Die Europäische Union - das unbekannte Wesen: Die EU in 40 Artikeln – unter besonderer Berücksichtigung des „Brexit“ 3704688118, 9783704688118

Aktuelle europäische Problemstellungen verständlich erklärt Diese Monografie stellt den bereits fünften und letzten Band

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Table of contents :
Grußwort
Einführung
Danksagung
Zum Gebrauch
Abkürzungsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU
Teil II: Zusammenstellung aller Artikel
1. Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt
2. Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“ und warum wird es von der österreichischen Bundesregierung bekämpft? Die „Übererfüllung“ von Richtlinien-Vorgaben als komplexes Problem
3. Relativierung des fundamentalen Rechtsgrundsatzes „ne bis in idem“? Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen
4. Die dritte österreichische „Präsidentschaft“ in der EU. Vorgaben und Herausforderungen für die Vorsitzführung Österreichs im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2018
5. Konkrete Fälle von „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung
6. Aktualisierung der „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) gegen die extraterritorialen US -Sanktionen gegen den Iran (2018). Aktivierung des Schutzmechanismus für Wirtschaftstreibende aus der EU, um damit Schadensersatzforderungen geltend zu machen
7. The „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ (2018). Die erste Übereinkunft über ein weltweites System ordnungsgemäßer Migration im Schoß der Vereinten Nationen
8. Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump. Rechtssoziologische Erkenntnisse aus der Richterbestellung am Supreme-Court der USA
9. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtstaatlichen Pranger. Dieses Mal leitete aber das Europäische Parlament das “Frühwarnsystem“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn ein
10. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit. Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen wegen „systemischer Mängel“ in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz?
11. Die Lösung des Namensstreits zwischen Mazedonien und Griechenland scheint zu scheitern. Damit wäre eine singuläre Chance vertan, die „Westbalkan-Strategie“ der EU zu befördern
12. Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“. Allein zulässige elektronische Übermittlung von Prozessakten ab Anfang Dezember 2018
13. Was hat eigentlich der Gerichtshof (EuGH) mit „rauchlosen Tabakerzeugnissen“, wie Kautabak, Schnupftabak, Lutschtabak und „Snus“, zu tun? Warum führte die Einstufung von „Snus“ zum ersten freiwilligen Rücktritt eines Kommissars?
14. „Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht. Stellenausschreibung des ersten „Europäischen Generalstaatsanwalts“ der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ durch die Europäische Kommission
15. Widerrufbarkeit der „Brexit-Erklärung“ des Vereinigten Königreichs? Der „Exit vom Brexit“ als komplexes Problem
16. Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat und seinen aktuellen Gefährdungen zu tun? Neueste Entwicklungen zur Bestärkung des Rechtsstaatsprinzips in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland
17. Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden? Von der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bis zu den Berufs- und Standesregeln
18. Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) – 56 Jahre deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft
19. INSTEX, die tripartite Zweckgesellschaft zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran. Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich schaffen eine „Tauschbörse“, um damit den EU-Iran – Handel zu ermöglichen und zugleich den US-Dollar zu schwächen
20. Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU. Unbedingt notwendig, oder eigentlich entbehrlich?
21. Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung. Enorme politische und juristische Komplexität einer sachgerechten Umsetzung dieses Erkenntnisses
22. Vom „halben Feiertag“ am Karfreitag zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl. Welches Schicksal droht aber dem Auslöser dieser unglaublichen „Husch-Pfusch“-Gesetzgebung?
23. Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn? Diente der „Weisenrat“ für Österreich (2000) tatsächlich als Modell für den „Weisenrat“ der EVP für Ungarn (2019)?
24. Der facettenreiche „Fall Julian Assange“. Offene Fragen nach dem Verweis des „Whistleblowers“ aus der ecuadorianischen Botschaft in London und seiner Verhaftung
25. Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs der EU. Die Europäische Kommission muss ihre Methode zur Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeld anpassen
26. Vom „Monster at the Berlaymont“ zum Delegationsleiter der Europäischen Kommission in Österreich – Aufstieg und Fall des „mächtigsten Beamten Europas“, Martin Selmayr
27. Wirtschaftliche Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Integrationszonen. Die Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA
28. Österreichs Veto gegen den Abschluss des Abkommens MERCOSUR-EU und seine Implikationen. Politische und rechtliche Konsequenzen bindender Stellungnahmen des Nationalrates
29. Warum misst Österreich bei benachbarten Atomkraftwerken mit zweierlei Maß? Gegen grenznahe AKW in den MOEL geht Österreich rigide vor, gegen die Laufzeitverlängerung der alten AKW der Schweiz aber nicht
30. Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU – verbunden mit einem Blick zurück auf die „Sanktionen der Vierzehn“
31. Die nordische Zusammenarbeit und ihre Relevanz für die europäische Integration. Der „Nordische Rat“, der „Nordische Ministerrat“ und der „Westnordische Rat“ im Vergleich
32. Erstmals verhängt die Europäische Union Sanktionen wegen Cyber-Angriffen
33. „Petro“ und „Petro Oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen
34. „Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des „Gerichtshofs der Europäischen Union“
35. Ist der Erwerb „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ EU-konform? Die Europäische Kommission ist anderer Meinung. Warum ist der „Verkauf“ von Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsberechtigungen aus verfassungsrechtlicher, völkerrechtlicher und europarechtlicher Sicht unterschiedlich zu beurteilen?
36. Die Ablehnung der Schweizer Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“. Konsequenzen für die Beziehungen Schweiz – EU im Allgemeinen und für das Rahmenabkommen im Speziellen
37. Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun? Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU verliert auch der Finanzplatz London seinen „EU-Pass“ und damit der LIBOR seine Bedeutung
38. Von LIBRA zu DIEM. Versuche der Europäischen Kommission, auf die mögliche Einführung dieser „Krypto-Währung“ zu reagieren
39. Virtuelle Währungen (sog. „Krypto-Währungen“) und deren Bedeutung für das herkömmliche Geld- und Finanzsystem
40. Das „Crypto Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets und die Stellung Österreichs dazu
Teil III: Dokumentation
Dok. 1: Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union (Auszug), vom 19. Februar 2016
Dok. 2: Austrittsschreiben von Premierministerin Theresa May aus der EU an den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, vom 29. März 2017
Dok. 3: Art. 50 EUV
Dok. 4: Ratsbeschluss über den Abschluss des Austrittsabkommens des UK aus der EU und der EAG, vom 30. Januar 2020
Dok. 5: Politische Erklärung der EU und des UK zu ihren zukünftigen Beziehungen, vom 30. Januar 2020
Dok. 6: Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK – Übersicht
Teil IV: Sachverzeichnis
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Waldemar Hummer

Die Europäische Union – das unbekannte Wesen Die EU in 40 Artikeln – unter besonderer Berücksichtigung des „Brexit“ Band 5 2021 Monografie

em. o. Univ.-Prof. Dr. iur., Dr. rer. pol., Dr. phil. Waldemar Hummer Institut für Europarecht und Völkerrecht Universität Innsbruck

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2021 Verlag Österreich GmbH,Wien www.verlagoesterreich.at Gedruckt in Ungarn Satz: Grafik & Design, Claudia Gruber-Feigelmüller, 3580 Horn, Österreich Druck und Bindung: Prime Rate Kft., 1044 Budapest, Ungarn Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier https://doi.org/10.33196/9783704688965 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7046-8811-8 Verlag Österreich

Die Drucklegung dieser Publikation wurde freundlicherweise durch Druckkostenzuschüsse folgender Einrichtungen unterstützt:

Vizerektorat für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Erhard Busek Ostfonds

Grußwort Seit meinem ersten Semester als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Passau vor genau 30 Jahren steht auf meinem Schreibtisch – ob dieser sich nun in Passau, Frankfurt, Brüssel oder Wien befindet – ein dickes, orangefarbenes Buch. „Europarecht“ lautet der Titel, aber Generationen von Europarechtlern im deutschsprachigen Raum bezeichnen es nur als „Schweitzer/Hummer“, nach seinen beiden renommierten österreichischen Autoren, die das Standardwerk gemeinsam mehrfach in Neuauflagen umfassend aktualisierten. Bis heute ziehe ich den „Schweitzer/Hummer“ (6.  Auflage) regelmäßig zu grundsätzlichen Fragen des Europarechts zu Rate. Denn zu den ideengeschichtlichen Grundlagen der Europäischen Union, zu ihrer Organisationsstruktur und zu den Grundkonzepten des institutionellen und materiellen Europarechts findet sich in wohl keinem anderen Lehrbuch eine vergleichbar umfangreiche und einprägsame Darstellung. Meine persönliche Zuneigung zum „Schweitzer/Hummer“ mag natürlich auch damit zu tun haben, dass ich in meinen akademischen Lehrjahren beide Autoren – die zu den „Europarechtlern der ersten Stunde“ in Österreich und weit darüber hinaus zählten – aus nächster Nähe kennen- und schätzen lernen durfte. Am Lehrstuhl von Professor Dr. Michael Schweitzer an der Universität Passau begann ich 1994 als studentische Hilfskraft, erstmals in die Europarechtswissenschaft „hineinzuschnuppern“, bevor ich dort später als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand meine Leidenschaft für das Europarecht in Forschung und Lehre unter der erfahrenen Anleitung von Professor Schweitzer vertiefen durfte. Professor DDDr. Waldemar Hummer lernte ich zunächst nur indirekt kennen, nämlich immer dann, wenn der „Schweitzer/Hummer“ zur Neuauflage anstand und das Assistententeam in Passau mit großer Spannung auf die neuen Kapitel aus Innsbruck wartete. Diese waren erfahrungsgemäß stets besonders umfangreich, gespickt mit detaillierten Informationen und zahlreichen Beispielen aus Rechtsprechung und Praxis, mit denen das Europarecht für die Studierenden illustriert und praktisch verständlich gemacht wurde. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich bei der Lektüre eines von Waldemar Hummer verfassten Kapitels zur europäischen Innen- und Justizpolitik erstmals begriff, wie sehr die Spannung zwischen der supranationalen Gemein-

VII

Grußwort

schaftsmethode und der meist dem Einstimmigkeitsprinzip unterworfenen Regierungszusammenarbeit das Recht der ­Europäischen Union in Entstehung wie Anwendung prägen und oftmals kompliziert gestalten kann. Auch vom „Mercosur“, der südamerikanischen Nachahmung des Europäischen Binnenmarktes, hörte ich erstmals in den Texten von Waldemar Hummer, der selbst fließend Spanisch spricht, bereits in den 1970er Jahren Rechtsberater der Argentinischen Botschaft in Wien war und daher die Bemühungen einer friedlichen wirtschaftlichen Integra­tion in Südamerika über die Jahre hinweg sehr direkt mitverfolgen konnte. Schließlich ist mir noch gut in Erinnerung, wie ich als junger Assistent von wissenschaftlicher Neugier beseelt der Frage nachging, warum der akademische Titel des bei uns in Passau so legendären Innsbrucker Professors „DDDr.“ lautete. Die menschliche Leistung, im Rahmen einer wissenschaftlichen Laufbahn gleich drei Promotionen in drei verschiedenen Fächern (Rechtswissenschaften, Politik und Philosophie) abzuschließen, hat mir dann zeitlebens imponiert. Denn dahinter steht nicht nur unbändiger Fleiß und Wissensdurst, sondern vor allem ein interdisziplinärer Forschungsdrang, der sich bis heute aus jeder Zeile der unzähligen Publikationen von Waldemar Hummer herauslesen lässt. Beim Europarecht ist dieser fachübergreifende Ansatz besonders angebracht. Denn das gerade einmal siebzig Jahre junge Europarecht erschließt sich eben nicht nur durch die klassische rechtswissenschaftliche Methodenlehre, sondern erfordert darüber h ­ inaus ein tiefgreifendes Verständnis der vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und historischen Zusammenhänge, die unsere Europäische Union bis heute ausmachen. Professor Hummer hat dieses Verständnis immer gelebt und gepflegt und an seine akademischen Schülerinnen und Schüler weitergegeben. Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, heute, dreißig Jahre später, einem ganz neuen Werk von Waldemar Hummer – dem fünften Band der Reihe „Die Europäische Union – das unbekannte Wesen“ – ein Grußwort mit auf den Weg geben zu dürfen. Der Obertitel dieser eindrucksvollen Zusammenstellung von Artikeln und Glossen bedürfte eigentlich einer gewissen Aktualisierung. Denn vor allem dank Waldemar Hummer und seines langjährigen Bemühens um pädagogische Erläuterung und Erklärung in Zeitungsartikeln und öffentlichen Wortmeldungen ist die Europäische ­Union in Österreich längst kein „unbekanntes Wesen“ mehr, sondern nach mehr als 25 Jahren erfolgreicher EU-Mitgliedschaft vielmehr alltäglich Teil der Innenpolitik und auch der Medienberichterstattung. Ich selbst erlebe bei den Österreicherinnen und Österreichern ein großes Interesse an europäischen Themen, und gerade die Corona-Krise hat uns hierzulande die enge politische, wirtschaftliche und menschliche Verbundenheit in der Europäischen Union sehr eindringlich vor Augen geführt. Nur wenn es unseren Nachbarn gesundheitlich und wirtschaftlich gut geht, dann kann es uns auch in Österreich gut gehen, das ist wohl die wichtigste europäische Lehre aus den Erfahrungen mit Virus und Pandemie. Trotz des grundsätzlichen

VIII

Grußwort

Verständnisses für die Europäische Union in Österreich ist es aber natürlich für alle mit europäischen Themen befassten Personen in Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Medien stets überaus hilfreich, den „neuen Hummer“ für die vertiefende Befassung mit einzelnen EU-Fragen heranziehen zu können. Denn seien wir doch einmal ehrlich: Wie oft wird in der politischen und medialen Debatte der Begriff „Gold-Plating“ verwendet, ohne dass man dabei die Fakten und Rahmenbedingungen berücksichtigt, die Waldemar Hummer im vorliegenden Band ebenso akkurat wie differenziert erläutert? Wer würde erwarten, dass ein Mönch, der Rechtsanwalt werden möchte, sich hierbei auf Europarecht berufen kann? Und wer kennt schon die Einzelheiten der Regeln, nach denen die Europäische Kommission bei Nichtbefolgung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs durch einen Mitgliedstaat finanzielle Sanktionen gegen diesen beantragen darf? Wissen ist Macht – dieser Erfahrungssatz gilt auch und gerade beim Thema Europa, und deshalb gibt Waldemar Hummer mit dem neuesten Band seiner nun fünfbändigen Reihe zur Europäischen Union jedem, der daran Interesse hat und es zu nutzen versteht, ein überaus machtvolles Werkzeug in die Hand. Im vorliegenden Band beschäftigt sich Waldemar Hummer mit europarechtlichen und europapolitischen Fragestellungen aus der Zeit zwischen 2018 und 2021. Diese Zeit erlebte ich persönlich als EU-Beamter als eine große Zeit des Umbruchs, in der zahlreiche Gewissheiten, die wir in Europa seit Jahrzehnten als selbstverständlich voraussetzten, plötzlich ins Wanken gerieten. Erstmals verließ mit dem Brexit ein Mitgliedstaat die Europäische Union und zeigte damit, dass der langjährige erfolgreiche Prozess der ständigen Erweiterung und Vertiefung der Union nicht automatisch so weitergehen muss. Erstmals bezeichnete ein US-Präsident die Europäische Union als Gegner und verhängte 2018 Handelssanktionen auf Stahl und Alumi­ nium aus Europa, angeblich um die nationale Sicherheit der USA vor den Europäern (!) zu schützen. Erstmals wurden Grundprinzipien des Rechtsstaats, vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte, in Mitgliedstaaten der Europäischen Union grundsätzlich in Frage gestellt, und dies trotz gegenläufiger Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Mehr denn je brauchen die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten heute offenbar einen starken gemeinsamen politischen Willen, um intern zusammenzufinden und nach außen oder in Krisen wirksam aufzutreten. Sowohl dem Brexit als auch den Sanktionen Trumps ist die Europäische Union unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker und dem von ihm persönlich geleiteten Verhandlungsteam ebenso geschlossen wie strategisch begegnet, so dass beide Ereignisse die Union am Ende wider Erwarten gestärkt und nicht geschwächt haben, wie auch die Ausführungen von Waldemar Hummer im vorliegenden Band zeigen. Beim Rechtsstaatskonflikt mit Polen und Ungarn ist dagegen trotz aller Bemühungen der Europäischen Kommission – zunächst durch engagierten Dialog, dann durch sehr energisch betriebene

IX

Grußwort

rechtliche Verfahren – noch immer keine zufriedenstellende Lösung in Sicht, was nicht nur Europarechtler sehr schmerzen dürfte. Wichtig erscheint mir, dass in dieser Frage die Europäische Kommission von den Mitgliedstaaten nicht allein gelassen wird. Ein funktionierender Rechtsstaat in allen Mitgliedstaaten muss auch ein direktes Anliegen aller nationalen Regierungen und Parlamente sein in einer Union, in der wir zusammen leben, zusammen wirtschaften und einander grenzüberschreitend Vertrauen schenken wollen. Welche Herausforderungen hierbei noch zu bewältigen sind, das zeigt sich bei der Lektüre der mahnenden Artikel, die Waldemar Hummer im vorliegenden Band der Rechtsstaatsthematik gewidmet hat. Den Lesern des vorliegenden Bandes zur Europäischen Union wünsche ich viel Freude bei der Lektüre der vielseitigen Artikel aus der Feder eines Autors, dem man nicht einmal schmeichelt, wenn man ihn in allen Fragen des Europarechts und der Europapolitik als „wandelndes Lexikon“ bezeichnet. Dem Autor selbst wünsche ich, dass er auch in Zukunft die europarechtliche und europapolitische Debatte in Österreich mit seinen kenntnisreichen Beiträgen bereichert und inspiriert. Die Praktiker Europas brauchen gerade in dieser immer schnelllebiger werdenden Zeit neben dem politischen Diskurs stets auch die wissenschaftlich fundierte, fakten- und wertebasierte Aufbereitung aktueller Themen und Fragestellungen. Herzlich danken möchte ich Waldemar Hummer schließlich dafür, dass er mit seinen wissenschaftlichen Werken und Überlegungen meinen eigenen Berufsweg seit drei Jahrzehnten mit viel persönlichem Wohlwollen begleitet und so einen ganz wesentlichen Beitrag zu meiner europäischen Ausbildung geleistet hat und weiterhin leistet. Es ist deshalb natürlich kein Zufall, dass ich heute für die Europäische Union in Österreich arbeite. Wer von meiner europarechtlichen Sozialisierung durch den „Schweitzer/Hummer“ weiß, der muss eigentlich sagen: Wo sonst? Wien, 26. September 2021

X

Professor Dr. Martin Selmayr

Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich

Inhaltsübersicht Grußwort.......................................................................................................................  VII Einführung.....................................................................................................................  XIII Danksagung................................................................................................................... XIX Zum Gebrauch.............................................................................................................. XXI Abkürzungsverzeichnis................................................................................................ XXV Inhaltsverzeichnis.......................................................................................................... XXXV

Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU................. 1 Teil II: Zusammenstellung aller Artikel................................................... 53 Teil III: Dokumentation................................................................................ 533 Teil IV: Sachverzeichnis................................................................................ 577

XI

Einführung Als „dienstältester“ Europarechtler in Österreich1 war es mir immer ein Bedürfnis, nicht nur im universitären Umfeld, sondern auch im Bereich der außeruniversitären Erwachsenenbildung die interessierte Öffentlichkeit sowohl europarechtlich als auch europapolitisch so gut als möglich aufzuklären. Die „Querschnittsmaterie“ Europarecht/Europapolitik ist dermaßen komplex und vor allem in ständiger Veränderung, sodass es einem Nichtspezialisten extrem schwerfällt, die Vorgänge in und um die EU entsprechend nachzuvollziehen und richtig zu verstehen. Dazu kommt noch die massive Einwirkung großer Teile des Europarechts in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – Stichwort „Europäisierung“ der nationalen Rechtsordnungen2 – die im Falle Österreichs vor einigen Jahren auf 36,3 Prozent geschätzt wurde.3 Ein klassisches Beispiel für die dabei auftretenden Probleme ist zB die noch vor kurzem abgeführte Diskussion um die Zurückdrängung des „Gold-Plating“ im Rahmen der Rechtsbereinigungs-Initiative der österreichischen Bundesregierung.4 Die vorstehenden Überlegungen haben den Autor seit vielen Jahren veranlasst, sowohl in einer Reihe österreichischer Printmedien (Wiener Zeitung, Salzburger Nachrichten/Der Staatsbürger, Die Furche, Die Presse, uam), als auch in den wenigen Online-Medien (EU-Infothek,5 ÖGfE Policy-Briefs,6 Austrian Law Journal (ALJ)7) regelmäßig kurze, aktuelle Artikel 1 Siehe dazu Hummer, W. Die österreichische Europarechtslehre und ihre Vertreter, in: Hummer, W. (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende (2004), S. 397; Hummer, W. Politikwissenschaft in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der Europapolitik (2015), S. 41. 2 Siehe dazu Hummer, W. Allgemeine Einführung, in: Hummer, W. (Hrsg.), Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten (2010), S. 1 ff. 3 Jenny/Müller, From the Europeanization of Lawmaking to the Europeanization of National Legal Orders: The Case of Austria, Public Administration, Vol. 88, Nr. 1/2010, S. 54. 4 Vgl. dazu die Artikel Nr. 2 und Nr. 5, nachstehend auf den S. 66 ff. und 106 ff. 5 Medieninhaber: Omnia Online Medien GmbH, 1070 Wien, Neubaugasse 68; Herausgeber und Chefredakteur: Prof. Gert Schmidt. 6 https://oegfe.at 7 www.austrian-law-journal.at

XIII

Einführung

zu den wichtigsten Ereignissen im Zusammenhang mit der EU zu verfassen. Die Reaktion auf diese Beiträge war überwältigend, sodass sich der Autor veranlasst gesehen hat, diese Beiträge zu konsolidieren und in Buchform herauszugeben. Dabei entstanden im Laufe der Zeit vier Sammelbände zum Thema „Die EU – das unbekannte Wesen“. Das „Paket“ der bisherigen vier Sammelbände „Die EU – das unbekannte Wesen“ Mit dem Ende Juni 2018 erschienenen vierten Sammelband lag ein „Paket“ von vier Büchern im Umfang von über 2.600 Seiten vor, im Rahmen dessen insgesamt 465 einzelne Artikel zu den unterschiedlichsten Problemen mit Bezug zur EU thematisch aufbereitet wurden. Zeitlich erstreckte sich der Bearbeitungszeitraum dieser Beiträge auf über 13 Jahre, nämlich vom Juni 2005 bis zum April 2018.8 Band 1 (2010) Der 2010 noch im Springer-Verlag erschienene Bd. 1 des Sammelbandes vereint 240 europarechtliche und europapolitische Artikel, die unter der Bezeichnung „Fußnoten eines Europarechtlers“ seit Juni 2005 als eigene Kolumne wöchentlich in der Wiener Zeitung erschienen sind. Aufgrund des vorgegebenen knappen Umfangs für die Abfassung dieser „Fußnoten“ handelt es sich dabei um kurze, aber juristisch prägnante „Schnellschüsse“ zu den wichtigsten einschlägigen Themenbereichen. Einleitend dazu wurde für das allgemeine Verständnis aber eine vertiefte Einführung in das Recht der EU und die Stellung des dauernd neutralen Österreichs als EU-Mitgliedstaat aufgenommen. Ebenso wurden auch zur leichteren Nachverfolgung von Artikel-Zitaten Übereinstimmungstabellen zwischen dem EUV(alt) und dem EUV(neu) bzw. dem EGV und dem AEUV abgedruckt. Wegen eines „Relaunch“ dieser Tageszeitung unter der neuen Chefredaktion wurde die Kolumne nach fünfjährigem Erscheinen Ende März 2010 eingestellt. Band 2 (2014) Nach der Übernahme der gesamten Sparte der Juridika des Springer-Verlags durch den Verlag Österreich erschien der zweite Sammelband nunmehr im Verlag Österreich. Die in ihm im Zeitraum von 2011 bis 2014 zusammengestellten 150 Artikel erschienen großteils zunächst in dem von der Omnia Online Medien GmbH betriebenen einzigen österreichischen Online-Medium, das sich seit 2010 auf europarechtliche und europapolitische Artikel spezialisiert hat, nämlich der „EU-Infothek“. Der Komplettheit halber 8 Vgl. dazu Hummer, W. Kompaktes EU-Wissen in „Paketform“, EU-Infothek vom 15. Juni 2018, S. 1 ff.

