaltet hatte.
3.6 Die allgemeine Seelsorge im Strafvollzug Mit dem Überblick über die Entwicklungsgeschichte und Problematik des Begriffs der Besserung, der die Diskussion innerhalb des Gefängniswesens und der Gefangenenseelsorge gegen Ende des 19. Jahrhunderts erneut bewegt hat, ist ein Themenbereich angeschnitten, der die spezielle und die allgemeine Seelsorge inhaltlich gleichermaßen tangierte. Im Folgenden sollen nun die Fragen der katechetischen, homiletischen und fürsorglichen Aufgaben der Gefangenenseelsorge bearbeitet werden.
3.6.1 Der Gottesdienst in der Strafanstalt "In jeder geordneten Strafanstalt muß regelmäßiger Gottesdienst stattfinden"^ . Diese Forderung Bienengräbers hatte wesentliche Bedeutung für die Haftlokale, in denen der Gemeinschaftsvollzug vorherrschte. Der seelsorgerliche Zuspruch konnte unter den Bedingungen der gemeinschaftlichen Haft wesentlich über das Medium der Predigt vermittelt werden. Hierin ist der Grund dafür zu sehen, daß die Bestimmungen des Rawiczer Reglements hauptsächlich Ausführungen über die Ordnung des Gottesdienstes enthielten, der funktional im Sinne der religiösen Besserung ausgerichtet werden solltest). Auch in den Instruktionen des preußischen Oberkirchenrates für die Gefängnisse der Justizverwaltung mit Gemeinschaftsvollzug aus dem Jahre 1858 wurde die Feier des Gottesdienstes als erste Amtspflicht des Seelsorgers d e f i n i e r t ^ 1 . Die Ansätze Wicherns, Gottesdienst und Seelsorgegespräch als aufeinander bezogen zu betrachten, werden in der Anweisung des Darm Städter Oberkonsistoriums aufgenommen: Zur optimalen Erfüllung seines Auftrags sollte der Seelsorger "die in längerer oder kürzerer Frist abzuhaltenden Gottesdienste in den Gefängnissen, die Feier des hl. Abendmahles und das seelsorgerliche Gespräch, besonders auch die Einzelunterredung"222 im Verbund einsetzen.
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Innerhalb der Gefangenenseelsorgeliteratur des 19. J a h r h u n d e r t s , die der individuellen Seelsorge Vorrang einräumte, v e r ä n d e r t e sich der Stellenwert des Gottesdienstes, aber seine Bedeutung als t r a g e n d e s Element des gesamten seelsorgerlichen Handelns wurde nicht in Frage gestellt. In Preußen wie in anderen deutschen Ländern war der Besuch des Gottesdienstes nicht freigestellt, n u r Krankheit konnte das Fernbleiben entschuldigen^23. Ausgenommen waren Untersuchungsgefangene, die n u r mit ausdrücklicher Genehmigung des Richters am Gottesdienst teilnehmen d u r f t e n , und F e s t u n g s g e f a n g e n e , denen der Besuch des Gottesdienstes freigestellt war. Obwohl der Gottesdienstzwang dem Grundsatz der Glaubens- Und Gewissensfreiheit der preußischen Verfassung von 1850 w i d e r s p r a c h ^ ^ , wurde dieser nicht als verfassungswidrig angesehen und erst 1918 aufgehoben. Die Mehrzahl der Gefangenenseelsorger b e g r ü ß t e die Verpflichtung zum Gottesdienstbesuch als Förderung der Gefangenenseelsorge. Sieveke verwahrte sich sogar dagegen, von einem "Zwang" zu sprechen und betonte, daß es der schriftgemäßen und gottgewollten "Ordnung" e n t s p r ä c h e , die Gefangenen zum Gottesdienstbesuch anzuhalten, denn gerade der Bruch des dritten Gebotes habe ihre "Sünde" v e r u r s a c h t , der es zu wehren gilt. Als weiteres Argument f ü h r t e er an, daß der Staat die Kirche erbaut habe, unterhalte und d u r c h die Gefängnisordnung dem Prediger die "Zuhörerschaft" z u f ü h r e , so daß sich der Geistliche "ethisch ungehorsam" vorkommen müßte, rüttelte er an dieser O r d n u n g . Sieveke war davon ü b e r z e u g t , daß die Freiwilligkeit des Gottesdienstbesuchs die "feste Ordnung" der Anstalt in Frage stellen und die Disziplin "auf's Schwerste l e i d e n " " 5 würde. Gegen diesen nicht singulären Ansatz wendete sich von Rohden mit dem seelsorgerlichen Argument, es sei schwer g e n u g , das Zwangssystem der Anstalt mit den Prinzipien evangelischer Freiheit zu d u r c h b r e c h e n , der es e n t g e g e n s t e h t , "direkt Widerstrebende zum Besuch des Gottesdienstes geradezu zu zwingen"226_ Dj e v o n wenigen Seelsorgern geübte Kritik am Gottesdienstzwang hatte keinen Erfolg, da in der Regel Seelsorger und Vollzugsleiter das stabilisierende Element der alles d u r c h d r i n g e n d e n Normierung höher bewerteten, als Selbstverantwortung der Gefangenen. Der sonntägliche Gottesdienst hatte einen besonderen Stellenwert227 i m Ablauf des Anstaltslebens. Für viele Gefangene bot er die einzige Möglichkeit, außerhalb der Zelle Gemeinschaft zu erleben. Der Geistliche hatte die Gelegenheit, die Gesamtgruppe der Gefangenen anzusprechen und auch auf diejenigen einzuwirken, die er mit der individuellen Seelsorge nicht zu erreichen vermochte. Der Gefängnispfarrer Hafner betonte s o g a r , daß nach seiner Überzeugung eine Predigt besser dazu geeignet sei als ein Gespräch, die "Seele zu r ü h r e n " . Daher sollte der Prediger "allerhöchsten Werth" auf die Verkündigung und auf die Ausgestalt u n g der gottesdienstlichen Feier legen228 > £>ie Position Hafners wurde allerdings nicht von den Seelsorgern allgemein geteilt. Vielmehr wurden
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Predigt und Einzelseelsorge als gleichberechtigte Elemente pastoralen Handelns angesehen. Die Stellungnahme Hoffmanns kann repräsentativ für die Einschätzung des Aufeinanderbezogenseins von Predigt und Gespräch gelten: "Die Predigt im Gefängnisse als gemeinsam an alle gerichtetes Seelsorgewort ist auch ein Fundament für die Privatseelsorge" 22 ®. Für die Ausgestaltung der Predigt betont von Rohden, daß sie niemals nach generalisierenden homiletischen Prinzipien zu verfassen ist, sondern "auf die gegebene Gelegenheit psychologisch religiöser Einwirkung" abgestellt sein müsse. Das bedeutete für die Predigt in der Strafanstaltskirche eine Orientierung an der Gefangenengemeinde, die unter Zwang den Gottesdienst besucht, dem kirchlichen Leben entfremdet war und keine intellektuellen Anforderungen erfüllen konnte. Da die Gefangenen ferner den Prediger nicht wählen konnten, sollte jener sich bemühen, verständlich zu formulieren und die Hörer persönlich anzusprechen, um ihnen, wie im Einzelgespräch, "der Prüfer ihrer Bedürfnisse, der Aufbewahrer ihrer Sorgen und der Erneuerer ihrer Hoffnungen werden" zu k ö n n e n 2 3 * ^ . Ohne seine Zuhörer kognitiv zu überfordern, sollte der Prediger bewußt belehrende Stücke in die Predigt einfließen lassen, um den defizitären religiösen Bildungsstand der Gefangenen zu heben. Unter den bisher aufgestellten Kriterien faßt der Gefängnispfarrer Beneke seine Predigtpraxis zusammen: "Bei der kurz bemessenen Zeit mußte ich versuchen, die Predigten so packend als möglich zu gestalten. Kurz müssen sie s e i n . . . , weil die Gefangenen vielfach nervös abgespannt sind, so daß sie langen Ausführungen nicht folgen können; andererseits aber mußten die Predigten, um einen nachhaltigen Erfolg möglich zu machen, in die Tiefe der göttlichen Worte einzudringen versuchen und zu selbständigem Denken anregen" 2 3 1 . Als homiletische Methode empfiehlt Köstlin dem Prediger, sich "strenge Zucht aufzuerlegen und dahinzustreben, daß das Bibelwort selbst in seiner ursprünglichen Kraft und Weihe, seiner Gedrungenheit und Anschaulichkeit zur Geltung komme und ans Gewissen herantrete". Daher sei die Homilie die geeignete Predigtform für den Gefängnisgottesdienst, "in welcher der Text selbst lebendig wird, das ewige, herrliche Evangelium selbst in Gedrungenheit und Kürze werbend, weckend, mahnend, ermunternd und tröstend an das verarmte und vergrähmte Gemüth h e r a n d r ä n g t " 2 3 2 . Die belegten Beispiele lassen eine formale Übereinstimmung im Aufbau der Predigt konstatieren. Zu Fragen der inhaltlichen Ausrichtung sind in der Seelsorgetheorie die schon in der individuellen Seelsorge aufgetretenen divergierenden Positionen erneut nachzuweisen. Haenell betont, daß "eine Predigtweise, die immer und zuerst sich auf das Sonderbedürfnis der Gefängnisgemeinde richtete", die Gefangenen, statt sie zu erbauen, eher verbittern würde 2 3 3 . Gegen eine spezielle Gefangenenpredigt tritt auch Bienengräber 23 4 mit dem Argument ein, es gäbe nur ein Gesetz und ein Evangelium für alle Menschen. Den Gefangenen sei die Frei-
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heit in Christo zuzusprechen, die auch bei äußerer Gebundenheit gilt. Daher fordert Achelis, das ungeschmälerte Evangelium zu v e r k ü n d i gen, da "Anspielungen oder direkte Anwendungen auf die Gefangenschaft" die Häftlinge "ermüden und erbittern" 2 35. Köstlin faßt diese Überlegungen zusammen in dem Satz, die Verkündigung des Wortes Gottes sei nicht an den V e r b r e c h e r , sondern an den "Christen im Gefangen e n " 2 · ^ zu r i c h t e n . Im Blick auf die kleine Gruppe von I n h a f t i e r t e n , die nicht n u r aus Zwang den Gottesdienst b e s u c h t e , sondern p e r s ö n lich Hilfe von der Predigt e r w a r t e t e , plädiert Hindberg f ü r eine e r b a u liche P r e d i g t p r a x i s , da der gläubige Häftling in der gottesdienstlichen Feier sein "Gemüt erheben" möchte "von alledem, was ihn sonst h e r a b zieht"237. Zu denjenigen, die nach "der K r a f t , die die Verkündigung des Wortes Gottes zu bringen vermag, suchen", sollte der Prediger s p r e chen , "nicht n u r weil es seine Pflicht i s t , sondern weil er mit ihnen fühlt"238. An den A u s f ü h r u n g e n Köstlins und Hindbergs wird deutlich, daß die Geistlichen, die ihr Predigtamt vom Evangelium normiert sahen, den Zuspruch der Gnade, der allen Menschen gilt, in den Mittelpunkt des Gottesdienstes stellten. Im Gegensatz dazu f o r d e r t e die Gruppe von Seelsorgern, die die Priorität des Gesetzes v e r t r a t , die Gefangenen in i h r e r Eigenschaft als Sünder a n z u s p r e c h e n . Die Gefängnispredigt gewinnt daher eine besondere A u s p r ä g u n g als Erweckungspredigt, deren seelsorgerliche Implikationen Stade entfaltet: "Sünde und Gnade müssen daher ihre b e h e r r s c h e n d e n Pole sein, und vor allem darf es nicht an k r ä f tiger Betonung der e r s t e r e n mit ihren trostlosen Folgen fehlen"239. Genau dieser Intention entspricht auch Vilmars Darlegung, daß es in der Predigt darauf ankommt, "die Sünde ganz concret zu bezeichnen und f ü r die einzelne Sünde den ewigen Tod in sichere Aussicht zu stellen" 24 ®, um die Angst vor dem Zorn Gottes h e r v o r z u r u f e n und zu Sündenbekenntnis und Buße zu bewegen. Die Hörer sollten e r k e n n e n , daß es ihr "sittliches Elend" i s t , das den Prediger b e w e g t 2 4 ^ . Unter diesem Aspekt e r schien es a n g e b r a c h t , das Genus der S t r a f - und Erweckungspredigt auch einmal zu v e r l a s s e n , um der "Verkündigung der göttlichen Gnade f ü r die Bußfertigen" 2 4 2 Raum zu geben. Ein Randproblem der Gefängnispredigt stellen Speck und Stade h e r a u s . Beide Gefängnisprediger greifen um die J a h r h u n d e r t w e n d e die Frage der patriotischen Themenpredigt in der Gefangenenhomiletik a u f . Speck ist von dem Gedanken g e t r a g e n , die patriotische Gesinnung und die Unterw e r f u n g u n t e r den göttlichen Willen funktional zu verwenden: "Man soll es immer wieder betonen, d a ß , wer seinem Gott recht dienen will, es auch dadurch zu beweisen h a t , daß er sich der von ihm eingesetzten Obrigkeit u n t e r w i r f t und an den Aufgaben, welche der Herr jedem Volke gegeben, fördernd theilnimmt. Die Treue gegen Gott und den König sind bei uns verwandte Klänge" 2 4 3. Die einseitige Interpretation der göttlichen Heilsordnung f ü h r t Speck zu einer nationalen Verherrlichung des
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Königs- und Deutschtums. Noch einen Schritt weiter geht Stade, indem er die "spezifische Wirkung" des patriotischen Elements betont: "Gar manche, die für ein warmes religiöses Empfinden erkaltet sind, können für ein solches über den Umweg über das patriotische Empfinden wieder gewonnen werden, wenn man sie im Werdegange der vaterländischen Geschichte das Walten ewiger sittlicher Mächte verehren lehrt und vor allem die edelsten patriotischen Pflichten, wie Selbsthingabe und Aufopferung für das Allgemeine, die ja so wesentlich religiösen Ursprungs sind, vor ihrem Auge entrollt" 2 4 4. Der Gottesdienst, der die Gefangenen für kurze Zeit aus dem Routinebetrieb der Anstalt herausnimmt, gewinnt seine spezielle emotionale Qualität durch den Gesang und die Liturgie. Aus der Sicht der Gefangenenseelsorger hat "ein kräftiger und voll tönender Choralgesang in der Kirche" starken Einfluß "auf die Belebung des religiösen Bewußts e i n s " 2 4 5 . Mit dem Kirchengesang lassen sich die "Herzen der Hörer . . . willig gen oben e m p o r t r a g e n " 4 6 . Zugleich vermittelt das Singen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das in der Vereinzelung der Haft verlorenzugehen droht. Da dem Kirchengesang für die emotionale Beeinflussung hohe Bedeutung zugemessen wurde, schlägt Beneke vor, bei der Auswahl der Lieder der Lage der Gefangenen Rechnung zu tragen: "Lieder wie: Bis hierher hat mich Gott gebracht, durch seine große Güte! oder: Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu! und dergl. wird man vermeiden, aber man darf auch nicht zu oft Bußlieder bringen, da der Inhalt ihren Gefühlen vielleicht noch nicht entspricht und ihnen daher eine Unwahrheit in den Mund gelegt werden w ü r d e " 2 4 7 _ 2
Die Interdependenz von allgemeiner und spezieller Seelsorge wird im Kontext der Sakramentsfeier besonders deutlich. Die Beichtgespräche sollten verhindern, daß "aus äußeren Gründen, z . B . um dem Pastor zu gefallen... oder der Abwechslung halber, oder um einmal Wein zu trinken"248 die Anmeldung zum Abendmahl erfolgte. Da viele Geistliche die Gefahr der unwürdigen Nießung sahen, hatten die seelsorgerliehen Gespräche vor dem Sakramentsempfang die Funktion, zu prüfen, ob der Gefangene echte Reue und Sündenerkenntnis zeigte und ihn, falls er unbußfertig war, von der Teilnahme auszuschließen. Allerdings finden sich in der Literatur auch Stimmen, die eine entgegengesetzte Meinung in der Frage der Abendmahlszulassung vertreten. So hielt es Stade für nicht angebracht und in der Praxis kaum durchführbar, jeden Gefangenen auf seine Würdigkeit zu überprüfen. Dalmer sollten alle zugelassen werden, deren guter Wille erkennbar sei. Zum anderen weist er darauf hin, daß es sich in einem Einzelgespräch nur schwer feststellen lasse, ob ein Häftling ehrlich bereut oder nur heuchelt. Der Gefangene müsse, wie in der freien Gemeinde auch, selbst entscheiden und verantworten, ob er würdig sei zu kommunizieren. Diese Entscheidung könne die Beichtrede erleichtern, die die Gottesdienstbesucher vor der Abendmahlsausteilung ermahnt, "von den Stufen des Altars" zurück-
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z u t r e t e n , wenn sie das Sakrament nicht wirklich "demüthig und zur Vergebung" genießen w o l l t e n 2 4 9 . Auch angesichts des Zwanges, der auf dem Gottesdienstbesuch liegt, ermutigte von Rohden seine Amtskollegen, von der Freiheit des Abendmahlsbesuchs "weisen Gebrauch" zu machen und den Inhaftierten "im Einzelgespräch vor der Feier diese einzige Gelegenheit zur Bethätigung der Wahlfreiheit recht wert" zu machen 25 ·}. Unter dieser Zielsetzung bekommt das Abendmahlsgespräch die Funktion, c h r i s t liche Freiheit auch in der Gefangenschaft symbolisch erlebbar zu machen. Haenell dagegen sah in der behandelten Fragestellung weniger ein seelsorgerliches als ein didaktisches Problem: "Da die Würdigkeit zum Genüsse durch das Verständnis desselben bedingt i s t , und es den Gefangenen vielfach an der rechten Heilserkenntnis fehlt, so b e d ü r f e n sie meistens eines besonderes U n t e r r i c h t s , ehe sie zur Kommunion zugelassen werden können" 2 5 ^. Damit spannt er den Bogen zu einem weiteren Aufgabenkreis der Seelsorger, den Unterricht.
3.6.2 Der Religionsunterricht im Strafvollzug Aufgrund der schon mehrfach betonten Tatsache, daß die Mehrzahl der Gefangenen in Glaubensfragen "höchst mangelhafte Kenntnisse" 2 5 2 besitzt, schrieb Haenell dem Religionsunterricht zur Vermittlung von Glaubensinformationen zum Verständnis der Predigt und individuellen Seelsorge grundlegende Bedeutung zu. Daß der Religionsunterricht in den Aufgabenbereich des Gefängnispfarrers fällt und christliche Unterweisung überhaupt notwendig ist, wenn die Gefangenenseelsorge nicht wirkungslos betrieben werden soll, kann als fester Grundsatz der Seelsorgearbeit mit länger inhaftierten Strafgefangenen seit den Bestimmungen des Celler Edikts f ü r spätere Vorschriften gelten 2 5 3. Das Rawiczer Reglement v e r anschlagt in den §§ 101 und 102 mindestens zwei Stunden "Unterricht in der Religion und Moral". "Außerdem sollen diejenigen Sträflinge, die vor anderm eine besondere Nachhülfe in diesem Unterricht b e d ü r f e n , noch anderweit zwei Stunden in der Woche Unterricht erhalten", und d a r ü b e r hinaus "müssen alle in die Anstalt kommenden Sträflinge, welche erweislich noch nicht confirmiert sind, von dem b e t r e f f e n d e n Geistlichen die gewöhnlichen Vorbereitungen erhalten und confirmiert werden" 2 5 ^. Bei Jugendlichen hatte der Unterricht als eine Form der Gruppenseelsorge Bedeutung. So sieht von Rohden im Religions- und Konfirmandenunterricht die Hauptaufgabe an jugendlichen S t r a f t ä t e r n und hält alle Bek e h r u n g s v e r s u c h e f ü r aussichtslos, da die Jugendlichen in der Mehrzahl "für die höheren religiösen Motive noch nicht empfänglich sind". Bei dieser noch lernfähigen Gruppe komme "das Evangelium zunächst nur in seiner pädagogischen Fassung und Bedeutung zur G e l t u n g " 2 5 5 . Meyer v e r tritt demgemäß die Ansicht, daß ein ausreichender Unterricht in den Wahrheiten der Religion die jugendlichen Delinquenten vielleicht vor der S t r a f -
- 149 tat und "dem Fall" bewahrt h ä t t e 2 5 6 . Hindberg gibt erstmals wieder seit Wagnitz einen Einblick in die Themen des Religionsunterrichts: Der Pfarrer soll den Inhaftierten "die einfältigen so segensreichen christlichen Kirchenlehren dermaßen ein.. .schärfen, daß er wohl meinen darf, dieselben seien in die Erkenntnis aufgenommen und üben ihren Einfluß auf den Willen". Ferner sollte er "in solcher Weise auf ihre Zukunft bedacht sein und über dieselbe mit ihnen reden, daß es allmählich klar wird, wie . . . sie in solche Verhältnisse kommen, die, soweit möglich, Schutzmittel darbieten gegen Abfall von den guten Entschlüssen"257_ u a "^ie Erziehung des Verbrechers" den höchsten Zweck des Strafvollzuges ausmacht, sieht Stade die Aufgabe des Religionsunterrichts darin, diese Zielrichtung zu stützen, jedoch mit dem Schwerpunkt der "seelsorgerlichen Behandlung". Aus diesem Aspekt folgt für die katechetische Arbeit des Gefängnisgeistlichen, daß er "das einzelne Individuum zur Bewahrung, Belebung und Rettung seines Seelenheils und seiner für das Reich Gottes bestimmten christlichen Einzelpersönlichkeit" führen soll25**. Die Ausrichtung auf die individuelle Problematik hält Stade für möglich und nötig, da in der Haftsituation Aspekte der Erziehung und der Lebensführung erkannt und im Unterricht aufgearbeitet werden können. Der "Schüler" soll sich mit der Themenstellung identifizieren können. Im Laufe der weiteren Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt der pädagogischen Tätigkeit der Gefängnispfarrer auf die religiöse Unterweisung jugendlicher Delinquenten, während die katechetischen Aufgaben gegenüber den erwachsenen Häftlingen im wesentlichen in die Predigtarbeit übernommen wurden. So kennen die Instruktionen des preußischen Oberkirchenrats keine Bestimmungen mehr über den Religionsunterricht für erwachsene Strafgefangene, verlangen aber von der Gefängnispredigt eine möglichst einfache und eindringliche "Darstellung der evangelischen Grundwahrheiten von der Sünde und der Gnade" und eine "Verkündigung in katechismusartiger Kürze und Präzision"259.
3 . 6 . 3 Die Lektüre der Gefangenen als Hilfsmittel der Seelsorge Als geeignetes Mittel zur vertiefenden Begleitung des Religionsunterrichts wurde die Lektüre der Inhaftierten angesehen. Daher galt es als ratsam, daß der Gefängnispfarrer sich um den Bücherbestand kümmerte und möglichst die Gefängnisbibliothek beaufsichtigte, um den Gefangenen Lesestoff anraten zu k ö n n e n ^ ß O . Zur Nachbereitung der Sonntagspredigt schlägt Hoffmann vor, den Pastoranden die Bibel, Predigtbücher sowie Traktatliteratur zugänglich zu machen. Für besonders geeignet hält er kurze Schriften erbaulichen In-
- 150 halts, weil sie nicht - wie umfangreiche Bücher - vom Lesen abschreckten, sondern zur Lektüre animierten 2 ^!. Für die "geistige Fortbildung" ist der Bücherbestand nach Bienengräber auch deshalb wichtig, weil die Gedanken der Häftlinge während des Lesens "vom Bösen abgezogen und zum Guten hingelenkt"262 werden und verhindert wird, daß die Gefangenen in ihrer freien Zeit in der Monotonie des Anstaltslebens "vollends erlahmen und versumpfen"263. Für die Gefangenen in der Gemeinschaftshaft wurde die Verteilung von Schrifttum als Möglichkeit eingesetzt, sie in der Freizeit von wenig guten Einfluß verheißenden Gesprächen mit ihren Mithäftlingen abzulenk e n 64. Gerade in der Gemeinschaftshaft gewann die "Privaterbauung" an Bedeutung, da die individuelle Seelsorge nur beschränkt vom Geistlichen geleistet werden konnte265t Mit der Einführung des pennsylvanischen Systems war verbunden, daß der Inhaftierte in der Einzelzelle die Bibel als einzige Lektüre vorfand. Wichern erweiterte den Katalog der Lesematerialien in Moabit auch auf "gute und heilsame Schriftwerke", die er als "sekundäres aber darum nicht minder wichtiges Mittel zur christlichen Gemütspflege"266 einsetzte. Doch die Bibellektüre, die nach einem bestimmten Leseplan stattfinden sollte, war f ü r Wichern die wichtigste Freizeitbeschäftigung der Inhaftierten. Meyer sah im Lesen der Bibel und anderer Bücher eine "schneidige Waffe wider Sünde und Verbrechen und Helferin zur Erneuerung und Umwandlung"267. Die vom Gefängnisgeistlichen geförderte und gesteuerte Lektüre legte also, ähnlich wie Predigt und Unterricht, die geistige und emotionale Basis, die der Seelsorger in den Gesprächen aufnehmen und vertiefen konnte, so daß mit Recht von den Gefängnispfarrern die Versorgung der Gefangenen mit Bibel und anderem erbaulichen Schrifttum als eine wichtige Stütze der Seelsorgearbeit angesehen wurde.
3.6.4 Die seelsorgerliche Begleitung der Entlassung Die vielfältigen Aspekte der Schwellensituation Entlassung spiegeln sich in den seelsorgerlichen Reflexionen dieses Themas wider. Unter dem Gesichtspunkt , "daß der Ausgang aus dem Gefängnisse ein geheiligter und gesegneter werde", ist es nach Haenell notwendig, das Seelsorgeverhältnis auf dieselbe Weise abzuschließen, wie es begonnen hat, "mit Gebet und Gotteswort"268 Da gerade die letzten Worte beim Abschied "tiefer zu Herzen" gehen als alles vorher Gesagte, sollte der Geistliche die besondere Situation des zu Entlassenden aufnehmen und ihm allgemeingültige Ratschläge und Verhaltensmaßregeln auf den Weg mitgeben, zugleich auch bemüht sein, auf die individuelle Unsicherheit und Problemlage des oeq Pastoranden einzugehen* .
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Während Hindberg mehr f ü r einen vermahnenden Charakter des Abschlußgesprächs e i n t r i t t , möchte Stade die Vorbereitung zur Entlass u n g angesichts der E r r e g u n g , in der sich der Häftling b e f i n d e t , als Trost und Aufmunterung gestalten. Der letzte Besuch des Seelsorgers in der Zelle sollte das Gepräge eines "persönlichen Abschieds" t r a g e n , zu dem der Delinquent aufgesucht wird, "um ihm noch einmal das Beste darzureichen", was der Geistliche ihm zu bieten h a t 2 7 ^ . Stade schlägt weiter v o r , dem Entlassenen eine Bibel oder ein anderes religiöses Buch mitzugeben, das ihn später an seine Tat und die daraus resultierende S t r a f h a f t erinnern und die Lehren in sein Gedächtnis z u r ü c k r u f e n soll, die er vom Geistlichen empfangen h a t . Mit der Entlassung endet auch der offizielle Aufgabenbereich des Gefängnisgeistlichen , denn nachdem der Häftling in den Zustand der Freiheit zurückgetreten i s t , "geht er in den Bereich der behütenden und versorgenden (indirekten) Seelsorge der Heimatgemeinde ü b e r , die über ihn mit besonderer Treue zu wachen h a t " 2 7 l . Diese Ansicht Köstlins wird nicht von allen Gefängnisseelsorgern des 1 9 . J a h r h u n d e r t s geteilt. Es wird vielfach g e f o r d e r t , daß der Gefängnisseelsorger sich auch nach dem Übergang in die Freiheit um den Pastoranden zu bemühen habe. Die "Nachbedingung einer erfolgreichen Seelsorge und eines gewinnbringenden Unterrichtes ist die Einleitung einer zweckmäßigen F ü r s o r ge f ü r den Entlassenen" 2 7 2 . Dieses Programm der weiterführenden Seelsorge Potels, das sich auf Wicherns Grundlegungen b e r u f e n k a n n , wird auch von Hindberg mit der Zielrichtung v e r t r e t e n , dem "mit schwankendem Fuß" in die Freiheit Tretenden mit allen Kräften behilflich zu sein, "in eine bürgerliche Stellung" zu kommen 2 7 ^. Die soziale Diskriminier u n g , der sich der Entlassene gegenübersieht, veranlaßt Poensgen zu der resignativen Feststellung: "Mit dem Ablauf der Strafzeit der Gefangenen beginnt oft erst das Gefängniß in der wieder erhaltenen Freiheit" 2 7 ^. Im Idealfall müßte es nach von Zezschwitz ein Akt der "evangelischen Liebe" sein, "dem verlorenen Sohne die Wiederaufnahme bei seiner Rückkehr" vorurteilslos zu ermöglichen. Aber die gesellschaftliche Realität macht es notwendig, daß der Geistliche im "rechten Hirtengeiste" erst die Gemeinde d a r ü b e r belehren muß, "den nach seiner Freilassung erst doppelt Bedrohten zu voller Ausheilung vergessend und vergebend in ihrem Schosse wieder willkommen zu heißen" 2 7 ^. Denn wenn auch auf Seiten des Geistlichen "der beste Eifer, die aufopfernste Sorgfalt v o r handen i s t , um den besser gesinnten Entlassenen beizustehen" 2 7 ^, so sind seine Bemühungen weitestgehend zur Erfolglosigkeit v e r u r t e i l t , wenn die Bevölkerung nicht bereit i s t , ihre Vorurteile und Ablehnung abzubauen. Hieraus ergibt sich die Aufgabe des G e f ä n g n i s p f a r r e r s , auch außerhalb der Haftanstalten in Zusammenarbeit mit den Ortsgeistlichen auf eine Veränderung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Gefangenen und deren Probleme hinzuwirken.
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3.7 Die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber den Gefangenen als Problem f ü r die Gefangenenseelsorge Die verbreitete Selbstgerechtigkeit, die es v e r h i n d e r t , daß die I n h a f tierten in geordnete Verhältnisse zurückfinden können, und die weitverbreiteten Ressentiments, die die B e s t r a f t e n n u r weiter in das soziale Elend t r e i b e n , aus dem Delinquenz erwächst, finden die scharfe Kritik Benekes. Er spricht der Gesellschaft das Recht ab, alle Schuld den Rechtsbrechern a u f z u b ü r d e n , "sondern die S t r a f e , welche jene allein zu tragen haben, gebührte von rechtswegen auch denen, die so viel zu der Versuchung beigetragen h a b e n " 2 7 7 . Es ist ein großer Fehler und ein Hauptgrund f ü r die wachsende Kriminalität, daß Verurteilte von der Gesellschaft "gedanken- und lieblos, i r r i g und heillos" abgesondert werden. Wenn alle Mühe um den Delinquenten nicht fehlgehen soll, so kommt es auch f ü r Nitzsch darauf a n , "klar zu fühlen und zu d e n k e n , wie alle diese gesonderten Teile sich einander innerlich ebenso wie äußerlich a n g e h e n " 2 7 8 . Di e von Beneke und Nitzsch formulierte Mitschuld der Gesellschaft versucht Achelis theologisch anhand des Sündenbegriffs zu i n t e r p r e t i e r e n : "Die Sünde des Einzelnen b e r u h t auf der habituellen Sünde der Gesellschaft; . . .Somit ist der Einzelne nicht als aus der Art geschlagener Bösewicht . . . anzusehen, sondern als ein k r a n k e s Glied des Körpers, dessen Krankheit alle anderen Glieder teilhaftig sind" 2 7 9. In diesen A u s f ü h r u n g e n wird deutlich, daß sich die Gefangenenseelsorgetheorie gegen Ende des 19. J a h r h u n d e r t s den soziologischen Aspekten von Straffälligkeit öffnet und das Prinzip des freien Willens u n t e r dem Aspekt der Mitschuld der Gesellschaft eine gewisse Relativierung e r f ä h r t . Allerdings wurden die Gedanken des S t r a f r e c h t s in theologische Kategorien gefaßt. Die aktuale Sünde, die in der Tat manifest geworden i s t , wird in Relation gesetzt zur habituellen Sünde der Gesells c h a f t . Die Isolation des Sünders wird aufgehoben d u r c h den Gedanken der Solidarität der S ü n d e r , die Gottes Gnade b e d ü r f t i g s i n d . Die prinzipielle Verschuldung des Einzelnen wird nicht n e g i e r t , doch ist so Stade - auch die "unleugbare Verschuldung Anderer oder der umgebenden Verhältnisse" mit zu b e d e n k e n 2 8 " . Das h a t t e , zumindest theologisch, zur Folge, daß die Gesellschaft in die Pflicht zur Vorsorge der Verhinderung von Verbrechen und d e r Nachsorge f ü r die Integration der schon delinquent gewordenen Mitglieder gerufen wurde. Die Teilnahme am Schicksal der S t r a f t ä t e r fordert Hafner mit der - Ergebnissen moderner Kriminalitätsforschung vorgreifenden - B e g r ü n d u n g : "Jedes Glied der Gesellschaft hat im Verbrecher ein Stück seines eigenen Wesens zu s e h e n " 2 8 l . Diese globale Forderung könnte sich konkret, wie es sich von Zezschwitz im Anschluß an Wichern vorstellt, darin a u s wirken, den Entlassenen d u r c h einen kirchlichen Akt eine öffentliche "Ehrenwiederherstellung" zu gewähren, die seinem Selbstwertgefühl
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Auftrieb geben k ö n n t e ^ . wichtig wäre auch - nach Otto auf die durch die Tat geschädigten Personen einzuwirken, "daß sie mit p e r sönlichem Herzen ein reuiges Entgegenkommen"283 des Entlassenen als Basis der Wiedergutmachung a n e r k e n n e n . Aber die s t a r r e und ablehnende Haltung der Bevölkerung läßt diese Forderungen so lange als Wunsch bestehen, wie es nicht gelingt, Vorurteile auszuräumen. Hier liegt eine wesentliche Aufgabe der Gemeindepfarrer, die in der Predigt das geeignete Medium besitzen, die Gemeinde über die Gefangenenprobleme zu informieren284. Darüber hinaus sollte die Not der Gefangenen auch in das sonntägliche Fürbittengebet eingeschlossen werden^·».
3.8 Fürsorge f ü r Gefangene und Entlassene als Ergänzung und F o r t f ü h r u n g der Gefangenenseelsorge Der fließende Übergang von Gefangenenseelsorge in die Fürsorge an Entlassenen wurde im Idealfall von der Gefangenenhilfe gewährleistet, in deren Bereich mit einigem Erfolg die an manchen Orten gegründeten Gefängnisgesellschaften oder -vereine arbeiteten. Deren Aktivitäten beurteilte Hindberg sehr positiv, da sie wesentlichen Einfluß auf die innere und soziale Stabilisierung des Entlassenen nahmen, der die Überzeugung gewinnen konnte, "daß 'entlassen' nicht dasselbe ist wie 'verlassen'" und dazu angespornt wurde, "auf sich selbst zu achten" 2 86. Gegen Ende des 1 9 . J a h r h u n d e r t s ist festzustellen, daß die Initiativen der Gefängnisgesellschaften nachließen. Die Entlassenenfürsorge e n t wickelte zugleich eine Eigendynamik und verlor den Kontakt mit dem Strafvollzug und der Gefangenenseelsorge, so daß von Rohden 1908 die Tätigkeit der Gefängnisvereine negativ als d ü r f t i g e "Gelegenheitsarbeit der U n t e r b r i n g u n g einzelner E n t l a s s e n e r " ^ ? bezeichnete. In Analogie zu Wicherns Bemühungen v e r s u c h t e von Rohden, die Entlass e n e n f ü r s o r g e , die er als "Hilfe zur Selbsthilfe" definierte, auf eine neue Basis zu stellen. Er intendierte, die Eigenverantwortlichkeit der Entlassenen zu s t ä r k e n und eine pseudo-christliche Wohltätigkeit zu überwinden, die n u r neue Abhängigkeiten s c h a f f t e . Denn wichtiger als eine materielle Hilfestellung beim Neubeginn war ihm die Notwendigkeit, daß der Entlassene in der "sittlichen Gemeinschaft" einen Ort findet, der es ihm erleichtert, neue Lebensbeziehungen und -Verhältnisse a u f z u b a u e n d e . Auch in Anlehnung an Wicherns Vorstellungen v e r s u c h t e Poensgen, die Gefängnisbesuche von Mitgliedern der "freien Gemeinden" zu aktivieren, die nach einigen erfolgreichen Versuchen fast ins Vergessen geraten waren. Er f o r d e r t e die Ortsgeistlichen a u f , vorbildhaft damit zu beginnen, inhaftierte Gemeindeglieder a u f z u s u c h e n , um die "durch die Straftat zerrissene Verbindung mit den bisherigen Verhältnissen wieder anzuknüpfen". Dabei habe der Gemeindepfarrer den
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Vorteil, daß ihm der Inhaftierte seit längerem v e r t r a u t sei und auch der Inhaftierte seinem Seelsorger eher Vertrauen entgegenbringt als dem unbekannten G e f ä n g n i s p f a r r e r . Für den weiterführenden Besuchsdienst sollten v e r t r a u e n s w ü r d i g e "Gemeindeorgane, Diakone, Stadtmissionare, Gemeindehelfer und Diakonissen" gewonnen werden289. Einen wesentlichen Beitrag zur Integration der Häftlinge leistete der Gefängnisgeistliche d a d u r c h , daß er den Halt der Familienbeziehungen der Gefangenen in seinen Aufgabenbereich übernahm. Es war einer der Grundzüge des von Wichern in Moabit ausgearbeiteten Modellvollzuges, "so weit als irgend möglich zwischen" dem Gefangenen "und seiner Familie das richtige Verhältnis wieder herzustellen, wenn es z e r r i s s e n , es zu erhalten und zu pflegen, wo es noch vorhanden ist"290. Stade beschreibt die "Vermittlerrolle" bei Familienfragen als zweites Hauptanlie^ gen in der Seelsorgebeziehung neben dem seelsorgerlichen Gespräch. Die meist geäußerte Bitte der Häftlinge bestehe d a r i n , "die gestörten Beziehungen zu i h r e r Heimath und Familie wieder a n k n ü p f e n zu helfen oder auch dieser letzteren in i h r e r Bedrängnis U n t e r s t ü t z u n g zu v e r mitteln" 2 9 1 . Unter dem Aspekt der S t ä r k u n g der Vertrauensbasis im Seelsorgekontakt wurde die Familienfürsorge von den Gefangenenseelsorgern wahrgenommen als Hilfe bei der Abfassung d e r privaten Korrespondenz oder in besonders problematischen Fällen - wenn sich die Familie vom Häftling lossagen wollte - in Hausbesuchen, um eine Absichtsänderung der Angehörigen zu b e w i r k e n 2 9 2 . Auch f ü r die materielle A b s i c h e r u n g 2 9 3 der Familien von Inhaftierten fühlten sich die Seelsorger verantwortlich; bei dieser Aufgabe waren sie allerdings auf U n t e r s t ü t z u n g von außerhalb der Mauern angewiesen. Gerade die unschuldig in Not geratenen Familien b e d u r f t e n nach P o e n s g e n 2 9 4 der besonderen U n t e r s t ü t z u n g i h r e r Mitbürger, zu der der Gefangenengeistliche a u f r u f e n sollte. Mit der Ausweitung der fürsorgerlichen Aufgaben kam der Gefängnisp f a r r e r in die Rolle eines Vermittlers zwischen den Gefangenen und ihr e n Familien einerseits und den Familien und den freiwilligen Helfern a n d e r e r s e i t s . Speziell an dem Problembereich der Familienfürsorge wird deutlich, daß die seelsorgerliche und fürsorgerliche Tätigkeit des Gef ä n g n i s p f a r r e r s einander bedingten, f ö r d e r t e n und e r g ä n z t e n .
3.9 Zusammenfassung: Die Entwicklung der Gefangenenseelsorge bis 1918 Bis zum Ende des 1 9 . J a h r h u n d e r t s ist die Entwicklung als abgeschlossen zu b e t r a c h t e n , daß wenigstens die größeren Haftanstalten, vornehmlich die Zuchthäuser, einen hauptamtlich beamteten Hausgeistlichen, und die kleineren Gefängnisse d u r c h vertragliche Regelungen eigene Seelsorger
- 155 zugeordnet bekamen, die ihr Amt im Nebenberuf ausübten. Wenn sich auch die äußeren Modalitäten des Besuchs durch den Geistlichen änderten, so blieb doch der Besuch des Seelsorgers beim Gefangenen das tragende Element der seelsorgerliehen Beziehung. Vor der Einführung der Einzelhaft diente der Besuch des Geistlichen in den Haftlokalen des Gemeinschaftsvollzuges oder an den Arbeitsplätzen zur ersten Kontaktaufnahme und dazu, den Häftlingen das Gefühl zu vermitteln, daß der Seelsorger Anteil an ihrem Geschick nahm. Aus dieser Kontaktaufnahme konnten sich Gespräche entwickeln, die unter vier Augen in speziellen Sprechoder Dienstzimmern weitergeführt wurden. Mit der Einführung der Einzelhaft veränderten sich die Rahmenbedingungen der speziellen Seelsorge. Wollte der Geistliche mit dem Gefangenen individuelle Gespräche führen, suchte er ihn in seiner Zelle auf. Der Zellenbesuch hatte für den Verlauf der Seelsorgegespräche den Vorteil, daß keine Störungen durch den Anstaltsbetrieb möglich waren und auch der Geistliche nicht - wie in der Gemeinschaftshaft - darauf angewiesen war, sich den Pastoranden in sein Sprechzimmer von Anstaltsbediensteten führen zu lassen, sondern den Lebensraum mit den Gefangenen teilen konnte. Da in den seltensten Fällen die Gefangenen von sich aus den Geistlichen zu sich rufen ließen, behielt der Besuch des Geistlichen seine grundlegende Bedeutung. Ein Beweis dafür ist die im 17. wie im 19. Jahrhundert herangezogene Begründung der Gefangenenseelsorge aufgrund von Matth 25,36. Das informative Gespräch zu Beginn des Seelsorgeverfahrens hatte den Zweck, den Wissensstand, die religiöse Bildung sowie den Lebenslauf des Neueingelieferten zu erheben. Die im 19. Jahrhundert im Anschluß an Wagnitz und Julius immer stärker auftretende Tendenz, die Häftlinge seelsorgerlich individuell zu betreuen, veränderte die Intention des Erstgesprächs, das in den Dienstanweisungen den Geistlichen vorgeschrieben wurde. Aus dem Entscheidungsprozeß, ob der Gefangene noch des Gesetzes oder schon des Evangeliums bedürftig sei, entwickelte es sich zu einer "Diagnose" des psychischen Zustands und der sozialen Beziehungen des Häftlings, auf die der Gefängnisgeistliche seine seelsorgerliche Begleitung ausrichtete. Die Bedeutung des ersten Gesprächs für den Verlauf der weiteren Seelsorgebeziehung wurde deutlich an dem Streit, ob der Seelsorger Einblick in die Akten nehmen sollte oder nicht, der auf dem Hintergrund der Frage zu verstehen ist, ob und inwieweit der Geistliche unvoreingenommen dem Pastoranden gegenübertreten sollte, um ein objektives Bild seiner Persönlichkeit als Grundvoraussetzung eines freien, unbelasteten Seelsorgeverhältnisses zu gewinnen. Ferner erhielt das Erstgespräch in der Gefängnisseelsorgetheorie des 19.Jahrhunderts Schwerpunktcharakter, da es die grundlegende Situation darstellte, in der sich das Vertrauensverhältnis zwischen Seelsorger und Pastoranden entschied. Gelang es nicht, im ersten Gespräch eine relativ offene Atmosphäre des Vertrauens und des Aussprechen-
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könnens aufzubauen, so konnte der Gefängnisseelsorger nicht darauf hoffen, in Zukunft eine tiefergehende und damit sinnvolle Gesprächsebene zu erreichen. Andererseits waren sich auch die Seelsorger bewußt, daß f ü r den Gefangenen der e r s t e Eindruck vom P f a r r e r entscheidend f ü r seine weitere Gesprächsmotivation sein konnte. Das e r s t e Gespräch hatte und behielt damit f ü r die Gestaltung der seelsorgerlichen Beziehungen eine zentrale B e d e u t u n g , gleichsam als Weichenstellung f ü r weitere ablehnende oder kontaktbereite Haltung beider P a r t n e r . Die Anwendung des Gesetzes dominierte in der Seelsorge, so lange ihr Hauptmotiv darin b e s t a n d , den Pastoranden zu Buße und Bekenntnis seiner Sünden zu f ü h r e n als Voraussetzung des V e r g e b u n g s z u s p r u c h s . Für die Seelsorge an Todeskandidaten war dieses Vorgehen bestimmend, da die Sündenerkenntnis und Reue des Delinquenten vor dessen Hinricht u n g als einziger Weg angesehen wurde, um das Seelenheil zu erlangen. Mit dem Aufkommen der e r s t e n Zuchthäuser, in denen die Häftlinge nicht mehr auf den Tod vorbereitet werden mußten, stand der Gefängnisseelsorger zwar vor einer v e r ä n d e r t e n Situation der Pastoranden, aber zunächst wurde der Kampf um die Buße des Gefangenen noch im Mittelpunkt des seelsorgerlichen Vorgehens belassen, da die Strafe wesentlich einen vergeltenden Charakter t r u g und ihren Zweck im Strafübel e r f ü l l t e . Erst nachdem im Zuge der Gefängnisreform und der Neubesinnung im S t r a f r e c h t s d e n k e n der Zweckgedanke der Besserung im Strafwesen Raum g r i f f , läßt sich in der Gefangenenseelsorge aufzeigen, daß das Sündenbekenntnis nicht mehr den Kern der Seelsorgebemühungen bildete, sond e r n als Voraussetzung zur sittlich-religiösen Neuorientierung des Häftlings v e r ä n d e r t e Relevanz gewann: Die Vorhaltung des Gesetzes sollte zur Sündenerkenntnis und zu einem Unwerturteil über die bisherige Leb e n s f ü h r u n g motivieren mit der Konsequenz, daß der Pastorand nach neuen Sinnorientierungen f ü r sein zukünftiges Leben v e r l a n g t e , die es ihm ermöglichen konnten, ohne Delinquenz zu leben. Für eine große Gruppe der Gefangenenseelsorger des 19. J a h r u n d e r t s war die Anwendung des Gesetzes ein zentrales Element ihres Seelsorgekonzepts. Der Gefangene sollte zuerst mit dem unabdingbaren Willen Gottes konfrontiert werden, der sich im weltlichen Gesetz manifestierte, und e r k e n n e n , daß er in seiner Tat den göttlichen Rechtswillen verletzt h a t t e . Ihm wurde damit verdeutlicht, daß die Strafe als ein Eingriff Gottes in sein sündiges Leben zu i n t e r p r e t i e r e n sei, der vor noch t i e f e r g r e i f e n der S ü n d e n v e r s t r i c k u n g bewahrte. Der S ü n d e n b e g r i f f , der dieser Seelsorgekonzeption zugrunde lag, war moralisch bestimmt und richtete sich an der manifesten Tat, der aktualen Sünde a u s , die den Menschen als Widersacher des göttlichen Rechtswillens kennzeichnete und zugleich den Seelsorger b e r e c h t i g t e , ein Unwerturteil über die Person des Rechtsbrechers aus zusprechen. Der heilsame Charakter der göttlichen Rechtsordn u n g , der seinen Niederschlag in dem weltlichen Recht finden sollte, w u r -
- 157 de zugunsten des Elements der Rechtskonformität zurückgedrängt, was sich in der Praxis der Seelsorge darin ausdrückte, daß der Seelsorger als Fordernder an den Pastoranden herantrat, solange dieser das Bekenntnis seiner Sündhaftigkeit nicht abgelegt hatte. Erst nachdem sich der Gefangene dem göttlichen Willen gebeugt hatte, seine Strafe als gerecht anerkannte und seine Tat bereute, konnte ihm Zuspruch des Evangeliums Vergebung und Trost vermitteln. Wurde der Delinquent zum Sterben vorbereitet, bedeutete das, daß der Seelsorger ihm deutlichmachte, daß ihn nach der Schmach und der Pein des Todesurteils eine bessere Zukunft erwartete und er auf die Zusage des Seelenheils und der göttlichen Vergebung vertrauen könne, die die Vorläufigkeit seiner bisherigen Existenz ihrer endgültigen Bestimmung übergeben würde. Für die Seelsorge an länger inhaftierten Gefangenen beinhaltete der Zuspruch der Vergebung Gottes aufgrund der Heilstat Christi für die Gefangenen die Möglichkeit, als von Gottes Gnade Lebende eine neue Lebensorientierung zu gewinnen: Gott vergibt dem Häftling die Schuld seines bisherigen sündigen Lebens und gibt ihm die Gelegenheit, im Einklang mit seinem Willen ein neues Leben zu beginnen. Dieses methodische Verfahren, das in der Gefangenenseelsorge des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet war, ordnete Gesetz und Evangelium streng nacheinander. Eine Neuorientierung auf dem Gebiet der Gefangenenseelsorge deutete sich seit ca. 1850 an, als im Gefolge des Aufkommens der Besserungsidee die Bedeutung des Gesetzes für die Seelsorge angezweifelt oder gar abgelehnt wurde. Schon Hoffmann wies darauf hin, daß die mahnende Haltung des Geistlichen gegenüber dem Delinquenten nur dessen Selbstgerechtigkeit und Abwehrhaltung bestärkte und damit das Gegenteil von dem erreichte, was der Seelsorger anstrebte, nämlich eine Veränderung der Sinnorientierung der Gefangenen. Die Einsicht, daß der Zuspruch der Vergebung die Gefangenen eher motiviert, sich in ein seelsorgerliches Gespräch einzugeben, als wenn sie sich den Vorwürfen des Geistlichen ausgesetzt sahen, findet gegen Ende des 19.Jahrhunderts in der Gefangenenseelsorge immer mehr Anklang. Parallel dazu verläuft die Entwicklung der Bestrebungen, der Individualität der Gefangenen mehr Raum zu geben und zugleich die sozialen Implikationen der Delinquenz bei der Frage der Schuld zu berücksichtigen. Die am Evangeliumszuspruch orientierten Seelsorger vertreten zudem ein anderes Sündenverständnis als diejenigen, die die Gesetzesvorhaltung für wesentlich erachten: Nicht mehr die Tat als Verstoß gegen das Gottesgesetz steht im Mittelpunkt, sondern die habituelle Sünde des Menschen, seine sündhafte Existenz vor Gott, die er mit allen Menschen teilt. Diese theologische Einsicht überwand die weitverbreitete moralische Verurteilung des einzelnen Täters als Kategorie der Seelsorge. Hinzu kam das theologische Argument, daß der Delinquent wie der Nicht delinquent auf die Vergebung Gottes angewiesen ist. Damit verbunden wurde die Betonung der Mitverantwortung der Gesellschaft an der spe-
- 158 ziellen Lage der Häftlinge, ihre Sozialschuld, ohne allerdings die Individualschuld zu negieren. Die im 16. und 17. Jahrhundert die Gefangenenseelsorge prägenden Forderungen nach Reue und Buße werden in ihrer zentralen Bedeutung nicht entwertet, allerdings wird die seelsorgerliche Methodik modifiziert: Nicht mehr der gesetzliche Zwang soll motivieren, sondern die Seelsorger vertrauen darauf, daß der Zuspruch der Vergebung den Häftlingen das Defizit an Gnade im bisherigen Leben aufzeigt und sie positiv zur Neuorientierung ihres Lebens bewegt. So läßt sich für die Gefangenenseelsorge des ausgehenden 19.Jahrhunderts nicht mehr die methodische Einheit aufgrund der Nachordnung von Gesetz und Evangelium konstatieren, wie sie noch im 18.Jahrhundert vorherrschte, sondern gerade an der Frage von Gesetz und Evangelium schieden sich zwei Konzeptionen der Seelsorge: Entweder wurde der Evangeliumszuspruch mit tröstender Funktion nachgeordnet oder aber als Motiv und Inhalt aller seelsorgerlichen Bemühungen definiert. Das Gespräch zwischen Geistlichem und Häftling, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vornehmlich als Beichtgespräch und Ringen um die Sündenerkenntnis des Pastoranden angelegt war, wandelt sich zu einem Gespräch, in dem die individuelle Problematik des Pastoranden im Mittelpunkt steht. Die Seelsorge hatte im ausgehenden 19.Jahrhundert nicht mehr den alleinigen Zweck, den Häftling als Sünder vor Gott zu stellen, um von dem Sündenbekenntnis zur Bitte um die göttliche Gnade zu führen, sondern war wesentlich darauf ausgerichtet, aus der Neubegründung des Gottesverhältnisses eine Neuorientierung der Lebensbezüge des Häftlings zu erarbeiten, die aufgrund neuer Sinnsetzungen ein nichtdelinquentes, an christlichen Maßstäben orientiertes Leben ermöglichen sollte. Der Ansatz, dem Gefangenen eine neue Lebensorientierung zu geben - auf diese kurze Formel läßt sich der Begriff der Besserung für den Bereich der Gefangenenseelsorge bringen - , bildete sich erst mit der Einführung der Freiheitsstrafe als Regelstrafe aus. Die Einzelhaft gab den Seelsorgern die Gelegenheit, über einen längeren Zeitraum hinweg mit den Gefangenen einen Kontakt aufzubauen und die spezielle Seelsorge durch die allgemeine zu begleiten. Die Kirchenordnungen kannten weder ausführlichen Unterricht noch Gottesdienst für die Delinquenten. Erstmals in der Celler Zuchthausordnung wurde mit ausgeführten Bestimmungen der Aufgabenbereich des Gefängnisgeistlichen erweitert. Im 19. Jahrhundert schließlich werden die pastoralen, homiletischen und katechetischen Aufgaben der Seelsorger unter dem Aspekt der Besserung koordiniert: Die drei Tätigkeitsfelder wirken zusammen, um dem Gefangenen Material und Denkanstöße zu einer neuen sittlichen Lebenshaltung zu geben. Mit der Erweiterung des Aufgabenbereichs war zugleich eine Übernahme von pädagogischen Aufgaben in der Gefangenenseelsorge verbunden, die die Diskussion aufkommen ließ, auf welche Ziele hin die seelsorgerlichen Besserungsbemühungen ausgerichtet werden sollten. Die Institutionali-
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sierung der Gefangenenseelsorge brachte die Gefahr mit sich, daß die Seelsorger so stark in die Vollzugsorganisation integriert wurden, daß sie erzieherische Aufgaben im Interesse des staatlichen Strafvollzugs übernahmen und damit ihr poimenisches Handeln im weiten Sinne als Erziehung zur Gesetzesanpassung der Inhaftierten ausrichteten. Gefördert wurde diese Entwicklungstendenz durch die theologische Prämisse der Ausprägung des göttlichen Rechtswillens im staatlichen Strafen. So läßt sich die erste Ausgangsthese dieser Untersuchung, daß die Entwicklung der Gefangenenseelsorge in enger Wechselbeziehung zur Entwicklung des Strafvollzuges steht - diese Erkenntnis läßt sich analog umkehren - , für die Gefangenenseelsorge des 19. Jahrhunderts als bewiesen ansehen. Denn in den Ausführungen vieler Gefängnisseelsorger wurde deutlich, daß die Differenzierung von staatlichen Besserungsvorstellungen, die auf die Gesetzeserfüllung ausgerichtet waren, und einer theologisch motivierten Besserung als neue Sinngebung aus christlichen Inhalten, nicht durchgehalten, sondern die Neubegründung des Gottesverhältnisses als erster Schritt eines gesetzeskonformen Verhaltens der zu bessernden Häftlinge interpretiert worden ist. Damit war die Eigenständigkeit der Aufgaben der Seelsorge weitestgehend aufgegeben worden. Dieser Prozeß wird signifikant an der positiven Haltung der Seelsorger zur Einzelhaftstrafe, die ihnen die Gelegenheit bot, intensiv auf den Häftling einzuwirken. Die Isolation und der Leidensdruck des Gefangenen in seiner Einzelzelle wurden zum Ansatzpunkt genommen, um ihm die Rechtmäßigkeit seines Leidens aufgrund der von ihm begangenen Straftaten zu verdeutlichen als Ausdruck des göttlichen Zornes über seine Verstöße gegen die Rechtsordnung. Wie die Einführung der Freiheitsstrafe die Entwicklung des Gefängnisgottesdienstes und des Religionsunterrichts gefördert hat, so war die Einführung der Zellenhaft die Grundlage für die intensive Ausrichtung des seelsorgerlichen Gesprächs. Obwohl Wichern versucht hatte, die Eigenständigkeit der seelsorgerlichen Einwirkung neben der staatlichen Strafe bestehen zu lassen, wurde dieser Ansatz kaum aufgenommen, um den Häftling in der Einzelhaft mit seinen Problemen in den Mittelpunkt der Gefangenenseelsorge zu stellen, sondern die Gefangenenseelsorger fühlten sich mitverantwortlich, den Besserungszweck des Einzelhaftvollzuges zu erfüllen. Sie orientierten sich damit wesentlich an den staatlichen Vollzugszielen und nicht an der individuellen Problematik des Häftlings. Erst von Rohden bemühte sich später, den Wichernschen Ansatz zu realisieren, staatlichen Vollzug und Seelsorgeverfahren zu trennen. Es ist also eine Entwicklung innerhalb der Gefangenenseelsorge in der Zeit ihrer Institutionalisierung zu konstatieren, die von Fliedners und Wicherns Ansätzen ausgehend als Phase der Parallelität von staatlichen
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und seelsorgerlichen Zielsetzungen im Vollzug gekennzeichnet ist und eine weitgehende Integration des kirchlichen Handelns in staatliche Zielvorstellungen beinhaltet. Gegen Ende des 19. J a h r h u n d e r t s bildet sich die Gegenbewegung h e r a u s , diese Verbindung wieder zu lösen, um die Eigenständigkeit der Gefangenenseelsorge zu betonen als Sorge um das Individuum, das u n t e r dem Zwang des Vollzuges leidet.
4. Die Entwicklung des Strafvollzugswesens und der Gefangenenseelsorge von 1918 bis 1933
4.1 Das Strafvollzugswesen
4 . 1 . 1 Grundstrukturen der Vollzugsgestaltung nach 1918 Die Ansätze zu einer spezialpräventiven Ausrichtung des Strafvollzuges gewinnen nach 1900 an Bedeutung. Der Mensch als Täter und Objekt des Strafvollzuges, seine sozialen Bezüge und psychischen Bedingungen werden in die Überlegungen zur Gestaltung des Vollzugswesens einbezogen. Die Strafe bleibt zwar noch vorrangig Vergeltung f ü r die Straftat und ein Zwangsmittel der zu schützenden Gesellschaft, wird aber s t ä r k e r kont u r i e r t in Richtung auf die Behandlung des Täters, der ihn sozial i n t e r aktionsfähig machen und in die Gesellschaft mit dem ihr zugrundeliegenden Rechtsgefüge einordnen soll. Die soziale Problematik nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, v e r b u n den mit der hohen Kriminalitätsrate, die nicht zuletzt eine Ursache in der anwachsenden Jugendverwahrlosung f a n d , machte es evident, daß keine Reform des Vollzugswesens von den sozialen Implikationen der Verbrechensgenese abstrahieren konnte: "Als 'riesenhafte Milieuverschiebung mit ebenso riesenhaften kriminellen Folgen' (Exner) hatte der Krieg 'die denkbar s t ä r k s t e Bestätigung d a f ü r ' gegeben, 'welch überwiegenden Einfluß die äußeren Verhältnisse, die ökonomischen Bedingungen, kurz gesagt, das Milieu auf die Verbrechensentwicklung haben' ( E x n e r ) . Eine Strafrechtsreform nach sozialen Gesichtspunkten mußte als unabweislich erscheinen"!. Neben den in der Tradition von Liszts stehenden soziologisch orientierten innovatorischen Ansätzen im Strafrecht trat ein pragmatischer Aspekt in die Diskussion: Das nach dem Krieg verarmte Deutschland konnte es sich nicht leisten, einen Strafvollzug zu institutionalisieren, "der seine Aufgabe ausschließlich in der E i n s p e r r u n g sieht und nicht auf die Verminderung des Verbrechens hinwirkt" 2 . Von daher erschien es sozialpolitisch als nicht mehr v e r t r e t b a r , Strafe als ein der Tat adäquates Übel zu i n t e r p r e t i e r e n . Das war ein Prinzip, dessen Unwirksamkeit historisch als erwiesen gelten konnte. Man begann, den Strafvollzug als
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Bestandteil der Sozialpolitik zu v e r s t e h e n . In den J a h r e n 1918- 1933 stand die Strafvollzugsreformdebatte u n t e r dem Schlagwort des "Erziehungsstrafvollzuges"3, ohne allerdings vor der Machtübernahme d u r c h den Nationalsozialismus zu grundlegenden Gesetzeswerken zur Neuorientierung des Vollzugswesens gekommen zu sein.