XIV

Einführung

wurden in Bd. 2 aber auch einige wenige in österreichischen Printmedien bereits vorveröffentlichte Artikel aufgenommen. Trotz unterschiedlicher Länge, bedingt durch die jeweiligen Redaktionsvorgaben, gleichen sich alle Beiträge in ihren wesentlichen Zügen: sie behandeln grundsätzlich ein (tages)aktuelles Thema mit Bezug zur EU, das bisher noch nicht entsprechend dargestellt wurde, vertiefen dieses politisch und juristisch – samt Quellenangaben in den Fußnoten, so wie dies in wissenschaftlichen Artikeln Usus ist – durch entsprechende Hintergrundinformationen und bringen es mit verwandten Problemstellungen in der EU in Beziehung. Besondere Relevanz kommt diesem Bd. 2 aus zwei Gründen zu: zum einen werden die Auswirkungen des am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon (2007) sowie der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ auf die bisherige Ausgestaltung der EU vertieft behandelt und zum anderen werden die Konsequenzen der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise sowie die zu deren Beseitigung ergriffenen Maßnahmen näher dargestellt und erläutert. Ganz bewusst wurde dabei aber auf eine Kommentierung von Urteilen des Gerichtshofs der EU verzichtet, da es dazu bereits einige einschlägige Judikatursammlungen gibt, von denen eine umfassende vom Verfasser dieser Artikel selbst mitverfasst wurde.9 Die thematische Breite und der meritorische Informationsgehalt dieser 150 Beiträge zu den jeweils aktuellen Problemlagen in der EU ist absolut konkurrenzlos. Band 3 (2017) Nach einer nunmehr über zwanzig Jahre andauernden Mitgliedschaft Österreichs in der EU10 wurden in Bd. 3 weitere 40 wichtige Beiträge zu europarechtlichen und europapolitischen Themenstellungen zusammengestellt, die einen Zeitraum von elf Jahren (2005 bis 2016) umfassen. Im Gegensatz zur bewussten Darstellung der umfassenden Einwirkung des Rechts der EU auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die in den beiden ersten Bänden als allgemeine Zielsetzung vorherrschte, wird im dritten Sammelband der Schwerpunkt auf die Entstehung und Lösungsversuche der komplexesten und gravidesten Krisenlagen, die die EU in ihrer sechzigjährigen Geschichte je betroffen haben, gelegt. In diesem Zusammenhang seien nur die Flüchtlings- und Migrationskrise, die Bekämpfung der Schlepperkriminalität, die Terrorismusbekämpfung, die Gefährdung der Rechtstaatlichkeit in Ungarn und Polen, die Relativierung der gemeinsamen Wertebasis, die Im-

9 Hummer, W. – Vedder, C. – Lorenzmeier, S. Europarecht in Fällen. Die Rechtsprechung des EuGH, des EuG und deutscher und österreichischer Gerichte, 5. Aufl. (2012), 929 Seiten; 2016 erschien die 6. und 2020 die 7. Aufl. dieses Werkes. 10 Vgl. Hummer, W. Österreichs Bemühungen um eine Teilnahme an der europäischen Integration von 1948 bis 2015. Eine neutralitäts- und verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme, Wirtschaftspolitische Blätter 2/2015, S. 265 ff.

XV

Einführung

plodierung des Schengen- und Dublin-Systems, der sich anbahnende „Brexit“ und seine Konsequenzen uam, erwähnt. Wenngleich die EU auch in vielen Dingen verbesserungsbedürftig ist – diesbezüglich haben die gegenständlichen Krisenlagen eine Reihe von Schwachstellen nicht nur im institutionell-prozeduralen Bereich, sondern auch hinsichtlich der materiell-wirtschaftsrechtlichen und politischen Aspekte schonungslos aufgezeigt – so existiert nach wie vor kein „Plan B“ eines vergleichbaren Gegenmodells, gegen das die EU ohne größere Friktionen und Reibungsverluste ausgetauscht werden könnte. Band 4 (2018) Band 4 enthält 35 Beiträge, die einen Zeitraum von eineinhalb Jahren (Herbst 2016 bis Frühjahr 2018) umfassen und dabei wichtige Fragen rund um den „Brexit“ behandeln. Daneben werden aber auch die vielfältigen Bemühungen der Juncker-Kommission – im Gefolge des „Weißbuchs der Kommis­ sion zur Zukunft Europas“ und des „Reflexionspapiers der Kommission zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion“ – zur Weiterentwicklung und dauerhaften Bestandssicherung der EU dargestellt und kommentiert. Abgerundet wird diese Zusammenstellung durch ganz aktuelle Themen, wie die Einrichtung einer „Europäischen Staatsanwaltschaft“, die Umgestaltung der administrativen Führungsebene der Kommission, die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Polen, die Errichtung einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ im Militärbereich (PESCO) uam. Der aktuelle Band 5 (2021) des Sammelwerks „Die EU – das unbekannte Wesen“ Der gegenständliche 5. Band stellt den nunmehr letzten Band der Sammelschrift dar und schließt damit die jahrelangen Bemühungen des Autors ab, über einen Zeitraum von nunmehr 16 Jahren (2005–2021) wichtige Vorkommnisse und Entwicklungen in Bezug auf die EU, die in den traditionellen Publikationen nicht vorrangig dargestellt wurden, zu dokumentieren und kurz zu kommentieren. Mit seinen 40 Artikeln erhöht der gegenständliche 5. Band die bisher in den vier vorhergehenden Bänden enthaltenen 465 Artikel auf insgesamt über 500 Artikel (sic). Damit liegt nunmehr eine detaillierte Übersicht über die unglaublich vielfältigen Aktivitäten im Rahmen der EU in den letzten Jahren vor, die ihresgleichen sucht. Das im Erhebungszeitraum der letzten drei Jahre (2018–2021) in Bezug auf die Europäische Union dominante Thema war ohne Zweifel der „Brexit“, was auch schon aus dem Untertitel des gegenständlichen 5. Bandes hervorgeht. Dementsprechend ist auch der einführende Teil I des 5. Bd. dem „Brexit“, in allen seinen Konsequenzen, gewidmet.

XVI

Einführung

Die in Teil II enthaltenen 40 Artikel zentrieren hingegen um eine Reihe weiterer wichtiger Themen, die nicht unmittelbar mit dem „Brexit“ verbunden sind, wie zB um – das Phänomen des „Gold Plating“, – die Herausforderungen für die dritte österreichische Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 – die erste Übereinkunft über ein weltweites System ordnungsgemäßer Migration im Schoß der VN und dessen Auswirkungen auf die EU – die Sanktionierung der Rechtsstaatlichkeitsdefizite in Ungarn und Polen – den Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland über die Republik Nord-Mazedonien – die Einrichtung der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ – den Vertrag von Aachen (2019) über die deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft – den Fall des Whistleblowers Julian Assange – die finanziellen Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs – die Bestellung des bisherigen Generalsekretärs der Europäischen Kommission, Martin Selmayr, zum Delegationsleiter der Kommission in Österreich – die Beeinspruchung des geplanten Abkommens EU – MERCOSUR durch Österreich – die (differenzierte) Politik Österreich gegenüber grenznahen Atomkraftwerken – die Relevanz der nordischen Zusammenarbeit für die europäische Inte­ gration – die EU-Konformität des Erwerbs „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ – die Beziehungen der Schweiz zur EU uam. Ganz bewusst wurden dem 5. Bd. am Ende auch noch drei Artikel hinzugefügt, die sich mit dem neuen Phänomen von „Krypto-Assets“, vor allem aber „Krypto-Währungen“, befassen, da diese die EU in Zukunft vor völlig neue Herausforderungen stellen werden, die gegenwärtig noch nicht in allen ihren Konsequenzen erfasst sind. Schlussbemerkungen Die mit den nunmehrigen fünf Bänden erzielte gleichsam „flächendeckende“ Darstellung wichtiger Vorgänge im Rahmen der EU während der letzten 16 Jahre soll es dem Leser ermöglichen, sich selbst eine Meinung über die Vor- und Nachteile der europäischen Integration im „long run“ zu bilden und dementsprechend auch zu agieren. Erst durch eine solche umfassende Zusammenschau über einen so langen Zeitraum wird der Leser überhaupt in die Lage versetzt, die einschlägigen politischen, rechtlichen und ökonomischen Problemlagen in der EU von deren Anfängen an, über deren weitere Ausgestaltung, bis hin zur eventuellen Lösung derselben richtig zu

XVII

Einführung

erfassen und in all ihren Konsequenzen entsprechend nachzuvollziehen. Das gegenständliche „Paket“ der fünf Sammelbände leistet dazu einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, wenngleich auch jeder einzelne der fünf Bände für sich allein bereits eine Fülle einschlägiger Informationen enthält. Die im Zuge der Bearbeitung der vielfältigen Themenstellungen sowie in vielen Diskussionen dazu gewonnene Erkenntnis, dass die Euroskepsis vieler Österreicher vor allem auf mangelnde Information über die komplexen Vorgänge im Schoss der EU zurückzuführen ist, hat den Verfasser immer wieder veranlasst, einschlägige Überzeugungsarbeit zu leisten und differenzierte Antworten auf die anstehenden europarechtlichen und europapolitischen Fragen zu geben. Da der weitere Fortgang der europäischen Integration vom Verständnis und der Zustimmung der europäischen Öffentlichkeit dazu abhängt, muss alles getan werden, um einen soliden Wissenstand über die Vorgänge in und über die EU herbeizuführen. So schwierig diese Aufklärungsarbeit auch sein mag, so darf man sie aber nie als „Holschuld“ der Österreicher betrachten, sondern muss sie immer als „Bringschuld“ der Politik ansehen. Mit anderen Worten bedeutet das, dass die öffentliche Hand stets bemüht sein muss, in der österreichischen Öffentlichkeit so viel europapolitische Aufklärungsarbeit als möglich zu leisten, um die komplexen Vorgänge im Rahmen der EU allgemeinverständlich aufzubereiten. Bedauerlicherweise geschah dies in der Vergangenheit – aber auch gegenwärtig – nicht in der gebotenen Intensität, sodass sich der mangelnde Wissensstand über die konkreten Vorgänge in der EU Zug um Zug in eine immer mehr zunehmende Skepsis der Österreicher, der EU gegenüber, verwandelt hat.11 Besondere Bedeutung kommt dem gegenständlichen „Paket“ der fünf Sammelbände12 aber als Lehr- und Lernbehelf in allen mit Fragen der Erwachsenenbildung im Bereich des Europarechts und der Europapolitik befassten Bildungshäusern und verwandten Einrichtungen, wie Europahäuser und Europäische Akademien, Politische (Partei-)Akademien, kirchliche Bildungshäuser, Schulungshäuser Europäischer Föderalistischer Einrichtungen, uam13 zu – und dies nicht nur in Bezug auf die Schüler-, sondern vor allem auch auf die entsprechende Lehrerausbildung! 11 Wie aus einer am 12. Februar 2021 durch das Europäische Parlament veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage vom November/Dezember 2020 (EP-Eurobarometer 94.2) hervorgeht, unterstützen nur 22% der befragten Österreicher die EU derzeit, so wie sie ist, 31% sehen sie eher „skeptisch“ und für 45% bewegt sich die EU „grundsätzlich in die falsche Richtung“. 16% der Österreicher glauben, die EU sei „eine schlechte Sache“; vgl. Schlager, R. EU gewinnt insgesamt an Zustimmung – in Österreich jedoch nicht, vom 12. Februar 2021; EU verliert in Österreich an Zustimmung, Die Presse vom 12. Februar 2021. 12 Nähere Informationen zum Paket der fünf Sammelbände finden Sie auf der letzten Seite dieses Buches. 13 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung bei Hummer, W. Politikwissenschaft in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der Europapolitik (2015), S. 197 ff.

XVIII

Danksagung Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung des gegenständlichen fünften Sammelbandes habe ich folgenden Institutionen zu danken: – Vizerektorat für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck – Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) – Erhard Busek Ostfonds – Omnia Online Medien GmbH (EU-Infothek) – Österreichisches Institut für Europäische Rechtspolitik (ÖIER) Für die freundliche Übernahme der Verfassung eines Grußwortes bin ich Herrn Prof. Dr. Martin Selmayr, dem Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich1 besonders verbunden, ist er doch einer der profundesten Kenner des „Innelebens“ der Europäischen Union, der es – seit seinem Eintritt in die Dienste der Europäischen Kommission im Jahr 2004 – vierzehn Jahre später (2018) zum Generalsekretär derselben gebracht hat, dem zuletzt ein Beamtenapparat von ca. 35.000 Personen unterstand. Dementsprechend wurden auch zwei Artikel in der gegenständlichen Sammelpublikation2 sowohl seiner akademischen, als auch beruflichen Laufbahn gewidmet. Gegenwärtig widmet sich Prof. Selmayr sehr intensiv der Aufklärung der österreichischen Öffentlichkeit in wichtigen EU-Fragen und hat, laut eigenen Angaben, diesbezüglich allein im Jahr 2020 mit seinem Team mehr als 160 Kommunikationsveranstaltungen, davon 90 Aktionen in digitalem oder hybridem Format, veranstaltet – eine nicht hoch genug einzuschätzende Aktivität. Für die technische Unterstützung der Einrichtung der 40 Beiträge in diesem 5. Bd. für die Drucklegung, habe ich mich einmal mehr bei meinem 1 Sitz: Haus der Europäischen Union, Wipplingerstraße 35, 1010 Wien; http:// ec.europa.eu/austria 2 Hummer, W. Umgestaltung der administrativen Führungsebene der Europäischen Kommission, in: Hummer, W. Die europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 4 (2018), Artikel Nr. 33, S. 381 ff. und Hummer. W. Vom „Monster at the Berlaymont“ zum Delegationsleiter der Europäischen Kommission in Österreich, Bd. 5 (2021), Artikel Nr. 26, nachstehend auf S. 333 ff.

XIX

Danksagung

ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn MMag. Jakob Grüner,3 sehr herzlich zu bedanken. Für die Erlaubnis des Nachdrucks derjenigen Beiträge, die bereits in anderen (Online)Medien erstveröffentlicht wurden, möchte ich mich bei folgenden Einrichtungen bedanken: – Omnia Online Medien GmbH – Austrian Law Journal (ALJ) – Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) – Nomos-Verlag (Zeitschrift Europarecht) – Schulthess-Verlag (Zeitschrift für Europarecht) (EUZ) – Europäische Union, Amt für amtliche Veröffentlichungen Nicht zuletzt gilt mein Dank dem Verlag Österreich, der einen weiteren Sammelband der gegenständlichen Reihe verlegt hat, der der besseren Unterrichtung der österreichischen Öffentlichkeit in den immer komplexer werdenden Fragen der Weiterentwicklung der EU gewidmet ist. Er hat mit der Herausgabe des „Pakets“ von nunmehr fünf Bänden zum Thema „Die Europäische Union – das unbekannte Wesen“ einen wertvollen Beitrag für die volksbildnerische Aufklärung des immer komplexer werdenden Phänomens der EU geleistet, der – angesichts der immer skeptischer werdenden österreichischen Öffentlichkeit – immer wichtiger wird. Innsbruck, im Juli 2021

Waldemar Hummer

3 Leiter der Koordinationsstelle Wien der Tiroler Landesregierung, Gluckgasse 2, 1010 Wien.

XX

Zum Gebrauch Einer bewährten Vorgangsweise folgend, die schon in den früheren Bänden der Sammelschrift angewendet wurde, soll auch dem vorliegenden 5. Band gleichsam eine „Gebrauchsanweisung“ für dessen leichtere Handhabung und Lektüre vorangestellt werden, die sich gegenständlich auf folgende vier wichtige Erklärungen konzentriert: Aufbau des Sammelbandes Nr. 5 Der Bd. 5 enthält in seinem Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU eine umfassende Darstellung und Kommentierung des alles beherrschenden Themas im Berichtszeitraum 2018 – 2021, nämlich des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK) aus der EU, mit allen seinen Konsequenzen. Wenngleich auch schon in den früheren Bänden einige Artikel enthalten waren, die sich mit der Entwicklung der „Brexit“-Problematik (isoliert) beschäftigt haben, ist die in Teil 1 enthaltene Zusammenschau aller mit dem „Brexit“ verbundenen Probleme singulär. Im Gegensatz dazu besteht Teil II: Zusammenstellung aller Artikel aus einer (bewusst) unsystematischen, nämlich chronologischen, Abfolge einzelner Artikel, deren Themenstellung im gegenständlichen Berichtszeitraum zwar andiskutiert, aber im einschlägigen Schrifttum nicht immer entsprechend vertieft wurde. Dementsprechend sollen die in Teil II aufgenommenen 40 Artikel, die wichtige völkerrechtliche und europarechtliche Rechtsfragen im Zusammenhang mit der EU enthalten, ein vertieftes Verständnis der jeweiligen komplexen Probleme ermöglichen. In Teil III: Dokumentation sind einige wenige einschlägige Dokumente enthalten, die einen anschaulichen Einblick in die Ausgestaltung wichtiger Texte bzw. Ereignisse geben. Um dem Leser einen direkten thematischen (Quer)Einstieg zum jeweils ihn interessierenden Problembereich zu ermöglichen, enthält der Bd. 5 – neben einer kompletten Auflistung aller 40 Artikel in Teil II – in Teil IV auch noch ein detailliertes Sachverzeichnis, in dem, neben dem jeweiligen Schlagoder Stichwort, auch auf die – im Titel bzw. in der Quellen-Angabe am

XXI

Zum Gebrauch

Ende eines jeden Artikels (in Klammer gesetzte) – Nummer des entsprechenden Artikels verwiesen wird. Elektronische Fassung des Amtsblattes Was den raschen Zugriff auf die in den jeweiligen Fußnoten der Artikel zitierten Quellen im Amtsblatt der EU betrifft, so erließ der Rat – wie bereits in Bd. 3 der Sammelschrift erwähnt – am 7. März 2013 die Verordnung (EU) Nr. 216/2013 über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der Europäischen Union1, gemäß derer ab dem 1. Juli 2013 nur mehr das in elek­ tronischer Form veröffentlichte Amtsblatt „Echtheit besitzt“ und dementsprechend „Rechtswirkungen entfaltet“ (Art. 5). Die elektronische Ausgabe des Amtsblatts wird der interessierten Öffentlichkeit auf der EUR-LexWebsite2 dauerhaft zugänglich gemacht, wobei die Abfrage kostenlos ist (Art. 2 Abs. 2). In der Glosse Nr. 99 des 2. Bd. (2014) ist dazu alles Wesentliche näher ausgeführt.3 Der „Europäische Urteilsidentifikator“ (ECLI) Seit Oktober 1989, dem Beginn der Tätigkeit des Gerichts erster Instanz, wird der Rechtssachennummer der einzelnen Rechtsfälle ein „C“ (für „Cour“ = EuGH) oder ein „T“ (für Tribunal = EuG) vorangestellt. Bei Einstweiligen Verfügungen wird der Rechtssachennummer ein „R“ und bei Rechtsmittelentscheidungen des EuGH ein „P“ nachgestellt. Das Aktenzeichen für Urteile des Gerichts für den öffentlichen Dienst (GöD) – das GöD wurde am 2. November 2004 als Gerichtliche Kammer errichtet, am 1. September 2016 aber wieder aufgelöst – lautete „F“.4 Der „Europäische Urteilsidentifikator“ (European Case Law Identifier) (ECLI) wurde entwickelt, um die eindeutige Angabe von Fundstellen in Entscheidungen europäischer und nationaler Gerichte zu erleichtern, deren Suche bisher des Öfteren sehr mühsam und zeitaufwändig war. Mit dem ECLI-System reicht nunmehr eine Suche über eine einzige Suchschnittstelle mit nur einem Identifikator aus, um alle Einträge eines Urteils in allen teilnehmenden nationalen und grenzüberschreitenden Datenbanken aufzufinden. Diesbezüglich ergriff der Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 29. April 2011 zur Einführung des European Case Law Identifier (ECLI) und eines 1 ABl. 2013, L 69, S. 1 ff. 2 Der link für die Suche nach einem speziellen Amtsblatt lautet: http://eur-lex.europa. eu/oj/direct-access.html. 3 Bd. 2 (2014), S. 501 f. 4 Siehe dazu Hummer, W. – Vedder, C. – Lorenzmeier, S. Europarecht in Fällen, 7. Aufl. (2020), S. VII ff.

XXII

Zum Gebrauch

Mindestbestands von einheitlichen Metadaten für die Rechtsprechung5 die Initiative, aufgrund derer das ECLI-Projekt am 27. Oktober 2011 gestartet wurde. In der Folge wurde der ECLI seit dem ersten Halbjahr 2014 schrittweise vom Gerichtshof der EU eingeführt. Dabei hat der Gerichtshof allen seit 1954 von den Gerichten der EG bzw. EU gefällten Entscheidungen, den Schlussanträgen und Stellungnahmen der Generalanwälte und den Informationen über diese Entscheidungen einen eigenen ECLI zugeordnet.6 Der ECLI ist Teil des Systems „E-Justice“ und damit dem „Europäischen Justizportal“ zugeordnet, das als zentrale elektronische Anlaufstelle für den Justizbereich konzipiert wurde. Der Aufbau des ECLI ist einheitlich und darf weder von den EU-Mitgliedstaaten, noch von den Nutzern eigenmächtig geändert, gekürzt oder erweitert werden. Der ECLI umfasst – neben dem Präfix „ECLI“ – vier obligatorische Bestandteile, die durch einen Doppelpunkt voneinander getrennt sind, nämlich – den Ländercode des Mitgliedstaats, dem das betreffende Gericht angehört, oder der EU bei den Unionsgerichten, – das Kürzel des Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat, – das Jahr der Entscheidung, sowie – eine aus bis zu 25 alphanumerischen Zeichen bestehende Ordnungsnummer. Als Beispiel sei der ECLI des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Juli 2005 in  der Rechtssache Schempp (C-403/03)7 wie folgt angeführt: ECLI:EU:C:2005:446. Dabei gibt „EU“ an, dass es sich um eine Entscheidung eines Unionsgerichts handelt (bei einer Entscheidung eines nationalen Gerichts stünde an dieser Stelle der Ländercode des Mitgliedstaats, dem dieses angehört); „C“ gibt an, dass die Entscheidung vom Gerichtshof getroffen wurde, während die Entscheidungen des Gerichts und des Gerichts für den öffentlichen Dienst den Buchstaben „T“ bzw. „F“ tragen würden; „2005“ gibt an, dass die Entscheidung im Jahr 2005 ergangen ist und 446 gibt an, dass es sich um den 446. für dieses Jahr vergebenen ECLI handelt.8 Nachträgliche Anführung eines „Post Skriptums“ (PS) Da es sich beim gegenständlichen 5. Bd. ja um den letzten Band des Sammelwerks „Die Europäische Union – das unbekannte Wesen“ handelt, kann eine unter Umständen wichtige Aktualisierung eines darin angesprochenen Problems nicht mehr in einem zukünftigen Folgeband nachgetragen werden. Es wurde daher, in einer Reihe von Artikeln, der Quellenangabe ein 5 6 7 8

ABl. 2011, C 127, S. 1 ff. Vgl. Bd. 3 (2017), S. XXIII. Bisherige Zitierweise: EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-06421. Hummer/Vedder/Lorenzmeier, Europarecht in Fällen (Fn. 4), S. IX.

XXIII

Zum Gebrauch

eigenes PS: nachgestellt, in dem entweder eine Aktualisierung oder ein Querverweis zum gegenständlichen Problem in anderen Artikeln vorgenommen wurde.

XXIV

Abkürzungsverzeichnis A AB Augsburger Bekenntnis Abg Abgeordnete(r) ABl Amtsblatt Abs Absatz ADD Allianz Deutscher Demokraten AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AfCFTA African Continental Free Trade Agreement AG Aktiengesetz AIES Austria Institut für Europa und Sicherheitspolitik AJIL American Journal of International Law AK Arbeiterkammer AKW Atomkraftwerk AKP Afrikanisch/Karibisch/Pazifisch ALALC Asociación Latinoamericana de Libre Comercio ALCA Área de Libre Comercio de las Américas ALJ Austrian Law Journal AM Außenminister(in) APA Austria Presse Agentur ArbVG Arbeitsverfassungsgesetz ARG Arbeitsruhegesetz Art Artikel AU Afrikanische Union Aufl Auflage AVR Archiv des Völkerrechts AZ Aktenzeichen AZG Arbeitszeitgesetz B BA Beitrittsakte BaFin Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BBC British Broadcasting Corporation BBl Bundesblatt Bd Band BENELUX BElgique, NEderlands, LUXemburg BG Bundesgesetz BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl Bundesgesetzblatt

XXV

Abkürzungsverzeichnis

BID Banco Interamericano de Desarrollo BIP Bruttoinlandsprodukt BIS Bank for International Settlements BK Bundeskanzler BKA Bundeskanzleramt, Bundeskriminalamt Blg Beilage BMaA Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten BMeiA Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten BM.I Bundesministerium für Inneres BMVRDJ Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz BRD Bundesrepublik Deutschland BRBG Bundesrechtsbereinigungsgesetz BRJ Bundesrepublik Jugoslawien Bull Bulletin BVG Bundesverfassungsgesetz B-VG Bundes-Verfassungsgesetz BVerfG Bundesverfassungsgericht C C Communication, Cour ca circa CBDC Central Bank Digital Currency CBI Citizenship by investement CDT Cyber Diplomacy Toolbox CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CETA Comprehensive Economic and Trade Agreement CEU European Central University CFO Chief Financial Officer CIA Central Intelligence Agency COFER Currency Composition of Foreign Exchange Reserves COM Kommission COREPER Comité des Représentants Permanents CSU Christlich Soziale Union Deutschland D DA Diplomatische Akademie DCEP Digital Currency Electronic Payment DGB Deutscher Gewerkschaftsbund dh das heisst DIA Defense Intelligence Agency DIDL Digitale Inhalte und Digitale Dienstleistungen DLT Distributed Ledger Technology DM Deutsche Mark Dok Dokument DÖV Die Öffentliche Verwaltung dpa Deutsche Presse Agentur DSGVO Datenschutz-Grundverordnung DStR Deutsches Steuerrecht

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

DUP DZB

Democratic Unionist Party Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank

E E Erkenntnis, Entscheidung EAD Europäischer Auswärtiger Dienst EAG Europäische Atomgemeinschaft EASA European Union Aviation Safety Agency EASO European Asylum Support Office EBA European Banking Authority EBRD European Bank for Reconstruction and Development EBWE Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ECB Europen Central Bank ECHR European Court of Human Rights ECJ European Court of Justice ECLI European Case Law Identifier ECOFIN Economic and Financial Affairs ECRIS European Criminal Records Information Services ed editor EDA Eidgenösssiches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDIS European Deposit Insurance Scheme EEA Einheitliche Europäische Akte EES Exit/Entry-System EFTA European Free Trade Association EG Europäische Gemeinschaft EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGNOS European Geostationary Navigation Overlay Service EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EIB Europäische Investitionsbank EKM Eidgenössische Kommission für Migration ELA European Labour Agency EMA European Medicines Agency EMRK Europäische Menschenrechtskonvention endg endgültig ENISA European Union Agency for Network and Information Security ENSI Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSREG European Nuclear Safety Regulators Group EONIA Euro Overnight Index Average EP Europäisches Parlament EPPO European Public Prosecutor’s Office EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ERASMUS European Action Scheme for the Mobility of University Students ESA European Space Agency ESM Europäischer Stabilitätsmechanismus ESMA European Securities and Markets Authority ESTER Euro Short-Term Rate ESVP Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik etc etcetera ETH Eidgenössische Technische Hochschule

XXVII

Abkürzungsverzeichnis

ETIAS ETS EU EUCO EuG EuGH EuGRZ EuGVÜ

European Travel Information and Authorization System European Treaty Series Europäische Union European Council Europäisches Gericht Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungs-Übereinkommen EuGVVO Europäische Gerichtstands- und Vollstreckungs-Verordnung EUMC European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia EURATOM Europäische Atomgemeinschaft EURIBOR Euro Interbank offered Rate EURODAC European Dactyloscopy Eurojust Zusammenarbeit der Justizbehörden in der EU EUROPOL Europäisches Polizeiamt EUROSTAT Europäisches Statistisches Amt EUStA Europäische Staatsanwaltschaft EUV Vertrag über die Europäische Union EUZ Zeitschrift für Europarecht EVA Europäische Verteidigungsagentur EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVN Energieversorgung Niederösterreich, Einzelverbindungsnachweis EVP Europäische Volkspartei EVV Europäischer Verfassungsvertrag EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWR Europäischer Wirtschaftsraum EWS Europäisches Währungssystem excl exclusiv EZB Europäische Zentralbank F f folgend(e) FAO Food and Agricultural Organization FATF Financial Action Task Force FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung ff fortfolgende FHA Freihandelsabkommen Fidesz Fiatal Demokraták Szövetség FIDLEG Finanzdienstleistungsgesetz FINIG Finanzinstitutsgesetz FINMA (Eidgenössische) Finanzmarktaufsicht FMA Finanzmarktaufsicht Fn Fußnote FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs FS Festschrift FSB Financial Stability Board FYROM Former Yugoslav Republic of Macedonia

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

G G Gesetz GA Generalanwalt GAP Gemeinsame Agrarpolitik GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATT General Agreement on Tarrifs and Trade GD Generaldirektion gem gemäß GEREK Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation GG Grundgesetz GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GO Geschäftsordnung, Gewerbeordnung GöD Gericht für den öffentlichen Dienst GOG Geschäftsordnungsgesetz GP Gesetzgebungsperiode GPA Government Procurement Agreement GRC Grundrechte-Charta GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht GS Generalsekretär GSVP Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GV Generalversammlung GV-Res. Generalversammlungs-Resolution GV-Doc. Generalversammlungs-Dokument GZ Geschäftszahl H HB Helvetisches Bekenntnis hdgö Haus der Geschichte Österreich Hrsg Herausgeber HV Helsinki Vertrag I IAEO IBOR ICC ICJ ICO idF idgF IFRS IfZ IGGiÖ IGH IHS IIP IMF IMI INGO

International Atomic Energy Organization Interbank Offered Rates International Criminal Court International Court of Justice Initial Coin Offering in der Fassung in der geltenden Fassung International Financial Reporting Standards Institut für Zeitgeschichte Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich Internationaler Gerichtshof Institut für Höhere Studien Individual Investor Programme International Monetary Fund Internal Market Information International Nongovernmental Organization

XXIX

Abkürzungsverzeichnis

INPE Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais InstA Institutionelles Abkommen IO Internationale Organisation IoT Internet of Things IP International Press IPR Internationales Privatrecht iSd im Sinne der iSv im Sinne von IV Industriellenvereinigung iVm in Verbindung mit IWF Internationaler Währungsfonds iwS im weiteren Sinne, Institut für Wirtschafts- und Standortentwicklung J JCMS Journal of Common Market Studies JCPOA Joint Comprehensive Plan of Action JETZT Liste Peter Pilz Jhdt Jahrhundert Jr Junior JZ Juristen-Zeitung K Kap Kapitel KAS Konrad-Adenauer-Stiftung KfZ Kraftfahrzeug km Kilometer KMU kleine und mittlere Unternehmen KOM Kommission KV Kollektivvertrag KWG Kreditwesengesetz L L Legislatio, loi LAK Lateinamerika und Karibik LFG Luftfahrtgesetz LIBOR London Interbank Offered Rate LISA Land Information System Austria lit littera LLP Limited Liability Partnership LoI Letter of Intent LSE London School of Economics and Political Science LTO Legal Tribune Online M MCCA Mercado Común Centroamericano MEI Masseneinwanderungsinitiative MERCOSUR Mercado del Sur MIFID Markets in Financial Instruments Directive MIFIR Markets in Financial Instruments Regulation

XXX

Abkürzungsverzeichnis

Mio Millionen MOAS Migrant Offshore Aid Station MOEL Mittel- und osteuropäische Länder MP Member of Parliament MPSZ Magyar Polgári Szövetség Mrd Milliarde(n) MWSt Mehrwertsteuer N NATO North Atlantic Treaty Organisation NEOS Das Neue Österreich NF Neue Folge NFT Nicht Fungible Token NGO Non-Governmental Organization NJW Neue Juristische Wochenschrift NL Niederlande Nr Nummer NR Nationalrat NRO Nicht-Regierungsorganisation NSA National Security Agency NZZ Neue Zürcher Zeitung O OAS Organisation Amerikanischer Staaten OECD Organization of Economic Cooperation and Development OeKB Österreichische Kontrollbank OGAW Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund ÖGfE Österreichische Gesellschaft für Europapolitik OGH Oberster Gerichtshof oJ ohne Jahr OLAF Office européen de lutte antifraude OLG Oberlandesgericht OMT Outright Monetary Transactions OPCW Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons ÖRAK Österreichischer Rechtsanwaltskammertag ORF Österreichischer Rundfunk OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ö österreichisch ÖVP Österreichische Volkspartei öZöRVR Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht P P2P Peer-to-Peer PESCO Permanent Structured Cooperation Petro Petróleo PJZS Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen PLO Palestine Liberation Organisation Prof Professor

XXXI

Abkürzungsverzeichnis

PS PSK PV

Post Scriptum Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee Parlamentarische Versammlung

R RA Rechtsanwalt RAF Rote Armee REACH Registration, Evaluation, Authorization and Restriction of Chemicals RBI Residency by investment Rdnr Randnummer RdU Recht der Umwelt Res Resolution(en) RL Richtlinie Rs Rechtssache RV Regierungsvorlage S S Seite SARON Swiss Average Rate Overnight SDÜ Schengener Durchführungsübereinkommen SE Societas Europaea SECO Staatssekretariat für Wirtschaft SEFV Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung SEK Sekretariat SES Schweizerische Energiestiftung SESAR Single European Sky Air Traffic Management Research SEV Sammlung Europäischer Verträge (Europarat) SFOR Stabilisation Force SFRJ Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien SIPRINet Secret Internet Protocol Network SIS Schengener Informationssystem Slg Sammlung SN Salzburger Nachrichten SNB Schweizerische Nationalbank SNP Scottish National Party SOFR Secured Overnight Financing Rate sog. sogenannt(e) SONIA Sterling overnight Index Average SPD Sozialistische Partei Deutschlands SPÖ Sozialdemokratische Partei Österreichs SR Sicherheitsrat, Systematische Rechtssammlung St Sankt StBG Staatsbürgerschaftsgesetz Sten.Prot. Stenographische Protokolle StpO Strafprozessordnung SÜ Schengener Übereinkommen SVN Satzung der Vereinten Nationen SVP Schweizerische Volkspartei

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

SWIFT SZW

Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication Schweizerische Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzmarktrecht

T t Tonne(n), Tribunal TAC Total allowable catches TONAR Tokyo Overnight Average Rate TTIPP Transatlantic Trade and Investment Partnership TT Tiroler Tageszeitung TU Technische Universität TV Television TVTG Token- und VT-Dienstleistergesetz TW Tera-Watt U ua unter anderem, und andere uam und andere mehr UAS unmanned aircraft systems UGB Unternehmensgesetzbuch ULF unbemannte Luftfahrzeuge UK United Kingdom UKIP UK Independence Party ÜLG Überseeische Länder und Hoheitsgebiete UNDP United Nations Development Programme UNFCCC United Nations Framework Convention on Climate Change UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNMIBH United Nations Mission in Bosnia and Herzogovina UNO Organisation der Vereinten Nationen UNPREDEP United Nations Preventive Deployment Force uU unter Umständen UVP Umweltverträglichkeitsprüfung UVS unabhängiger Verwaltungssenat V V Vertrag VAE Vereinigte Arabische Emirate verb verbunden(e) VerfG Verfassungsgericht VerfO Verfahrensordnung vgl vergleiche VIS Visa-Informationssystem VN Vereinte Nationen VO Verordnung VÖI Vereinigung Österreichischer Industrieller Vol Volumen VStG Verwaltungsstrafgesetz VV Verfassungsvertrag W WEF WEU

World Economic Forum Westeuropäische Union

XXXIII

Abkürzungsverzeichnis

WIFO Institut für Wirtschaftsforschung WKO Wirtschaftskammer Österreich WOZ Wochenzeitung WSA Wirtschafts- und Sozialausschuss WTO World Trade Organization WU Wirtschaftsuniversität WWU Wirtschafts- und Währungsunion WZ Wiener Zeitung Z ZAG Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz zB zum Beispiel ZBJI Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zerb Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis ZEuS Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZfRV Zeitschrift für Rechtsvergleichung Ziff Ziffer ZöR Zeitschrift für öffentliches Recht ZU Zollunion

XXXIV

Inhaltsverzeichnis Teil I:

Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU................. 1

Teil II: Zusammenstellung aller Artikel Auflistung der Artikel in chronologischer Folge ihres Erscheinens.......................................................................................... 53 1. Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt; 2. Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“ und warum wird es von der österreichischen Bundesregierung bekämpft? Die „Übererfüllung“ von RichtlinienVorgaben als komplexes Problem; 3. Relativierung des fundamentalen Rechtsgrundsatzes „ne bis in idem“? Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen; 4. Die dritte österreichische „Präsidentschaft“ in der EU. Vorgaben und Herausforderungen für die Vorsitzführung Österreichs im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2018; 5. Konkrete Fälle von „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung; 6. Aktualisierung der „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) gegen die extraterritorialen US-Sanktionen gegen den Iran (2018). Aktivierung des Schutzmechanismus für Wirtschaftstreibende aus der EU, um damit Schadensersatzforderungen geltend zu machen; 7. The „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ (2018). Die erste Übereinkunft über ein weltweites System ordnungsgemäßer Migration im Schoß der Vereinten Nationen; 8. Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump. Rechtssoziologische Erkenntnisse aus der Richterbestellung am Supreme-Court der USA; 9. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtstaatlichen Pranger. Dieses Mal leitete aber das Europäische Parlament das “Frühwarnsystem“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn ein; 10. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit. Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen wegen „systemischer Mängel“ in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz?; 11. Die Lösung des Namensstreits zwischen Mazedonien und Griechenland scheint zu scheitern. Damit wäre eine singuläre Chance vertan, die „Westbalkanstrategie“ der EU zu befördern; 12. Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“ – Allein zulässige elektronische Übermittlung von Prozessakten ab Anfang Dezember 2018;

XXXV

Inhaltsverzeichnis

13. Was hat eigentlich der Gerichtshof (EuGH) mit „rauchlosen Tabakerzeugnissen“, wie Kautabak, Schnupftabak, Lutschtabak und „Snus“, zu tun? Warum führte die Einstufung von „Snus“ zum ersten freiwilligen Rücktritt eines Kommissars?; 14. „Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht. Stellenausschreibung des ersten „Europäischen Generalstaatsanwalts“ der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ durch die Europäische Kommission; 15. Widerrufbarkeit der „Brexit-Erklärung“ des Vereinigten Königreichs? Der „Exit vom Brexit“ als komplexes Problem; 16. Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat und seinen aktuellen Gefährdungen zu tun? Neueste Entwicklungen zur Bestärkung des Rechtsstaatsprinzips in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland; 17. Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden? Von der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bis zu den Berufs- und Standesregeln; 18. Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) – 56 Jahre deutschfranzösische Freundschaft und Partnerschaft; 19. INSTEX, die tripartite Zweckgesellschaft zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran. Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich schaffen eine „Tauschbörse“, um damit den EU-Iran – Handel zu ermöglichen und zugleich den US-Dollar zu schwächen; 20. Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU – Unbedingt notwendig, oder eigentlich entbehrlich?; 21. Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung. Enorme politische und juristische Komplexität einer sachgerechten Umsetzung dieses Erkenntnisses; 22. Vom „halben Feiertag“ am Karfreitag zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl. Welches Schicksal droht aber dem Auslöser dieser unglaublichen „HuschPfusch“-Gesetzgebung?; 23. Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn? Diente der „Weisenrat“ für Österreich (2000) tatsächlich als Modell für den „Weisenrat“ der EVP für Ungarn (2019)?; 24. Der facettenreiche „Fall Julian Assange“. Offene Fragen nach dem Verweis des „Whistleblowers“ aus der ecuadorianischen Botschaft in London und seiner Verhaftung; 25. Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs der EU. Die Europäische Kommission muss ihre Methode zur Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeld anpassen; 26. Vom „Monster at the Berlaymont“ zum Delegationsleiter der Europäischen Kommission in Österreich – Aufstieg und Fall des „mächtigsten Beamten Europas“, Martin Selmayr; 27. Wirtschaftliche Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Integrationszonen – Die Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA; 28. Österreichs Veto gegen den Abschluss des Abkommens MERCOSUR-EU und seine Implikationen. Politische und rechtliche Konsequenzen bindender Stellungnahmen des Nationalrates; 29. Warum misst Österreich bei benachbarten Atomkraftwerken mit zweierlei Maß? Gegen grenznahe AKW in den MOEL geht Österreich rigide vor, gegen die Laufzeitverlängerung der alten AKW der Schweiz aber nicht; 30. Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU – verbunden mit einem Blick zurück auf die „Sanktionen der Vierzehn“;

XXXVI

Inhaltsverzeichnis

31. Die nordische Zusammenarbeit und ihre Relevanz für die europäische Integration. Der „Nordische Rat“, der „Nordische Ministerrat“ und der „Westnordische Rat“ im Vergleich; 32. Erstmals verhängt die Europäische Union Sanktionen wegen Cyber-Angriffen; 33. „Petro“ und „Petro Oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen; 34. „Brexit“- und „Corona“- bedingte Änderungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des „Gerichtshofs der Europäischen Union“; 35. Ist der Erwerb „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ EU-konform? Die Europäische Kommission ist anderer Meinung. Warum ist der „Verkauf“ von Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsberechtigungen aus verfassungsrechtlicher, völkerrechtlicher und europarechtlicher Sicht unterschiedlich zu beurteilen?; 36. Die Ablehnung der Schweizer Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“. Konsequenzen für die Beziehungen Schweiz – EU im Allgemeinen und für das Rahmenabkommen im Speziellen; 37. Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun? Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU verliert auch der Finanzplatz London seinen „EUPass“ und damit der LIBOR seine Bedeutung; 38. Von LIBRA zu DIEM. Versuche der Europäischen Kommission, auf die mögliche Einführung dieser „Krypto-Währung“ zu reagieren; 39. Virtuelle Währungen (sog. „Krypto-Währungen“) und deren Bedeutung für das herkömmliche Geld- und Finanzsystem; 40. Das „Crypto Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets und die Stellung Österreichs dazu. Teil III: Dokumentation................................................................................................. 533 Dok. 1: Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union (Auszug), vom 19. Februar 2016........................... 535 Dok. 2: Austrittsschreiben von Premierministerin Theresa May aus der EU an den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, vom 29. März 2017....... 543 Dok. 3: Art. 50 EUV....................................................................................................... 550 Dok. 4: Ratsbeschluss über den Abschluss des Austrittsabkommens des UK aus der EU und der EAG, vom 30. Januar 2020................................................... 551 Dok. 5: Politische Erklärung der EU und des UK zu ihren zukünftigen Beziehungen, vom 30. Januar 2020.................................................................. 557 Dok. 6: Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK – Übersicht................................................................................................. 571 Teil IV: Sachverzeichnis................................................................................................. 577