4.1.2 Die soziologisch orientierte Neugestaltung des S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s und ihre Konsequenzen f ü r den Strafvollzug Die beiden S t r a f r e c h t s l e h r e r Merkel und von Hippel hatten sich bemüht, den die J a h r h u n d e r t e ü b e r d a u e r n d e n Schulenstreit innerhalb der d e u t schen Strafrechtswissenschaft mit der Schaffung der sogenannten "Vereinigungstheorie" zu beenden, die die Ansätze der absoluten und relativen Theorien zu verbinden t r a c h t e t e , um eine "zutreffende Würdigung aller wesentlichen Gesichtspunkte"^ der Verbrechensbekämpfung und - g e n e s e zu erreichen: Die Strafe sollte als S t r a f a n d r o h u n g und im S t r a f vollzug als "Hemmung gegen das V e r b r e c h e n , Stärken der vom Recht f ü r s c h u t z b e d ü r f t i g gehaltenen Interessen, Arbeit im Dienst der Staatsautorität" wirken, also im spezial- und generalpräventiven Sinne^. Mit dieser Abzweckung wurde die sozialpolitische Aufgabenstellung der Kriminalit ä t s e i n g r e n z u n g v e r b u n d e n . Doch die Vereinigungstheorie konnte sich nicht uneingeschränkt d u r c h s e t z e n , da die Schwerpunktsetzung auf den Erziehungscharakter der Strafe die Frage aufkommen ließ, ob die ü b e r kommenen Strafzwecke der Vergeltung und Sicherung noch anerkannt bleiben sollten. Unübersehbar blieb, daß die Freiheitsstrafe, in welcher Form sie auch vollstreckt w u r d e , eine staatliche Einflußnahme auf die Lebensverhältnisse des Verurteilten bedeutete und damit ein Übel als auferlegtes Leiden beinhaltete. Allerdings sollte dieses Übel des Strafvollzuges auf den Inhaftierten nicht in der Form einwirken, daß ihm psychischer oder p h y sischer Schaden zugefügt w u r d e . Die Abwehr d e r a r t i g e r Schäden und d a r ü b e r hinaus die Besserung des Häftlings wurde als wesentliche Aufgabe des modernen Strafvollzuges herausgestellt. Der Begriff der Bess e r u n g ist nach Weissenrieder daher so auszulegen, daß das Sozialverhalten im Vollzug gefördert wird; allerdings mit der Einschränkung, daß die Interessen d e r Gesellschaft "an der zeitweiligen oder dauernden Unschädlichmachung des Verurteilten und an der in jeder Strafe liegenden Warnung" den Gedanken der Besserung im Strafrecht begrenzen**, Nebenzwecke also Berücksichtigung finden sollten. Für eine S t r a f g e s e t z g e b u n g , die auf dem Prinzip der Gerechtigkeit f u ß t , ist es nach Schulze und Ellger notwendig, an der Schuld und der Verantwortlichkeit des Täters festzuhalten, so daß in jeder Strafe eine "sittliche Mißbilligung einer Tat oder einer Unterlassung" zu sehen i s t . Die-
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se Mißbilligung findet ihren Ausdruck in der Verurteilung zur Freiheitss t r a f e als eines Übels. Zum Prinzip der Gerechtigkeit gehört aber auch, daß einerseits das Strafübel nicht größer ist als unbedingt erforderlich, andererseits aber nicht so gering ausfallen d a r f , daß es nicht mehr vom Täter empfunden wird und die Relation zur Größe der Straftat v e r l i e r t , denn "den Charakter des Übels muß die Strafe stets haben, denn ohne diesen würde die gerichtliche Ahndung keine Strafe mehr sein" 7 . So bleibt der Vergeltungsaspekt auch in der Diskussion der S t r a f r e c h t ler in den 20er J a h r e n erhalten, findet aber eine Neuinterpretation in der Forderung der Gerechtigkeit im Rechtsausgleich f ü r eine begangene Rechtsverletzung als ein Element des finalorientierten S t r a f v e r s t ä n d nisses. Die traditionelle Interpretation des Vergeltungsbegriffs als Vers c h ä r f u n g der Haft findet ihre Verurteilung d u r c h Liepmann, der die rächende Vergeltung als "durchaus unsittliches Prinzip" ansieht, das eine "schwere Schädigung f ü r die Gesellschaft, eine lebendige Keimkraft f ü r Rückfälle und Vernichtung wertvoller menschlicher Eigenschaften"^ beinhaltet. Ebenso wird das dem Vergeltungsgedanken korrelierende Sühneprinzip in der Diskussion um die Neuordnung des Strafwesens abgewiesen, denn der sowohl religiös als auch juristisch belegte Begriff der Sühne widerspricht der rein säkularen Grundlegung des positiven S t r a f r e c h t s und erscheint von daher nicht mehr als t r a d i e r b a r : "Wir wissen h e u t e , daß u n s e r e Justiz nicht mehr das Recht h a t , sich als Vollstreckerin des göttlichen Willens zu f ü h l e n , daß sie die Verantwortung f ü r ihre Maßnahmen auf die eigenen menschlichen Schultern zu nehmen h a t . Damit ist aber der Zusammenhang zu jeder religiösen Grundlage vollkommen zerrissen und dem Strafrecht die legitimation genommen, sich auf Vergeltung zu b e r u fen" 9 . Diese Absagen an ein absolutes S t r a f v e r s t ä n d n i s zeigen deutlich, daß die Debatte nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich an der Auslegung relativer Straftheorien interessiert i s t . Eine gewisse generalpräventive Abzweckung der Sanktionen wird als notwendig angesehen, um das Bewußtsein der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes in der Bevölkerung zu erhalten, doch soll die abschreckende Wirkung der S t r a f a n d r o h u n g nicht "auf der Grausamkeit der Strafe" b e r u h e n , sondern in der allgemein bestehenden Überzeugung, "daß kein Rechtsbrecher seiner gerechten Strafe zu entgehen vermag"·'·'·', Die Rücksicht auf die Persönlichkeit des Täters, der im Mittelpunkt der Überlegungen zum Strafverständnis steht, und die hohe Einschätzung seiner psychologischen und sozialen Situation läßt den s p e zialpräventiven Ansätzen große Bedeutung zukommen: Dem Zweck der Verbrechensbekämpfung kann nach v o r h e r r s c h e n d e r Meinung die Strafe adäquat dienen, indem sie auf den einzelnen Rechtsbrecher Einfluß nimmt und bestimmte Wirkungen in ihm h e r v o r r u f t . Nicht mehr die Straftat allein dient zur Bemessung der Strafe und zur Beurteilung des Tatbestandes,
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sondern wesentlich ist die Persönlichkeit des Täters in Betracht zu zieh e n , so daß Besserung und Erziehung Vorrang haben vor Sicherung und Unschädlichmachung des S t r a f t ä t e r s . Pointiert gibt Liepmann die b e h e r r s c h e n d e Tendenz der S t r a f r e c h t s w i s senschaft der 20er Jahre in seiner These wieder: "Die Freiheitsstrafe hat also n u r da einen Sinn, wo ein erzieherischer Einfluß auf den Gefangenen ausgeübt werden soll"H. Es hat damit eine Umorientierung des S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s s t a t t g e f u n d e n . Während Wichern dem Besser u n g s g e d a n k e n als Nebenzweck der vergeltenden Strafe Bestand gegeben h a t t e , ist er nun als wesentlicher Strafzweck a n e r k a n n t . Verbunden wurde der Erziehungs- und Besserungsgedanke mit der Tendenz, der Individualisierung in der Täterbehandlung weiten Raum zu geben. Gestützt wurden die a u f g e f ü h r t e n strafrechtsdogmatischen Überlegungen mit i h r e r Relativierung und Ablehnung der überkommenen S t r a f theorien d u r c h die besonders von Mittermaier v e r t r e t e n e psychologische Betrachtung der Strafrechtsproblematik. Er geht davon aus, daß es im Strafrecht auf eine "geistige Beeinflussung der Menschen ankommt" , die n u r dann Erfolg v e r s p r e c h e n k a n n , "wenn sie beachtet, wie die Menschen denken und fühlen und d u r c h was sie seelisch beeinflußt w e r d e n " ! ^ . Die kriminalpsychologische Betrachtung v e r s u c h t demgemäß, die Straftheorien auf ihre Tragfähigkeit hin zu u n t e r s u c h e n . Grundsätzlich scheint Mittermaier der Satz, daß Strafe ein gewolltes Übel sein müsse, in seiner Berechtigung u n h a l t b a r , denn aus der Sicht der psychologischen Effektivität können die absoluten Theorien (Genugt u u n g , Vergeltung, Sühne) als überholt gelten, während sich die "utilitaristisch-rationalistischen"13 relativen Theorien als psychologisch besser v e r a n k e r t erweisen. Seine Untersuchung der "alten Straftheorien" f ü h r t Mittermaier zu dem Ergebnis i h r e r Unbrauchbarkeit f ü r den modernen Strafvollzug, da sie "alle . . . mehr oder weniger ideal erdacht und auf höchst einfach k o n s t r u i e r t e Idealmenschen zugeschitten" s i n d . Von daher plädiert er f ü r eine empirisch ausgerichtete und Effektivität v e r s p r e c h e n d e Neugründung des Strafwesens, die, um den Zweck der Besserung zu bewirken, den Gefangenen größte Freiheiten einräumen muß, die die bisherigen Organisationsformen und Ideale der Sanktionssysteme s p r e n g e n müssen. Seine F o r d e r u n g läuft auf eine "Individualisierung der Strafe" und eine "psychologisch immer besser e Ausgestaltung des Strafvollzuges" 1 4 hinaus. Obwohl er konzediert, daß eine individuelle E r f a s s u n g des S t r a f t ä t e r s mit großen Problemen organisatorischer Art v e r b u n d e n i s t , scheint ihm eine Neuorientierung schon bei zu erwartenden kleinen Fortschritten in der Verbrechensbekämpfung zu r e c h t f e r t i g e n zu sein. Einen vergleichbaren lernpsychologisch orientierten Ansatz v e r t r i t t auch Liepmann als Grundlage seiner Überlegungen zur Ausrichtung der Erziehungsmethodik im Strafvollzug. Er unterscheidet zwei Methoden der Erziehung: Die 'repressive Methode', die mit äußerem Zwang auf die sittli-
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chen Kategorien des Täters ändernd einwirken will, erreicht freilich n u r , daß die psychische S t r u k t u r des Gefangenen von ihm selbst nach außen hin verschleiert wird, da er sich u n t e r ständiger Kontrolle befindet und sich dem Befehlsmechanismus der Anstaltsordung akkommodiert. Je s t ä r k e r e r Repression sich die Häftlinge g e g e n ü b e r s e h e n , desto größer wird der Druck i h r e r unbefriedigten Emotionen, und die schon vorhandenen Verhaltensschwierigkeiten werden d u r c h den Vollzug noch gesteigert. Die bisherigen Vollzugsmaximen, in der Anstalt Ruhe und O r d n u n g als höchste Disziplinarmittel zu bewahren, konnten von daher keineswegs dazu f ü h r e n , daß die Häftlinge "soziales Verhalten f ü r das Leben in der Freiheit" lernten und damit die Basis f ü r ein nichtdelinquentes Leben gelegt wurde. Deshalb gipfeln Liepmanns Überlegungen in der Forderung: "Der Weg, der dem Gefängnis der Zukunft vorgeschrieben i s t , hat anzuk n ü p f e n an die allgemeinen Ergebnisse der Pädagogik und die alten e r folglosen Sicherungen und Zwangsbeeinflussungen zu v e r l a s s e n " 1 5 . Dementsprechend entwickelt Liepmann das Modell einer "konstruktiven, von innen heraus aufbauenden Methode", die sich auf eine genaue Analyse der psychischen, physischen und sozialen Befindlichkeit des Delinquenten stützt und seine individuelle Problematik zu e r f a s s e n und ihre Genese aufzuarbeiten s u c h t . Der Häftling soll zu Eigenverantwortlichkeit und Eigenständigkeit g e f ü h r t werden, um im Erziehungsprozeß - hier lehnt sich Liepmann an Hermann Nohl an - "Interesse, Vertrauen und Bindung aus dem Material seiner Triebkräfte und Neigungen zu gewinnen und 'höheren Zielen und sozialen Zwecken dienstbar zu machen'"·''®. Die Gedanken eines rein zweckgerichteten Strafvollzuges setzten sich in Deutschland a u f g r u n d der parallellaufenden Umorientierung auf dem Gebiet des S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s schnell d u r c h . Die Reformbewegung nach dem Ersten Weltkrieg stimmte prinzipiell darin ü b e r e i n , "den Strafvollzug als Ganzes im Sinne der Erziehung systematisch auszugestalten und d u r c h z u f ü h r e n " 1 7 . Über das "daß" der pädagogischen Ausrichtung der Haft bestand u n t e r den Vollzugstheoretikern Einigkeit, während die Diskussion über das Ziel der Erziehung im Strafvollzug noch offen war: Es war umstritten, ob die Erziehungsarbeit an den Häftlingen n u r ihr äußeres Verhalten v e r ä n d e r n sollte im Sinne einer Anpassung an gesetzliche Normen, oder ob sie darauf ausgerichtet werden sollte, auch seine sittlichen Wertvorstellungen zu modifizieren, also eine ethische Ausricht u n g verfolgen sollte. Heß v e r t r i t t die Position, daß es allein die Aufgabe des Staates sei, f ü r die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung Sorge zu t r a g e n . Deswegen wird im Namen der Rechtsgemeinschaft eine Strafe gegen den a u s g e s p r o chen, der ihren Grundlagen zuwider gehandelt und fremde Rechtsgüter verletzt hat. Will der Staat aber den Täter während des Strafvollzuges b e s s e r n , "so kann es ihm daher entscheidend n u r auf die Erziehung zur Legalität ankommen. Hat er dieses Ziel e r r e i c h t , so hat er seine Aufgabe erfüllt" 1 ®. Das staatliche Erziehungsziel, "daß das äußere Verhalten mit
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den geltenden Rechtsnormen in Einklang steht"19, ist nach Heß nicht d u r c h moralische Einwirkung auf den Häftling zu e r r e i c h e n , sondern über Gewöhnung an O r d n u n g , Arbeit und das Befolgen von Vorschriften und Gesetzen schon während des Vollzuges. Heß spricht sich also f ü r eine fremdbestimmte Veränderung des Straftäters a u s , die den Char a k t e r einer Disziplinierung t r ä g t und aufgezwungen wird; er negiert damit die B e s t r e b u n g e n , den Vollzug nach psychologischen und pädagogischen Aspekten effektiver zu gestalten. Demgegenüber v e r t r i t t Frede die Überzeugung, die in der weiteren Reformdebatte dominieren wird, daß ohne Berücksichtigung der Motivation des Häftlings keine Veränderung seiner Einstellungen zu erwarten ist: "Wir d ü r f e n auf jeden Fall die erzieherische Arbeit nicht n u r von außen an den Gefangenen h e r a n b r i n g e n , sondern müssen v e r s u c h e n , an seine i n n e r s t e n , geistigen und seelischen Kräfte heranzukommen" 2 *). Einen ähnlichen Ansatz v e r t r i t t auch Koch, der sich d a f ü r a u s s p r i c h t , bei jedem einzelnen S t r a f t ä t e r zu u n t e r s u c h e n , aus welchen sozialen und p s y chischen "Mängeln" die Delinquenz zu erklären i s t , und dementsprechend die geeigneten Mittel zu e r u i e r e n , "die Rechtsbrecher der Freiheit so wiederzugeben, daß sie nicht wieder gegen die Gesetze verstoßen". Den Begriff der Erziehung v e r s t e h t Koch als "die Auslösung der Kräfte in dem Gefangenen, die es ihm ermöglichen, im Sinne einer sozialen Lebensführ u n g selbständig zu d e n k e n , zu e r k e n n e n , zu wollen und zu handeln" 2 ^. Das Hinführen der Delinquenten zu einer selbstverantwortlichen Lebenshaltung erscheint notwendig, da Koch als Hauptursache i h r e r Delinquenz die Unfähigkeit ansieht, sich selbst und ihre T r i e b s t r u k t u r e n zu s t e u e r n und eigenständige Wertvorstellungen zu entwickeln, die es ihnen möglich machen w ü r d e n , das eigene Leben zu s t r u k t u r i e r e n . Deshalb muß es die Aufgabe des Strafvollzuges sein, den Willen des Häftlings zu s t ä r k e n und nicht u n t e r Prinzipien zu b e u g e n . Nur so erscheint es möglich, dem Ziel aller Reformbestrebungen auf dem Gebiet des Strafvollzuges näherzukommen: der "Verhinderung der Rückfälligkeit und die Wiedergewinnung der Rechtsbrecher f ü r die bürgerliche Gemeinschaft" 2 2 . Unter dem Aspekt der Selbstverantwortlichkeit erscheint es als u n v e r antwortlich, daß im herkömmlichen Strafvollzug den Häftlingen die Gefahr d r o h t , u n t e r dem Druck der Disziplin und der Eintönigkeit der Haftbedingungen emotional und intellektuell völlig abzustumpfen. Infolgedessen muß nach Frede der reformierte Strafvollzug "die ganze Erziehungsarbeit vom Beginn des Strafvollzugs an nicht allein darauf zielen, die geistigen und seelischen Kräfte des Gefangenen davor zu bewahren, immer stumpfer zu werden; sie muß vielmehr darauf gerichtet sein, sie zu heben und zu pflegen" 2 ^. Die Diskussion um die Ausgestaltung des Erziehungsvollzuges läuft also gegen die Vorstellungen von Heß darauf hinaus, nicht n u r v e r h a l t e n s ändernd wirken zu wollen, sondern eine Entwicklung auch der intellektuellen und emotionalen Kräfte des S t r a f t ä t e r s zu initiieren. Unter diesem
- 167 Gesichtspunkt werden auch Untericht und Arbeit als Erziehungsmittel in der Haft eingesetzt. War der Unterricht im bisherigen Vollzugssystem darauf ausgerichtet, den Gefangenen Schulwissen anzueignen oder die schon vorhandenen Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen und darüber hinaus berufliche Grundkenntnisse zu bieten, so setzt sich Frede nun aufgrund seiner Vorüberlegungen dafür ein, die Strafanstaltsschule zu einer "Erziehungsschule" umzugestalten, die allgemein der Erweiterung und Förderung der "geistigen Kräfte" dienen soll. Das Unterrichtsziel sollte darin bestehen, in den Häftlingen den Willen zu einer geordneten Lebensführung zu wecken und zu bestärken: "Hier wird also der Unterricht ganz bewußt und bestimmt der Aufgabe des Strafvollzugs, den Gefangenen 'an die Erfordernisse des bürgerlichen Lebens anzupassen' (v.Liszt), dienstbar gemacht"24. Ähnliches gilt für die andere Grundlage des modernen Vollzuges, die Arbeit der Gefangenen. Sie sollte nach Koch nicht mehr darauf abgestellt sein, nur die Arbeitskraft der Häftlinge auszunützen, sondern sollte von sozialen Gesichtspunkten her verstanden werden als eines "der wirksamsten Mittel, das der Erhaltung des geistigen Gleichgewichts und der körperlichen Gesundheit der Gefangenen dient und sie bei pädagogischer und zweckmäßiger Anwendung befähigt, nach ihrer Strafverbüßung im wirtschaftlichen Wettbewerb des freien Lebens gerüstet zu sein". Im Arbeitsprozeß soll die Willenskraft des Häftlings durch die Freude an der produktiven und sinnvollen Tätigkeit gestärkt und somit auf nützliche Ziele gelenkt werden. Die Arbeit bildet einen Faktor im Erziehungsprozeß des Gefangenen, "weil sie ihm zeigt, daß er kein unnützes Mitglied der Gesellschaft ist, sondern Werte für sie s c h a f f t . . . Die Arbeit im Gefängnis schlägt so eine kräftige Brücke zur freien Gesellschaft zurück"25. Und darauf ist der Vollzug letztendlich auszurichten: Den Gefangenen das Bewußtsein zu geben, daß es für sie sinnvoll und nützlich ist, am Bestand der Gesellschaft mitzuarbeiten und daß sie sich mit den geltenden Rechtsnormen identifizieren, die sie bisher nicht anerkennen konnten oder wollten. Aber dieses Ziel ist ohne die Mitarbeit der Gesellschaft, die schließlich Mitschuld an der Delinquenz trägt, auf lange Sicht nicht zu erreichen, denn die Reintegration in die Gesellschaft vollzieht sich nicht automatisch mit der Strafverbüßung. Nach der Entlassung ergeben sich soziale Aufgaben, die die Rechtsgemeinschaft zu erfüllen hat, um nicht die Erziehungsarbeit des Vollzuges wirkungslos werden zu lassen. Es ist unabdingbar, den Entlassenen "in feste und geordnete Verhältnisse zu bringen, ihm Arbeit zu verschaffen und ihn nicht wieder scheitern zu lassen an der Einstellung der Gesellschaft, durch deren Mitschuld er schon einmal gestrauchelt ist" 2 ®. An diesen Ausführungen Kochs wird deutlich, daß es trotz fast hundertjähriger Bemühungen nicht gelungen ist, die öffentliche Meinung gegenüber Strafgefangenen und Entlassenen zu verändern, vielmehr die ablehnende Haltung der breiten Öffentlichkeit ein wesentliches Hindernis zu einer effektiveren Gestaltung des Strafwesens geblieben ist.
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Im Anschluß an den Überblick über die Diskussion um die Reform des Strafvollzuges soll nun untersucht werden, in welcher Form die Reformgedanken in die Gesetze und Verordnungen zum Strafvollzug eingegangen sind und damit die Basis der Vollzugspraxis modifiziert haben.
4 . 1 . 3 Neuansätze auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Strafvollzugsordnung Im Rahmen der politischen und sozialen Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg galt auch die Reform des bestehenden Strafrechts als eine wesentliche Aufgabe des Gesetzgebers: Die Idee der spezialpräventiven Resozialisierung, die die Diskussion der Strafrechtler weitestgehend bestimmte, sollte in den Gesetzeskorpus aufgenommen werden, was zugleich eine Umwandlung des Grundcharakters des überkommenen Strafrechts erforderte. Die liberale Strafauffassung des 19. Jahrhunderts sollte abgelöst werden von einem Strafrecht, das vorrangig an der sozialen Orientierung des Strafverständnisses ausgerichtet war. So bekundete ein 1921 veröffentlichter Reformentwurf eines Expertengremiums den Willen der Reichsregierung zu einer "Totalreform des Strafrechts". Der im Jahre 1922 vom Reichsjustizminister Radbruch vorgelegte Reformentwurf, der konsequent die sozialpolitische Ausrichtung des Strafrechts betonte, beinhaltete zwei bemerkenswerte Eigenheiten: Die Abschaffung der "Todesstrafe" und der "Zuchthausstrafe, . . . u n d zugleich mit ihr aller der Resozialisierung hinderlichen Ehrenstrafen"^^. Die innenpolitischen Schwierigkeiten und die gespannte Wirtschaftslage führten dazu, daß die Reform ins Stocken geriet. Radbruchs Entwurf wurde erst 1924 beraten und tiefgreifend verändert, was besonders die markanten Reformpunkte betraf. Erst 1925 wurde der erste "amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches" dem Reichsrat zur Begutachtung zugeleitet, der die "Besserungstheorie" legislativ aufnahm. Nach eingehenden Beratungen und Überarbeitungen wurde am 14.5.1927 ein erneuter Entwurf dem Parlament vorgestellt, der auf der "Zweispurigkeit der Verbrechensbekämpfungsmittel: Strafen und sichernde Maßnahnen" basierte. Allerdings gelang es nicht, abgesehen von einigen Gesetzesänderungen eine grundlegende Neuordnung des Strafgesetzkorpus im Parlament durchzubringen. Ein letzter Versuch scheiterte 1930 an dem Widerspruch der radikalen Parteien, die deutlich ihren Unwillen zeigten, die Reform auf dem vorgezeichneten Wege durchzuführen. Und so zeichnete sich ab, daß mit dem Ende der Weimarer Republik auch das Ende der Strafrechtsreformbemühungen gekommen war, die "sozialen Geist und rechtsstaatliches Denken, kriminalpolitische Zweckmäßigkeit und staatsbürgerliche Rechtssicherheit zu vereinigen" bestrebt gewesen waren.
- 169 Die bruchstückhaften Veränderungen des Strafrechts nach dem Weltkrieg sind nach Schmidt dadurch gekennzeichnet, daß Einzelfragen aufgegriffen worden sind, deren gesetzliche Lösungen auf eine Milderung des Strafrechts hinausliefen, ohne allerdings so weit zu gehen, wie es die allgemeine Reformdiskussion gefordert hatte. Eine grundlegende Reform war also politisch nicht durchsetzbar, die vorgenommenen Verbesserungen führten nicht zu dem Ergebnis, die Kriminalitätsrate wesentlich zu verändern: Ein Hauptargument der Nationalsozialisten, nach ihrer Machtergreifung die Reformen und die dahinterstehende Diskussion völlig zu negieren. Ein bedeutendes Ergebnis der Strafrechtsreformen bleibt allerdings das Jugendgerichtsgesetz vom 16.Februar 1923. Darin wurden die Ansätze von Liszts aufgenommen, der anhand von statistischen Erhebungen nachgewiesen hatte, daß die wachsende Kriminalitätsrate ursächlich mit der steigenden Delinquenz und Rückfälligkeitsquote jugendlicher Straftäter in Zusammenhang stand. Um die Entwicklung vom jugendlichen Rechtsbrecher zum Gewohnheitsverbrecher zu unterbinden, sollte nach seiner Ansicht eine verstärkte Einflußnahme unter erzieherischer Ausrichtung in einem speziellen Jugendstrafvollzug geleistet w e r d e n ^ . Das Jugendgerichtsgesetz war dementsprechend darauf ausgerichtet, den Jugendlichen nicht mehr nach dem Tatvergeltungsrecht des Erwachsenenvollzuges zu behandeln, sondern die Jugendkriminalität mit sozialpädagogischen Mitteln zu bekämpfen. Das Strafmündigkeitsalter wurde auf 14 Jahre heraufgesetzt und der Vollzug der Strafen ganz unter den Erziehungsgedanken gestellt. Der Jugendvollzug wurde nicht mehr als Tatäquivalent verstanden, sondern als ein Mittel, den Jugendlichen auf eine sozial verantwortungsbewußte Lebenshaltung hin zu erziehen, wenn alle vorher möglichen, die Strafe ersetzenden Erziehungsmaßregeln versagt haben. Das Jugendgerichtsgesetz ist damit als einziger Gesetzesblock anzusehen, der die Bemühungen um einen Erziehungsstrafvollzug aufgenommen und damit die Konsequenzen aus der Diskussion um inhaltliche Neubegründung des Strafwesens und der Strafe gezogen h a t ^ . Wesentlich stärker als im Strafrecht konnte die pädagogische und soziale Ausrichtung der Strafe auf dem Gebiet des Strafvollzuges, der nicht auf gesetzlicher, sondern auf ordnungsrechtlicher Basis organisiert war, Platz greifen. Die "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen"^ vom 7. Juni 1923 waren als Leitlinie zur Neuorientierung des Strafvollzuges gedacht, die die Justizhoheit der Länder nicht antastete, aber auf Reichsebene einen Orientierungsrahmen abgeben konnte, aufgrund dessen die Länder ihre Dienst- und Vollzugsordnungen entwickeln sollten. Die Grundsätze von 1923 zeichnen sich dadurch aus, daß sie darauf abgestellt sind, die Problematik des Strafvollzuges aufzuarbeiten und alle bestehenden Bestimmungen einer Revision zu unterziehen. Eine allgemeine Zielangabe der Vollzugsreform beinhaltet der § 48: "Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist,
- 170 an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden, daß sie nicht wieder rückfällig werden"31. Damit war das Reformziel des Strafvollzuges deutlich umschrieben und "der Erziehungs- und Besserungsgedanke als beherrschendes Prinzip im Vollzuge der Freiheitsstrafen anerkannt"32_ Diese Tatsache läßt sich noch durch die Feststellung untermauern, daß sich alle auf den Grundsätzen aufbauenden Dienstund Vollzugsordnungen der Länder an dem Prinzip des Erziehungsstrafvollzuges ausrichten. Allein die Dienst- und Vollzugsordnungen Preußens und Bayerns betonen noch den in den Grundsätzen nicht mehr vorhandenen "Vergeltungszweck der S t r a f e " ^ , räumen ihm aber nur eine nebengeordnete Bedeutung für den Vollzug ein. Das Hauptgewicht wird in allen Ordnungen darauf gelegt, die Gefangenen "zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung" zu erziehen, sie " g e b e s s e r t . . . und sittlich gefestigt" auf den Wiedereintritt in die Gesellschaft vorzubereiten und in ihnen den festen Willen "zu einem rechtschaffenen Leben nach der Entlassung" zu begründen. Speziell die moralische Komponente des Erziehungsvollzuges wird in der Hamburger Dienst- und Vollzugsordnung betont, die als Vollzugsziel fordert, daß der Entlassene "ein besserer Mensch" ist, "als er es vor seiner Haft war"34. Ein Schematismus in der Gefangenenbehandlung sollte von vornherein ausgeschlossen werden. So gilt als leitendes Prinzip der preußischen Dienst- und Vollzugsordnung, daß die "Ziele des Strafvollzugs mit Ernst und Festigkeit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit unter Berücksichtigung der Persönlichkeit, der Tat und des Vorlebens der Gefangenen zu verfolgen sind"35 und ihr Ehrgefühl zu wahren und zu stärken ist. Soziales Angenommenwerden und Selbstannahme galten als Grundlage für einen aktiven Wiedereingliederungsprozeß des Delinquenten. Abschließend läßt sich festhalten, daß es auf dem Verordnungswege gelungen ist, nach dem Ersten Weltkrieg den Strafvollzug neu im Sinne des Erziehungsstrafvollzuges zu gründen und damit die Abkehr vom Vergeltungsvollzug zu vollziehen.
4 . 1 . 4 Die Haftsysteme des Erziehungsstrafvollzuges Die inhaltliche Umstrukturierung des Freiheitsstrafvollzuges brachte es mit sich, daß die Frage der Haftsysteme neu diskutiert werden mußte. Auffällig ist in dieser Diskussion, daß sich die Hochschätzung der Einzelhaft, wie sie das ausgehende 19.Jahrhundert bestimmt hatte, nicht mehr durchhielt. Bezeichnend schreibt von Michaelis 1921: "Fachleute haben in Wort und Schrift die Einzelhaft gepriesen und dennoch, an der erschreckenden Rückfallziffer, auch schon vor Beginn des Weltkrieges, gemessen, muß ein Lob verstummen"36. Die Idealvorstellungen über die Einzelhaft als einzig geeignetes Sanktionsmittel zur Bekämpfung der steigenden Delinquenz und Rückfälligkeit haben sich nicht erfüllt , die Effek-
- 171 tivität des Vollzuges hatte nach ihrer Einführung nicht zugenommen. Einen Hauptgrund dafür sieht von Michaelis darin, daß die Einzelhaft als "starres System" ohne Rücksicht auf den Täter angeordnet wurde und so zu einem Schematismus führte, der ihrer Zielsetzung zuwiderlief. Damit erschien die Einzelhaft für längere Strafzeiten als ungeeignet, zumal sie unübersehbare soziale Mängel implizierte. Unter sozialen Aspekten artikulierte auch Frede Bedenken gegen die Einzelhaft, die in seinen Augen als Strafmittel versagt hat und dem Anspruch des Erziehungsstrafvollzuges nicht genügen kann, zu "einem vernünftigen Gebrauch der Freiheit" zu führen^?. Die bewachte, isolierende und Eigenverantwortung ausschließende Sondersituation der Einzelhaft bietet nicht die Kommunikations- und Einübungsmöglichkeiten, die zur Erlernung sozialverantwortlichen Handelns notwendig sind, sondern zerstört vorhandene soziale Verhaltensweisen. Soll der Häftling aber zu selbstverantwortlichem Gebrauch der Freiheit erzogen werden, so müssen ihm schon während des Vollzuges Freiheiten gewährt werden, die den Einzelhaftvollzug aufheben. In dieser Intention hatte schon von Michaelis gefordert , die Einzelhaft mit "ausgewählter Mehrheitshaft"38 organisch zu verbinden. Die 'Grundsätze' von 1923 nehmen die Forderungen nach einer Durchlässigkeit der Haftsysteme auf. Einzelhaft und Zellenhaft werden vorzugsweise für Ersttäter und nur kurzstrafige Häftlinge angewendet, "bei denen hiervon ein günstiger Einfluß zu erwarten ist"39. Die Gefangenen, die eine längere Strafe zu verbüßen haben, sollten mindestens die e r sten drei Monate in Einzelhaft verbringen, bevor sie in die Gemeinschaftshaft überwiesen werden. In den Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder finden sich entsprechende Bestimmungen, die die Frage der Haftform auch von der Persönlichkeit des Täters abhängig machen. Die Freiheitsstrafe in Einzelhaft wird selten über drei Jahre hinaus angewendet, es sei denn, es sprechen Sicherheitsgründe für eine Isolierung des Täters. Als am weitesten verbreitete Haftform für längerstrafige Häftlinge wird die Gemeinschaftshaft eingesetzt, die mit einer weitgehenden Isolation in Einzel- oder Gemeinschaftszellen bei Nacht gekoppelt wird^O. Die praktische Durchführung der Haft wurde in den einzelnen Ländern unterschiedlich gehandhabt, je nach den vorhandenen Räumlichkeiten und dem Personalbestand. Um die Kommunikation unter den Gefangenen nicht wesentlich einzuschränken, bestimmt der § 127 der 'Grundsätze': "Das Schweigegebot soll nicht weiter ausgedehnt werden, als es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit erforderlich i s t . . ," 4 ·^. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Strafvollzug des 19. Jahrhunderts kann also nach dem Wegfall des Schweigegebots nicht mehr von einem auburnschen System gesprochen werden, da die Kommunikation unter den Gefangenen bewußt als erzieherisches Mittel, wenn auch unter Beaufsichtigung, eingesetzt wurde. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal zum Vollzug des 19. Jahrhunderts dient die Abkehr von militärischen Formen und den damit verbundenen Disziplinierungsmaßnahmen.
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Die Einsicht, daß Erziehung zur Freiheit nicht n u r vermittels eines weniger strengen Vollzuges zu erreichen i s t , f ü h r t e nach dem Kriege zur Einf ü h r u n g eines Haftsystems, das bis dahin nur vereinzelt in Deutschland v e r t r e t e n war und n u n als Folge des Resozialisierungsgedankens auf b r e i t e r Linie die Grundlage des Erziehungsvollzuges bilden sollte: des Stufenstrafvollzuges . Er gründete sich auf Vorbilder des Irischen Gefängnissystems und wurde als Progressionssystem d u r c h Obermaier in Bayern um die Mitte des 1 9 . J a h r h u n d e r t s e i n g e f ü h r t . Das System war auf drei Disziplinierungsklassen mit verschiedener Haftschwere a u f g e b a u t . Spät e r setzte sich besonders von Liszt f ü r diese eine stufenweise Lockerung des Vollzuges beinhaltende S t r a f a r t ein. Eine befriedigende Ausformung fand der Stufenstrafvollzug zuerst im Jugendgefängnis zu Wittlich. Die 'Grundsätze' von 1923 gehen in § 130 auf den Stufenvollzug ein, ohne weitere Ausführungsbestimmungen zu geben. Deutlich war allerdings schon die Korrelation von Stufenvollzug und Erziehungsgedanken: "Bei längeren Strafen ist der Vollzug in Stufen a n z u s t r e b e n , er soll die sittliche Hebung dadurch f ö r d e r n , daß dem Gefangenen Ziele gesetzt werden, die es ihm lohnend erscheinen lassen, seinen Willen anzuspannen oder zu b e h e r r s c h e n " ^ . Als Positivum des Stufenstrafvollzuges wurde in der Diskussion besonders herausgestellt, daß die Gefangenen sich schon während der Haftzeit besser als in den anderen Haftsystemen f ü h r t e n und damit ein e r s t e r Schritt zur B e s s e r u n g der Delinquenten vollzogen sei. Der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes aus dem Jahre 1927 gab dem Stufensystem eine S t r u k t u r , die bis 1933 gültig blieb und den Strafvollzug in den Rahmen eines progressiven Erziehungsprozesses faßte: "An die Willenskraft, die Selbstbeherrschung und das Verantwort u n g s g e f ü h l des Gefangenen sind immer mehr gesteigerte Anforderungen zu stellen, um sein Selbstvertrauen zu stärken und seine guten Anlagen und Fähigkeiten zu f ö r d e r n , ihn sittlich zu heben und ihn so zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben in der Freiheit tauglich zu machen"43. Damit ist auch von gesetzgeberischer Seite der Einzelhaft die Dominanz als Haftsystem abgesprochen worden, das darauf b e r u h t e , den Häftling d u r c h Anregungen zur Selbstreflexion zu einer Neuorientierung seines Sinnsystems und ethischen Wertesystems zu veranlassen. Vielmehr stand nun eine aktive, lerntheoretisch an Fortschritten und sichtbaren Erfolgen ausgerichtete Erziehung der Häftlinge im V o r d e r g r u n d . Durch s t u f e n weise gewährte Vergünstigungen und Milderungen des Vollzuges soll "ein allmählicher Übergang zum Leben in der Freiheit erreicht w e r d e n . . ."44. Parallel zur Gewährung von Freiheiten forderte Strube45 eine individuelle Behandlung des Häftlings, die auf einer gründlichen Diagnose der P e r sönlichkeitsstruktur und der Lebensumstände des Delinquenten basierte und in einen dynamischen Erziehungsplan einmündete. Da nun im S t r a f vollzug als Massenbehandlung Freiheiten nicht individuell gewährt werden können, erscheint der Stufenstrafvollzug als geeignetes Mittel, wenigstens ein Mindestmaß an Korrelation von Individuum und Vollzugsorganismus sicherzustellen*».
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4.1.5 Zusammenfassung: Das Vollzugswesen 1918-1933 Der Besserungsgedanke hat sich nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptaspekt des S t r a f v e r s t ä n d n i s s e s durchgesetzt. Allerdings e r f u h r er gegenüber seiner Formulierung im 19. J a h r h u n d e r t eine wesentliche Modifikation d u r c h die besonders von von Liszt geleistete Einsicht in die sozialen Bedingungen der Delinquenz: Nicht mehr die individuelle Besserung des Einzelnen steht im V o r d e r g r u n d , sondern eine soziale Erziehung zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft. Individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Resozialisierung, die im Grunde die Sozialisierung des Straftäters erst im nachhinein zu liefern h a t t e , wurden aufs engste v e r b u n d e n . Die Verantwortung f ü r die Erziehung der Delinquenten wurde vom Staat übernommen und blieb nicht länger freien Trägerschaften oder der Seelsorge überlassen. Psychologische, soziologische und pädagogische Einsichten wurden zur B e g r ü n d u n g eines Strafvollzuges herangezogen, der den Gefangenen zu einer sozialverantwortlichen Lebenshaltung heranbilden und ihm schon während der Strafzeit Gelegenheit bieten sollte, sein erworbenes sozialverantwortliches Handeln einzuüben. Von daher erschien der S t u f e n strafvollzug als das dem Erziehungsvollzug adäquate Mittel. Die spezialpräventive Betonung des Erziehungszweckes der Strafe f ü h r t e dazu, daß die anderen Strafzwecke, wie Vergeltung und Generalprävention, n u r implizit in der Anwendung der Freiheitsstrafe als Sanktionsmittel enthalten waren. Inwieweit es dem monofinal ausgerichteten S t u f e n s t r a f vollzug gelungen i s t , die von ihm e r h o f f t e n Ziele zu e r r e i c h e n , nämlich die Delinquenz und Rückfälligkeitsrate gegenüber dem Vollzug des 19. J a h r h u n d e r t s zu s e n k e n , läßt sich a u f g r u n d des k u r z e n Zeitraumes seiner Anwendung nicht ü b e r s e h e n . Allerdings ist festzuhalten, daß es in Deutschland zum e r s t e n Mal gelungen i s t , eine grundlegende Reform des Vollzugswesens in Theorie und Praxis d u r c h z u f ü h r e n , die d u r c h die Machtübernahme der Nationalsozialisten gestoppt w u r d e , aber nicht s y stembedingt versagt hat. Weithin undiskutiert bleiben die Fragen, aus welchem Wertsystem heraus die Erziehungsziele formuliert werden sollten, die über eine fremdbestimmte Anpassung an die Gesetzesvorschriften hinausgehen. Eberhard Schmidt nimmt diese Frage auf und beantwortet sie rückblickend auf die Diskussion der 20er J a h r e : "Dem Strafgefangenen gegenüber geht es . . . darum, in ihm jene 'einfache Sittlichkeit' des täglichen Lebens zu erwecken, ihn den Wert schlichter Pflichterfüllung, einfacher Ehrlichkeit und Anständigkeit im täglichen Umgang mit anderen erleben zu lassen . . . mehr zu fordern wäre nicht n u r unnötig, sondern U t o p i e " ^ . Der von Bollnow übernommene Begriff der 'einfachen Sittlichkeit' schützt nicht vor dem Verdacht, daß der Erziehungsstrafvollzug prinzipiell darauf ausgerichtet war, den Strafgefangenen an die Wertnormen der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft anzupassen. Die hieraus entstehende Problematik f ü r
- 174 die Straftäter, deren Mehrzahl aus Unterschichtskreisen mit anderen Wertsystemen stammte, also eine Dissonanz der Wertsysteme erleben mußte, wurde nicht diskutiert oder gar erkannt. Es bleibt daher die Frage offen, ob nicht auch der Stufenvollzug, trotz des erhobenen Anspruchs, nichts anderes leisten konnte als eine Erziehung zur Legalität, die letztendlich nicht auf einer inneren Bejahung und aktiven Erarbeitung durch den Gefangenen beruhte, sondern auf einer passiven Anpassung an herrschende Normen. Trotz dieser Kritik, der sich jeder Strafvollzug unterziehen muß, der sich nach anderen als formaljuristischen Kriterien zugunsten des Menschen im Vollzug leiten läßt, sind zwei wesentliche Elemente der Strafvollzugsreform nach 1918 festzuhalten: Einmal wurde die sozialpolitische Aufgabe des Strafvollzuges erkannt, was sich besonders in der Schaffung des Jugendgerichtsgesetzes niederschlug, zum anderen wurde durch die Schaffung des Stufenvollzugs deutlich die Einsicht in die Praxis übersetzt, daß bloßes Verwahren allein weder der Gesellschaft noch dem Strafgefangenen weiterhelfen kann, sondern schon im Vollzug der Haft den Gefangenen die Gelegenheit gegeben werden muß, neue soziale Praktiken und Lebensformen einzuüben.
4.2 Die Seelsorge in Strafvollzugsanstalten
4 . 2 . 1 Grundsatzprobleme nach 1918 Die Frage der Relevanz der Gefangenenseelsorge im Vollzugswesen wurde nach dem Ersten Weltkrieg aus zwei Gründen virulent: einmal weil der Strafvollzug in der Form des Erziehungsvollzuges die im 19. Jahrhundert von der Gefangenenseelsorge getragene Besserungsaufgabe in seine Zielvorstellungen integrierte, zum anderen aufgrund der politischen und sozialen Umordnungen in einigen Ländern aus weltanschaulichen Gründen, die die Notwendigkeit der Seelsorgearbeit im Vollzug in Frage stellten. Mit der Abwendung von der Monarchie versuchte man kurz nach 1918 in einigen Ländern gleichzeitig den Einfluß der Kirche in staatlichen Organisationen zurückzudrängen. Diese Tendenz führte in Sachsen, Thüringen und Hamburg dazu, das Amt des Gefängnisgeistlichen abzuschaffen. Doch diese Regelung konnte sich nicht durchsetzen, da die traditionelle Verbundenheit von Gefangenenseelsorge und Vollzugswesen sich als zu stark erwies, um durch einen radikalen Bruch bewältigt zu werden. So wurden auch im Freistaat Sachsen, nachdem Hamburg und Thüringen ihre Bestimmungen revidiert hatten, seit 1.September 1926 wieder Strafanstaltsgeistliche zugelassen. Die Zeitung 'Das Evangelische Deutschland'
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berichtet d a r ü b e r u n t e r der Überschrift "Seelsorge - Keine 'Doktrinpolit i k ' " 4 8 , d a ß die 'Altsozialen' sich f ü r die Wiedereinführung der Gefängnisseelsorge eingesetzt h a t t e n , weil unter den Gefangenen eine "seelische Unruhe" beobachtet worden sei, "die dem Mangel an seelsorgerlicher Aussprache e n t s p r a n g " . Hinzu komme, daß die Gefangenen die fehlende Aussprachemöglichkeit als zusätzliche S t r a f v e r s c h ä r f u n g angesehen haben. Diese A u s f ü h r u n g e n deuten darauf hin, daß von Seiten der Häftlinge der Anspruch auf seelsorgerliche Betreuung so massiv artikuliert worden i s t , daß entgegen politischer Vorsätze sich die Ausgrenzung der Seelsorge nicht d u r c h f ü h r e n ließ. Zudem war es Gefängnisbehörden nicht gelungen, eine Institution einzurichten, die die Aufgaben des Seelsorgers ü b e r n e h men konnte. So ist also der Versuch, "das Institut des Hausgeistlichen" 4 ® abzuschaffen, weniger am Widerstand der Kirchenleitungen als an den Forderungen der Häftlinge gescheitert. Grundsätzlich wurde also die überkommene organisatorische Basis 5 ^ der Gefangenenseelsorge in der Weimarer Zeit nicht v e r ä n d e r t . Allein T h ü ringen überließ die Organisation der Seelsorge ganz den Kirchen. Die Hamburger Dienst- und Vollzugsordnung sah in § 15 v o r , daß "Vorkehrungen" zur D u r c h f ü h r u n g der Seelsorge zu t r e f f e n waren. In den anderen Ländern, in denen die Institution der Gefangenenseelsorge nicht in Frage gestanden h a t t e , wurden die Geistlichen entweder im Hauptoder Nebenamt auf Vertragsbasis eingestellt, meistens nach vorheriger Rücksprache mit den Kirchenleitungen. Trotz der institutionellen Absicherung läßt sich ein Desinteresse an den Fragen der Gefangenenseelsorge konstatieren: Die Phase des Aufbaus und der inneren Diskussion über Inhalte scheint vorüber zu sein. Die Seelsorge bildet ein mehr oder weniger integriertes Element des Vollzuges, das in der Diskussion um die Reform des Vollzuges keine Bedeutung mehr besitzt. Die Gefangenenseelsorge "funktioniert", ohne Aufsehen und Beachtung auf seiten der J u r i s t e n , der Kirchenverwaltungen und der Theologen zu e r r e g e n . Dieser Sachverhalt schlägt sich darin n i e d e r , daß die Literatur über den Problemkreis der Seelsorge in den Haftanstalten nach 1925 fast völlig v e r s i e g t 5 1 , womit eine grundlegende Bestandsaufnahme der Gefangenenseelsorge in der Weimarer Republik erschwert wird. Ist das konstatierte Desinteresse darauf z u r ü c k z u f ü h r e n , daß die Gefangenenseelsorge sich so weit den staatlichen Vollzugszielen akkomodiert h a t , daß sie als integrierter Faktor des Vollzuges in Erscheinung tritt und damit keine Beachtung mehr finden kann? Oder läßt sich eine E r s t a r r u n g in den Bahnen der Arbeit feststellen, die im 19.Jahrhundert vorgezeichnet worden sind, so daß keine Innovationstendenzen mehr feststellbar sind? Diese beiden Fragen werden die folgende Untersuchung f ü r den Zeitraum von 1918- 1933 leiten, um zu klären, welche Funktion der Gefangenenseelsorge von seiten der Kirche und der Vollzugsorgane zugeordnet worden i s t , welchen Stellenwert sie im Organismus innehatte, welches Selbstverständnis sie formulierte und welche Inhalte sie p r ä g t e . Hierbei
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wird a u f g r u n d der bisherigen Ergebnisse das Begriffspaar B e s s e r u n g und Erziehung im Mittelpunkt des Interesses stehen.
4.2.2 Die rechtlichen Grundlagen der Gefangenenseelsorge und ihre Funktionsbestiramung von Seiten der Vollzugsorgane Da die Organisation des Strafvollzuges Teil staatlichen Hoheitshandelns ist, obliegt es der Gesetzgebung zu entscheiden, in welchem Maß der kirchlich orientierten Gefangenenseelsorge im Vollzugswesen Raum gegeben wird. Die Verfassung der Weimarer Republik v e r t r a t den Grundsatz der religiösen Neutralität, ohne aber das Grundrecht der freien Religionsausübung zu beschneiden. Nach § 135 der Reichsverfassung steht das Recht des S t a a t s b ü r g e r s auf freie Religionsausübung u n t e r staatlichem Schutz. Dieses Recht schließt die Sicherstellung der ungestörten Teilnahme an privaten oder öffentlichen religiösen Feiern oder Kulthandlungen sowie der uneingeschränkten Glaubensausübung ein. Auch den Strafgefangenen darf dieser Rechtsstand nicht abgesprochen werden, allerdings kann a u f g r u n d der Sicherheitspräferenz das Recht auf Religionsausübung eingeschränkt werden. Um aber eine religiöse Betreuung der Häftlinge zu gewähren, die den geordneten Ablauf des Vollzuges nicht d u r c h b r i c h t , gewährleistet § 141 der Reichsverfassung den Religionsgesellschaften das Recht, Geistliche in die Strafanstalten zu senden, um dort Seelsorge, Kulthandlungen und Unterricht zu üben52. Der § 141 spricht den Religionsgemeinschaften n u r das Recht zur Betreuung i h r e r Mitglieder zu, ohne sie dazu verpflichten zu können. Damit ist dem Ans p r u c h der Kirchen, aus rein religiösen Motiven heraus die geistliche Bet r e u u n g der Inhaftierten zu übernehmen, eine "positiv rechtliche Stütze"53 gegeben. Dementsprechend beinhalten alle Verordnungen der Länder, der Entwurf des Reichsvollzugsgesetzes und die 'Grundsätze' von 1923 "die Verpflichtung, den Gefangenen religiösen Zuspruch zukommen zu lassen"54. Der § 105 der 'Grundsätze' von 1923, der die Grundlage f ü r die entsprechenden Länderverordnungen bildete, bestimmt: "Keinem Gefangenen wird der Zuspruch eines Geistlichen seines Bekenntnisses v e r sagt. Kein Gefangener darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen gezwungen w e r d e n " 5 5 . Die Länder übernehmen damit die Verpflichtung, als Kompensation f ü r die Trennung von der pastoralen B e t r e u u n g in der Parochie die Seelsorge in den Haftanstalten zu ermöglichen, ohne sie zugleich als v e r b i n d lich zu e r k l ä r e n . So formuliert die Dienst- und Vollzugsordnung f ü r die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen vom 1. August 1923 in § 118: "Den Gefangenen steht die Teilnahme an dem Gottesdienst, den kirchlichen Heilsmitteln und dem Religionsunterricht f r e i " 5 6 . Damit ist zugleich der Streit um den bis zum Ersten Weltkrieg bestehenden Gottesdienstzwang b e e n d e t . Gefangene, die den Wunsch nach kirchlicher Be-
- 177 treuung artikulieren, ist die Möglichkeit der Religionsausübung garantiert , allerdings eingeschränkt von den vollzugsorganisatorischen Notwendigkeiten^ . Es stellt sich nun die Frage, ob die Gewährung der Gefangenenseelsorge vom Staat zweckfrei um der Befriedigung religiöser Bedürfnisse willen - was den formal-rechtlichen Aussagen entsprechen würde - geschehen ist, oder ob die Vollzugsorgane selbst ein Interesse an der Institution der Seelsorge in den Gefangenenanstalten haben erkennen lassen, also bestrebt waren, die Gefangenenseelsorge funktional zu integrieren. Zur Beantwortung des angeschnittenen Fragenkomplexes sollen im folgenden Überlegungen von Vollzugstheoretikern und -praktikern herangezogen werden. Abgesehen von den nur kurzzeitig aktuellen Versuchen in wenigen Ländern, die Gefangenenseelsorge aus dem Vollzugswesen auszugliedern, kann der Satz Andraes als Prämisse für alle Ausführungen zur Bedeutung der Institution der Strafanstaltsseelsorge in den 20er Jahren gelten: "Für den heutigen Strafvollzug ist jedenfalls sicher, daß die Seelsorgetätigkeit mit ihm unbedingt zusammengehört". Denn schon aus der Genese dieser Institution läßt sich erkennen, daß unabhängig von dem Streit über die Zielsetzung des Strafvollzuges "von jeher der Pflege des religiösen Lebens im Strafvollzug" Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, "um den im Leben Entgleisten durch Erziehung zur Betrachtung der letzten Fragen alles Seins wieder auf den rechten Weg zu helfen"58. Umso mehr hat, nach dem Lehrbuch der Gefängniskunde von Schulze-Ellger, "die geistige Pflege der Gefangenen durch Seelsorge und Unterricht" ihre volle Berechtigung im modernen Strafvollzug "als ein notwendiger Faktor", da die erzieherische Aufgabe und die sozial-ethischen Zwecke des Vollzuges grundsätzlich anerkannt w e r d e n ^ . Schon hier wird deutlich, daß die Gefangenenseelsorge wesentlich von den Vollzugsorganen unter dem Aspekt der 'Erziehung' betrachtet und bewertet wird. So betont auch Starke, daß die Länder als Träger des Vollzugswesens besonderen Wert auf "die Erziehung der Gefangenen durch religiöse Beeinflussung seitens hauptamtlicher Geistlicher" legen und ihnen sogar Aufgaben übertragen, die über die Seelsorge hinausgehen. Starke versucht jedoch deutlich zu machen - und entwickelt damit einen Gedanken, der allgemein in der Diskussion übersehen wird - , daß der Wirkungsbereich der Erziehung durch den Seelsorger eingeschränkt wird aufgrund § 118 der 'Grundsätze' von 1923. Da der Gefangene völlige Freiheit besitzt, an kirchlichen Handlungen teilzunehmen oder sich seelsorgerlich betreuen zu lassen, "ferner den Anstaltsgeistlichen nur die Seelsorge an Gefangenen ihres Bekenntnisses zusteht, handelt es sich bei der religiösen Beeinflussung nicht um ein allgemeines Erziehungsmittel, dessen Anwendung wie bei den weltlichen Erziehungsmitteln gegenüber allen Gefangenen zulässig und geboten ist, sondern um die Ausnutzung einer Erziehungsmöglichkeit gegenüber religiös eingestellten Gefangenen"^.
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Der Befund, daß in anderen Beiträgen implizit davon ausgegangen wird, daß die Anzahl der Gefangenen kongruent mit der Zahl der Inhaftierten ist, die am kirchlichen Leben in der Anstalt teilnehmen, läßt sich sicher damit erklären, daß wenige Gefangene von ihrem Recht auf Verweigerung des seelsorgerlichen Kontaktes und der Teilnahme an Unterricht und Gottesdienst Gebrauch gemacht haben, so daß diesem Phänomen keinerlei Beachtung geschenkt wurde. Trotz der in der Verfassung ausgesprochenen religiösen Neutralität des Staates begründet Schulze-Ellger die Pflicht des Staates, den Religionsgemeinschaften - gemeint sind hier offensichtlich die christlichen Kirchen das Recht auf Gefangenenseelsorge einzuräumen mit der "Erkenntnis, daß die Religion zu den sittlichen Grundlagen des Staates gehört". Damit wird explizit vorausgesetzt, daß der Staat sich im Strafvollzug an religiös geprägten Idealen orientiert und von daher auch ein Interesse an der religiösen Betreuung seiner Inhaftierten haben muß, denn "je mehr der Strafvollzug einen erzieherischen Zweck erhält", desto größer ist die Verpflichtung des Staates, "von sich aus den Gefangenen die religiöse Versorgung zu Teil werden zu lassen, um damit ein wertvolles Mittel zu gewinnen, die Gefangenen in das geordnete Leben in der Freiheit zurückzuführen, d.h. sie zu resozialisieren"61. Noch einen Schritt weiter geht Weissenrieder 62 , indem er sich aufgrund eines historischen Rückblicks zu konstatieren berechtigt sieht, daß "die Religion unbeschadet ihres Selbstzwecks im staatlichen Strafvollzug Mittel zum Zweck der Besserung, wie sie der Staat braucht und erstrebt", ist. Die Religion bedeutet für ihn im Vollzugsorganismus vorrangig "ein Mittel religiös - moralischer Besserung", dessen sich der Vollzug bedienen kann, um auf das "Gemüt" der Inhaftierten besser einwirken zu können, da im Gemüt allein "die Möglichkeiten zu einer moralischen Besserung" liegen. Bemerkenswert ist, daß bei Weissenrieder und den anderen Autoren vom Begriff der Religion ausgegangen wird, ohne ihn inhaltlich zu füllen, zugleich aber immer die Relation Religion und Sittlichkeit impliziert wird als einer der Stützpfeiler des Staatswesens. Der Glaube an "die Macht der Religion" ist es für Weissenrieder, der verhindert, daß die Kirche im Vollzug die Stellung einnimmt, die ihr eigentlich von den Bestimmungen zugeordnet ist, nämlich dafür da zu sein, die "religiösen Bedürfnisse" der Gefangenen zu erfüllen. Die Verbindung von Religion und staatstragenden sittlichen Werten gibt der Gefangenenseelsorge eine besondere - so B r u c k s - "tief innerliche Bedeutung" für den Vollzugsorganismus und seine finale Ausrichtung. Eigentlich könnte der Staat das Ziel seiner Bemühungen zur Erziehung der Gefangenen als erreicht ansehen, wenn diese für ein gesetzmäßiges Verhalten nach der Entlassung ausreichend Gewähr leisten würden. Da aber der Staat als "Kulturträger" ein Interesse daran hat, "daß der äußere gute Lebenswandel der Entlassenen auch innerlich moralisch genügend gefestigt ist", um ein Fortwirken der Erziehungsmaßnahmen
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möglichst zu garantieren, bietet die "Religion als erhabenster Ausdruck des Sittengesetzes ein höchst wertvolles Mittel" zur inneren Beeinflussung der Inhaftierten. "So erblickt denn" - nach Brucks - "der Staat in der Religion einen starken Bundesgenossen in der Bekämpfung der Kriminalität". Diesen Gedanken übernimmt auch Heß, der das Interesse des Staates an der Arbeit der Kirche im Strafvollzug damit zu erklären versucht, daß das "moralische Verantwortungsgefühl", das die kirchliche Arbeit vermittelt, eine größere Gewähr bietet f ü r die Beibehaltung eines gesetzeskonformen Lebens, als "etwa der Gedanke der Zweckmäßigkeit". Zwar konzediert Heß, daß Gesetzeskonformität nicht nur auf moralisch hochstehendem - und damit auch religiös orientiertem - Lebenswandel basieren muß, räumt aber ein, daß sich Erziehungsprinzipien leichter verdrängen lassen als die von der Seelsorge geprägte "Stimme des Gewissens" und schließt endlich: "Die moralische Besserung bleibt der sicherste - wenn auch nicht der einzige - Weg zur Legalmachung. Und darum wird der Staat die Arbeit der Kirche im Strafvollzug stets begrüßen, da auch sein Ziel so am sichersten erreicht wird"64. Der bisherige Überblick läßt tendentiell erkennen, daß die Gefangenenseelsorge von Seiten der Strafvollzugstheoretiker innerhalb des Systems des Erziehungsstrafvollzuges funktional als Träger der "inneren", "sittlichen" oder "moralischen" Besserung und Umwandlung der Inhaftierten qualifiziert wird, um die Erfolge des auf "äußeren" Erziehungsmaßregeln beschränkten staatlichen Erziehungsvollzuges zu sichern. Diese Aufgabenstellung deckt sich mit der Forderung Fredes, daß die Erziehungsarbeit im Vollzug auch darauf hinzielen muß, die geistigen und seelischen K r ä f te des Gefangenen zu heben und zu p f l e g e n , um ihn nicht in der Monotonie des Vollzugsalltags abstumpfen zu lassen 6 ^. Die Verantwortung f ü r die 'sittliche Hebung' seiner Inhaftierten hat zwar der staatliche Vollzug übernommen, sieht aber zugleich in der religiösen Betreuung das geeignete Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Der Gefangene soll resozialisiert, das heißt in eine Gesellschaft integriert werden. Das impliziert, Wertvorstellungen zu übernehmen, deren Inhalte und Normen noch stark von christlichen Vorstellungen geprägt sind. Daher erscheint es konsequent, der Gefangenenseelsorge als religiöser Institution den Bereich der Anpassung an staatliche Wert- und Normsysteme zu überlassen. Allerdings muß sich dabei - nach Schulze und Ellger - "der staatliche Strafvollzug stets gegenwärtig halten, daß für ihn religiöse Umwandlung des Gefangenen nicht letztes Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Resozialisierung ist"66. Die religiöse Intention der pastoralen Betreuung im Strafvollzug wird final dem Erziehungsstrafvollzug subsummiert und zugleich auf einen Aspekt reduziert: religiöse Werte zu vermitteln; eine Aufgabenstellung, die auf einem Undefinierten B e g r i f f von Religion basiert und auf eine Differenzierung von christlichen und staatlichen Werten und Normen verzichtet.
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Hier wurde die Gefahr deutlich, vor der von Rohden gewarnt h a t t e : Wenn die Theologie keine eigenständige Theorie von Inhalt und Form des Seelsorgeauftrags im Strafvollzug entwickelt, kann die Seelsorgepraxis der unausweichlichen Konsequenz nicht e n t g e h e n , in das s t a a t liche Vollzugswesen integriert und dessen Zielvorstellungen subsummiert zu werden. Diese Entwicklung war tendentiell angelegt, da die staatlichen Organe ihr Interesse an der Gefangenenseelsorge offen artikuliert hatten**7 und die Gefangenenseelsorge u n t e r s t ü t z t e n , indem in größeren Anstalten Kirchen unterhalten und den Geistlichen Möglichkeiten der weitestgehend freien Arbeit im Anstaltsgelände gegeben w u r d e n . Der hohen praktischen Bedeutung, die der erzieherischen Arbeit der Gefangenenseelsorge vom Staat zugemessen wurde, entspricht e s , daß die Gefangenenseelsorger weiterhin in den meisten Ländern als Staatsbeamte eingestellt wurden und somit aber auch zugleich der staatlichen Dienstaufsicht unterstellt waren. Angesichts dieser Tatsache stellt Andrae f e s t , "daß der Staat tatsächlich der Träger der Gefängnisseelsorge geworden ist"68. Diesem Urteil Andraes ist im Blick auf organisatorische Gesichtspunkte zuzustimmen. Die Kirche ist an der Organisation und Zielbestimmung des Strafvollzuges - wie etwa zu Wicherns Amtszeit noch - nicht mehr beteiligt. Sie bleibt beschränkt auf das ihr zugewiesene Gebiet der Seelsorge, so daß "sie im Gefängnis grundsätzlich also n u r dieselben Handlungen v o r n e h men d a r f , die sie im gewöhnlichen Staatsleben auch sonst vornimmt"69 0 Andererseits verpflichten sich die Länder, nicht inhaltlich in die Ausgestaltung der Seelsorgetätigkeit einzugreifen. Diese staatliche Selbstbes c h r ä n k u n g erscheint u n t e r dem Aspekt der relativ eindeutigen funktionalen Erwartung von staatlicher Seite an die kirchliche Seelsorge als sehr ambivalent, vor allem, da der Staat allein das Recht f ü r sich in Anspruch nimmt, die inhaltliche Ausrichtung des Strafvollzuges zu bestimmen. Alertz stellt d a h e r , sicher mit Recht, f e s t : "Maßgeblich ist damit auch das staatliche und nicht das kirchliche Erziehungsziel" 7 0 . Die Besonderheit der institutionalisierten Gefangenenseelsorge besteht nun nach von Rohden darin, daß sie eine "rein kirchliche Funktion in einer rein staatlichen Institution d a r s t e l l t " 7 1 . Damit stellt sich das Problem der weiteren Untersuchung in der Frage, ob die Gefangenenseelsorge in den 20er Jahren im Erziehungsstrafvollzug die Aufgabe ü b e r nimmt, die ihr von Seiten der Vollzugstheoretiker zugedacht worden ist also das Urteil Andraes der Anpassung an staatliche Ziele bestätigt wird - oder ob es ihr gelingt, ihre Eigenständigkeit innerhalb des S t r a f vollzugssystems zu fundieren und eine eigene inhaltliche Füllung des Seelsorgebegriffs zu entwickeln.