XXXVII

Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU Vorbemerkung.................................................................................................................. 2 1. Einführung................................................................................................................. 3 2. Die Stellung des Vereinigten Königreichs zur europäischen Integration............. 4 3. Die „Opt-out“-Zusagen an das Vereinigte Königreich.......................................... 5 4. „Eine immer engere Union der Völker Europas“................................................... 6 5. Die Volksbefragung über Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vom 23. Juni 2016.................................................................................. 7 6. Die Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2017............ 9 6.1. Der Austritt gemäß Art. 50 EUV.................................................................... 10 6.2. Exit vom „Brexit“?........................................................................................... 12 7. Die Austrittsverhandlungen..................................................................................... 12 7.1. Erste Phase der Austrittsverhandlungen........................................................ 12 7.2. Zweite Phase der Austrittsverhandlungen..................................................... 14 7.2.1. Erster Entwurf des Austrittsabkommens unter Premierministerin Theresa May.......................................................................................... 14 7.2.2. Rücktritt von Premierministerin Theresa May und Fortführung der Austrittsverhandlungen unter Premierminister Boris Johnson . 15 8. Das Austrittsabkommen samt „Politischer Erklärung“......................................... 16 8.1. Inhalt und Rang des Austrittsabkommens..................................................... 16 8.2. Innerstaatliche Umsetzung des Austrittsabkommens................................... 18 8.3. Der Übergangszeitraum im Austrittsabkommen.......................................... 18 9. Einseitige britische Manipulationen des Nordirland-Protokolls.......................... 19 9.1. Erlass des „Binnenmarktgesetzes“.................................................................. 19 9.2. Beförderung von Waren und Reisen mit Heimtieren.................................... 21 9.3. Zuspitzung der Krise um die Durchführung des Nordirland-Protokolls durch das UK.................................................................................................... 21 10. Die „Neue Partnerschaft“ der EU mit dem UK..................................................... 22 11. Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ zwischen der EU und dem UK. 22 11.1. Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ als „EU only“-Abkommen. 23 11.2. Inhalt des „Handels- und Kooperationsabkommens“.................................. 24 12. Konsequenzen des Brexit.......................................................................................... 27 12.1. Wirtschaftliche Konsequenzen........................................................................ 28 12.1.1. (Finanz)Dienstleistungen..................................................................... 28 12.1.2. Fischfang................................................................................................ 30 12.2. Politische (institutionelle) Konsequenzen...................................................... 31 13. Spezielle Problemlagen.............................................................................................. 31 13.1. Bedingt der Brexit zugleich auch den Austritt aus dem EWR?................... 32 13.1.1. Variante 1: Der Austritt aus der EU ist zugleich auch der Austritt aus dem EWR........................................................................................ 32

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU



13.1.2. Variante 2: Der Austritt aus der EU ist nicht zugleich der Austritt aus dem EWR........................................................................................ 33 13.1.3. Conclusio............................................................................................... 34 13.2. Mögliche Unabhängigkeitsreferenden in Schottland, Wales und Nordirland........................................................................................................ 34 13.2.1. Schottland.............................................................................................. 35 13.2.1.1. Chancen für eine Neuauflage des Unabhängigkeitsreferendums........................................................................... 35 13.2.1.2. Sezession Schottlands wäre für Großbritannien härter als der Brexit.......................................................................... 36 13.2.2. Wales...................................................................................................... 38 13.2.3. Nordirland............................................................................................. 38 13.3. Weitere Problemlagen...................................................................................... 40 13.3.1. Gibraltar................................................................................................. 40 13.3.2. Blockade der Kanalinsel Jersey............................................................ 42 13.3.3. Gründung von „Freihäfen“.................................................................. 43 14. „Hard Brexit“ im Bereich grenzüberschreitender Streitfälle in Zivil- und Handelssachen – Die EU verweigert dem UK den Beitritt zum „Lugano – Übereinkommen“...................................................................................................... 44 15. Schlussbetrachtungen................................................................................................ 48

Vorbemerkung Wie bereits vorstehend erwähnt, soll dieser fünfte Band, in seinem Teil I mit einer Darstellung und Kommentierung des wichtigsten Ereignisses innerhalb der EU im Erhebungszeitraum – von Mitte 2018 bis Anfang 2021 – eingeleitet werden. Es ist dies, ohne Zweifel, der singuläre Vorgang, dass erstmals in der Geschichte der europäischen Integration, ein Mitgliedstaat den Integrationsprozess aus eigenem Antrieb verlassen hat, ohne dass er dazu massiv gedrängt oder durch ungerechte Behandlung provoziert worden wäre. Ganz im Gegenteil, es wurden ihm vielmehr eine Reihe von Sonderbegünstigungen konzediert, die den anderen Mitgliedstaaten nicht zugutekamen. Was war aber dann der Grund für das überraschende Ausscheiden? Der Grund dafür, dass das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland“ (United Kingdom, UK) – nach einer Zugehörigkeit zur EWG/EG/EU von insgesamt 47 Jahren (!) – mit Ende 2020 die EU definitiv verlassen hat („Brexit“), war eine ganz knapp ausgegangene Volksbefragung, die noch dazu mit einer inkorrekten Fragestellung des damaligen Premierministers David Cameron eingeleitet wurde.1 Sie wurde auch ohne unmittelbare Notwendigkeit angesetzt und sollte nur die Diskussion in seiner konservativen Partei über die EU endgültig beenden. Zur großen Überraschung ging diese Befragung aber negativ aus, was zu einer unglaublich komplexen Situation führte, die erst nach dreieinhalbjährigen intensiven 1 Siehe dazu nachstehend auf S. 7 ff., 49 f.

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Einführung

Verhandlungen mit dem Ausscheiden des UK aus der EU beendet werden konnte. Die nachfolgende Darstellung ist bemüht, diesen komplizierten Prozess verständlich aufzubereiten, legt dabei ihren Schwerpunkt aber weniger auf eine detaillierte Darstellung von dessen Ablauf, sondern konzentriert sich auf die Konsequenzen des „Brexit“ für beide davon betroffenen Parteien – das UK und die EU. Dabei werden aber nicht nur die realen, tatsächlichen Konsequenzen des „Brexit“ untersucht, sondern auch dessen denkmögliche Auswirkungen dargestellt, die sich in absehbarer Zeit, unter Umständen einstellen könnten. Der damit erzielte Effekt ist eine umfassende Bestandsaufnahme sowie auch eine Vorausschau auf die durch den „Brexit“ unter Umständen ausgelösten zukünftigen Szenarien im Rahmen der europäischen Integration.

1. Einführung Seit der Ankündigung des innenpolitisch – wegen der Wahlerfolge der euroskeptischen UK Independence Party (UKIP) unter ihrem Vorsitzenden Nigel Farage – unter Druck geratenen britischen Premierministers David Cameron am 23. Jänner 2013, Verhandlungen zur Reform der EU und – anschließend daran – einen britischen Volksentscheid über den Verbleib seines Landes in der EU anzuordnen, zieht sich die Frage eines „Brexit“ wie ein roter Faden durch die europarechtliche Szene. Dementsprechend enthält auch bereits Bd. 2 (2014) der gegenständlichen Schriftenreihe „Die EU – das unbekannte Wesen“ einen grundlegenden Beitrag zum Thema „Vom Opt-out“ zum „Brexit“ – Großbritannien testet seine Alternativen in der EU“2. Dabei werden zum einen die dem UK seitens der EU eingeräumten „opt-out“-Möglichkeiten von einzelnen unionsrechtlichen Bestimmungen aufgelistet, zum anderen aber auch die Konsequenzen eines völligen Austritts des UK aus der EU auf der Basis von Art. 50 EUV („Brexit“) dargestellt. Auch die weiteren Bände der Sammelschrift beschäftigten sich nolens volens mit dieser vitalen Fragestellung. So enthält Bd. 3 (2017) in seinen Beiträgen Nr. 353 und Nr. 374 und Bd. 4 (2018) in seinen Beiträgen Nr. 25, 2 Gegliedert in zwei Teile: Teil (1) in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 2 (2014), S. 612 – 617; Teil (2) auf den S. 618 – 624. 3 Hummer, W. Die Zusagen an das Vereinigte Königreich zur Abwehr eines Brexit, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 3 (2017), S. 394 ff. 4 Hummer, W. Der „Brexit“ und seine Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 3 (2017), S. 414 ff. 5 Hummer, W. Bewirkt der „Brexit“ auch den automatischen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus EURATOM?, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 4 (2018), S. 39 ff.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

Nr. 56, Nr. 97 und Nr. 258 weitere einschlägige Artikel zur Frage eines „Brexit“ des UK. Daneben wird aber auch immer wieder in anderen Beiträgen entsprechend Bezug auf diese Frage genommen. Aufbauend auf diesen bisherigen Beiträgen, bot es sich für den gegenständlichen Bd. 5 (2021) daher geradezu an, das in den letzten Jahren alles beherrschende Thema des Austritts des UK aus der EU („Brexit“) neuerlich aufzugreifen und in seiner endgültigen Ausformung vertieft darzustellen. Das damit als Teil I den anderen (vierzig) Beiträgen in Teil II vorangestellte dominierende Thema des erstmaligen Ausscheidens eines Mitgliedsstaates aus der EU zeigt dabei die enorme Komplexität der Rückabwicklung eines bereits jahrzehntelang andauernden Integrationsverhältnisses aus einer su­ pranational ausgestalteten Internationalen Organisation, wie der EG bzw. EU, und dessen Überführung in ein zukünftiges intergouvernementales Handels- und Kooperationsabkommen9 – zwischen der EU und dem nunmehrigen Drittstaat UK – auf.

2. Die Stellung des Vereinigten Königreichs zur europäischen Integration Beinahe sechzig Jahre hat es gedauert, bis die visionäre Aussage Charles de Gaulle, dass das Vereinigte Königreich eine „insular“ und „maritim“ sowie „atlantisch“ und nicht „europäisch“ ausgerichtete Macht darstelle und daher für die Mitarbeit an der europäischen Integration ungeeignet sei, durch das „Brexit“-Referendum vom 23. Juni 2016 Realität geworden ist. Getreu dieser seiner Aussage legte de Gaulle sowohl im Januar 1963, als auch im Mai 1967, zwei Mal sein Veto gegen die damals schon weit fortgeschrittenen Beitrittsverhandlungen des UK zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ein, was jeweils den Abbruch derselben zur Folge hatte. Erst nach seinem Rücktritt im April 1969 konnte am europäischen Gipfeltreffen in Den Haag am 1. Dezember 1969 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem UK erneut vereinbart werden, die nach ihrem positiven Abschluss am 1. Januar 1973 zum definitiven Beitritt dieses Landes zur EWG führten. Nur zwei Jahre später brach im UK eine heftige innenpolitische Diskussion über „Leave“ oder „Remain“ in der EWG aus, die laut Premier Harold Wilson direktdemokratisch über eine Volksbefragung entschieden 6 Hummer, W. Das Vereinigte Königreich und Polen als „even closer allies“?, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 4 (2018), S. 68 ff. 7 Hummer, W. Auswirkungen des „Brexit“ auf die Rechte von Unionsbürgern in dritten EU-Mitgliedstaaten, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 4 (2018) S. 103 ff. 8 Hummer, W. Erster Durchbruch in den „Brexit“-Verhandlungen, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 4 (2018), S. 301 ff. 9 Vgl. dazu nachstehend auf S. 22 ff., 573 ff.

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Die „Opt-out“-Zusagen an das Vereinigte Königreich

werden sollte. Damit waren zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration die Bürger eines Mitgliedstaates aufgerufen, basisdemokratisch über den Verbleib oder den Austritt ihres Heimatstaates aus der EWG zu entscheiden – obwohl ein Austritt aus der EWG statutarisch gar nicht vorgesehen war. Aber auch für das UK war diese Abstimmung eine Premiere, da im Mutterland der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie in seiner dreihundertjährigen Geschichte niemals zuvor eine politische Entscheidung basisdemokratisch in einer Volksabstimmung getroffen wurde. Das am 5. Juni 1975 abgehaltene Referendum brachte eine enorme Überraschung, widerlegte es doch alle damaligen Vorhersagen, die auf einen Austritt des UK aus der EWG hin ausgerichtet waren. In Wahrheit stimmten mehr als 17 Mio. Briten (67,2) für den Verbleib des UK in der EWG. Trotz dieser überwältigenden zwei Drittel-Mehrheit für „Remain“ kam mit der 1979 an die Macht gekommenen Premierministerin Margaret Thatcher wieder verstärkt ein euroskeptisches Element in die britische Innenpolitik, das das UK innerhalb der EWG weitgehend isolierte und zum denkwürdigen „Briten-Rabatt“ („I want my money back“) führte, den Thatcher am 25./26. Juni 1984 am Gipfeltreffen in Fontainebleau Francois Mitterand und Helmut Kohl abringen konnte.

3.  Die „Opt-out“-Zusagen an das Vereinigte Königreich Auch unter den Nachfolgern Margaret Thatchers blieb das UK ein Mitgliedstaat mit vielen Sonderwünschen, die im Zuge der Revision des EUVertrages und des AEU-Vertrages im Jahre 2016 in einer Reihe von primärrangigen Protokollen verankert wurden, wie etwa die Nichteinführung des Euro,10 die Nichtteilnahme am “Schengen-Acquis“,11 die Nichtmitwirkung am Schengener-Grenzregime,12 die „Opt-in“- und „Opt-out“-Regelungen im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“,13 die begrenzte Anwendung der EU-Grundrechtecharta14 sowie die generelle Nichtanwendung der meisten vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 angenommenen Bestimmungen im Bereich der „Polizei10 Protokoll (Nr. 15) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, ABl. 2016, C 202, S. 284 ff. 11 Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besetzstand, ABl. 2016, C 202, S. 290 ff. 12 Protokoll (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 AEUV auf das Vereinigte Königreich und auf Irland, ABl. 2016, C 202, S. 293 ff. 13 Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. 2016, C 202, S. 295 ff. 14 Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europä­ ischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. 2016, C 202, S. 312 ff.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

lichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) (bei gleichzeitiger Übernahme von 35 speziellen Bestimmungen davon).15 Auf der Basis all dieser „Opt-out“-Möglichkeiten schlug die damalige britische Innenministerin Theresa May am 9. Juli 2013 vor, dass das Vereinigte Königreich ein „Opt-out“ für zusammen 98 von insgesamt 133 Rechtsakten im Bereich der Strafjustiz anstreben sollte.

4.  „Eine immer engere Union der Völker Europas“ Diese neuen Ausnahmebestimmungen fasste in der Folge der britische Premierminister David Cameron, in einem Schreiben vom 10. November 2015 an den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, in folgende vier Gruppen zusammen: (a) Economic Governance, (b) Competitiveness, (c) Sovereignty und (d) Immigration. Was die spezielle Forderung im Rahmen des Abschnittes (c) Sovereignty betraf, so führte David Cameron in seinem Schreiben dazu wörtlich aus: „First, I want to end Britains’s obligation to work towards an „ever closer union“ as set out in the treaty. It is very important to make clear that this commitment will no longer apply to the United Kingdom. I want to do this in a formal, legally-binding and irreversible way“.16 Obwohl ihm der Europäische Rat bereits am 27. Juni 2014 – im Hinblick auf die schon früher geforderte Eliminierung der Verpflichtung, eine „immer engere Union der Völker Europas“ anzustreben17 – mit einer kompromissartigen Formulierung, dass nämlich das UK „in Anbetracht seiner Sonderstellung nach Maßgabe der Verträge nicht zu einer weiteren politischen Integration in die EU verpflichtet ist“, entgegengekommen war,18 gab sich Premierminister David Cameron damit nicht zufrieden und verankerte diese Forderung erneut im gegenständlichen Maßnahmenpaket. Im Gegenzug dazu stellten die sechs Gründungsmitglieder der EWG, nämlich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, am 9. Februar 2016 in einem „Joint Communiqué“ ostentativ Folgendes fest: „We remain resolved to continue the process of creating an ever closer union 15 Art. 10 Abs. 4 und 5 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2016, C 202, S. 321 ff. 16 David Cameron: A New Settlement for the United Kingdom in a Reformed European Union, 10.11.2015, S. 3; https://www.gov.uk/government/uploads/system/ uploads/attachment_data/file/475679/Donald_Tusk_letter.pdf 17 Erwägungsgrund 2 der Präambel des EWGV, Erwägungsgrund 13 der Präambel und Art. 1 Abs. 2 des EUV sowie Erwägungsgrund 1 der Präambel des AEUV. 18 EUCO 79/14, S. 11; vgl. Hummer, Die Zusagen an das Vereinigte Königreich zur Abwehr eines BREXIT (Fn. 3), S. 395 f.

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Die Volksbefragung über Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU

among the people of Europe“.19 Damit sollte aber nicht nur jeder relativierenden Betrachtung der gegenständlichen Bestimmung – „eine immer engere Union der Völker Europas“ – entgegengetreten, sondern vor allem wieder an deren Ursprung im Schoß der neofunktionalistischen „Jean-Monnet“Methode“, und deren „step-by-step-approach“, erinnert werden.20 Nach einer Reihe von grundsätzlichen Diskussionen über einzelne Elemente dieses Forderungspakets einigten sich die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf ihrer Tagung vom 18./19. Februar 2016 sowohl auf einen „Beschluss über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union“,21 als auch auf sechs weitere einschlägige Erklärungen.22 Cameron akzeptierte diese Zusagen – als nicht weitgehend genug – aber nicht und kündigte am 20. Februar 2016 für den 23. Juni 2016 die Abhaltung des erwähnten Volksentscheides über den Verbleib des UK in der EU an.

5. Die Volksbefragung über Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vom 23. Juni 2016 In diesem Zusammenhang ist vor allem darauf hinzuweisen, dass bei dem von Premierminister David Cameron für den 23. Juni 2016 angesetzten „Referendum“ – das in Wahrheit eine rein konsultative Volksbefragung, und damit weder für die britische Regierung, noch für das Parlament bindend war – dem Wahlvolk folgende Frage vorgelegt wurde: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“ Damit wurde aber zunächst der Eindruck erweckt, dass es sich dabei nur um den Verbleib des UK in oder den Austritt aus der EU handle. Nicht wurde das britische Elektorat aber über die negativen Folgen des damit ebenfalls verbundenen Austritts aus der EAG (EURATOM) befragt.23 Gem. Art. 3 des Protokolls (Nr. 2) zur Änderung des EAG-Vertrags iVm Art. 106a Abs. 1 EAGV24 gelten nämlich die Bezugnahmen auf die EU auch als solche auf die EURATOM-Gemeinschaft und den EAG-Vertrag, was ua auch auf die Austrittsbestimmungen des Art. 50 EUV zutrifft. Ein Austritt 19 Joint Communiqué – Charting the Way ahead. An EU Founding Members‘ initiative on strengthening Cohesion in the European Union, 9.2.2016; http://www.esteri.it/ mae/it/sala_stampa/archivionotizie/comunicati/2016/02/joint-communique-chartingthe-way.html 20 Vgl. Wessels, W. Jean Monnet – Mensch und Methode: Überschätzt und überholt?, IHS Political Science Series Working Paper 74, May 2001. 21 ABl. 2016, C 69 I, S. 3 ff.; vgl. auch EUCO 1/16, Anlage I, S. 8–24 sowie Dok. 1, nachstehend auf S. 535 ff. 22 EUCO 1/16, Anlagen II bis VII, S. 25–36. 23 Vgl. Hummer, Bewirkt der „Brexit“ auch den automatischen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus EURATOM? (Fn. 5), S. 39 ff. 24 Konsolidierte Fassung ABl. 2010, C 84, S. 43.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

eines Mitgliedstaates aus nur einer der beiden Organisationen ist daher nicht möglich.25 Dass eine solche Überlegung in die Fragestellung der Volksbefragung nicht Eingang gefunden hat, ist mehr als unverständlich.26 Ein Austritt aus EURATOM würde aber die aktuellen britischen Atomkraft-Pläne massiv gefährden. Unter Hinweis auf die, gem. Art. 194 Abs. 2 UAbs.  2 AEUV, jedem EU-Mitgliedstaat zustehende Wahlfreiheit, seinen „Energie-Mix“ frei auswählen zu dürfen, hatte das UK den französischen Reaktorbauer Areva mit der Planung zweier neuer Atomreaktoren der „dritten Generation“ (ERP) in Hinkley Point C – bei Bridgwater gelegen – beauftragt, deren Errichtung der erste Neubau eines AKW seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima wäre.27 Ein Brexit würde aber auch die Investitionsentscheidung des Hauptinvestors „Electricité de France“ (EdF) in die neuen Reaktoren in Hinkley Point C massiv gefährden. Zur allgemeinen Überraschung28 ging die Volksbefragung am 23. Juni 2016 aber (knapp) negativ aus: Bei einer Wahlbeteiligung von 72,2% votierten 51,89% der Wähler – das waren rund 17 Mio. Briten – für einen Austritt des UK aus der EU und 48,11% für einen Verbleib in der EU. Damit stimmten nur 37,44%, also ein gutes Drittel, der wahlberechtigten britischen Staatsbürger für den Brexit. In Summe stimmten insgesamt nur knapp mehr als 1 Mio. Bürger für ein „Leave“ im Vergleich zu einem „Remain“. In den einzelnen Ländern des Vereinigten Königreichs (UK) – bestehend aus England, Schottland, Wales und Nordirland – waren die entsprechenden Prozentsätze ganz unterschiedlich ausgeprägt: In England stimmten 53,4% für einen Brexit, in Wales waren es 52,5%, in Nordirland 44,2% und in Schottland 38%. Damit stimmten in Schottland 62% und in Nordirland 55,8% der Wähler für einen Verbleib in der EU. Was die Sondersituation im britischen Überseegebiet von Gibraltar betrifft, so stimmten 96% der Bevölkerung für einen weiteren Verbleib in der EU.29 In der Folge kündigten sowohl Schottland, als auch Nordirland, an, unter Umständen Unabhängigkeitsreferenden abhalten zu wollen, um – nach ihrer eventuellen Sezession vom UK – der EU beizutreten.30 Es ist daher eine mehr als verständliche Vermutung, dass dann, wenn bei der Volksbefragung die britischen Wähler auch nach den Konsequenzen eines Austritts aus der EAG (EURATOM) gefragt worden wären, mit großer 25 Vgl. Kumin, A. J. Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel, in: Hummer, W. – Obwexer, W. (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon (2009), S. 321 f. 26 Vgl. dazu nachstehend auf S. 22 ff., 573 ff. 27 Hummer, W. Hinkley Point C – Der Kampf Österreichs gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken, ÖGfE Policy Brief 36‘2015. 28 Kurz vor dem Referendum schätzten die Wettbüros die Wahrscheinlichkeit eines Brexit auf lediglich 25%; businessinsider.com vom 22. Juni 2016. 29 Vgl. dazu nachstehend auf S. 41. 30 Vgl. Hummer, Der Brexit und seine Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich (Fn. 4), S. 426 f.