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4.2.3 Theologische Grundlegung und Zielsetzung der Gefangenenseelsorge nach 1918 Um einen theologischen Begründungszusammenhang bemüht sich Heß, der allerdings a u f g r u n d der Einsicht, daß es zu Zeiten Jesu keinen Strafvollzug im modernen Sinne gegeben h a t , die Berechtigung des klassischen Bezugs auf Matth 25, 3672 anzweifelt. Es entspricht vielmehr der "Idee des Christentums", den in körperlicher und geistiger Bedrängnis befindlichen Gefangenen Hilfe und Trost in i h r e r Gebundenheit zuteilwerden zu lassen, "denn das Christentum gibt keinen Menschen a u f , sei er auch noch so tief gesunken" 7 ^. Das Argument "nemo desperandus" 7 ^ zur B e g r ü n d u n g und Verpflichtung der Gefangenenseelsorge wird von mehreren Verfassern herangezogen. So baut sich f ü r Günther die Seelsorge in der Nachfolge Christi "auf der Annahme auf, daß in jedem Menschen ohne Ausnahme ein Funken Ewigkeit lebendig i s t , der wohl u n t e r Umständen lange Zeit hindurch u n t e r drückt werden k a n n , der aber niemals im Menschen e r l i s c h t " ? F r e i verwirft in diesem Kontext die Argumentation, Gefangenenseelsorge sei eine notwendige Konsequenz der christlichen Kulturbasis des Staat e s , und stellt das theologische Kriterium der Erlösungsbedürftigkeit als einzig berechtigte B e g r ü n d u n g h e r a u s : "das Christentum darf und will nicht nur Kulturideal, sondern eine Erlösungsreligion sein, die beid e s , Vergebung der alten Schuld und Kraft zu einem neuen Leben, verheißt"76. Die genannten Autoren v e r s u c h e n , in Abgrenzung zur Sinnsetzung des staatlichen Vollzugswesens aus theologischen Motivzusammenhängen die Notwendigkeit seelsorgerlicher Betreuung abzuleiten. Der Strafvollzug kommt n u r als der organisatorische Rahmen in den Blick, in dem der Seelsorger seinem A u f t r a g in der Nachfolge Christi nachgeht. Eine andere Gruppe von Theologen v e r s u c h t , zur Bestimmung des Stellenwertes der Seelsorge im Gefängnis das Umfeld des Strafvollzuges anhand theologischer Bewertungskategorien mit in ihr System einzubeziehen oder wenigstens in Relation zu seelsorgerlichen Zielsetzungen zu stellen. Für Seyfarth gründet das Problem der Delinquenz in der Gotte n t f r e m d u n g , aus der der Verlust des Maßstabs "für Recht und Unrecht , f ü r Gut und Böse" r e s u l t i e r t . Daher kann der Strafvollzug einen Häftling n u r dann "bekehren", wenn er die wahre Freiheit v e r mittelt , "die in der Gebundenheit an das göttliche Gesetz und die menschliche O r d n u n g b e r u h t " 7 7 . Wird dieses Ziel nicht e r r e i c h t , so ist jeder Strafvollzug umsonst. Aufgrund dieser Deduktion aus der V e r k n ü p f u n g von Gottesrecht und weltlichen Rechtsnormen, die deren Positivität n e g i e r t , erscheint die Seelsorge als notwendiges E r ziehungsmittel eines sinnvollen Strafvollzuges. Einen vergleichbaren Absolutheitsanspruch erhebt auch Meinardus, der zwar den staatlichen Erziehungsmitteln Berechtigung aber geringe Effektivität zumißt:
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"Die wirksamsten Erziehungsmittel bietet die Religion dar". Dieser Ansatz f ü h r t ihn d a z u , im Wirken und in den Tätigkeiten des An st alts geistlichen die erzieherischen Kräfte enthalten zu s e h e n , die "über Menschenk r a f t h i n a u s g e h e n " ^ . Auch f ü r Muntau ist die e r s t r e b t e "sittliche Hebung" der Gefangenen letztendlich n u r dadurch zu e r r e i c h e n , "daß der sündige Mensch sich von den erlösenden und e r n e u e r n d e n Kräften des Evangeliums d u r c h d r i n g e n und d u r c h Christi Tat auf Golgatha versöhnen läßt mit dem heiligen Gott". Doch die auf dem Erlösungsgeschehen b e r u h e n d e s i t t liche Neubegründung des Menschen als neuer Anfang vor Gott wird nicht als spezifische Aufgabe der Seelsorge zugeordnet, sondern zugleich als Teil der staatlichen Vollzugserziehung i n t e r p r e t i e r t : "Wir würden göttlichen und menschlichen Gesetzen und Anordnungen nicht e n t s p r e c h e n , wenn wir diese Seite des Strafvollzuges vernachlässigten oder ihr nicht mit dem nötigen Ernste begegneten und freie Bahn schüfen"79. Aus diesem e r s t e n Überblick läßt sich e r k e n n e n , daß auf seiten der Theologen ein ambivalentes Verhältnis zum Erziehungsstrafvollzug b e s t e h t . Vergleichbar mit den Positionen des 19. J a h r h u n d e r t s neigt eine Gruppe a u f g r u n d i h r e r theologischen Prämisse der göttlichen Rechtsordnung zur Identifizierung mit dem staatlichen Vollzugsziel, allerdings u n t e r der Voraussetzung, daß es u n t e r christlich-dogmatischen Kategorien uminterpretiert wird: Erziehung bedeutet dann B e k e h r u n g , Hinwendung des Täters zu Gott, um ihm das Bewußtsein des göttlichen Rechtswillens als Ausgangspunkt eines legalen Lebenswandels zu vermitteln. Die andere Gruppe der Seelsorger bemüht sich a u f g r u n d theologischer Kriterien und soteriologischer Argumentation, eine eigenständige Position der Gefangenenseelsorge zu b e g r ü n d e n . Die Lehrbücher der praktischen Theologie fassen die Gefangenenseelsorge - wenn sie überhaupt Erwähnung findet - eher theologisch traditionell u n t e r die Seelsorge am S ü n d e r , der auf den Weg zu f ü h r e n i s t , "den die Heilsordnung beschreibt: S ü n d e n e r k e n n t n i s , Reue, V e r g e b u n g , Gelöbnis der B e s s e r u n g " ^ . Der Delinquent ist "zu Gott hin zu f ü h r e n , der allein neues Leben schaffen k a n n ' ^ l oder vermittels der Konfrontation mit seinem bösen Willen zu "einer inneren Umkehr (Buße) und Glaubensgemeinschaft mit G o t t " ^ als Ausgangspunkt und Inhalt eines neuen Lebens zu bewegen. Die inhaltliche Bestimmung der Gefangenenseelsorge wird aus dem 'System der praktischen Theologie' deduziert ohne Bezugnahme auf die Bestrebungen des Erziehungsstrafvollzuges und dessen organisatorischen Rahmen, in dem sie zu arbeiten h a t . Eine dritte Gruppe v e r t r i t t eine vermittelnde Position. Sie zeigt eine Affinität zum Erziehungsstrafvollzug^S, ohne sich allerdings von den staatlichen Vollzugszielen dominieren, zum Mittel degradieren zu l a s s e n ^ . Gefangenenseelsorge und Vollzugserziehung können zusammenarbeiten, sich b e r ü h r e n , ohne jedoch inhaltlich und von der Motivation her identifiziert werden zu d ü r f e n . Der Geistliche im Vollzug steht im Einvernehmen mit Staat und Kirche vor der Aufgabe, "den Gefangenen die Erfüllung i h r e r
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religiösen Bedürfnisse zu ermöglichen"*^. Daher ist und bleibt "der eigentliche Kern und das letzte Ziel der christlichen Gefangenenseelsorge, den Wert der menschlichen Persönlichkeit auch in dem Tiefgesunkenen zur Anerkennung zu bringen"**®. Klatt betont in der Tradition Fliedners die Zurückstellung prinzipieller und dogmatischer Vorentscheidungen vor den Bedürfnissen des Individuums. Dieser auch von anderen Seelsorgern vertretene Ansatz hat keinen Niederschlag in den rechtlichen Grundlagen der Gefangenenseelsorge gefunden. Die Vorschriften spiegeln eine starke Tendenz zur Integration der Seelsorge in den staatlichen Vollzugsorganismus wider. Als Beispiel sei die "Dienstanweisung für die evangelischen Geistlichen an den Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen" vom 24.Mai 1924^ herangezogen. In § 2 wird programmatisch betont: "Für die Gestaltung der religiösen Pflege in den Gefangenenanstalten ist der Zweck des Strafvollzuges überhaupt, die sittliche Festigung des Rechtsbrechers, maßgebend". Beachtenswert und neu in den Dienstanweisungen ist die auf Wichern zurückgehende Korrelation von Gefangenenseelsorge und Gefangenenfürsorge für die Bestimmung des Aufgabenfeldes der Kirche im Erziehungsstrafvollzug. Damit hat sich die Einsicht, daß "der Gefängnisseelsorger, wenn er den inneren Menschen aufrichten und heilen will, auch seinerseits auf die Gesundung und Klärung der äußeren Verhältnisse bedacht sein" muß^®, auch in den Verordnungen zur Gestaltung der Seelsorgearbeit niedergeschlagen.
4.2.4 Das seelsorgerliche Gespräch Vor 1918 galt es in den Dienstvorschriften der Seelsorger als Norm, jeden Gefangenen zweimal im Monat in seiner Zelle aufzusuchen*^. Diese Vorschriften wurden fallengelassen, um die Gefahr zu vermeiden, daß der Seelsorgebesuch in einen Schematismus verfällt. Vielmehr wurde es dem Ermessen des Seelsorgers überlassen, wie oft und wann er den Klienten besuchte, um dessen Probleme und Fragen adäquat klären zu können. Die individuellen Bedürfnisse des Gesprächspartners sollten den Ablauf der Gespräche, räumlich und zeitlich, bestimmen. Im Vergleich zu den Ausführungen der Gefangenenseelsorger zum Ort der Seelsorge im 19.Jahrhundert fällt auf, daß die Einzelhaft nur noch unter dem Aspekt des ungestörten Vollzuges der Seelsorgegespräche besondere Wertschätzung genießt. Die Voten für die Einzelhaft, die in der Einsamkeit und Kommunikationsarmut eine wesentliche Begünstigung zur Aufnahme von Kontakten sahen, treten nicht mehr in Erscheinung. Die Notlage und der Leidensdruck des Pastoranden, die aus dieser speziellen Haftform resultierten, werden nicht mehr als Mittel zur besseren Einflußnahme auf den Gefangenen diskutiert. Die Korrelation von Einzelhaft und Gefangenenseelsorge wird nur noch unter formalen Gesichtspunkten aufrechterhalten, ein
Beweis d a f ü r , daß auch u n t e r den Seelsorgern die Einzelhaft nicht mehr als prinzipiell allein zu v e r t r e t e n d e Haftform gilt. Neben der Beachtung der Persönlichkeit des Pastoranden bildet ein Vertrauensverhältnis zwischen Seelsorger und Gefangenem eine unverzichtbare Grundlage der individuellen S e e l s o r g e D e r Gefangenenseelsorger, in dessen Arbeitsbereich vornehmlich eine Atmosphäre von Mißtrauen und Verdächtigung v o r h e r r s c h t , kann von daher erst auf eine beständige und offene Seelsorgebeziehung hoffen, wenn es ihm gelungen i s t , zu dem Klienten ein Verhältnis unbedingten Vertrauens a u f z u b a u e n , das - so Klatt - "für eine ersprießliche seelsorgerliche Arbeit unbedingt notwendig ist"91. Eine sichere Methode, um das Vertrauen eines Gefangenen zu gewinnen, kann nicht angeboten werden, im Gegenteil, der Seelsorger sollte sich davor h ü t e n , einen Schematismus und handwerksmäßige Routine zu zeigen oder dogmatische Prinzipien durchzusetzen. Der Aufbau eines 'persönlichen V e r h ä l t n i s s e s ' 9 2 sollte angestrebt werden, das sich nach Niebergall^S darin zeigen muß, daß der Seelsorger Verständnis f ü r die "innere und äußere Lage" des Klienten zeigt. Noch s t ä r k e r als in den Schriften zur Gefangenenseelsorge des 19.Jahrh u n d e r t s werden das Beichtgeheimnis und die Verpflichtung der Amtsverschwiegenheit b e t o n t , denn ein freies und offenes Seelsorgegespräch kann sich nur entwickeln, wenn Klatts Forderung erfüllt i s t : "Der Gefangene muß mit seinem P f a r r e r alles und alles restlos besprechen können , über wirkliches und über vermeintliches Unrecht, über irdische Sorgen und ewige Zweifel, ob sie im Suchen oder Fluchen ihren Ausdruck finden! "94, ohne die geringsten Repressalien deswegen f ü r c h t e n zu müssen. Der Seelsorger muß also in seine Überlegungen zum Vorgehen im Seelsorgegespräch die erhöhte Sensibilität und Verletzbarkeit seiner Klienten mit einbeziehen, um nicht Gefahr zu laufen, das latente Mißtrauen seines Gesprächspartners zu wecken, den oft n u r geringen Vert r a u e n s v o r s c h u ß und somit die einzige Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu bleiben, zu verlieren. Persönliches Engagement des Seelsorgers erleichtert dem Gefangenen das Gespräch. Daher muß - so Klatt - "unter allen Umständen vermieden werden, daß es sich zu einer Privatpredigt auswächst. Nichts befremdet oder sagen wir es offen - stößt den Gefangenen mehr ab als Pose und religiöse Salbaderei!" 9 5 . Kehrt der Seelsorger h e r a u s , daß er als Vert r e t e r einer Institution oder gar fordernd dem Häftling g e g e n ü b e r t r i t t , wird er n u r Ablehnung provozieren. Der Gefangene will als gleichberechtigter P a r t n e r , als Mensch behandelt werden: "Und wer als Mensch den Menschen im Verbrecher s u c h t , der wird ihn finden!" Denn es ist nach Klatt "kein Verbrecher s t a r k genug, der Stimme des Menschen sich zu verschließen". Die immer wiederkehrende Betonung der menschlichen Beziehung zwischen Geistlichem und Pastoranden macht deutlich, wie richtungweisend es f ü r das seelsorgerliche Gespräch eingeschätzt wurde, daß der Häftling sich ernstgenommen und beachtet und nicht
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u n t e r Druck gesetzt f ü h l t . Dazu gehört a u c h , daß der Seelsorger in der Lage i s t , dem Gefangenen zuzuhören. Bezeichnend f ü r bestimmte Formen der Seelsorge i s t , wenn Berggrav 9 ® f o r d e r t , "daß der Gefangene selbst reden d a r f . Als weitere "seelsorgerische Kunst" propagiert Klatt, den Gefangenen zu motivieren, "daß er sein Herz allmählich ö f f n e t , damit der Seelsorger, ohne immer wieder auf Widerstände zu stoßen, bis in die v e r borgensten Winkel und Falten hineinschauen k a n n " 9 7 . Wird dem Klienten der Freiraum zur Artikulation seiner Sorgen und Fragen gegeben, ohne ihn sofort zu bedrängen oder zu belehren, wird er auch bald die Skepsis abbauen, mit der er oft dem P f a r r e r b e g e g n e t , und seine Bereitschaft zu weiteren Kontakten erhöhen. Mit diesem methodischen Vorgehen sollen auch die wechselseitigen Vorurteile abgebaut werden, die Berggrav einerseits als den Glauben b e s c h r e i b t , "daß die Gefangenen gerade gegnüber einem P f a r r e r ärgerlich und unwillig gestimmt sein müßten", und andererseits als die Ansicht der I n h a f t i e r t e n , "daß der P f a r r e r umhergeht und ihnen die Leviten liest und sie bekehren w i l l " ^ . Das Seelsorgegespräch darf aus diesem Grund nicht als eine Fortsetzung der Predigttätigkeit des Geistlichen v e r s t a n d e n werden, in der es darum geht, dem Pastoranden monologisch etwas vorzuhalten. Eine offene Gesprächshaltung soll v e r h i n d e r n , daß der Geistliche v e r s u c h t , aus jedem Gespräch mit dem Häftling "gewaltsam"" ein Seelsorgegespräch zu entwickeln, das v e r k ü n d i genden Charakter t r a g e n muß. Grundsätzlich wird g e f o r d e r t , die spezielle Lage des Häftlings und die von ihm angesprochenen Themen aufzunehmen und von ihnen den Inhalt des Gesprächs bestimmen zu lassen. In diesem Sinne sieht Steinbeck im Gespräch als Zentrum der individuellen Seelsorge den entscheidenden Vorteil, "daß es in seinem Anlaß aus der Lage des b e t r e f f e n d e n Objekts der Seelsorge e n t s p r u n g e n , in jeder Weise auf die Bedürfnisse dieses Objektes eingehen und sich je nach seinen F r a g e n , Wünschen und Bedenken wandeln k a n n . Das seelsorgerliche Gespräch bietet die Möglichkeit, in Rede und Gegenrede auf alles einzugeh e n , was dem Gemeindeglied und dem Seelsorger selbst am Herzen liegt, und es zwar vom christlichen Standpunkt aus, aber ohne jedesmalige Heranziehung des Bibelwortes zu b e s p r e c h e n " ^ ® . Diese k u r z e n A u s f ü h r u n g e n zur Gestaltung des Seelsorgegesprächs machen deutlich, daß die Entwicklung der G e s p r ä c h s f ü h r u n g dahin gediehen i s t , dem Individuum des Klienten und seiner Problematik den Vorr a n g zu geben. Die Haltung des Seelsorgers, auf den Klienten einzuwirken oder ihn mit Konzepten zu k o n f r o n t i e r e n , um ihn zu belehren, wird damit als zu schematisch abgelehnt. Das Gespräch sollte nicht in der Form einer Auseinandersetzung v e r l a u f e n , sondern von der Gemeinschaft zwischen Pastoren und Pastoranden getragen sein, die Gleichberechtigung symbolisiert. Eine auf wechselseitigen Verstehensbemühungen basierende Gesprächshaltung v e r h i n d e r t weitestgehend, daß ein Problem der Seelsorge virulent wird, dem im 19.Jahrhundert noch große Bedeutung zugemessen wurde: Die Heuchelei der Gefangenen, die, indem sie auf die Worte
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des Geistlichen scheinbar bedingungslos eingehen, v e r s u c h e n , sich sein Wohlwollen zu erschleichen, um persönliche Vorteile zu erlangen. Denn solange der Seelsorger nicht als Fordernder an seine Klienten h e r a n t r i t t , werden diese auch nicht in die Situation g e d r ä n g t , sich seiner Meinung opportunistisch anzuschließen.
4.2.5 Theologische Aspekte des gleichberechtigten Seelsorgeverhältnisses Für Schian muß die persönliche Seelsorge f r e i von äußeren Zwangsmitteln und weit davon e n t f e r n t sein, Methoden der Kirchenzucht anzuwenden. Ihre Methodik v e r s u c h t , argumentativ auf den Menschen einzugehen und orientiert sich an den inneren Beweggründen des Klienten. Die Seelsorge gründet sich auf das 'Wort Gottes' und findet in ihm zugleich das wesentliche "Werkzeug". Den Begriff 'Wort Gottes' definiert Schian "als die aus dem Evangelium geschöpfte und im Evangelium wurzelnde Glaubensüberzeugung". Das Evangelium setzt damit das Sinnsystem, auf dem die Seelsorge aufbauen k a n n , und definiert zugleich die Ziele und Wege des Seels o r g e v e r f a h r e n s , es stellt dem Geistlichen die Kriterien zur V e r f ü g u n g , an denen er seine seelsorgerliche Methode zu messen h a t . Die individuelle Seelsorge kann sich daher nicht n u r in der A n k n ü p f u n g von Gesprächen genügen, sondern muß darüberhinaus b e s t r e b t sein, ein persönliches Verhältnis "von Mensch zu Mensch, vom Christen zum Christen" aufzubauen, "auf Grund dessen nicht bloß die im Evangelium liegenden Werte, sondern auch die in der christlichen Gemeinschaft gegebenen Kräfte wirksam werden können"^ 0 1 . In der seelsorgerlichen Beziehung wird das Wort Gottes also nicht n u r v e r k ü n d i g t , sondern muß zugleich gelebt werden o d e r , wie es die Dienstanweisung des Oberkirchenrates a u s d r ü c k t : "Das Bemühen des Geistlichen ist darauf zu r i c h t e n , Religion nicht n u r zu l e h r e n , sond e r n sie erleben zu l a s s e n " 1 0 2 . Diese Bestimmung steht im Einklang mit der allgemeinen Definition von Seelsorge, die Schian gibt: "Seelsorge im evangelischen Sinn ist also eine die christliche Freiheit des andern sorgsam achtende, aber um der Liebe willen keine Mühe scheuende Sorge f ü r den Christenstand des Bruders"-'-'^. Die aus dem Evangelium abgeleitete Freiheit des Individuums definiert die Grenzen, und die christliche Liebe bietet die Motivation zur Seelsorge, gleichzeitig relativiert die Überordnung des Wortes Gottes die Stellung des Seelsorgers und verbietet es ihm, seine Meinung und Person in der Seelsorgebeziehung als absoluten Maßstab zu setzen. Daraus folgt f ü r den Vollzug der Seelsorge, daß der P f a r r e r sich auf eine Ebene mit dem Gefangenen stellt und damit die hierarchischen S t r u k t u r e n der Anstaltsbeamten bewußt d u r c h b r i c h t , um den Häftlingen das Gefühl der Subordination und Minderwertigkeit zu nehmen. Das Verhalten des Seelsorgers muß sich grundlegend von dem der ander e n Bediensteten u n t e r s c h e i d e n . In diesem Sinne fordert Jacobi: "Jeder
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Anschein, der Pastor sei Beamter oder Vorgesetzter, ist daher unbedingt zu vermeiden... Zu vermeiden ist auch der Sprachgebrauch der Beamt e n " 1 * ^ Christliche Begriffe wie Brüderlichkeit und Liebe werden unglaubwürdig, wenn der Häftling nicht in der Kommunikation mit dem Geistlichen spüren kann, daß er als gleichberechtigter Partner, als Bruder anerkannt wird. Dazu gehört auch, daß der Pfarrer sich ständig vor Augen halten soll, daß er nicht das Recht hat, sich für moralisch besser zu halten als die Verurteilten. Die gemeinsame Einbindung in den Stand der Sünde sollte vor überheblichem Denken und Verhalten bewahren. Solange ein Seelsorger sich am Evangelium orientiert, kann er Gefangenen nicht anders gegenübertreten, "denn als Mitsünder, angetan mit herzlichem Erbarmen, und zwar nicht nur in der Miene, frei von jeder Freude an der Ungerechtigkeit, mit der Freude der Liebe an der Wahrheit im Sinn des Guten"105- Pfennigsdorf führt diesen Gedanken Niebergalls noch weiter: "In keinem Falle vergesse der Seelsorger, daß er selbst ein begnadigter Sünder ist. Erst die Demut, mit der er sich selbst in die Gemeinschaft der Schuld einschließt, öffnet die Herzen, weckt das Vertrauen und gibt ihm die Möglichkeit, auf Christus als den alleinigen Retter aus der Sündenschuld wirksam hinzuweisen" 1 ^. Der Bezug auf den befreienden Gnadenzuspruch aufgrund der Heilstat Christi befähigt den Seelsorger, sein Verhältnis zum Pastoranden unter dem Aspekt der Solidarität der Sünder zu sehen, die gleichermaßen der Vergebung bedürftig sind. J a c o b i 1 ^ versucht, eine dreifache Begründung für die solidarische Haltung des Seelsorgers zu geben: Erstens ist der Gefangene als Geschöpf Gottes niemals aufzugeben, da er als Gottes Geschöpf einen "guten Kern" in sich t r ä g t . Zweitens läßt es die über aller weltlichen Gerechtigkeit stehende und wesenhaft von ihr geschiedene "justitia Dei" nicht zu, daß ein Graben zwischen Menschen gezogen wird, denn nur Gott kann sich von Menschen trennen, daher darf der Seelsorger sich niemals anmaßen, Menschen zu verurteilen, sondern kann nur auf das göttliche Gericht als absolute Instanz verweisen. Und drittens schließt das Bewußtsein der Gesamtschuld, der Mitschuld der Christen an der Delinquenz ihres Bruders, jede anmaßende Selbsterhebung aus. Die normierende und zugleich kritisierende Kraft des Evangeliums allein kann den Seelsorger davor bewahren, seine Maßstäbe als verbindlich für die Behandlung des Pastoranden zu erklären und diesen auf sein Normensystem hin zu verändern. Die Solidarität der Sünder, in der der Seelsorgeprozeß abläuft, erfordert es, in gemeinsamer Verantwortung vor Gott die Fragen des Klienten zu besprechen und zu erkennen, um sie einer möglichen Lösung zuführen zu können.
4.2.6 Schuld und Sühne als Thema der Gefangenenseelsorge Der Widerspruch gegen den geoffenbarten Anspruch Gottes erscheint im klassischen Sinne als Hauptkategorie im Leben des Häftlings: Der Klient
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soll sich als Sünder erkennen "in seiner Gesamtschuld, als Träger eines bösen Willens, woraus die einzelne Tat ja erst hervorgeht"108_ Aus der Erkenntnis der habituellen Sünde folgt eine Relativierung der Einzeltat als "Schlußglied einer langen K e t t e " 1 0 ^ j ) e r Gefangenenseelsorger b e müht sich also nicht vorrangig um den Häftling, weil er Straftäter i s t , sondern weil in der Straftat seine Haltung als Sünder manifest geworden i s t , womit aber kein Kriterium der qualitativen Unterscheidung gegeben i s t . Die eigentliche Not des Gefangenen besteht nicht in seiner Bestraf u n g und dem begangenen R e c h t s b r u c h , vielmehr - und darin t r e n n t ihn nichts von den anderen sündigen Menschen - "in der Versklavung u n t e r die Dinge, Mächte und Werte dieser Welt"H0, die zu einer Lebensorientier u n g g e f ü h r t h a t , die aus sich selbst Sinn zu setzen s u c h t e , nach Selbstverwirklichung t r a c h t e t e , ohne sich dem Anspruch Gottes zu b e u g e n . Diese theologische, allein am Verhältnis Gott - Mensch orientierte Fassung des S ü n d e n b e g r i f f s , die in paulinisch-lutherischer Tradition wurzelt, weist die moralisch-juristische "enumeratio peccatorum''^·'·, die Verwerf u n g des Täters a u f g r u n d seiner Verstöße gegen das Sittengesetz, a b . Die wenigen vorliegenden A u s f ü h r u n g e n zur Gefangenenseelsorge nach dem Ersten Weltkrieg zeigen somit deutlich, daß die B e s t r e b u n g e n , die aktuale Sünde in den Vordergrund der Gefangenenseelsorge zu stellen, nicht weiter tradiert w u r d e n . Eine Ausnahme bietet Mayerhausen, der noch das Verbrechen theologisch als Sünde qualifiziert und zugleich ein moralisches Werturteil damit v e r b i n d e t ! ! ^ Das juristische Unwerturteil über den Menschen wird von der Mehrzahl der Gefängnispfarrer theologisch nicht mehr u n t e r m a u e r t . Die T r e n n u n g von theologischen und juristischen Kategorien zur Beurteilung des Pastoranden wird somit in den 20er J a h r e n wesentlich s t ä r k e r betont als es im 1 9 . J a h r h u n d e r t der Fall war. Steinbeck v e r s u c h t , um eine Kategorie zur Bewertung "der Ü b e r t r e t u n g der sittlichen Norm" zu finden, die Begriffe Unrecht, Sünde und Schuld zu u n t e r s c h e i d e n : "Unrecht ist jede Ü b e r t r e t u n g des göttlichen Willens, gleichviel, ob sie bewußt oder unbewußt geschieht, es ist n u r ein Ausdruck d a f ü r , daß etwas objektiv der F o r d e r u n g des Sittengesetzes widerspricht. Eine Sünde dagegen kann man nach biblischem Sprachgebrauch eine Handlung n u r dann nennen, wenn sie trotz Kenntnis des göttlichen Willens a u s g e f ü h r t worden i s t , sei es aus Übereilung, in einem schwachen Augenblick, sei es mit voller Überlegung. .. Der Begriff der Schuld bedeutet die Strafwürdigkeit des Übert r e t e r s , die natürlich n u r dann vorhanden sein k a n n , wenn er sich des Unrechts seiner Handlung bewußt war, oder wenigstens hätte bewußt sein können"· 1 · 1 ^. Die Definition auf die Situation des S t r a f t ä t e r s angewendet b e d e u t e t , daß d i e s e r , wenn nicht die Wertschätzung der Person negiert werden soll, f ü r seine Taten verantwortlich zu machen i s t , da er sich selbst ins Unrecht gesetzt h a t . Er hat dem Willen Gottes, aus welcher Motivation auch immer, zuwidergehandelt. Dieser Aspekt seiner Tat bleibt u n e n t s c h u l d b a r , wenn auch äußere Umstände sie v e r s t e h b a r machen kön-
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n e n . Während die Sünde absolut konstatiert wird, bleibt Raum f ü r eine relativierende Betrachtung der Schuld und ihrer Strafwürdigkeit. Bei der Beurteilung der Schuld sollte der Seelsorger nach Pfennigsdorf nicht die Kriterien der Strafgesetze übernehmen, sondern nach der p e r sönlichen Schuldhaftigkeit des Täters f r a g e n : "Zur rechten Beurteilung bedarf es der Kenntnis der Gesinnung, der Motive, der Vorgeschichte des Täters"114. Das Verständnis und die Einsicht in die soziale Bedingtheit der Straftat, die vom Seelsorger verlangt werden, sollten ihn aber nicht verleiten, bei der einzelnen Tat des Individuums zu v e r h a r r e n . Er muß den überindividuellen Zusammenhang mit in Betracht nehmen, "die großen sozial-ethischen Krankheitsherde, d u r c h die Tausende von Volksgenossen schuldig und s t r a f b a r werden, studieren und mithelfen, daß sie beseitigt werden". Klatt nimmt Gedanken Wicherns a u f , indem er b e t o n t , daß die letzten Ursachen der Schuld des Einzelnen in der "immer noch zu wenig beachteten Gesamtschuld der Gesellschaft" l i e g e n H 5 und die Gefangenenseelsorge nicht n u r auf die Bearbeitung der individuellen Sündenproblematik des Einzeltäters abgestellt sein k a n n , sondern auch eine gesellschaftsdiakonische Aufgabe beinhaltet. Die auf der Einsicht in die gesellschaftsbedingten Begründungszusammenhänge individueller Delinquenz basierende Ford e r u n g nach einer V e r ä n d e r u n g der das gesellschaftliche Leben bestimmenden Normen im Sinne einer christlichen Sinnorientierung konnte jedoch nicht aus dem appellativen Stadium herauskommen, da in einer sich nach dem Ersten Weltkrieg immer deutlicher weltanschaulich differenzierenden Gesellschaft davon ausgegangen werden mußte, daß der christliche Sündenbegriff keineswegs als monokausaler E r k l ä r u n g s h i n t e r g r u n d f ü r die sozialen Bedingungen der Delinquenz allgemeinverbindlich angenommen wurde. Diese Tatsache spiegelt sich in der Beschreibung der praktischen Arbeitsfelder der Gefangenenseelsorge wider, die im Bereich der Haftsysteme angesiedelt und wesentlich auf individuelle Seelsorge ausgerichtet s i n d . Die Arbeit an der 'Sünde der Gesellschaft' wird zwar g e f o r d e r t , aber Methoden zur Realisierung wurden nicht entwickelt. Es h e r r s c h t eher ein resignierender Ton angesichts der Einsicht in die Unveränderbarkeit von Strukturen. Positiv zu vermerken ist f ü r die Betonung des Sündenbegriffs vor der juridischen Schuld des Individuums, daß damit ein theoretischer Ansatz gefunden wurde, das Bewußtsein der Gleichwertigkeit von Inhaftierten und Nichtverurteilten in der Öffentlichkeit zu schaffen und die moralische Abqualifizierung der Straftäter zu r e d u z i e r e n , allerdings u n t e r der Prämisse, daß das theologische Erklärungsmodell von Delinquenz als Abwendung von Gottes Willen übernommen wird. Das an der Beziehung G o t t Mensch ausgerichtete christliche Modell steht nach 1918 deutlicher als im 19.Jahrhundert in Konkurrenz zu den juristischen Kategorien von Schuld und Verurteilung, die den S t r a f t ä t e r aus der Gesellschaft qua Strafe entf e r n e n , also nicht an die Verantwortung der Gesellschaft appellieren.
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Diese entlastende Funktion des S t r a f r e c h t s , die mögliche Delegation der Verantwortung an Institutionen, erschwerte den Versuch, ein Gefühl der Mitverantwortung f ü r die Schuld des Täters in der Öffentlichkeit zu entwickeln.
4.2.7 Reue und Vergebung im seelsorgerlichen Gespräch Wird im seelsorgerlichen Gespräch der Verstoß des Pastoranden gegen den göttlichen Willen evident, so steht der Seelsorger vor der Aufgabe, die Eigenverantwortung des Täters herauszustellen. Jegliche Ausreden oder Entschuldigungen sind abzuweisen, und dem Häftling ist klarzumachen, daß sein Verhalten nicht vor Gottes Urteil bestehen k a n n . Notfalls sollte der Geistliche nach Steinbeck sogar "mit Gottes Gericht . . . drohen"^ 1 ®, um zur Einsicht der Sünde zu f ü h r e n . Der Versuch, den Klienten zur Sündenerkenntnis zu bewegen, sollte nicht nach einem generellen Schema erfolgen, vielmehr dem Rahmen der seelsorgerlichen Kommunikation entwachsen. Die schwere Kunst des Seelsorgers besteht nach Niebergall darin, "statt methodischer Bearbeitung einen Menschen langsam und eigenartig zu führen"! 1 · 7 . In diesem Zusammenhang wird die im 19. J a h r h u n d e r t viel diskutierte F r a ge nach dem Geständnis des Häftlings und seiner Bedeutung f ü r den Fortgang der Seelsorge wieder v i r u l e n t . Für Pfennigsdorf gewinnt das Geständnis allgemein als Bekenntnis der Schuld vor Gott im Seelsorgeverfahren eine wesentliche Bedeutung, da der Pastorand damit deutlich macht, daß er bewußt eine "Scheidung zwischen dem Einst und J e t z t " H 8 vollzieht. Das Geständnis der Schuld erscheint als Indikator der Bereitschaft zur Überwindung der Fehlorientierung. Klatt betont dazu e i n s c h r ä n k e n d , daß der "in der älteren Literatur v e r t r e t e n e S t a n d p u n k t : 'Der Anfang seelsorgerlichen Wirkens ist das Geständnis der S c h u l d ' . . . als endgültig überholt angesehen w e r d e n " H 9 m u ß . Eine inquisitorische Haltung des Seelsorgers sei auf jeden Fall zu vermeiden, um nicht in den Verdacht zu g e r a t e n , in der Frage des Schuldgeständnisses als ein Hilfsorgan der Polizei oder der Untersuchungsbehörden a u f z u t r e t e n . Als Konsequenz dieser A u s f ü h r u n g e n ist festzuhalten, daß in der Literat u r der 20er J a h r e die prinzipielle Frage nach der Anwendung von Gesetz u n d / o d e r Evangelium kaum noch Erwähnung findet: Ist das Geständnis nicht mehr der Schlüssel zum Seelsorgeverfahren, wird auch die F r a ge u n b e d e u t e n d , wie es am geeignetsten zu erreichen sei. Völlig ausgeschieden aus der Diskussion ist die alleinige Betonung des Gesetzes, die sich in einer fordernden und drängenden Haltung des Geistlichen niederschlägt. Vielmehr scheint die Anwendung von Gesetz und E v a n g e l i u m l 2 0 je nach der Größe des Widerstandes des Pastoranden gegen die Erkenntnis seines Sündenstandes praktiziert worden zu sein: So hält es Niebergall f ü r a n g e b r a c h t , den Klienten nicht mit dialektischer Ü b e r r e d u n g s k u n s t
- 191 zu überzeugen, sondern ihm ein Ideal des Lebens vorzustellen, das nicht nur aus dem Ideal der christlichen Vollkommenheit besteht, sondern auch das 'Du sollst' des Alten Testaments enthält, damit er seinen Abstand von der gottgewollten Lebensführung erkennen k a n n ^ l . Gesetz und Evangelium, Forderung und Zuspruch werden hier situationsadäquat vertreten, während B e r g g r a v 1 2 2 ( j e n Ansatz von Rohdens tradiert, der den gesetzlichen Aspekt aufgrund seines dem Gefängniswesen zu nahestehenden Zwangscharakters ablehnt, da er nur den Widerstand der Pastoranden wecken würde. Das seelsorgerliche Gespräch, das auf die Erkenntnis der Sünde hinzielen soll, ist im weitesten Sinne als Beichtgespräch zu fassen, das aus den drei überlieferten Komponenten: Contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis besteht. Die Bedeutung der confessio oris, des Geständnisses, als erster Schritt zur möglichen Bewältigung der Schuldproblematik wurde bereits herausgestellt. Die beiden anderen Komponenten lassen sich im Seelsorgegespräch zwischen Pastor und Strafgefangenem als Reue und Bereitschaft zur Sühne des Delinquenten ausweisen. Die contritio cordis, die Reue, bedeutet für Reuß den Kernpunkt der Beichte, da sie die rationale Ebene durchbricht und den emotionalen Bereich des Gefangenen a n s p r i c h t l 2 ^ . Die Reue sollte vom Seelsorger niemals erzwungen werden, sondern ist "unter Hinweis auf den Ernst und die Güte Gottes zu w e c k e n " 1 2 4 und ist motiviert, "weil man sich an Gott versündigt h a t " ! ^ Qj[e R e u e über den Widerspruch gegen Gott wird als wesentlicher Schritt zur Befreiung des Pastoranden von der Belastung seines selbstsüchtigen Lebens angesehen^®, weil er selbst die Verantwortung für seine Tat anerkennt und aufgrund der Einsicht in die Autorität des göttlichen Willens die unverantwortbaren Voraussetzungen zugleich verurteilt. Für Berggrav stellt sich die Frage, wieso angesichts der befreienden Wirkung der Reue so wenig Reue und Bußstimmung bei den Häftlingen zu finden i s t . Eine Erklärungsmöglichkeit deutet sich ihm in der Präponderanz des Zwangscharakters der Strafhaft im Erleben des Inhaftierten an: Die Strafe erscheint als etwas "bürgerliches", als die "Erledigung einer Unstimmigkeit, die der Gefangene mit der Gesellschaft hat", so daß der Häftling die Überzeugung entwickelt, daß mit der Strafe zwischen ihm und der Gesellschaft alles bereinigt ist. Vom Gefangenen zu verlangen, vor Gott sein eigenes Unwerturteil über die bisherige Existenz zu sprechen, was emotional wesentlich gravierender wirkt als die Verurteilung aufgrund der Straftat, erscheint daher aussichtslos, solange er das Gefühl hat, daß nur ein neuer Richter auf ihn zukommt, wo er doch gerade das Gegenteil sucht: Jemanden, der ihm die Verantwortung erleichtern kann. Berggrav vertritt gegenüber Steinbeck und Pfennigsdorf, die die Forderung der Reue aus ihren prinzipiellen Überlegungen zur Seelsorge ableiten, einen Ansatz, der die Bedürfnisse des Pastoranden als Ausgangs-
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punkt nimmt. Für die Gefangenenseelsorge lehnt er daher auch das gesetzlich-fordernde Vorgehen ab und sieht deshalb in der Reue das letzte Glied des Seelsorgeprozesses mit der B e g r ü n d u n g : "Bevor sie Gott so begegnet sind, daß sie seiner froh geworden sind und sich in seine Hand begeben haben, können sie nicht dahin kommen, ihm gegenüber i r g e n d etwas zu b e r e u e n . Man könnte es paradox so a u s d r ü c k e n : sie müssen erst die Vergebung haben, ehe sie bereuen können"·'-^. Doch diese die traditionelle Abfolge in der Beichtpraxis durchbrechenden Überlegungen B e r g g r a v s wurden nicht weiter aufgenommen. Die Reue behielt in den anderen Ansätzen ihren Stellenwert als Voraussetzung zur Buße, zur inneren Umkehr des Delinquenten, die in eine neue Glaubensgemeinschaft mit Gott hineinführen solltel28_ Die Buße manifestiert sich im Willen des Pastoranden, "Lebensabrechnung zu h a l t e n " ! ^ . Dieser Drang, das eigene Leben auf eine neue Basis zu stellen, muß im Gefangenen selbst erwachsen. Hier steht der Seelsorger an der Grenze seiner Möglichkeiten: Es bleibt letztendlich ein individuelles Erlebnis des Menschen, wann ihm aus irgendeinem u n v o r h e r s e h b a r e n Grund "das Absolute und oft auch das Transzendente" aufgeht und das bisherige Leben zusammenbricht Hat der Pastorand sein bisheriges Leben in seiner Gottlosigkeit verurteilt und b e r e u t , so bleibt dem Seelsorger als letzter Schritt der Behandlung der Sündenproblematik der Hinweis auf Christus "als den alleinigen Retter aus der Sündenschuld"^ 3 1 . Die Gefangenenseelsorge gipfelt d a r i n , dem reuigen Sünder "das Heil in C h r i s t o " 1 3 2 z u vermitteln. Der Gefangenenseelsorger, der sich selbst als begnadeter Sünder v e r s t e h t , wird seine Kraft dahingehend einsetzen, auch dem Gefangenen die Vergebung seiner Sünden z u z u s p r e c h e n , d e n n , so Jacobi, "durch die Vergebung allein wird die Schuld aufgehoben, nicht d u r c h die S t r a f e " ^ 3 3 . Der Glaube an die Gnade Gottes, die auch die eigenen Sünden nicht u n v e r g e b e n lassen wird, kann den Delinquenten erst zu einem neuen Leben wahrhaft b e f r e i e n , weil er sich von Gott angenommen weiß und aus dieser Absicherung seiner Existenz sein Leben neu beginnen k a n n . Christologische Argumente p r ä g e n ein z u k u n f t s e r ö f f n e n d e s Seelsorgegespräch über die Schuld und ihre Überwindung. In diesem Sinne äußert sich auch abschließend Steinbeck in seinen A u s f ü h r u n g e n über die Behandlung der Sündenproblematik des S t r a f g e f a n g e n e n : "Diesen Trost dem erwachten Gewissen zu s p e n d e n , indem man auf die Gnadenverkündigung Jesu und auf seinen Versöhnungstod hinweist, ist das schönste Vorrecht der Seelsorge. Dann wird aber auch der Glaube an sie mit dem Entschluß v e r b u n d e n sein, das Leben nun aufs neue nach Gottes Wollen zu gestalten, den Kampf mit dem Bösen t e u e r zu kämpfen und das Gute e r n ster zu e r s t r e b e n . Unter Umständen muß versucht werden, die geschehene Sünde wieder gut zu machen . . . In diesem Willen und Bestreben zeigt sich, ob Reue und Glauben echt w a r e n " 1 3 4 .
- 193 4 . 2 . 8 Religiosität und Psyche des Häftlings Nach den ersten Versuchen Krohnes, die religiösen Einstellungen der Häftlinge für das Seelsorgeverfahren relevant zu machen, nimmt erst Berggrav diesen Themenkreis systematisiert wieder auf. Er vertritt dabei den religionspsychologisch ausgerichteten Ansatz, daß religiöse Elemente im "Gemüt der Gefangenen" vorfindlich sind. Zu beachten ist die Scheidung von Religion und Religiosität, die Berggravs Ansatz kennzeichnet: "Vielleicht läßt es sich so ausdrücken, daß sich im Gefängnis viel Religiosität befindet, aber wenig Religion. Ich meine dabei mit Religion das wirkliche, persönliche und verpflichtende Gottesverhältnis, und mit Religiosität eine ganze Menge unbestimmbarer und nicht verpflichtender Gedanken, Gefühle und tastendes S u c h e n " 1 3 5 . Hinter dieser Scheidung steht implizit die Überzeugung, daß allein die Gottesvorstellung des Christentums als Religion zu betrachten i s t , während Religiosität als infantile Vorform - emotional erlebte religiöse Elemente situations gebundener Art - zu fassen ist. Aufgrund seiner Untersuchung analysiert Berggrav die Religiosität der Gefangenen als eine pathologische Erscheinung. Kennzeichnend für deren infantile Religiosität ist ihre finale Ausrichtung: Der Gefangene erwartet etwas von seiner Gottesbeziehung. Gott ist für ihn derjenige, der den Ausweg aus der Misere der Haft schaffen kann. Die religiöse Bindung wird aufrechterhalten, um Vorteile für sich selber erhoffen zu können. Für den Seelsorger sind die Folgen dieser Einstellung bedeutungsvoll: Die Enttäuschung, oft Bitterkeit der Häftlinge, die sich für viele als "Lebensanschauung" befestigt hat: "Es nützt nichts mit dem Herrgott"136. In enger Beziehung dazu steht der andere Hauptzug der infantilen Religiosität: Die magischen Erwartungen: "Gott ist . . . der Verwandlungskünstler, der . . . die Lage auf den Kopf stellen soll". Viele Strafgefangene sehen diese Wundererwartung als entfernte Möglichkeit der Existenzveränderung an, an die sie zwar nicht recht glauben, die aber als letzte Hoffnung auch nicht ganz abgelegt werden sollte 1 3 ^. Eine andere Ausformung von Religiosität ist mehr verinnerlicht. B e r g grav bezeichnet sie als "gefühlvoll-infantil". Die Gefangenen bemitleiden sich selbst und verlangen das Mitleid anderer. Da sie das aber nicht erleben können, drängen sie Gott in die Rolle des einzigen, der sie voll versteht. Diese gefühlvolle Religiosität ist eine Funktion der Einsamkeit, in der sich der Häftling befindet, sie trägt keinen fordernden Charakter, sondern eher resignierende Züge·*·3®. Wenn es auch überspitzt erscheint, daß Berggravs Analyse die Religiosität der Gefangenen vorrangig auf den pathologischen Aspekt reduziert, so führt er doch zu einer beachtenswerten Methode der Seelsorge, die nicht in der Relation Gott - Mensch ihren Ausgang findet, sondern bemüht i s t , Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbstfindung zu bieten, um dann in eine Gottesbeziehung zu leiten, die die infantilen Re-
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ligionsausformungen überwinden k a n n . Das echte Glaubensleben beschränkt sich f ü r Berggrav nicht n u r auf den emotionalen Bereich des Menschen, sondern bestimmt wesentlich seinen Willen. Der einzelne Gefangene steht somit im Mittelpunkt der seelsorgerlichen Bemühungen, die zum großen Teil als 'nicht-religiöse Pflege' der Gefangenen im Blick auf d e r e n Selbstverantwortlichkeit geschieht. Sie beinhaltet Sorge f ü r Arbeit und Bildung und sollte sich an den Bedürfnissen des Pastoranden orientieren. Ohne eine individuelle Vertiefung und psychologisch orientierte E r f a s s u n g des Individuums des Straftäters ist die Seelsorge im v e r ä n d e r t e n Strafvollzug nicht möglich. Diese Einsicht f ü h r t auch Günther zu der F o r d e r u n g : Es "wird ohnehin die ganze seelsorgerliche Arbeit mehr als f r ü h e r einen individuellen Charakter annehmen müssen". Dieser Ansatz bedeutete zugleich eine Abkehr von der generalisierenden Behandlung des Delinquenten als S ü n d e r . Für das Verständnis der Sünde gilt e s , deren "unheimliche Gesetzmäßigkeit" zu e r k e n n e n , "weil ja doch dem Seelsorger nicht Allgemeinheiten entgegentreten, sondern immer wieder der einzelne Mensch mit seinem Schicksal"139. Methodisch adäquat ist daher ein spezifisches Abwägen der sozialen und sozialisationsbedingten Faktoren der Delinquenz genese, die der Seelsorger vornehmen muß, um dem Pastoranden gerechtwerden zu können. Vergleichbare, wenn auch e t was allgemeiner formulierte Anforderungen an den Geistlichen stellt auch Pfennigsdorf. Seiner Ansicht nach bedarf der Seelsorger "einer gründlichen C h a r a k t e r - und sozialen Schichtenkunde, sodann auch einer Typenkunde der Häftlinge selbst . . . und der wichtigsten Kenntnisse aus der Psychologie der Anormalen.. ."140. während Pfennigsdorf den psychopathologischen Aspekt mehr h e r a u s s t e l l t , versucht Günther, die seelische Haltung der Gefangenen wertneutral zu e r f a s s e n . Deswegen kann er als Theologe Ergebnisse der Psychologie und Psychoanalyse in seine Überlegungen zur Ausgestaltung der Seelsorge miteinbeziehen, wobei er allerdings den Humanwissenschaften den Rang eines "Hilfsmittels" zuordnet. Ihre Anwendung wird f ü r den formalen Rahmen der Gefangenenseelsorge relevant, denn nach Günther hat die "wirkliche Seelsorge" eine "andere transzendente Seite, und ihre Grenzen können nicht bestimmt werden d u r c h die Grenzen u n s e r e s wissenschaftlichen Könnens. Die irdischen Kräfte f ü r alle Seelsorge stammen eben nicht aus irdischer Wissenschaft . . . " 1 4 1 . Günther grenzt sich bewußt von der rein empirisch analysierenden Betrachtung des Menschen a b , um als das Proprium der Seelsorge das Einbeziehen der transzendenten Beziehung des Menschen zu Gott zu wahren und zugleich noch Raum zu lassen f ü r ein Eingreifen Gottes in den Seelsorgevollzug. Es werden also die Ergebnisse der Humanwissenschaft übernommen, ohne deren methodischen Hintergrund als allgemeingültig a n z u e r k e n n e n . Das f ü h r t in der Gefangenenseelsorge zu einem methodisch noch nicht f u n d i e r t e n Erfassen der Person des Pastoranden, das aber einen entscheidenden Fortschritt mit sich b r i n g t , da die Psyche des Klienten s t ä r k e r als im 19. J a h r h u n d e r t als zu beachtender Faktor in die
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Überlegungen zum Seelsorgeverfahren einbezogen wird. Für Jacobi ist es eine unumstößliche Tatsache, daß die Deprivation der Gefangenschaft auf die Psyche der Gefangenen "einen ganz starken Einfluß a u s ( ü b t ) , der sich nicht selten zu einer ausgesprochenen Gefangenenpsychose ausw e i t e t " ! ^ . Deswegen kann der Geistliche nicht umhin, sich - so Klatt nachdrücklich mit der Frage zu beschäftigen: "Was geht in dem einges p e r r t e n Menschen vor! ", um auch die äußeren Faktoren des inneren Erlebens mit in den Seelsorgevollzug einzubeziehen. Das Aufsichalleingestelltsein und die mangelnde entlastende Kommunikation erzeugen im Inhaftierten einen Leidensdruck, eine außergewöhnliche psychische Lage, die er nicht zu bewältigen vermag. Wutanfälle, Ausb r u c h s v e r s u c h e , Beleidigung der Beamten, das sind n u r vorübergehende Möglichkeiten, die aufgestauten Aggressionen zu lösen oder das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden; sie enden meist in Apathie und Depressionen: "Es dauert nicht lange, dann hat der isolierte Mensch sein I n n e r s t e s an das Vakuum der Zelle v e r a u s g a b t . Denn n u r ganz wenige M e n s c h e n . . . haben ein so reiches Innenleben, daß sie in solcher Leere nicht u n t e r g e h e n " ! ^ . i n dieser psychischen Zwangslage zeigen die Gefangenen ein s t a r kes "Bedürfnis nach Aussprache und Teilnahme" 144, das der staatliche Vollzugsorganismus nicht erfüllen k a n n . Die Möglichkeit des seelsorgerlichen Gesprächs gewinnt f ü r den Gefangenen eine große Bedeutung, sie bietet ein wichtiges Mittel, die Leere der Existenz zu füllen. Der Seelsorger hat zunächst einmal die Aufgabe, "die Abgestumpften" mit seiner Gesprächsbereitschaft "innerlich zu beleben" 145, Das zweite große Problem neben der Abstumpfung im emotionalen Bereich liegt f ü r den Gefangenen in dem Erleben von Schuld und S t r a f e . Die Dienstanweisung des preußischen Oberkirchenrates stellt diesen Problemkreis einseitig d a r : "Die sittlichen Begriffe sind häufig v e r w i r r t . Das Schuldbewußtsein ist vermindert. Die Schande, im Gefängnis zu sein, wird nicht mehr in gleichem Maße wie einst empfunden"146. Das mangelnde Autoritäts- und Schuldbewußtsein wird den Gefangenen implizit als sittlicher Mangel angelastet, ohne nach den Hintergründen zu f r a g e n . Berggrav dagegen v e r sucht dieses Problem näher zu e r g r ü n d e n , indem er das Phänomen der Strafe nicht aus der Sicht der Gesellschaft - wie auch die Dienstanweis u n g - zu erfassen v e r s u c h t , sondern aus dem Erlebnishorizont des Gefangenen. Strafe ist im pädagogischen Sinne n u r als v e r s t e h b a r anzusehen f ü r den B e s t r a f t e n , wenn die Verbindung zur Tat erlebbar i s t , in zeitlich ü b e r s e h b a r e r Relation zu ihr s t e h t . Doch die Freiheitsstrafe ist auf lange Zeiträume hin ausgelegt. Anstatt des erwarteten Gefühls, sich der Tat verantwortlich stellen zu wollen, erlebt der Inhaftierte die Strafe als Zerstörung seiner menschlichen Existenz: "Dieser Wesenszug der Strafe hat in seelischer Hinsicht in e r s t e r Linie eine Innenseite: das Bewußtsein, gebrochen, niedergeworfen, gefallen zu sein"147. Die Überlegungen B e r g g r a v s e r h ä r t e n die schon mehrmals v e r t r e t e n e These, daß das Bewußtsein von Schuld und Strafwürdigkeit bei der
- 196 Mehrzahl der Gefangenen nicht ausgeprägt und aufgrund ihrer psychischen Konditionen auch nicht ohne Fremdeinwirkung zu entwickeln ist. Die Ansätze einer psychologischen Orientierung in der Seelsorgediskussion nach dem Ersten Weltkrieg implizierten eine Anfrage an die seelsorgerliche Praxis, ob es sinnvoll ist, den Gefangenen hauptsächlich unter dem Aspekt des Sünderseins zu behandeln, ohne zu reflektieren, daß das Sünderbewußtsein erst in ihm entwickelt werden muß. Der Bereich der Sünde erscheint für die seelsorgerliche Beziehung erst relevant werden zu können, wenn es dem Seelsorger gelingt, die psychische Problematik aufzuarbeiten und darauf aufbauend die Sündenproblematik als eine die Existenz erhellende Fragestellung einzuführen, ohne daß der Häftling das Gefühl der Verurteilung erhält. Es soll ihm eine Kategorie eröffnet werden, die ihm hilft, sich selbst in seiner Situation zu verstehen. Der Seelsorger kann den Weg zur Selbsterkenntnis eröffnen, wobei die emotionale Ebene, das annehmende Verstehen, methodischen Vorrang vor bekehrender Beeinflussung besitzen sollte.
4 . 2 . 9 Zusammenfassung der Tendenzen der individuellen Seelsorge nach 1918 Der von Günther aus berechtigtem Bedenken gegenüber einem methodischen Schematismus in der Gefangenenseelsorge geforderte 'individuelle Charakter der ganzen seelsorgerlichen Arbeit' ist mit verschiedenen Modifikationen auch von anderen Seelsorgern als heuristisches Modell aufgenommen worden. Eine Aufgeschlossenheit gegenüber nichttheologischen Kategorien, die zur Erfassung der Person des Pastoranden dienen konnten, ist im praktischen Vollzug der Seelsorge zu erkennen. So formuliert Pfennigsdorf allgemein als Aufgabe des Seelsorgers, "möglichst aus der Gesamtheit der individuellen und sozialen Züge sich ein Bild von der inneren Lage und Bedürftigkeit des Individuums zu machen, dem er seinen Dienst zu widmen hat"148. Die Tendenz, das Individuum im Seelsorgeverfahren stärker zu berücksichtigen, führte dazu, den Dienst- und Angebotscharakter der Seelsorge zu betonen, der die Freiheit des Pastoranden achtete und seiner Person den Eigenwert nicht absprach. Offen blieb die Diskussion unter den Seelsorgern in der Frage der Vermittlung von traditionellen Inhalten der Gefangenenseelsorge, wie sie sich besonders in der Sündenproblematik als Thema der Seelsorge manifestieren, und der aus der Reform des Strafwesens resultierenden Tendenz der Individualisierung, für die sich besonders Berggrav einsetzt, wenn er als ein Hauptziel der Gefangenenseelsorge die Selbstverwirklichung des Pastoranden ansieht. Die Gefangenenseelsorge ist nach Berggravs pointiertem Ansatz wesentlich dazu da, dem Gefangenen Wege der Kommunikation zu eröffnen, die ihn aus seiner Isolation und somit aus seiner Sündenproblematik herausführen
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und zugleich neues Leben e r ö f f n e n können. Damit v e r b u n d e n ist f e r n e r eine s c h a r f e Kritik am bestehenden Strafsystem: "Wenn es so i s t , wie Luther nicht müde wird zu betonen, daß die eigentliche Sünde i s t , sich um sich selbst zu d r e h e n , so ist es k l a r , daß wir einen Mann damit, daß wir ihn in die Zelle setzen, nicht gegen die Möglichkeiten des Verderbens gesichert haben"14f. Aber auch bei traditionell orientierten Ansätzen der Gefangenenseelsorge, wie sie P f e n n i g s d o r f , Niebergall oder Steinbeck v e r t r e t e n , wurde deutlich, daß die im 19.Jahrhundert h e r r s c h e n d e Einstellung, Sünde und Straftat zu identifizieren, nicht tradiert wurde. Die Sünde wurde als theologisches Interpretament der delinquenten Lebenshaltung des Pastoranden herangezogen. In der seelsorgerlichen Zielsetzung, den S ü n d e r s t a t u s zu überwinden, wurde der immanente Rahmen des Vollzugswesens t r a n s z e n d i e r t , indem dem Inhaftierten die Beziehung zu Gott als neue bestimmende Perspektive seines Lebens eröffnet wurde. Damit war zugleich auch die Identifizierung von Strafvollzug und Sühne aufgehoben und implizit dem Strafvollzug die Legitimation abgesprochen, den göttlichen Rechtswillen zu vollziehen. Die Bereitschaft, auf die psychische Situation des Gefangenen einzugehen, f ü h r t e dazu, nicht mehr die göttliche Weltordnung als Ausformung des göttlichen Strafwillens zu int e r p r e t i e r e n , sondern ihren ursprünglichen Sinn herauszustellen: Die Vorstellung der heilsamen Gottesordnung, die das Zusammenleben der Menschen vom göttlichen Heilswillen bestimmt wissen wollte. In der Gefangenenseelsorgediskussion hatte sich damit die Überzeugung d u r c h g e setzt, daß die Identifikation mit dem staatlichen Zwangssystem zu einer ablehnenden Haltung der Pastoranden f ü h r t e und daher eine persönlichkeitsbezogene Seelsorge grundlegend erschwert wurde. Zugleich bedingt e , wie Nadastingl^O a u s f ü h r t , die Identifikation mit dem Vollzug eine Mitverantwortung f ü r dessen geringe Effektivität. Daraus folgte f ü r die inhaltliche Gestaltung der Gefangenenseelsorge die Notwendigkeit, im Blick auf die sozialen und individuellen Gründe von Delinquenz die Heilsv e r k ü n d i g u n g des Evangeliums, das Angebot der Versöhnung zu betonen: Annahme zu demonstrieren statt Verurteilung.
4.2.10 Die allgemeine Seelsorge im Gefängnis: Der Religionsunterricht In größeren Anstalten wurde vom Geistlichen Religionsunterricht angebot e n . Die Teilnahme am Religionsunterricht war - anders als im 19. J a h r h u n dert - jedem Gefangenen freigestellt. Die Bedeutung des religiösen Unterrichts f ü r die Einzelseelsorge wurde hoch eingeschätzt. Da vielen Gefangenen das Wissen und die Kenntnis der "einfachsten religiösen Grundwahrheiten und Tatsachen fehlt", dient der Religionsunterricht nach Klatt, der damit die funktionale Zuweisung des Unterrichts zur Einzelseelsorge im Sinne Wicherns vornimmt, zur Grundlagenbildung, die die Seelsorge erst e r möglicht 1 5 1 .
- 198 In der Frage der Thematik der Unterrichtsstunden geht die Gefangenenseelsorge nach dem Ersten Weltkrieg über dierein dogmatische Belehrung der Häftlinge, wie sie im 19.Jahrhundert üblich war, hinaus: "Der Religionsunterricht... wird seinen Zweck nur dann erreichen, wenn er den Fähigkeiten und den inneren Bedürfnissen der zu unterrichtenden Jugendlichen und Gefangenen angepaßt ist. Er wird deshalb von dem vorhandenen geistigen Besitz und den gemachten Lebenserfahrungen ausgehen und die sittlichen Werte der christlichen Religion in lebendiger Weise zu vermitteln suchen müssen"*^. £>je v o n ^er Dienstansweisung des preußischen Oberkirchenrates geforderte Ausrichtung der religiösen Unterweisung an den Fähigkeiten und Interessen der Inhaftierten ist möglich, da dieser Unterricht aus dem auf Leistung ausgerichteten Schulunterricht herausgenommen worden ist. Der Geistliche "hat kein Pensum vor sich, das er in bestimmter Zeit erledigen muß, sondern kann den Unterricht ganz nach seinen Wünschen und - was sehr wichtig ist - nach der Stimmung der Gefangenen e i n r i c h t e n " ! ^ . Damit bietet der Religionsunterricht einen Freiraum, der zur Aussprache über allgemein interessierende Themen genutzt werden kann. Besondere Bedeutung gewann der Unterricht als Gelegenheit für die Gefangenen, in freier Diskussion untereinander und mit dem Gefängnispfarrer sich eine eigene Meinung zu bilden, womit der Religionsunterricht zur Kommunikationsermöglichung der Gefangenen beitrug, die der beklagten Abstumpfung in der Isolation entgegenwirken konnte. Heß bietet ein Spektrum von relevanten Themen, die der Geistliche anschneiden sollte, da sie die Gefangenen tangierende Probleme aufgreifen. Hierzu gehören die Erörterung von Fragen "über die Ehe, die Familie, das Geschlechtsleben vor der Ehe", die Problematik des Alkohols, Aussprachen über politische Fragen, auch das Thema der "sittlichen Rechtfertigung der Strafe" sollte nicht ausgeklammert werden!54. Der Geistliche bemühte sich um eine Gestaltung des Unterrichts, der die Verbindung von christlichen Glaubensinhalten zu den die Häftlinge bewegenden Problemen herstellte, so daß der Religionsunterricht nicht auf das Lernen von religiösen Inhalten beschränkt blieb, sondern eine problemorientierte Fragehaltung auswies, mit der sich der Gefangene identifizieren konnte.
4.2.11 Gottesdienst und Predigt "Der Geistliche hat dahin zu wirken, daß die Gefangenen mit Lust und Liebe zum Gottesdienst kommen"!^. Nach der Aufhebung des Zwanges zum Gottesdienstbesuch hoffte man, daß nur diejenigen Gefangenen zum Gottesdienst kommen, die wirkliches Interesse zeigen. Frei wies nach, daß in den Strafanstalten im süddeutschen Raums - als Beispiel wird Ludwigsburg angeführt - rund 90 % der Inhaftierten vom Gottesdienstangebot Gebrauch machen, während in einigen norddeutschen Ländern, wie Thüringen und Sachsen, durchschnittlich nur 10 % der Gefangenen den Gottes-
- 199 dienst besuchen. In dieser geringen Zahl meint F r e i 1 ^ die Unsinnigkeit der Freistellung des Gottesdienstbesuches bewiesen zu sehen. Den auf numerischen Erfolg ausgerichteten Zwang weist Heß als unsinnig ab, da der Gefangene während der Haft auf eine Bewährung in der Freiheit vorbereitet werden soll, das gilt auch für die Frage des Gottesdienstbesuches, um "die Selbständigkeit und das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen" zu stärken Ein Problem wurde durch die Freiwilligkeit v e r schärft: Die Gefahr, daß Gefangene, die den Gottesdienst besuchen, den Repressionen, Verleumdungen und dem Spott der antireligiös eingestellten Mitgefangenen ausgesetzt s i n d * ^ Der Gottesdienst stellte den "Höhepunkt jedweden religiösen Lebens in der Anstalt" dar!59. ihm kam nicht nur die Aufgabe der Verkündigung zu, zugleich bildete er ein Forum, in dem im Strafvollzug christliche Gemeinschaft erlebbar werden konnte. Der Gottesdienst sollte den Gefangenen das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der christlichen Gemeinschaft vermitteln, der sie, trotz der Aussonderung aus der bürgerlichen Gesellschaft, weiterhin angehören. Deshalb forderte Heß mit Recht, den Gottesdienst so zu gestalten, daß dem Häftling weitestgehend der Eindruck genommen wird, sich in einer Strafanstalt zu befinden 160. j m Ablauf des Gottesdienstes sollte - wie auch Berggrav betont - der Gefangene sich als Mensch angesprochen fühlen. Der hohe emotionale Wert dieser Gemeinschaftsveranstaltung sei zu beachten: "In der Kirche sind wir alle zusammen - einschließlich Pfarrer und Aufseher - außerhalb jeden menschlichen Urteils gestellt, weil wir IHM gegenübergestellt sind, vor dem wir alle gleich schuldig sind. In der Kirche darf niemals als zu Gefangenen gesprochen werden, stets nur zu Menschen, zu einer Gemeinde, die den vollen Wert und die volle Freiheit gegenüber Gott h a t . . . Der Kirchgang soll ein Berg Nebo sein, wo wir von dem Niederen und Verschollenen zu der v e r heißungsvollen Aussicht auf Freiheit und Erlösung emporgehoben werden, die Gott uns allen eröffnet. In der Kirche hat jeder Gefangene unverkürzten Menschenwert" 1 ^ 1 . Der Kirchenbesuch vermittelt den Gefangenen ein Stück Freiraum in der Vollzugsatmosphäre als Manifestation der sonst nur zugesprochenen christlichen Freiheit. Ob der auch von Jacobi vertretene programmatische Satz: "Der Gottesdienst ist der einzige Platz, wo der Gefangene sich nicht als Sträfling fühlt, nicht fühlen darf, sondern als Mensch und Glied einer großen Gemeinde" 162; in der Praxis wirklich so realisiert werden konnte, daß die Kirchenbesucher die emotionale Erfahrung eines Freiraums entwickeln konnten, ist letztlich nicht zu klären. Entscheidend bleibt aber die Funktion, die von den Gefangenenseelsorgern dem Gottesdienst unterlegt worden ist: Die Vermittlung eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das die Hoffnungsperspektive der Aufnahme in die christliche Gemeinschaft aufgrund des gemeinsamen Glaubens e r ö f f n e t ! 6 3 . Für die Gestaltung des Gottesdienstes gilt der Grundsatz: "Der Gottesdienst in den Gefangenenanstalten ist im wesentlichen in den Formen des
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sonntäglichen Gemeindegottesdienstes abzuhalten. Der Gesang ist mit besonderer Sorgfalt zu pflegen. Der Gottesdienst ist auch in seinem liturgischen Teil möglichst abwechslungsreich zu gestalten und den tiefsten geistigen und seelischen Bedürfnissen der Menschen und der Gefangenen im besonderen a n z u p a s s e n " 1 ^ . Der Prediger kann die Tatsache nicht außer acht lassen, "daß die Gefangenen dem religiösen und kirchlichen Leben meist sehr entfremdet sind" und auch n u r selten die Fähigkeit mitbringen, während des ganzen Gottesdienstes volle Aufmerksamkeit zu e n t w i c k e l n ^ . Daraus erklärt sich die Forderung nach liturgischer Abwechslung und die hohe Einschätzung des Kirchengesangs als eines Mittels, das den Gefangenen die aktive Mitwirkung am Gottesdienstgeschehen ermöglicht, den Gottesdienst auflockert und zugleich einen pädagogisch wichtigen Effekt des Gemeinschaftsgefühls mit sich b r i n g t . 1
Für die Abfassung der Predigt wurde zu bedenken gegeben, daß sie die Hörer in i h r e r Aufnahmebereit Schaft und Zuhör fähigkeit nicht ü b e r f o r dern d a r f . Das galt sowohl f ü r den kognitiven Bereich als auch f ü r die Länge der Predigt. Andererseits sollte der Prediger aber nicht in einen trivialen Stil verfallen, der die Gefangenen u n t e r f o r d e r t : "Die Predigt muß zwar einfach und anschaulich sein, aber doch ihre Aufgabe, religiöse Werte in angemessener Form zu vermitteln, erfüllen" 1 ®®. Größeren Raum als die Überlegungen zu den Predigt form alia nehmen in der Literatur die A u s f ü h r u n g e n zu Inhalt und Zweck der Predigt im Gefängnisgottesdienst ein. Der Prediger sollte nach Steinbeck "nicht bloß von Schuld und Strafe und Gnade r e d e n , sondern . . . den Gesamtinhalt des Gesetzes und Evangeliums v e r k ü n d i g e n , naturgemäß mit besonderer Beziehung auf die Anstaltsgemeinde" 1 ®^. Steinbeck spricht sich damit dagegen a u s , die besondere Situation der Predigthörer immer wieder zu thematisieren 1 ®*'. Wenn auch der Prediger auf die speziellen B e d ü r f n i s se der Gefangenen eingeht, so kann das nicht b e d e u t e n , daß die Predigt inhaltlich a n d e r s bestimmt sein muß als in der freien Gemeinde, denn so Heß - : "Für die Kirche gibt es u n t e r den freien Menschen ebensoviel Sünder wie u n t e r Gefangenen" 1 ®^. Die Heilsbotschaft des Evangeliums mit ihrem befreienden Inhalt gilt f ü r beide Gruppen gleich. Die Bestimmungen des preußischen Oberkirchenrates sehen den Zweck der Gefängnispredigt darin, "die Gefangenen dahin zu f ü h r e n , daß sie nicht n u r die Wahrheit des Evangeliums verstandesgemäß aufnehmen, sondern daß sie auch mit der in ihm pulsierenden, aufweckenden und e r neuernden Kraft in B e r ü h r u n g kommen und daß ihnen die Heiligkeit und Größe Gottes lebendig bewußt werde" 1 7 0. Das Evangelium soll den Häftlingen verkündigt werden, um ihnen eine neue Möglichkeit des Lebens zu e r ö f f n e n , daher richtet sich Berggrav gegen die verbreitete Praxis von P r e d i g e r n , "Kraftsprüche zu gebrauchen, ihnen richtig zuzusetzen, um ihnen die 'Hölle heiß zu machen'", ohne dabei zu merken, daß die emo-
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tionale Beziehung zu den Gefangenen a b r e i ß t . Der Geistliche darf keinesfalls von der hohen Kanzel auf die Gefangenen h e r a b s e h e n , im Gegenteil, seine Grundhaltung, die er in der Predigt zu vermitteln v e r s u c h t , sollte von dem Bemühen getragen sein, helfen zu wollen. Für die Predigt in der Strafanstaltskirche wurden einige Grundregeln aufgestellt: Die Haftsituation der Gefangenschaft d ü r f e nicht zum zentralen Thema werden. Die Predigt solle an den inneren Bedürfnissen der Gefangenen nicht vorbeigehen, um nicht ungehört zu verhallen. Sie e r f u h r formal Orientierung an der sozialen Schichtung der Hörer, die h a u p t sächlich aus der eher kirchenfernen Unterschicht kamen. Für den Predig e r , der die Gefangenen nicht n u r rational, sondern auch emotional ansprechen wollte, wurde die Aufgabe darin gesehen, a u f g r u n d seines Einfühlungsvermögens die den Häftlingen adäquate Verkündigungsweise zu finden, die ihnen das Gefühl des Ausgestoßenseins aus der Gemeinde nehmen konnte. So galt auch f ü r die Predigt das Prinzip der individuellen Seelsorge, dem Gefangenen als ein Mensch g e g e n ü b e r z u t r e t e n , "der selbst mitgebunden i s t , und doch den Weg der Erlösung besitzt"171.
4.2.12 Die Fürsorgetätigkeit des Geistlichen Kein Geistlicher darf sich u n t e r B e r u f u n g auf sein Predigt- und Seelsorgeamt weigern, f ü r s o r g e r i s c h e Aufgaben zu übernehmen, da sie zu seinen "Pflichten" gehören als Ausdruck der christlichen Caritas, "soweit die Gefangenen sich um fürsorgerliche Bemühungen vertrauensvoll" an ihn wenden. "Grundsatz muß bleiben, daß alle Gefangenen, die fürsorgerlicher Tätigkeit b e d ü r f e n , auch von den fürsorgerlichen Bemühungen erfaßt werd e n " ! ^ £) a s noch im 19. J a h r h u n d e r t bestehende 'Monopol' des Gefängn i s p f a r r e r s in sozialen Aktivitäten im Strafvollzug wurde nach dem Ersten Weltkrieg gebrochen. Nach der E i n f ü h r u n g von staatlich angestellten Gefangenenfürsorgern in größeren Anstalten t r a t e n Spannungen zwischen Geistlichen und den F ü r s o r g e r n über die Abgrenzung der Kompetenzen a u f , die noch v e r schärft wurden d u r c h Tendenzen, den Fürsorger als "weltlichen Seelsorger" und "Pfarrerersatz"173 zu institutionalisieren. Doch die Kompetenzprobleme wurden bald beigelegt. Zwischen beiden Institutionen im Vollzugswesen s t r e b t e man ein Verhältnis der Zusammenarbeit an. Auf Seiten der Gefangenenseelsorger v e r b r e i t e t e sich die Einsicht, daß sozialer Dienst nicht, wie beim staatlicher F ü r s o r g e r , als Selbstzweck betrachtet werden sollte, sondern immer in Verbindung zur Seelsorge. Da aber der P f a r r e r die immer größer werdenden f ü r s o r g e r i s c h e n Aufgaben n u r bewältigen konnte, indem er seinen Zeitaufwand in der individuellen Seelsorge reduzierte und damit sein eigentliches Arbeitsfeld beeinträchtigte, wurde die Zusammenarbeit mit dem staatlichen F ü r s o r g e r als eine Arbeitserleichterung angesehen. Die Entwicklung in den Jahren bis 1933
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lief darauf hinaus, daß der Fürsorger mit seiner eigenen Methodik und Aufgabenstellung die Gefängnisfürsorge in den großen Anstaltenl?4 fast völlig übernahm D e r Geistliche rückte mehr in die Rolle einer Verbindungsperson zwischen Fürsorger und Gefangenen, da er durch die Zellenbesuche die besten Gelegenheiten fand, die individuelle Problemlage des Häftlings zu erfassen und dementsprechend den Fürsorger auf eventuell notwendige Maßnahmen aufmerksam machen konntel?6. Es blieben dem Geistlichen allerdings zwei wichtige Grenzbereiche zwischen Seelsorge und Fürsorge, in denen er während der Haftzeit des Delinquenten arbeiten mußte: Die Herstellung und Erhaltung der Familienbeziehungen und die Vorbereitung der Entlassung. Beide Aufgabengebiete haben kaum eine Modifikation seit der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren. Für Steinbeck "ist die Herstellung von Beziehungen zu seiner Familie und unter Umständen die äußere Fürsorge für dieselben . . . wohltätig für die Gefangenen"!? 7 . Der Rückhalt der Familie als Stützpunkt für einen neuen Start in die Freiheit wurde hoch eingeschätzt als Mittel gegen potentielle Rückfälligkeit und Selbstaufgabe des Inhaftierten. Von daher ist es selbstverständlich - so die Dienstanweisung des preußischen Oberkirchenrates - "daß der Geistliche bemüht sein muß, zwischen den Gefangenen und ihren Angehörigen etwa abgerissene Fäden wieder anzuknüpfen"178. Zur seelsorgerlichen Begleitung des Inhaftierten vor seiner Entlassung heißt es in den Dienstanweisungen nur knapp: "Der Geistliche hat tunlichst alle Gefangenen . . . vor ihrem Abgange zu besuchen" 17 ^. Etwas ausführlicher befaßt sich Berggrav mit der Entlassungsproblematik; er beschreibt die "Entlassungskrise", die den Häftling bedrängt. Im Grunde freut sich der Inhaftierte auf seine Entlassung, aber je mehr sie auf ihn zukommt, desto größer wird die Angst, in der Freiheit Menschen zu begegnen: Er denkt an die Blicke, mit denen sie ihn ansehen, und stellt sich vor, "was sie wohl hinter seinem Rücken flüstern werden", so "entsteht in seinem Gemüth ein Schaudern, eine Angst, eine Scheu". Die Angst, wiedergesehen und wiedererkannt zu werden, keinen Anschluß mehr zu finden, bestimmt das Denken des zu Entlassenden. Daß er allen Grund haben kann, "den Menschen zu mißtrauen, den freien und unbestraften", das zeigt die ErfahrunglSO. Die fürsorgerliche Aufgabe des Gefängnisseelsorgers bestand darin, den Übergang in die Freiheit zu erleichtern. Die nächstliegende Möglichkeit dazu bot sich in der Kooperation mit einem freien Fürsorgeverein, "der den zur Entlassung kommenden Gefangenen die Wege zurück in die bürgerliche Gesellschaft zu bahnen hat". "Die Pflege dieses Fürsorgevereins kann den Geistlichen nicht warm genug ans Herz gelegt w e r d e n " 1 8 1 . Der Gefängnisseelsorger übernimmt - vergleichbar mit der inner anstaltlichen Fürsorge - die Rolle des Vermittlers zwischen Entlassenem und Fürsorgevereinen, wenn der Häftling es wünscht. Wenn auch ideale Vorstellungen zur Gefangenenfürsorge vom Geistlichen verlangen^ nach der Entlassung
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den Häftling weiter zu betreuen, so mußte er doch diese Aufgabe aus arbeitsökonomischen Gründen delegieren. Eine indirekte Möglichkeit des Seelsorgers, auf die Entlassenensituation einzuwirken, bestand im Einsatz für die Schaffung und Erhaltung freier Fürsorgevereine, die die Entlassenenbetreuung und Familienfürsorge ü b e r n e h m e n l 8 2 . Wesentlich gestaltete sich die Öffentlichkeitsarbeit als der Versuch, die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber den Häftlingen zu v e r ändern. Zu dieser im 19. Jahrhundert noch freiwilligen Aufgabe ist der Gefängnispfarrer nach § 19 der Dienstanweisung des preußischen Oberkirchenrates 183 verpflichtet: "Durch geeignete Vorträge gilt e s , die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen auf die Pflichten, die sie gegenüber den entlassenen Gefangenen hat. Nur wenn die Gesellschaft willig i s t , diesen Pflichten zu genügen, wird es den Gefangenen möglich sein, ihr Leben neu aufzubauen". Die unverändert vorurteilsbehaftete öffentliche Meinung gegenüber den Entlassenen versuchte Seyfarth in zwei Grundanschauungen darzustellen: Einmal das ablehnende Urteil: "'Alle Verbrecher sind unverbesserlich"', das bei vielen Menschen als unumstößliche Wahrheit gilt und eine unüberwindliche Abneigung gegen alle, die in Haft waren, evoziert. Andererseits, allerdings weniger verbreit e t , findet sich die Überzeugung, daß der Rechtsbrecher ein bedauernswerter Mensch sei, "der für seine Taten eigentlich nicht verantwortlich gemacht werden dürfe, weil er nicht freier Herr seiner Entschließungen und häufig das Opfer der sozialen Verhältnisse sei, in denen er lebt". Auch diese Haltung führte nicht zu einer Bemühung um die Delinquent e n , sondern eher zu einer resignierenden Abwendung von den scheinbar zwangsläufig ablaufenden Mechanismen der Devianz. Ein Bewußtsein von Mitverantwortung oder gar Mitschuld war nicht zu konstatier e n , obwohl nach Seyfarth jeder als mitschuldig anzusprechen ist, "der nicht an der Besserung der ungesunden sozialen und sittlichen Verhältnisse mitarbeitet, die allenthalben h e r r s c h e n " 1 8 4 . Berggrav formulierte die Folgen der Distanzierung von den Gefangenen noch schärfer: "In erster Linie leidet dabei die Gesellschaft selbst Schaden, weil man den Bruch dieser Leute mit der Menschheit v e r t i e f t " 1 8 5 . Angesichts dieser schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erkannten Problematik sahen die Gefängnisseelsorger eine missionierende Aufgabe gegenüber der Öffentlichkeit, die nachgerade aussichtslos erscheint. Um "eine Atmosphäre des Vertrauens und der verzeihenden Nächstenliebe" zu schaffen, genügt es nach Klatt nicht, einzelne Menschen anzusprechen, es müsse vielmehr "das allgemeine Interesse durch Referate auf Kreis-, Provinzial- und Landessynoden geweckt und durch besondere Sonntagsgottesdienste, in deren Mittelpunkt die Arbeit an den Gefährdeten und Gefallenen steht, sowie durch Vorträge auf Eltern- und Gemeindeabenden wachgehalten w e r d e n " 1 8 6 . Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sich der Bereich der fürsorgerlichen Aufgaben des Gefangenenseelsorgers modifiziert gegenüber
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der Zeit der zweiten Hälfte des 1 9 . J a h r h u n d e r t s darstellt: Die wesentliche V e r ä n d e r u n g besteht d a r i n , daß nach der E i n f ü h r u n g der staatlichen Fürsorge in Strafanstalten der Seelsorger kontinuierlich Aufgaben abgeben und die Rolle des Vermittlers in Fürsorgefällen übernehmen konnte. Uneingeschränkt blieb die Praxis der Gefangenenseelsorger, f ü r den Erhalt der Familienbeziehung der Inhaftierten e i n z u t r e t e n , um den Gefangenen emotional zu stabilisieren und wichtige Besuchs- und Außenkontakte f ü r die Zeit nach der Entlassung h e r b e i z u f ü h r e n .
4.2.13 Der Gefängnisseelsorger: Amt - Stellung - Funktion - Qualifikation Die verschiedenen Bereiche des Berufsfeldes des Anstaltsgeistlichen faßt die Dienstanweisung des preußischen Oberkirchenrates 187 u n t e r den "Amtspflichten" zusammen: "die Abhaltung von Gottesdiensten, Andachten und Leichenfeiern; die Einzelseelsorge und die Verwaltung der Sakramente; der Religionsunterricht; die Mitwirkung bei der Fürsorge f ü r die Gefangenen und deren Familien und der dazu erforderliche Briefwechsel; die Durchsicht der ein- und ausgehenden Gefangenen-Briefe, sofern der Gefangene nicht widerspricht die Abhaltung von Sprechstunden in besonderen Fällen; die Teilnahme an Beamtenbesprechungen; die Mitwirkung bei der Ausbildung der D i e n s t a n f ä n g e r . " Neben die 'traditionellen'Aufgaben: spezielle und allgemeine Seelsorge, Unterricht und Fürsorge, treten hiermit neu die Pflichten als Mitglied der Anstaltsbeamtenschaft. Im weitesten Sinne mit dem Seelsorgeauft r a g v e r b i n d b a r erscheint noch die Teilnahme an den Beamtenbesprec h u n g e n 1 ^ 9 ) deren Sinn darin zu sehen i s t , "daß allen denen, die in ständiger persönlicher Beziehung zu den Gefangenen s t e h e n , Gelegenheit zu einem Meinungsaustausch gegeben wird"190. Wohingegen die Mitwirkung bei der Ausbildung des Personals über die Seelsorgepflichten hinausgeht, wenn hierin auch ein letzter Rest der Wichernschen Bestrebungen zur kirchlichen Ausbildung des Anstaltspersonals gesehen werden könnte191. Andrae sieht in der Tatsache, daß dem Gefängnispfarrer Aufgaben zudiktiert werden, "die mit der Pflege der Religion direkt nichts zu t u n haben", einen Beweis f ü r "die hohe praktische B e d e u t u n g , die man der kirchlichen Erziehung b e i l e g t " 1 9 2 . Daß der Staat den Arbeitsbereich des Geistlichen damit wesentlich normiert, wird von Andrae nicht als Nachteil angesehen. Auch Weissenrieder schätzt die außerseelsorgerlichen Aufgaben hoch ein und bedauert den Verlust von Kompetenzen, den die Gefängnisgeistlichen in einigen Ländern - besonders Thürin-
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gen und Hamburg - erfahren haben, indem die Hausgeistlichen in den nichtbeamteten Status eines "reinen Seelsorgers" versetzt worden sind, dessen Aufgabenbereich auf "das Gebiet des Gottesdienstes, der Kasualien und der Einzelseelsorge beschränkt" ist 193, Weissenrieder geht davon aus, daß die institutionelle Einbindung des Gefängnisgeistlichen in den Behördenorganismus der Vollzugsanstalt als unverbrüchliche Tatsache anzusehen und nicht mehr aufzugeben i s t . Die Tatsache, daß die T e i l - S t a a t e n l 9 4 die Modalitäten des Dienstverhältnisses und die Besoldung der Gefängnispfarrer weitestgehend in eigene Regie übernommen hatten, deutet auf das große Interesse hin, das die Vollzugsorgane der Gefangenenseelsorge gegenüber aufbrachten. Die staatliche Anstellung implizierte die Möglichkeit der dienstlichen Beaufsichtigung der Seelsorger: "Der Geistliche muß sich in den Anstaltsorganismus einfügen und die Hausordnung anerkennen. Er tritt also zu dem Strafanstaltsleiter in allen Dingen, die die äußere Durchführung des Strafvollzuges betreffen, in ein Abhängigkeitsverhältnis"^^. £)j e Anstaltsraison begrenzt formal die freie Entfaltungsmöglichkeit des Geistlichen: Sicherheit und Ordnung gelten als unverbrüchliche Normen*®®. Sie werden auch von der Kirchenleitungl97 anerkannt. Allerdings dürfen die Auflagen der Anstaltsleitung nicht die "rein geistliche Tätigkeit des Geistlichen"198 ; die inhaltliche Füllung seiner Seelsorgearbeit, betreffen; jedoch Heß beschreibt die Praxis gegenteilig: "Wenn aber die Ausübung der Seelsorge mit den staatlichen Interessen des Strafvollzuges nicht vereinbar i s t , so muß der Geistliche zurücktreten"199. Dj e doppelte Loyalität, die vom Geistlichen verlangt wurde, mußte zu offenen oder latenten Konflikten führen, wenn es um Fragen der Hausordnung und Disziplinwidrigkeiten der Gefangenen ging2®® oder um Probleme in der Beamtenkonferenz, bei denen der Geistliche, der sich dem Evangelium verpflichtet weiß, unter Umständen anders entscheiden mußte als der allein an Sicherheit und Ordnung orientierte Vollzugsbeamte 2 ®!. Die mit der Institutionalisierung der Gefangenenseelsorge im 19. Jahrhundert aufgetretene Ambivalenz der Stellung des Seelsorgers als Staatsbeamter konnte also durch die neuen Verordnungen und Dienstanweisungen nicht beseitigt werden, sie wurde vielmehr festgeschrieben und damit noch verschärft. Von daher wird es verständlich, daß von Michaelis die alte Forderung von Rohdens wieder aufnimmt, die Seelsorge aus der staatlichen Absicherung wieder herauszunehmen. Einmal wären damit die latenten Konflikte, die sich aus der Doppelverantwortlichkeit ergeben, v e r mieden, und andererseits erscheint es von Miachaelis im Blick auf die Gefangenen wünschenswert, wenn die Seelsorge "von Geistlichen der Gemeinde geübt würde", da den Pastoranden damit die Möglichkeit gegeben wäre, sich selbst den Seelsorger ihres Vertrauens zu wählen 2 ® 2 . Würde der Seelsorger nur als Vertreter der Kirche im Vollzug auftreten können, wäre auch der Gefahr gewehrt, die Günther aufzeigt: Viele Gefangene begegnen dem Gefängnispfarrer mit Mißtrauen, weil sie in ihm
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ein "bezahltes Werkzeug der herrschenden Klasse" und einen Mann sehen, "der von Berufs wegen, um sein Geld zu verdienen, Dinge sagen muß, an die er selbst nicht g l a u b t " 2 0 3 . Aufgrund seiner Einsicht in die Praxis der Gefangenenseelsorge bedauert Muntau sicher mit Recht, daß in einigen Anstalten "die Tätigkeit der Geistlichen gegenüber Rücksichten auf den Polizeidienst und den Anstaltsbetrieb zurückgestellt wird". Damit wird der Geistliche in seiner eigentlichen Funktion, sich um die Seele des Gefangenen zu bemühen "und Ewigkeitswerte zu vermitteln" 2 0 ^, in einem unverantwortlichen Maße behindert. Muntau definiert die Aufgabe des Geistlichen aus rein seelsorgerlicher Sicht ohne Rücksicht auf die Belange des Vollzuges und widerspricht implizit der bei SchulzeEllger geäußerten Ansicht, daß die Arbeit des Geistlichen, wenn er es versteht, seinen Einfluß gegenüber den Gefangenen geltend zu machen, "die Erreichung der Ziele des Strafvollzugs" 2 0 ^ fördern kann. Eine vermittelnde Position in der Frage der Funktion des Geistlichen bezog die Situation der Gefangenen im Vollzugsorganismus mit ein. So soll der Seelsorger nach der Dienstanweisung des preußischen Oberkirchenrates dafür Sorge tragen, "daß der Vollzug den Gefangenen nicht zerbricht, statt ihn zu heben und zu festigen" 2 0 ®. Wenn in diesem kurzen Satz auch nicht deutlich wird, inwieweit der Geistliche auch auf staatliche Vollzugsvorstellungen einzugehen hat, so wird doch die Akzentsetzung erkennbar: Der Einsatz für den Menschen im Vollzug sollte über der Loyalitätsproblematik stehen. Das bedeutet im Sinne Mayerhausens, daß der "Hausgeistliche das Herz" im Organismus des Strafvollzuges zu sein hat. Er soll gegenüber der Anstaltsleitung die Rolle des Anwaltes der guten Seiten des "Poenitenten" übernehmen 2 0 ? oder, wie es Klatt ausdrückt: "Der rechte Seelsorger muß der Vertraute für alle Nöte seiner Schützlinge sein - 'der Prüfer ihrer Bedürfnisse, der Aufbewahrer ihrer Sorgen und der Erneuerer ihrer Hoffnungen'" 2 °8. Seine Haltung stellt sich dar als Manifestation des theoretisch oft betonten Verhältnisses von 'Mensch zu Mensch', ohne Vorleistungen zu erwarten. Die Seelsorge wird über das Gespräch hinaus konkret als Sorge um den Menschen in seiner Not, jedoch warnt F r e i 2 0 ^ davor, aus der Haltung der Bruderliebe heraus die verschiedensten Klagen, Beschwerden oder Wünsche der Häftlinge ungeprüft zu übernehmen, sich uneingeschränkt mit den Gefangenen gegen die Anstaltsleitung und deren Personal zu solidarisieren. In seinem Bemühen, der Helfer und Anwalt der Gefangenen zu sein, wurde der Seelsorger durch seine disziplinarische Bindung entschieden b e hindert. Das sollte ihn jedoch nicht davon abhalten, die Gefangenen zu trösten und ihnen Mut zuzusprechen, "wenn der Druck des Gefängnislebens schwer" auf ihnen " l a s t e t " 2 1 0 . Gerade dieses Votum Steinbecks macht deutlich, daß der Seelsorger, trotz aller Bemühungen, selten über die Funktion des Trösters hinauskommen konnte, die zwar nicht mehr systemkonform war, aber auch nichts veränderte. Den Schritt zur Dysfunktionalität verhindert die Bindung an den Beamteneid. Es läßt sich allerdings im Blick auf die funktionale Einordnung des Seelsorgers in
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den Vollzugsorganismus gegenüber dem Befund im 19. Jahrhundert feststellen, daß - bis auf wenige Ausnahmen - die funktionale Integration des Geistlichen von einem mehr dem Gefangenen dienenden Rollenverständnis abgelöst worden i s t , das allerdings loyal dem Vollzug gegenüber ausgerichtet war. Das Aufgabenfeld der Gefangenenseelsorge verlangte vom Geistlichen nicht nur Ausbildung auf dem seelsorgerlichen Sektor, sondern aufgrund der Anforderungen des Erziehungsstrafvollzuges zugleich Verständnis gegenüber sozialen und psychologischen Fragestellungen. An die Qualifikation des Gefängnisgeistlichen wurden daher von der preußischen Justizverwaltung - vergleichbare Forderungen finden sich auch in den anderen Ländern, in denen Geistliche vom Staat bestellt werden - folgende Anforderungen gestellt: "Für das Amt der Anstaltsgeistlichen müssen Männer gesucht werden, die über gereifte Erfahrungen auf dem Gebiete der Seelsorge überhaupt verfügen, deren Blick sich schon geweitet hat, die Verständnis für die sozialen Verhältnisse haben, Verständnis vor allem auch für die Psyche des Rechtsbrechers. Da sie Hand in Hand mit den übrigen Anstaltsbeamten arbeiten sollen, müssen sie auch Verständnis für deren Aufgaben und Belange haben. Sie müßten daher über eine mehrjährige Erfahrung in ländlicher und städtischer Gemeindetätigkeit verfügen und wenn möglich auf dem Gebiete der Sozialpädagogik geschult sein" 2 1 1 ·. Die angeführten Anstellungsvoraussetzungen lassen erkennen, wie stark sich das Berufsbild des Gefängnisseelsorgers seit dem Ende des 19.Jahrhunderts verändert hat: Die 'eigentliche' Seelsorge dominiert zwar noch neben sozialen und psychologischen Anforderungen, ist aber in ihrer rein theologischen Motivation und Zielsetzung gegenüber dem vergangenen Jahrhundert relativiert: Der Gefängnisgeistliche soll nicht mehr nur Seelsorger, sondern zugleich auch Fachmann für soziale Aufgaben sein. Ein weiterer Aspekt wurde bei den Überlegungen zur Wirksamkeit der Gefangenenseelsorge stärker als traditionell betont: Die Bedeutung der Person des Seelsorgers für sein Amt. Heß betont ausdrücklich: "Die Persönlichkeit des Geistlichen ist für die Wirkung der Gefangenenseelsorge schlechthin entscheidend" 2 1 2 . Es kommt auf die "richtige Persönlichk e i t " 2 ^ , die seelsorgerliche Intuition ebenso an, wie auf die geeignete Vorbildung, "denn" - so Klatt - "der wichtigste Faktor in der Gefängnisseelsorge ist der Seelsorger s e l b s t " 2 1 ^ . Der ideale Seelsorger sollte neben der Bereitschaft, sich ganz für die Belange der Gefangenen einzusetzen, Empathie zeigen und die Energie besitzen, trotz immerwährender Fehlschläge den Glauben an den Sinn seiner Arbeit nicht zu verlieren. Denn neben seiner verbalen Kommunikation werden die nonverbalen Fakt o r e n 2 ^ seines Auftretens von den Gefangenen höher bewertet als er es sich vielleicht selbst einzugestehen gewillt ist: Der Seelsorger kann nur mit dem Pastoranden von Mensch zu Mensch kommunizieren, wenn er auch die Bedingungen seiner Person mit in Betracht zieht, ein Ge-
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danke, der in der Gefangenenseelsorge des 19. J a h r h u n d e r t s noch keine Relevanz besitzt.
4.2.14 Zusammenfassung: Strukturen der Gefangenenseelsorge nach 1918 Der institutionelle Rahmen der Gefangenenseelsorge hat sich trotz der politischen Veränderung nach dem Ersten Weltkrieg und der damit v e r bundenen Trennung von Staat und Kirche in Deutschland nicht v e r ä n d e r t . Die Versuche, die Kirche ganz aus dem Strafvollzug zu v e r d r ä n gen, ließen sich politisch nicht durchsetzen. Die neuen Dienst- und Vollzugsordnungen der 20er Jahre schrieben die bestehenden Anstellungsverhältnisse der Gefangenenseelsorger f e s t . Die schon im 19.Jahrhundert e r k a n n t e n und bedauerten Konfliktmöglichkeiten, die aus der Doppelstellung des Seelsorgers als Kirchenvertreter und Staatsbeamter oder - a n gestellter r e s u l t i e r t e n , wurden nicht beseitigt. Der Seelsorger sah sich weiterhin einer doppelten Loyalität v e r b u n d e n , die sich in seiner Verantwortung vor dem Evangelium und seiner disziplinarischen Unterordn u n g u n t e r die Leitung des Vollzuges darstellte. Das Problem, daß sein Seelsorgeauftrag äußerlich von der Anstaltsraison, die von den Prinzipien der Ruhe und Sicherheit des Vollzuges normiert und eingeschränkt wurde, blieb b e s t e h e n , so daß es dem persönlichen Geschick des Gefängnispfarrers weitestgehend selbst überlassen war, seine Aufgaben als Staatsbeamter so auszufüllen, daß er der Institution des S t r a f vollzuges gerecht wurde, ohne dabei den aus dem Evangelium resultierenden A u f t r a g zur Sorge um den Menschen zu verletzen. Die Tradierung der institutionellen, vom Staat getragenen Gefangenenseelsorge ist ein Beweis d a f ü r , daß die Vollzugsverwaltung ein I n t e r e s se an der Arbeit der Kirche im Strafvollzug h a t t e , andererseits aber liegt die Vermutung nahe, daß von Seiten der Kirchenleitungen der Gefangenenseelsorge keine besondere Beachtung zugemessen w u r d e , die motivierend gewirkt h ä t t e , größere Unabhängigkeit von der staatlichen Organisation zu erlangen. Die Institution der Seelsorge in den Strafanstalten hatte einen Rahmen g e f u n d e n , innerhalb dessen sie funktionierte und war damit der Grundlagendiskussion entwachsen. Während im 19. J a h r h u n d e r t die Entwicklung und Institutionalisierung dominierte, ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als Phase der Konsolidierung und organisatorischen Verfestigung zu beschreiben. Das schwindende Interesse an den Problemen der Seelsorge in den Haftanstalten schlägt sich auch in der geringen Zahl von Veröffentlichungen n i e d e r , die diesem Themenkreis gewidmet sind. Aufgrund der schmalen Literaturbasis ist es nicht angemessen, generalisierende Aussagen über die Gefangenenseelsorge zwischen 1918 und 1933 zu machen. Es lassen sich aber gewisse Grundtendenzen konstatieren.
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Die von juristischer und vollzugstheoretischer Seite vorliegenden Überlegungen ordnen die Strafanstaltsseelsorge funktional in die Zielsetzungen des Erziehungsstrafvollzuges ein: Sie wird als ein wertvolles Mittel betrachtet, den Erziehungszweck des Strafvollzuges zu fördern. Die Neuorientierung der Häftlinge auf ein sozial- und eigenverantwortliches sowie gesetzeskonformes Leben nach der Entlassung wird erwartet, ohne die theologischen Implikationen der Seelsorge näher zu reflektieren. Diese funktionale Vereinnahmung spiegelt sich auch deutlich in der Dienstanweisung des preußischen Kirchenrates wider, die den Gefangenenseelsorgern die Aufgabe zudiktiert, so auf die Pastoranden einzuwirken, daß diese gegenüber Gott und der Obrigkeit die sittliche Notwendigkeit der Strafe erkennen und der erzieherischen Wirkung der Strafe aufgeschlossen gegenüberstehen. Die auf dem Verordnungswege geschaffene Grundlegung der Gefangenenseelsorge ließe also den Schluß zu, daß die Kirchenleitungen der Integration in die Zielsetzungen des Erziehungsstrafvollzuges zugestimmt haben und demnach die Praxis der Seelsorge in den Anstalten von der Mitarbeit an dem staatlichen Vollzugsziel bestimmt war. Daß die Gefangenenseelsorger sich mit der neuen Ausrichtung des Strafvollzuges als Erziehungsstrafvollzug auseinandergesetzt haben, steht ohne Frage fest. Jedoch zeigen die Ausführungen der Theologen zum Thema, daß sie nicht voll inhaltlich mit den Dienstanweisungen übereinstimmen. Die offenkundige Diskrepanz zwischen theoretischen Überlegungen und den staatlichen und kirchlichen Anweisungen läßt die Frage aufkommen, woran sich die Gefangenenseelsorger in der Praxis ausgerichtet hatten. Ob sie die funktionale Tendenz der Dienstanweisungen übernahmen oder sich im Sinne der Mitarbeit zum staatlichen Vollzug stellten, ohne die Eigenständigkeit der Seelsorge zu negieren, läßt sich anhand des vorliegenden Materials nicht klären. Doch ist sicher davon auszugehen, daß die Seelsorgepraxis nicht aufgrund prinzipieller Grundsatzentscheidungen, sondern eher auf der Basis eines kooperativen Stils ihr Profil gefunden hat. Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß in der Seelsorgetheorie die Aufgabenstellung überwunden wurde, die im 19.Jahrhundert dominierte, nämlich die inhaltliche Füllung des staatlichen Vollzugssystems zu leisten. Mit der Einführung des Erziehungsstrafvollzuges war von staatlicher Seite die Definition der Vollzugsausrichtung geschehen. So konnte - unter Umkehrung des bisherigen Ansatzes - die Grundtendenz des neuen Strafvollzuges, die Individualisierung des ganzen Vollzugswesens, in die Seelsorgediskussion aufgenommen werden. Dieser Trend ließ sich durch alle Aufgabenfelder der Gefangenenseelsorge hindurch verfolgen. Nicht mehr die dogmatische Vorentscheidung, die Umformung der Gefangenen anhand fremdbestimmender Normen, dominierte, sondern die Ausrichtung des Seelsorgeverfahrens am Individuum. Die Fragen nach Geständnis, Sündenbekenntnis, Relation von Gesetz und Evangelium traten in den Hintergrund, die Themen der Predigt, des Un-
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t e r r i c h t s und besonders des seelsorgerliches Gesprächs wurden von den Gefangenen eingegeben oder ihren Bedürfnissen angemessen. Die Tendenz, im Seelsorgeverfahren vom Menschen auszugehen, f ü h r t e zu einer Aufnahme von humanwissenschaftlichen Fragestellungen in die Gefangenenseelsorgetheorie. Es setzte sich die Einsicht von der sozialen Bedingtheit von Delinquenz d u r c h . Diese erweiterte Sicht wurde f ü r die Theologen insofern relevant, als daß die im 19.Jahrhundert v e r b r e i t e t e moralisierende S ü n d e n a u f f a s s u n g überwunden wurde. Man griff auf ein Sündenv e r s t ä n d n i s im paulinischen Sinne z u r ü c k , das den Menschen von seiner Existenz vor Gott her als Sünder b e g r i f f , die Einzeltat relativierte u n d , was besonders wichtig w u r d e , über den Begriff der Solidarität der Sünd e r , die die Gefangenen mit den Nichtverurteilten v e r b i n d e t , jeden Ans p r u c h auf Distanzierung von den Inhaftierten a priori negierte. Mit der aus dem Verhältnis Gott und Mensch abgeleiteten Sündenbegrifflichkeit konnte die Gefangenenseelsorge ein Wertsystem dem staatlichen Vollzug entgegenstellen, das die Bemühungen der staatlichen Organe r e lativierte und kritisch verdeutlichte, daß dem Erziehungsstrafvollzug eine grundlegende Diskussion der Zielvorstellungen fehlte. Während der staatliche Strafvollzug auf einen bürgerlichen Normenkodex hin sozialisier e n sollte und dazu die Mithilfe der Kirche b e a n s p r u c h t e , wurde von der Gefangenenseelsorge ein Wertsystem entwickelt, das a u f g r u n d theologischer Grundsätze dem Häftling zu seiner eigenen Selbstentfaltung v e r helfen sollte, um ihn dann mit dem Anspruch Gottes zu konfrontieren mit dem Ziel, sein zukünftiges Leben in christlicher Selbstverantwortung und sozialer Verantwortlichkeit zu gestalten. Die neuen Lebensnormen behielten ihre t r a n s z e n d e n t e Verankerung und implizierten damit zugleich eine Kritik der rein immanent orientierten staatlichen Ziele. Doch behinderte die institutionelle Einbindung der Gefangenenseelsorge in den staatlichen Organismus die innovatorische Umsetzung der theologischen Grundlegungen. Aufgrund christlicher Verantwortung dysfunktional innerhalb des Vollzugswesen zu arbeiten, war d u r c h die Überordnung der staatlichen Institution und deren a n e r k a n n t e r Autorität ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit, die dem Gefangenenseelsorger gegeben war und die auch genutzt wurde, bestand d a r i n , sich f ü r die Interessen des Menschen im Vollzugsorganismus einzusetzen und diese zum Ausgangspunkt aller Bemühungen zu machen, ohne allerdings die Kritik des Evangeliums und die damit v e r b u n d e n e Relativierung allen seelsorgerlichen Tuns aus den Augen zu lassen. Ohne Zweifel ist eine Tendenz in der Gefangenenseelsorge nach dem Ersten Weltkrieg als dominierend herauszustellen, die in enger Relation zu der Individualisierungstendenz im Strafvollzug s t e h t : Die schon von von Rohden immer wieder betonte Entscheidung, das Seelsorgeverfahren an den Bedürfnissen des Pastoranden a u s z u r i c h t e n , Annahme zu praktizier e n , die die christliche Freiheit ernstnimmt, ohne ihre t r a n s z e n d e n t e Di-
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mension zu verleugnen. Die Gefangenenseelsorgetheorie nach dem Ersten Weltkrieg steht damit in einer gewissen Ambivalenz zum staatlichen Vollzugswesen; einerseits orientiert sie sich an den Neuerungen des Strafvollzuges, ausgehend von der Erkenntnis der Bedeutung des Individuums und seiner sozialen Beeinflussung im Blick auf die Ausr i c h t u n g des Vollzuges und des Seelsorgeverfahrens, andererseits f ü h r ten die theologischen Grundentscheidungen, die der Seelsorge v o r a u s gingen, zu einer Haltung, die den Menschen höher einschätzte als die Institution, ohne allerdings die hierin enthaltene potentielle Kritik an der Institution wirksam werden zu lassen. Die Überlegungen zur Strafgefangenenseelsorge werden nicht - wie im 19. J a h r h u n d e r t - von originären Entwürfen und Ansätzen geprägt, sie reagieren vielmehr auf die Ansätze des Erziehungsstrafvollzuges, werden von ihnen a n g e r e g t , ohne sie aber letztendlich zu übernehmen: Die Tendenz der Humanisierung und Individualisierung wird aufgenommen und theologisch ü b e r a r b e i t e t , indem sie in ein christlich f u n d i e r tes Sinnsystem gestellt wird.
5. Strafvollzug und Gefangenenseelsorge im ,Dritten Reich'
5.1 Strafvollzug und Rechtswesen
5 . 1 . 1 Das Rechtsverständnis des Nationalsozialismus Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde mit einer der wesentlichen Leistungen der Weimarer Republik, der E r n e u e r u n g des Strafwesens, gebrochen. Die Gedanken der Erziehungsstrafe und des Besserungsvollzuges wurden völlig negiert, ihre Erfolge als "Fiasko"! abqualifiziert. Die Zukunft des nationalsozialistischen S t r a f r e c h t s und Vollzugswesens sollte von einer völligen Umwertung der Rechtsgüter bestimmt werden. So fordert Siegert schon 1933: "Abzubrechen ist die Ueberbewertung des Einzelwesens und der materiellen I n t e r e s s e n , aufzubauen ist ein s t a r k e r Schutz des Gesamtvolkes in seinen äußeren und seelischen Kräften" 2 . Das gemäß Hitlers Vorstellungen propagierte Gemeinschaftsdenken f ü h r t e zu einer Rechtsquellenlehre, die die "Lebensnotwendigkeiten der Gemeinschaft"^ zum Ausgangspunkt nahm und daran die Ausricht u n g des Strafwesens orientierte. Es wurde die nationale Aufgabe gestellt, ein Rechtsverständnis zu beg r ü n d e n , das von der Einsicht bestimmt sein sollte: "Der Gesetzgeber ist nicht allmächtig, wie es der Rechtspositivismus b e h a u p t e t , e r kann nicht willkürlich Recht aus dem Nichts s c h a f f e n , sondern n u r das im Rechtsbewußtsein des Volkes liegende Recht finden und formen und d u r c h A u s s t a t t u n g mit staatlichem Zwang bewehren"^. Über den Begriff des Rechtsbewußtseins des Volkes gelang e s , die T r e n n u n g von Legislative und Exekutive aufzuheben. Als normierende Quelle wurde die "Sittenordnung" des Volkes d e f i n i e r t , das Recht sollte das "Gerechtigkeitsgefühl" des Volkes verwirklichen. Der Straftatbestand als Ausgangs- und Orientierungspunkt des S t r a f v e r f a h r e n s verlor an Bedeut u n g . Es mußte alles b e s t r a f t werden, "was nach gesundem deutschen Rechtsempfinden Strafe verdient", auch d a n n , wenn die gesetzlichen Möglichkeiten dazu nicht gegeben waren: "Wo das Gesetz v e r s a g t , soll der Richter zur Quelle der deutschen Sittenordnung hinabsteigen und aus ihr das Recht schöpfen"^. Der immer wiederholte Grundsatz: "Das Recht h a t . . . die Aufgabe zu erfüllen, der Sicherstellung, der Erhaltung
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und Stützung der eigenen Art zu dienen und damit die deutsche Volksgemeinschaft f ü r alle Zeiten sicherzustellen", stellte die Rechtswissenschaft vor die Aufgabe, "Blut und Boden, also den Rassegedanken, in den Mittelpunkt i h r e r Betrachtung" zu stellen·*. Diese Prämisse f ü h r t e zwangsläufig zu einer utilitaristischen Definition des Schuldbegriffs. Nur aus der Relation von Tatbestand und Nutzen f ü r den Volksbestand, nicht nach den Bestimmungen des Gesetzes war zu entscheiden, ob eine s t r a f b a r e Schuld vorliegt: "Wenn also jemand durch sein Handeln zwar die Merkmale eines gesetzlichen Tatbestandes verwirklicht h a t , aber des Glaubens war, er tue nichts, was ein Gesetz oder auch n u r die Gebote der deutschen Sittenordnung verpöne, dann entschuldigt ihn solcher Irrtum"^. Nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten war mit dieser A u f f a s s u n g der richterlichen Willkür eine legale Grundlage gegeben, v e r s c h ä r f t d u r c h die Tatsache, daß der Rechtsgrundsatz 'nullum crimen sine lege' bewußt verlassen wurde mit der B e g r ü n d u n g , er sei zum Schutz des Verbrechers gegen Strafe mißbraucht worden**. Es wurde, wie Schmidt vermutet, bewußt Rechtsunsicherheit geschaffen, die der Willkür der Justiz Vorschub leistete und die Bevölkerung v e r u n s i c h e r n konnte. Dementsprechend wurde offiziell mit den rechtsstaatlichen Grundprinzipien gebrochen und ein neuer § 2 in das Reichsstrafgesetzbuch vom 28.6.1935 übernommen, "der die bis dahin verbotene Erweiterung und Ergänzung der gesetzlichen S t r a f t a t b e s t ä n d e d u r c h Analogie (in malam partem) gestattete"®. Freisler bewertet die Strafrechtsnovellen von 1935, nicht ohne auf den tiefgreifenden "seelischen Wandel des deutschen Richtertums" zu verweisen: "Das Strafrecht hat - wie u n s e r ganzes Recht - den Weg in die Heimat z u r ü c k g e f u n d e n : Den Weg zur Mutter des Rechts, dem gesunden Gewissen des V o l k e s " ^ . Mit dieser Ideologie gelang es den Nationalsozialis t e n , ein Rechtssystem zu e r r i c h t e n , das offen war f ü r jede Manipulation der Machthaber, die als Abwehr von Angriffen auf den Volksbestand deklariert w u r d e 1 1 . Der später e i n g e f ü h r t e Begriff des "Volksschädlings" bot die Grundlage f ü r drastische Urteile. Nach Freisler geht es dem Staat vorrangig darum, " . . . den Volksgenossen in der Gemeinschaft - nicht an sich, denn an sich ist er nichts - zu e r k e n n e n , in seinem Verhalten, wie es willensmäßig bestimmt i s t , zu b e u r teilen, und dann an ihm die Maßnahmen zu vollziehen, die in gleicher Weise notwendig sind, um die Gemeinschaft vor ihm zu schützen, das Unrecht zu s ü h n e n , wenn es möglich i s t , ihn in die Gemeinschaft als taugliches Glied wieder e i n z u f ü h r e n , und a n d e r e , die mit dem Gedanken spielen, sich ebenfalls an der Gemeinschaft zu v e r s ü n d i g e n , davor zurückzuhalt e n , und endlich dem gutgesinnten Teil des Volkes vor Augen zu f ü h r e n , daß sein Staat mit ihm f ü r Recht und Wohlanständigkeit k ä m p f t " 1 2 . Die Strafe wird ausdrücklich als Sühne mit dem Ziel der exemplarischen Vergeltung d e f i n i e r t , um ihren generalpräventiven Zweck gegenüber den potentiellen S t r a f t ä t e r n in der Gesellschaft zu u n t e r s t r e i c h e n : Sühne und
- 214 Schutz des Volkes bilden die Korrelatbegriffe des nationalsozialistischen Strafverständnisses. Für Eberhard Schmidt läßt es dieses Gerechtigkeitsverständnis nicht mehr zu, von einer ethischen Verankerung des Rechtswesens zu sprechen, denn ein Staat, dessen Devise lautet: "Gerecht i s t , was dem Volke (sprich: seinen Machthabern) nützt", kann 'Sühne' gar nicht ethisch fassen. "Dem Machtstaat bedeutet 'Sühne' das repulsive Aufzwingen eines Übels, das dem Betroffenen die Gewalt des Staates dokumentieren und das er zitternd und zähneknirschend erdulden soll. So ist 'Gerechtigkeit' und 'Sühne' ihres ethischen Gehaltes beraubt und zu Staatsräson und Machtzweck degradiert"13. Und diese Entwicklung führte, nach unseren heutigen Maßstäben gemessen, zu einer unter die Sühneidee subsummierten Rechtsprechung, die zu einer repressiven Vergeltung und terroristischen Abschreckungspraxis denaturiert wurde. Die Beurteilung - oder besser Verurteilung - der nationalsozialistischen Rechtslehre durch Schmidt läßt sich abstützen und illustrieren durch die zeitgenössischen Ausführungen des Juristen Siegert: "Der Verbrecher muß wieder vor dem Staate zittern. Abschreckung der Allgemeinheit durch scharfe Strafandrohungen, durch strenge Strafurteile und durch energischen Strafvollzug ist hier also die Parole der Zukunft . . . Die Schädlinge am Deutschen Volke müssen nicht nur empfindlich b e s t r a f t , sondern ohne jede Verzögerung ihrer Strafe zugeführt werden"14. Das Motiv 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' wird gegen die spezialpräventive Auffassung der Strafe und für die Sühnestrafe als Vergeltungsstrafe argumentativ eingebracht.
5 . 1 . 2 Grundzüge des Strafvollzuges nach 1933 Aus diesen Ansätzen folgte für den Strafvollzug, daß die Strafe ein Übel intendierte, "das der Täter wegen seines Unrechten Verhaltens erleiden soll", um den Abschreckungscharakter des Strafvollzuges zu unterstreichen. So argumentiert Schmidt mit dem 'Erfahrungsgrundsatz', daß "bei einer großen Zahl der Gefangenen . . . die Erinnerungen an etwas Unangenehmes und die Scheu, dieses Unangenehme erneut auf sich nehmen zu müssen, wirksamere Hemmungen schafft als höherwertige Motive"15. Hier tritt zwar das Motiv der Erziehung im Strafvollzug auf, jedoch unter der Abwandlung, die Strafe als repressives Erziehungselement einzusetzen. Dem in der Weimarer Republik praktizierten Erziehungsstrafvollzug wird daher von Siegert "Dilettantismus" 1 ^ vorgeworfen, und im gleichen Sinne äußert sich Freisler über die "mehr oder weniger lebensfernen gouvernantenhaften Erziehungskunststücke an ausgereiften Rechtsbrechern" 1 ^. Der Erziehungsgedanke wurde zwar nicht offiziell negiert, aber auf die Gefangenen eingeschränkt, bei denen berechtigte Hoffnung bestand, daß sie die Inhalte des Nationalsozialismus übernahmen und zu "Deutschen Volksgenossen" 1 ** umerzogen werden konnten.
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Der ideologisch orientierte Erziehungsvollzug ist auf Ersttäter ausgericht e t , die nicht vorsätzlich gehandelt haben und "nicht erblich minderwertig s i n d " 1 9 . Anhand dieses Kriteriums eine Entscheidung über potentielle Umerziehbarkeit des Delinquenten zu fällen, obliegt den Fachleuten f ü r Erbbiologie, Kriminalbiologie und der psychologischen Untersuchung. Letztendlich d ü r f t e auch bei der Kriminalprognose das politische Wohlverhalten nicht unbedeutenden Ausschlag gegeben h a b e n , denn - so Siegert - bei der Strafzumessung ist die "allgemeine Volks- und Rechtsgesinnung des Täters"20 mit in die Überlegungen einzubeziehen. Die Präponderanz der Sühneidee, v e r b u n d e n mit der Abschreckungstheorie f ü r den Strafvollzug des nationalsozialistischen Staates wurde im Laufe der Entwicklung immer mehr in Richtung einer Schutzfunktion von Strafe und Vollzug zugunsten der Volksgemeinschaft entwickelt. Diese Tendenzverschiebung läßt sich an den verschiedenen Fassungen der Dienst- und Vollzugsordnungen21 deutlich nachweisen. Der Oberbegriff des Schutzes des Volkes deckte ein Vollzugswesen ab, das im Vergleich mit dem der Weimarer Republik n u r als reaktionär zu bezeichnen i s t . Es wurden Prinzipien der Rechtsauffassung r e a k t i v i e r t , die im Rechtswesen des Vergeltungsdenkens vor dem 19. J a h r h u n d e r t ihre Vorläufer hatte. Ein Beweis d a f ü r ist die Tatsache, daß der Todesstrafe ein wachsender Stellenwert im Strafvollzug eingeräumt wurde.
5.2 Die Situation der Gefangenenseelsorge Ist in einem totalen Staat, dessen politische Führer bestrebt waren, alle Organisationen und Institutionen ideologisch gleichzuschalten, Raum f ü r eine unabhängige Gefangenenseelsorge? Diese dominierende Frage stellt sich angesichts der massiven Eingriffe der nationalsozialistischen Regier u n g in die S t r a f v o l l z u g s s t r u k t u r e n . Die sich abzeichnende Tendenz innerhalb der Gefangenenseelsorge nach dem Ersten Weltkrieg, das Individuum des Inhaftierten in den Mittelpunkt der pastoralen Bemühungen zu stellen, mußte zwangsläufig zu den Zielprojektionen eines Strafvollzugssystems in Widerspruch g e r a t e n , das die Rechte des Individuums p r i n zipiell negierte. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche im Strafvollzug u n t e r nationalsozialistischer Herrschaft wird damit zur Schlüsselfrage zum Verständnis der Gefangenenseelsorge nach 1933, deren Beantwortung aber a u f g r u n d der unzureichenden Literatur basis e r schwert wird. Aus den Jahren 1934 bis 1938 liegen einige Referate und Artikel zur Gefangenenseelsorge und Entlassenenfürsorge aus dem kirchlichen Raum v o r , die aber die angeschnittene Problematik nicht explizit behandeln. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges versiegt auch diese Quelle: Die Strafvollzugsliteratur geht auf eine Verhältnisbestimmung zur oder die
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inhaltliche Diskussion der Seelsorge nicht ein. Eine klare Analyse wird zudem a u f g r u n d der vorsichtigen und deskriptiven Ausrichtung der v o r liegenden Literatur e r s c h w e r t . Diese Tendenz verdeutlicht das Diktum Poeichaus über die inhaltliche Abfassung seiner Predigten: "Natürlich bemühte ich mich, mich so a u s z u d r ü c k e n , daß kein Gestapospitzel meine Worte festnageln konnte" 2 2 . Eine f r e i e , politisch orientierte Meinungsä u ß e r u n g der Gefangenenseelsorger war existentiell zu bedrohlich, als daß sie zu erwarten gewesen wäre, vor allem, da oppositionell eingestellte P f a r r e r damit rechnen mußten, selbst ins Zuchthaus oder Konzentrationslager eingeliefert zu werden 2 ^. Sicher aus diesem Grunde ist es zu e r k l ä r e n , daß die Gefangenenseelsorger in ihren Äußerungen vermieden, den Rahmen der scheinbaren politischen und ideologischen Neutralität zu ü b e r s c h r e i t e n . Die unausgesprochene Übereinkunft der Strafvollzugsgeistlichen, keinen Protest gegen die antihumanen Züge der Strafvollzugsneuorientierung zu e r h e b e n , mag u n t e r der Zielsetzung Verständnis f i n d e n , die eigene Stellung im Vollzug mit allen Mitteln zu s i c h e r n , um ein Gegengewicht zur gezielten Menschenverachtung des 'harten Vollzuges' darstellen zu können 2 ^. Ferner wird man von einem vielschichtigen Begründungszusammenhang der loyalen Haltung der Gefängnispfarrer ausgehen müssen, der offenläßt, ob diese aus einem Fehlverständnis von gottgewollter Obrigkeit, aus einer Rationalisierung eigener Existenzängste oder aus der Sorge um den Menschen im Vollzug a u f g r u n d christlicher Verantwortung motiviert war. Deutlich bleibt jedoch das Bemühen, die Seelsorge bewußt nicht mit den politischen Dissonanzen zu belasten, die auch u n t e r den Gefängnisgeistlichen b e s t a n d e n , ein Prinzip, das besonders in den i n n e r kirchlichen Spannungen des 'Kirchenkampfes' gewahrt wurde. So betont der Berliner Gefängnispfarrer Klatt in seinen Berichten über Tagungen der S t r a f a n s t a l t s p f a r r e r der J a h r e 1934 und 1936, daß der "unselige Kirchenstreit" 2 1 ' keinen Eingang in die Strafanstalten finden konnte. Klatt hielt es vielmehr f ü r ein "nicht zu unterschätzendes Erlebnis", immer wieder zu e r f a h r e n , daß die A n s t a l t s p f a r r e r "einer Gemeinschaft von B r ü d e r n angehören, die entschlossen s i n d , aller kirchlichen Zerrissenheit zum Trotz in brüderlicher Eintracht und gegenseitiger S t ä r k u n g den schweren Dienst an den Rechtsbrechern u n s e r e s Volkes zu tun"26. Da die Gefängnisseelsorger keine Stellung gegen den Rechtsabbau bezogen, blieb es der 'vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche' überlassen, in i h r e r "Denkschrift" gegen den "Totalitätsanspruch" des Staates vom Mai 1936 gegen die Willkür im Strafwesen zu protestier e n . Zugleich verurteilte sie die Ideologie von "Blut, Rasse, Volkstum und Ehre", die auch die Rechtspflege normierte, als Verstoß gegen den Willen Gottes, der der "Schützer des Rechtes und der Rechtlosen" sei 2 ?. Wenn es auch nicht zu einem offenen Konflikt zwischen nationalsozialistischer Ideologie und christlicher Zielsetzung innerhalb der Gefangenen-
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seelsorge gekommen i s t , so ist doch in der vorliegenden Literatur gleichsam 'zwischen den Zeilen' - zu e r k e n n e n , daß eine inhaltliche Auseinandersetzung s t a t t g e f u n d e n h a t . Wenn auch die folgende Darstellung nicht über den Charakter des B r u c h s t ü c k h a f t e n hinausgehen k a n n , so soll trotzdem der Versuch unternommen werden, im Interesse der Kontinuität der Arbeit die Fragen und Möglichkeiten einer Seelsorgearbeit u n t e r den Bedingungen eines totalitären Regimes aufzuzeigen.
5.2.1 Organisation und rechtliche Stellung der Gefangenenseelsorge Die Dienst- und Vollzugsordnungen des 'Dritten Reiches' sprachen den Gefangenen evangelischen und katholischen Glaubens prinzipiell das Recht auf freie Religionsausübung zu, sowohl in der U n t e r s u c h u n g s ais auch in der S t r a f h a f t . Der Zutritt zu den Inhaftierten der Konzentrationslager war den Gefängnispfarrern nicht gestattet. Besondere Relevanz bekam im 'Dritten Reich' die Beamtenstellung der Seelsorger, denn - wie P o e l c h a u ^ S betont - ein Beamter auf Lebenszeit konnte nicht ohne weiteres entlassen werden. Alertz geht sogar noch weiter und v e r t r i t t die Ansicht, daß allein die Beamtenstellung der Seelsorger es ermöglichte, daß sie ihr Seelsorgeamt ausüben k o n n t e n ^ . Wenn auch in einzelnen Fällen der im Staatsdienst stehende Geistliche von politischen Gegnern als Vertreter des Regimes verdächtigt und als Seelsorgepartner abgelehnt w u r d e t , so überwog doch der Vorteil, der sich aus der Beamtung f ü r die relative Absicherung gegenüber staatlichen Übergriffen e r g a b . Diese war allerdings mit den Nachteilen v e r b u n d e n , die sich aus der disziplinarischen Abhängigkeit vom Anstaltsleiter e r g a b e n . Als Dienstvorgesetzter hatte er das Recht, Auskünfte zu v e r l a n g e n , Anregungen zu geben und im Extremfall die Seelsorgearbeit zu u n t e r b i n d e n , wenn "nach seiner Überzeugung"31 die Tätigkeit des Seelsorgers die Sicherheit der Anstalt bedrohte oder die "zweckmäßige Behandlung der Gefangenen" gefährdete. Obwohl diesbezügliche Entscheidungen des Anstaltsleiters von der höheren Vollzugsbehörde bestätigt werden mußten, gewährte d e r Ermessensgrundsatz dem Anstaltsleiter theoretisch doch weitgehende Freiheiten, dysfunktionale Praktiken der Seelsorger zu v e r h i n d e r n . Es ist allerdings nicht zu klären, in welchem Rahmen diese Bestimmungen zur Disziplinierung der beamteten Seelsorger angewendet worden sind. In den staatlichen Dienstvorschriften wurde neben der allgemeinen und speziellen Seelsorge ausdrücklich die Mitarbeit im Rahmen der Entlassenenfürsorge in den Aufgabenbereich e i n b e z o g e n ^ . Im Zusammenhang damit konnte der Geistliche verpflichtet werden, sich an den 'Grundpflichten' der Vollzugsbeamten zu orientieren: "Die Anstaltsbeamten müssen sich stets von der Überzeugung leiten lassen, daß von
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der sinnvollen Gestaltung des Vollzuges die Wirksamkeit der Verbrechensbekämpfung und namentlich die Wiedergewinnung b e s s e r u n g s f ä h i g e r Gefangener und Verwahrter f ü r die tätige Teilnahme an der Volksgemeinschaft wesentlich a b h ä n g t , und daß jeder von ihnen an seinem Teile f ü r das Erreichen dieses hohen Zieles mitverantwortlich ist"33. Implizit v e r langte diese Vorschrift vom beamteten Seelsorger, auch auf eine Umerziehung der Gefangenen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie hinzuwirken. So stand die Möglichkeit o f f e n , die Gefangenenseelsorge über den Umweg der Beamtenpflichten u n t e r scheinbarer Wahrung i h r e r Selbständigkeit funktional in die Zielsetzung der Vollzugsorganisation einordnen zu können: Der Geistliche wurde mitverantwortlich gemacht f ü r die Wirkung des Strafvollzuges auf den T ä t e r H i e r i n lag das staatliche Interesse an der Arbeit der Seelsorge. Das zeigen deutlich zwei Ä u ß e r u n gen über Aufgaben der A n s t a l t s p f a r r e r im Jugendvollzug und bei der Behandlung von politischen Tätern, die in der Zeitschrift 'Die innere Mission' 1936 erschienen sind: Der Jugendliche soll im Strafvollzug "mit ger e c h t e r Strenge in f e s t e r Zucht gehalten" werden, damit er lernt, "hart gegen sich selbst zu werden". Um wieder f ü r die Volksgemeinschaft t a u g lich zu werden, muß er mit dem Wesen von Volk, Staat und Recht v e r t r a u t gemacht werden. Für Hermine Bäcker ist die Erfüllung dieser Zielsetzung des Jugendstrafvollzuges wesentlich von der Einstellung des Anstaltspersonals abhängig. Von daher stehe auch der Gefängnisgeistliche in der Pflicht, in diesem Sinne "Anteil an der Erfüllung des Jugendstrafvollzuges" zu nehmen35. in vergleichbarer Absicht weist Strafanstaltsdirektor Wüllner36 darauf h i n , daß die Tätigkeit des Strafanstaltsgeistlichen von großer Bedeutung sei, wenn es darum ginge, entsprechend dem Willen des ' F ü h r e r s ' politische Gefangene f ü r die Volksgemeinschaft z u r ü c k zugewinnen. Aber nicht n u r vermittels 'innerer Beeinflussung' sollte der Seelsorger dem nationalsozialistischen Strafvollzug dienen, seine Mitwirkung wurde auch bei der 'kriminalbiologischen Forschung' e r w a r t e t . Deren pseudowissenschaftliche Aufgabenstellung bestand d a r i n , die kriminelle Persönlichkeit in Weiterführung Lombrososcher Ansätze zu e r f a s s e n und Rückfälligkeitsprognosen zu erstellen, von deren Ergebnis die Behandlung des Gefangenen im Vollzug wesentlich abhängig gemacht wurde. Darüberhinaus erwartete Loofs Engagement bei der Bekämpfung des "Erbfatalismus": Der P f a r r e r sollte dem Gefangenen, der sich u n t e r Ber u f u n g auf schlechte Erbanlagen f ü r nicht verantwortlich f ü r seine Tat hielt, deutlich vor Augen stellen, "daß jeder mit dem P f u n d e , das ihm übergeben worden i s t , zu wuchern hat"37, oder a n d e r s formuliert, ihn davon ü b e r z e u g e n , daß er allein die Verantwortung f ü r seine Tat t r ä g t . Die Vorstellungen Loofs', Bäckers und Wüllnersmachen deutlich, daß a u f g r u n d nationalsozialistischer Doktrin v e r s u c h t w u r d e , den Anstaltsp f a r r e r n Funktionen zuzuordnen, die nicht mehr mit dem Seelsorgeauft r a g zu vereinbaren waren. Es wurde mit Bezug auf die Beamtenloyali-
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tät innerhalb des formal gewahrten äußeren Rahmens der Freiheit seelsorgerlicher Arbeit e r w a r t e t , Klienten zu beurteilen und zu beeinfluss e n , also nicht dem Menschen, sondern dem Machtapparat zu dienen.