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Die Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2017

Wahrscheinlichkeit die fehlenden 2% der Stimmen für ein „Remain“ pro­ blemlos aufgebracht worden wären, da sie ja dann auf die ausgesprochen negativen Reflexe eines Austritts des UK aus EURATOM im Hinblick auf ihre Nuklearindustrie verwiesen worden wären. Warum hat man ihnen diese (Zusatz)Frage aber nicht gestellt? Interessanter Weise ist diese Frage von den britischen Behörden bis heute nicht (entsprechend) beantwortet worden, sodass man sich fragen muss, ob es dafür einen speziellen Grund gab, oder es sich tatsächlich um ein „Versehen“ der britischen Behörden handelt, was allerdings nur schwer vorstellbar ist? Unmittelbar nach dem negativen Ausgang des „Referendums“ konvozierte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 24. Juni 2016 den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk und den aktuell im Vorsitz befindlichen niederländischen Premierminister, Mark Rutte, um das mehr als überraschende Ergebnis zu beraten. In einer anschließenden gemeinsamen Erklärung31 wiesen sie ua darauf hin, dass der vorstehend erwähnte Beschluss des Europäischen Rates vom 18./19. Februar 2016 über die dem UK angebotenen Ausnahmebestimmungen und Vergünstigungen32 nunmehr nicht in Kraft treten werde und damit hinfällig ist.33 Gleichzeitig forderten sie aber die britische Regierung auf, diese „LeaveEntscheidung“ des britischen Volks so schnell wie möglich umzusetzen, da jede Verzögerung die Unsicherheit über die zukünftige Position des UK nur unnötig verlängern würde. Was die Art der Verhandlungsführung seitens der EU betraf, so forderten Jean-Claude Juncker und der französische Präsident François Hollande vor allem eine spezielle „Härte“ in den BrexitVerhandlungen, um damit potentielle „Nachahmer“ unter den EU-Mitgliedern abzuschrecken.

6. Die Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2017 Die, nach dem Rücktritt von David Cameron am 13. Juli 2016 als seine Nachfolgerin ernannte britische Premierministerin Theresa May wurde in der Folge durch den am 13. März 2017 ergangenen „European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017“34 dazu ermächtigt, die Absicht des UK, aus der EU auszutreten, gem. Art. 50 Abs. 2 EUV dem Europäischen Rat mitzuteilen, was diese am 29. März 2017 auch vornahm.35 Damit begann die 31 Europäische Kommission, STATEMENT/16/2329. 32 Vgl. Fn. 21, 22. 33 Vgl. Hummer, Der Brexit und seine Auswirkungen auf die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich (Fn. 4), S. 421. 34 2017 c. 9. 35 Rats-Dok. XT 20001/17 vom 29. März 2017; siehe dazu auch Dok. 2, nachstehend auf S. 544 ff.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene 2-jährige Frist bis zum 29. März 2019 zu laufen, die im Jahr 2019 noch dreimal verlängert und erst Ende 2020 definitiv beendet werden sollte. Nachdem der Europäische Rat – auf der Basis von Art. 50 Abs. 1 EUV – die Notifikation des Austrittswunsches des UK sowohl aus der EU, als (nunmehr) auch aus der EAG (Euratom)36, formell erhalten hatte, legte er als nunmehriger Europäischer Rat (Artikel 50)37 am 29. April 2017 die Leitli­ nien für die Durchführung der Austrittsverhandlungen38 fest. Bevor auf die Austrittsverhandlungen aber in concreto eingegangen werden kann, müssen zunächst die dafür in Art.  50 EUV aufgestellten Rahmenbestimmungen kurz dargestellt werden.39 6.1. Der Austritt gemäß Art. 50 EUV Gem. Art. 53 EUV und Art. 356 AEUV gelten die beiden Verträge an sich „auf unbegrenzte Zeit“. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde aber in Art. 50 EUV erstmals ein Austrittsrecht aus der EU verankert, wobei die Mitgliedstaaten – als „Herren der Verträge“ – offensichtlich von der Vorstellung ausgegangen sind, dass von diesem Austrittsrecht Niemand Gebrauch machen werde und die EU wegen ihrer ökonomischen und politischen Attraktivität nur mit Beitrittsgesuchen, nicht aber mit Austrittserklärungen befasst werden würde.40 Art. 50 EUV muss allerdings redaktionell als wenig geglückt angesehen werden, da er eine Reihe offener Fragen nicht abschließend regelt.41 Gem. Art. 50 Abs. 1 EUV kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten. Gem. Art.  50 Abs.  2 EUV teilt ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein 36 Vgl. dazu Fn. 66. 37 Mit dieser Bezeichnung des Europäischen Rates, aber auch des Rates, wird angezeigt, dass diese beiden Organe in der Formation von bloß 27 Mitgliedstaaten, dh ohne Beteiligung eines Vertreters des UK, tagen. 38 EUCO XT 20004/17. 39 Vgl. Carmona, J. – Cirlig, C.-C. – Sgueo, G. Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (PE 599.352), vom März 2017. 40 Streinz, R. Das Brexit Referendum: Hintergründe, Streitthemen, Reversibilität, in: Ludwigs, M. – Schmahl, S. Die EU zwischen Niedergang und Neugründung (2020), S. 99. 41 Vgl. dazu Hummer, W. Unschlüssige Austrittsszenarien aus der EU und deren Konsequenzen. Austritt aus der EU, Austritt aus der Euro-Zone, Ausschluß?, in: Stieber, K.-S. (Hrsg.), Brexit und Grexit. Voraussetzungen eines Austritts, Hanns SeidelStiftung/Akademie für Politik und Zeitgeschichte – Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 102 (2015), S. 15 ff. siehe Dok. 3, nachstehend auf S. 551.

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Die Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs vom 29. März 2017

Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Art. 218 Abs. 3 AEUV42 ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt dabei mit qualifizierter Mehrheit43 nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Gem. Art. 50 Abs. 3 EUV finden die Verträge auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens44 oder anderenfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Staat einstimmig, diese Frist zu verlängern. Gem. Art. 50 Abs. 4 EUV nimmt, für die Zwecke der Absätze 2 und 3, das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil. Gem. Art. 50 Abs. 5 EUV muss ein Staat, der aus der EU ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, dies – wie jeder Drittstaat – nach dem Beitrittsverfahren des Art. 49 EUV erneut beantragen. Zur näheren Verdeutlichung des Charakters des Austrittsverfahrens gem. Art. 50 EUV soll in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Austritt aus der EU nicht um einen „contrarius actus“ zum Beitritt zur EU gem. Art. 49 Abs. 2 EUV handelt, der grundsätzlich durch ein Beitrittsabkommen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat geregelt wird, das anschließend auch noch der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften bedarf. Der Entscheid über den Beitritt zur EU liegt daher in den Händen ihrer Mitgliedstaaten, der über den Austritt hingegen bei der EU selbst. Diese Regelung ist folgerichtig. Aufgenommen in die EU wird man durch einen einstimmigen Akt der Mitgliedstaaten, entlassen aber – als späteres Mitglied der Internationalen Organisation EU – durch die Organisation selbst. In diesem Zusammenhang muss auch noch einmal an die vorstehende Bemerkung erinnert werden, dass gem. Art. 106a EAGV die Bestimmungen des Art. 50 EUV auch auf die EAG (EURATOM) Anwendung finden, sodass das UK ebenfalls aus der EAG austreten musste.45 42 Gem. Art.  218 Abs.  3 AEUV legt die Kommission, oder, wenn sich die geplante Übereinkunft ausschließlich oder hauptsächlich auf die GASP bezieht, der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem Rat Empfehlungen vor; dieser erlässt einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen und über die Benennung, je nach dem Gegenstand der geplanten Übereinkunft, des Verhandlungsführers oder des Leiters des Verhandlungsteams der Union. 43 Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Art. 238 Abs. 3 lit. b) AEUV. 44 Vgl. Art. 56 WVRK 1969 (BGBl. 1980/40). 45 Vgl. dazu vorstehend auf S. 7 und nachstehend auf S. 49.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

6.2. Exit vom „Brexit“? Zuletzt soll aber auch noch der Frage nachgegangen werden, ob es einen Widerruf einer einmal abgegebenen Absicht auf Austritt aus der EU gem. Art. 50 Abs. 2 EUV („Exit vom Brexit“) gibt oder nicht. Klarheit in dieser in der Literatur kontrovers diskutierten Frage brachte ein Vorabentscheidungsersuchen, das vom obersten schottischen Zivilgericht (Court of Session, Inner House, First Division) dem EuGH gem. Art.  267 AEUV am 3. Oktober 2018 vorgelegt wurde. In Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona,46 stellte der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. Dezember 201847 fest, dass es sich bei der vorerwähnten Mitteilung des UK an den Europäischen Rat gem. Art. 50 Abs. 2 EUV vom 29. März 2017 lediglich um die „Absicht“ seines Austritts und nicht bereits um diesen selbst gehandelt habe. Dementsprechend hätte das UK bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens seinen Austritt aus der EU jederzeit widerrufen können.48

7.  Die Austrittsverhandlungen Am 22. Mai 2017 erließ der Rat, auf Empfehlung der Europäischen Kommission vom 3. Mai 2017, den Beschluss zur Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen mit dem UK über ein Abkommen, in dem die Einzelheiten von dessen Austritt aus der EU festgelegt wurden,49 und in dessen Anhang auch die Richtlinien für die Führung dieser Verhandlungen enthalten waren.50 7.1. Erste Phase der Austrittsverhandlungen Fast genau ein Jahr nach der „Brexit“-Entscheidung der Briten vom 23. Juni 2016 begannen am 19. Juni 2017 formell die Verhandlungen zwischen der 46 Schlussanträge vom 4. Dezember 2018 (ECLI:EU:C:2018:978). 47 EuGH, Rs. C-621/18, Wightman et al/Secretary of State for Exiting the European Union (ECLI:EU:C:2018:999), Rdnr. 49. 48 Vgl. Hummer, Widerrufbarkeit der „Brexit“-Erklärung des Vereinigten Königreichs?, EU-Infothek vom 4. Dezember 2018; vgl. Artikel Nr. 15, nachstehend auf S. 202 ff. 49 Dok. XT 21016/17; gegen diesen Beschluss wurde von Harry Shindler und 12 weiteren Personen am 21. Juli 2017 beim Gericht eine Nichtigkeitsklage eingebracht, die von diesem mit Urteil vom 26. November 2018 aber als unzulässig abgewiesen wurde [Gericht, Rs. T-458/17, Shindler/Rat, Urteil vom 26. November 2018 (ECLI:EU:T:2018:838)]. Dabei stellte das Gericht fest, dass sich der angefochtene Beschluss, der keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugt, nicht unmittelbar auf die Rechtsstellung der Kläger auswirkt und daher auch nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein kann. Da die Kläger vom angefochtenen Beschluss nicht unmittelbar betroffen sind, sind sie nach Art. 263 Abs. 4 AEUV auch nicht klageberechtigt. 50 Dok. XT 21016/17 ADD 1 REV 2.

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Die Austrittsverhandlungen

EU und dem UK über ein Austrittsabkommen samt einer „Politischen Erklärung“ über die Ausgestaltung der künftigen Beziehungen, die ursprünglich bis Oktober 2018 abgeschlossen werden sollten.51 Die Verhandlungen wurden vom EU-Chefunterhändler, Michel Barnier, und dem Minister für den Austritt des UK aus der EU, David Davis, eingeleitet und getrennt von den laufenden Unionsgeschäften geführt, deren Fortgang sie auch nicht beeinträchtigen durften. Dabei einigten sich die Unterhändler, auf der Basis der vorerwähnten Leitlinien des Europäischen Rates (Artikel 50) vom 29. April 2017, auf die prioritäre Behandlung folgender drei Schwerpunkt­ bereiche:52 (1) Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger: Was die Rechte der rund 3,2 Mio. Unionsbürger im UK sowie der rund 1,2 Mio. Briten in den anderen 27 EU-Mitgliedstaaten betraf, so wurde in den Verhandlungen eine grundlegende Einigung darüber erzielt, dass diese auch nach dem Brexit ihre gegenwärtigen Rechte unverändert beibehalten sollen. Bevorzugt werden davon Bewohner der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten (MOEL) erfasst, deren Heimatstaaten in den Jahren 2004 und 2007 der EU beigetreten sind. Nach vorsichtigen Schätzungen betraf dies vor allem 900.000 Polen, 310.000 Rumänen, 185.000 Litauer und 93.000 Slowaken. Damit sind die Polen die größte ausländische Volksgruppe im UK, die sogar die der Inder und Pakistani übertrifft.53 (2) Der Dialog über Irland/Nordirland: Durch das Ausscheiden des UK aus der EU wird die irisch/nordirische Grenze von einer EU-Binnengrenze zu einer Außengrenze, wobei aber die Integrität der Zollunion und des Binnenmarktes gewahrt werden muss. Es galt aber auch, eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland zu vermeiden, um damit den Friedensprozess im Allgemeinen und das Karfreitagsabkommen von Belfast („Good Friday Agreement“) vom 10. April 1998 nicht zu gefährden, das – unter US-Vermittlung – den Bürgerkrieg in Nordirland beenden konnte. Die Konstruktion der Gestaltung einer gewissen „Durchlässigkeit“ dieser Grenze gehörte daher zu den komplexesten Fragen, die die Unterhändler im Zuge der Austrittsverhandlungen zu lösen hatten. (3) Die Finanzregelung: Diesbezüglich galt es, durch eine einheitliche Finanzregelung, sicherzustellen, dass sowohl die EU, als auch das UK, den finanziellen Verbindlichkeiten ordnungsgemäß nachkommen, die während des Zeitraums der EU-Mitgliedschaft des UK entstanden sind. Laut briti51 Für eine chronologische Zusammenstellung derselben siehe Brexit – Consilium; file:///C:/Users/c31064/AppData/Local/Microsoft/Windows/Temporary%20Inter net%... 52 Vgl. dazu Hummer, Erster Durchbruch in den Brexit-Verhandlungen – Der Übergang von der ersten in die zweite Phase und dessen Konsequenzen (Fn. 8), S. 305 ff. 53 Fuksiewicz, A. – Piłat, A. – Voarino, L. Maintaining EU-27 citizens’ rights in the UK: a Central and Eastern European Perspective, Bertelsmann Stiftung, Policy Brief 12.2017, S. 3.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

schen Schätzungen würden sich die Beiträge zum EU-Haushalt – im Rahmen der mittelfristigen Haushaltsplanung (2014–2020) – auf 17 bis 18 Mrd., die Summe der ausstehenden finanziellen Zusagen auf 21 bis 23 Mrd. und die der eingegangenen Verpflichtungen (minus der Rücküberweisungen) auf 2 bis 4 Mrd. Euro belaufen. In Summe wären das 40 bis 45 Mrd. Euro.54 Eine andere Schätzung geht in diesem Zusammenhang von insgesamt 55 Mrd. Euro aus.55 7.2.  Zweite Phase der Austrittsverhandlungen 7.2.1. Erster Entwurf des Austrittsabkommens unter Premier­ ministerin Theresa May Nach einer intensiven Verhandlungstätigkeit, die sich nicht nur über die drei Kernprobleme der ersten Unterhändlerphase erstreckte, sondern auch eine Reihe weiterer vitaler Agenden mit einbezog, legte die Europäische Kommission am 8. Dezember 2017 dem Europäischen Rat (Artikel 50) nahe, ausreichende Fortschritte in der ersten Phase der Art. 50 EUV-Verhandlungen mit dem UK festzustellen, um damit die Eröffnung der zweiten Phase der Austrittsverhandlungen anzuregen. In der Folge kam es am 15. Dezember 2017 zu einem Beschluss des Europäischen Rates (Artikel 50), in die zweite Phase der Austrittsverhandlungen einzutreten, für die er zugleich auch neun Leitlinien verfasste56. Diesem war am 13. Dezember 2017 eine Entschließung des Europäischen Parlaments vorausgegangen, das ebenfalls ausreichende Fortschritte festgestellt hatte. In der Folge übermittelte die Kommission am 20. Dezember 2017 dem Rat (Artikel 50) eine entsprechende Empfehlung57, in der unter anderem auch darauf hingewiesen wurde, dass der Übergangszeitraum eindeutig festgelegt und genau befristet sein muss. Die Kommission empfiehlt in diesem Zusammenhang, diesen nicht über den 31. Dezember 2020 hinaus andauern zu lassen.58 Nachdem der Europäische Rat am 23. März 2018 weitere Leitlinien über die Rahmenbedingungen der zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem UK erlassen hatte, erreichten die Unterhändler, nach mehr als komplexen Verhandlungen, am 14. November 2018 erstmals eine Übereinkunft über die inhaltliche Ausgestaltung des Austrittsabkommens sowie einer „Politischen Erklärung“ über die künftigen Beziehungen, die am 54 Zalan, E. What are the key points of the Brexit deal?, EUobserver, vom 8. Dezember 2017, S. 3. 55 Steiner-Gashi, I. Erste Brexit-Hürde ist geschafft, jetzt wartet der schwierigste Teil, Kurier vom 9. Dezember 2017, S. 4. 56 EUCO XT 20011/17. 57 COM(2017) 830 final. 58 Vgl. dazu nachstehend auf S. 18.

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Die Austrittsverhandlungen

25. November 2018 auf einem Sondergipfel des Europäischen Rates gutgeheißen wurden.59 In der Folge erließ der Rat am 11. Jänner 2019, im Namen der EU und der EAG, den Beschluss (EU) 2019/27460 über die Unterzeichnung des Austrittsabkommens. In Verfolg des Urteils des Supreme Court in der Causa Miller61, in dem der Oberste Gerichtshof Großbritanniens festgestellt hatte, dass ein Abkommen dieser Art und dieses Inhalts die Zustimmung des Unterhauses benötigen würde, wurde der Entwurf des Austrittsabkommens dem House of Commons vorgelegt, erlitt aber dort am 15. Jänner (432 gegen 202 Stimmen) und in der Folge auch am 12. März 2019 (391 gegen 242 Stimmen) zwei herbe Abstimmungs-Niederlagen. In der Folge beantragte Theresa May am 20. März 2019 beim Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, eine erste Verlängerung des Austrittsverfahrens des UK aus der EU bis Ende Juni 2019. Nach einem weiteren Verschiebungsantrag von Theresa May, einigten sich die 27 Staats- und Regierungschefs am 11. April 2019 auf eine neuerliche Verschiebung bis längstens 31. Oktober 2019. 7.2.2. Rücktritt von Premierministerin Theresa May und Fortführung der Austrittsverhandlungen unter Premierminister Boris Johnson Der ununterbrochenen Querelen müde, kündigte Premierministerin Theresa May am 24. Mai 2019 ihren Rücktritt als Vorsitzende der Konservativen Partei für den 7. Juni 2019 an, erklärte aber zugleich, als Premierministerin bis zur Ernennung ihres Nachfolgers im Amt bleiben zu wollen. In der Folge ernannte Queen Elisabeth II am 24. Juli 2019 Boris Johnson zum neuen britischen Premierminister.62 Nachdem, unter der nunmehrigen Führung von Premier Boris Johnson, über den Sommer und Herbst 2019 das umstrittene Protokoll zu Irland und Nordirland neuerlich verhandelt worden war, erreichten die Unterhändler am 17. Oktober 2019 einen neuen Konsens über die Ausgestaltung eines (revidierten) Austrittsabkommens63 und einer „Politischen Erklä­ 59 EU-Gipfel nimmt Austrittsvertrag mit Großbritannien an; nzz.ch vom 25. November 2018. 60 ABl. 2019, L 47I, S. 1 ff. 61 Supreme Court, Urteil vom 24. Jänner 2917, R (Miller) v. Secretary of State for Exiting the European Union, UKSC 5. 62 Schlie, U. Nicht der beste, aber ein sehr interessanter Politiker, NZZ vom 2. März 2021, S. 16; vgl. auch die Biographie Johnsons von Ross, J. Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds (2020). 63 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 2019, C 384I, S. 1 ff.

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rung“64, der noch am selben Tag von den Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten formell angenommen wurde. Da sich auch gegen diesen Vertragsentwurf im Unterhaus Widerstand formierte, musste Boris Johnson nolens volens am 19. Oktober 2019 beim Europäischen Rat erneut eine Verschiebung des Austrittsdatums beantragen, die dieser am 25. Oktober 2019 auch grundsätzlich bewilligte, ohne aber eine genaue Frist dafür anzugeben. Am 28. Oktober 2019 setzte der Europäische Rat dafür definitiv den 31. Jänner 2020 als letzten Termin fest. In der Folge stimmten am 9. Jänner 2020 das britische Unterhaus und am 22. Jänner 2020 auch das Oberhaus für den Abschluss des Austrittsabkommens. Um die Komplexität der Austrittsverhandlungen auch nur annähernd zu beschreiben, seien in aller Kürze nur folgende Ereignisse zusammengefasst: Die Dauer der Verhandlungen betrug dreieinhalb Jahre, drei Prime Minister (Cameron, May und Johnson) waren damit befasst, zwei Neuwahlen (2017 und 2019) mussten abgehalten werden, es gab drei unterschiedliche Zusammensetzungen des Parlaments, sechs potentielle und drei reale Austrittstermine sowie zwei Austrittsabkommen (das von Theresa May am 14. November 2018 und das von Boris Johnson am 17. Oktober 2019 ausgehandelte Abkommen) sowie vier parlamentarische Abstimmungen, in denen die Zustimmung zu den Abkommen verweigert wurden.65

8.  Das Austrittsabkommen samt „Politischer Erklärung“ 8.1.  Inhalt und Rang des Austrittsabkommens In der Folge wurde das Austrittsabkommens am 24. Jänner 2020 durch den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen und den britischen Ministerpräsidenten, Boris Johnson, unterzeichnet. Nachdem das Europäische Parlament am 29. Jänner 2020 mit überwältigender Mehrheit – 621 Pro-, 49 Kontra-Stimmen und 13 Enthaltungen – dem Austrittsabkommen zugestimmt hatte, kam es am 30. Jänner 2020, gem. Art.  50 Abs.  2 EUV iVm Art. 106a EAGV, zur Genehmigung des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft66 (Austrittsabkom-

64 Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, ABl. 2019, C 384I, S. 178 ff.; siehe dazu auch Dok. 5, nachstehend auf S. 559 ff. 65 Ziegler, K. Rechtliche und politische Herausforderungen des Brexit für das Vereinigte Königreich: Die Rolle des Parlaments im Brexit-Verfahren, in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung (2020), S. 132. 66 ABl. 2020, L 29, S. 7 ff.