5.2.2 Grundfragen der individuellen Seelsorge In Konfrontation zu der alle Lebensbereiche normierenden nationalsozialistischen Ideologie standen die Gefangenenseelsorger vor der Aufgabe, ihr Selbstverständnis neu zu formulieren. Der "Umbruch" hat nach Ansicht des Langenberger G e f ä n g n i s p f a r r e r s Ohl "alles Daseiende vor die Existenzfrage gestellt, und d . h . nicht n u r vor die Frage der Daseinsmöglichkeit , sondern nach dem Daseinsrecht". Ein Daseinsrecht aber kann die Gefangenenseelsorge n u r nachweisen, wenn es gelingt, Eigenständigkeit und ideologische Unabhängigkeit a u f g r u n d i h r e r t r a n s z e n denten Verankerung zu bewahren, denn die Sorge um die Seele "steht u n t e r einem anderen Gebot als dem menschlicher Wünsche und Gedank e n " ^ . Ohl wendet sich damit massiv gegen ein Verständnis der Seelsorge, das den Vorstellungen des 'positiven Christentums' entspricht und die Sorge um die Seele als Befriedigung 'religiöser Bedürfnisse' der Gefangenen o d e r , noch weitergehender - wie es der Breslauer Gef ä n g n i s p f a r r e r Schultz v e r t r i t t - n u r in enger Korrelation zur "Lebenspraxis" zuläßt. Nach dieser Konzeption sollten die "engen metaphysischen Grenzen des Religiösen" gesprengt werden, um entsprechend den Vorstellungen des "Bibelbuches" die Lebensbeziehungen des Menschen neu zu fixieren. Nur eine verhaltensnormierende Seelsorgepraxis wird als berechtigt a n e r k a n n t , "denn die Reinigung des Volkskörpers muß auch in . . . Kleinarbeit der Seelsorge geleistet werden"39. Weltanschauliche F r a g e n , die Sorge f ü r ein Funktionieren des "seelischen Apparates" und die Umerziehungsaufgabe bestimmen nach Schultz den A u f t r a g des G e f ä n g n i s p f a r r e r s . Während Schultz eine dem nationalsozialistischen Gedankengut angenäherte Seelsorgekonzeption v e r t r i t t , die sich aus einer zweckgerichteten Bibelauslegung, psychologisierenden Tendenzen und Volkstumsideologie zusammensetzt, v e r s u c h t Ohl das Korrektivelement der Gottesvorstellung gegenüber immanenten Normen f r u c h t b a r zu machen. Die Gefangenenseelsorge steht u n t e r dem Anspruch Gottes, und dieser Anspruch ist absolut. Damit wird die Arbeit der Seelsorger allein auf die Relation Gott und Mensch bezogen, die diese transzendiert und von politischen Strömungen unabhängig macht. Mit Hilfe der grundsätzlichen Abwendung von dem Versuch, die Seelsorge weltanschaulich zu domestizieren, gelingt es Ohl, die Ideologie der Volksgemeinschaft zu d u r c h b r e c h e n und dem Humanen im Mittelpunkt der seelsorgerlichen Bemühungen seine u r s p r ü n g liche Bedeutung zu bewahren: "Auch d a , wo keinerlei Interesse der menschlichen Gesellschaft mehr geltend gemacht werden kann an einer
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Besserung des Gefangenen, wo keine erzieherische Auswirkung mehr abgewartet werden kann - auch bei dem zum Tode Verurteilten besteht dieser Anspruch Gottes, dies ist sein Wort, seine Frage an seine Seele, und u n s e r e Pflicht, ihn zu erfüllen" 4 0. Auch f ü r Ohl geht es letztendlich in der Seelsorge darum, den I n h a f t i e r ten wieder in eine neue Gemeinschaft einzubinden, die seine Existenz t r a g e n k a n n , allerdings stellt er pointiert h e r a u s - und an diesem Punkt liegt wohl die bestimmteste Absage an die h e r r s c h e n d e n Vorstellungen vor - , daß er eine Gemeinschaft a n s t r e b t , "deren Haupt Christus i s t , der Herr". Mit dieser Standortbestimmung ist allerdings eine abschwächende, fast apologetisch wirkende Einschränkung v e r b u n d e n : "Angesichts dieses Mühens um Bindung in neue Gemeischaft ist es wohl ü b e r flüssig, darauf zu verweisen, wie die individualisierende Methode der Einzelseelsorge nichts, aber auch gar nichts zu t u n hat mit dem mit Recht bekämpften, die Volksgemeinschaft auflösenden und zersetzenden Individualismus" 4 !. Trotzdem wird Ohls Absicht deutlich, in Anlehn u n g an die Tradition der Gefangenenseelsorge seit Fliedner und Wichern, entgegen ideologischer Entfremdungsversuche, die biblisch orientierte V e r a n k e r u n g des poimenischen Handelns als Prinzip zu erhalten. Die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Motivationen zur E i n f ü h r u n g der Gefangenenseelsorge und die neutestamentliche Basis - als Reaktion auf die Versuche einer systemimmanenten funktionalen Integration kennzeichnen auch die inhaltlichen und methodischen Überlegungen and e r e r Gefängnisgeistlicher. So betont S t r a f a n s t a l t s p f a r r e r Tombers: "Der t r a g e n d e Grund beim evangelischen S t r a f a n s t a l t s p f a r r e r . . . ist das Evangelium" 4 2 . An dieser Prämisse des theologischen Selbstverständnisses hielt auch Klatt fest, um sich frei von funktionalen Rücksichten f ü r das Individuum des Gefangenen einsetzen zu können. Klatt sieht in dieser Haltung die Kategorie des "Dennoch" 4 3 des christlichen Glaubens verwirklicht, das die seelsorgerlichen Bemühungen trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten nicht erlahmen läßt o d e r , wie Tombers es formuliert, die Verantwortung f ü r den Nächsten erhält dem Seelsorger die "Elastizität seines Helfenwollens . . . gegenüber allen Lähmungs- und Abs t u m p f u n g s e r s c h e i n u n g e n , die Gewöhnung an das Elend und scheinbar immer gleiche Wiederkehr typischer Fälle mit sich b r i n g e n " 4 4 . Die Probleme der Gefangenen sollen im Lichte des Evangeliums behandelt werden. Deutlich wird der Ansatz Schultz' abgelehnt, n u r allgemeinreligiöse Empfindungen der Inhaftierten zu r e f l e k t i e r e n . Vielmehr gilt e s , den Menschen in Beziehung zu Gott zu stellen, um sein Leben neu zu zentrieren: Das 'extra nos' bestimmt das Seelsorgeverständnis, das Klatt v e r t r i t t D a m i t v e r b u n d e n ist eine Relativierung jeglicher seelsorgerlicher Methodik, die hinter der Sorge um den Menschen z u r ü c k s t e hen muß 4 ( \ Es kann einer dem göttlichen Anspruch verpflichteten Seelsorge nicht darum gehen, den Pastoranden a u f g r u n d fremdbestimmender Zielprojektionen umzuerziehen, sondern darum, ihm ein Gefühl der
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Annahme und der Bereitschaft, sich ihm um seiner selbst willen zuzuwenden, zu vermitteln. Die prinzipielle Divergenz der Seelsorgeansätze, die sich an den Beispielen Schultz' und Ohls demonstrieren läßt, hat weitreichende Konsequenzen für den Seelsorgevollzug, wie die Frage der Behandlung der Schuld des Inhaftierten im Seelsorgegespräch verdeutlicht: Im funktional-systemimmanenten Ansatz Schultz' fällt die Relation GottMensch für die Bewertung der Schuld völlig aus: "Das Hauptanliegen der Seelsorge muß in Betreff der Schuld darauf gerichtet sein, nach dem Maß der objektiven Schuld, das durch das Urteil festgestellt i s t , die entsprechende seelische Innenseite bei dem Schuldigen lebendig wirksam werden zu lassen". Schultz übernimmt die Beurteilungskriterien des Gerichts, ohne ihre Relativität zu hinterfragen und macht sich zu einem Ausführungsorgan der Strafrechtspflege, indem er sich selbst die Aufgabe zuordnet, im Vollzug der Seelsorge den Pastoranden dazu zu bewegen, sein Schuldbewußtsein am Schuldspruch zu orientieren und das Urteil zu übernehm e n ^ . Mit seinen Ausführungen zur Bewältigung der Schuldproblematik und Zielsetzung der Gefangenenseelsorge, die ein extremes Beispiel der Adaption staatlicher Interessen am Vollzugs geschehen darstellen, negiert Schultz bewußt bisher geltende Prinzipien der Seelsorgepraxis im Gefängnis. Er identifiziert sich mit der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und mißbraucht den Begriff der Seelsorge für eine Umerziehungspraxis , die nicht mehr mit der christlichen Freiheit des Individuums , die der Schöpfungstheologie entspringt, zu vereinbaren i s t . Demgegenüber versucht Poelchau, die Korrektivkraft der transzendenten Verankerung der Seelsorge gegenüber staatlichen Urteilen zu deren Relativierung heranzuziehen, indem er deutlich macht, "daß der gesellschaftliche Schuldbegriff nicht dem gleicht, was uns wirklich von Gott trennt, und daß Gott andere Maßstäbe hat, großzügigere, aber auch feinere, den Menschen im Innersten treffende, als der jeweils geltende Moralkodex oder das Strafgesetzbuch"48. Es zeigt sich in dieser Äußerung eine interessante Variation der theologischen Prämisse von der göttlichen Rechtsordnung, die zwar aufrechterhalten wird, um dem Täter den Rechtsbruch als Verstoß gegen den Rechtswillen Gottes deuten zu können, aber nicht mehr dahingehend interpretiert wird, die bestehende Rechtsordnung als göttliche zu qualifizieren. Für die Gefangenenseelsorge bleibt die Kategorie der Schuld vor Gott unaufgebbar, da es nur so möglich erscheint, den Gefangenen als Verantwortlichen anzusprechen und zugleich angesichts des auf die Vernichtung der Individualität ausgerichteten Strafvollzuges die Zusage der Vergebung einbringen zu können. Nach Tombers müssen christologische Perspektiven für den Seelsorger und den Pastoranden in der Seelsorgebeziehung als Heilung der Sünde und Vergebung der Schuld relevant werden 1 ^. Während Schultz theologisch nur auf der Seite des Gesetzes einzuordnen i s t , versuchen die anderen Ansätze, Gesetz und Evangelium im seelsorgerlichen Zuspruch zu vereinigen.
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Diese Konzeption wird bei Ohl besonders deutlich, f ü r den Gottes Wort die Frage nach der Schuld und den Zuspruch der Gnade beinhaltet. Von daher möchte er auch keine prinzipielle Kritik am Schuld- und SühnePrinzip des Strafvollzuges ü b e n . Aber er stellt im Blick auf die nationalsozialistische Vollzugspraxis deutlich h e r a u s : " . . . es muß allen, die an Gefangenen und Straffälligen ihren Dienst auszurichten h a b e n . . . bewußt werden, daß n u r in dieser Sphäre des Evangeliums dieses unmittelbare und kompromißlose Nebeneinander möglich ist von Schuld und Gnade, von Härte des Vollzugs und dennoch suchender Liebe". Ganz im Sinne Wicherns besteht Ohl auf dem Bekenntnis der Sünde und der Bereitschaft zur Sühne vor Gott als Übernahme der von Gott gewollten S t r a f e , verbindet damit aber den Zuspruch der Vergebung, die die Schuld vor Gott tilgt. Die Wirklichkeit der göttlichen Gnade ist dem menschlichen S t r a f e n immer vorgeordnet und relativiert e s : In dieser Überlegung steckt eine vernichtende Kritik an der Sühnetheorie des h e r r s c h e n d e n Vollzuges, die ideologisch begründet ist und die Lehre von der heilsamen göttlichen R e c h t s o r d n u n g , die dem Menschen Raum zur Existenz geben will, n e g i e r t . Daher übernimmt Ohl auch nicht das Gerichtsurteil als Beurteilungsmaßstab f ü r die Schuld des I n h a f t i e r t e n , sondern f o r d e r t : "Erst wenn in der Seelsorge das Bewußtsein der Schuld nicht mehr n u r an der Schwere der Strafe und der Härte des Vollzuges sich mißt, sondern an den Maßstäben der Sünde wider Gottes Gebot, wird diesem Bewußtsein nichts abgebrochen d u r c h die Verkündigung von Gottes Gnade und Liebe, die den Sünder sucht"50. Auf diesem Hintergrund war es auch möglich, das seelsorgerliche Gespräch als Beichtgespräch zu v e r s t e h e n , in dem der Pastorand zur Erkenntnis seiner Selbst g e f ü h r t wird und seine Existenz vor Gott als ein von der Gnade Getragener e r f ä h r t , so daß das Ziel der Seelsorge darin b e s t e h t , eine Lebenssicht zu vermitteln, "die gewonnen wird und erhalten werden kann d u r c h persönliche Entlastung des Gewissens, d u r c h Herstellung des Kontaktes mit Gott und der Gnadenwelt in J e s u s , zuletzt d u r c h den Anschluß an die kirchliche Gemeinschaft und Mitarbeit an und in ihr"^ 1 . Damit stellt sich der Gefangenenseelsorger die Aufgabe, eine Atmosphäre der Vergebung innerhalb des Vollzugssystems a u f z u b a u e n , die es dem Inhaftierten ermöglicht, die Pressionen des Vollzuges zu überwinden. Der Zuspruch der Gnade wird somit zu einer e r f a h r b a r e n Wirklichkeit^, in der sich der Gefangene mit seiner Individualität angenommen weiß und aus der Beziehung zu Gott den Freispruch e r f ä h r t , der neue Lebensmöglichkeiten e r ö f f n e t . Durch den Rückbezug der seelsorgerlichen Praxis auf die Relation Gott und Mensch gelang es den Gefangenenseelsorgern, innerhalb des 'harten Vollzuges' einen Freiraum der Menschlichkeit zu s c h a f f e n , ohne nach au^en hin die S t r u k t u r e n dieses Systems zu d u r c h brechen oder darin aufzugehen.
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Aufgrund dieser Zielsetzung tritt in den Überlegungen zur Gestaltung des seelsorgerlichen Gesprächs der Gedanke der Bekehrung nicht mehr auf. Der Ansatz, eine menschliche Beziehung zu r e a l i s i e r e n ^ , e r f o r d e r te ein Vertrauensverhältnis, das aus der Vertraulichkeit der Gespräche erwachsen konnte. Daher kam der seelsorgerlichen Amtsverschwiegenheit eine große Bedeutung zu. Beachtlich i s t , daß das Beichtgeheimnis von den Vollzugs- und E r m i t t l u n g s b e h ö r d e n ^ respektiert worden i s t , obwohl es ihren Interessen zuwiderlaufen mußte.
5 . 2 . 3 Seelsorge an zum Tode Verurteilten Mit der besonders in den Kriegsjahren v e r s t ä r k t zur Abschreckung angewendeten Todesstrafe wurde die Vorbereitung und Begleitung zur Hinr i c h t u n g zu einer schweren Aufgabe der G e f ä n g n i s p f a r r e r Die E r f ü l lung dieses Auftrages ist von den aus der Situation des Gefangenen und des Geistlichen resultierenden äußeren Bedingungen g e p r ä g t : Die Lage des Inhaftierten wird definiert d u r c h die Ausweglosigkeit des Wartens und der Monotonie der Isolation in der Todeszelle. Der Geistliche hat eine Doppelrolle als V e r t r e t e r des Strafvollzuges und der Kirche zu e r füllen, indem er bei dem rechtlichen Akt der Urteilsverkündung und der Urteilsvollstreckung anwesend ist und zwischen beiden seinem Seelsorgeauftrag nachgeht. Die letzte Nacht vor der Vollstreckung, die der Delinquent in der Regel an den Händen gefesselt u n t e r Bewachung von zwei Beamten in der Todeszelle v e r b r a c h t e , stellte eine besondere psychische Belastung f ü r den Gefangenen und den Seelsorger d a r , dessen Bemühen darauf ausgerichtet war, der individuellen Problematik und der emotionalen Befindlichkeit des Pastoranden gerecht zu werden. Das von P o e l c h a u ^ beschriebene Eingehen auf den einzelnen Menschen im Angesicht des nahen Todes unterscheidet sich wesentlich von der Praxis der Seelsorge an Todeskandidaten, wie sie bis zum 19.Jahrhundert gehandhabt worden i s t : Nicht mehr die Bekehrung des reuigen Sünders wird a n g e s t r e b t , sondern die Erleichterung der letzten Stunden. So berichtet Poelchau von seiner sehr individuell geprägten Seelsorgepraxis im Verlauf der letzten Nacht. Die Aufgabe konnte darin bestehen, einfach nur dazusein, ohne zur Unterhaltung zu zwingen, oder letzte Briefe f ü r den gefesselten Delinquenten zu schreiben oder a b e r , wenn der Pastorand es wünschte, zuzuhören, wenn dieser sein Leben und seine Probleme ein letztesmal zu reflektieren v e r s u c h t e . Viele Todeskandidaten ließen Poelchau teilhaben an ihrem Lebensweg mit dem Gefühl, einen Ges p r ä c h s p a r t n e r gefunden zu haben, dem sie v e r t r a u e n konnten. Dem Menschen ein Gegenüber und die Möglichkeit zu geben, sich auszusprechen und angenommen zu werden, darin bewährte sich die Aufgabe des Seel-
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sorgers; je nach Stimmung des Delinquenten auch darin, die Beichte anzuhören, Vergebung zuzusprechen und gemeinsam zu b e t e n ^ . Der Gefängnisgeistliche hatte die Aufgabe, die Delinquenten bis zur Hinrichtungszelle zu begleiten. Besonders schwer wurde die Situation der Begleitung bei Militärpersonen, die in einem Wagen zum Erschießungsplatz transportiert wurden. Poelchau beschreibt diese letzte Fahrt zum Exekutionsort, die er oft in vollem Ornat begleiten mußte: "Die Gefangenen saßen auf der gleichen Bank neben mir . . . Es fielen nicht mehr viele Worte. Was zu sagen war, war in der Zelle in der Nacht vorher ausgesprochen worden. Nur selten mußte ich noch Dinge notieren, die den Verurteilten am Herzen lagen - Grüße an Frau und Kinder. Der einzige Liebesdienst, den ich noch erweisen konnte, bestand darin, daß ich den Männern immer wieder eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, sie anzündete, sie wieder herausnahm und erneut gab. Die Gefangenen waren ja mit ihren auf dem Rücken gefesselten Händen hilflos"58. 'Letzter Liebesdienst' und im weitesten Sinne Kontingenzbewältigung, zwischen diesen beiden Polen gestaltete sich das breite Spektrum der Seelsorge für die ihren Tod erwartenden Menschen. Für den Seelsorger bedeutete das, der Unmenschlichkeit des Todesurteils den Trostcharakter der Seelsorge gegenüberzustellen, einen kleinen Raum der Menschlichkeit zu wahren innerhalb einer unaufhaltsam ablaufenden Justizmaschinerie. Poelchau, der in Plötzensee sehr viele Hinrichtungen begleitet hat, reflektierte kaum die theologischen Implikationen seines Seelsorgeverfahrens , das er in Flexibilität den Bedürfnissen des Menschen in der Todeszelle adäquat zu gestalten suchte. In der Annahme des Individuums versuchte e r , seinen christlich motivierten Auftrag zu verifizieren. Er selbst kommentiert im nachhinein seine Tätigkeit, besonders unter dem Aspekt der Begegnung mit den politischen Widerstandskämpfern: "Wenn ich ihnen gegenübertrat, so tat ich dies als Christ, ganz gleich, ob sie sich zum Christentum bekannten oder nicht. Sobald zwischen uns klar wurde, es ginge nicht um Formen und Dogmen, sondern um die Frage des Gewissens - fielen zwischen uns die Hemmungen der Konvention, des Ehrgeizes, der Rücksicht. Wir waren uns nah". "Ich habe die Erfahrung gewonnen, daß die Männer und Frauen Vergebung brauchten, die Vergebung anderer Menschen, denen sie in ihrem Leben nicht gerecht geworden waren, oder Gottes Vergebung. In den letzten illusionslosen Gesprächen mit den Todgeweihten wurden Kräfte jenes Friedens lebendig, der höher ist denn alle Vernunft, mächtiger als die Furcht vor dem Richter und dem Beil und dem Strick des Henkers" 5 ^.
5.2.4 Allgemeine Seelsorge und Fürsorge Das Bemühen, die Seelsorge aus dem Bezugsfeld der ideologischen Einflußnahme innerhalb des Vollzuges herauszuhalten, um den Seelsorge-
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a u f t r a g , "daß Gott und die Seele sich begegnen und kennenlernen"®® zu wahren, formte auch die Gottesdienst- und Unterrichtspraxis. Für den Gefängnispfarrer Tombers erscheint es notwendig, die spezielle Situation der Gefangenen in der Predigtarbeit zu behandeln: Die Loslösung von allen sozialen Beziehungen und der Möglichkeit der Selbstverwirklichung lassen die "metaphysischen Urfragen"®! nach Sein und Sinn der Existenz mit aller Dringlichkeit h e r v o r t r e t e n . Die Zielsetzung der allgemeinen Seelsorge wurde dahingehend beschrieben, in Predigt und Unterricht angesichts existentieller Fragen Antwort zu geben, den Gefangenen Möglichkeiten der Existenzerhellung zu bieten und ihnen Wege zu weisen, a u f g r u n d der christlichen Glaubensinhalte ihre Lebensgrundlagen zu reflektieren. Das Selbstverständnis der Seelsorger, dem Inhaftierten zu helfen, sein Leben innerhalb der Anstalt zu bewältigen, schließt auch die Übernahme f ü r s o r g e r i s c h e r Aufgaben mit ein. Der Gefägnisgeistliche muß auch - nach Poelchau - bereit sein, die persönlichen Probleme des Pastoranden p r a k tisch lösen zu wollen. Damit wird die traditionelle Verbindung von Seelsorge und Fürsorge auch im nationalsozialistisch geprägten Vollzug weit e r g e f ü h r t , sicher auch u n t e r dem Aspekt, daß die Gefangenen darauf v e r t r a u t e n , vom Geistlichen Hilfe zu e r f a h r e n , die f r e i von funktionalen Aspekten war. Der Hauptaspekt dieser fürsorgerlichen Hilfeleistungen richtete sich auf die Sorge um die Familien, sei e s , daß der P f a r r e r Briefe schrieb, sich um U n t e r b r i n g u n g s f r a g e n der Angehörigen und die Kinder der Inhaftierten kümmerte oder v e r s u c h t e , die Verbindung zu den nächsten Verwandten überhaupt aufrechtzuerhalten®^. Wenn auch Klatt mit Recht b e t o n t , der Wert der Seelsorge im Gefängnis solle nicht allein an ihren fürsorgerlichen Erfolgen gemessen werden®^ so ist doch deutlich, daß die fürsorgerlichen Aufgaben in den J a h r e n nach 1933 wieder besonderes Gewicht bekommen haben u n t e r der Zielsetzung, die Eingliederung in die Gesellschaft nach der Entlassung zu erleichtern, wobei als Mittel die Aufrechterhaltung der Familienbeziehungen traditionsgemäß dominierte. Aus der engen seelsorgerlichen Beziehung zwischen Pastor und Pastorand, v e r b u n d e n mit der Sorge um die individuellen Probleme des Gefangenen, ergibt sich f ü r Ohl zwangsläufig, daß der Geistliche auch eine Mitverantwortung f ü r die Lösung der Probleme t r ä g t , die mit der Entlassung des Strafgefangenen a u f t r e t e n ^ . Bei der Behandlung dieses Problemkreises d u r c h Klatt und Ohl zeigt sich, daß die Rückbesinnung auf die U r s p r ü n ge der Gefangenenseelsorge dazu f ü h r t , die Verbindung von Gefangenenseelsorge und Entlassenenfürsorge im Sinne Wicherns auf dem Hintergrund der Aufgaben der Inneren Mission neu zu v e r s t e h e n . So stellt Klatt 65 f e s t : "Wenn wir S t r a f a n s t a l t s p f a r r e r in u n s e r e r Doppelstellung als Staats- und Kirchenbeamte auch eine Sondergruppe bilden, u n s e r e Arbeit ist letzten Endes Missionsarbeit. Und ohne engste Fühlungsnahme mit den Arbeitern und Einrichtungen der Inneren Mission werden wir
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f ü r u n s e r e Schutzbefohlenen niemals in Segen arbeiten können". Diese Beziehung wird deshalb hervorgehoben, um die Sorge in Richtung auf die Eingliederung nach der Entlassung kontinuierlich aus der Zusammenarbeit mit den Seelsorgern und den Mitarbeitern der Inneren Mission hervorgehen zu lassen, die es ermöglichte, schon während der Haft spät e r weiterführende Kontakte zu knüpfen®®. Die - wie Klatt es nennt "brüderliche Tatbereitschaft und Tatgemeinschaft" 6 7 wurde sicher auch deswegen a u f r e c h t e r h a l t e n und aktiviert, um ein Gegengewicht gegen Bemühungen der nationalsozialistischen F ü h r u n g zu gewinnen, die Entlassenenfürsorge in der NSV®^ einzugliedern, nachdem der 'Deutsche Reichsverband f ü r Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenf ü r s o r g e ' schon 'gleichgeschaltet' worden war. Wie b e g r ü n d e t der Versuch war, sich gegen die NSV abgrenzen zu wollen und eine eigene Organisation a u f r e c h t z u e r h a l t e n , zeigen die A u s f ü h r u n g e n 6 ^ des nationalsozialistisch engagierten Strafanstaltsdirektors Wüllner vor der Tagung des 'Reichsverbandes' 1936: Die Wiederaufnahme in die Volksgemeinschaft beruhe zwar auf der Forderung der Bergpredigt , jedoch sollte sie von systemtreuen B e t r e u e r n und in enger Gemeinschaft mit der NSV und den örtlichen V e r t r e t e r n der NSDAP geschehen. Der Gefängnisgeistliche, der sich mit der Entlassungsvorber e i t u n g befaßt, soll also christliche Werte mit der Volksgemeinschaftsideologie v e r b i n d e n , wobei letztere als dominant angesehen w i r d ^ . 7
5.2.5 Zusammenfassung Die Weiterentwicklung der Gefangenenseelsorge nach 1933 ist grob mit Hilfe zweier Begriffe zu beschreiben: Anpassung und Rückbesinnung. Es sei an dieser Stelle noch einmal b e t o n t , daß diese Charakterisierung n u r zwei gegenläufige Trends kennzeichnen k a n n , die sich aus dem schmalen Literaturbefund der J a h r e 1934- 1938 und den nach 1945 von Poelchau herausgegebenen Schriften erheben lassen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können. Gerade aus der hier aufgezeigten Polaris i e r u n g ergibt sich das Hauptproblem der Darstellung, nämlich daß die Nuancen herausfallen, die sicherlich das Erscheinungsbild der Gefangenenseelsorge bis 1945 s t ä r k e r geprägt haben als berücksichtigt. Als Antwort auf die Ausgangsfrage läßt sich f e s t h a l t e n , daß auch u n t e r den Bedingungen des totalitären Regimes des Nationalsozialismus eine Gefangenenseelsorge funktionieren konnte, die sich bewußt inhaltlich von der h e r r s c h e n d e n Ideologie freihielt. Die Möglichkeiten dazu waren rein formal durch die Seelsorgebestimmungen der Vollzugsbürokratie und den Schutz der beamtenrechtlichen Stellung der Geistlichen gegeben, die sich nicht wesentlich von denen der Weimarer Republik u n t e r s c h i e den und - bis auf die Einspruchsmöglichkeiten des Anstaltsleiters - auch
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keinen Anspruch auf inhaltliche Eingriffnahme erhoben. Es lag also wesentlich an den Geistlichen selbst, den inhaltlichen Aspekt ihrer Tätigkeit zu füllen. Der ohne Frage bestehende Freiraum wurde - sicherlich auch auf dem Hintergrund der Spaltung der Gesamtkirche - in zwei Richtungen genutzt: Einerseits um Systemkonformität zu demonstrieren - wie es sich am Beispiel Schutz' deutlich erkennen ließ - als totale Integration der Gefangenenseelsorge in die Justizmaschinerie, die der Ideologie der Volksgemeinschaft (Gemeinnutz geht vor Eigennutz) und der Vernichtung des Individuums verpflichtet war, oder andererseits um die Verpflichtung gegenüber dem Anspruch Gottes und die Sorge um den Menschen in der Seelsorgepraxis zu realisieren, wie das Beispiel Ohls und anderer zeigte. Die nicht systemkonforme Seelsorge orientierte sich an den Vorbildern Wicherns und Fliedners und formulierte in Analogie zu ihnen ihre Zielsetzung aus der Gottesbeziehung des Inhaftierten, die aus göttlicher Gnade trotz aller Schuld unauflöslichen Bestand hat. Diese theologische Grundsatzentscheidung prägte die Seelsorgepraxis, in der versucht wurde, die Probleme des Gefangenen vor Gott zu reflektieren und zu lösen. Der Auftrag des Evangeliums, dem Menschen zu seiner Existenz als von Gott Befreiter und von Gott Anerkannter zu verhelfen, führte zu einer Absage an die Umerziehungspraxis der Nationalsozialisten. Theologisch gesehen kam es zu einer Neuinterpretation der Lehre von der göttlichen Rechtsordnung im Sinne ihrer ursprünglichen Bedeutung als Schutzordnung des Individuums gegenüber willkürlichen Übergriffen der Machthaber. Diese Rückbesinnung ermöglichte e s , eine Seelsorgekonzeption durch zuhalten, die aufgrund ihrer transzendenten Verankerung nicht von der Urteilspraxis der nationalsozialistischen Rechtspraxis normiert wurde. Vielmehr folgte diese Seelsorgepraxis nach 1933 mit ihrem Einsatz für den Menschen im Vollzugssystem den schon vorher formulierten Inhalten der Individualisierung, die die Seelsorge nach dem Ersten Weltkrieg geprägt hatten, sodaß man von einem Antagonismus eines Zweiges der Gefangenenseelsorge gegen die Zielsetzung der nationalsozialistischen Ideologie der Gleichschaltung sprechen kann. Dagegen stand eine Theorie der Gefangenenseelsorge, in der unter scheinbarer Berufung auf das 'Bibelbuch' die relativierende Bedeutung des göttlichen Anspruchs gegenüber menschlichen Machtsystemen zum Schaden des Menschen bewußt negiert und die Seelsorger zu Ausführungsorganen des antihumanen und damit nicht mit christlichen Freiheitsvorstellungen korrelierbaren Strafvollzuges degradiert wurden, indem die vermittels des Seelsorgeauftrages bestehende Einflußmöglichkeit auf die Gefangenen zu deren Umorientierung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie mißbraucht wurde.
6. Strafvollzug und Gefangenenseelsorge seit 1945
6.1 Strafvollzugsentwicklung nach 1945 Für den Hauptansatz der vorliegenden Arbeit, Interdependenzen der Entwicklung des Strafvollzuges und der Gefangenenseelsorge h e r a u s zustellen und zu analysieren, ergibt sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine interessante Problemlage: Während die Gefangenenseelsorge eine - wenn auch gebrochene - Kontinuität in den J a h r e n der nationalsozialistischen Herrschaft wahren konnte, die A n k n ü p f u n g s möglichkeiten nach dem Krieg bot, standen die Vollzugstheoretiker vor der Aufgabe, die r e g r e s s i v e n Tendenzen, den Strafvollzug als politisches Unterdrückungsinstrument einzusetzen, zu überwinden. Es galt, das einem auf der Basis der Gewaltenteilung neu errichteten Staatswesen adäquate Rahmenverständnis des Vollzugswesens zu entwickeln. Der Strafvollzug erschien demgemäß sinnvoll als Element eines auf den Erhalt der Sozietät ausgerichteten Systems der Sozialkontrolle, eingegrenzt auf die Aufgabe, die richterlich verhängten Kriminalsanktionen zu vollziehen, die die Entziehung der Freiheit intendierten.
6 . 1 . 1 Der sichernde Verwahrvollzug Da umfassende legislatorische Grundkonzeptionen nicht geschaffen w u r den, ergab sich die Praxis des Strafvollzuges in der Bundesrepublik in der Form eines evolutionären Prozesses. Überkommene Inhalte und Elemente wurden u n t e r Modifikationen t r a d i e r t . Der Vollzug b e r u h t e auf einer relativ unbestimmten Konvention. Es t r a t zunächst das Bemühen in den V o r g e r g r u n d , die genuin nationalsozialistischen Ausprägungen der Vollzugsordnung zu eliminieren 1 und das Vollzugswesen föderalistisch zu organisieren. Eine Absicherung der persönlichen Rechtssphäre der Strafgefangenen gegenüber staatlichen Eingriffen, wie Folter und menschenunwürdiger B e s t r a f u n g , war durch die Übernahme der 'Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten' als einfaches Bundesrecht im Jahre 1952 g e g e b e n 2 . Die Vorschriften zur Gestaltung des Vollzugswesens wurden auf Länderebene entwickelt und bundesein-
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heitlich in der Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.7.1962 formuliert. Dieser Verwaltungsordnung eignete keine Gesetzeskraft, sie regelte die Rechtsstellung der Gefangenen, die Organisation des Vollzugswesens und auf breiter Ebene ^ die sichere Verwahrung und das Verhalten der Inhaftierten4. Ihr Grundtenor konkretisierte sich im Vollzugsziel des Schutzes der Allgemeinheit (Nr. 57DVollzO) und korrelierte mit den bestehenden Gefängnisbauten des geschlossenen Vollzuges, die wesentlich dem Gedanken Rechnung t r a g e n , den Inhaftierten als "präsumtiven Ausbrecher" zu behandeln, "demgegenüber es in e r s t e r Linie um Einsperrungszwang und Sicherung gegen Gewalttat gehen müsse"^. Dem entsprach eine Vollzugspraxis, die bei chronischem Mangel an geeignetem Personal und Vollzugsraum darauf ausgerichtet war, möglichst viele Gefangene zu v e r w a h r e n , zu verpflegen und zu beschäftigen. Die konstante Überbelegung der Anstalten, die nicht zu leistende Differenzierung und Einzelunterbringung der Inhaftierten wenigstens bei Nacht ließen Versuche aussichtslos erscheinen, resozialisierend zu wirken. So stellte der Strafrechtler Peters mit Recht 1959 bedauernd f e s t , daß "in den letzten zehn Jahren kein entscheidender Wandel im Vollzugswesen s t a t t g e f u n d e n hat"®. Der "steingewordene Riesenirrtum"? des primär sichernden Verwahrvollzuges dominierte als konkretes Traditionselement weiterhin im Strafvollzug der Bundesrepublik®, dessen innere Sozialstruktur entscheidend geprägt wurde d u r c h einen s t r e n g hierarchisch autoritär ausgerichteten Aufsichtsdienst und eine Verwaltung, die dem "massenbürokratischen Ideal des äußerlich reibungslosen Funktionierens"9 v e r b u n d e n war. Um einen s t ö r u n g s f r e i e n Ablauf zu bezwecken, wurden die in der DVollzO vorgegebenen normativen Reglementierungen r e s t r i k t i v zu Lasten der Kommunikation und Spontaneität der Inhaftierten angewendet. Die d a r aus resultierenden "Verhaltensrituale" bildeten ein Stabilisierungssystem im Sinne der Verwahrung und nicht der ihm unterworfenen Menschen. Hinzu kam ein Katalog von physischen und materiellen Zwangsund positiven Sanktionsmaßnahmen, wie Zubilligung besonderer Begünstigungen bei guter F ü h r u n g , u n t e r der Zielsetzung, zu disziplinieren und die zentralen Werte Sicherheit und Ordnung d u r c h z u s e t z e n . Die bisher a u f g e f ü h r t e n Strukturelemente charakterisieren den Regelvollzug der Bundesrepublik nach der Definition von Goffman als "totale Institution"·'-^. Typisch f ü r eine 'totale Institution' sind die aus ihrer Organisationsstruktur resultierenden restriktiven Konsequenzen: Die Betroffenen empfinden die ihnen aufgezwungenen Repressionen als einen Verlust von Würde und reagieren aggressiv und feindlich gegenüber den Vertretern der Institution. Darin gründet eine latente Konfrontation zwischen dem Stab und den Insassen der Anstalt. Die Kommunikation und Interaktion bleibt auf die Ebene von Befehl und Gehorsam reduziert. Die soziale Distanz zwischen Beamten und Inhaftierten wird als funktionales Element eingesetzt 12.
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Die Rechtsprechung ging bis in die 70er Jahre hinein von einem 'besonderen Gewaltverhältnis' des Staates gegenüber dem Rechtsbrecher aus und stabilisierte somit die historisch gewachsenen vergeltenden und abschreckenden Ziele des von Deprivationen gekennzeichneten Vollzuges. Dem zugrunde lag ein statisches Gesellschaftsmodell, das "in gegeneinander abgeschlossenen Räumen zu denken vermochte" und es als legitim gelten ließ, dysfunktionale Mitglieder der Sozietät zu isolieren. Der Verwahrvollzug mußte daher in dem expandierenden Prozeß gesellschaftlicher Veränderung zu einer dynamischen Organisation kommunizierender Subsysteme zu einem atavistischen Problemfeld werden. Die Einsicht in diese Diskrepanz hat in den 60er J a h r e n - in Verbindung mit der großen Strafrechtsreform - zu Ansätzen g e f ü h r t , die b e s t e h e n den S t r u k t u r e n zugunsten der Gefangenen aufzulockern. Die 'Liberalisierung des Strafvollzuges' bot Ansätze objektiver V e r b e s s e r u n g , v e r schleierte aber auch bestehende Konzeptlosigkeit - indem d u r c h Vollzugslockerung latente Probleme umgangen wurden - , ohne sich um eine N e u s t r u k t u r i e r u n g zu bemühen. Deutlich wurde das am Problemfeld der Haftform. Die Übernahme soziologischer Methoden in die Vollzugswissenschaft hatte die Notwendigkeit sozialer Interaktion f ü r Strafgefangene betont und die rigide Einzelhaft als "theoretischen Irrtum und praktischen Irrweg"14 gekennzeichnet. Andererseits h e r r s c h t e aber ebenso Einstimmigkeit d a r ü b e r , daß eine u n s t r u k t u r i e r t e Gemeinschaftshaft nicht f ö r d e r t , sondern die I n h a f t i e r ten der massiven Beeinflussung einer 'Gegengesellschaft' aussetzt, ein Prozeß, der bei labilen Persönlichkeiten zu "sittlicher Depravierung und krimineller Infektion"15 f ü h r e n k a n n . Zur Lösung dieser Spannung wurden aber nicht die schon 195216 angeklungenen und immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Umgestaltung des Vollzuges in einen Gruppenvollzug aufgenommen, der Möglichkeiten geboten h ä t t e , soziale I n t e r aktion u n t e r Anleitung und Begleitung geeigneten Personals einzuüben. Vielmehr erfolgte im Rahmen der Liberalisierung eine weitreichende Anwendung von Aufschlußzeiten und Zusammenschlußmöglichkeiten der Gef a n g e n e n , die die Isolation und die Klagen über die Einzelhaft v e r r i n g e r t e n , ohne aber die Grundprobleme des Selbstüberlassenseins in der Gefangenengesellschaft zu modifizieren. Die positiven Auswirkungen der Liberalisierungsdebatte waren in der Überarbeitung der DVollzO aus dem Jahre 1962 deutlich. Das G r u n d p r i n zip der sanktionierenden Vergünstigungen wurde teilweise v e r l a s s e n . Die neu formulierte Nr. 62 ermöglichte es dem Anstaltsleiter u n t e r der Maßgabe "Maßnahmen zur Förderung und Betreuung", den Inhaftierten einen Spielraum individueller L e b e n s f ü h r u n g als Motiv positiver Verhalt e n s ä n d e r u n g zuzugestehen, der allerdings vom dominierenden O r d n u n g s prinzip immer wieder begrenzt wurde. Die autoritären Strukturen im Kontakt mit dem Aufsichtsdienst wurden r e d u z i e r t ! ? , ebenso die Einschränkungen der Grundrechte auf Meinungs- und Informationsfreiheit. Wich-
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tig waren vor allem e r s t e Ansätze, die Möglichkeiten sozialer Kontakte zu intensivieren, indem Besuchszeiten erweitert und Familienbesuche außerhalb der Anstalt ermöglicht wurden. Der in den 60er J a h r e n relevante Liberalisierungsprozeß zeigte Inhaltselemente, die sich auf die Reformdiskussion der 20er Jahre zurückbeziehen lassen. Eine menschenwürdigere Ausgestaltung des Vollzugsablaufs und die Verbesserung der Übergangsmöglichkeiten von Strafzeit zu Freiheit standen im V o r d e r g r u n d . In der Praxis der Rechtsprechung setzte sich die Einsicht in die Sinnlosigkeit k u r z e r Freiheitsstrafen d u r c h , die vermehrte Anwendung von Geldstrafen f ü h r t e zu einem deutlichen Rückgang der InhaftiertenzahlenlS. i m Blick auf die immer noch zu vollziehende große Zahl von Freiheitsstrafen wurde die Forderung nach 'Individualisierung' und differenzierten Maßnahmen zur Reintegration immer deutlicher erhoben. Erste Schritte, schon während der Haftzeit geeignete Maßnahmen d u r c h z u f ü h r e n , die die Rückkehr in die Gesellschaft erleichtern, bestanden in Versuchen mit offenen und halboffenen Anstalten, die die soziale Eigenverantwortung in den Vollzugsablauf integrieren sollten, wesentlich aber auf bestimmte Tätergruppen eingegrenzt blieben* 9 . Im geschlossenen Vollzug wurde die Möglichkeit des Freigängerstatus erweitert. Der 'Freigänger' hat die Möglichkeit, außerhalb der Anstalt zu arbeiten oder eine Ausbildung zu erhalten, und kehrt in die Anstalt z u r ü c k , in der er seine Freizeit v e r b r i n g e n muß. Der Gefangene wird dadurch in die Lage versetzt, sich u n t e r den Bedingungen der sozialen Belastung des Alltagslebens zu bewähren und Formen der freien Entfaltung einzuüben. Die positiven E r f a h r u n g e n mit diesem Kompromiß aus Restriktion und Eigenverantwortung bestätigten diesen auf der Reformfreudigkeit einzelner Anstaltsleiter beruhenden Ansatz zur Durchbrechung des Verwahrvollzugs erfolgreich. Als intensives Mittel, im Zuge der Liberalisierung soziale Trainingsfelder zu e r ö f f n e n , erwies sich die Gewährung von Vollzugsurlaub, der vorrangig zur "Erhaltung sozialer Beziehungen" und der 'feigenverantwortlichen Vorbereitung der Entlassung" 2 0 dienen soll. Zu dieser Phase der Vollzugsentwicklung ist kritisch anzumerken, daß es trotz der deutlichen Einsicht in die Notwendigkeit einer differenzierten Gestaltung des humanen Vollzuges nicht gelungen i s t , die statische Tendenz des verwahrenden Regelvollzuges zu d u r c h b r e c h e n . Die Liberalisier u n g konnte nur die atavistischen Strukturen, die von der Dienst- und Vollzugsordnung stabilisiert w u r d e n , öffnend modifizieren, was sicher einen nicht zu verleugnenden Fortschritt b r a c h t e , scheiterte aber an der Tatsache, daß sich Prinzipien des sichernden Verwahrvollzuges und einer dynamischen Vollzugsgestaltung gegenseitig paralysierten.
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6.1.2 Vom Sicherungsdenken zur Resozialisierungsdebatte Die Forderung nach Sicherheit prägte nach 1945 noch nachhaltig die Ausformung des Vollzugswesens 21 . Im Zuge der Einsicht in die multikausale Genese von Kriminalität setzte sich die Überzeugung durch, daß eine sichernde Verwahrung nur so lange Schutz der Allgemeinheit garantieren kann, wie der Freiheitsentzug andauert, weiterreichende Prävention aber nur zu erreichen ist, wenn über spezielle Maßnahmen die Motivationskette zu erneuter Devianz entzogen wird. Im Sinne der von von Liszt geforderten sozialpolitisch orientierten Kriminalpolitik beherrschte - unter Weiterführung der Vollzugsziele Besserung und Erziehung - der Begriff 'Resozialisierung' seit Beginn der 50er Jahre immer deutlicher die Debatte. Resozialisierung stellt nach Peters einen komplexen Prozeß dar, in dem "jemand, der infolge persönlichen Versagens aus der gesellschaftlichen Ordnung herausgetreten ist, wieder soweit gefördert und gefestigt wird, daß er mit den Ansprüchen der Gesellschaft fertig wird" 2 2 . In der weiteren Diskussion wurde deutlich, daß diesem Terminus aufgrund seiner inneren Logik eine Problematik innewohnt, die suggerierte, daß der Delinquent irgendwann einmal "sozialisiert gewesen sei, sich selbst erst durch die Tat dissozialisiert habe" 2 ·*. Es lag eine "Verengung" 2 ^ des Begriffes vor, wenn er nur im Sinne von 'Wiedereingliederung' interpretiert und mit einer Sicht des Straftäters verbunden wurde, die ausklammerte, daß die Mehrzahl der Inhaftierten aufgrund von Sozialisationsmängeln straffällig geworden sind. Es fehlte offenkundig eine verbindliche "Theorie der Resozialisierung" 2 ^, die Sozialisationsmängel und Sozialisationsmöglichkeiten wissenschaftlich beschreiben konnte. Eine Überlegung Gustav Radbruchs, die der Strafrechtler Schmidt2^ aktualisierte, führte zu der Erweiterung des Resozialisierungsbegriffs, daß eine Hinführung zur Legalität ohne die Entfaltung der ethischen Grundhaltung der sozialen Verantwortlichkeit, die den Delinquenten in eine neue Relation zur Sozietät bringt, nicht zu erreichen ist. Die Entscheidung zur freiwilligen Übernahme der sozialerhaltenden Regeln der Gesellschaft ist allerdings nur in einem Vollzug zu erreichen, der auf erzieherische Zwangsmaßnahmen verzichtet. In Urteilen des Bundesverfassungsgerichts wurde zwar betont, daß es nicht die Aufgabe des Staates sei, seine Bürger zu bessern, zugleich aber zugestanden, daß Resozialisierungsmaßnahmen im Justizvollzug zulässig sind, wenn sie der Delinquenzverhinderung dienen. Richtungweisend war das sogenannte 'Lebach-Urteil' aus dem Jahre 1973, das die sozialstaatliche Verpflichtung des Vollzuges in die Zielformulierung faßte: "Dem Gefangenen sollen Fähigkeiten und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen" 2 ?.
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Diese verfassungsrechtliche Definition implizierte in der Praxis die Frage, welche vollzugsorganisatorischen Strukturen und Regelungen ihr ents p r e c h e n . Sicher war, daß der 'Ist-Stand' des Gefängniswesens dem Ans p r u c h auf integrierende Sozialwerdung nur defizitär genügte. Organisationstechnisch wurde der Vollzug d u r c h die E i n f ü h r u n g des Resozialisierungsziels u n t e r dem Geltungsbereich der DVollzO völlig ü b e r f o r d e r t , da die "heterogenen Zwecke"28 Resozialisierung und sichere Verwahrung nicht i n t e g r i e r b a r waren. Es ergab sich ein Zielkonflikt, der sich in der Vollzugs Wirklichkeit als Rollenkonflikt des Vollzugspersonals niederschlug. Die Majorität der Bediensteten - der Aufsichtsdienst unterlag der "kustodialen"29 Aufgabe - hatte f ü r die Sicherheit und O r d n u n g in der Anstalt und den reibungslosen Ablauf des Vollzugs geschehene zu sorgen. Die Rollenidentität der Aufsichtsbeamten war daran orientiert, Vorschriften im Sinne einer funktionalen Stabilisierung des Anstaltssystems umzusetzen. Nur sekundär erschien es wichtig, sich auf die individuellen Bed ü r f n i s s e der Inhaftierten einzulassen. Die neu erhobene Forderung an die Beamten, sich aktiv im Sozialisierungsprozeß zu engagieren und soziale Beziehungen zu den Inhaftierten a u f z u b a u e n , widersprachen dem gültigen Prinzip, mit Strenge und Distanz reglementierende Maßnahmen durchzusetzen. Der ständige "Balanceakt"^ zwischen beiden divergierenden Anforderungen und die mangelnde Ausbildung^! f ü r individuelle Betreuung f ü h r t e n dazu, daß auch f ü r Beamte, die f ü r eine Neuorient i e r u n g des Vollzuges offen waren, der s t r u k t u r b e d i n g t e Zielkonflikt eine unlösbare Verunsicherung mit sich b r a c h t e , so daß die Konsequenzen der Liberalisierung im Kontext der Resozialisierungsforderung als Überforderung d e r e r erlebt w u r d e , die eine wesentliche Funktion im Vollzugssystem innehatten. An dem aufgezeigten Problemfeld läßt sich exemplarisch belegen, in welche Aporien der Verwahrvollzug Ende der 60er Jahre gelangt war: Die Basis des Strafvollzuges in Vorschriften und Praxis war nicht mehr mit den Reformvorstellungen der Strafvollzugswissenschaft zu vermitteln. Eine Problemlösung in Richtung des vom B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t gewiesenen Weges war n u r zu e r w a r t e n , wenn es gelang, das gesamte Vollzugswesen auf einer gesetzlichen Neuregelung zu g r ü n d e n . Der S t r a f r e c h t l e r Roxin weist sicher mit Recht darauf hin, daß das deutsche Strafvollzugswesen lange Zeit deshalb so r ü c k s t ä n d i g und wenig r e formfreudig war, weil es der vergeltenden Straftheorie v e r b u n d e n war Der Diskussion um die Zielsetzungen eines neuen Strafvollzugsgesetzes mußten daher Reformen im materiellen S t r a f r e c h t und die Durchsetzung soziologischer Rechtsbetrachtung vorausgehen.
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6.1.3 Umorientierungen im Bereich der Kriminologie und der Strafrechtsdogmatik Eugen Wiesnet erklärt die "desolate Wirkungslosigkeit der Vergeltung" aufgrund der "Fiktion in ihrem Menschenbild", die von einem nicht der Realität entsprechenden, sondern aus "philosophischer Spekulation" erwachsenen "Idealtypus"33 ausging. Er zielt mit seiner Kritik auf die anthropologischen Grundüberzeugungen des Idealismus, die das Rechtssystem der Bundesrepublik normierend geprägt haben. Die Prämissen des isolierten Individuums und der freien sittlichen Selbstbestimmung müssen nach M a i h o f e r ^ fragwürdig erscheinen, da sie Rechtsprechung, Postulat und Faktum nicht auseinanderdividieren. Methodisch kann daher diese Rechtsprechung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werden, da Determinanten persönlicher oder sozialer Art nur periphär in den Blick k o m m e n ^ . Maihofer geht demgegenüber von dem Ansatz aus, daß Strafrecht und Menschenbild in einer interdependenten Relation stehen. Erkennbare Veränderungen im anthropologischen Verständnis und der Prozeßcharakter gesellschaftlicher Entwicklungen müssen daher in der Modifizierung des Strafrechts und - als Konsequenz - des Vollzugswesens ihren Niederschlag finden·^. 4
Der soziologisch orientierten Kriminologie liegt ein dialogisches Verständnis des Menschen zugrunde, das ihn in seinen Beziehungen zu Primärund Sekundärgruppen interpretiert. Die Interaktionen mit Gruppen und Institutionen definieren den Menschen nur je partiell, erst die globale Sicht seiner Lebens- und Aktionsbezüge formen das Bild einer Person^?. Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es zwingend notwendig, den dem geltenden Strafrecht immanenten Schuldbegriff neu zu fassen, der auf der Theorie Kants basiert, der das 'apriorische Gewissen' und das 'moralische Gesetz in uns' digital postulierte. Im klassischen Sinne ist strafrechtliche Schuld "das Verfehlen der an jedermann gestellten Anforderungen". Sie wird allerdings "nicht empirisch festgestellt, sondern normativ z u g e s c h r i e b e n " 3 8 . Schuld wird gewertet aufgrund der 'Vorwerfbarkeit' einer Handlung oder Unterlassung im Sinne eines Gesetzes. Als positiver Aspekt steht hinter dieser Definition die der Menschenwürde v e r pflichtete Überzeugung, die Martin Buber in die Worte faßte: "Der Mensch ist das Wesen, das fähig ist, schuldig zu werden"39. Es erhebt sich aber die Frage, ob aus dieser unaufgebbaren anthropolgischen Prämisse konsequent Schuld als Maßstab und Rechtfertigung von Strafe zu deduzieren ist. Dieser Problembereich wurde bis ins zwanzigste Jahrhundert unter der Alternative der Determiniertheit oder Indeterminiertheit menschlichen Handelns reflektiert, was zur Ausbildung verschiedener Schuldtheorien führte 4 0 . Die neuere Diskussion hat verdeutlicht, daß diese Alternative nicht dazu geeignet ist, das Problem der justiziablen Schuld adäquat zu erfassen, da die Wirklichkeit menschlicher Existenz "auf einer zackigen
- 235 Grenzlinie zwischen Determinismus und Indeterminismus" 4 ! v e r l ä u f t . Daraus folgt der Ansatz, die Schuld nicht zu negieren, aber auch nicht absolut, sondern vielmehr je nach individuellem Tatbestand und Persönlichkeitsbild im breiten Spektrum zwischen theoretischer Totalität der Eigenverantwortlichkeit und sozialpathologischer Nicht Verantwortlichkeit festzulegen. Vergleichbar argumentiert P e t e r s , der die Schuldfähigkeit und die Gebundenheit an Anlage und Umwelt zusammen sieht und Schuld eines Menschen dahingehend i n t e r p r e t i e r t , "daß er nicht in einem ständigen Ringen um die S c h a f f u n g und Erweiterung seines Freiraums s t e h t " ' " . Demgemäß ist der Delinquent nicht f ü r die Anlagen seiner Devianz, wohl aber f ü r die "Steuerungsfähigkeit" seiner Handlungsimpulse, sein kriminelles "SoSein" 4 ^, seine L e b e n s f ü h r u n g verantwortlich zu machen. Dieser Ansatz gewann in die Strafrechtswissenschaft u n t e r der Terminologie 'Lebensf ü h r u n g s - oder Charakterschuld' Eingang. Die sich durchsetzende relative Interpretation des Schuldbegriffs motivierte den Amsterdamer Kriminologen Bianchi, eine inhaltliche Erweiter u n g über das Kriterium der 'Vorwerfbarkeit' hinaus vorzunehmen 4 4 : 1. Schuld umfaßt die Verursachung einer Tat oder eines Geschehens, was zu mißbilligen und dem Täter anzulasten i s t . 2. Schuld bedeutet als Verletzung der gesellschaftsnotwendigen Ordnung eine Störung der Beziehungen zwischen Delinquent und Sozietät, die behoben werden muß. 3. Schuld impliziert eine Verpflichtung zwischen Täter und Geschädigtem, die getilgt werden muß. Die Weiterführung in Bianchis Ansatz besteht d a r i n , daß er über den Begriff der Schuld Täter und Gesellschaft in Beziehung setzt und damit die isolierte Sicht des schuldhaften Individuums a u f b r i c h t , das ja in I n t e r aktion mit den gesellschaftlichen Bedingungen s t e h t , die es mitgeprägt haben 4! >. Die Frage nach rechtlich relevanter Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit wird somit ausgedehnt auf den Bereich persönlicher Verantwortlichkeitsminderung und gesellschaftlich-institutionellen Versagens. Erst die Erkenntnis der soziologisch verifizierbaren Mitschuld der Sozietät ermöglicht e s , die Solidarität der Rechtsgemeinschaft mit dem Rechtsbrecher zu aktualisieren und den - allerdings a u f g r u n d anderer Analysen - von Wichern und Krohne formulierten Terminus der 'Mitschuld' neu zu interpretieren 4 ®. Die grundlegende Konsequenz aus der Einsicht in die Vielschichtigkeit und Interdependenzen des Schuldproblems liegt d a r i n 4 7 , das Strafmaß nicht mehr vergeltend an der Tatschuld zu orient i e r e n , sondern am Gesamtkomplex der Delinquenzfaktoren. Sowohl der idealistische Schuldbegriff als auch der Begriff der 'Lebensf ü h r u n g s s c h u l d ' bieten keine ethisch zu r e c h t f e r t i g e n d e Basis des S t r a f e n s , da sie nicht die Relevanz der Kategorie der Mitschuld der Rechtsgemeinschaft aufnehmen. Die Frage nach der Schuld u n t e r Aspekten sozialer Interaktion gewinnt zugleich die neue Funktion, das Maß der Strafe zu begrenzen a u f g r u n d der Berücksichtigung aller Einflüsse, die die
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Eigenverantwortlichkeit des Rechtsbrechers relativieren. Die strafrechtsdogmatische Grundlagendiskussion zum Thema Schuld des 'vergesellschafteten Wesens' hatte Auswirkungen auf die nach 1962 einsetzende Reform des Strafgesetzbuchs. Einen ersten Impuls, der "die kriminalpolitische Entwicklung stark und nachhaltig"^ 8 beeinflußte, das Strafrecht im Beziehungsfeld Individuum und Gesellschaft zu formulieren, bot der Alternativentwurf zum Entwurf eines Strafgesetzbuches der Bundesregierung. Er enthielt Grundvorschriften des Strafvollzuges und formulierte in § 2 neben dem Rechtsgüterschutz die "Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft" 4 ^ a i s Strafziel. Die "Tatschuld"^" wurde als Begrenzungskriterium der Strafzumessung definiert. Das Strafrecht erhielt seine Bedeutung nicht mehr als Bekämpfungsmittel gegen Kriminalität, sondern als Mittel zur Wahrung der "Friedensordnung" in einer Gemeinschaft "unvollkommener Menschen"51, deren Bestand durch eine staatliche Rechtsordnung gesichert werden muß. Mit dem Alternativentwurf, der allerdings nicht verhindern konnte, daß das endgültige Strafrechtsreformgesetz weitgehend dem idealistischen Tat Schuldprinzip verpflichtet blieb, wurden Ansätze Franz von Liszts weiterführend umgesetzt: Strafe ist nur als "ultima ratio der Sozialpolitik" zu umschreiben und in einem Sozialstaat nicht mehr zu vertreten, wenn sie die "soziale Existenz des E i n z e l n e n " ^ zerstört. Die Lebensinteressen einer auf Interaktion aufbauenden Gesellschaft bestehen darin, das System von Kommunikation und Partizipation und das Vertrauen in sein Funktionieren zu erhalten. Unter diesem Ansatz ist nach Calliess Rechtsgüterschutz "Schutz von Partizipationschancen in der Gesellschaft"^. Er stellt dem reaktiven vergeltenden ein Strafrecht gegenüber, das final als "Schutz menschlicher Lebensinteressen"^ die Partizipationsinteressen von Täter und Gesellschaft wahrt 55. Nach dem stichpunktartig dargestellten Diskussionsstand der humanwissenschaftlich orientierten Kriminologie und Strafrechtswissenschaft bestand eine gemeinsame Überzeugung darin, daß das Prinzip der vergeltenden Freiheitsstrafe, das eine 'Entgesellschaftung' des Inhaftierten impliziert, in einem sozialen Rechtsstaat nicht mehr tragbar ist. Die beiden Aspekte spezialpräventiven Strafverständnisses 'nihil nocere' und 'omnia prodesse' sollten zusammengefaßt werden, um die sozialschädigenden und sozialisationsfördernden Intentionen von Strafe auch für die Strafvollzugsreform nutzbar zu machen. Die Bundesrepublik befand sich am Ausgang der 60er Jahre in einem Klima der grundsätzlichen Reformfreudigkeit, so daß konsequent nach der Reform des Strafgesetzbuches die Aufgabe der Schaffung des Strafvollzugsgesetzes in den Vordergrund des juristischen Interesses treten konnte.
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6.1.4. Diskussion im Vorfeld des Strafvollzugsgesetzes: Alternativentwurf Die Situation im Strafvollzugswesen ließ sich 1970 schlagwortartig "als Phase des Übergangs, des Konflikts und des beginnenden Wandels im System"5f> beschreiben. Die "vollzugspolitische S c e n e " ^ suchte nach neuen Definitionen der Vollzugsziele zur Lösung der als u n t r a g b a r e r kannten s t r u k t u r e l l e n Probleme. Die Arbeiten zur Schaffung des S t r a f vollzugsgesetzes liefen in der Regie einer 1967 ins Leben gerufenen Strafvollzugskommission, die 1971 einen Kommissionsentwurf vorlegte, der die Grundlage f ü r das am 5.Juli 1972 von der Bundesregierung v e r abschiedete Strafvollzugsgesetz bildete. Die Reform ziele lassen sich "wie folgt beschreiben: - inhaltliche und formale Abstimmung mit dem reformierten S t r a f r e c h t , - stärkere Verankerung und konsequentere Verwirklichung des Resozialisierungsgedankens, - Ausbau der Rechtsstellung des S t r a f g e f a n g e n e n , - Regelung der Personalprobleme des Vollzugsstabes, und schließlich - S c h a f f u n g einer einheitlichen Rechtsgrundlage f ü r den Strafvollzug"·^. Diesen Regierungsentwurf kritisierte eine Gruppe von S t r a f r e c h t l e r n und Vollzugswissenschaftlern als zu wenig reformfreudig und mit zu vielen politischen Rücksichtnahmen v e r b u n d e n . Sie formulierten einen Alternativentwurf, der sich nicht am Kriterium des Machbaren orientiert e , sondern eine grundlegende Umstrukturierung des Vollzugswesen intendierte , die darauf b a s i e r t e , daß die Gesellschaft zu einem intensiven personalen und finanziellen Engagement im Strafvollzug bereit sein müßte. Der Alternativentwurf verließ den Bereich verwaltungsrechtlicher Fund i e r u n g des Vollzugswesen, verzichtete auf Maßnahmen der Isolierung und Gewalt und ordnete Ausbildung und therapeutische Behandlung allen anderen Sozialisationsfaktoren ü b e r A n g e s i c h t s der speziellen Situation der Inhaftierten sollten kognitive andragogische Elemente auf "emotional-sozialer Ebene"60 ergänzt werden. Das gesamte Vollzugsmodell wurde der Konzeption einer sozialtherapeutischen Anstalt entlehnt und auf eine "problemlösende Gemeinschaft" hin organisiert6 2 . Bemerkenswert ist die Beschreibung des Delinquenten: Er bleibt auch als Straffälliger integriertes Mitglied der Rechtsgemeinschaft, dessen soziale Defizite zum Kriterium des Vollzuges erhoben werden, um d u r c h geeignete Lernprozesse seine Kommunikationschancen zu v e r b e s s e r n . Er hat ausdrücklich "Anspruch" auf "soziale Hilfe und gesellschaftliche U n t e r s t ü t z u n g " ^ . Dem Inhaftierten werden somit ausdrücklich Rechte z u g e s p r o c h e n ^ . i m Unterschied zum Regierungsentwurf, der die Defizite der Delinquenten wesentlich über berufliche Arbeit und Bildung auszugleichen s u c h t , bietet der Alternativentwurf in § 72 ein d i f f e r e n ziertes Bildungsprogramm an. Der Anspruch auf Behandlung steht gleich-
- 238 berechtigt neben dem Recht auf Weiterbildung**·*. Alle bildenden Maßnahmen werden von einzel- und gruppentherapeutischen Hilfen begleit e t . Über diese Vorstellungen gewann der Strafvollzug den Charakter einer speziellen Form der Erwachsenenbildung 6 6 . In diesem Kontext wurde die weitere grundlegende Forderung relevant, "das Leben im Vollzug . . . den allgemeinen Lebensverhältnissen anzupassen" (§ 3, Abs. 2 ) , um schädliche Folgen des Freiheitsentzugs zu verhindern und das Vollzugsziel, " . . . die Wiedereingliederung des Verurteilten in die Rechtsgemeinschaft" (§ 2), zu fördern. Das Ziel der Wiedereingliederung sollte in einem sozialen Umfeld umgesetzt werden, das auf Repressionen verzichtete, dafür aber auf eine weitestmögliche Öffnung des Vollzuges nach innen und außen eingestellt ist. Die "Freiheit", die der "Behandlungsvollzug" ( § 4 ) vermitteln sollte, setzte auch die angestrebte enge Interaktion von Inhaftierten und Personal das im Sinne eines Sozialstabes orientiert werden sollte - voraus. Um die Selbstverwaltung und Mitwirkung am Vollzugsgeschehen zu ermöglichen, ging der Alternativentwurf von einem Wohngruppenmodell aus, dessen Verwaltung von gemischten Gruppen- und Abteilungsräten getragen wurde®'', was einer gänzlichen Abwendung von hierarchischen Strukturen gleichkam. Bei diesen letzten Überlegungen setzte die zentrale Kritik an, die bezweifelte, daß die Inhaftierten die für das Mitbestimmungsmodell notwendige Kooperationsbereitschaft und die Fähigkeit für eine 'problemlösende Gemeinschaft 1 innerhalb eines Behandlungsvollzuges mitbrächten 6 ^. Wenn auch der vorgelegte Alternativentwurf streckenweise einer "Behandlungseuphorie"69 erlegen sein mag, die zeitbedingt war, so ist doch seine vollzugstheoretische Bedeutung allgemein anerkannt. Es wurde unübertroffen dargelegt, wie sich Strafvollzug analog der Strukturen eines sozialen Rechtsstaats sozialverantwortlich definieren und organisieren ließe. Umso bedauerlicher erscheint e s , daß politische und gesellschaftliche Kräfte nur bereit waren, Teilaspekte in das Strafvollzugsgesetz zu übernehmen, das letztendlich aufgrund finanzieller Argumente und politischen Widerstandes in seiner vorgelegten Form wesentlich geringere innovatorische Ansätze beinhaltete.