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Das Austrittsabkommen samt „Politischer Erklärung“

men) durch den Rat im Namen der EU und der EAG.67 Damit trat das UK, nach einer nunmehrigen 47-jährigen Mitgliedschaft, am 31. Jänner 2020 um Mitternacht (Ortszeit Brüssel) sowohl aus der EU, als auch aus EURATOM aus und wurde damit zu einem Drittstaat. Das Austrittsabkommen ist in folgende sechs Teile gegliedert: Der erste Teil (Art.  1 – Art.  8) enthält allgemeine Bestimmungen, der zweite Teil (Art.  9 – Art.  39) die wichtigsten Bürgerrechte, der dritte Teil (Art.  40 – Art. 125) Bestimmungen zur Abwicklung laufender Angelegenheiten (Zollverfahren, Mehrwertsteuern und Verbrauchssteuern, Vergabe öffentlicher Aufträge, Euratom-bezogene Fragen uam.), der vierte Teil (Art.  126 – Art.  132) Übergangs- und Durchführungsbestimmungen, der fünfte Teil (Art. 133 – Art. 157) Finanzbestimmungen und der sechste Teil (Art. 158 – Art. 185) institutionelle und Schlussbestimmungen.68 Dem Austrittsabkommen sind folgende drei Protokolle angeschlossen, die zu Bestandteilen des Abkommens erklärt werden: Protokoll zu Irland/ Nordirland69, Protokoll zu den Hoheitszonen des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland auf Zypern70 und Protokoll zu Gibraltar71. Das Austrittsabkommen ist gem. Art. 50 Abs. 2 EUV von einer Politischen Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich72 begleitet, die den Rahmen für die künftigen Beziehungen des UK zur EU festlegt. Als völkerrechtliches Abkommen bindet das Austrittsabkommen gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV neben der EU auch deren Organe sowie die Mitgliedstaaten und steht im Rang zwischen dem Primär- und Sekundärrecht (sog. „Mezzaninrang“).73 Damit bedingt es ua (gründungs)vertragliche Anpassungen, die gem. Art. 48 EUV vorgenommen werden müssen.74 Was die Rechte der Unionsbürger im UK (3,2 Mio.) sowie der britischen Staatsbürger in der EU (1,2 Mio.) – vor allem aber deren Aufenthaltsrechte (Art. 13, 15 Austrittsabkommen), Aus- und Einreiserechte (Art. 14), Rechte von Arbeitnehmern und Selbständigen (Art. 24 ff.), Anerkennung von Berufsqualifikationen (Art. 27 ff.) etc. – betrifft, so werden diese weitgehend beibehalten, während andere Bürgerrechte wiederum suspendiert werden (Art. 167 ff.), wie zB die Beteiligung an Europäischen Bürgerinitiativen, das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament, das Kommu67 Beschluss (EU) 2020/135, ABl. 2020, L 29, S. 1; vgl. dazu Dok. 4, nachstehend auf S. 552 ff. 68 Vgl. dazu Streinz, Das Brexit Referendum (Fn. 40), S. 114 ff. 69 ABl. 2020, L 29, S. 102 ff. 70 ABl. 2020, L 29, S. 146 ff. 71 ABl. 2020, L 29, S. 153 ff. 72 ABl. 2020, C 34, S. 1 ff.; vgl. dazu nachstehend auf S. 559 ff. 73 Vgl. Schweitzer, M . – Hummer, W. – Obwexer, W. Europarecht. Das Recht der Europäischen Union (2007), S. 276 Rdnr. 1010. 74 Terhechte, J. P. Strukturen und Probleme des Brexit-Abkommens, NJW 2020, S. 425.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

nalwahlrecht und das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament.75 Was die Streitbeilegung betrifft, so enthält das Austrittsabkommen Bestimmungen über eine umfassende Schiedsgerichtsbarkeit (Art. 167 ff.), wobei das an sich unabhängige Panel aber zur Vorlage an den EuGH dann verpflichtet ist, wenn es sich um Fragen der Auslegung des Unionsrechts handelt (Art. 174 Abs. 1). 8.2.  Innerstaatliche Umsetzung des Austrittsabkommens Das Austrittsabkommen wurde im UK durch den „European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020“76 innerstaatlich umgesetzt, der im Unterhaus nach drei Lesungen am 9. Jänner 2020 verabschiedet wurde, in der Folge am 22. Jänner auch die Zustimmung des Oberhauses erhielt und am 23. Jänner 2020 den Royal Assent zugesprochen bekam. Am 1. Februar 2020 begann der im Rahmen des Austrittsabkommens (Art.  126) vereinbarte befristete Übergangszeitraum, der bis zum 31. Dezember 2020 dauerte.77 Bis zu diesem Zeitpunkt galt das Recht der EU nach wie vor im UK (Art. 126 bis 132), obwohl dieses nicht mehr in den Organen, Agenturen, Einrichtungen und Ämtern der EU vertreten war. 8.3.  Der Übergangszeitraum im Austrittsabkommen Das Austrittsabkommen trat zwar am 30. Jänner 2020 in Kraft, enthielt aber in seinem Art.  126 die Festlegung eines „Übergangszeitraums“ bis zum 31. Dezember 2020, während dessen sowohl für das UK, als auch im UK, das Unionsrecht der EU weiterhin in Geltung stehen sollte. Das durch das Austrittsabkommen eingesetzte „Gemeinsame Komitee“ hätte zwar gem. Art. 132 Abs. 1 des Austrittsabkommens – und zwar vor dem 1. Juli 2020 – die Übergangsperiode um höchstens für ein oder zwei Jahre verlängern können, was in der Folge aber nicht geschah. Der Übergangszeitraum sollte dazu dienen, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit das Austrittsabkommen am 1. Jänner 2021 definitiv umgesetzt und ein Abkommen über eine neue Partnerschaft der EU mit dem UK ausgehandelt werden könne. Darüber hinaus sollte der Übergangszeitraum es der EU ermöglichen, dafür zu sorgen, dass die nötigen Vorbereitungen noch vor seinem Ende am 31. Dezember 2020 getroffen werden können, ab dem das UK – als nunmehriger Drittstaat – weder am Binnenmarkt noch an der Zollunion mehr teilnimmt und auch nicht mehr von Maßnahmen und Programmen oder völkerrechtlichen Verträgen der EU profitiert. 75 Vgl. Hummer, Auswirkungen des „Brexit“ auf die Rechte von Unionsbürgern in dritten EU-Mitgliedstaaten (Fn. 7). 76 UK Public General Acts 2020 c.1. 77 Vgl. dazu nachstehend auf S. 22.

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Einseitige britische Manipulationen des Nordirland-Protokolls

Diese Vorgangsweise akzeptierte die Regierung des UK in ihrem am 27.  Februar 2020 veröffentlichten Verhandlungskonzept für die künftigen Beziehungen der EU.78 Seitens der EU legte die Europäische Kommission am 9. Juli 2020 eine Mitteilung an das EP, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen mit dem Titel „Bereit für Veränderungen. Mitteilung zur Vorbereitung auf das Ende des Übergangszeitraums zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich“79 vor, in dem sie auf den Entwurf eines Kooperationsabkommens80 hinwies, den die Kommissionsdienststellen bereits am 18. März 2020 veröffentlicht hatten. Dieser Entwurf deckt alle in der vorerwähnten „Politischen Erklärung“81 zwischen der EU und dem UK vereinbarten Bereiche ab.

9. Einseitige britische Manipulationen des NordirlandProtokolls 9.1.  Erlass des „Binnenmarktgesetzes“ Gem. Art. 5 des Austrittsabkommens müssen sowohl die EU als auch das UK alle geeigneten Maßnahmen treffen, um die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen, und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele des Abkommens gefährden könnten. Beide Parteien sind dabei verpflichtet, sich bei der Erfüllung der sich aus dem Austrittsabkommen ergebenden Verpflichtungen nach Treu und Glauben gegenseitig zu unterstützen. Am 9. September 2020 legte die Regierung des UK eine Gesetzesvorlage („United Kingdom Internal Market Bill“) (Binnenmarktgesetz)82 vor, die es ihm ermöglichen sollte, Teile des Austrittsabkommens, vor allem aber des „Protokolls zu Irland und Nordirland“83, einseitig auszusetzen. Inhaltlich ging es dabei um die Regelung des zukünftigen Warenverkehrs zwischen Nordirland und dem Rest des UK sowie um die Vermeidung von inneririschen Grenzkontrollen. Laut Austrittsvertrag bleibt Nordirland an die EU-Zollunion und den Binnenmarkt gebunden, was aber das UK zu 78 The Future Relationship with the Union: The UK’s Approach to Negotiations, vom 27. Februar 2020. 79 COM(2020) 324 final. Im Anhang I dieser Mitteilung (S. 37 f.) findet sich eine Aufstellung von 59 aktualisierten Stellungnahmen zur Vorbereitung auf das Ende des Übergangszeitraums, die von einschlägigen Interessenträgern eingemeldet wurden. 80 Draft text of the Agreement on the New Partnership with the United Kingdom; ­https://ec.europa.eu/info/publications/draft-text-agreement-new-partnership-unitedkingdom_en 81 Siehe Fn. 72. 82 United Kingdom Internal Market Bill (Bill 177, 58/1). 83 Das Irland/Nordirland-Protokoll ist Teil des Austrittsabkommens des UK aus der EU (ABl. 2020, L 29, S. 7 ff.); vgl. Fn. 66.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

spalten drohe, wie der britische Premierminister Boris Johnson erklärte. Durch die Bestimmungen des Binnenmarktgesetzes sollte daher der britischen Regierung die Kompetenz eingeräumt werden, im Bereich staatlicher Beihilfen und gewisser Exportdeklarationen das „Nordirland-Protokoll“ unilateral nicht mehr anwenden zu müssen.84 Dieser eindeutige völkerrechtliche Bruch einer vertraglichen Übereinkunft zwischen dem UK und der EU85 erhielt bei der Abstimmung im Unterhaus am 14. September 2020 – mit 340 zu 263 Stimmen – eine mehr als deutliche Mehrheit.86 Im Gegensatz dazu stimmte das britische Oberhaus am 20. Oktober 2020 mit einer noch deutlicheren Mehrheit, nämlich 395 gegen 169 Stimmen, gegen den Gesetzesentwurf.87 Bei einer neuerlichen Abstimmung im House of Lords am 9. November 2020 stimmte dieses erneut mit großer Mehrheit – 433 zu 165 Stimmen – gegen das Binnenmarktgesetz.88 Zwischenzeitlich hatte die Kommission bereits am 1. Oktober 2020 rechtliche Schritte gegen das UK wegen Verletzung des Austrittsabkommens durch den Erlass des Binnenmarktgesetzes eingeleitet und es per Mahnschreiben aufgefordert, die völkerrechtswidrigen Maßnahmen umgehend zurückzunehmen.89 Damit setzte sie den ersten Schritt für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art.  258 AEUV vor dem Gerichtshof, dem das UK ja bis zum Ende der Übergangszeit noch unterstand. Nachdem das Unterhaus die umstrittenen Klauseln auf Antrag der Regierung am 7. Dezember 2020 neuerlich beschlossen hatte, gab die britische Regierung – nach intensiven Verhandlungen mit der Kommission – einen Tag später aber bekannt, dass sie die gegenständlichen Bestimmungen aus dem Binnenmarktgesetz eliminieren wird.90 84 Vgl. Triebe, B. Warum Grossbritannien im Brexit-Poker das Völkerrecht brechen will und die EU vor den Kopf stösst, nzz.ch vom 11. September 2020. 85 Vgl. dazu Primate’s FT letter on the UK Internal Market Bill, vom 19. Oktober 2020; https://www.archbishopofcanterbury.org/node/1602/printable/print 86 Vgl. British MPs vote through controversial Brexit bill, euobserver vom 15. September 2020; Nuspliger, N. Boris Johnsons Marktgesetz nimmt die erste Hürde deutlich, aber noch hat er seinen Poker nicht gewonnen, nzz.ch vom 15. September 2020; dpa, Britisches Unterhaus stimmt trotz Warnungen für umstrittenes Gesetz, vom 29. September 2020, nzz.ch wiederum spricht von 256 Gegenstimmen. 87 Vgl. Bumbacher, B. Brexit-Streit: Britisches Oberhaus stimmt mit grosser Mehrheit gegen Binnenmarktgesetz, nzz.ch vom 20. Oktober 2020. 88 Bumbacher, B. Brexit-Streit: Britisches Oberhaus stimmt erneut gegen umstrittenes Binnenmarktgesetz, nzz.ch vom 10. November 2020. 89 Vgl. Schmutz, C. G. Die EU-Kommission erhöht den Druck auf London und leitet wegen der Verletzung des Brexit-Abkommens rechtliche Schritte gegen Großbritannien ein, nzz.ch, vom 1. Oktober 2020. 90 Brexit-Streit: Britische Regierung streicht umstrittene Bestimmungen im Binnenmarktgesetz, Macron und Merkel wollen Thema vom EU-Gipfel fernhalten, NZZ Redaktion, vom 8. Dezember 2020.

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Einseitige britische Manipulationen des Nordirland-Protokolls

9.2.  Beförderung von Waren und Reisen mit Heimtieren Neben dem Erlass des Binnenmarktgesetzes leistete sich das UK aber noch eine weitere Missachtung des Nordirland-Protokolls. Am 3. März 2021 erklärte die Regierung des UK ihre Absicht, die vollständige Anwendung des Protokolls zu Irland und Nordirland im Hinblick auf die Beförderung von Waren und Reisen mit Heimtieren von Großbritannien nach Nordirland einseitig zu verzögern, ohne dies aber im „Gemeinsamen Ausschuss“ mit der EU besprochen und akkordiert zu haben. Damit untergrub das UK aber nicht nur die Arbeit des „Gemeinsamen Ausschusses“ sondern auch das gegenseitige Vertrauen und den Geist der loyalen Zusammenarbeit, die in den letzten Monaten des Jahres 2020 nach der durch das britische „Binnenmarktgesetz“ geschaffenen Unsicherheit91 wieder mühsam aufgebaut worden waren. Dementsprechend richtete die Kommission am 15. März 2021 ein Aufforderungsschreiben an das UK und leitete damit ein weiteres förmliches Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 12 Abs. 4 des Protokolls zu Irland und Nordirland iVm Art. 258 AEUV gegen das UK ein. Des Weiteren richtete der Vizepräsident der Kommission, Maroš Šefčovič, ein Schreiben an David Frost, den Ko-Vorsitzenden für das UK im Gemeinsamen Ausschuss, in dem er die Regierung des UK aufforderte, diese einseitigen Maßnahmen zurückzunehmen, da diese einen Verstoß gegen Treu und Glauben, und damit gegen Art. 5 des Austrittsabkommens, darstellen, was in der Folge auch geschah. 9.3. Zuspitzung der Krise um die Durchführung des Nordirland-Protokolls durch das UK Die seit Monaten schwelende Krise um die korrekte Umsetzung des „Nordirland-Protokolls“ durch das UK spitzte sich immer mehr zu, sodass von beiden Seiten versucht wurde, die angespannte Situation durch die Aufnahme von Verhandlungen zu entschärfen. Am 9. Juni 2021 wurden diese aber ergebnislos abgebrochen, wobei der für die EU verhandelnde Vizepräsident der Kommission, Maroš Šefčovič, darauf hinwies, dass beide Seiten offensichtlich „an einem Scheideweg“ angekommen seien. Sollte sich London weiterhin sträuben, seine Brexit-Verpflichtungen in Bezug auf das Nordirland-Protokoll entsprechend wahrzunehmen, müsse die EU „rasch und resolut“ für die Einhaltung dieser Verpflichtungen sorgen. In Brüssel und Dublin fürchtet man sogar, dass die britische Regierung es darauf abgesehen hat, das Nordirland-Protokoll ganz zu Fall zu bringen.92

91 Siehe dazu vorstehend auf S. 19 f. 92 Nonnenmacher, P. EU und Briten: Krise spitzt sich zu, Wiener Zeitung vom 10. Juni 2021, S. 5.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

10.  Die „Neue Partnerschaft“ der EU mit dem UK Am 13. Februar 2020 verabschiedete der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen für eine neue Partnerschaft mit dem UK und benannte zugleich die Kommission förmlich als Verhandlungsführer der EU.93 Er nahm darüber hinaus auch Verhandlungsrichtlinien an, die der Kommission als Mandat für die Verhandlungen dienen sollten. Die Verhandlungen wurden in der Folge formell am 2. März 2020 aufgenommen, gestalteten sich aber zusehends schwieriger, sodass berechtigte Zweifel auftauchten, ob ein solches Abkommen bis zum 31. Dezember 2020 überhaupt zustande kommen könnte. Dementsprechend legte die Kommission am 10. Dezember 2020 gezielte Notfallmaßnahmen für den Fall des Nichtzustandekommens eines Abkommens über eine künftige Partnerschaft mit dem UK vor,94 die vor allem grundlegende Luft- und Straßenverkehrsverbindungen zwischen der EU und dem UK gewährleisten und Schiffen der EU und des UK gegenseitigen Zugang zu Fanggebieten in den Gewässern der jeweils anderen Partei ermöglichen sollten. Nach einer Reihe von Unterbrechungen konnten die komplexen Verhandlungen nach neun Monaten – ausgerechnet am Heiligen Abend, dem 24. Dezember 2020,95 – buchstäblich in letzter Minute definitiv abgeschlossen werden, wodurch das Schreckensszenario eines „No-Deal“ gerade noch abgewendet werden konnte.96 Allerdings wurde von Kennern der Situation die schlechte Verhandlungsführung der britischen Unterhändler schonungslos aufgezeigt: „I have never seen a British government perform worse than they did in the four years of negotiations that concluded with the Christmas Eve Brexit agreement“.97

11. Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ zwischen der EU und dem UK Aus der vorerwähnten „Politischen Erklärung“98 ergibt sich, dass die EU und das UK nach dem Ende der Übergangszeit eine „ambitionierte, breite, vertiefte und flexible Partnerschaft“ anstreben. An alternativen Konzepten 93 Rats-Dok. 5870/20 vom 13. Februar 2020. 94 Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on targeted contingency measures in the absence of an agreement with the United Kingdom on a future partnership (COM(2020) 831 final); vgl. dazu Europäische Kommission – Pressemitteilung IP/20/2368, vom 10. Dezember 2020. 95 Das Brexit-Wunder am Heiligen Abend, Redaktion Kurier, vom 24. Dezember 2020. 96 Vgl. dazu aber nachstehend den „hard Brexit“ auf S. 44 ff. 97 Powell, J. 5 reasons the UK failed in Brexit talks, Politico, vom 30. Dezember 2020. 98 Fn. 72.

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Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ zwischen der EU und dem UK

für die künftigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem UK wurden in der Literatur eine Reihe unterschiedlicher Präferenzmodelle diskutiert, wie zB das EFTA-Modell, das EWR- oder Norwegische Modell, das Schweizer Modell (mit über 130 bilateralen Einzelabkommen, das Türkische Modell (Zollunion), das Kanadische Modell (Typ CETA) oder die WTO-Option.99 Obwohl kaum für einen Austritt eines Mitgliedstaates angedacht, wurde im Schrifttum auch eine Partnerschaft iSd Europäischen Nachbarschaftspolitik (Art. 8 EUV) in die Diskussion eingebracht.100 Keines dieser Modelle wurde idealtypisch übernommen, sondern es wurde ein „ehrgeiziges“ Freihandelsabkommen konzipiert, das mit einer Reihe weiterer Kooperationselemente angereichert wurde.101 Trotzdem wurde es kompetenziell nicht als „gemischtes Abkommen“, sondern als „EU only“-Abkommen ausgestaltet.102 11.1. Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ als „EU only“Abkommen Aufgrund des vorerwähnten Austrittsabkommens schied das UK am 31. Dezember 2020 aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion sowie aus allen Politikbereichen und internationalen Abkommen der EU definitiv aus. Damit wurde der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen dem UK und der EU beendet. An deren Stelle tritt nunmehr das „Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits“103. Das 1.246 Seiten umfassende Handels- und Kooperationsabkommen wurde als reines EU-Abkommen (sog. „EU only“-Abkommen) abgeschlossen, da es nur solche Bereiche abdeckt, die in die Zuständigkeit der Union fallen, seien es ausschließliche (Art.  3 AEUV) oder mit den Mitgliedstaaten geteilte (Art. 4 AEUV) Kompetenzen. Ausschließliche mitgliedstaatliche Zuständigkeiten wurden dabei nicht berührt. Als Rechtsgrundlage für den Abschluss wurde der Assoziationsartikel (Art. 217 AEUV) – und Art. 101 EAV (EURATOM-V) – gewählt, der eine einstimmige Einigung der Mitgliedstaaten im Rat und die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderte. Das Handels- und Kooperationsabkommen wurde seit dem 1. Jänner 2021 vorläufig angewendet und erhielt am 28. April 2021 im Europäischen 99 Hummer, W. – Pribas, S. Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR). Die Sonderbeziehung EG/EU – EFTA bis zum „Brexit“, in: Dauses, M. – Ludwigs, M. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 51. Ergänzungslieferung, Oktober 2020, K.III, S. 131. 100 Streinz, Das Brexit Referendum (Fn. 40), S. 110 ff.; Kumin, Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel (Fn. 25), S. 320. 101 Vgl. dazu nachstehend auf S. 25 ff. 102 Vgl. Streinz, Das Brexit Referendum (Fn. 40), S. 106. 103 ABl. 2020, L 444, S. 14 ff.; neue Fassung im ABl. 2021, L 149, S. 10 – 2539.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

Parlament die notwendige Zustimmung, und zwar mit überwältigender Mehrheit – nämlich von 660 der 697 abgegebenen Stimmen, bei bloß 5 Gegenstimmen und 32 Enthaltungen.104 Dementsprechend konnte es in der Folge, nach erfolgter Ratifikation durch alle 27 EU-Mitgliedstaaten, am 1. Mai 2021 in Kraft treten. Der Vertragsrahmen der EU mit dem UK für die zukünftigen Beziehungen besteht aber nicht nur aus dem Handels- und Kooperationsabkommen, sondern umfasst auch noch zwei weitere Abkommen, nämlich das Abkommen über den Austausch von Verschlusssachen105 sowie das Abkommen im Bereich der sicheren und friedlichen Nutzung der Kernenergie106. Letzteres dient dazu, dem Ausstieg des UK aus dem EAG-Vertrag (EURATOM-V)107 Rechnung zu tragen. Es legt gemeinsame Standards als Ausgangspunkt für die zukünftige kooperation im Nuklearbereich fest, die ein hohes Mass an Sicherheit garantieren sollen. 11.2.  Inhalt des „Handels- und Kooperationsabkommen“ Das Handels- und Kooperationsabkommen besteht aus sieben Teilen, die folgende Bereiche, zumindest ansatzweise, regeln: Handel mit Waren und Dienstleistungen, Investitionen, Wettbewerb, Beihilfen, Steuertransparenz, digitaler Handel, geistiges Eigentum, öffentliches Beschaffungswesen, Luftfahrt und Straßenverkehr, Energie, Fischerei, Datenschutz, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung und Justiz hinsichtlich Strafsachen, thematische Zusammenarbeit, Teilnahme an Programmen der EU uam. Es wird durch Bestimmungen untermauert, die gleiche Wettbewerbsbedingungen und die Wahrung der Grundrechte gewährleisten und unterliegt verbindlichen ad hoc-Streitbeilegungs- und Durchsetzungsmechanismen. Eine Zuständigkeit des Gerichtshofs (EuGH) ist, mit der Ausnahme von Unionsprogrammen, grundsätzlich nicht vorgesehen.108 Die Zusammenarbeit in den Bereichen Außenpolitik, äußere Sicherheit und Verteidigung fällt nicht unter den sachlichen Anwendungsbereich des Handels- und Kooperationsabkommens, da das UK diese Fragen nicht verhandeln wollte. Damit gibt es ab dem 1. Januar 2021 zwischen dem UK und der EU aber keine Grundlage mehr, um gemeinsame Reaktionen auf außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Herausforderungen zu entwickeln und zu koordinieren, wie zB die Verhängung von Sanktionen gegen Drittstaatsangehörige oder dritte Volkswirtschaften. Ebenso wollte sich das UK 104 Europaparlament bestätigt Brexit-Handelspakt, nzz.ch vom 28. April 2021 105 ABl. 2021, L 149, S. 2540 ff. 106 ABl. 2021, L 150, S. 1 ff. 107 Vgl. dazu vorstehend auf S. 7 und nachstehend auf S. 49. 108 Vgl. Scheinert, C. – Kennedy, A. – Ciucci, M.- Martinello, B. – Huber, A. First appraisal of the EU-UK Trade and Cooperation Agreement, March 2021.