6 . 1 . 5 Das Strafvollzugsgesetz Nach Artikel 2 des Grundgesetzes ist die Freiheit der Person ein wichtiges Grundrecht, das nur kraft Gesetzes eingeschränkt werden darf. Mit einer Entscheidung vom 14. 3 . 1 9 7 2 ^ betonte das Verfassungsgericht, daß das auch für "Gefangene" gelten muß. Damit wurde die Rechtsstellung des Gefangenen definiert und endgültig das Prinzip des 'besonderen Gewaltverhältnisses', dem ein Inhaftierter unterliegt, als nicht verfassungskonform abgelehnt.
- 239 Das am 1. 1.1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz kodifizierte diese Entscheidungen, indem in § 4 ausdrücklich festgelegt wurde, daß außer den im Gesetz vorgesehenen Freiheitsbeschränkungen keine weiteren auferlegt werden dürfen, es sei denn aus Gründen der Sicherheit und Ordnung. Das bedeutet grundsätzlich, daß die Vollzugsverhältnisse in Einklang mit der Menschenwürde stehen, freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit garantieren und den besonderen Schutz von Ehe und Familie gewähren müssen. Neben dieser rechtsstaatlichen Verpflichtung ist das Strafvollzugsgesetz auch in die sozialstaatliche mit eingebunden, die vom Gesetzgeber fordert, diejenigen personellen und sachlichen Mittel im Vollzug bereitzustellen, die eine Integration von Delinquenten in die Gesellschaft ermöglichen. Das Strafvollzugsgesetz geht davon a u s , daß der Inhaftierte verpflichtet i s t , resozialisierende Maßnahmen anzunehmen. Es besteht von seiten des Vollzugs die Berechtigung, grundrechtsbeschränkende Eingriffe vorzunehmen, wenn sie dem Ziel der Reintegration des Inhaftierten förderlich sind. Der prinzipiell wichtigste Fortschritt, der durch das neue Gesetz erreicht wurde, besteht darin, daß zum erstenmal in der Bundesrepublik die "Verwirklichung der Strafe als ein selbständiger Akt der Strafrechtspflege begriffen"?! und das "Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und dem Gefangenen" geregelt worden ist 7 ^. Da die rechtliche Regelung im Vordergrund stand, versagte es sich der Gesetzgeber, Normen der inhaltlichen Bestimmung resozialisierender Behandlung anzugeben. Das Strafvollzugsgesetz sollte als Entwurf für die Zukunft offen sein, um neue Methoden zu erproben und Spielraum für die Bewältigung auftretender Probleme in der Gesetzesrealisierung zu bieten. Es ist mit viel 'Soll- und Kannbestimmungen' relativ flexibel angelegt 7 ^. ihm eignet damit eine gewisse Ambivalenz, da es auch offen ist für Regelungen auf Länderebene, die nicht auf im "Gesetz zum Ausdruck kommenden Reformvorstellungen beruhen" können 7 ^. Dem Sozialstaatsprinzip entsprechend formuliert § 2, Abs. 1 im Sinne positiver Spezialprävention als "Vollzugsziel": "Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung sein Leben ohne Straftaten zu führen". Bemerkenswert ist hierbei, daß das Gesetz die Ergebnisse vorausgegangener Grundsatzdiskussionen aufgenommen hat, Delinquenz in enger Korrelation zu sozialer Norminternalisierung zu sehen. Gelänge das Hauptziel des Vollzuges, den Inhaftierten zu einem Leben ohne Straftaten nachzusozialisieren, wäre zugleich auch dem Sicherheitsbedürfnis der Rechtsgemeinschaft vor erneuter Delinquenz Genüge getan. Daher erscheint es unverständlich, wenn der § 2, Abs. 2 hinzufügt: "Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten" 7 ^. Auch wenn durch die Vorordnung des Vollzugszieles das "kriminalpolitische und rechtsethische Programm" 7 6 des Strafvollzugsgesetzes zum Ausdruck gebracht wird, ermöglicht die Zufügung doch eine tendentielle "Umwer-
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t u n g " ^ in Richtung auf O r d n u n g s k r i t e r i e n ; denn sie f ü h r t zugleich den Strafzweck der negativen Spezialprävention ein. Damit ist ein "entscheidender Zielkonflikt im Strafvollzug programmiert"? 8 . Im Sinne des Gesetzes kann aber n u r - darauf verweist S c h ö c h ^ m j t Recht - die Verh i n d e r u n g von Straftaten während der Haft intendiert sein und nicht der Aspekt der Sicherheit in der Anstalt, die in den Einzelbestimmungen des Gesetzes konzeptionell garantiert i s t . Um das Vollzugsziel zu erreichen, geht der Gesetzgeber von einer weitestgehenden Normalisierung - d.h. Angleichung an Strukturen des Lebens in der Freiheit - a u s , da in einer wirklichkeitsfremden Umgebung ein sozialer Lernprozeß ausgeschlossen i s t . § 3 bestimmt u n t e r dieser Intention, daß "das Leben im Vollzug . . . den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen" und "schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges" entgegengewirkt werden soll. Diese Bestimmung ist notwendig, da auch nicht resozialisierbare oder der Resozialisation nicht bed ü r f t i g e Täter dem Vollzug unterworfen sein können, f ü r die das "Residualziel des § 3, Abs. 2" 8 0 allein als Strafziel zur Geltung kommt. Der Gesetzeskorpus regelt seinen Anwendungsbereich, den Vollzug der Freih e i t s s t r a f e , den Vollzug der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besser u n g und Sicherung und die Organisation der Vollzugsbehörden 8 !. Den Schwerpunkt des Gesetzes bilden die § § 2 - 122, die die Rechte und Pflichten der I n h a f t i e r t e n , die Eingriffsbefugnisse der Vollzugsbehörden und die Behandlung des Insassen und seine Mitwirkung daran f e s t legen. Der Gefangene soll nicht als Objekt den Vollzugsbemühungen u n terworfen sein, sondern zum mitverantwortlichen Handeln herangezogen werden. Der Gesetzgeber geht davon a u s , daß ein Inhaftierter n u r e r folgversprechend behandelt werden k a n n , wenn er selbst aktiv mitarbeitet . Ihm wird daher das Recht eingeräumt, bei der Planung seiner Behandlung mitzusprechen ( § 6 ) . B e s u c h s - , Informations- und Bewegungsmöglichkeiten wurden deutlich erweitert. Die Übergangsbestimmungen und Fristensetzungen deuten auf ein Problem hin, das schon im 1 9 . J a h r h u n d e r t die Durchsetzung eines Vollzugsgesetzes behindert h a t t e : Es fehlen die finanziellen Mittel, um Angleichungen im Arbeitsentgelt und in der Sozialversicherung an allgemeine Arbeitsmarktbedingungen d u r c h z u f ü h r e n , obwohl eine Kosten-NutzenAnalyse deutlich macht, daß erhöhte Aufwendungen in diesem Bereich, die auch die Schadenswiedergutmachung erleichterten, auf dem Wege ger i n g e r e r Rückfälligkeit und Sozialhilfen f ü r Entlassene wieder a u f g e f a n gen werden könnten. Ähnlich gering war die gesetzgeberische Motivation, den Vollzug in Richtung eines Behandlungsvollzuges umzuorientier e n . Es wurden n u r einige formale Beschreibungen von Behandlungsmaßnahmen geboten. Diese 'Sollbestimmungen' gehen nur unwesentlich über die Strukturen des gelockerten Vollzuges hinaus, so daß eine erwartete inhaltliche Füllung des Behandlungsbegriffs nicht e r k e n n b a r i s t 8 2 . Kon-
- 241 fliktträchtig bleibt außerdem, daß der Gesetzgeber die latente Spannung zwischen der notwendigen Ausrichtung der Maßnahmen auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der vollzugsorganisatorischen Forderung nach verbindlicher Regelung der Gleichbehandlung großer Inhaftiertenzahlen durch eine Betonung der Ordnungsgesichtspunkte zu lösen versucht83,
6 . 1 . 6 Der Strafvollzug nach Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes Die Frage, was sich nach dem Inkrafttreten des Vollzugsgesetzes grundsätzlich im Strafvollzug geändert hat, ist aus verschiedenen Gründen kaum zu beantworten, nicht zuletzt aufgrund der geringen Zeitspanne der Erprobung. Als erschwerend für eine schnelle Durchsetzung der Gesetzesinhalte erwiesen sich eine immer deutlicher werdende Reformmüdigkeit und Ernüchterungen im Blick auf die Ideale des Behandlungsvollzuges. Hinzu kamen die grundlegenden Schwierigkeiten unzureichenden Personals und Gebäudebestandes, das Festhalten an den überkommenen Verwahrungsprinzipien und neue Vollzugsprobleme. Kriminalpolitisch verhängnisvoll war e s , daß gerade in der Zeit allgemeiner Reformen und Liberalisierungsbestrebungen im deutschen Strafvollzug die bisher unbekannten Kriminalitätsformen des organisierten Verbrechens und des politisch motivierten Terrorismus massiert auftraten. Die öffentliche Meinung forderte verstärkte Sicherheit der Anstalten, und die Justizminister und Vollzugsorgane reagierten mit undifferenzierten Verschärfungen der Sicherheitsbestimmungen, die - obwohl nur für den kleinen Täterkreis der 'Hochgefährlichen' gedacht - doch das gesamte Vollzugsklima prägten. Als Gegenzug entwickelte sich die auch im Ausland negativ geführte Diskussion um die sogenannte " I s o l a t i o n s f o l t e r " Die in diesem Kontext reaktivierten restaurativen Tendenzen im Vollzugswesen sind nicht gering einzuschätzen. Vor neue Fragen stellte den Strafvollzug die seit Mitte der 70er Jahre steigende Zahl von Drogentätern, die in den Regelvollzug überwiesen wurden. Damit wurde auch die Drogenkriminalität innerhalb des Vollzuges virulent, da es nicht gelungen i s t , die alle sozialisierenden Maßnahmen untergrabende Weiterverbreitung zu s t e u e r n ^ . Das nicht gegebene therapeutische Instrumentarium zur Drogenbekämpfung im Normalvollzug und die bisher nicht geleistete "Strukturierung im Innern der Gefängnisse im Sinne einer Trennung der Drogenabhängigen von den Nichabhängigen"86 haben besonders in den Jugendstrafanstalten ein kriminalitätsförderndes Klima entstehen lassen, dem auch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen nicht gewachsen sind. Erschwerend kommt hinzu, daß die in § 18, Abs. 1 des Strafvollzugsgesetzes geforderte Unterbringung in Einzelzellen zur Ruhezeit nur unvollkommen in den Justizvollzugsanstalten in die Praxis umgesetzt ist87. Gründe dafür sind steigende Gefangenen-
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zahlen seit Mitte der 70er Jahre und die vorher erfolgte Reduzierung von Haftplätzen, so daß im Regelfall die Anstalten überfüllt und sogar Einzelzellen mehrfach belegt sind. Obwohl durch verstärkte personalpolitische Anstrengungen das Verhältnis Personal zu Gefangenen bis auf 1: 2 Anfang der 80er Jahre*^ reduziert und der Ausbildungsstand verbessert werden konnte, fehlt es besonders an Sozialarbeitern, Psychologen und Ärzten. Zugleich wird immer wieder geklagt, daß auch der Aufsichtsdienst infolge von Überbelastung nicht in der Lage ist, die Insassen persönlich zu betreuen. Besonders negativ wertet Kaiser die Vollzugssituation. Er betont, daß auch nach Einführung des Strafvollzugsgesetzes bei steigender Zahl der ausgesprochenen Freiheitsstrafen "die Klienteides Strafvollzuges, bezogen auf Sozialisationsdefekte, Vorbelastungen, Karriere und Legalbewährung ungünstiger geworden" ist89.
6.1.7 Neuere realistische und restaurative Tendenzen in der Diskussion über Behandlungsvollzug und Resozialisation Anfang der 70er Jahre hatten der Begriff des Behandlungsvollzuges und hohe Erwartungen an die Modelle sozialtherapeutischer Anstalten die Diskussion um eine Neugestaltung des Freiheitsstrafvollzuges bestimmt. Mit dem Aufkommen des Terminus 'Behandlungsvollzug' lag eine Schwierigkeit darin, daß er definitorisch nicht gefaßt wurde oder zu fassen war. Tendenziell meinte er eine Vollzugsform, die den Straftäter in einen Behandlungsprozeß hineinnimmt, der zu einer sozial angepaßten Lebensführung befähigt. Dahinter stand das aufgrund pointierter Interpretation der Sozialisationsforschung entwickelte Bild des Täters als "Defektm e n s c h " 9 0 , dessen delinquentes Verhalten als "Mangel an Sozialisation"91 zu interpretieren ist. Sein Problem wurde in der Unfähigkeit erkannt, die Normen zu internalisieren, die gesamtgesellschaftliche Werte stützen. Geht man von der allgemein anerkannten Prämisse aus, daß einer Sozietät ein Kodex rechtlicher Werte und Normen zugrundeliegen muß, um ihren Bestand zu wahren, und die Nichtbefolgung des Rechtssystems auf die Dauer die Gesellschaft gefährdet, sieht man ferner von einzelnen Mitgliedern ab, die das System bewußt korrumpieren wollen oder aufgrund psychischer Mängel Normeninternalisierung nicht leisten können, so erhält der Strafvollzug die Zielsetzung, bei Delinquenten das abweichende Verhalten so zu verändern, daß es dem geforderten entspricht. Diesem theoretischen Konzept, dem allerdings nie Möglichkeiten praktischer Realisierung eröffnet wurde, folgte in den letzten Jahren eine kritische Diskussion, die die überzogenen Erwartungen in den Bereich der Realität zurückführte. Ein strukturelles Problem liegt darin, daß der Behandlungsvollzug als sozialisierende Maßnahme erst dann eingreifen kann, wenn alle anderen
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Sozialisationsinstanzen bereits versagt h a b e n d . Unzureichend wissenschaftlich reflektiert sind in diesem Kontext auch die Überlegungen, unter welchen Bedingungen sich Menschen überhaupt verändern. Auch wenn es deutlich ist, daß Freiwilligkeit eine Grundvoraussetzung von Einstellungs- und Verhaltensmodifikation ist, so ist noch nicht geklärt, ob und inwieweit jegliche freiheitsentziehende Maßnahme auch unter therapeutischem Anspruch den Inhaftierten nicht zum Objekt werden und damit ansatzweise scheitern läßt. Zum anderen nimmt eine überbetonte Ausrichtung auf sozialisierende Methoden dem Gefangenen das Recht, in der Behandlung zu versagen und "angstfrei selbst neue Erfahrungen machen" zu können^ 3 . Unter theoriekritischen Gesichtspunkten ist die Grundlagendiskussion noch völlig o f f e n , auf welches Wert- und Normensystem der zu Behandelnde, oftmals gegen seine bisherige Lebenseinstellung, sozialisiert werden soll, da "es weitreichende Differenzen in den Werten, Normen und Verhaltensmustern der verschiedenen sozialen Schichten gibt"94, es aber nicht die Aufgabe einer staatlichen Institution sein kann, "sämtliche Werte einer Gesellschaft zu vermitteln" . Andererseits ist aufgrund des Freiheitsprinzips der Gefahr gegenzusteuern, daß die unsere Gesellschaft weitgehend bestimmenden Mittelschichtswerte Delinquenten aufgeprägt werden, die meist anderen Gesellschaftsschichten e n t s t a m m e n ^ . Es kann in der Behandlung also nur darum gehen, das Spektrum im Wert- und Normenbereich zu modifizieren, das das Legalitätsverhalten tangiert. Damit ist das Problem der Reduktion allgemeiner Wertvorstellungen gestellt, die als Minimalkonsens definiert werden, sich mit dem positiven Recht decken und gleichzeitig dessen "Wandelbarkeit"^ berücksichtigen müßten. Eine solche Formel liegt zur Zeit nicht vor. Ein weiterer Grund, der die Einführung des Behandlungsvollzuges als Regelvollzug in der Bundesrepublik erschwert, liegt in der dysfunktionalen Relation von Strafrecht und Strafvollzugsrecht. Während aufgrund des Strafrechts Freiheitsstrafen vorrangig generalpräventiv zur Durchsetzung des Rechtsanspruchs verhängt werden, also vergeltend dem Rechtsbrecher ein Übel auferlegen, ist das Vollzugsrecht grundsätzlich spezialpräventiv ausgerichtet. Diese tendenzielle Antinomie^ könnte Ansatzpunkte bieten, daß sich auch in der Bundesrepublik verstärkt die Meinung verbreitet, die schon in Skandinavien und den USA viele Vertreter hat, den Strafvollzug wieder generalpräventiv zu modifizieren im Sinne einer Verschärfung des V o l l z u g e s * ^ . Die ausbleibenden deutlichen Erfolge des auf Resozialisation ausgerichteten Vollzuges und die anwachsende Kriminalitätsrate stabilisieren vergleichbare Argumentationen in der letzten Zeit. Eine andere Diskussionsströmung hält zwar am Resozialisierungsgedanken fest, spricht aber der Institution Strafvollzug "jegliche Eignung als Mittel sozialer (Wieder-)Eingliederung"100 ab und fordert stattdessen 'ambulante' Sanktionen und Behandlung von DelinquentenlOl.
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Als ein Hauptargument gegen den Justizvollzug und speziell gegen die im Strafvollzugsgesetz vorgesehene Angleichung an 'normale' Verhältnisse wird die hohe Rückfälligkeitsquote a n g e f ü h r t . Der oft genannte Prozentsatz von 80% ist "frei e r f u n d e n " 1 ^ und entbehrt jeder empirischen Grundlage. Wenn ü b e r h a u p t , wird man von einer ungefähren Zahl von 67% der Inhaftierten mit H a f t e r f a h r u n g ausgehen müssen^O^, ß a s Operieren mit der überhöhten Zahl ist nicht n u r methodisch u n k o r r e k t , sondern f ü h r t auch kriminalpolitisch zu "einer Verfestigung vorurteilsbehafteter Einstellungen gegenüber Strafgefangenen und S t r a f e n t l a s s e n e n " ^ ^ . Bisher wurde v e r s u c h t , die Rückfälligkeitsquote statisch aus der Kriminalstatistik zu ermitteln, ohne die Faktoren und Formen der Rückfälligkeit zu berücksichtigen. Neuere Untersuchungen bemühen sich, dynamisch vorzugehen, "d.h. zu p r ü f e n , ob sich auch bei erneut B e s t r a f t e n eine Minderung der Kriminalität, eine gleichbleibende kriminelle Intensität oder eine Verstärkung der Kriminalität über Jahre hinaus a n z e i g t " ! ^ . Wichtige Faktoren f ü r die Rückfallbewertung sind f e r n e r das Lebensalt e r und die soziale und kriminelle Vorgeschichte des Rezidivisten. In einer 1979 1 0 6 f ü r das Justizministerium angefertigten Studie hat Klotz herausgestellt, daß persönlichkeitsbedingte Faktoren die Rückfälligkeitswahrscheinlichkeit s t ä r k e r beeinflussen als vollzugsorganisatorische, und daß - was vollzugspolitisch bedeutsam ist - bei Gefangenen mit g ü n stigen Voraussetzungen und Kriminalprognosen eine "Wechselwirkung zwischen sozialen Außenbezügen und der durchlässigen Gestaltungsform" des Vollzuges sich "positiv auf die spätere Straffreiheit auswirken". Die bisher vorliegenden Ergebnisse lassen es nicht zu, die Rückfälligkeit als Argument gegen die Öffnung des Vollzuges und seine resozialisierende Ausgestaltung auszuspielenl07. Außerdem erscheint es realistisch, es als einen Erfolg des Strafvollzuges zu bewerten, wenn "die Intensität des kriminellen Verhaltens u n d / o d e r die Häufigkeit von Straftaten nachl a s s e n " ! ^ Damit ist das Argument als unhaltbar widerlegt, der Vollzug sei n u r erfolgreich, wenn er Rückfälligkeit v e r h i n d e r t . Sinnvoller ist e s , davon auszugehen, daß er "dem Gefangenen eine bessere Startchance f ü r sein Leben u n t e r Nicht-Bestraften"·'·^ zu vermitteln h a t . Der Überblick über den Diskussionsstand hat verdeutlicht, warum in den letzten J a h r e n nach einer "Behandlungseuphorie" eine Phase der "Ernüchterung" und sogar ein "therapeutischer Pessimismus f o l g t e " 1 ^ . Der eingekehrte Realismus in der Betrachtung der Vollzugsmöglichkeiten sollte aber nicht zu einer grundsätzlichen Abkehr von den grundlegenden Gedanken des behandelnden oder resozialisierenden Vollzuges f ü h r e n , sondern eher dazu anreizen, die im Strafvollzugsgesetz angelegten Möglichkeiten optimal zu verwirklichen. Das gilt besonders f ü r die in § 3 angesprochene Angleichung des Vollzugsklimas im Sinne einer Normalis i e r u n g , denn "in ein schlechtes Vollzugsniveau stundenweise verteilte Therapieangebote"·'··'··'· erscheinen wenig sinnvoll.
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Die zentrale Aufgabe in der Weiterentwicklung des Vollzugswesens besteht d a r i n , das Gesamtklima so einzurichten, daß Inhaftierte auch u n t e r den Bedingungen des Freiheitsentzuges - dessen Abschaffung bislang utopisch ist - nicht nur objekthaft behandelt werden, sondern die Freiräume v o r f i n d e n , innerhalb derer sie eigenverantwortlich das soziale Verhalten und Bewußtsein entwickeln und entfalten können, das sie zu einer kritisch-bewußten Partizipation an der Rechtsgemeinschaft befähigt .
6.1.8 Die Rolle des Rechtsbrechers in der Gesellschaft Es ist in Diskussionen, in der Literatur und den Medien zu e r k e n n e n , daß die angebliche Ineffektivität des Strafvollzuges den Strukturen angelastet wird. Oftmals wird aber ü b e r s e h e n , daß der Strafvollzug n u r die Funktionen a u s f ü h r e n k a n n , die ihm von der Gesellschaft zugeschrieben werden. Wie aufgezeigt, scheiterten die Vollzugsreformen immer wieder d a r a n , daß sie politisch nicht durchsetzbar waren, weil die Gesellschaft sowohl Reformbestrebungen als auch den Inhaftierten ablehnend g e g e n ü b e r s t a n d . Das Ziel der Integration in die Gemeinschaft setzt gerade die Bereitschaft v o r a u s , Delinquenz und deren Überwindung als gesamtgesellschaftliches Problem ernstzunehmen. Alle Bemühungen eines resozialisierenden Vollzuges müssen s c h e i t e r n , wenn der Entlassene nicht damit rechnen k a n n , als sozial gleichberechtigt aufgenommen zu werden. In diesem Spannungsfeld liegen die tiefen Ursachen d a f ü r , daß die Geschichte des Strafvollzuges als eine Geschichte der mühseligen Versuche zu i n t e r p r e t i e r e n i s t , dem Recht des Delinquenten auf menschenwürdige Behandlung Geltung zu v e r s c h a f f e n . Als Kontinuum der Entwicklung zeigt sich eine scheinbar u n a u f h e b b a r e Dualität der Diskussionsebenen. Während die Kriminologie immer stringenter die sozialen Interdependenzen im Phänomen der Devianz wissenschaftlich e r h ä r t e t , wird die Rezeption der Ergebnisse und die Gerechtigkeitsdiskussion in der Masse der Bevölkerung weitgehend emotional g e s t e u e r t . Das reaktive Abweisen delinquenten Verhaltens stabilisiert die sozialpsychologische These, daß tiefgreifende soziale und personale Konflikte leichter u n t e r d r ü c k t und v e r d r ä n g t als einem analysierenden Prozeß unterworfen werden. Nicht rechtskonformes Verhalten wird als Bedrohung e r l e b t , auf die eindimensional mit der F o r d e r u n g nach Abwehr geantwortet wird. Nach Maurach-*·12 ist die Strafe daher ihrem Wesen nach Repression, die - wie Bianchi noch weiter v e r s c h ä r f t - einem "Bek ä m p f u n g s m o d e l l " H 3 verpflichtet i s t , das eine soziale Auseinandersetzung mit dem Bereich der Kriminalität v e r h i n d e r n soll. Dieses Bekämpfungsmodell hat sich in der Geschichte seiner Anwendung so weit verselbständigt, daß es nicht mehr h i n t e r f r a g t wird. Es ist gesellschaftlich sanktioniert, da es a u f g r u n d eigener Stabilität die Kontinuität sozialer Strukturen zu
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wahren schien. Diese nur v o r d e r g r ü n d i g e Argumentation ex effectu evozierte Strukturen, emotionale Befindlichkeiten und Rollenausprägungen im Vollzug, die eine Mobilität gegenüber Innovationen nachgerade ausschließen. Dabei wurde ausgeklammert, daß ein Bekämpfungsmodell signifikant aggressive und d e s t r u k t i v e Elemente enthält und zugleich auch evoziert. Die im S t r a f b e d ü r f n i s latente kollektive Aggressivität ist sozial negativ zu werten, da sich in ihr "Feindseligkeit und D e s t r u k t i v i t ä t " H 4 manifestieren, deren Brisanz darin liegt, daß sie sich formal auf die bestehende Rechtsordnung stützen können. Der Rechtsbrecher wird in die Rolle des Außenseiters g e d r ä n g t , ohne angemessene Alternativen zu dieser Rolle entwickeln zu können, wodurch seine Negativmotivation zu d i s sozialem Verhalten v e r s t ä r k t w i r d 1 1 ^ . Es liegt bei den Ausgrenzungsbemühungen die These nahe, daß die Sozietät Außenseiter zur inneren Stabilisierung benötigt und daher zum Zwecke der S e l b s t r e c h t f e r t i g u n g sogar ein unbewußtes Interesse daran h a t , einen kriminellen Anteil zu b e w a h r e n U ß . Zur Erklärung dieser vollzugspolitisch höchst relevanten Phänomene v e r t r i t t NaegeliH? die Theorie der "Sündenbockprojektion", deren komplexe Mechanismen auf eine Grundstruktur z u r ü c k z u f ü h r e n sind: Der unbewußte Prozeß beinhaltet eine Übertragung negativer, vom rigiden Wertsystem des Gewissens nicht tolerierter Persönlichkeitsanteile auf Dritte. Das intuitiv e r s p ü r t e aber ' v e r d r ä n g t e Böse' drängt als Schuldgefühl ins Bewußtsein, wird aber nicht zugelassen, sondern auf ein geeignetes Objekt projiziert, um dann in diesem bekämpft zu w e r d e n l l S , Dj e eigenen Schattenanteile werden somit als Eigenschaften Fremder erlebt und v e r a b s c h e u t , nicht zuletzt weil diese gerade das realisieren, was das eigene 'Ich' nicht zuläßt. Die Gesellschaftsglieder, denen es verwehrt war, eine eigene 'Persona' auszubilden, werden d u r c h diesen innerpsychischen Vorgang im Sozialleben isoliert und aus gestoßen - wie der alttestamentliche Sündenbock - , um eigene Schattenanteile a b z u w e h r e n l l 9 . Der Rechtsbrecher eignet sich besonders als Projektionsfigur, da in jedem Menschen asoziale und deviante Tendenzen latent s i n d , deren Konkretion zwar vom Gewissen behindert wird, die aber in gedanklicher Form bewußt werden und Schuldgefühle v e r u r s a c h e n können. Daraus kann eine unbewußte Identifikation mit Kriminellen ents t e h e n , die unterschiedliche A u s p r ä g u n g annehmen k a n n . Die Faszination von spekulativen V e r b r e c h e n , die Beteiligung der Öffentlichkeit bei Hinrichtungen, die unterschwellige Sympathie mit Tätern, die ein 'perfektes Verbrechen' begangen h a b e n , lassen sich auf diesem Hintergrund e r k l ä r e n . Der Gesetzesbrecher r e p r ä s e n t i e r t gleichsam das nicht zugelassene 'alter ego', das "böse Selbst" 1 2 ^. Er läßt d u r c h sein Handeln die Ängstel21 vor der Umsetzung des eigenen kriminellen Potentials anklingen und provoziert als Gegenreaktion die F o r d e r u n g nach h a r t e r Bes t r a f u n g · 1 2 2 . Da die B e s t r a f u n g eines Täters v o r d e r g r ü n d i g das Gefühl von Sicherheit vermittelt, bekommt der Bestrafte die Funktion, stellvert r e t e n d zu büßen und kanalisiert in seiner zugesprochenen Isolation die
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a n g e s t a u t e soziale A g g r e s s i o n . Die Negativfolie f ü r g e s e l l s c h a f t l i c h e R e c h t f e r t i g u n g s b e m ü h u n g e n u n d die Rolle d e s P r o j e k t i o n s t r ä g e r s w e r d e n S t r a f t ä t e r so l a n g e d a r s t e l l e n m ü s s e n , wie sich die G e s e l l s c h a f t v e r d r ä n g t e d e v i a n t e N e i g u n g e n nicht z u g e s t e h e n k a n n u n d s i c h mit n e g a t i v e n S c h u l d p r o j e k t i o n e n zu b e r u h i g e n s u c h t , o h n e die immanent e S c h u l d p r o b l e m a t i k zu v e r a r b e i t e n ! 2 3 . Kleinert e r w e i t e r t e d a s E r k l ä r u n g s m o d e l l um einen a k t u e l l e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n A s p e k t , indem e r es i n Relation z u r L e i s t u n g s g e s e l l s c h a f t s t e l l t : Um e i g e n e T e n d e n zen z u r D y s f u n k t i o n a l i t ä t zu b e k ä m p f e n , b e n ö t i g t d i e s e die u n a n g e p a ß t e n Kriminellen, die nicht i n t e g r i e r t w e r d e n d ü r f e n , d a die A n e r k e n nung ihres unproduktiven Verhaltens "unser leistungsorientiertes u n d auf Funktionalität . . . a u s g e r i c h t e t e s G e s e l l s c h a f t s s y s t e m v e r ä n d e r n würde"124 # D i e soziale B r i s a n z von Kriminalität b e s t e h t u n t e r s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n d a r i n , d a ß sie "im t r i e b ö k o n o mischen u n d a f f e k t i v e n B e r e i c h e i n e r B e v ö l k e r u n g e i n e n n i c h t leicht zu e r s e t z e n d e n Platz hat"125. A u s g e h e n d von d e r T h e s e Q u o t e l e t s , d a ß es in jedem Volk ein 1 V e r b r e c h e n s b u d g e t ' g e b e , d a s nicht u n t e r s c h r i t t e n w e r d e n k ö n n e , ist nicht p r i n z i p i e l l zu l e u g n e n , d a ß die Ges e l l s c h a f t ein u n t e r s c h w e l l i g e s I n t e r e s s e d a r a n h a t , d a ß ein k r i m i n e l ler K e r n e r h a l t e n b l e i b t , d e r P r o j e k t i o n s f u n k t i o n e n ü b e r n e h m e n k a n n , zumal d a s f ü r viele N i c h t d e l i n q u e n t e eine "angenehme p s y c h i s c h e E n t l a s t u n g " 1 ^ impliziert. Das in " s c h e i n b a r u n v e r f ä n g l i c h e n Formen t r a d i t i o n e l l e r Normen u n d K o n v e n t i o n e n " d e s S t r a f v o l l z u g e s u n d d e r S t r a f r e c h t s p f l e g e sich a b s p i e l e n d e " p r o j e k t i v e A u s l e b e n e i g e n e r Schattenanteile"127 e r k l ä r t d a s I n t e r e s s e an e i n e r s t a t i s c h - g e n e r a l p r ä v e n t i v e n h a r t e n V o l l z u g s g e s t a l t u n g . So sieht Naegeli s i c h e r mit Recht in d e r " P r o j e k t i o n s s u c h t " 1 2 8 die H a u p t q u e l l e d e s m a s s i v e n V e r g e l t u n g s d e n k e n s , d a s I n n o v a t i o n e n im S t r a f v o l l z u g b e h i n d e r t . Die w e i t r e i c h e n d e n Folgen d e s S ü n d e n b o c k mechanismus e n d e n nicht mit d e r I n h a f t i e r u n g , s o n d e r n b e h i n d e r n a u c h d e n Ü b e r g a n g i n die F r e i h e i t 129,Der S t i g m a t i s i e r u n g s e f f e k t d e s I n h a f t i e r t g e w e s e n s e i n s e r h ö h t die R e c h t f e r t i g u n g d e r Sozietät, d e n R e c h t s b r e c h e r zu v e r p ö n e n , d e r gleichsam als " s t a a t l i c h g e s t e m p e l t e s Schuldsymbor'130 figuriert. Das v o n Naegeli a n g e b o t e n e E r k l ä r u n g s m o d e l l hat h o h e n h e u r i s t i s c h e n Wert u n d ist d a h e r a u c h in die D i s k u s s i o n um die A u s r i c h t u n g d e r Gef a n g e n e n s e e l s o r g e e i n g e g a n g e n . Es d a r f a l l e r d i n g s n i c h t monokausal ü b e r i n t e r p r e t i e r t w e r d e n , d a es s o n s t zu e i n e r s t a t i s c h e n Sicht d e r Kriminalitätsproblematik f ü h r t e , die in g e s e l l s c h a f t s p o l i t i s c h e r Hinsicht a u s s i c h t s l o s e r s c h i e n e . Es b i e t e t a b e r H i n t e r g r u n d s e r h e l l u n g f ü r die s c h o n v o n Wichern in aller S c h ä r f e g e s t e l l t e F r a g e , warum die Gesells c h a f t nicht b e r e i t s e i , sich f ü r S t r a f t ä t e r zu e n g a g i e r e n , die immer n o c h n i c h t gelöst i s t .
- 248 6 . 1 . 9 Konsequenzen des Strafvollzuges für das Sozialerleben des Delinquenten Die bisherigen Überlegungen zu den Strukturen und Zielen des Strafvollzuges in der Bundesrepublik haben erwiesen, daß beide Komponenten im Gesamtbild des Vollzuges nicht allgemein deckungsgleich sind. Die totale Institution ist zu wenig flexibel, um einem sozialpolitisch orientierten Strafvollzug den adäquaten Rahmen zu geben, überkommene Strukturprobeme prägen auch heute noch den Vollzugsalltag und das Hafterleben der Inhaftierten. Die vom Strafvollzugsgesetz intendierte soziale Angleichung setzt erst langsam im Sinne eines evolutionären Prozesses ein. Für eine sachgerechte Erfassung des Arbeitsfeldes der Gefangenenseelsorger ist daher neben den historischen Implikationen auch die Aufnahme aktueller Vollzugswirklichkeit und ihrer Auswirkungen auf die ihr unterworfenen Inhaftierten notwendig. Wichtig für das Verständnis der Wechselwirkungen von Gefängnisstruktur und Insassenpopulation sind signifikante Daten des Sozialisationsstandes, des Delinquenzverhaltens und der Reaktion auf vorfindliche organisatorische Strukturen. Charakteristisch im Vergleich zur übrigen Sozietät ist der geringe Bildungsstand eines erheblichen Teils der Inhaftierten, die sich aus "Angehörigen der sozialen Unterschicht rekrutier e n " 1 3 1 . Der Anteil an Sonderschülern ist unverhältnismäßig hochl32, ca. 55% der Inhaftierten hatten keinen Schulabschlußl 3 3 , ca. 80% eine abgebrochene Berufsausbildung und 89% waren von temporärer Arbeitslosigkeit betroffen. Ein Großteil der Straftäter weist eine gestörte Sozialisation, Kontakte mit staatlichen Institutionen der Sozialkontrollel34 und eine kriminelle Karriere auf, die auf mangelnde Entfaltung eines stabilisierenden Wert- und Normensystems schließen lassen. Von den vorliegenden Zahlen wird die Erfahrung bestätigt, "daß der Personenkreis der Täter mit defizitären Familienstrukturen und gravierenden Sozialisationsmängeln sowohl quantitativ als auch qualitativ das größte P r o b l e m " 1 3 5 darstellt. Aus der Statistik ist erkennbar, daß bei 7 0 - 80% der Rückfalltäter wichtige soziale Lernprozesse in der Kinder- und J u gendzeit defizitär verlaufen sind 13(3 und die sozialen Frühschäden oftmals durch Kontakte mit dem Jugendstrafvollzug negativ verstärkt wurd e n ! 3 7 . Moser 1 3 8 zeigt auf, daß defizitäre Sozialisationsbedingungen und eine mangelhafte ökonomische Basis Hintergründe einer erhöhten Devianz sind, die als 'Unterschichtskriminalitat' gekennzeichnet wird. Wie die 'labeling-Theorie' zudem verdeutlicht, bewirkt eine verstärkte Sanktionsquote, daß Unterschichtsjugendliche schwerwiegender als andere Gruppen von strafrechtlichen Konsequenzen betroffen sind 1 3 ^. Untersuchungen von Spitz und Anna Freud haben ergeben, daß bei einer signifikanten Zahl von Straftätern schwere Störungen in der Mutter-KindBeziehung vorlagen, die in der ödipalen Phase die Ausbildung einer starken ' I c h - ' und nicht defizitären ^ b e r - I c h - S t r u k t u r ' v e r h i n d e r t e n ! ^ .
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Das 'Über-Ich' wird nicht als integrierter Bestandteil der Persönlichkeit erfahren, sondern erscheint als Außensteuerung, woraus ein permanenter Konflikt mit Autoritäten und Institutionen resultiert. Forderungen, deren zugrundeliegendes Wertsystem nicht internalisiert werden konnte, werden massiv angstbesetzt erlebt und evozieren in ihrer scheinbaren Unerfüllbarkeit Schuldgefühle, die abgewehrt oder kompensiert werden müssen. Andererseits impliziert eine defizitäre Ausbildung der Gewissensinstanz Unfähigkeit der Triebsteuerung, Konfliktbewältigung und Frustrationstoleranz , so daß bei vielen Delinquenten latent infantile Züge festzustellen sind . Die angesprochenen soszialpsychologischen Aspekte von Devianz erklären vorrangig das Verhalten multirezidivienter Täter, verdeutlichen aber auch die multikausalen Aspekte der mangelhaften Sozialisation der Mehrzahl der Vollzugsinsassen, die deren Persönlichkeit prägen. Umstritten ist in diesem Zusammenhang heute, ob es legitim ist, Kriminelle als "sozial Kranke"! 1 * 2 und Kriminalität "als eine Art 'sozialer Erkrankung' zu interpretieren. Sinnvoll ist dieses Krankheitsmodell als Motiv des individuellen und verständnisvollen Eingehens auf die persönlichen Probleme des Inhaftierten, die ein normatives Reagieren auf Delinquenz als sozial unverantwortlich erscheinen lassen. Abzuwehren ist allerdings eine Interpretation des Krankheitsbegriffs, der Behandlung als "karitativ verbrämte (n) Zwang zur Anpassung an die Normen der H e r r s c h e n d e n " ! ^ erscheinen läßt, hinter dem ein "mechanistisches Modell des M e n s c h e n " 1 4 5 steht, das simplifizierend von dem Ansatz ausgeht, generalisierend auf analysierte 'Krankheitsfaktoren' reagieren zu können, ohne die multikausalen Interdependenzen individuell aufzunehmen und die in der Gesellschaft angelegten Ursachen in den Behandlungsaspekt einzubeziehen. Für Überlegungen, wie sich die Strukturen des Vollzuges auf das Erleben und Verhalten von Inhaftierten auswirkten, hat der Satz K e r n e r s l 4 6 prinzipielle Gültigkeit: "Strafvollzug bedeutet einen massiven Eingriff in die normale Lebenssituation, der Entzug der Freiheit mit allen notwendigen Folgen belastet auch dann, wenn er im einzelnen human durchgeführt wird". Die Überstellung in eine Justizvollzugsanstalt wird vom Betroffenen in doppelter Hinsicht erlebt: Als Ausgliederung aus dem sozialen Bezugsfeld, das ihn bisher getragen hat, und als zwangsweise Integration in ein isolierendes System, das ihm oftmals Lebensbedingungen aufoktroyiert, die dem bisherigen Lebensstil diametral entgegenstehen. Es erfolgt ein "Statuswandel": "Aus dem grundsätzlich gleichgeachteten Mitbürger wird der in seinen Rechten und Befugnissen beschränkte Insasse"147, der in der Haft eine strukturelle Neubestimmung seiner Identität erfährt. Besonders Gefangene, die zum erstenmal mit der totalen Institution des Gefängnisses in Kontakt k o m m e n l 4 8 , empfinden den Bruch in ihren Lebensbezügen sehr stark und als verunsichernd. Die entwürdigenden Aufnahmeprozeduren, in denen Identität durch das Ablegen persönlicher
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Kleidung und privaten Besitzes rein äußerlich reduziert wird, gehören zu den einprägsamsten "Degradierungszeremonien"149, denen der Gefangene unterworfen wird. Die erste Zeit nach der Einlieferung, die im Regelfall in der Einzelzelle v e r b r a c h t wird, ist meist "von s t a r k e r Niedergeschlagenheit bis hin zu ausgesprochenen S c h o c k z u s t ä n d e n " 1 5 0 g e p r ä g t . Die emotionale Verarbeitung der Perspektive, längere Zeit dem Vollzug unterworfen zu sein, ist d u r c h die ungewohnte Einzelhaft erschwert und motiviert, sobald Gelegenheit dazu gegeben i s t , zu Kontaktaufnahme mit anderen Inhaft i e r t e n , um Hilfen zur Eingliederung zu finden. Mit dem Prozeß des Emlebens ist die belastende Einsicht v e r b u n d e n , daß die Qualität der Lebensbezüge wesentlich d u r c h vorgeschriebene Tagesabläufe determiniert i s t . Der Gefangene kann nicht mehr seinen eigenen Tagesrhythmus ausleben. Ein wesentliches Element eigenverantwortlicher L e b e n s f ü h r u n g ist ihm genommen, die Zeit als wertvoll und gestaltbar erleben zu können. Die Zeit kann sogar bei langen Einschlußzeiten an Sonn- und Feiertagen besonders belastend als 'tote Zeit' e r f a h r e n w e r d e n ^ ^ l . Von daher sind gerade im Freizeitbereich die Angebote besonders b e g e h r t , die ohne großen persönlichen Einsatz Möglichkeiten zum Zeitvertreib (Fernsehen, Radio, Spiele) bieten. Die Suche nach Abwechslung ist oftmals mit einem Konsumdenken v e r b u n d e n , das es schwer macht, Angeboten mit forderndem oder kreativem Charakter die notwendige Attraktivität zu v e r l e i h e n l 5 2 e i n e Ausnahme bildet allerdings der Sport. ;
Neben dem abstumpfenden Erleben des Zeitphänomens - ein "Leben im Jetzt und weitgehend ohne Vergangenheit und Zukunft"153 - f ü h r t die selbstverständliche Regelung aller elementarsten Lebensbedürfnisse, wie Verpflegung, Kleidung und U n t e r k u n f t , die Zuweisung von Arbeit und Behandlungsmaßnahmen, zu einem Prozeß der Entmündigung. Die Gesamtatmosphäre des Vollzuges ist "meist der Entfaltung von Eigeninitiative und Entwicklung von Aktivitäten a b t r ä g l i c h " ! ^ , sodaß der Psychologe Nass bei längerer Haftdauer ein "Trauma"·^^ k o n s t a t i e r t , das sich im Lebensgefühl des Inhaftierten als apathische Grundhaltung und E r s c h ü t t e r u n g des Selbstwertgefühls a u s p r ä g t l 5 6 . Die in der Sozialisation bei vielen Gefangenen angelegte Tendenz zur Infantilisierung wird d u r c h die Haftbedingungen weiter stabilisiert 157. Hinzu kommt, daß der Inhaftierte sich "in allen Lebensbereichen zum Objekt d e g r a diert" f ü h l t ! 5 8 ; dag ständiger Kontrolle und Beobachtung unterworfen ist und darauf mit einem Prozeß der "Regredierung"159 auf infantile Verhaltensweisen reagiert oder - zumindest - punktuell aggressiv in motorischen Ausbrüchen ('Zellenkoller'). Oftmals sind auch depressive Phasen e r k e n n b a r , die von Selbstmitleid oder Ohnmachtsgefühlen begleitet w e r d e n ! ^ . Eine andere Art d e r Raktion auf längere Haftzeiten ist auch ein schleichender Realitätsverlust, die Neigung, sich in Phantasien und Träume zu flüchten, ein Prozeß, der sich bis in pathologische Formen hineinsteigern k a n n ^ ß l . Als besonders resozialisierungsfeindlich hat sich die zu s t a r k e Anpassung an reglementierende Anstalts-
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normen erwiesen, deren Fehlen nach der Entlassung zu einer Orientierungslosigkeit f ü h r e n können, so daß sich die paradoxe E r f a h r u n g immer wieder bestätigt, daß "gerade jene Gefangenen, die im Vollzug am besten 'funktionieren', draußen am schwersten zurechtkommen" 162. Je nach p e r sönlicher Disposition prägt sich der Prozeß der Depravierung bei langer Haftzeit unterschiedlich als mehr oder weniger starke Akkomodation an uniforme Verhaltensmuster a u s 1 6 3 ( die stabilisierend in der Gefangenens u b k u l t u r wirken. Obwohl hierzu kein Zwang b e s t e h t , ist der Akkulturationsprozeß an Werte und Normen der Insassengesellschaft als Abwehrmechanismus gegen Identitätsstörungen zu i n t e r p r e t i e r e n , der die Bedingungen der Haft d u r c h ein System sozialer Interaktionen u n t e r den Gefangenen erleichtert. Aus dem Schrifttum amerikanischer Gefängnissoziologie ist zur Beschreib u n g dieser Phänomene der Terminus ' S u b k u l t u r ' 1 6 ^ übernommen worden. Es ist allerdings umstritten, ob er generell auf die Verhältnisse in den Anstalten der Bundesrepublik ü b e r t r a g b a r i s t , da - wie Böhm sicher mit Recht feststellt - eine s t r e n g gegliederte "subkulturelle Gegenordnung"165 in ihnen nicht nachzuweisen i s t . Da es aber ein Erfahrungswert i s t , daß die Inhaftierten auf die Bedingungen der Anstalt nicht n u r passiv r e a gieren, sondern sich als Gruppe solidarisieren und g r u p p e n i n t e r n e Verhaltens- und Führungsmuster als Gegenreaktion gegen die Vollzugsorganisation im Sinne einer 'Überlebenstechnik' ausbilden, ist auch in b u n desrepublikanischen Justizvollzugsanstalten von zumindest s u b k u l t u r e l len Strukturen auszugehen. Rieger stellt h e r a u s , daß subkulturelle Tendenzen d u r c h die Konfrontation zwischen Inhaftierten und Vollzugspersonal gestärkt werden, um das Unterlegenheitsgefühl der Insassen über den Aufbau einer eigenen F ü h r u n g s s c h i c h t , die Schutzraum und Rollensicherheit v e r s p r i c h t , zu k o m p e n s i e r e n l 6 6 . j e s t ä r k e r das Selbstwertgefühl eines Inhaftierten im Laufe der Haftzeit gelitten h a t , desto leichter wird er geneigt sein, die subkulturellen Rechtfertigungstechniken zu übernehmen, die ein Aufkommen von Schuldgefühlen und Zweifeln an eigenem Handeln vermeiden sollenIG?. Besondere normen- und meinungsprägende Kompetenz u n t e r den Inhaftierten haben oftmals F ü h r e r p e r s ö n lichkeiten , die H a f t e r f a h r u n g auszeichnet, die sich als resistent gegen sozialisierende Behandlung erweisen, deren kriminelle Handlungsweisen auch im Vollzug 'wirtschaftliche' Macht und Abhängigkeiten ermöglichen und sich gegenüber dem Anstaltsstab als mächtig und konfliktfreudig darstellen 168, Diese Minderheit der extrem antisozial orientierten Insass e n f ü h r e r formuliert die "Antistabsnormen und übrigen Konternormen"169, die Werte wie Solidarität in der Opposition, Ruhe nach außen und die Geringschätzung der Individualität beinhalten. Die angedeuteten subkulturellen Tendenzen innerhalb des Verwahrvollzuges stellen kein geschlossenes, sondern eher ein differenziertes System d a r , das von einem vollzugsbedingten Solidaritätsdruck und Rollensystem zusammengehalten wird. Allerdings schränkt H o p p e n s a c k l ^ O ein, daß die
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Inhaftierten in Extremsituationen geneigt sind, den Ansprüchen des Stabes eher nachzukommen als denen des 'kriminellen Kerns 1 , also weniger 'antioffiziell' eingestellt sind, als sie es nach außen artikulieren. Es ist jedoch damit zu rechnen, daß die Doppelbödigkeit und der informelle Gruppendruck subkultureller Wertvorstellungen den Sozialisierungsbemühungen Widerstände entgegenstellen können. Der prozessuale Charakter des Strafvollzuges fordert bei länger andauernder Strafhaft den Inhaftierten heraus, sich mit den in der Justizvollzugsanstalt geltenden Normen und Werten auseinanderzusetzen. Er ist dabei den depravierenden, den subkulturellen, den resozialisierenden und den auf Sicherheit und Ordnung ausgerichteten Einflüssen unterworfen, zwischen denen er seinen Entwicklungsweg finden muß. All diesen unterschiedlichen Einwirkungen und Angeboten ist die spezifische Ausprägung gegenüber den in der freien Gesellschaft geltenden Interaktions- und Partizipationsmodellen gemeinsam. Dieser negative Sozialisationsprozeß kann so weit von gesamtgesellschaftlichen Sozialbezügen abweichen, daß er sozial desintegrierende Einflüsse auf den Gefangenen haben kann. Die Langzeitwirkungen der Freiheitsstrafe auf den Betroffenen, die in extremer Ausprägung den Charakter einer "kriminellen Gegenerziehung" 1 7 ! haben können, hat Clemmer unter dem Begriff "prisonisation"l 7 2 untersucht, der als "Prisonisierung" im Sinne eines heuristischen Terminus in die Überlegungen deutscher Vollzugswissenschaftler Eingang gefunden hat. Hoppensack kam zu der Überzeugung, daß die Intensität des Prisonisierungseffekts im Zusammenhang mit dem Grad der Außenkontakte des Inhaftierten steht, wobei der Weiterbestand aktiver Sozialbeziehungen während der Haftzeit einen stärkeren Einfluß zu haben scheint, als die strukturellen Einflüsse der Justizvollzugsanstalt 17 ^, Als Ergebnis der Prisonisierungsdebatte ist festzuhalten, daß wohl nicht von einer eindeutigen Prägung durch die Haftumstände ausgegangen werden kann, daß aber die "Insassenkultur in jedem Falle bereits vor der Einweisung in die Anstalt vorhandene antisoziale Einstellungen vertiefen und verschärfen kann"174. Damit wäre auch der von Wichern unter dem Stichwort Gefängnis als 'Hochschule des Verbrechens' eingebrachten Überlegung eine spezifische Inhaltsfüllung erteilt: Es kann als erwiesen gelten, daß ein auf Sicherheit und Ordnung überbetont ausgerichteter Vollzug, der als Gegenströmung subkulturelle Strukturen evoziert, kriminalitätsstabilisierende oder -verschärfende Wirkung haben, nicht aber im Ansatz kriminogen wirken kann. In diesem Kontext erscheint es notwendig, die im Strafvollzugsgesetz angelegten Möglichkeiten zu sozialen Kontakten während der Haftzeit zu intensivieren, um Prisonisierungseffekte zu verhindern.
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6. 2 Die für das Selbstverständnis der Gefangenenseelsorge grundlegende Diskussion über ein theologisch zu verantwortendes Strafverständnis Die vorausgehenden Untersuchungen zur inhaltlichen Ausgestaltung der Gefangenenseelsorge haben verdeutlicht, daß eine finale Korrelation von juristischem und theologischem Strafdenken trotz eines divergierenden Begründungszusammenhangs bestand. Da die These nicht widerlegt ist, daß die theoretische Fundierung der Seelsorge im Strafvollzug wesentlich von dem je aktuellen Strafverständnis mitbestimmt wird, erscheint es als relevant, den Entwicklungstendenzen innerhalb der theologischen Strafdiskussion nachzugehen, die den Hintergrund für das Verständnis der Gefangenenseelsorge in der Bundesrepublik erhellen. Bis zum Ersten Weltkrieg definierte das Prinzip 'Thron und Altar' auch den Ort der Gefangenenseelsorge in enger Relation zur staatlichen Ordnungsmacht. Der ordnungstheologische Ansatz, der dem Recht transzendente Autorität verlieh, hatte zur Folge, daß der Urteilsspruch des irdischen Richters als Umsetzung des absoluten göttlichen Rechtswillens interpretiert wurde, dessen normativer Anspruch also für die Gefangenenseelsorge relevant warl75. Sie sollte den Inhaftierten sittlich festigen, "wobei das, was sittlich genannt wurde, in den Prinzipien der Kirche und des Staates gleichermaßen verankert war"l?6. Dieses konsequente System, das aufgrund seines theologischen und juristischen Begründungszusammenhangsl77 die Alleinschuld des Täters, die sich im Rechtsbruch manifestierte, zum Ausgangspunkt nahm und seine sittliche Verfallenheit in den Mittelpunkt poimenischen Handelns stellte, ist nach dem Ersten Weltkrieg zerbrochen, wirkte aber strukturell bis in die 60er Jahre n a c h ^ S _ Es bildet den Verstehenshintergrund dafür, daß von verschiedenen Theologen das Vergeltungsstrafrecht als Sanktionsform propagiert w u r d e ^ ^ . Rein methodisch war der theologisch-ethischen Auseinandersetzung der Zugang zum komplexen Bereich der Strafrechtsdiskussion erschwert. So kritisierte 1959 der Jurist Dombois, daß eine gewisse Polarisierung theologischer Ansätze auch in die Strafdiskussion eingegangen ist, die "nur alternativ auf die Verfallenheit des Menschen unter dem Gesetz oder auf die Heilstat Christi als E v a n g e l i u m " 1 8 0 verweist. Die theologische Diskussion zum Thema wurde nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich von zwei divergierenden Grundansätzen bestimmt: Einmal wurde die Lehre von der Strafe theologisch-ethisch traditionell im Zusammenhang der Theologie der Ordnungen des weltlichen Lebens, in der die göttliche Rechtsordnung den Orientierungspunkt bietet, entfaltet: "Die Strafe wird verstanden als Verletzung einer göttlichen Ordnung, die im staatlichen Strafrecht zur Bekämpfung des Chaos ihren Niederschlag gefunden h a t " 1 8 1 . Als Vertreter dieser Theorie sind zu nennen die Erlanger Theologen Paul Althaus, Werner Eiert und Walter K ü n n e t h l 8 2 . j t e inim
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gem Abstand auch der reformierte Systematiker Emil Brunner 183) die zum Wesen der Rechtsordnung gehört, um sie durchzusetzen: "Ihm ist von Gott das Amt am Rechte ü b e r t r a g e n " , und indem der Staat die Rechtsordnung t r ä g t und e r h ä l t , hat er "an der Würde des Rechts teil"198. Die 'Heiligkeit' des Willens Gottes tritt der Sozietät im positiven Recht e n t gegen. Daraus folgt, daß ein Rechtsbruch nicht n u r gegen einen einzelnen Rechtssatz verstößt, sondern die "objektive Rechtsbindung überhaupt in Frage" stellt 199. An diesem Punkt setzt das "Pathos der S t r a f r e c h t s l e h r e "200 ein. Bricht jemand das Recht, so muß er die Rechtsordnung e h r e n , indem er die Strafe f ü r sein delinquentes Verhalten, f ü r den Rechtsbruch auf sich nimmt201. Zum Amt des Staates am Recht gehört als Machtausübung die Strafgewalt gegenüber dem Delinquenten. Althaus definiert in seinem theologischen Bezugsrahmen Strafe als "das Geltendmachen der Heiligkeit der Rechtso r d n u n g gegenüber dem Rechtsbrecher d u r c h Eingriff in seine Rechtsg ü t e r , also 'Rechtsverminderung'" 2 02. Der Charakter der Strafe wird von Althaus ganz spezifisch als Durchsetzungsmittel der Rechtsordnung herausgestellt: Die Strafe soll die verletzte O r d n u n g wiederherstellen, sie zielt "wie Gottes Zorn" 2 ^3, den die irdische Strafe stellvertretend vollzieht, "auf das innere Sich-Geltendmachen der Heiligkeit des Rechtes im Bewußtsein des Verbrechers und aller Volksglieder"204. Die objektive O r d n u n g verlangt in der Strafe ihr Recht. In dieser Forder u n g sieht sich Althaus mit der 'klassischen Strafrechtsschule' und ihren absoluten Theorien v e r b u n d e n , weil n u r sie die Bedeutung von Schuld
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u n d Verantwortlichkeit "erst zur Geltung b r i n g t " 2 ^ . Er lehnt konsequent die "soziologische S t r a f s c h u l e " 2 ^ 6 a b , da sie die Gefahr impliziert, den S t r a f b e g r i f f in Sicherung und Erziehung aufzulösen. Althaus beurteilt die am Menschen a u s g e r i c h t e t e n Strafzwecke als s e k u n d ä r 2 ^ 7 , konzediert aber dem relativen S t r a f v e r s t ä n d n i s , daß es auf die soziale Genese von Devianz hinzuweisen v e r m a g 2 ^ . Grundsätzliche B e d e u t u n g gewinnt die s t r a f r e c h t l i c h e Sanktion f ü r Althaus in ihrem "Eigensinn als S ü h n e , d . h . selbstzweckliche B e h a u p t u n g bzw. Wiederherstellung d e r R e c h t s o r d n u n g in i h r e r Heiligkeit" 2 *^, d e n n - u n d so seine B e g r ü n d u n g - "über allen rationalen Strafzwecken s t e h t das I r rationale d e r Sühne - a b e r alles Rationale lebt aus diesem irrationalen G r u n d e " 2 1 ^ . Daher werden die Strafzwecke Sicherung, B e s s e r u n g und Schutz prinzipiell e r r e i c h t , wenn die S t r a f e in ihrem "Eigen-Sinn"211 als Sühne i n t e r p r e t i e r t wird. Nur auf diesem Wege k a n n das S t r a f r e c h t die "Ehre" des R e c h t s b r e c h e r s w a h r e n , indem er "zu persönlicher Verantwort u n g " ^ g e r u f e n wird. Als höchste Form d e r Sühne erscheint Althaus die T o d e s s t r a f e , die d e r Heiligkeit d e r R e c h t s o r d n u n g adäquat w i r d , "indem sie dem R e c h t s b r e c h e r alles Recht nimmt, d . h . ihn tötet" 2 !3. 2
Zusammenfassend läßt sich f e s t h a l t e n , daß Althaus eine "objektiv-normative Konzeption des S t r a f r e c h t s " 2 1 4 v e r t r i t t , d e r e n theologische Basis die Lehre von d e r göttlichen Gerechtigkeit bildet, die als k o n s t i t u i e r e n de Norm dem S t r a f r e c h t seine eigentümliche Qualität v e r l e i h t . Der Täter verletzt in seiner Tat die R e c h t s o r d n u n g und die darin manif e s t i e r t e göttliche Gerechtigkeit: Seine Delinquenz wird s t r a f b a r als Verletzung d e r objektiven O r d n u n g , d e r absoluten Norm. Der S t r a f r e c h t s pflege geht es f ü r Althaus wesentlich um die objektive A u f r e c h t e r h a l t u n g und normative D u r c h s e t z u n g d e r R e c h t s o r d n u n g u n d i h r e r "Heiligkeit" 2 !^, vermittelt d u r c h die Anwendung d e r S ü h n e s t r a f e . S t r a f e als Sühne e r reicht i h r e n Sinn, "wenn d e r Gestrafte von seiner Schuld innerlich ü b e r f ü h r t und zur Umkehr gebracht ist" 2 !®. Dazu bedarf es der Seelsorge am Gefangenen, die aus "brüderlicher F ü r s o r g e " 2 ! 7 geübt werden muß, um ihm nach d e r Strafe zu einem neuen Start in die Gesellschaft zu v e r helfen . Deutlich wird bei Althaus eine Zweigleisigkeit in d e r Behandlung d e r S t r a f problematik. In d e r grundsätzlichen theologischen Reflexion kommt d e r Mensch als R e c h t s b r e c h e r in den Blick, d e r d e r absoluten S t r a f e u n t e r worfen werden muß. Den Menschen in d e r S t r a f e überantwortet Althaus dem G e f a n g e n e n s e e l s o r g e r , d e r die Aufgabe bekommt, den Delinquenten zur Annahme d e r s ü h n e n d e n S t r a f e zu bewegen. Damit v e r t r i t t Alth a u s implizit ein S e e l s o r g e v e r s t ä n d n i s , das an Konzeptionen des 1 9 . J a h r h u n d e r t s e r i n n e r t . Der S t r a f t ä t e r wird als Teil d e r Rechtsgemeinschaft r e l e v a n t , d e r e n Erhalt gemäß des göttlichen Rechtswillens zu sichern i s t . Die Bewahrung d e r Rechtsgemeinschaft e r f o r d e r t die Einsicht des Einzelnen in die z e r s t ö r e n d e n Konsequenzen des R e c h t s b r u c h s , die aus d e r bewußten Übernahme d e r Strafe folgen.