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Das „Handels- und Kooperationsabkommen“ zwischen der EU und dem UK

nicht am Austauschprogramm ERASMUS+ beteiligen,109 nachdem ihm eine vom UK geforderte teilweise Teilnahme am Programm – die im Basisrechtsakt zur Einrichtung von ERASMUS aber nicht vorgesehen ist – verweigert wurde. Um auf die Bedeutung des ERASMUS+ – Programms hinzuweisen, sei nur erwähnt, dass dieses im Zeitraum 2014–2020 mehr als 197.000 Teilnehmern aus dem UK zugutekam, von denen mehr als 100.000 Studierende ins Ausland gingen. Das Abkommen erstreckt sich auch nicht auf Entscheidungen über die Äquivalenz von Finanzdienstleistungen.110 Auch potentielle Entscheidungen hinsichtlich der Angemessenheit von Datenschutzregelungen des UK oder seiner gesundheitspolitischen und pflanzenschutzrechtlichen Regelungen für die Aufnahme in die Liste von Drittländern, aus denen Lebensmittel in die EU exportiert werden dürfen, werden vom Abkommen nicht erfasst. In all diesen Fällen kann die EU unilaterale Entscheidungen treffen, die nicht verhandelbar sind. Thematisch lässt sich das „Handels- und Kooperationsabkommen“ in folgende vier Hauptpfeiler aufgliedern und systematisieren, nämlich in ein (a) (ehrgeiziges) Freihandelsabkommen, eine (b) weitreichende Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umweltschutz und Fischerei, eine (c) enge Partnerschaft für die Sicherheit der Unionsbürger sowie eine (d) horizontale Vereinbarung über Governance.111 Ad (a) (ehrgeiziges) Freihandelsabkommen: Damit soll eine neue Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft der EU mit dem UK begründet werden, wozu Nullzollsätze und Nullkontingente für alle Waren vorgesehen sind, die den entsprechenden Ursprungsregeln genügen. Diesbezüglich geht das Abkommen über die jüngsten Freihandelsabkommen der EU mit anderen Drittländern, wie zB mit Kanada (CETA) oder Japan hinaus, was vor allem für landwirtschaftliche Erzeugnisse oder Fischereiprodukte besonders wichtig ist. Trotzdem müssen alle Waren aus dem UK, die in die EU eingeführt werden, den hohen Regulierungsstandards der EU entsprechen. Das Abkommen erstreckt sich aber nicht nur auf den Handel mit Waren und Dienstleistungen, sondern auch auf eine ganze Reihe anderer Bereiche. Ad (b) Weitreichende Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umweltschutz und Fischerei: Diese Zusammenarbeit entspricht in ihrer Intensität zwar keinesfalls den Vorteilen einer EU-Mitgliedschaft, erhält aber Verbindungen aufrecht, die anderenfalls durch den Brexit unterbrochen werden würden, da auf völkerrechtlicher Ebene keine alternativen 109 Vgl. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/file_import/eu-uk-tca-brochure_de.pdf 110 Vgl. dazu Fn. 119. 111 Vgl. Europäische Kommission, Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Eine neue Beziehung – mit großen Veränderungen, Dezember 2020; vgl. auch Europäische Kommission – Pressemitteilung IP/20/2531, vom 24. Dezember 2020.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stünden. So hält das Abkommen die Verbindungen im Straßen-, Luft- und Seeverkehr aufrecht, was für den Verkehrssektor – zwischen der EU und dem UK werden ja pro Jahr etwa 210 Mio. Passagiere und 230 Mio. t Fracht befördert – von vitaler Bedeutung ist. Das Abkommen enthält auch neue Regelungen für die gemeinsame Bewirtschaftung von mehr als 100 gemeinsam genutzten Fischbeständen in den Gewässern der EU und des UK, die die wohl umstrittenste Materie in den ganzen Verhandlungen darstellten. So haben EU-Fischereifahrzeuge während eines Übergangszeitraumes von 5,5 Jahren den gleichen Zugang zu den Gewässern des UK wie bisher, wobei die Fangquoten in diesen Gewässern mit der Zeit schrittweise und ausgewogen gesenkt werden sollen. Dazu kommen die EU und das UK jährlich zusammen, um sich auf Fangquoten iSe nachhaltigen Bewirtschaftung der Fischereiressourcen zu einigen.112 Daneben erstreckt es sich aber auch auf weitere Bereiche, wie zB Investitionen, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Steuertransparenz, Energie und Nachhaltigkeit, Datenschutz, Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Umweltschutz, Klimawandel, Kohlenstoffpreisgestaltung uam. Ad (c) Enge Partnerschaft für die Sicherheit der Unionsbürger: Mit dem Handels- und Kooperationsabkommen wird ein neuer Rahmen für die Strafverfolgung und justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen geschaffen. Es werden neue operative Kapazitäten vor allem bei der Bekämpfung und Verfolgung von grenzüberschreitender Kriminalität und Terrorismus geschaffen, wobei berücksichtigt wird, dass sich das UK als nunmehriger Drittstaat, der sich noch dazu außerhalb des Schengen-Kooperationsraums befindet, und damit vom Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgeschlossen ist, neu ausrichten muss. Die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich kann dann ausgesetzt werden, wenn das UK seine Verpflichtungen zur Einhaltung der EMRK und ihrer innerstaatlichen Durchsetzung verletzt. Diesbezüglich gab es schon früher strukturelle Unverträglichkeiten mit der EMRK, da das UK zB bei graviden lebenslangen Haftstrafen keine vorzeitige Entlassung aufgrund von guter Führung kennt113 und auch ein Verbot für Strafhäftlinge vorsieht, an Wahlen teilzunehmen114. 112 Vgl. dazu nachstehend auf S. 30. 113 Eine lebenslange Haftstrafe – ohne die Möglichkeit, diese durch Reue und gute Führung verkürzen zu können – verstößt gegen Art. 3 EMRK; EGMR, Applications nos. 66069/09, 130/10 und 3896/10; vgl. Hummer, W. Die Briten sind „not amused“, in: Hummer, W. Die EU – das unbekannte Wesen, Bd. 3 (2017), S. 90 f.; van Zyl Smit, D. – Reichstein, A. Lebenslange Freiheitsstrafe in Europa: ein Überblick über Praxis und Recht (2018), https://ueaeprints.uea.ac.uk/id/eprint/69330; Lebenslang bleibt in Großbritannien lebenslang, vom 19. Februar 2014; https://jungefreiheit.de/ politik/ausland/2014/lebenslang-bleibt-in-grossbritannien-lebe... 114 Das allgemeine Wahlverbot von Strafhäftlingen verstößt gegen Art. 3 des Protokoll Nr. 1 zur EMRK; EGMR, Applications Nos. 47784/09, 47806/09 and 47812/09 uam; vgl. Hummer, Die Briten sind „not amused“ (Fn. 113), S. 90 f.

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Konsequenzen des Brexit

Ad (d) Horizontale Vereinbarung über Governance: Angesichts des Umfangs und der Komplexität des Handels- und Kooperationsabkommens bestand die EU auf einem einheitlichen Governance-Rahmen für das gesamte Abkommen, der Klarheit darüber schafft, wie das Abkommen angewendet und auch durchgesetzt werden kann. Es wird daher ein „Gemeinsamer Partnerschaftsrat“ die Durchführung des Abkommens beaufsichtigen, wobei er von Sonderausschüssen und Arbeitsgruppen unterstützt wird. Kann bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen der EU und dem UK keine Lösung gefunden werden, so kann ein unabhängiges Schiedsgericht eingesetzt werden, das die Angelegenheit durch eine verbindliche Entscheidung regelt. Dieser horizontale Streitbeilegungsmechanismus deckt die meisten Bereiche des Abkommens ab, auch die Wettbewerbsregeln und die Fischerei. Beide Parteien können auch Gegenmaßnahmen ergreifen, falls die andere Partei einer Entscheidung des unabhängigen Schiedsgerichts nicht nachkommt. Im Übrigen kann jeder schwerwiegende Verstoß gegen wesentliche Elemente des Abkommens zur Aussetzung oder Beendigung des gesamten Abkommens zwischen der EU und dem UK führen. Eine sehr anschauliche Übersicht über die zukünftige Zusammenarbeit zwischen dem UK und der EU auf der Basis eines weit über ein traditionelles Freihandelsabkommen hinausgehenden Handels- und Kooperationsabkommen bietet die von der Kommission veranstaltete Zusammenstellung „Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK. Eine neue Beziehung – mit großen Veränderungen“.115

12.  Konsequenzen des Brexit Betrachtet man die enormen Effekte, die das Ausscheiden des UK aus der EU mit sich gebracht hat bzw. noch bringen wird, dann muss man zunächst zwischen wirtschaftlichen und politischen (institutionellen) Effekten unterscheiden. Zum einen muss man sich das neue Kräfteverhältnis vor Augen führen: dem Block der 27 EU-Mitgliedstaaten mit 450 Mio. Einwohnern und einer Wirtschaftsleistung von 15,5 Billionen Euro steht das UK als nunmehriger Drittstaat mit 67 Mio. Einwohnern und einem BIP von 2,25 Billionen Euro gegenüber. Zum anderen sind die politischen Beziehungen dermaßen angespannt, dass dem Ständigen Vertreter der EU in London, João Vale de Almeida, die volle diplomatische Anerkennung verweigert wurde, ein Vorgang der auf der diplomatischen Ebene zwischen zwei bisher befreundeten Völkerrechtssubjekten mehr als ungewöhnlich ist. Nach fünfmonatigen Verhandlungen konnte schließlich am 5. Mai 2021 eine entsprechende Einigung erreicht werden.116 115 Dok. 6, nachstehend auf S. 573 ff. 116 Vgl. Gallardo, C. EU and UK reach deal after row over bloc’s ambassador, Politico, vom 5. Mai 2021.

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Die vielfachen politischen Konsequenzen des Brexit können nicht einmal ansatzweise aufgelistet werden, die gegenständliche Untersuchung muss sich daher nachstehend mit der Darstellung der institutionellen Effekte des Brexit, dh mit den austrittsbedingten Veränderungen in der Zusammensetzung der EU-Organe, begnügen. 12.1.  Wirtschaftliche Konsequenzen Im Vorfeld des Abschlusses des Handels- und Kooperationsabkommens wurden auch Überlegungen zu den Kosten eines „hard Brexit“, dh eines Austritts des UK aus der EU ohne irgendwelche begleitenden und fortführenden Maßnahmen, angestellt. Die dabei errechneten Zahlen divergieren, lassen sich aber wie folgt kurz darstellen: Zum einen wird in diesem Zusammenhang festgestellt, dass ein „hard Brexit“ zu jährlichen Wohlfahrtsverlusten im UK in Höhe von 57 Mrd. Euro und in den anderen 27 EU-Mitgliedstaaten in Höhe von 40 Mrd. Euros führen würde.117 Zum anderen werden keine genauen Zahlen angegeben, sondern nur festgestellt, inwiefern die jeweiligen Wirtschaftssektoren beeinträchtigt werden würden118. Aus Platzgründen sollen in diesem Zusammenhang nur zwei besonders markante Bereiche kurz dargestellt werden, nämlich der (Finanz)Dienstleistungssektor sowie der Bereich des Fischfangs. 12.1.1. (Finanz)Dienstleistungen Was den Dienstleistungssektor betrifft, so ist zunächst festzustellen, dass dieser für rund 80% der Wirtschaftsleistung des UK verantwortlich ist und auch mehr als 40% der Exporte des UK in die EU aus Dienstleistungen bestehen. Bedingt durch den Brexit wird es diesbezüglich zu einer signifikanten Verminderung des Handelsbilanzüberschusses des UK gegenüber der EU in Sachen Finanzdienstleistungen in Höhe von 26 Mrd. Britische Pfund kommen, da diese nunmehr verstärkt in der EU selbst angeboten werden. Trotz dieser Tendenz wird die „City of London“ noch für eine geraume Zeit das dominante Finanzzentrum in Europa bleiben, das allerdings Schritt für Schritt seine überragende Bedeutung verlieren wird. Diesbezüglich gibt es im Handels- und Kooperationsabkommen allerdings keine Bestimmungen zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen oder für Finanzdienstleistungen, was für das UK einen besonderen Nachteil darstellt, da der Bankensektor im weltweiten Finanzzentrum „City of London“ mit keiner Äquivalenzregelung rechnen kann.119 Mehr als 117 Mion, G. – Ponattu, D. Estimating the impact of Brexit on European countries and regions, Policy Paper der BertelsmannStiftung vom März 2019, S. 3. 118 Vgl. Friis Hamre, E. – Wright, W. Brexit & The City: The Impact So Far, April 2021; City of London Brexit hit worse than expected, says study, Euractiv, 16. April 2021. 119 Gemäß einer einschlägigen Befragung erklärten 63% der Unternehmen, die Finanzdienstleistungen anbieten, dass die britische Regierung nicht genügend getan habe,

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Konsequenzen des Brexit

440 Unternehmen – davon 126 Vermögensverwalter, 81 Banken und 65 Versicherungen120 – haben bereits größere Teile ihres Unternehmens und ihrer Einlagen, aber auch ihrer Belegschaft, vom UK nach Europa verlagert, wobei sich die Neugründungen auf folgende Hauptstädte der EU-Mitgliedstaaten verteilt haben: 135 Unternehmen – das sind 25% aller „Übersiedlungen – wählten Dublin als neuen Firmensitz. Danach folgte Paris mit 102 (19%), Luxemburg mit 95 (17%), Frankfurt mit 63 (12%) und Amsterdam mit 48 (9%) Unternehmen. Daraus geht hervor, dass es bei der Neuansiedlung britischer Firmen in der EU um kein dominantes Finanzzentrum gegangen ist, sondern dass die örtliche Verteilung je nach Spezialisierung der Finanzdienstleistung vorgenommen wurde: so wurde Dublin als der zentrale Firmensitz von einem Drittel der umgezogenen Unternehmen gewählt, die in der Vermögensverwaltung tätig waren, während 60% der Unternehmen, die Frankfurt als Firmensitz gewählt haben, Banken waren und beinahe zwei Drittel der Firmen, die sich in Amsterdam niederließen, Handelsplattformen für Aktienhandel betrieben. Ca. 70 der in die EU übersiedelten Unternehmen gründeten neben ihrem zentralen Firmensitz (sog. „hub“) aber auch noch eine Reihe von Filialen in anderen Hauptstädten von EUMitgliedstaaten.121 Damit ist die City of London nicht mehr die Finanzhauptstadt Europas, zumindest was den Aktienhandel angeht, da sie diese Stellung an Amsterdam verloren hat. Das durchschnittliche Volumen der in London täglich gehandelten Aktien zwischen Dezember 2020 und Jänner 2021 ist von über 14 Mrd. € auf 8,6 Mrd. € eingebrochen. Im Gegensatz dazu hat sich das tägliche Handelsvolumen in Amsterdam im gleichen Zeitraum auf 9,2 Mrd. € mehr als vervierfacht. Seit Anfang 2021 anerkennt die EU die Börsenregulierung der Briten nicht mehr als gleichwertig an, sodass EU-Wertschriftenhändler Aktien nicht mehr in London handeln dürfen, soferne diese auch in einem EU-Mitgliedstaat kotiert sind. Großbritannien darf sich aber zusätzliches Handelsvolumen im Aktienbereich aus der Schweiz erhoffen, die die Börsenäquivalenz-Anerkennung der EU zwar im Juni 2019 verloren hat,122 der es aber gelang, ihre Börsenbeziehungen mit London zu normalisieren, was unter anderem bedeutet, dass Schweizer Aktien seit dem 3. Februar 2021 wieder in London gehandelt werden dürfen.123 Was die Höhe des dabei stattgefundenen Kapitaltransfers durch Banken betrifft, so beläuft er sich nach ersten Schätzungen – nur wenige der kontaktierten Banken meldeten ihre Volumina exakt ein – auf ca. 900 Mrd. Britium mit der EU eine „Äquivalenzregelung“ (sog. „Passporting“) zu vereinbaren; COMPLYPORT, How will Brexit affect Financial Services Firms like Yours?, o. J. 120 Metcalf, T. Brexit Led Over 440 Finance Firms to Shift Some Business to EU, 16. April 2021. 121 Friis Hamre/Wright, Brexit & The City: The Impact So Far (Fn. 118). 122 Vgl. Artikel Nr. 36, nachstehend auf S. 453 ff. 123 Honegger, L. Der Brexit nagt an Londons Ruf, NZZ vom 13. Februar 2021, S. 11.

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sche Pfund, was ungefähr einem Zehntel der Einlagen im gesamten Banksystem des UK entspricht. Im Gegensatz dazu transferierten Versicherungen und Vermögensverwalter mehr als 100 Mrd. Britische Pfund in Destinationen in der EU.124 Was den Umfang der übersiedelten Belegschaften dieser Finanzunternehmen betrifft, so geht man von 7.400 Mitarbeitern aus, wobei aber nicht genau zwischen tatsächlichen „Übersiedlern“ aus dem UK und lokal („sur place“) akquiriertem Personal unterschieden werden konnte. Auf Dauer wird damit gerechnet, dass Frankfurt der „Gewinner“ hinsichtlich der Kapitalüberweisungen zur Vermögensveranlagung und Paris derjenige betreffend die Zahl der Mitarbeiter sein wird.125 Bei diesen Berechnungen darf aber nicht nur auf den „Verlust“ britischer Firmen und deren Personals durch Abwanderung derselben in die EU abgestellt, sondern es muss vor allem auch berücksichtigt werden, dass dadurch in Zukunft eine Reihe neuer Jobs in der EU geschaffen werden, die ansonsten im UK entstanden wären. Umgekehrt muss aber auch berücksichtigt werden, dass es sich dabei nicht nur um eine Einbahnstraße von wegziehenden Unternehmen aus dem UK handelt, sondern dass auch eine Reihe von Finanzdienstleistern in der EU neue Niederlassungen im UK gründen werden. Diesbezüglich wird von 300 bis 500 KMU ausgegangen, die im UK eine neue Niederlassung gründen werden, eine Größenordnung, die aber weit unter der früher prognostizierten Zahl von rund 1.000 Unternehmen liegt. 12.1.2. Fischfang Im Bereich des Fischfangs ist man übereingekommen, eine Übergangsperiode bis zum Juni 2026 festzusetzen, innerhalb derer von den aktuellen Fangquoten von Fischereifahrzeugen aus der EU in britischen Gewässern zu neu ausverhandelten Quoten übergegangen werden soll. Was die gegenwärtigen Quoten betrifft, so geht man von einer 25%-igen Kürzung der Fänge von EU-Fischern in britischen Gewässern aus, wobei die EU in den Verhandlungen zunächst ihre Fangquoten beibehalten wollte, das UK aber eine 60%-ige Reduktion anstrebte. Nach der Übergangsperiode soll es zu jährlichen Verhandlungen über den gegenseitigen Zugang zu den jeweiligen Gewässern und die dort erlaubten Fangquoten kommen.126 Diese Regelung im Handels- und Kooperationsabkommen kollidiert aber mit den bisherigen Fangquoten in der „Bay of Granville“, rund um die Kanalinsel Jersey, 124 Brexit pain for UK financial hub is just beginning, Studie vom 16. April 2021; Wright, W. Brexit has cost the City of London 1tn in assets and 7.400 jobs so far, report finds (2021) 125 City of London Brexit hit worse than expected, says study (2021). 126 Isaac, A. – Mears, E. – Moens, B. UK-EU Brexit trade deal at a glance, POLITICO vom 24. Dezember 2020, S. 4.

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Spezielle Problemlagen

und führte bereits zu einer ersten Konfrontation zwischen England und Frankreich.127 12.2.  Politische (institutionelle) Konsequenzen Was die Folgen des Ausscheidens des UK aus der EU für die Zusammensetzung der Organe der EU betrifft, so betrifft dies den Europäischen Rat und den Rat sowie das Europäische Parlament, die Kommission und den EuGH.128 Was das Europäische Parlament betrifft, so wurden die durch den Brexit frei werdenden Sitze der britischen Abgeordneten nicht etwa eingespart oder für mögliche Erweiterungen reserviert, sondern zur Hälfte auf die verbleibenden EU-Mitgliedstaaten verteilt.129 Nach dem Ausscheiden der 73 britischen Abgeordneten und dem Nachrücken von bloß 27 Abgeordneten in das Europäische Parlament, verfügt dieses nunmehr über 705 Abgeordnete, was ua auch zu Änderungen der Stärke der einzelnen Fraktionen führte. Dabei ging die Bundesrepublik wegen der in Art.  14 Abs.  2 UAbs. 1 Satz 4 EUV festgelegten Obergrenze leer aus, was das Problem der fehlenden Gleichheit der Wahl verschärft. Im Übrigen werden allerdings bestehende Ungleichgewichte zum Teil ausgeglichen, und zB das Repräsentationsverhältnis hinsichtlich Frankreichs verbessert.130 Was die Kommission betrifft, so hat das UK bereits im Vorgriff auf den kommenden Austritt keinen Kommissar nominiert, die britischen Beamten in den Dienststellen der Kommission behalten aber ihre Ämter. Was die britischen Richter des Gerichtshofs und des Gerichts betrifft, so scheiden sie mit dem Austritt des UK aus ihren Ämtern aus, wobei sich aber im Falle der britischen Generalanwältin Eleanor Sharpston eine komplexe Situation ergab.131 Was den Europäischen Rat und den Rat betrifft, so nahm das UK gem. Art. 50 Abs. 4 EUV bereits im Vorfeld des Austritts an allen Fragen, die diesen betrafen, nicht teil.

13.  Spezielle Problemlagen Nachstehend sollen einige markante, durch den Brexit ausgelöste, Problembereiche kurz dargestellt werden, aus denen exemplarisch hervorgeht, wie vielfältig die Konsequenzen des Ausscheidens des UK aus der EU eigentlich 127 Siehe dazu nachstehend auf S. 42 f. 128 Vgl. dazu die Erklärung der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 29. Jänner 2020, XT 221018/20. 129 Beschluss (EU) 2018/937 des Europäischen Rates vom 28. 6. 2018 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, ABl. 2018, L 165 I, S. 1 ff. 130 Streinz, Das Brexit Referendum (Fn. 40), S. 109. 131 Siehe Hummer, W. „Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des „Gerichtshofs der Europäischen Union“, EUInfothek vom 20. Oktober 2020, S. 1 ff.; vgl. Artikel Nr. 34, nachstehend auf S. 424 ff.