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6.2.2 Karl Barths2·*·® christologisch orientiertes Strafverständnis Die Dominanz des auf der lutherischen Tradition basierenden Strafverständnisses wurde von Karl Barth relativiert, der die theologischen Grundlagen für ein vom Versöhnungsgeschehen ausgehendes Seelsorgeverständnis entwickelte. Barth sprach sich für eine Abkehr vom metaphysischen Strafdenken 2 !® a u S ; wandte sich gegen eine "schuldstrafrechtliche Begründung des Freiheitsentzuges" 22 ^ u n ( j reflektierte die Vollzugspraxis unter dem Gesichtspunkt ihrer Folgen für die Inhaftierten. Für Barth hat die Ethik 2 2 ! "als Umschreibung und Bezeugung des Gebotes Gottes und des ihm entsprechenden guten menschlichen Handelns" 222 in der Welt, im Gegensatz zu Althaus, keinen objektiv ausgrenzbaren Bereich. Die Wirklichkeit, an der sich die theologische Ethik ausrichtet, ist die Geschichte Gottes mit dem Menschen, die im Christusgeschehen ihren "Kulminationspunkt" 2 ^ hat. Die theologische Ethik Barths steht in Relation zu dem WirklichkeitsZusammenhang, der sich aus der Offenbarung Gottes in Christus für den von diesem Geschehen betroffenen Menschen eröffnet. Indem der Mensch sich von dem von Gottes gnädiger Zuwendung 2 2 ^ getragenen Wirklichkeitsverständnis bestimmen läßt, erkennt e r , daß er als Geschöpf existiert und von seinem Schöpfer angeredet wird: In seinem Wort, das das Gebot impliziert 2 2 5 , fordert Gott Gehorsam und setzt zugleich den Menschen in ein Verhältnis zu der ihn umgebenden Sozietät. So greift das Gebot Gottes ein in das Dasein des Natürlich-Menschlichen. Das neue Selbstverständnis als Geschöpf Gottes ermöglicht die Erkenntnis, daß das 'geschöpfliche Leben' nicht 'sein Eigentum' ist, denn "das menschliche Leben . . . gehört Gott; es ist eine Leihgabe, seine Wohltat". Es untersteht nicht der absoluten Selbstverfügung des Menschen, darum ist derjenige Schutz des Lebens geboten, den "Gott der Schöpfer dieses und der Geber des künftigen ewigen Lebens" 22 *» fordert. Eine Möglichkeit, das Leben zu bewahren, beinhaltet für den Menschen, der als Sünder in der latenten Gefahr steht, das Chaos zu verursachen, das Recht. Daher darf die Sozietät die Aufgabe nicht aus den Augen v e r lieren, "nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens für zeitliches Recht und zeitlichen Frieden, für eine äußerliche, relative vorläufige Humanisierung der menschlichen Existenz zu sorgen" 2 2 ?. Das bedeutet, daß die im Staat verfaßte Gesellschaft 22 ® mit ihren Gesetzen und Gerichten die zu schützende Rechtsordnung garantieren und tragen muß. Zu diesem Zweck setzt die staatliche Gemeinschaft gegenüber dem Rechtsbrecher die Strafe als "Zwangsmaßnahme" ein. Das Recht zur Strafe ist begründet und begrenzt von der der Sozietät unter dem Recht zugewiesenen göttlichen Aufgabe, "Fürsorge für alle ihre Glieder" 22 ® zu üben. Als mögliches Korrektiv muß bei allem Aussprechen von Strafen mitbedacht werden, daß Staat und Gesetzeskorpus vom Menschen verfaßt worden sind, also auch korrigierbar und überbietbar sein müssen und keine objektive Norm darstellen 2 3 0 .
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Von seinem ethischen Grundsatz der Vorläufigkeit und Relativität des positiven Rechts h e r b e f r a g t Barth das S t r a f r e c h t d a r a u f h i n , ob und wie mit ihm die dem göttlichen Willen adäquate Fürsorge und Bewahrung des Lebens verwirklicht werden k a n n . Das positive S t r a f r e c h t soll also nicht theologisch deduziert oder untermauert werden, sondern Barth u n t e r w i r f t es dem theologischen Kriterium der Lebensbewahrung. Die spezialpräventive Ausrichtung der S t r a f e , a u f g r u n d d e r e r in "moralischer", "pädagogischer", ja sogar "seelsorgerlicher Absicht" g e s t r a f t wird, um den Delinquenten zur Einsicht in sein Fehlverhalten und zur k ü n f t i g e n Neuorientierung zu f ü h r e n , hat f ü r Barth in Relation zu seinem ethischen Kriterium, dem Schutz des Lebens, vorrangige Bedeutung d a r i n , "zuerst und entscheidend f ü r den Ü b e r t r e t e r selbst sinnvoll zu sein". Das gilt umso mehr, da der Delinquent eine "kranke Stelle am Leibe der Gesellschaft" darstellt, die die Sicherheit der Sozietät g e f ä h r d e t . Der soziale Bezug von Devianz verpflichtet die s t r a f e n d e Gesellschaft, Strafziele wie "Besserung, Erziehung, Zurückversetzung in die Ordnung" vorrangig zu verfolgen, um den Delinquenten aus dem Stand der Dissozialität herauszuführen231. Die Gesellschaft ihrerseits darf sich gegenüber dem Täter nicht "desolidarisieren", daher muß die S t r a f e , die im Namen der Rechtsgemeinschaft ausgesprochen wird, ein hohes Interesse d a r an demonstrieren, den Rechtsbrecher "um jeden Preis" zu f ö r d e r n und sozial zu i n t e g r i e r e n 2 ^ . "Die Wiedereinordnung des Täters steht f ü r diese Hinsicht der Strafe im Vordergrund" 2 33. Die klassische Straftheorie hat nach Barth darin ihre Berechtigung, daß sie darauf verweist, "daß alles menschliche Strafen auch eine irdische Darstellung und Bezeugung der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes sein muß". Strafe ist zwar in Grenzen "Abbild des göttlichen Vergeltens, der von Gott geforderten Sühneleistung", doch muß sich der Richter bewußt bleiben, daß seine Entscheidung nicht die ewige Entscheidung Gottes widerpiegeln k a n n : Jeder Urteilsspruch unterliegt der "Beschränktheit aller menschlichen Einsicht". Diese Beschränktheit und Zeitbezogenheit menschlicher Rechtsprechung sollte zur "Demut" vor der letzten "göttlichen Entscheidung" f ü h r e n 3 4 . 2
Doch relevanter ist folgendes Argument gegen die absolute Vergeltungsstrafe : "Die vergeltende Gerechtigkeit Gottes hat sich . . . schon ausgewirkt; die von ihm geforderte Sühne f ü r alle menschliche Ü b e r t r e t u n g ist ja schon geleistet". Im Sühnetod Christi am Kreuz hat Gott "ein f ü r allemal über die Sünden aller Menschen Gericht geübt", und daraus folgt aus göttlicher Sicht "Barmherzigkeit, Vergebung f ü r alle" 2 35. Als Konsequenz des christologisch orientierten Ansatzes kann weltliche Strafe nicht mehr mit dem Sühnegedanken v e r b u n d e n w e r d e n · ^ . Diese Folgerung ist zentral f ü r Barths Verständnis der S t r a f e : Sühne ist allein Gottes in Christus vollzogene Tat und keine menschliche Möglichkeit m e h r " D e r Sühnetod Christi ist die eine n u r Gott mögliche und f ü r alle Menschen und Zeiten ausreichende Wiedergutmachung", ja es e r 2
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scheint geradezu als "eine Beleidigung Gottes, wenn nach Sühne u n d Wiedergutmachung g e r u f e n wird"238. Wenn die Gerechtigkeit Gottes im S t r a f e n bezeugt werden soll, d a n n wird die B e s t r a f u n g f ü r den Delinq u e n t e n eine Form haben m ü s s e n , "in d e r die V e r g e b u n g , die J e s u s C h r i s t u s auch f ü r ihn e r w o r b e n hat"239, s i c h t b a r w i r d . Barths Ansatz f ü h r t nicht zu einer Negierung d e r S t r a f e , s c h r ä n k t sie aber d a h i n g e hend ein, daß sie das soziale Leben f ö r d e r n d b e e i n f l u s s e n muß. Nur auf diesem Wege k a n n menschliches S t r a f e n ein Abbild d e s g e r e c h t e n Handelns Gottes im Kampf gegen das Chaos b e i n h a l t e n . Das theologische I n t e r e s s e am S t r a f r e c h t ist von Barth auf die finale Ausr i c h t u n g u n d die Funktion d e r Strafe v e r l a g e r t w o r d e n : Sühnetod C h r i sti als theologische O r i e n t i e r u n g schließt eine v e r g e l t e n d e I n t e r p r e t a t i o n d e r R e c h t s o r d n u n g a u s . Der Sinn d e r S t r a f h a n d l u n g k o n k r e t i s i e r t sich n u r in Relation zur Sozietät u n d zum Delinquenten240. v o n dem gesamtgesellschaftlichen Bezug h e r k r i t i s i e r t Barth abschließend die Generalpräventionstheorie: Der T ä t e r , d e r a b g e s c h r e c k t werden soll, ist kein " ä u ß e r e r , s o n d e r n i n n e r e r Feind d e r Rechtsgemeinschaft . . . e r wurde zum V e r b r e c h e r , obwohl u n d indem er i h r a n g e h ö r t . Er ist ihr Glied . . . auch i h r P r o d u k t , ein Ergebnis d e r in i h r h e r r s c h e n d e n Verhältnisse"241. An den sozialen V e r h ä l t n i s s e n , die Devianz ermöglichen, ist - so betont Barth - die Sozietät mitschuldig242. sie ist von d a h e r v e r p f l i c h t e t , auch in d e r S t r a f e Solidarität mit dem Täter zu b e w a h r e n ^ · * . g i e k a n n sich nicht auf den Schutz d e r R e c h t s o r d n u n g z u r ü c k z i e h e n , um i h r e Sanktionen zu r e c h t f e r t i g e n , da die manifeste Delinquenz einen s i c h e r e n Beweis d a f ü r d a r s t e l l t , daß i h r e O r d n u n g des Zusammenlebens, die sie sich gegeben h a t , "ein Stück weit immer auch noch U n r e c h t s o r d n u n g i s t " . E r hebt die Gesellschaft den A n s p r u c h , den V e r b r e c h e r undschädlich zu machen, muß sie sich selbst v o r h e r "unschädlicher" machen, "als sie es o f f e n b a r immer noch ist"244_ sie muß sich so r e f o r m i e r e n , daß in i h r Delinquenz weitestgehend v e r h i n d e r t werden k a n n . Mit diesem Gedanken f ü h r t Barth ein massives Element d e r Gesellschaftskritik ein, die ihn zu der F o r d e r u n g motiviert: Will die Gesellschaft d u r c h S t r a f e ihre Sicher u n g e r r e i c h e n , so muß sie Recht s e t z e n , das menschlich u n d l e b e n s e r haltend f ü r alle i h r e Glieder konzipiert ist 245 _ Das k o n s t i t u t i v e Element d e r christologischen S t r a f b e t r a c h t u n g Barths ist das Heilshandeln Gottes im Kreuzestod Christi mit seinen Folgen f ü r das Leben d e r Menschen. Das Hauptanliegen der Gedanken Barths zum Thema Strafe u n d Recht b e s t e h t nicht in einem Plädoyer f ü r die D u r c h setzung einer R e c h t s o r d n u n g , s o n d e r n im Geltendmachen d e r Heilstat C h r i s t i n e . Damit tritt in der theologischen Reflexion an die Stelle der s t r a f e n d e n Norm d e r Täter u n d die B e w a h r u n g seiner Lebenschancen: Der schuldige Mensch, um dessentwillen die V e r s ö h n u n g geschehen i s t . Der Sinn d e r S t r a f e v e r b i n d e t sich in dieser Konzeption mit der Bejahung u n d Bewahrung des Delinquenten in Relation zur V e r a n t w o r t u n g d e r Ges e l l s c h a f t . Die S t r a f e wird damit als r e t t e n d e E r z i e h u n g s s t r a f e d e f i n i e r t ,
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die eher einen pädagogischen als einen Rechtscharakter - im Sinne des Strafrechts - trägt: Sie ist der Umsetzung des Versöhnungsgeschehens in menschliche Lebensbezüge verpflichtet und wird von ihm her zugleich relativiert.
6.2.3 Die Ansätze von Althaus und Barth in Relation zum positiven Strafrecht Die konträren Ansätze von Althaus und Barth zur Strafproblematik legen es nahe, sie im Blick auf den Schulenstreit innerhalb der Strafrechtswissenschaft unter die 'klassische' und die soziologisch bestimmte Strafrechtstheorie einzuordnen. Obgleich sich Parallelen zur juristischen Theoriebildung ziehen lassen, hieße es doch, das Anliegen beider Theologen grob zu vereinfachen, reduzierte man es auf die strafrechtsdogmatische Grundproblematik. Beide treten in keine grundsätzliche Diskussion des Strafrechts ein, sondern gehen von der Faktizität des positiven Rechts aus und reflektieren die Konsequenzen seiner Verletzung: Für Althaus ermöglicht die gottgewollte Objektivität der Rechtsordnung die Würde und Aufgabe der Straf e , so daß sein Ansatz als'metajuristische"247 Straftheorie bezeichnet werden kann. Barth hingegen betont explizit, daß diese Norm durch die heilsgeschichtliche Aufhebung des vergeltenden Gesetzes im Sühnetod Christi durchbrochen worden ist, so daß seine Theorie als "postjuristisch"248 z u umschreiben ist. Althaus und Barth deduzieren ihre Stellungnahmen zur Strafe aus ihren theologischen S y s t e m e n 2 4 9 wobei die Anliegen des Strafrechts nur insoweit mitreflektiert werden, wie sie sich mit den theologischen Vorentscheidungen parallelisieren lassen. Daraus resultiert, wie R i c h 2 ^ betont, eine reduzierte Sicht des Komplexes der Strafrechtsproblematik, "in der Verbrecher und Verletzter, Tat und Täter, statt zugleich ins Blickfeld zu treten, auseinanderfallen". (
Das dominierende Interesse Althaus', die absolute Autorität der göttlichen Rechtsordnung zu wahren, führt ihn dazu, von der Tat her zu denken mit der Tendenz, "als ersten Satz die Unbedingtheit und heilige Unbeugsamkeit des Rechtes zu formulieren und seine Durchsetzung gegenüber Schuldigen zu fordern"251. Der Wille Gottes, die von ihm geschaffene Welt vor dem Chaos zu bewahren, muß sich nach Althaus' System im weltlichen Strafen widerspiegeln. Es intendiert einen "Strafautomatismus"252> der auf eine Normverletzung mit Strafe reagieren muß, um die gesellschaftsbewahrende Norm zu schützen. An diesem Punkt setzt die Kritik Barths an dem ordnungstheologischen Ansatz an: Die systematisch-theologische Einsicht in die Unverfügbarkeit Gottes läßt es nicht zu, ihn dominant unter dem Interpretament des Schöpfers
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und Gebieters zu begreifen, denn: "Der gebietende Gott ist auch der Versöhner, ist auch der E r l ö s e r " 2 5 3 . Die Gerechtigkeit Gottes, die straft und gleichzeitig Zukunft eröffnen will, ist dem Menschen im Christusgeschehen offenbart. Diese Erkenntnis sollte davor bewahren, Strafe als Vergeltung für den Bruch der Rechtsordnung und die Strafübernahme als Sühnetat für den verletzten Gotteswillen zu deklarieren, da der aufgrund des Versöhnungsgeschehens am Kreuz mit Gott versöhnte sündige Mensch in diesem Strafverständnis nicht reflektiert wird 2 ^. Aufgrund der Dominanz der Forderung nach Durchsetzung der Rechtsordnung kommt für Althaus das Problem der Bewahrung oder Neubegründung der sozialen Chancen des Täters im Sanktionsprozeß nicht in den Blick. Rendtorff kritisiert unter diesem Aspekt die von Althaus vertretene Rechtsposition: "Die vom Recht als allgemeine Norm her konzipierte Lehre von der Strafe vermag so der Frage nach dem Menschen keinen Raum zu geben"255. Demgegenüber gewinnt der Mensch in der Strafe, um dessentwillen die Versöhnung geschehen ist, im Ansatz Barths eine zentrale Bedeutung. Pannenberg gibt mit Recht gegenüber Barths Methode, mit Hilfe von Analogieschlüssen aus der Christologie den Zugang zur Rechtswirklichkeit zu gewinnen, zu bedenken, daß sie ein Strafverständnis hervorbringt, das nicht auf einer Grundlagendiskussion des positiven Strafrechts b a s i e r t 2 ^ . So formulierte Barth einen wegweisenden Beitrag zu einem am Menschen orientierten Verständnis des Strafvollzuges , weitet aber die Konsequenzen seines christologischen Ansatzes nicht auf das - wie er immer wieder betont - aus menschlichen Unzulänglichkeiten bestehende Strafrecht aus. Gollwitzer, der die bestehende Rechtspflege polemisch als "Justiz des Klassenstaates" 2 5 7 diffamierte, verweist darauf, daß die Aussage: "Die gerechteste Strafe ist die, welche die umfassende Fürsorge für den Übertäter und die Gesellschaft b i r g t " 2 ^ , eine "Sozialrevolutionäre Utopie" 25 ^ artikulierte, die Barth eigentlich hätte motivieren müssen, für ein Fürsorgerecht anstelle des bestehenden Strafrechts zu plädieren. Die große Bedeutung Barths für das theologische Nachdenken über die inhaltliche Gestaltung von Strafe ist darin zu sehen, daß er die Relativität und Gesellschaftsbezogenheit des Vollzuges von Strafe anerkannt und über den Versöhnungsgedanken auf innerweltliche Beziehungen reduziert hat. Zugleich hat Barth über seine theologische Reflexion Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung mit der modernen humanwissenschaftlich orientierten Straf- und Vollzugswissenschaft geboten, die die Diskussion um eine Neugestaltung des Vollzuges vom vergeltenden Verwahrvollzug zu einem behandelnden trägt. Darin ist die Ursache dafür zu finden, daß Barths Ansatz die theologische Debatte um Strafe und Vollzug nach dem Zweiten Weltkrieg stark geprägt hat. Der das absolute generalpräventive Strafen theologisch untermauernde Ansatz Althaus' dagegen hat in der neueren Diskussion an Bedeutung verloren, da er aufgrund seiner gesellschaftsbezogenen Ausrichtung nur schwer mit der Tendenz zu einer individualistischen Gestaltung des Voll-
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zugswesens zu vermitteln ist. Ein historisch orientiertes Argument, das den ordnungstheologischen Ansatz belastete, ist die latente Tendenz zu Staatskonformität, die eine kritische Auseinandersetzung mit staatlicher Rechtssetzung erschwert. Als Beleg kann die Unfähigkeit eines Teils der Gefangenenseelsorger im Dritten Reich gelten, zwischen juristischem Unrecht und den dem göttlichen Willen entsprechenden Ordnungsstrukturen zu differenzieren.
6.2.4 Das theologische Interesse an der Schuldfrage Das Strafrechtssystem ist als selbständiger gesellschaftlicher Teilbereich anzuerkennen, der sich aus dem ihm ursprünglich eigenen christlichen Deutungshorizont 2 60 heraus entwickelt hat. Mit der "Segmentierung der Gesellschaftsstruktur" und der "Herauslösung des Staates . . . aus dem religiösen Kosmos" ging zugleich die Relevanz traditioneller christlicher "Lebensdeutungen"261 zurück. Die Verselbständigung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme macht es unmöglich, in reformatorischer Tradition strafrechtliche Regelungen unter dem Aspekt des unwandelbaren 'Gesetzes' zu interpretieren und für seelsorgerliches Handeln als Kriterium anzuwenden. Vielmehr ist es nach Lohff notwendig, das christliche Symbol des Gesetzes neu zu interpretieren als "Annahme der wirklichen Welt"262. Damit gewinnt der Seelsorger die Freiheit, sich mit den Intentionen eines "saekularisierten"263 Strafverständnisses kritisch auseinanderzusetzen und zugleich eine theologische Interpretation der begegnenden Wirklichkeit zu entfalten. Grundvoraussetzung theologischer Stellungnahme zu Fragen der Strafe und des Strafvollzuges bleibt die in der Rechtfertigungslehre formulierte Überzeugung von der in Christus geschenkten Freiheit und der Annahme des schuldfähigen Menschen durch Gottes gnädiges Handeln, das Zukunft eröffnet. Daraus folgt für sozialethische Überlegungen das Prinzip : "Anstelle der Forderung, das Gesetz durch die Hege des Vorgegebenen, durch die Wahrung der Ordnungen zu erfüllen, tritt nun die Forderung, das Gesamte des geschichtlich gesellschaftlichen Prozesses verantwortlich so zu gestalten, daß menschliches Leben gelingt"264. Gerade für den Gefangenenseelsorger ist in seinem Arbeitsfeld die Frage bestimmend, welche Zielprojektionen menschlichen Handelns zu einer "heilsamen Gestaltung menschlichen L e b e n s " 2 6 5 führen. Deutlich markiert sind somit die Divergenzen der sinngebenden Bezugssysteme: Während juristische Argumente den Rahmen des Empirisch-Rationalen bewußt einhalten, schließt theologisch-ethische Reflexion die transzendente Kategorie menschlicher Existenz ein, indem sie "das Zusammenbestehen von Schuld des Menschen und Güte Gottes aufweist und beides zusammen für die Wirklichkeit des L e b e n s . . . auslegt"266.
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Das Symbol der 'Güte Gottes' wird f ü r den Seelsorger im Vollzug in der Frage relevant, ob die Konsequenzen des Strafens f ü r den Bestraften 'heilsam' sind und seine Partizipationschancen in der Gesellschaft erhöh e n . Zum anderen resultiert aus der Bedeutung der Gottesfrage f ü r theologisches Denken die Absage gegenüber der Vorstellung, das rational Konstruierbare könne als letztgültiger Aspekt die Existenz b e g r e i f b a r machen. Das in menschlicher Freiheit geschaffene profane Rechtssystem trägt den Charakter der Vorläufigkeit und steht in der Gefahr, in der Konservierung bestehender Strukturen zu einem Unrechtssystem zu e r s t a r r e n , das die Dynamik der Realität nicht mehr e r f a s s e n k a n n . Die theologische Besinnung auf die Freiheit vom Gesetz, aus dem keine Rechtf e r t i g u n g kommt (Gal 3,11), fordert die Kritik am Justizvollzug h e r a u s , wenn er die Zukunft des Inhaftierten zu beschränken oder zu behindern droht267. Eine weitere Differenz in der theologischen und juristischen Wirklichkeitse r f a s s u n g wird deutlich bei der Reflexion der Schuld. Der theologische Begriff von Schuld - als Schuld des Menschen vor Gott und den Mitmenschen - ist wesentlich umfassender als der juristische, empirisch orientierte. Die theologisch relevante " f u n d a m e n t a l e " 2 · ^ Schuld des Menschen vor Gott realisiert sich darin, daß er seine dialogische Existenz, in die er als Geschöpf Gottes versetzt ist und die sich in der Perspektive der Mitmenschen aktualisiert und k o n k r e t i s i e r t , in eine monologische v e r k e h r t . Der Mensch wird immer dann schuldig, wenn er sich absolut v e r s t e h t , die Kriterien seines Lebens aus sich selbst setzt und als verbindlich e r k l ä r t . Aufgrund dieser Umkehrung kann ein Mensch motiviert werden, gegen die gemeinschaftsbewahrenden P r i n z i p i e n 2 · ^ zu verstoßen und damit "aktuale S c h u l d " 2 7 ® zu b e g r ü n d e n . Rieh stellt h e r a u s 2 7 ^ , daß im Sinne des S t r a f r e c h t s "justiziabel und somit s t r a f b a r " immer nur die 'aktuale Schuld' i s t , die als schuldhafte Tat vom Delinquenten wiedergutgemacht werden k a n n . Die 'habituelle' Schuld a b e r , die in der Relation zu Gott im Zerbrechen der dialogischen Existenz g r ü n d e t , ist nicht von Schuldigen zu sühnen oder zu t i l g e n 2 7 2 , ihre Vergebung ist vom Kreuz her zugesichert . Trotz des unterschiedlich bestimmten Schuldbegriffs stehen rechtliche und theologische Gedanken im Blick auf das Zusammenleben in der Rechtso r d n u n g vor einer vergleichbaren Aufgabenstellung: Sowohl die aus dem Schöpfungsbekenntnis abgeleitete Gemeinschaft von Gott und Mensch als auch die Idee der Rechtsgemeinschaft implizieren die Sorge um die Randg r u p p e n der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Aufgabe besteht d a r i n , "durch alle Konflikte h i n d u r c h " 2 7 3 die Gemeinschaft zu bewahren. Schuld impliziert eine Störung von Gemeinschaft, die, wenn auch vom Einzelnen v e r u r s a c h t , von der Gemeinschaft mit getilgt werden muß. Denn ebensowenig, wie die Mitschuld der Gesellschaft die Schuld des Delinquenten aufzuheben vermag, entbinden die schuldhaften Züge innerhalb der Rechtsgemeinschaft diese von der Verpflichtung, ihre ge-
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meinschaftssichernde Aufgabe als Integration des Täters wahrzunehmen274. Das gilt umso mehr, als die Schuld des Einzelnen seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft oder sein Gottesverhältnis nicht zu lösen vermag. Das vom Seelsorger im Justizvollzug v e r t r e t e n e christliche Sinnsystem b e g r ü n d e t zwar a u f g r u n d des impliziten Freiheitsaspekts kein schuldfreies Menschenbild, bietet aber Kriterien zur Auseinandersetzung mit schuldhaften Störungen innerhalb der Gemeinschaft. So schlägt Rendtorff als theologisch verantwortbaren Maßstab u n t e r dieser Zielsetzung v o r : "Soviel Liebe wie möglich - soviel Schuldbehaftung wie nötig"275. D a s bedeutet f ü r die Bewertung der Praxis der Rechtspflege , daß sie n u r dann ethisch zu r e c h t f e r t i g e n i s t , wenn mit der Schuldbehaftung zum Zwecke der Rechtssicherung zugleich ein Sanktionssystem v e r b u n d e n wird, das nach der S t r a f v e r b ü ß u n g volle Rehabilitation i n t e n d i e r t . Die christliche G r u n d ü b e r z e u g u n g , die aus dem Gottesverständnis e r wächst, daß der Mensch als Sünder auch zugleich derjenige i s t , dem das Versöhnungsangebot g i l t 2 7 6 , p r ä f i g u r i e r t ein S t r a f v e r s t ä n d n i s , das dem Gefangenenseelsorger die Möglichkeit gibt, innerhalb der S t r a f - und Vollzugsdebatte diejenigen Tendenzen zu u n t e r s t ü t z e n , die die Frage der Schuldbewältigung und der Erhaltung von I n t e r aktionsmöglichkeiten auf gleichberechtigter Basis zu lösen v e r s u c h e n 2 7 7 . Noch eine weitere Konsequenz läßt sich aus der christlichen Versöhnungsbotschaft f ü r die Beurteilung und E r f a s s u n g von Schuld ableiten: Der Mensch wird radikal mit seiner Freiheit b e h a f t e t , f ü r sein Tun v e r a n t wortlich gemacht und verliert damit die Möglichkeit des Rückzugs auf selbstgerechte Rechtfertigungsmodelle. Determinationen psychischer und sozialer Herkunft vermögen die Schuld eines Delinquenten zwar zu relativieren, aber nicht absolut zu nivellieren: Es wird von ihm v e r langt, Rechenschaft abzulegen und zu seinen Taten verantwortlich zu s t e h e n . Die Gesellschaft hat daher auch die Berechtigung, den Delinquenten auf seine gemeinschaftsstörende Schuld hinzuweisen, weil sie ihn darin in seiner Selbstverantwortung mit aller Fehlerhaftigkeit ernst nimmt o d e r , wie Gollwitzer es formuliert: "Wer den Menschen anklagt, e h r t ihn als Täter seiner Taten" 27 **. Folglich wird eine den Menschen als f r e i und verantwortlich verstehende theologische Straftheorie eine extreme Ausformung der Spezialpräventionstheorie ablehnen müssen, die bei einer Theorie der Determination des Täters ansetzt u n d die Möglichkeit der Schuldbehaftung ausschließt: Wird dem Menschen jegliche Verantwortlichkeit abgesprochen, wird ihm zugleich die Freiheit genommen. Er fällt einer Relativität anheim, die sein Menschsein nivelliert, ihn als Person nicht gelten läßt und Systemzwängen u n t e r w i r f t . Das Modell des totalen Determinismus steht in diametralem Gegensatz zum theologischen Ansatz, in dessen Mittelpunkt der von Gott befreite Mensch s t e h t . Der theologische Freiheitsbegriff schließt allerdings die Möglichkeit des Mißbrauchs der Freiheit mit ein, da er die Vollkommen-
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heit des Menschen nicht als machbar impliziert. Indem eine christlich zu verantwortende Straftheorie auf der Anklage des Menschen, auf seiner Freiheit und seiner Verantwortlichkeit i n s i s t i e r t , v e r h i n d e r t sie - und darin ist Gollwitzer zuzustimmen - das "Sich-Abfinden mit dem entschuldigenden Sosein" und damit eine statische Betrachtung der Rechtsnormen. Wird der Einzelne f ü r sein Sosein und das Sosein der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen, folgt daraus seine Verantwortung f ü r eine v e r besserte Z u k u n f t s p e r s p e k t i v e . Die Konsequenzen f ü r die Rechtsgemeinschaft werden deutlich: Die christliche Utopie des in dialogischer Existenz - im verantwortlichen Verhältnis zu Gott und den Mitmenschen - lebenden Individuums fordert eine menschenwürdige Gesellschaft, die alles daran setzt, deviante Handlungen gar nicht erst aufkommen zu l a s s e n 2 7 9 . Für die praktische Arbeit des Gefangenenseelsorgers sind aus diesen theoretischen Überlegungen verschiedene Folgerungen zu ziehen^SO; 1. A u f g r u n d seiner christologischen Orientierung, die in der Überzeug u n g ihren Ausdruck f i n d e t , daß der schuldige Mensch auf Vergeb u n g hoffen kann und als Geschöpf Gottes anzuerkennen i s t , dem der Eigenwert und die Zukunft als Versöhnter eröffnet i s t , hat der Gefangenenseelsorger einerseits die Aufgabe, z u k u n f t s v e r h i n d e r n de und Individualitätszerstörende Strukturen des Justizvollzuges k r i tisch zu h i n t e r f r a g e n ; und andererseits als Sachwalter der Menschenwürde in einer totalen Institution fremdsteuernden Behandlungsideologien zu wehren, die den Wert des Menschen in seiner Ganzheit zugunsten eines Defizitmodells des zu therapierenden Menschen negieren. 2. Im Kontakt mit den Gefangenen ist es notwendig, die Fragen der persönlichen Schuldproblematik zu r e f l e k t i e r e n , die dem I n h a f t i e r ten das Bewußtsein geben können, auch in seinem Schuldigsein angenommen zu sein. 3. Der Gesellschaft wird deutlich zu machen sein, daß Schuld niemals monologisch dem Täter zuzuweisen i s t , sondern ihr eigenes Fehlverhalten mit einschließt. Die f ü r den Seelsorger relevanten Konsequenzen der Versöhnungsbotschaft sollen nun noch einmal u n t e r dem speziellen Aspekt der Sühne bedacht werden.
6.2.5 Von der Sühne zur Versöhnung Sühne war ein zentraler Topos der Gefangenenseelsorge und der S t r a f theorie, der in der neueren Diskussion kaum aufgenommen wird. Eine Erk l ä r u n g d a f ü r liegt in seiner historisch gewachsenen engen Beziehung zum vergeltenden S t r a f d e n k e n . Die v o r h e r r s c h e n d e semantische Belegung definiert Sühne als Strafelement im Sinne der Bejahung einer auferlegten
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Strafe oder identifizierte Strafe und Sühne. So insistierte Althaus auf dem Eigensinn der Strafe als Sühne, als "selbstzwecklicher Behauptung bzw. Wiederherstellung der Rechtsordnung" 2 8 1 . Im vulgären und auch juristischen Sprachgebrauch wurde Sühne als vollzogen verstanden, wenn der Delinquent bereit war, sich der Rechtsordnung anzupassen. Vergeltung und Sühne wurden somit verbunden: Unabhängig von der Reaktion des Inhaftierten wurde die vergeltende Übelzufügung der Strafe als Voraussetzung für die Sühne angesehen, die die Straftat ausglich. Nach Gollwitzer wird die Interpretation der Sühne als Vergeltung besonders deutlich, wo sie als Strafzweck zum Ausgleich der verletzten Rechtsordnung verlangt wurde 2 82. Diese Identifiaktion 28 3 j s t - parallel zur Strafvollzugsreformdebatte - seit den 60er Jahren von juristischer 284 und theologischer Seite immer deutlicher kritisiert worden. Während in der juristischen Diskussion der Sühnebegriff von den programmatischen Forderungen nach Behandlung und Resozialisation v e r drängt worden ist, gewinnt er innerhalb des theologischen Nachdenkens neue Relevanz durch die Wiederentdeckung des Versöhnungsaspekts, die auch die Gefangenenseelsorge beeinflußt hat. Ein erster Schritt der Entwicklung ist die Interpretation des Sühnegedankens durch Trillhaas, der in der Sühne als "archaischer Block in einer profan gewordenen Welt"285 Analogien zum Strafhandeln Gottes aufweist. Die so mit Pathos eingeführte Sühneidee besagt, daß sie - ohne Rücksicht auf andere Zwecke - "einzig am Guten selbst" 28 ^ orientiert ist und aufgrund ihres sakralen Bezuges den Verurteilten vor Rache und Vergeltung schützt. Der für Trillhaas unaufgebbare "sakrale Hintergrund" der Sühne in der Strafe führt ihn zu einer relativierenden Betrachtung eines zweckorientierten Strafens, das als Produkt gesellschaftlichen Denkens nur ein "Signum der Sühne" 28 ? darstellt. Wenn Strafe allerdings - wie von dem Gefängnispfarrer Pfisterer - "als Sühne und Ausgleich des begangenen Unrechts" 2 8 8 gefordert wird, bleibt die Frage nicht aus, ob von einer Sühneleistung gesprochen werden kann, wenn Strafe nur aufgezwungen erlebt und nicht bejaht wird 2 8 ^. Zu dieser Frage ergaben sich kontroverse Antworten, die nicht losgelöst vom jeweiligen Strafverständnis zu verstehen sind. Während Künneth aufgrund seines ordnungstheologischen Ansatzes die Meinung vertrat: "Entscheidend bleibt die Objektivität des Sühne-Ereignisses, gleichviel, wie es mit der Selbstbesinnung des Betroffenen stehen mag" 2 ^^, betont Peters, der sich für eine finale Strafsicht ausspricht, daß gerade der "personale Charakter" des Sühnegedankens ihn von der Vergeltung abhebt, und zwar dadurch, daß "der Betroffene sich bereit erklärt, das in der Strafe liegende Leiden anzunehmen, sich durch das Ja zur Strafe von der Straftat abzulösen"291. Mit der Abwendung von der absoluten Straftheorie hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß Sühne nicht durch staatliche Machtausübung erzwun-
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gen werden kann, sondern als sittlicher Prozeß verstanden werden muß, der die Bereitschaft des Verurteilten zur Wandlung v o r a u s s e t z t 2 9 2 . Ob die Strafe zur Sühne wird, hängt wesentlich von der Haltung des Delinquenten zu seiner Strafe ab; damit wird es jedoch sinnlos, mit staatlichen Strafen Sühne erreichen zu w o l l e n 2 ^ . Gegen die Identifizierung von Strafe und Sühne wendet sich mit theologischen Argumenten auch Peter E d e r 2 9 4 . Er vertritt zwar die Ansicht, daß Sühne und Strafe das gleiche Ziel, den Ausgleich einer Ordnungsverletzung oder eines Verstoßes gegen den Willen Gottes intendieren, unterscheidet aber dahingehend, daß zu diesem Ziel die Strafe gegen den Willen des Bestraften von dazu befugten Autoritäten auferlegt wird, während die Sühne den Willen des Sühnenden voraussetzt, von sich aus nach den ihm möglichen Kräften für die Behebung des von ihm bedingten Unrechtsverhältnisses zu sorgen, indem er sich Beschränkungen unterzieht oder aktiv an der Restitution des Rechtsfriedens mitarbeitet. Der Unterschied in der Haltung des Delinquenten ist also deutlich: "Der Bestrafte ist nur passiv, während der Sühnende aktiv i s t " 2 9 ^ . Sühne als aktiver Prozeß impliziert ein verantwortliches Übernehmen 2 9 ^ der mit der Tat evozierten Folgen, die sich sowohl in der Strafe als auch in der Bereitschaft zur Wiedergutmachung zugunsten des Geschädigten ausdrücken 2 9 ^. Falls die Wiederherstellung des Rechtszustandes vor der Tat nicht möglich ist 2 9 **, sollte die Bereitschaft zu verantwortlicher Sühne dem Täter auf dem Gnadenwege als Ersatz der Handlung angerechnet werden2". Das von Eder entfaltete Sühneverständnis brachte einen Fortschritt in die Diskussion, indem Strafe und Sühne getrennt und Sühne aktiv als selbstverantwortliches Tun interpretiert wurde. Doch blieb die Sühneleistung personalistisch an den Täter gebunden. Eine auf biblischen Befunden aufbauende Erweiterung des Sühnebegriffs leistete der katholische Theologe W i e s n e t 3 0 0 . Er kommt aufgrund von Untersuchungen alttestamentlicher Texte zu tiefgreifenden anthropologischen und theologischen E r kenntnissen, die sich in den Sätzen zusammenfassen lassen: "Nicht der Mensch . . . kann sich aus eigener Kraft durch seine Sühneleistung v e r söhnen. Er muß versöhnt werden! Er ist zutiefst angewiesen auf ein Versöhnungsangebot . Jahwe ist darum stets der, der den ersten Schritt der Versöhnung macht, der auf den Täter zugeht"301. Wiesnet stellt h e r aus, daß es im Alten Testament im Gegensatz zum traditionellen Sühneverständnis nicht um eine Restitution einer verletzten Rechtsnorm geht, sondern um das Erreichen des Zustandes des 'schalom', der Wiedererrichtung der Gemeinschaft zwischen Täter, Gott und Mitmensch, wobei Sühne und Versöhnungsangebot eng korrelieren: "Sühne ist also kein Strafakt, sondern ein H e i l s g e s c h e h e n " 3 0 2 , Dieses Sühneverständnis wird entwickelt auf der Grundlage des alttestamentlichen 'tsedaka'-Begriffs, der kein strafrechtliches Prinzip, sondern privatrechtliche Strukturen beinhaltet. Der Mensch in der Schuld wird von Jahwe ernstgenommen und
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angesprochen. "Die im Gericht über den Menschen zum Ausdruck kommenden 'Strafen' und Tatfolgen sind nicht Schritte zu Tod und Vernicht u n g , sondern hin zum Heil und Erbarmen. Tsedaka bedeutet somit f ü r den Menschen s t e t s Hilfe, R e t t u n g , Erlösung und Heil" 3 0 3 . Wiesnet v e r folgt die "Kontinuität des Themas der Gerechtigkeit" im Neuen Testament und kommt zu dem Ergebnis, daß es in enger Beziehung zum Gottesbild s t e h t : Die Botschaft Jesu vom nahen und befreienden Gott beinhaltet die Verkündigung der neuen Gerechtigkeit, die "uneingeschränkt b e f r e i e n den, z u k u n f t s e r ö f f n e n d e n Charakter" t r ä g t 3 ° 4 . Auch die paulinische Theologie geht von der G r u n d ü b e r z e u g u n g a u s , daß der Schuldige nicht von sich aus sühnen k a n n , sondern auf die Versöhnungsbotschaft angewiesen i s t , deren Annahme die Gottesbeziehung e r n e u e r t . Aus dem Befund folgt, daß Sühne in Analogie zu biblischen Auss a g e n 3 0 ^ nicht mehr im Sinne von Vergeltung zu verwenden i s t , sondern ein Element des dialogischen Prozesses der Versöhnung darstellt 3 0 ®. Der anthropologische Hintergrund des Sühneverständnisses besteht in einer Sicht des Menschen als eines "bis in die Tiefen seiner Existenz hinein auf Anrede und Angebot von Gemeinschaft" angewiesenen Wesens. Das bedeutet in der ethischen Umsetzung, "daß der Imperativ zur Umkehr den Indikativ eines vorausgehenden Versöhnungsangebotes e r f o r d e r t " 3 0 ^ . Die von Wiesnet vorgelegte Herausarbeitung der dialogischen und zuk u n f t s e r ö f f n e n d e n Implikationen der Sühne in enger Relation zum soteriologisch gefüllten Versöhnungsbegriff ist als ergänzende Weiterentfaltung des von Barth formulierten christologischen Ansatzes sowohl individual als auch sozialethisch relevant. Wilhelm Dantine setzt v o r a u s , daß das Versöhnungsmotiv nicht einem allgemein ethischen Forderungskatalog e n t s p r i n g t , "sondern einem Motivationshorizont, der aus dem Zentrum christlichen Glaubens h e r v o r g e h t " 3 0 ^ . Er schließt d a r a u s , daß im christlichen Handeln nicht die Durchsetzung von O r d n u n g s s t r u k t u r e n im Vordergrund stehen k a n n , sondern die aus der Gewißheit der Versöhnung erwachsende Ü b e r p r ü f u n g aller Gebote und konkreten Weisungen u n t e r der F r a g e , ob sie der "Versöhnung u n t e r Menschen dienlich sein können" 3 0 ^. Die Präferenz der Versöhnungsbotschaft als ethischer Basis christlicher Existenz bezieht sich auf den einzelnen Menschen in seiner 'Ich-Du-Relation' zu Gott und Mitmensch u n d zugleich auch auf seine 'Wir-Relation' als Teil der Gesellschaft. Während in der Vergangenheit Versöhnung individualethisch 3 l° i n t e r p r e t i e r t w u r d e , ist ihr nun auch eine sozialethische Perspektive erschlossen: "Das im Glauben e r k a n n t e Versöhntsein der konkreten geschichtlichen Einzelperson in ihrem Verhältnis zu anderen Individuen wie auch zu seinem konkreten gesellschaftlichen Gegenüber muß sich im ethischen Handeln der Einzelnen wie auch gesellschaftlicher Gruppen und deren Repräsentanten wie Nation, Klasse, Staat oder Kirche darin kundtun,, daß der jeweils andere generell angenommen w i r d " 3 H . Die ethische Forderung nach Versöhnung und Annahme zielt auf die Realisierung des im Glauben e r -
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f a h r b a r e n Entsühntseins als Basis Zukunftseröffnender Perspektiven. Diese theologische Grundlagendiskussion, die tiefgreifende Bedeutung f ü r die Seelsorgetheorie besitzt, steht in einer u n ü b e r s e h b a r e n Spann u n g zu den Rahmenbedingungen poimenischen Handelns innerhalb der totalen Institution Justizvollzugsanstalt und einer Gesellschaft, die das Versöhnungsangebot dem Delinquenten verweigert. Auch wenn es gelingt, in der konkreten seelsorgerlichen Interaktion zwischen Inhaftierten und Gefängnispfarrer die Versöhnungsbotschaft zu verbalisieren und im Symbol der Annahme e r f a h r b a r zu machen, eignet dieser i n t e r personellen Wirklichkeit die Qualität einer Utopie·*1^ j n Relation zum gesamtgesellschaftlichen Kontext der Abwehr. Gerade u n t e r diesem Spannungsbogen erscheint es notwendig, die Versöhnungsperspektive als Grundmotivation seelsorgerlichen Handelns im Strafvollzug durchzuhalt e n , da sie es ermöglicht, einem Menschen, der sich oftmals als d u r c h gängige E r f a h r u n g einem Prozeß sozialer Stigmatisierung unterworfen erlebt, die Chancen zu e r ö f f n e n , das Gefühl zu bekommen, a n g e s p r o chen und in seinem Sein ernstgenommen zu werden. Dieser Ansatz impliziert die Hoffnung, daß aus der - wenn auch punktuellen - E r f a h r u n g der Annahme modellhaft Perspektiven und Kräfte erwachsen, die es dem Inhaftierten ermöglichen, die e r f a h r e n e Ablehnung zu relativieren. Hier ist noch einmal ein Gedanke Dantines aufzunehmen, der b e t o n t , daß reale Utopien niemals ohne individuelle und kollektive Fantasie denkbar s i n d . Im Vertrauen auf die Zielwirklichkeit der Versöhnung wird ihre geschichtliche Verwirklichung in die Kompetenz b e g r e n z t e r , k r i t i s c h e r , k o r r i g i e r b a r e r oder kritisierbarer oder u n t e r Umständen a u f h e b b a r e r Entwürfe übergeben und damit Freiheit, Mündigkeit und Verantwortlichkeit des Menschen " g e w ä h r l e i s t e t " ^ ^ . 1
6.2.6 Traditionelle christliche Symbole^ 1 ^ im seelsorgerlichen Umgang mit Schuld und Strafe Ist die Versöhnungsbotschaft als Motiv seelsorgerlichen Handelns relev a n t , so gewinnt die Seelsorge gegenüber anderen Methoden eine s p e zifische Gestalt, indem sie in und aus dem Traditions Zusammenhang christlicher Symbole Wirklichkeit erfaßt. Christliche Seelsorge geht nicht von einem optimistischen Welt- und Menschenbild a u s , sondern integriert die Antagonismen und Schuldfähigkeit der menschlichen Existenz in die Theorie: Der Mensch gewinnt nicht dadurch Qualität, daß er fehlerfrei Gültiges h e r v o r b r i n g t , sondern er ist Person in seinem b r u c h h a f t e n Sein zwischen Freiheit und Versagen, das von Gottes v e r g e b e n d e r Gnade je getragen i s t . Daher eignet dem Inhaftierten in seiner Schuld keine besondere Qualität als Sünder, die ihn vom P f a r r e r oder der Gemeinde außerhalb der Mauern
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u n t e r s c h e i d e t . Das Symbol der Solidarität der Sünder verbindet im Angewiesensein auf Gottes gnädigen Freispruch Pastor und Pastoranden im poimenischen Vollzug. Die Aufgabe des Seelsorgers besteht demgemäß in der Erschließung einer glaubensmäßigen Existenz f ü r den Inhaft i e r t e n . Das geschieht zuerst einmal auf der verbalen Ebene, die allerdings n u r an Tiefendimension gewinnen k a n n , wenn der Gefangene im Verhalten des G e f ä n g n i s p f a r r e r s das Gefühl der solidarischen Annahme vermittelt bekommt. Hierbei ist zu b e d e n k e n , daß der Delinquent von der leidvollen E r f a h r u n g als ein Mensch geprägt i s t , dessen Handeln durch das Gerichtsurteil als negativ und ablehnend bewertet worden i s t . Sein Grundproblem besteht d a r i n , das Urteil und damit die Negativbeurteilung seiner selbst zu übernehmen oder sich von ihm zu distanzieren, was zu einer V e r d r ä n g u n g der Schuldproblematik f ü h r e n muß. Die formale Bindung der Schuld an die Straftat verhindert eine bewußte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. So verbindet sich persönliches Unwertgefühl mit einem unbewußten Erkennen "einer Existenzschuld im Sinne existentieller Resignation, Verfehlung und Verkümmerung vorhandener Lebensmöglichkeiten"315. in diesem Spannungszustand und den d a r aus entstehenden Konflikten, dessen Ursachen dem Einzelnen oft nicht e r k e n n b a r sind, benötigt er konkrete Hilfe zur existentiellen Verarbeit u n g ^ l ß . Der Seelsorger kann im Bewußtsein der Solidarität des Sünders unabhängig vom wertenden Tat-Urteils-Zusammenhang dem Inhaftierten auf menschlicher Ebene b e g e g n e n . Die "normale Begegnung von Menschen"317 i m seelsorgerlichen Kontakt als Konkretion von wertfreier Annahme kann f ü r den Inhaftierten eine neue Dimension des Selbstverständnisses e r ö f f n e n und ihm Hilfe bieten, über die Zusage und E r f a h r u n g des Wertvollseins f ü r Gott und den Gesprächspartner Kraft zu finden, mit den beschwerenden Fragen der Schuld umzugehen. Der Umgang mit dem Symbol der Annahme e r f o r d e r t f ü r den Seelsorger die Selbstannahme des Sünderseins vor Gott und die eigene Einsicht auf Angewiesensein, auf Annahme. Dieser Reflexionsprozeß ist Voraussetzung f ü r eine Identifikation318 m j t dem Pastoranden, die einen helfenden seelsorgerlichen Prozeß zu initiieren vermag, aber nicht ersetzen k a n n . Die heilenden Strukturen der interpersonellen Kommunikation des Seelsorgekontaktes werden erst dann t r a n s p a r e n t , wenn sich der Seels o r g e r bemüht, die in seinem Glauben erlebte versöhnende Annahme dem Inhaftierten zu vermitteln. Ein weiteres Symbol zur Deutung von Seelsorge im Gefängnis ist 'Barmherzigkeit', das sowohl motivations- wie prozeßbeschreibenden Charakter besitzt. Für den Gefängnispfarrer Schäfer liegt in dem Wort: "Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist, und richtet nicht", (Lk 6,36f) ein Motiv menschlichen Miteinanders, in dem "ein Stück einer neuen Gerechtigkeit"319 und zugleich Nähe zu verwirklichen i s t , in der der Seelsorger auf das richtende Festlegen des Menschen, "auf d a s , was er getan hat"^ 2 ®, verzichtet. Barmherzigkeit ist als die Form der Liebe
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zu verstehen, die "dem Schuldigen sein Schuldigsein nicht zum Vorwurf macht", sondern ihn darin begleitet. Damit werden in dem Bewußtsein, "daß das Heilwerden oft nur auf einem langen Weg erreichbar ist", Perspektiven der Hoffnung entfaltet. Barmherzigkeit setzt dort ein, wo Menschen an der Diskrepanz erfahrener Lebenswirklichkeit und fremder Ansprüche leiden, in ihrer Hilflosigkeit resignieren und zu vereinsamen drohen. Sie ist im Sinne des Heilshandelns Jesu ein eschatologisches und gegenwartsbezogenes Symbol, das delinquenzmindernd weil gemeinschaftsbildend wirkt und ein adäquates Motiv darstellt, "der besonderen Verletzlichkeit der Straffälligen zu begegnen: einer Verletzlichkeit, die sich zum einen in einer tiefen Ungeborgenheit ausdrückt (Vergangenheitsaspekt), zum anderen in der Frage, wie es weitergeht ( Z u k u n f t s a s p e k t ) " 3 2 1 . Unter dem Gedanken der Vermittlung von Nähe ist ein Topos traditioneller Gefangenenseelsorge wieder neu zu aktualisieren. Piper stellt heraus, daß Trost nicht nur auf verbaler Ebene, sondern auch im Bereitsein des Seelsorgers , dem Pastoranden Raum zur Artikulation des Leids zu geben, heilende Wirkung erreicht. Entscheidend für das 'Trost-Amt' des Gefangenenseelsorgers ist die Kategorie der "Erfahrung", daß in der seelsorgerlichen Begleitung dem Gefangenen die Chance eröffnet wird, seinen Leidensdruck anzusprechen, ohne bedrängt zu werden. Im gemeinsamen Ertragen der Last der Schuld liegt ein Weg für den Täter, sich deren Tiefe leidvoll bewußt zu werden und so, das eigene Schicksal reflektierend, zu Ansatzpunkten der Befreiung zu f i n d e n " ^ . In der Anwendung christlicher Symbole innerhalb der Gefangenenseelsorge wird nicht der Weg einer strengen Anwendung einer definierbaren Methode gekennzeichnet. Die Kraft dieser Symbole liegt vielmehr darin, Interpretationsangebote zur Bewältigung der Schuldproblematik des Inhaftierten zu geben, die ihn nicht einengen, sondern den von der Versöhnungsbotschaft aufgezeigten Prozeß der Heilwerdung im seelsorgerlichen Kontakt existentiell annehmbar machen. Inhaftierter und Seelsorger begegnen sich auf der Ebene gemeinsamer anthropologischer Befindlichkeit, die sie in dialogischer verbaler und emotionaler Kommunikatipn verbindet. Die Solidarität der Sünder e r möglicht einen nichtwertenden Dialog, aus dem der Gefangene die Kraft eines erwachsenden Selbstwertgefühls gewinnen kann, das ihm das Aufarbeiten defizitärer Sozialstrukturen erleichtert. Getragen wird dieser Prozeß von interaktioneil erlebbaren Symbolen der Hoffnung und Versöhnung, die den Seelsorger nicht nur motivieren, sich dem Gefangenen in seiner Schuldhaftigkeit auch über Rückfälle hinaus immer wieder zuzuwenden, sondern auch die Gesellschaft und den Strafvollzug immer dort kritisch zu befragen, wo die Anerkennung des Schuldigen als gleichwertiges Mitglied verhindert wird.
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Das theologisch grundlegende Kriterium der Versöhnung, das individual ethisch den Seelsorgekontakt über die Symboltradition bestimmt, gewinnt daher sozialethisch gesellschaftskritische Dimensionen: Die im Seelsorgevollzug symbolhaft als Kriterien einer annehmenden Gemeinschaft erlebbaren Strukturen gewinnen Modellcharakter für strukturelle Modifikationen innerhalb der Rechtsgemeinschaft. Versöhnung zielt in ihrem Kern auf die "Wiederherstellung des zerbrochenen Gleichgewichts"323 U nd der durch den Rechtsbruch gestörten Interaktion von Täter, Geschädigtem und Rechtsgemeinschaft. Der Erfolg dieses wechselseitigen Prozesses hängt davon ab, ob die strafende Gemeinschaft die Vorgabe der Versöhnungsbereitschaft zu leisten bereit ist. Denn es wird nicht zu erwarten sein, und es widerspricht der theologischen Interpretation von Strafe, daß der Täter sich mit sich selbst versöhnen, mit seiner Schuld selbstverantwortlich fertigwerden und seine innere Einstellung zu den Forderungen der Rechtsgemeinschaft modifizieren kann, wenn die Gesellschaft Integration verweigert und den Täter in die Isolation treibt. Sühne, deren ethische Konsequenz die Bereitschaft des Täters zur Wiedergutmachung und die Bereitschaft der Gesellschaft, die Wiedergutmachungsleistungen anzunehmen, impliziert, beschreibt einen dynamischen Prozeß innerhalb der Strafüberwindung, an dessen Ende die volle Restitution der Interaktionschancen des Rechtsbrechers stehen muß. Naegeli hält die gegenwärtige Strafpraxis, in der der Verurteilte nicht als Versöhnter, sondern als Stigmatisierter wieder in die Freiheit entlassen wird, sicher mit Recht für ein unchristliches Verhalten der Sozietät^ 1 *. Erst wenn die Gesellschaft in einem " L e r n p r o z e ß " 3 2 5 bereit ist, die Konsequenzen gesellschaftlicher Mitschuld an Kriminalität zu reflektieren, wird es möglich sein, mit der Strafe nicht nur heteronom vergeltend die Rechtsordnung gegen den devianten Menschen durchzusetzen.
6.2.7 Ethik und Strafvollzug: Gemeinsame und trennende Strafinterpretationen zwischen Juristen und Theologen im Blick auf das Arbeitsfeld der Gefangenenseelsorge Die Verwendung bestimmter Termini wie Recht, Gerechtigkeit, Schuld und Sühne innerhalb theologischer und juristischer Reflexion verweist auf die ursprünglich enge Verbindung von Recht und Religion. In der neuzeitlichen Entwicklung zeigte sich deutlich, daß beide Bereiche aufgrund ihrer unterschiedlichen Sinnsysteme immer stärker divergierten. Es ist in der Theoriediskussion ein Prozeß der Entfremdung beider Wissenschaften zu konstatieren, der sich darin ausdrückt, daß theologischethische Ausführungen zum Bereich der Stafe in der strafrechtsdogmatischen Diskussion nur sehr vermittelt oder fast gar nicht rezipiert werden und andererseits eine theologische Auseinandersetzung mit Strafrechtsfragen kaum stattfindet326_ Dj e Praxis der Gefangenenseelsorge
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ist traditionell d e r O r t , an dem Theologen gefordert sind, zu den Konsequenzen und Intentionen staatlichen Strafens Stellung zu nehmen. Während auch nach dem Zweiten Weltkrieg lange Jahre der Ist-Zustand des vergeltenden und verwahrenden Strafvollzuges von den Gefangenenseelsorgern als vorgegebener Rahmen ihrer Aufgaben zumindest toleriert wurde, ist seit Beginn der Strafvollzugsreformdiskussion in den 60er J a h r e n deutlich eine Entwicklung festzustellen, innerhalb d e r e r sich Gefangenenseelsorger gegen die bestehenden S t r u k t u r e n des Vollzuges a u s sprachen und mit humanwissenschaftlich orientierten Strafrechtswissenschaftlern eine Wandlung des Systems in Richtung auf ein interaktioneil ausgerichtetes und sozialisierendes Modell f o r d e r t e n . Die systemkritische H i n t e r f r a g u n g wurde von zwei die Gefangenenseelsorgetheorie bestimmenden Faktoren initiiert und g e t r a g e n : Die v e r s t ä r k t e Rezeption und Weiterentwicklung des Ansatzes Barths zu einem friedensrechtlichen Verständnis von Strafe und Vollzug und die theologische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen humanwissenschaftlicher Forschung. Beide Tendenzen bewirkten, daß die - in der Zeit des Dritten Reiches u n t e r b r o c h e n e - Tendenz, Gefangenenseelsorge als Sorge um den Menschen in der Strafe .zu gestalten, aktualisiert werden konnte. Die theologischen Anfragen mußten konsequent an zwei zentralen Problemstellen des Strafvollzuges ansetzen. Vorrangig war die Kritik der historisch gewachsenen S t r u k t u r e n des Verwahrvollzuges, der "an den Buchstaben des Gesetzes" (der Dienst- und Vollzugsordnung) orientiert war, den "betroffenen Menschen nicht gerecht" wurde^ 2 ? und die gesellschaftliche Verflechtung von Schuld und Strafe negierte. Berechtigte Widerstände erwuchsen auch d o r t , wo in der Forderung nach Behandlung Vorstellungen entwickelt wurden, den Gefangenen allein sozialisierenden Maßnahmen zur Rückfallverhinderung zu u n t e r w e r f e n und Legalmachung im Sinne utilitaristischer Anpassung an n i c h t h i n t e r f r a g t e Normen zu i n t e r p r e t i e r e n d e _ Das f ü r die Gefangenenseelsorgetheorie normative Kriterium der Versöhn u n g relativierte Effektivitätsaspekte, die allein die Rückfallsfreiheit als Maßstab zur Bewertung eines Täters zulassen. Soziales Versagen auch nach einem durchlaufenen Strafvollzug ist ethisch kein G r u n d , den Täter mit dem Verdikt eines hoffnungslosen Falles zu v e r s e h e n , sondern vielmehr eine Herausforderung - nicht n u r f ü r den Seelsorger - , sich intensiv mit den individuellen Problemen des Menschen in seiner sozialen Problemlage auseinanderzusetzen. Hierbei evozieren christliche Symbole wie 'Vergebung' u n d 'Annahme' die Solidarität des Seelsorgers mit dem Delinquenten und zugleich eine kritische Distanz gegenüber inhumanen gesellschaftlichen Erwartungen an den Justizvollzug. Im gleichen Kontext ist aber auch zu zeigen, daß die Präferenz der V e r s ö h n u n g s f o r d e r u n g Verständigungsmöglichkeiten mit der modernen Strafvollzugswissenschaft e r ö f f n e t e , die aus sozialwissenschaftlichen Erwägungen das Rückfälligkeitskriterium immer s t ä r k e r relativiert h a t .
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Diese Erkenntnis ist paradigmatisch f ü r eine interessante Entwicklung in den letzten J a h r z e h n t e n : Auf das Basis gemeinsamer humanwissenschaftlicher Orientierung innerhalb theologischer und vollzugswissenschaftlicher Theoriediskussion wurden trotz unterschiedlicher Ansätze vergleichbare Zielformulierungen entfaltet. Interdependenzen in den Aussagen lassen sich aufzeigen in der dialogischen Sicht des Menschen in der S t r a f e , die eine Abkehr vom statischen normativen S t r a f - und Vollzugsdenken ermöglicht h a t . In der Erkenntnis der multifaktorellen Entstehung von Schuld, die nicht mehr allein beim Täter lokalisiert wird, ist eine gemeinsame Gesprächsebene e r ö f f n e t . Die Forderung nach einem Strafvollzug, der von dem Willen der Rechtsgemeinschaft getragen i s t , dem Rechtsbrecher volle Partizipations- u n d Interaktionschancen nach der S t r a f v e r b ü ß u n g zu e r ö f f n e n , wird von schöpfungstheologischen und strafsoziologischen Argumenten gleichermaßen gestützt. Die im Alternativentwurf entfaltete und auch ins Strafvollzugsgesetz eingegangene Tendenz zu einer weitestgehenden Angleichung der Vollzugsbedingungen an die Bedingungen der 'Freiheit' ist korrelierbar mit der von Gefangenenseelsorgern erwünschten Wahrung der Menschenwürde auch u n t e r den Bedingungen der Freiheitsstrafe. Die u n t e r dem Topos 'Gerechtigkeit Gottes' aus biblischer Reflexion erwachsene Vorstellung einer evolutionären Entwicklung des S t r a f r e c h t s zu einer auf Wiedergutmachung und Versöhnung ausgerichteten Rechtspflege steht parallel zu Überlegungen, z . B . im J u g e n d s t r a f r e c h t ganz auf freiheitsentziehende Maßnahmen zu verzichten und in der S t r a f r e c h t s s p r e c h u n g von k u r z e n Freiheitsstrafen Abstand zu nehmen. Diese stichwortartige Aufzählung ist als Beleg d a f ü r zu v e r s t e h e n , daß im Bereich der Strafvollzugsdiskussion eine deutliche Profilierung der theologischen Argumentation im Sinne eines Votums zur Humanisierung des Justizvollzuges s t a t t g e f u n d e n h a t , eine Entwicklung, die in der T r a dition der Gefangenenseelsorge nach Wichern zu v e r s t e h e n i s t . Damit sind die Gefangenenseelsorger in den letzten Jahrzehnten in die Lage versetzt worden, k o n s t r u k t i v zu Problemen des Strafvollzuges aus theologischer Reflexion Position zu beziehen und Partei f ü r den Menschen im Strafvollzug zu e r g r e i f e n . Zugleich können die nach dem Zweiten Weltkrieg e r k e n n b a r e n Tendenzen als überwunden gelten, staatliche Konzeptionen kritiklos anzuerkennen oder staatliches Strafen vermittels theologischer Theorie zu legitimieren. Für die nachfolgende Untersuchung der Gefangenenseelsorgepraxis nach dem Zweiten Weltkrieg ist es von erkenntnisleitendem I n t e r e s s e , der F r a ge nachzugehen, wie und in welcher Form die bisher aufgearbeitete theor e t i s c h e , theologische und juristische Diskussion um die Neugestaltung des Vollzugswesens in der Arbeit der Gefangenenseelsorger konkrete Umsetzung e r f a h r e n h a t .
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6.3 Entwicklungstendenzen in der Gefangenenseelsorge nach 1945 Im Vorwort des Sammelbandes 'Kirche f ü r Gefangene' aus dem Jahre 1980 betont die Mitherausgeberin Diestel, daß der Begriff 'Kirche' in seiner Ambivalenz innerhalb der Institution Justizvollzug und im Erleben der A n s t a l t s p f a r r e r zu einer "Klärung dessen zwingt, was heute der seelsorgerliche Auftrag im Strafvollzug ist". Die Widersprüche, mit denen k i r c h liche Aktivitäten innerhalb der Justizvollzugsanstalten umzugehen haben, ergeben sich auf verschiedenen Ebenen. Sie sind eng v e r b u n d e n mit der relativierten Bedeutung und Uneindeutigkeit kirchlichen Handelns im gesamtgesellschaftlichen Kontext: Die volkskirchliche Situation ist formal erhalten, aber die Ubereinstimmung der Mitglieder mit den Inhalten und Äußerungen im breiten Spektrum innerkirchlicher Meinungsbildung divergiert individuell je nach gläubiger, sozialer und politischer Einstell u n g . Kirche e r f ä h r t Ablehnung als Organisationsform überlebter Religion. Sie wird andererseits gefordert als ein Ort, an dem Antworten auf dringende Fragen persönlicher und sozialer Probleme formuliert und abgerufen werden können. In das Spektrum der allgemeinen Diskussion um kirchliche S t a n d p u n k t f i n d u n g ist auch die Gefangenenseelsorge mit eing e b u n d e n . Deren Rezeption und Selbstverständnis hat im Laufe der letzten Jahrzehnte spezielle Problembereiche deutlich werden lassen, die sowohl das Verhältnis der einzelnen Gefangenenseelsorger zu den Kirchenleitungen als auch zu den Vollzugsorganen v e r ä n d e r t h a b e n . Der Entwicklungsprozeß innerhalb der Gefangenenseelsorge seit 1945 soll p u n k tuell nachgezeichnet werden an Äußerungen und Themen der 'Konferenz der evangelischen P f a r r e r an den Justizvollzugsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin (West)'329 5 d e m Problemkreis der Dienstentfernungen von Gefängnispfarrern Anfang der 70er J a h r e , der Dissertation Stubbes über 'Seelsorge im Strafvollzug' und der Denkschrift der EKD 'Seelsorge in Justizvollzugsanstalten'.
6.3.1 Entwicklungstendenzen innerhalb der 'Konferenz der evangelischen P f a r r e r an den Justizvollzugsanstalten' In Weiterführung der Tradition des 1927 gegründeten 'Reichsverbandes der evangelischen S t r a f a n s t a l t s p f a r r e r Deutschlands' wurde 1950 in Bethel die 'Konferenz' neu k o n s t i t u i e r t . In der Arbeit standen zwei Hauptelemente im V o r d e r g r u n d : Die F ö r d e r u n g der Kommunikation und des Erfahrungsaustausche der Gefangenenseelsorger und die Weiterbildung in aktuellen, die Gefangenenseelsorge tangierenden theologischen, juristischen und erfahrungswissenschaftlichen Fragestellungen. Im Mittelpunkt der e r s t e n Konferenz stand die Diskussion und Verabschiedung der 'Grundsätze und Richtlinien f ü r die Gefangenenseelsorge an den Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland'330.
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Die 'Grundsätze' sind von dem Bemühen getragen, das breite Spektrum pastoralen Handelns in der Strafanstalt zu erfassen und die beamtenrechtlichen sowie organisatorischen Aspekte der Gefangenenseelsorge zu ordnen. In den Ausführungen zur 'Seelsorgetätigkeit' liegt das traditionelle Modell der Gefangenenseelsorge, die in die Vollzugsorganisation integriert ist, zugrunde. Zum Zwecke der Mitwirkung an der Sinnerfüllung der Strafe solle die Seelsorge "das Gewissen wecken und fördern und das Bewußtsein der persönlichen Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Gott und gegenüber den Angehörigen, den übrigen Mitmenschen und der Obrigkeit in den Gefangenen lebendig werden lassen"331. Die Bereitschaft, an der Gestaltung des Vollzugsablaufs mitzuwirken, wird besonders deutlich in den Ausführungen zum Stichwort 'Fürsorge' (§ 27) für die Gefangenen und deren Familien, die als ein "wesentlicher Bestandteil der Arbeit" gewertet wird. Der Seelsorger deckt in den 50er Jahren noch Aufgaben mit ab, die später dem Sozialstab überantwortet werden. Die Grundsätze implizieren analog zu den allgemeinen Tendenzen im Strafvollzugswesen keine innovatorischen Tendenzen, sondern formulieren mit Strukturelementen der Gefangenenseelsorge des ausgehenden 19.Jahrhunderts einen organisatorischen Neubeginn, der traditionell stabilisiert ist. Das damit verbundene Seelsorgeverständnis machen die Ausführungen des langjährigen Vorsitzenden der 'Konferenz' Knodt aus dem Jahre 1954332 deutlich, der sich gegen die "Betriebsamkeit" der Gefangenenseelsorge wendet, in der das "innere Leben" der Gefangenen zu kurz komme. Als Resümee seiner fast fünfzigjährigen Amtszeit gibt er seinen Amtskollegen den Rat: "Was am wichtigsten war, ist und bleibt, ist der stille Dienst am Einzelnen, ist die Liebes- und Helfertat von Gott her an der einzelnen ringenden und suchenden, wachzurüttelnden und von Christus her frohzumachenden Seele". Gefangenenseelsorge sollte sich auf den Bereich der privaten, inneren Sphäre des Pastoranden beziehen, gesamtgesellschaftliche Aspekte wurden bewußt ausgeschlossen. Der Nachfolger Knodts, Jürgensmeyer, reflektiert im gleichen Jahr die Tätigkeit des Gefängnispfarrers im Raum der Kirche und des Staates mit vernehmbar kritischem Unterton: "Und es hat den Anschein, als ob wir unbekümmert, als wäre nichts geschehen, in den Dienst des Staates träten und die alte Tradition mehr oder weniger restaurativ fortsetzen in dem Sinne der vorigen Generation und unserer Väter, die sich auf dem Boden der Ritschel'schen Theologie mit ihrem Motto von der religiös-sittlichen Ertüchtigung mit dem Staat fast besser vertrugen als mit der Kirc h e " 3 3 3 . Jürgensmeyer leitet damit einen Prozeß ein, der die Gefangenenseelsorge erst später nachhaltig bestimmen soll: Ein Eindenken in demokratische Strukturen, die den Staat nicht mehr als Obrigkeit verstehen lassen, sondern zu aktiver kritischer Mitarbeit herausfordern. Die Tagungsthemen der ersten K o n f e r e n z e n 3 3 4 lassen diesen Prozeß noch nicht erkennen. Neben grundsätzlich theologischen Diskussionen über
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'die Tragweite der Rechtfertigungsbotschaft', 'Vergebung' und die 'Predigt' stehen Fragen nach dem 'Sinn der Strafe' und die begründete Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie im Vordergrund des Interesses. Bemerkenswert ist hierbei die früh ansetzende Diskussion über die Relevanz humanwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Seelsorgearbeit. Einen Einschnitt in der Entwicklung stellt die "Denkschrift zur Lage des Stafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland'^35 a u s dem Jahre 1966 dar. Hierin wird erstmals mit dem Ausdruck des "Unbehagens" offene Kritik an den Strukturen des Verwahrvollzuges geäußert. Die Denkschrift erscheint in der Zeit der beginnenden Strafrechtsreformen und nimmt die "zuständigen Behörden und die Öffentlichkeit" in die Pflicht, Reformen des Vollzugswesens in Angriff zu nehmen. Die erkennbar formulierte Distanz zum staatlichen Vollzugswesen und die einsetzende Einsicht in die sozialen Interdependenzen des Resozialisierungsproblems prägen im weiteren die Arbeit der Konferenz. Vorausgegangen waren Themen, die die Rolle des Seelsorgers und seine Aufgaben bedachten: "Der seelsorgerliche Dienst an Gefangenen - Wege und Irrwege", "Theologen im Strafvollzug", "Überlegungen zum Thema: Kirche im Gefängnis - heute". Eine Phase ist erreicht, in der die Suche nach einem eigenständigen Rollenbild des Seelsorgers im Strafvollzug die Konferenz bestimmt. Auch eine Auseinandersetzung mit der Theorie staatlichen Strafrechts wird in der Diskussion alternativer Vorstellungen forciert. So referieren Bianchi, Naegeli und Molinski ihre humanwissenschaftlich-theologischen Modelle eines friedensrechtlichen Strafverständnisses. Für die weitere Diskussion bestimmend werden die "Überlegungen und Gedanken zum Thema: Standortbestimmung des evangelischen Pfarrers im Strafvollzug heute und morgen" auch im Blick auf das in der Diskussion befindliche Strafvollzugsgesetz. Der neue Vorsitzende Weigelt fordert 1971 programmatisch im Blick auf die inzwischen breite Vollzugsdebatte, an der die Konferenz aktiv Anteil nimmt336; und die Differenzierung der Dienste im Justizvollzug, daß unabdingbar sei, den "Standort" der Gefangenenseelsorge neu zu bestimmen·^'. Die Standortbestimmung wird versucht einmal im "Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat" und zum anderen in der Frage der "Identität des Pfarrers im Strafvollzug". Dahinter steht das noch zu keinem definitiven Ergebnis gebrachte Bemühen, losgelöst von staatlichen Vollzugs zielen eine Identität der Inhalte pastoraler Tätigkeit zu formulieren und zugleich Hilfen zur Identitätsfindung in der Aufnahme erfahrungswissenschaftlicher Ergebnisse in der Seelsorgetheorie zu erlangen. So erwartete man Anregung zu 'Modellen pastoralen Dienstes' aufgrund humanwissenschaftlicher Seelsorgemodelle und gruppendynamischer Aspekte im Seelsorgevollzug, neue Einsichten für die 'Ehe- und Familienberatung' oder Innovationen aus sprachwissenschaftlich orientierter Homiletik für die "Predigt im Gefängnis".
- 278 Auch wenn die Konferenz zu Beginn der 80er Jahre immer noch im Prozeß der 'Suche' begriffen ist - hier lassen sich deutliche Parallelen zur Entwicklung innerhalb der Strafvollzugsdiskussion aufzeigen so hat sie doch ihr Selbstverständnis 1975 richtungweisend in dem "Wort zum Dienst der Kirche im Justizvollzug"338 bisher unrevidiert markiert. Auf dem Hintergrund der im Problemfeld der Gefängnisskandale und der Terroristenbetreuung unüberbrückbar aufgetretenen Spannungen zwischen Pfarrern, Vollzugsbehörden und Kirchenleitungen formuliert die Konferenz ihren Wunsch, weiterer "Polarisierung" entgegenzutreten. Zugleich wurde aber festgehalten, daß Gefangenenseelsorge "ein wesentlicher, unaufgebbarer Teil kirchlicher Tätigkeit" i s t , der in einem "Spannungsfeld" der unterschiedlichen Zielvorstellungen der Institutionen und gegensätzlicher Erwartungshaltungen der Bediensteten und Inhaftierten geschieht. Die Konferenz will in diesem Konfliktfeld grundsätzlich ihre Verantwortung darin wahrnehmen, daß sie ihren Auftrag als "Praxis des Evangeliums von J e sus Christus" im Dienst der "Versöhnung" charakterisiert. Die Seelsorge gilt als Hilfsangebot uneingeschränkt und versucht, in Bereitschaft zum Gespräch mit jeder Seite Gegensätze abzubauen und dadurch zum Frieden zu verhelfen. Sind Konflikte aber nicht zu umgehen, soll eindeutig Partei ergriffen werden "für die Schwächeren und im Aushalten bei den Leidenden, als Stimme der Stummen und als Sachwalter der Ohnmächtigen, in Kritik von Veränderungsbedürftigem und in Ermutigung zu Neuem". Die Relevanz dieses 'Wortes zum Dienst' besteht darin, daß es als Papier der Konferenz Anspruch erheben kann, die Position der evangelischen Gefangenenseelsorger in der Bundesrepublik wiederzugeben, sowohl politisch in der Abgrenzung vom staatlichen Dominanzanspruch als auch theologisch in der Zuwendung zur Präferenz der Versöhnungsbotschaft für die Gefangenenseelsorge. Wie weit und grundlegend sich das Selbstverständnis und die Emanzipation der Gefangenenseelsorger in den letzten Jahren entwickelt haben, zeigt ein Vergleich des 'Wortes' mit der Stellungnahme zur Gestaltung der Seelsorgeregelung im Strafvollzugsgesetz für die Strafvollzugskommission aus dem Jahre 1968, die ganz in Anlehnung an das Modell von 1950 Gefangenenseelsorge nahezu 'technisch' in der Aufzählung ihrer Aufgaben beschrieb339.
6.3.2 Identität und staatliche Macht: Der Bruch der inhaltlichen Verbindung zwischen Gefangenenseelsorge und Strafvollzug Für die Entwicklung der Geschichte der Gefangenenseelsorge in Deutschland war es völlig neu und folgenreich, daß es zu offenen Auseinandersetzungen zwischen Gefangenenseelsorgern und Vollzugsorganen über die inhaltliche Gestaltung des Seelsorgeauftrages kam.
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Die menschenverachtende Behandlung von Inhaftierten in der Justizvollzugsanstalt Mannheim, an deren Veröffentlichung der Gefängnispfarrer Frettlöh maßgeblich beteiligt war, führte 1974 zum viel beachteten 'Gefängnisskandal', in dessen Folge leitende Mitarbeiter des Anstaltsstabes entlassen und angeklagt wurden. Frettlöh vertrat die Überzeugung, daß ein Gefängnispfarrer nur glaubwürdig sein könne, wenn er Partei für die Schwachen im Vollzug ergreift und somit von seinen demokratischen Rechten Gebrauch macht, notfalls in Konfrontation zu der Vollzugsleitung Kritik zu üben, um die Rechte der Gefangenen d u r c h z u s e t z e n 3 ^ . Die unverantwortlichen subkulturellen und kustodialen Verhältnisse in Mannheim führten ihn in scharfe Opposition zur Beamtenschaft. Als Gegenreaktion beurteilte der Vollzugsstab seine seelsorgerlichen Aktivitäten als Sicherheitsrisiko für die Anstalt. Frettlöh informierte die Kirchenleitung über die skandalträchtigen Zustände und das gespannte Verhältnis zur Anstaltsleitung. Wegen eines belanglosen Vorfalls - ein Untersuchungsgefangener nutzte ein Telefongespräch Frettlöhs, um eine kurze Nachricht weiterzugeben - wurde er wegen 'Begünstigung im Amt' vom Anstaltsleiter vom Dienst suspendiert. In der folgenden Gerichtsverhandlung im März 1975 rechtfertigte Frettlöh seine Haltung zu den Justizproblemen in Mannheim unter Rückbezug auf Barths theologische Reflexion der Strafe, konnte aber den konkreten Vorwurf der Begünstigung nicht ausräumen. Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Kirchenleitung war bestrebt, weitere Konflikte zu verhindern und schlug die Rückkehr in ein Gemeindepfarramt vor; Frettlöh war nicht bereit, auf eine Weiterarbeit im Strafvollzug grundsätzlich zu verzichten. Der Vorsitzende der 'Konferenz 1 äußerte in einem Schreiben an den badischen Landesbischof den Unmut der Gefängnispfarrer angesichts der Tatsache, daß der Justizminister des Landes Baden-Württemberg Frettlöh in keiner Vollzugsanstalt des Landes mehr zum Dienst zulassen wolle, gleichgültig wie das Verfahren gegen ihn in letzter Instanz ausginge 3 "*!. Der Brief endete mit der Bitte an die Landeskirche, sich für die Weiterverwendung Frettlöhs als Strafanstaltspfarrer einzusetzen, aber die Rückkehr in den Staatsdienst blieb ihm verwehrt. Kurze Zeit nach dem Fall Frettlöh kam es in Berlin auf Veranlassung des Justizsenators zu Entlassungen von Pfarrern, die sich um Inhaftierte der Bader-Meinhofgruppe b e m ü h t e n 3 ^ . j n Frankfurt wurde trotz einer Vertrauenserklärung der Kirchenleitung der Anstaltspfarrerin J ü r g e s aus nicht näher spezifizierten Sicherheitsgründen von den Vollzugsorganen nach zweijähriger Tätigkeit jeglicher Zugang zu Inhaftierten v e r s a g t . Zu einem vergleichbaren Fall kam es auch in Bayern. Die Pfarrersuspendierungen hatten vielschichtige Auswirkungen für die Entwicklung der Gefangenenseelsorge. Unter den Seelsorgern herrschte der Eindruck vor, daß staatliche Organe unter dem Vorwand nicht mehr gegebener gedeihlicher Zusammenarbeit oder angeblicher Sicherheitsrisiken Pfarrer aus den Anstalten entfernten, die bewußt Partei für die In-
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teressen diffamierter oder mißhandelter Gefangener ergriffen hatten und Mißstände anprangerten. Dieses Vorgehen wurde als massiver Eingriff in die theologisch begründete Freiheit der Seelsorge erlebt. Die zurückhaltende Reaktion der Kirchenleitungen machte deutlich, daß es an Konfliktstrategien zwischen Staat und Kirche zur Durchsetzung berechtigter Interessen fehlte und zum anderen, daß die Kirchenleitungen nur unzureichende Einsicht in die Probleme des Arbeitsfeldes Gefangenenseelsorge hatten und daher nur bedingt in der Lage waren, sachgemäß Stellung zu nehmen. Deutlich blieb als Ergebnis dieser Phase eine kritische Haltung gegenüber der bis dahin relativ selbstverständlichen institutionellen Verzahnung von seelsorgerlichem Dienst in die Vollzugsarbeit. Umso stärker wurde die Forderung nach einem größeren Freiraum der Gefangenenseelsorge laut, verbunden mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Identitätsfindung, die zu einer Stabilität in der Abgrenzung von staatlichen Ansprüchen führen kann. Als Spätfolge der Auseinandersetzungen und als ein Versuch, Differenzen zwischen Seelsorger und Vollzugsleitung vor der Eskalation beizulegen, ist die "Vereinbarung über die Errichtung einer gemeinsamen Schlichtungsstelle zwischen dem Hessischen Minister der Justiz und der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau" aus dem Jahre 1979343 z u interpretieren. Die Schlichtungsstelle aus Vertretern der Justiz und der Kirchenleitung ist zuständig "in den Fällen, in denen es bei der Anwendung der Bestimmungen über den Justizvollzug und die Untersuchungshaft auf die Tätigkeit der Anstaltspfarrer zu Schwierigkeiten kommt, die auf andere, gütliche Weise nicht beigelegt werden können" (§ 3). Sie ist nicht kompetent für Fragen der Ausübung der Ordinationsrechte (Schutz der seelsorgerlichen Freiheit) und der Gefährdung der Sicherheit des Vollzugs (Absicherung der Vollzugsansprüche).
6.3.3 Gefangenenseelsorge und Identitätsfindung: Orientierung an humanwissenschaftlichen Ansätzen Wie schon dargestellt, waren die Jahrestagungen der 'Konferenz' stets ein Forum zur Diskussion der Relevanz humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden für die Gefangenenseelsorge. Das erkenntnisleitende Interesse bezog sich auf zwei Schwerpunktbereiche: Die theoretische A u f arbeitung soziologischer und kriminologischer Ansätze zu einem friedensrechtlichen Strafverständnis, das Wege der Versöhnung zwischen Täter und Gesellschaft eröffnet, und die Rezeption psychoanalytischer und pastoral-psychologischer Methoden zur Erweiterung poimenischer Kompetenz im Umgang mit anvertrauten Menschen. Erkennbar ist dabei eine Offenheit gegenüber unterschiedlichen Methoden, die einen Indikator dafür darstellt, daß Gefangenenseelsorger vorrangig unter dem Aspekt
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der Praktikabilität Anregungen aufnehmen und weniger, um sich methodisch zu binden. Die Präferenz des - wenn auch unklar definierten theologischen Selbstverständnisses blieb gewahrt, gerade gegenüber dem sich immer stärker differenzierenden Sozialstab der Anstalt, dessen Praxis eindeutig methodisch geprägt war. Die Gefangenenseelsorger erfuhren dadurch, zumindest in großen Anstalten, eine Reduktion ihres Kompetenzbereichs in sozialen Tätigkeitsfeldern, die von Spezialisten übernommen wurden. Damit waren unterschiedliche Einsichten verbunden: Die Seelsorger registrierten an der Arbeit der Sozialarbeiter und Psychologen im Vollzug die relative Begrenztheit rein methodischen Vorgehens, woraus eine methodenkritische Haltung erwuchs. Sie erkannten aber auch die Herausforderung, die aus der Zusammenarbeit mit humanwissenschaftlich orientiertem Vollzugspersonal erwuchs und sich in der Einsicht niederschlug, daß zur Erhöhung der Kommunikationsfähigkeit ein Erkenntnisstand in Methoden der Gruppenarbeit, Einzelberatung, Familientherapie und Gesprächsführung notwendig ist. Die Gefangenenseelsorger nahmen daher intensiver als Gemeindepfarrer die Diskussion um humanwissenschaftliche Methoden innerhalb der Seelsorgetheorie auf, vor allem, da sie sich genötigt fanden, in der Abgrenzung zu anderen Diensten ihre eigene Identität zu finden, ohne zugleich die traditionelle Offenheit ihres Arbeitsfeldes aufgeben zu wollen. Die 1978 erschienene Arbeit Stubbes 'Seelsorge im Strafvollzug' setzt bei der allgemeinen Erkenntnis an, daß sich "die gegenwärtige Seelsorge im Strafvollzug in einer U m b r u c h s i t u a t i o n " 3 4 4 befindet, die eine "Neubesinnung auf ihre theoretischen Grundlagen" und ihrer "methodischen Voraussetzungen" erfordert. Stubbe geht von drei Grundentscheidungen aus: Seelsorge im Strafvollzug ist eine Modelleinrichtung der Kirche, in der exemplarisch das Verhältnis von Theorie und Praxis der Seelsorge entfaltet werden kann. Die Definition von Seelsorge wird eingegrenzt auf den Schwerpunkt des seelsorgerlichen Einzelgesprächs (oder aufarbeitender G r u p p e n s e e l s o r g e ) 3 4 5 . Als humanwissenschaftliche Methode wird Psychoanalyse und Psychotherapie zum Dialog mit der Theologie herangezogen. Der Versuch und der Anspruch, einen Beitrag zur "theologischen und humanwissenschaftlichen Begründung der Praxis der Kirche im Strafvollzug" zu liefern, baut auf der These auf, daß Veränderungen im Strafvollzug nicht aus der Praxis erwachsen können, sondern nur aus "besonderen theoretischen Konzeptionen, und zwar in Sonderheit durch die Einbeziehung unbewußter Mechanismen der Klärung der Einstellung zu K r i m i n e l l e n " 3 4 6 . stubbe beruft sich zur theologischen Legitimation ihres Ansatzes auf Paul Tillich, der medizinische, psychotherapeutische und religiöse Intentionen unter dem gemeinsamen Ziel der Heilung vereinigt sah347_ Mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse - dem Gegensatzpaar Identifikation und Projektion - bemüht sich Stubbe, die Hypothese zu verifizieren, daß psychoanalytische Erkenntnisse zur Kommuni-
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kation mit Kriminellen "mit Inhalten zu tun h a b e n , die christlichen Symbolen vergleichbar sind"348. Neutestamentliche Texte zum Umgang mit Gefangenen werden daher u n t e r der Fragestellung untersucht, ob sie heilende Identifikation oder abwehrende Projektion beinhalten. Zur theoretischen Vorarbeit dient die Entfaltung der Ansätze F r e u d s , Naegelis und Neumanns zum Verständnis von Schuld und deren Überwindung. Als Zwischenerhebnis hält Stubbe f e s t , daß "Vergebung und Versöhnung" a u f g r u n d des neutestamentlichen Befundes ein wesentliches Anliegen christlichen Miteinanders darstellen, und daß die Psychoanalyse die psychischen Mechanismen näher beschreiben k a n n , die beim Vorgang der Vergebung ablaufen 3 4 ^. Die These, "je größer die Möglichkeit der Identifikation mit Gefangenen, desto hilfreicher die Seelsorge" 3 5 ^ bestimmt die weiteren Untersuchungen und nimmt zugleich das Ergebnis vorweg. Sie wird ü b e r p r ü f t an altkirchlichen Texten zur Gefangenenseelsorge, an dem Entwurf Fichtners zur 'Gefangenendiakonie' und der psychoanalytisch orientierten Seelsorgetheorie des ehemaligen Gefängnisp f a r r e r s Skambraks. Nach Stubbes Untersuchungen läßt sich die "Grundproblematik der Gefangenenseelsorge darstellen . . . als Frage nach dem Gelingen von Identifikation mit dem Straftäter und der Überwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus" 3 5 !. Daraus folgt, daß die Gefangenenseelsorge die Chance h a t , ansatzweise "utopische Modelle des Umgangs mit Straftätern" zu r e a l i s i e r e n 3 5 2 . Unter diesem Ansatz ist es Stubbe möglich, die von Bianchi erhobenen Forderungen zu einer Umgestaltung des S t r a f r e c h t s im Sinne einer Friedensordnung zu internalisieren. Die Gefangenenseelsorge ist g e f o r d e r t , Versöhnung und Heilung des S t r a f t ä t e r s und der s t r a f e n d e n Gesellschaft zu propagieren und im seelsorgerlichen Vollzug zu konkretisieren. Als Konsequenzen f ü r die Identitätsfindung des Gefangenenseelsorgers in der totalen Institution Justizvollzug ergibt sich daraus eine "Dauerkollision" zu seinem beruflichen Umfeld. "Er tut s t ä n dig etwas im Sinne des Institutionsziels 'Zusätzliches', diesem Gegenläuf i g e s " 3 5 3 . Um diese Spannung durchhalten zu können, muß der Seelsorger die "Zielsetzung der Versöhnung" als Inhalt des Tuns sich und der Institution immer wieder verdeutlichen und der Neigung, sich aus Standortlosigkeit "'geliehene' berufliche I d e n t i t ä t e n " 3 ^ anzueignen, widersteh e n . Das bedeutet wesentlich, fürsorgerliche Aufgaben abzulehnen und sich auf Einzelseelsorge zu konzentrieren. Daneben ist er zu einem s t ä n digen Selbstreflexionsprozeß a u f g e f o r d e r t , innerhalb dessen er seinen eigenen 'Schatten', das immanente 'Böse' u n d die Neigung zur Projektion zu b e h e r r s c h e n l e r n t , um zu identifizierender Versöhnung frei zu sein, die Konfliktlösungen innerhalb seelsorgerlicher Gespräche initiieren k a n n . Es ist mit Recht konsequent, daß Stubbe abschließend f o r d e r t , daß auch der Seelsorger "einer Art Seelsorge" b e d a r f , "die ihm h i l f t , seinen emotionalen Standort im Strafvollzug zu finden". Dazu ist eine einführende oder begleitende Spezialausbildung und der "Dialog mit verschiedenen
- 283 therapeutischen Richtungen einschließlich Schulen der Gruppendynamik" grundlegendes. An Stubbes Arbeit wirkt grundsätzlich überzeugend, daß sie die Präferenz der Versöhnungsbotschaft für poimenisches Handeln im Strafvollzug und in gesamtgesellschaftlicher Relevanz mit humanwissenschaftlichen Kategorien aussagbar macht und das die Seelsorge bestimmende Versöhnungshandeln in seiner soteriologischen und utopischen Qualität von einer verbalen auch auf eine emotionale Ebene überführt. Ferner ist es für die Theoriediskussion innerhalb der Gefangenenseelsorge weiterführend, daß Stubbe die Ansätze der kollektiven Sündenbockprojektion als Problem der Identitätsfindung des Seelsorgers herausgestellt hat und damit deutlicher als bislang geschehen auch die Selbstreflexion der seelsorgerlichen Motivation als notwendiges Element einer verantwortlichen Tätigkeit als Gefangenenseelsorger betont. Neben ihrer anregenden Wirkung bietet die Arbeit aber Ansatzpunkte zu grundsätzlicher Kritik. Historisch gesehen ist es nicht gerechtfertigt, den Schwerpunkt der Gefangenenseelsorge allein auf das seelsorgerliche Gespräch zu verlegen. Damit werden gewachsene Aufgabengebiete der Gefangenenseelsorge, die das Problem ihres 'Ist-Standes' mit definiert haben, ausgeblendet. Offen bleibt die Frage, wie gottesdienstliche, gruppenbezogene und bildende Aufgaben mit ihren spezifischen Problembereichen in den Prozeß der Umsetzung der Vergebung und Versöhnung mit einbezogen werden können. Noch gravierender erscheint der Mangel, daß zwar christliche Symbole kurz eingeführt werden, aber eine Diskussion ihrer Relevanz in Bezug auf theologische Sinnsysteme völlig ausfällt. Mit dieser Problemlage ist Stubbes Arbeit als typisch für eine bestimmte Phase der Strafvollzugs- und Seelsorgediskussion zu verstehen, innerhalb derer große Erwartungen an therapeutische Lösungsmodelle geknüpft wurden. Sie übernimmt implizit ein Menschenbild, das auch dem Alternativentwurf in vergleichbarer Weise zugrundelag und auf eine Überwindung psychischer und sozialer Mängel ausgerichtet war. Theologisch-anthropologische Überzeugungen vom Menschen als schuldfähigem und schuldhaftem Wesen, das auch im Versagen Recht auf Annahme haben muß, werden dabei nicht beachtet. Es ist auch zu bezweifeln, ob die Ergebnisse der Arbeit grundsätzlich zu einer Identitätsfindung des Theologen im Strafvollzug führen können, denn die Adaption humanwissenschaftlicher Methoden kann allein nicht problemlösend und identitätsbildend wirken. Das zeigt sich deutlich am von Stubbe betonten Problemkreis der 'geliehenen Identität': Mit der pragmatisch motivierten Ausgrenzung bestimmter Arbeitsfelder wird zwar der Differenzierung und Arbeitsteilung im Vollzugsstab Rechnung getragen, aber es scheint gerade für den traditionellen Aufgabenbereich des Gefangenenseelsorgers spezifisch zu sein, daß er sich nicht in die Rolle eines Spezialisten hineinfinden kann, ohne zugleich seine übergreifende Freiheit des Arbeitsfeldes zu verlieren 3 5 **. Der Seelsorger als 'Gesprächtherapeut' müßte
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automatisch in eine neue Konkurrenz- und Abgrenzungsproblematik zur Arbeit des Psychologen oder Therapeuten in der Anstalt kommen. Gerade in diesem Problemfeld sind theologische Theorien gefordert, die den Seelsorger vor der Gefahr bewahren, in der Übernahme festgelegter humanwissenschaftlicher Methoden einer erneuten 'geliehenen Identität' zu verfallen.
6.3.4 Versuch einer theologischen Standortbestimmung: Die Denkschrift zur Seelsorge in Justizvollzugsanstalten aus dem Jahre 1979 Analog zu der im vollzugstheoretisehen Bereich schon aufgezeigten 'Therapiemüdigkeit' ist auch in der Seelsorgediskussion eine relativierende und mehr praxisbezogene Rezeption von humanwissenschaftlichen Modellen im Sinne einer Adaption von Fertigkeiten außerhalb der Grundlagendiskussion zu erkennen, verbunden mit einer Suche nach theologisch fundierten Perspektiven seelsorgerlicher Arbeit. Einen Versuch auf diesem Weg stellt die Denkschrift 'Seelsorge im Strafvollzug' der EKD dar. Die Vorarbeiten zur Erstellung der 'Denkschrift' stehen im ursächlichen Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Terroristenbetreuung und die Suspendierung von Gefängnispfarrern. Die EKD sah sich veranlaßt, angesichts des gestörten Verhältnisses zwischen den Vollzugsorganen und den Gefangenenseelsorgern eine theologische Stellungnahme zur Gestaltung des kirchlichen Auftrags in den Justizvollzugsanstalten zu veröffentlichen. Ein Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, die mit den Vorarbeiten beauftragt war - Oberkirchenrat Heusei - analysiert die institutionellen Probleme der gegenwärtigen Gefangenenseelsorge auf dem Hintergrund der "Säkularisierung", die den Strafvollzug erfaßt hat und es den Vollzugsleitungen schwer macht, "die kirchliche Tätigkeit e i n z u o r d n e n " 3 5 7 . Von daher betont er die Notwendigkeit der die "Denkschrift" motivierenden Standortbeschreibung der Gefangenenseelsorger in Abgrenzung zu den sozialwissenschaftlich orientierten Tätigkeitsfeldern anderer im Vollzug arbeitender Gruppen. Heusei vertritt einen interessanten Ansatz des doppelten Religionsverständnisses zur Verdeutlichung der theologischen Implikationen der Gefangenenseelsorge als 'cultus privatus' und 'cultus publicus'. Die Interpretation von Religion als 'cultus privatus' weist der Gefangenenseelsorge tröstende Funktionen sowie Aufgaben der privaten Betreuung zu, schließt aber Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Problemen strikt aus. Religion als 'cultus publicus' verstanden bindet die Gefangenenseelsorge in die Funktionen des Strafvollzuges im Sinne der traditionell bürgerlichen Forderung nach 'sittlicher Festigung des Rechtsbrechers' ein. Heusei sieht die Gefahr, daß die letzte Aufgabenzuweisung mit der Forderung aktualisiert wird, Gefangenenseelsorge solle einen integrierten Bestandteil des Behandlungsvollzuges darstellen, und fährt fort:
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"Je größere Offenheit die Seelsorge f ü r Sozialarbeit, f ü r Pädagogik und Psychologie zeigt, desto eher läßt sie sich i n t e g r i e r e n , und es kommen unausweichlich Fragen nach der theologischen Legitimation a u f . . ."358. Die Denkschrift v e r s u c h t , sowohl die private als auch die integrative Verengung der Gefangenenseelsorge theologisch zu überwinden, indem sie von einem ekklesiologischen Ansatz a u s g e h t , ohne die Spannung zwischen Fremderwartungen und biblischem Auftrag nivellieren zu wollen. Es wird damit die die letzte Phase der Entwicklung innerhalb der Seelsorgetheoriediskussion charakterisierende Tendenz aufgenommen und weiterg e f ü h r t , die Gefangenenseelsorge "als einen kirchlichen Dienst"^ 5 9 innerhalb einer staatlich s t r e n g geregelten Institution zu beschreiben. Der Schwerpunkt der Denkschrift, die 'theologische Grundlegung', entwikkelt daher den A u f t r a g der Gefangenenseelsorge aus den Grundlagen des gesamtkirchlichen A u f t r a g s : Der Ausrichtung der guten "Botschaft vom Anbruch der Herrschaft Gottes in dieser Welt, von Gericht und Gnade, von der Versöhnung mit Gott und den Menschen, von der Vegebung der Sünden und der E r n e u e r u n g zur Liebe.. ."360. Wort und Sakrament konstituieren die Gemeinschaft der Heiligen, an der der Gefangene als gleichberechtigtes Mitglied Anteil h a t . Seine Partizipationschancen sind allerdings durch die Bedingungen des Freiheitsentzugs beeinträchtigt. Die innovatorische Kraft des ekklesiologischen Ansatzes, der von Wichern formulierte theologische Grundeinsichten aktualisiert, besteht im impliziten A u f t r a g an die kirchliche Gemeinschaft, trennende institutions- und einstellungsbedingte Faktoren abzubauen, um die im Glauben gegebene Verbundenheit in der 'Communio Sanctorum' auch sozial e r f a h r b a r zu mac h e n : Eine theologische Utopie, die die bestehende soziale T r e n n u n g d u r c h den praktizierten staatlichen Vollzug u n t r a d i e r b a r erscheinen läßt 3 61. In der Vorarbeit zur Denkschrift wurde das Problem deutlich, daß der Begriff der 'Gefangenengemeinde' nicht kirchenrechtlich abgesichert i s t . Oberkonsistorialrat Wildner spricht sich f ü r die Überlegung a u s , die "Versammlung von Menschen - Gefangenen und Vollzugsbediensteten - , die . . . dem Dienst der Kirche in den Anstalten a n v e r t r a u t s i n d " 3 6 2 ; i m Sinne einer Personalgemeinde zu v e r f a s s e n . Dagegen spricht sich Heusei mit dem Argument a u s , daß sich in der Gefangenengemeinde viele Elemente nicht finden lassen, die gemeinhin eine Kirchengemeinde auszeichnen. Er schlägt eher eine Integration in nahe Ortsgemeinden v o r , wobei die Anstalt als spezieller Seelsorgebereich fungieren könnte363. j) a ß Charakteristisch für die integrierende Fortbildungskonzeption der 'Denkschrift' ist der Hinweis, darauf zu achten, "daß Vermittlung inhaltlicher Kenntnisse, persönliche Problemverarbeitung und Entwicklung von methodischen Fähigkeiten in geeigneter Art miteinander verknüpft werden". Eine Festlegung auf bestimmte Methoden wird vermieden. Analog zu Piper weist auch Stubbe darauf hin, daß die Situation der 'Isolation' ein wesentliches Argument für persönlichkeitsorientierte Fortbildung des Gefängnispfarrers ist, um die Eigenständigkeit gegenüber den raumgreifenden Ansprüchen der Inhaftierten und der Institution zu wahren. Die Teilnahme an Fortbildungsangeboten hat damit nicht nur als Möglichkeit zum Erwerb von Fähigkeiten innere Qualität, sondern bietet "Phasen der D i s t a n z " 4 8 5 u n ( j Entfaltung der Kreativität, in denen der Gefangenenseelsorger, vom Druck seines Arbeitsplatzes befreit, die eigene Emotionalität reflektieren und den Zugang zum Wert seiner Individualität neu finden kann. Die Pfarrerfortbildung außerhalb der Vollzugsinstitution ist somit als "integraler Bestandteil"486 der Seelsorgearbeit zu betrachten und notwendig, um die persönlichen Freiräume auszuloten, die man kennen muß, um sie den Gefangenen eröffnen zu können. In keinem Teilbereich ist die theoretische und zugleich praxisorientierte Diskussion so weit fortgeschritten, wie in der Fortbildungsfrage, die einen neuen Schwerpunkt innerhalb der Theorie der Gefangenenseelsorge darstellt. Zugleich ist aber festzustellen, daß eine große Diskrepanz besteht zwischen dem Stand der Erkenntnis und der praktischen Verwirklichung.
6.8 Grundprobleme und Perspektiven der Seelsorge am Menschen unter den Bedingungen des Justizvollzuges 6.8.1 Der Mensch in der Strafe als Aufgabe der Gefangenenseelsorge Der Überblick über Themen, Inhalte und Fragen der individuellen Seelsorge an Inhaftierten läßt einen Schwerpunkt erkennen: Die Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit, mit der die Mehrzahl der Inhaftierten ihr vergangenes und zukünftiges Leben betrachtet. Der Realitätsbezug, das zumeist gering entwickelte Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, sich und die Umwelt in Einklang zu bringen, schwinden im Laufe der Haftzeit. Das Gefühl, einmal gescheitert zu sein, mit der Frage der Schuld nicht umgehen zu können, abgelehnt zu werden und daher scheitern zu müssen sowie die Angst vor der Isolation in der Gesellschaft erschweren es dem Inhaftierten, Initiativen zur Lebensgestaltung zu entwickeln. Die Para-
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lysierung der Eigenintiative als Folge der depravierenden Freiheitsstrafe erhöht die Erwartung, daß anstehende Probleme von anderen gelöst werden. Das Erleben der Aporie der Gefangenen stellt den Seelsorger permanent vor die ihn existentiell betreffende Frage, wie er den Erwartungshaltungen der Inhaftierten entsprechen kann, ohne die Perspektive der Hoffnungslosigkeit in der eigenen Arbeit zu übernehmen. Andererseits muß er die Realität der eingeschränkten sozialen Zukunft anerkennen und zugleich in seiner Haltung der Annahme dem Inhaftierten Ansatzpunkte zu Identitätswahrung und Hoffnung vermitteln. Die poimenische Sorge um den Gefangenen soll deshalb damit beginnen, ihm realistisch zu helfen, seine Lage in ihrer Problematik und Perspektivelosigkeit zu erkennen. Der Gefangene muß dahin geführt werden, daß er sich seiner Situation stellt, um seine Identität als Mensch, der versagen kann und darf, zu finden. Der Seelsorger versteht sich während des Seelsorgekontaktes insofern als Begleiter auf dem Wege zur wachsenden Ichstärke. Er kann diese Rolle erfüllen, indem er dem Gefangenen das Gefühl vermittelt, daß er die Last seiner Schwierigkeiten solidarisch teilt. Diese Gesprächshaltung ist theologisch zu beschreiben als Tragen des Kreuzes im eigenen und im Leben des anderen. Der Seelsorger ist offen für die Nöte seines Gesprächspartners, damit dieser emotional nach voll ziehen kann, daß er in seiner scheinbar unabdingbaren Hoffnungslosigkeit angenommen ist. Der Seelsorgevollzug kann nicht zum Ziel haben, dem Inhaftierten die Angst vor dem Leben zu nehmen; das hieße die konkrete Situation des Rechtsbrechers in unserer Gesellschaft zu verleugnen. Es kommt vielmehr darauf an, dem Gesprächspartner angesichts der isolierenden Wirklichkeit seiner sozialen Bezüge eine Zukunftsperspektive zu vermitteln, die zur Selbstfindung führt und damit im optimalen Fall Voraussetzungen zur eigenen Bearbeitung von Not und Angst schafft. Der Gefangenenseelsorger steht hierbei nicht unter Erfolgszwang, sondern nutzt die aus der Zuwendung sich ergebenden tröstenden oder motivierenden Perspektiven, die je ihr Maß an der Persönlichkeit des Straftäters finden. Die Schwäche der eigenen Existenz anzunehmen, darin besteht nach paulinischer Theologie die Stärke des Inhaftierten und des Seelsorgers. Die Zusage und das Umsetzen der Versöhnungsbotschaft: Gott hat den Menschen in seiner von Defizit- und Versagenserlebnissen geprägten Existenz angenommen, füllt den Freiraum des seelsorgerlichen Prozesses in Kontradiktion zur 'totalen Institution' des Vollzuges. Gerade der letzte Gedanke verdeutlicht die starke interpersonale Interdependenz der Gefangenenseelsorge. Sie wird geübt als Sorge eines Menschen um einen Menschen. Beide wissen sich von der zukunftseröffnenden Perspektive der Versöhnungszusage Gottes getragen angesichts der sozialen Diskriminierung des verurteilten Täters. Der Versuch, in der seelsorgerlichen Beziehung unter der Perspektive der Solidarität der Sünder Wege zu einer heilsamen Lebensorientierung zu gehen, gewinnt daher Symbol-
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Charakter. Gefangenenseelsorge ist vorrangig als prozeßhaftes Bemühen des Seelsorgers und des Inhaftierten zu beschreiben, Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung, der Gegenwartserhellung und der Z u k u n f t s ermöglichung zu finden und zu e r g r e i f e n , die u n t e r den Bedingungen der Haftzeit und nach der Entlassung gelebt werden können. Im Mittelpunkt steht dabei "das Gesamtverhalten des Menschen in seiner Verantwortung vor Gott und der Welt"4®7. D a s bedeutet - auf den Seelsorger bezogen daß er sich immer wieder Rechenschaft d a r ü b e r ablegen muß, aus welcher Verantwortung h e r a u s er den Inhaftierten auf dem Wege zur Selbstfindung begleitet und - auf den Gesprächspartner bezogen - , daß er als "der ungespaltene Mensch"4®® im breiten Spektrum zwischen schuldhaftem Versagen und Hoffnung auf eine unbelastete Zukunft im Seelsorgevollzug Beachtung finden muß. Von daher ist es f ü r das Grundverständnis der Gefangenenseelsorge wesentlich, von einer umfassenden Sorge um den Menschen u n t e r den Bedingungen des Freiheitsentzugs, die mit dem Bemühen um die Schaffung einer Hoffnung vermittelnden Atmosphäre v e r bunden i s t , auszugehen. Dem zugrunde liegt das Anliegen der Protestantischen Theologie, den Seelsorgeprozeß aus der Zusage der Rechtfertig u n g des schuldhaften Menschen zu b e g r ü n d e n , das sich, wie Thilo b e tont , darin aktualisiert, "daß alle Erkenntnis über den Menschen in das Licht des Handelns Gottes gestellt wird, und zwar alle Erkenntnis des ganzen Menschen und des Ganzen seiner Lebensbeziehung" 4 ® 9 . Die vorliegende Arbeit orientiert sich am Modell der 'ganzheitlichen Seels o r g e ' . In die Praxis der Gefangenenseelsorge umgesetzt folgt d a r a u s die Zielsetzung, den Inhaftierten zu motivieren, seine Existenz a u f g r u n d der Versöhnungszusage in der Gesamtheit i h r e r Bezüge neu zu b e g r e i f e n . Die theoretischen Vorüberlegungen zu diesem Gefangenenseelsorgeverständnis nehmen die A u s f ü h r u n g e n Thilos a u f , der den Ansatz von Trill haas w e i t e r f ü h r t e . Trillhaas hatte 1950 b e t o n t , daß der Mensch im Seelsorgevollzug "immer als ein Ganzes begriffen" werden muß. "Auch das Leibliche, das Äußere spielt in der sogenannten Seelsorge eine Rolle, und der einzelne k a n n in der kirchlichen Seelsorge niemals n u r als ein Vereinzelter genommen werden" 4 9 ^. Neben dieser der biblischen Anthropologie verpflichteten poimenischen Grundentscheidung, den Menschen in seiner Gesamtheit der Lebensbezüge und - b e d ü r f n i s s e als Gegenüber des Seelsorgers anzunehmen, formuliert Trillhaas die Zielrichtung des seelsorgerlichen Handelns: "Die Seelsorge soll dem einzelnen zu seiner Menschenwürde als einzelner verhelfen und ihn zugleich vor der letzten Vereinsamung bewahren, indem sie ihm zur Gemeinschaft mit Gott und zum Einbau in die Gemeinde v e r h i l f t " 4 9 1 . Für einen Menschen da zu sein, ihm vertrauensvoll zu begegnen, die Liebe nicht n u r mit Worten zu b e t e u e r n , sondern auch mit der Tat zu beweisen, darin zeichnet sich die Haltung des Seelsorgers a u s . Die ekklesiologische Perspektive dieses Ansatzes beläßt den Menschen nicht in seiner Vereinzelung, sondern f ü h r t ihn h i n ein in die Gemeinschaft des 'Leibes Christi'. Die Seelsorge schließt Trost und Weisung ein, ist aber im Letzten o f f e n . Sie bedeutet ein "Wahrnehmen
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göttlicher Gelegenheiten", aber ein seelsorgerliches Gespräch ist ein "seltsames Charisma" und nicht auf unbedingte Zielerfüllung ausgerichtet . Das "Entscheidende", was Seelsorge "zu bringen hat, liegt ja jenseits des Dialogs, jenseits aller Dialektik'"^ 2 . Mit diesem Gedanken bringt Trillhaas "die alte seelsorgerliche Weisheit zur Geltung, daß auch methodische Hilfen das Gelingen eines Gespräches nicht voll und ganz garantieren können"493_ Dieser allgemein poimenische Ansatz der 'ganzheitlichen Seelsorge' hilft, auf den speziellen Bereich der Gefangenenseelsorge übertragen, historisch gewachsene Strömungen der Seelsorge zu orten und zugleich Verengungen und Problemfelder innerhalb von Gefangenenseelsorgekonzeptionen aufzuarbeiten. Die ganzheitliche Sicht des Menschen in der Gefangenenseelsorge unter Einbeziehung seiner Teilhaberschaft an der Gemeinde Christi ist in ihren Wurzeln bis zu Wagnitz und Wichern zurückzuverfolgen. Wagnitz stellte die individuellen und sozialen Interdependenzen von Delinquenz heraus und forderte deren Berücksichtigung im Seelsorgeverfahren. Die Ausrichtung der Seelsorge an den Bedürfnissen und Erfordernissen des Inhaftierten wurde in der weiteren Entwicklung innerhalb derjenigen Seelsorgetheorien vertreten, die von der Prävalenz des Evangeliums oder später der Versöhnungszusage ausgingen. Wichern fügte den zweiten zentralen Aspekt hinzu, indem er die kirchliche Verantwortung gegenüber den devianten Mitgliedern der christlichen Gemeinde für deren Integration herausstellte. Beide Seelsorgeansätze werden in der neuesten Diskussion in den Ausführungen der 'Denkschrift' aus dem Jahre 1979 zusammengefaßt, die der Rechtfertigungsbotschaft entsprechende christologische und ekklesiologische Argumente in dem Motiv des kirchlichen Auftrags gegenüber Gefangenen formulierte. Innerhalb der deskriptiven neueren Gefangenenseelsorgeliteratur vertritt Schäfer den ganzheitlichen Aspekt am deutlichsten, wenn er in seiner Praxis als Gefangenenseelsorger davon ausging, die "menschliche Wirklichkeit", das "Wesen des Menschen unter den Bedingungen der Gefangenschaft" und seine Einbindung in die ihn bestimmende Umwelt als Anknüpfungspunkte des Seelsorgeprozesses aufzunehmen und eine weitgehende "Differenzierung"^^ der seelsorgerlichen Methodik und Grundhaltung unter der Zielsetzung forderte, jeden Inhaftierten in seiner spezifischen Problemlage adäquat anzunehmen oder aufzunehmen. Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen alle historischen und gegenwärtigen Versuche als defizitär, bei denen die speziellen Aspekte der Person des Inhaftierten als Basis des seelsorgerlichen Vorgehens außer acht gelassen werden. Das gilt für die Seelsorge an dem zum Tode verurteilten oder in der Freiheitsstrafe befindlichen Rechtsbrecher, der allein als zu bekehrender Sünder behandelt wurde. Die gleiche Kritik gilt unter völlig anderen Gesichtspunkten auch gegenüber einem Ansatz - den, als neueres Beispiel, Stubbe vertritt - , in dem der Inhaftierte aufgrund seiner defizitären und infantilen Persönlichkeitsstrukturen als Objekt einem therapeutischen Prozeß unterworfen wird.
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Das Anerkennen der seelischen und leiblichen Bedürfnisse des Menschen - wie es Trillhaas fordert - impliziert f ü r die Gefangenenseelsorgetheorie die Beendigung des Streites um die Relevanz der f ü r s o r g e r i s c h e n Aufgab e n . Zugleich ist damit auch die in älteren Konzeptionen - zuletzt in Fichtners Gefangenendiakonie - v e r t r e t e n e T r e n n u n g zwischen der 'eigentlichen Seelsorge' um das Seelenheit des Delinquenten und den Bemühungen im Vorfeld dazu aufgehoben. Der Gefangenenseelsorger kann und muß alle Aufgaben, die ihm aus der Sorge um den Menschen in der Strafe erwachsen, qualitativ gleichwertig betrachten und ernst nehmen. Das gilt sowohl f ü r die Kritik an Strukturen des Vollzuges, d u r c h die die Grundrechte des Menschen angetastet werden, wie f ü r die Bemühungen um die Erhaltung und Schaffung eines tragfähigen sozialen Umfeldes in Familie und Gesellschaft f ü r die Integration des Delinquenten u n d auch f ü r das individuelle Begleiten in der Frage von Schuldbewältigung. In diesen Bereichen seines Handelns ist der Gefangenenseelsorger nicht als B e h e r r s c h e r von Methoden g e f o r d e r t , sondern vorrangig als Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten und Defiziten. Christliche Seelsorgetätigkeit sollte nicht u n t e r Effektivitätszwang s t e h e n , sondern von dem Bewußtsein getragen werden, daß auch der Seelsorger in seinem Handeln nicht von Fehlhandlungen und Versagen f r e i und auf Vergebung und Versöhnungsbereitschaft angewiesen i s t . Gefangenenseelsorge bleibt als Sorge eines Menschen um den anderen immer ein Versuch, die l e b e n s e r ö f f nenden Perspektiven der göttlichen Versöhnungszusage in menschlicher Interaktion lebbar werden zu lassen. Damit e r f ä h r t die in letzter Zeit oftmals überspitzt g e f ü h r t e Diskussion um die Seelsorgemethodik eine Relativierung. Wird der Seelsorger in der Ganzheit seiner Möglichkeiten als T r ä g e r der Seelsorgebemühungen a n e r k a n n t , so besteht seine Verantwortung gegenüber dem Inhaftierten d a r i n , sich die theologische und humanwissenschaftliche Kompetenz anzueignen, die es ihm ermöglicht, die Sorge um den Gefangenen so p e r s ö n lichkeitsadäquat wie möglich zu gestalten. Daß der Gefangenenseelsorger dabei immer wieder an Grenzen stoßen muß, die in seiner Person, den institutionellen Bedingungen des Justizvollzuges, der gesamtgesellschaftlichen Haltung zum Bereich des Strafvollzuges oder in der Persönlichkeit des Inhaftierten liegen, sollte einen integrierten Bestandteil des seelsorgerlichen Selbstverständnisses darstellen, der den immer wieder beklagten f r u s t r i e r e n d e n E r f a h r u n g e n des mit wenig sichtbarem Erfolg gekrönten seelsorgerlichen Handelns relativierend entgegenwirken k a n n . Die von der Versöhnungsbotschaft motivierte und von einer ganzheitlichen Sicht des Menschen getragene Gefangenenseelsorge e r f o r d e r t ein breites Spektrum von Tätigkeiten und Kompetenzen, das je individuell vom Seelsorger ausgefüllt werden wird. Es sind drei Grundstrukturelemente des Seelsorgevollzuges u n a u f g e b b a r , die sich im Laufe der Entwicklung entfaltet haben und in der gegenwärtigen Seelsorgepraxis r e levant sind: Die theologisch verantwortliche Sorge um den Menschen in
- 311 der Ganzheit seiner Lebensbezüge als theoretische und praktische Basis, die das Seelsorgegespräch und die Fürsorge bestimmen. Daraus folgt die Eröffnung von interaktioneller Vergegenwärtigung des Versöhnungszuspruchs, zu der Gottesdienst und Gruppenarbeit Raum geben. Den Gesamtrahmen der Seelsorge bildet der Rückbezug auf den gesamtkirchlichen Auftrag, der schwerpunktmäßig in der Entlassenenfürsorge und der Öffentlichkeitsarbeit relevant wird. Die vorgenommene Dreiteilung erfolgt unter heuristischen Aspekten für die weitere Darstellung, wobei davon ausgegangen werden muß, daß alle Bereiche in enger Beziehung zueinander stehen.
6.8.2 Das seelsorgerliche Gespräch Freie, spontane Gesprächssituationen haben Bedeutung als Elemente der Kontaktanbahnung und zugleich der Kontinuität seelsorgerlicher Präsenz im Vollzugsorganismus. Die Anlässe zu solchen Spontangesprächen können vielfältiger Art sein: Sie resultieren aus momentanen Stimmungs- oder Problemlagen der Inhaftierten ("kurzfristige Krisenintervention"), aus zufälligen Begegnungen oder zweckfreien Besuchen im Haftraum, wobei alltägliche Probleme oder Informationsfragen eine "Brückenfunktion" oder ein "Auslösemoment" zu einem längeren seelsorgerlichen Kontakt bilden k ö n n e n 4 9 5 . Innerhalb der stark entpersönlichten und ritualisierten Umgangsformen des Vollzugsalltags ist vom Gefängnispfarrer hohe Sensibilität zu erwarten im Umgang mit der Möglichkeit, als Besitzer des Schlüssels jederzeit in den Lebensbereich des Gefangenen einzutreten und damit in der Gefahr zu stehen, sich dem Inhaftierten a u f z u d r ä n g e n ^ ® . Da der Besitz der Schlüssel nach Meinung vieler Inhaftierter ein Symbol der Mächtigen im Vollzug darstellt, reagieren sie empfindlich auf das Auftreten eines Seelsorgers, der ihren Privatraum nicht respektiert. Das Problem des Gefängnispfarrers besteht darin, notwendige Präsenz zu wahren, den Besuchscharakter des Zellengesprächs zu nutzen und gleichzeitig den Angebotscharakter seiner Gesprächsbereitschaft zu betonen. Als problemloser im Blick auf die Rahmenbedingungen erweisen sich die Gespräche in der Zelle, im Sprechzimmer oder Dienstzimmer des Seelsorgers , die auf ausdrücklichen Wunsch des Inhaftierten angebahnt wurden, wobei das Dienstzimmer des Seelsorgers besonders gute Gesprächsvoraussetzungen bietet, da es einer gewissen "Asylerwartung"^ 1 ? entspricht, wenn es außerhalb des Verwahrbereichs der Anstalt liegt. Gerade in der Anbahnungsphase ist es deutlich, wie sehr der Seelsorgekontakt von emotionalen und institutionellen Außenfaktoren mitgeprägt wird. Unter diesem Aspekt liegt in der ersten Kontaktaufnahme, besonders bei neu eingelieferten Gefangenen, eine Weichenfunktion für die
- 312 weiteren Beziehungen zwischen Pfarrer und Inhaftierten. Die Intention des Gesprächsangebots, dem Inhaftierten bei der Bewältigung seiner Situation und der Zukunftsfragen Hilfen zu geben, erleichtert die Anknüpfung eines Gesprächskontaktes. Aus dem Gefühl, angenommen zu werden, kann sich für den Inhaftierten das Vertrauen entwickeln, das es ihm ermöglicht, sich dem Seelsorger anzuvertrauende. Die Akzentuierung des Symbols der Annahme im Seelsorgegespräch destruierte das moralische Überlegenheitsgefühl des Seelsorgers, das in den Konzeptionen des 19. Jahrhunderts bisweilen mitschwang. Von daher beschreibt der Gefängnispfarrer Steinbauer den Seelsorgekontakt adäquat als "Partnerschaft auf Zeit"499. Annahme im Gespräch konkretisiert sich in dem Ernstnehmen der Erwartungshaltung oder des Leidensdrucks des Gefangenen, einer Haltung, die den Seelsorger davor bewahrt, dem Gefangenen ein Gespräch aufzudrängen, das seiner emotionalen Befindlichkeit nicht entspricht. Analog zur allgemeinen Entwicklung der Seelsorgetheorie 5 ®® ist in der Gefangenenseelsorgediskussion Mitte der 70er Jahre ein steigendes Intersse an einer methodischen Erfassung des Gesprächsgeschehens und dessen Funktion im Gesamtbereich des poimenischen Handelns der Gefangenenseelsorger festzustellen. Während in den Jahren nach dem Krieg das Seelsorgegespräch im Sinne Thurneysens als Raum der Verkündigung oder in Aufnahme der theologischen Ansätze von Althaus als Medium der Hinführung zur Übernahme der Strafe als Sühne interpretiert und eingesetzt wurde, also die 'salus aeterna' im Vordergrund des Bemühens stand, deutet die von Schäfer 1974 eingebrachte Formel, daß es der Seelsorge vorrangig um "Akte der B e f r e i u n g " 5 0 ! gehen muß, eine Standortänderung an, die sowohl inhaltlich als auch methodisch relevant ist: Der Seelsorger versteht sich nicht mehr in der Rolle des aktiv den Gefangenen Weisenden, sondern übernimmt die Funktion des Zuhörers 5 °2 ( der am Kommunikationsbedürfnis des Gegenüber anknüpft. So formulierte Frettlöh typisch: "Nicht das Reden, sondern das Hören ist der wichtigste Teil des Z e l l e n g e s p r ä c h s " 5 0 ^ . Aus diesem Ansatz folgt für die Gestaltung des Seelsorgegesprächs, daß es einen "Schutzraum"*®'* der Artikulation für den Gefangenen darstellt, der vom Seelsorgegeheimnis abgesichert ist. Die offene Gesprächssituation, die nicht von den reglementierenden, fordernden oder wertenden Kommunikationsstrukturen geprägt wird, denen der Inhaftierte im Umgang mit Vollzugsperonal oder Justizvertretern unterworfen ist, gewinnt nach Stubbe für den Inhaftierten emotional hohe Bedeutung als "symbolische Wiedereinsetzung . . . in seine Grundrechte als menschliches Subjekt" 5 0 5 . Der Inhaftierte soll sich "als Mensch anerkannt" 5 0 6 fühlen und die Möglichkeit erhalten, sich frei und ungeschützt zu äußern, ohne die Befürchtung hegen zu müssen, aufgrund seiner Äußerungen Repressionen zu erfahren. Die empirische Einsicht, daß eine als 'ungezwungen' erfahrene Gesprächssituation es dem Inhaftierten erleichtert, emotionale Schwierigkeiten und Blockierungen zu überwinden, wurde
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theoretisch von humanwissenschaftlichen Gesprächsführungsmodellen gestützt. So plädierte Jastram f ü r die Übernahme der Methoden des ' p a r t n e r - z e n t r i e r t e n Gesprächs' nach Rogers und Tausch, da es darauf ausgerichtet i s t , den Gesprächspartner in seiner Problematik anzunehmen, den Gesprächsinhalt von ihm selbst artikulieren zu lassen und Abhängigkeiten von Seelsorger und Pastoranden zu vermeiden. Jastram u n terlag allerdings der in der Anfangsphase der Rezeption e r f a h r u n g s w i s senschaftlicher Methoden typischen Tendenz, a u f g r u n d theologischer Standortunsicherheit und geschichtsloser Seelsorgebetrachtung die "Prinzipien effektiver G e s p r ä c h s f ü h r u n g " 5 ^ , die die 'Gesprächspsychotherapie' bietet, über die Bearbeitung inhaltlicher Fragen der Gefangenenseelsorge zu stellen. S t e r n b e r g 5 ^ bemühte sich d a g e g e n , bei der emotionalen Gesprächshaltung des Seelsorgers anzusetzen: Die anthropologisch v e r a n k e r t e Grundentscheidung, den Inhaftierten im Spektrum seiner Persönlichkeit anzunehmen, e r f o r d e r t eine vorurteilsfreie Empathiefähigkeit, die Bedürfnisse des G e s p r ä c h s p a r t n e r s aufzunehmen, ohne werten oder urteilen zu wollen. Die von Sternberg umrissene annehmende Gesprächshaltung, die in v e r gleichbarer Form SO® auch innerhalb der klinischen Seelsorgeausbildung und der Balintgruppenarbeit vermittelt wird, nimmt die Intentionen der nicht-direktiven G e s p r ä c h s f ü h r u n g a u f , beinhaltet aber zugleich die wesentliche Unterscheidung von 'Annahme' und 'Billigung', die es dem Seelsorger ermöglicht, im Gespräch mit dem Inhaftierten dessen Werte und Normen zu r e f l e k t i e r e n . In den A u s f ü h r u n g e n Stembergs klang schon eine Erkenntnis an, die in der weiteren Diskussion immer deutlicher formuliert wird: Eine methodisch reine Übertragung nicht-direktiver Gesprächsmethoden wird den spezifischen Bedürfnissen der Gefangenenseelsorge und der Problemlage des Inhaftierten nicht gerecht, einmal, da sie ein gewisses Maß an 'Ich-Stärke' beim Inhaftierten v o r aussetzen müssen, das bei der Mehrzahl der Gefangenen a u f g r u n d ihrer sozialisationsbedingten Persönlichkeitsdefizite nicht zu erwarten i s t , zum anderen kann von ihnen zu wenig auf die Bedingungen des sozialen Umfeldes der Inhaftierten eingegangen werden, das von der totalen Institution des Vollzuges und subkulturellen Einflüssen mitgeprägt wird. So betonen J ü r g e s und Helm: "Die Gesprächssituation 'hinter Gefängnismauern' zwingt dazu, 'draußen' übliche und sinnvolle Methoden zu modifizieren, ja h ä u f i g , sie in Frage zu stellen''^!®. Wenn auch nicht explizit formuliert, so hat das ganzheitliche Seelsorgev e r s t ä n d n i s methodenkritische Funktion gewonnen. Das deutet sich in der Kritik der gesprächstherapeutischen oder psychotherapeutischen Methoden als 'Mittelschichtsmethoden' a n , die im Sprach- und Formulierungsniveau sowohl im Ansatz als auch im Vollzug zwischen P f a r r e r (Mittelschicht) und Gefangenen (zumeist Unterschicht) nicht den Artikulierungsmöglichkeiten der Inhaftierten e n t s p r e c h e n 5 * 1 . J ü r g e s und Helm verlagern sinnvoll zur Problemlösung den Schwerpunkt von der verbalen
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Ebene auf das Interaktionsgeschehen im Seelsorgekontakt und sehen im Umfeld von Distanz und Nähe 5 ^^