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sind. Bedenkt man, dass es sich dabei um das erstmalige Ausscheiden eines Mitgliedstaates aus einem supranationalen Integrationsgebilde handelt, überrascht es nicht, dass es dabei (noch) nicht zu einer endgültigen und übereinstimmenden Regelung aller anstehenden Fragen gekommen ist. 13.1.  Bedingt der Brexit zugleich auch den Austritt aus dem EWR? Da weder im Austrittsabkommen, noch in der „Politischen Erklärung“ expressis verbis irgendein Bezug zum (gleichzeitigen) Verlassen des EWR durch das UK aufscheint, stellt sich die Frage, ob dies bewusst geschah oder ob es einmal mehr ein Versäumnis der Vertragspartner darstellt bzw. dort formal gar nicht erwähnt sein kann. Ein paralleler Austritt des UK aus dem EWR kann schon allein deswegen nicht im Austrittsabkommen gem. Art. 50 Abs. 2 EUV enthalten sein, da es sich dabei ja um eine Vertragsbeziehung des UK zu den (drei) EWR-/ EFTA-Staaten und nicht zur EU handelt, sodass deren Beendigung auch mit diesen Staaten in einer speziellen Übereinkunft auszuhandeln wäre.132 Diesbezüglich wird konsequenter Weise auch festgestellt, dass Art.  50 EUV nicht in dem Sinn verstanden werden kann, „dass die EU im Falle eines Austritts eines Mitgliedstaates das Austrittsabkommen zugleich für Rechnung des EWR und seiner (übrigen) Mitglieder verhandelt“.133 Zur Frage, ob ein Austritt aus der EU automatisch auch den Austritt aus dem EWR nach sich zieht, oder nicht, bestehen unterschiedliche Rechtsansichten, auf die, wegen ihrer rechtsdogmatischen Relevanz, nachstehend etwas näher eingegangen werden soll.134 13.1.1. Variante 1: Der Austritt aus der EU ist zugleich auch der Austritt aus dem EWR Sowohl die eindeutige Mehrheit der einschlägigen Literatur, als auch die politische Praxis sowie die Staatenpraxis im EWR-Rat, geht im Fall des Brexit von einem automatischen Ausscheiden des UK aus dem EWR aus. Für sie ist mit dem Austritt des UK aus der EU – die mit den drei EFTAStaaten im EWR durch ein Assoziationsabkommen gem. Art. 217 AEUV verbunden ist – zugleich auch das Verlassen des EWR gegeben. Obwohl der EWR aus zwei „Säulen“, nämlich der EU- und der EFTA-Säule besteht, bedingt der Austritt aus der ersten Säule nach dieser Ansicht not132 Vgl. Hummer/Pribas, Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR) (Fn. 99), S. 127 Rdnr. 483. 133 Schmidt-Kessel, M. Grundfragen des Brexit-Austrittsabkommens, in: Kramme, M. – Baldus, C. – Schmidt-Kessel, M. (Hrsg.), Brexit. Privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 2. Aufl. (2020), S. 97. 134 Vgl. Hummer/Pribas, Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR) (Fn. 99), S. 127 ff.

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wendigerweise auch den aus der zweiten Säule, in der man daher nicht alleine verbleiben kann. Rein rechtlich hätte das UK seinen Austritt aus dem EWR problemlos vornehmen können, da gem. Art. 127 UAbs. 1 EWRA jede Vertragspartei vom EWR-Abkommen zurücktreten kann, sofern sie diese Absicht mindestens zwölf Monate zuvor den übrigen Vertragsparteien schriftlich mitgeteilt hat. Von dieser formellen Rücktrittsanzeige hat das UK im Zuge des Brexit aber nicht Gebrauch gemacht. Es hat aber mit den am EWR beteiligten EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen, Ende 2018 und Anfang 2019 zwei Verträge – nämlich das sog. „EEA-EFTA Separation Agreement“135 und das sog. „EEA-EFTA No Deal Citizens’ Rights Agreement“136 – abgeschlossen, die als Bedingung das Ausscheiden des UK aus dem EWR zum Gegenstand haben und damit stillschweigend davon ausgehen, dass das Ausscheiden des UK aus der EU ipso iure auch zur Beendigung seiner EWR-Mitgliedschaft führt. Damit hat, zumindest aus der Sicht des UK, der Austritt aus der EU zweifelsfrei auch einen solchen aus dem EWR mit sich gebracht, was in der einschlägigen Literatur aber mit folgender Argumentation angezweifelt wird: „Gleichwohl ist fraglich, ob das UK in Ermangelung einer Rücktrittserklärung nach seinem Ausscheiden aus der EU trotzdem Mitglied des EWR bleibt (…) Solange das UK das Kündigungsrecht des Art. 127 UAbs. 1 EWRA nicht wahrgenommen hat, bleibt es auch nach dem Brexit vollwertiges Mitglied des EWR“.137 Auf diese Rechtsansicht, die allerdings eine Minderheitenmeinung darstellt, soll nachstehend näher eingegangen werden. 13.1.2. Variante 2: Der Austritt aus der EU ist nicht zugleich auch der Austritt aus dem EWR Da das UK, wie vorstehend erwähnt, seinen Rücktritt vom EWR gem. Art. 127 UAbs. 1 EWRA den anderen Vertragsparteien nicht notifiziert hat, könnte eine solche Absicht nur (indirekt) aus der Austrittserklärung des UK aus der EU gem. Art. 50 Abs. 2 EUV erschlossen werden. Dagegen spricht aber sowohl der Umstand, dass es sich beim EWR-Abkommen und beim EU-Vertrag nicht nur um zwei separate völkerrechtliche Verträge, sondern auch um den Umstand handelt, dass die drei EFTA-Staaten im EWR – Island, Liechtenstein und Norwegen – keine Vertragsparteien des EUV sind, sodass sie von der Austrittserklärung des UK aus der EU gem. Art. 50 Abs. 2 EUV auch nicht tangiert werden. Für sie bezieht sich der Austritt des UK 135 https://www.gov.uk/government/news/eea-efta-separation-agreement 136 www.gov.uk/government/publications/eea-efta-no-deal-citizens-rights-agreementand-explainer 137 Reimer, E. Nach dem Brexit: Die Zukunft der europäischen Steuerrechtsordnungen, in: Kramme, M. – Baldus, C. – Schmidt-Kessel, M. (Hrsg.), Brexit. Privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 2. Aufl. (2020), S. 405.

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gem. Art. 50 Abs. 2 EUV daher lediglich auf das „innerstaatliche Recht“, das allein zwischen den Vertragsparteien der „EU-Säule“ des EWR-Abkommens vereinbart wurde und demgemäß auch nur für diese verbindlich ist. Der Austritt des UK aus der EU ändert nach dieser Ansicht somit nichts an der Mitgliedschaft desselben im EWR, sofern die britische Regierung nicht ausdrücklich einen Rücktritt vom EWR-Abkommen erklärt. Da dies aber nicht erfolgt ist, gelten wesentliche Teile des binnenmarktrelevanten Unionsrecht – als sog. „mirror legislation“ – im Verhältnis zwischen dem UK und der EU fort, wenngleich nunmehr in Form von EWR-Recht.138 13.1.3. Conclusio Obwohl sich jede der beiden vorstehenden Varianten der Einwirkung des Brexit auf den EWR rechtsdogmatisch mehr oder weniger nachvollziehen lässt, stellt die Variante 1 deswegen zurecht die „herrschende Meinung“ dar, da die beiden darin erwähnten Verträge, die das UK mit den am EWR teilnehmenden EFTA-Staaten eschlossen hat, im Grunde stillschweigend davon ausgehen, dass das Ausscheiden des UK aus der EU ipso iure auch zur Beendigung seiner EWR-Mitgliedschaft geführt hat. Damit ist aber die originelle Ansicht der Variante 2 de facto „overruled“. 13.2. Mögliche Unabhängigkeitsreferenden in Schottland, Wales und Nordirland Ein weiterer politischer Effekt des Brexit bestand darin, dass er die manifest bzw. zumindest latent vorhandenen Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Teile des UK erneut in Erinnerung rief. Der Brexit hat nämlich das jeweilige Nationalbewusstsein, nicht aber den innerbritischen Zusammenhalt, gestärkt. So wird nach dem Brexit, vor allem in Schottland und Wales, aber auch in Nordirland, der Wunsch nach Unabhängigkeit immer stärker.139 Die „Sunday Times“ veröffentlichte jüngst die Ergebnisse von Umfragen, wonach die Hälfte der Schotten und Nordiren und ein Drittel der Waliser rasch über den Austritt aus dem UK abstimmen wollen.140 Signifikanten Ausdruck findet dieser Umstand in der Äußerung des erbitterten EU-Gegners Mark Francois: „Die Schlacht um den Brexit ist vorbei, aber die Schlacht um die Einheit des Königreichs beginnt erst jetzt“.141 138 Vgl. Schroeter, U. – Nemeczek, H. Brexit, aber „rEEAmain“?. Die Auswirkungen des EU-Austritts auf die EWR-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs, JZ 2017, S. 715 ff; Daragan, H. Brexit und EWR-Abkommen, Zerb 2016, S. 282. 139 Vgl. Regionalwahlen als Gefahr für Einheit der Briten, Wiener Zeitung vom 29. April 2021, S. 1. 140 Nuspliger, N. Ist das Vereinigte Königreich am Auseinanderbrechen?, NZZ vom 19. Februar 2021, S. 4. 141 Zitiert nach Nuspliger, Ist das Vereinigte Königreich am Auseinanderbrechen? (Fn. 140).

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Im Einzelnen stellt sich die Situation in den jeweiligen Nationen des UK folgendermaßen dar. 13.2.1. Schottland

13.2.1.1.  Chancen für eine Neuauflage des Unabhängigkeits­ referendums Was Schottland betrifft, so hatte die Regierungschefin Nicola Sturgeon bereits vor den schottischen Regionalwahlen am 6. Mai 2021 angekündigt, dass sie nach einem abermaligen Wahlsieg der Schottischen Nationalpartei (SNP) im Jahr 2022 ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anregen werde. Dementsprechend formulierte sie, nachdem der Wahlsieg der SNP am 8. Mai 2021 feststand, ihr Anliegen öffentlich und erklärte, dass Niemand, auch nicht der britische Premierminister Boris Johnson, das Recht habe, den Schotten ein zweites Unabhängigkeitsreferendum vorzuenthalten. Ein Plebiszit sei der „Wille des Volkes“, und dieser „demokratische Wunsch“ ihrer Landsleute sei von London zu respektieren.142 Laut Verfassung müsste ein derartiges Votum allerdings von der Regierung in London genehmigt werden, ein Ansinnen, das Premier Johnson aber bereits jetzt strikt zurückwies. Eine neue Volksabstimmung über eine Sezession Schottlands sei „unter den gegenwärtigen Umständen verantwortungslos und waghalsig“.143 Dieser Forderung der Vorsitzenden der SNP haftet allerdings ein kleiner „Schönheitsfehler“ an. Die SNP konnte bei den Parlamentswahlen, die mit einer Rekordbeteiligung von 63% abgehalten wurden, zwar 64 der 129 Sitze erreichen, verfehlte damit aber die absolute Mehrheit um einen Sitz. Der Vorgänger von Nicola Sturgeon, Alex Salmond, konnte bei den Wahlen im Jahr 2011 noch die absolute Mehrheit erreichen, was ihm damals auch den Weg zum ersten Unabhängigkeitsreferendum – dem der damalige Premierminister David Cameron zugestimmt hatte – geebnet hatte, das allerdings negativ ausging, da sich 55,3% der Schotten gegen einen solchen Schritt aussprachen. Mit dem Verfehlen der absoluten Mehrheit durch die SNP ist deren Forderung nach einer Neuauflage des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 politisch allerdings weniger zwingend.144 Andererseits ist aber das Lager der Unabhängigkeitsbefürworter im neuen Parlament klar in der Mehrheit. Da die schottischen Grünen – die zwei Sitze, von sechs auf acht, zulegen konn142 Buchsteiner, J. Schottland: London spielt Sturgeons Wahlsieg herunter, vom 9. Mai 2021. 143 Zitiert nach Rath, G. Neue schottische Zeitrechnung, Die Presse vom 9. Mai 2021, S. 7. 144 Vgl. Nuspliger, N. Schotten fordern Johnson heraus, NZZ vom 10. Mai 2021, S. 1; Webber, E. Why Brexit is a double-edged sword for the Scottish National Party, Politico, vom 6. Mai 2021.

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ten – in ihrem Wahlprogramm ebenfalls eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands verankert hatten,145 wuchs die Mehrheit für ein Unabhängigkeitsreferendum auf stabile 72 von 129 Sitzen. Die Konservativen konnten ihre 31 Sitze behaupten, die Labour Party kam noch auf 22 Sitze und die Liberaldemokraten auf vier. Damit kann die SNP, nach einer ununterbrochenen vierzehnjährigen Regierungszeit, die vierte Regierung in Folge bilden und wird anlassbezogen auf die Unabhängigkeitsfrage zurückkommen, der Meinungsforscher allerdings lediglich eine „50:50“-prozentige Erfolgschance zugestehen.146 Noch im Oktober 2020 lagen die Anhänger der Unabhängigkeit um 13 Prozentpunkte vorne, haben diesen Vorsprung aber zwischenzeitlich verspielt. Zum einen hat nunmehr die erfolgreiche britische Impfkampagne auch in Schottland das Vertrauen in die Zentralregierung in London erhöht und, zum anderen, die Zweifel über die wirtschaftlichen Folgen eines Alleinganges verstärkt.147

13.2.1.2. Sezession Schottlands wäre für Großbritannien härter als der Brexit Sollten die Schotten dereinst tatsächlich für die Unabhängigkeit stimmen, wäre dies mit enormen Problemen verbunden, gegen die der Brexit eine bloße „Fingerübung“ wäre. Das UK war nur 47 Jahre lang Mitglied in der su­ pranationalen EU, während die Schotten seit 1707 staats- und verfassungsrechtlich Teil eines gemeinsamen Königreichs sind. Schottland ist mit dem Rest des UK so eng verflochten, dass eine Entflechtung enorm kompliziert wäre. Darüber hinaus käme eine solche Sezession nur im guten Einvernehmen mit England in Frage, wobei die Briten bei den Trennungsverhandlungen aber Härte an den Tag legen würden, damit dieses Beispiel nicht Schule macht – denn auch in Nordirland gibt es Abspaltungstendenzen und auch in Wales steigt die Zahl derer, die einen eigenen Weg einschlagen wollen. Wirtschaftlich gesehen wäre ein Austritt Schottlands aus dem UK für dieses um einiges problematischer, als es der Austritt des UK für die EU war. Die 5,5 Mio. Schotten repräsentieren rund 8% der britischen Bevölkerung und erbringen ebenfalls etwa 8% der Wirtschaftsleistung des UK. Umgekehrt ist die Abhängigkeit Schottlands vom UK aber bedeutend größer, da es rund 60% seines Außenhandels mit den Briten abwickelt, wobei die Ex- und Importe knapp 60% des schottischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) 145 Die Ko-Vorsitzende der schottischen Grünen, Lorna Slater, stellte in diesem Zusammenhang dezidiert fest: „In diesem Fall haben wir einen klaren Wählerauftrag“, zitiert nach Rath, Neue schottische Zeitrechnung (Fn. 143). 146 Perry, R. Indyref 2 is „will of the country“, says Scottish first minister following poll win; Nuspliger, N. Schottlands pragmatische Rebellen, NZZ vom 30. April 2021, S. 6; Bumbacher, B. Ein Dämpfer für die schottischen Nationalisten, NZZ vom 10. Mai 2021, S. 14. 147 Rath, G. Die Schotten und ihre London-Frage, Die Presse vom 1./2. Mai 2021, S. 9.

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ausmachen. Schottlands Außenhandel mit dem Rest des UK ist dabei dreibis viermal so groß, wie der mit der EU.148 Wie eine Studie, die an der London School of Economics (LSE) im Frühjahr 2021 erstellt wurde,149 belegt, würden die Kosten der Unabhängigkeit die schottische Wirtschaft zwei- bis drei Mal stärker belasten, als die Kosten des Brexits. Die Unabhängigkeits- und Brexit-Kosten zusammen, würden wiederum die schottische Wirtschaft um 6%–9% und die Einkommen per capita zwischen 6,5% (optimistisches Szenario) und 8,7% (pessimistisches Szenario) schrumpfen lassen, was einem Einkommensverlust zwischen 2.000 und 2.800 Britischen Pfund pro Person und Jahr betragen würde. Was wiederum die Dauer potentieller Sezessionsverhandlungen Schottlands vom UK betrifft, so wären auch diese um einiges komplexer, als es die Brexit-Verhandlungen waren, die immerhin viereinhalb Jahre gedauert hatten. Dazu kämen dann noch die späteren Beitrittsverhandlungen Schottlands zur EU gem. Art. 49 EUV, die wohl zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen würden. Die schottische Wirtschaft stünde damit vor einer, an die sieben Jahre anhaltenden, potenziell lähmenden Unsicherheit, die sie stark belasten würde. Dazu kämen noch eine Reihe komplexer technischer Fragen, wie zB die Aufteilung der Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung in der Nordsee, oder der Staatsschulden zwischen London und Edinburgh. Geschähe Letzteres anteilig zur Bevölkerung, käme ein schottischer Neustaat gegenwärtig auf eine Bruttoverschuldung von 205 Mrd. Pfund, oder 115% des BIP, was weit über der in der EU erlaubten Verschuldung von 60% des BIP150 liegen würde. Damit ist aber auch die Frage der Wahl einer zukünftigen Landeswährung von Schottland angesprochen, die dadurch (indirekt) belastet wäre – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der weitere Gebrauch des Britischen Pfund als Landeswährung in einem souveränen Schottland, ohne die Zustimmung der britischen Behörden, problematisch wäre. Ein schottischer Neustaat müsste aber auch eine Reihe neuer Institutionen, wie zB eine Zentralbank, errichten, von denen letztlich auch die EU überzeugt sein müsste, dass es sich dabei um geeignete Einrichtungen handelt, die die geforderten unionsrechtlichen Kriterien erfüllen könnten. Für das Stellen seines Beitrittsantrages zur EU würde Schottland gem. Art. 49 Abs. 1 EUV zunächst einen einstimmigen Ratsbeschluss benötigen, wofür es ua auch die Zustimmung Spaniens erhalten müsste, das sich aber bisher gegen jedes Präjudiz einer erfolgreichen Sezession gewehrt hatte, um die Abspaltung, die die Regionalregierung Kataloniens im Jahr 2017 ver148 Triebe, B. Innerbritische Trennung wäre härter als Brexit, NZZ vom 11. Mai 2021, S. 15. 149 Huang, H. – Sampson, T. – Schneider, P. Disunited Kingdom? Brexit, trade and Scottish independence, LSE-CEP, PaperBrexit17, vom 3. Februar 2021. 150 Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit; ABl. 2008, C 115, S. 279 f.

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sucht hatte,151 nicht nachträglich zu „legitimieren“. Darüber hinaus müsste Schottland, nach Ansicht Spaniens, in seinen Beitrittsverhandlungen auf jede Sonderbehandlung verzichten, wie zB auf eine „opt-out“-Regelung für die Übernahme des Euro oder den Eintritt in die Schengen-Zone, uam.152 Schottland müsste bei einer Sezession aber auch eine Möglichkeit finden, die zeitliche Lücke, die durch sein Ausscheiden aus dem UK – und damit auch aus dem EU-UK – Handels und Kooperationsabkommen153 – und seinem späteren Eintritt in die EU und deren Binnenmarkt, entstehen würde, zu überbrücken. Eine Möglichkeit bestünde diesbezüglich in der Aushandlung einer Übergangsphase mit dem UK und der EU, während dieser Schottland nach seinem Ausscheiden aus dem UK nach wie vor ein Mitglied des EU-UK – Handels und Kooperationsabkommens bleiben könnte. 13.2.2. Wales Wie sich die Lage in Schottland entwickelt, hat natürlich auch gewisse Auswirkungen auf Wales, vor allem auf die Pro-Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru (auf Deutsch: „Walisische Partei“), eine Schwesterpartei der schottischen Regierungspartei SNP. Allerdings steht deren Unabhängigkeitsstreben die regierende Labour-Partei entgegen, die bei den letzten Parlamentswahlen zwar eindeutig gewann, dabei aber die absolute Mehrheit knapp verpasste. Die Partei von Regierungschef Mark Drakeford kam auf 30 der 60 Sitze im Parlament in Cardiff. Wenngleich in Wales, laut letzten Umfragen, nur knapp ein Drittel der Wahlberechtigten für eine Abspaltung vom UK eintreten würde,154 ist ein diesbezüglicher Dominoeffekt aus der schottischen Innenpolitik trotzdem nicht gänzlich auszuschließen. 13.2.3. Nordirland Nordirland begeht im Mai 2021 den 100. Jahrestag seines Bestehens als politische Einheit, doch zum Feiern ist Niemandem zumute.155 Die Folgen des Brexit haben die Democratic Unionist Party (DUP), die Regierungspartei 151 Am 1. Oktober 2017 wurde von der Regionalregierung Kataloniens ein umstrittenes Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens abgehalten, das – bei einer Wahlbeteiligung von 42,3% – eine Zustimmung von rund 90% der Wähler für eine Unabhängigkeit erbrachte. Sie spanische Regierung entmachtete aber in der Folge die katalanische Regionalregierung und setzte für den Dezember 2017 Neuwahlen zum Regionalparlament fest. 152 Vgl. v. d. Burchard, H. Haste Ye Back! How Scotland could return to the EU, ­POLITICO, vom 10. Mai 2021. 153 Siehe dazu vorstehend auf S. 22 ff. 154 Vgl. Krieger, S. Brexit: Nach Schottland wendet Wales sich von London ab, vom 26. April 2021. 155 Vgl. Rath, G. Unionisten kämpfen gegen Absturz, Die Presse vom 14. Mai 2021, S. 8.

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der Unionisten, die für die Zugehörigkeit zu Großbritannien eintreten, in eine existenzielle Krise gestürzt. Nachdem die DUP-Vorsitzende und bisherige Regierungschefin Arlene Foster, die am völligen Missmanagement des Brexit gescheitert ist, ihren Rücktritt für Ende Juni 2021 angekündigt hat, kam es am 14. Mai 2021 zur Wahl des neuen DUP-Parteivorsitzenden, die der evangelikale Hardliner Edwin Poots mit 19 zu 17 Delegiertenstimmen knapp vor seinem Herausforderer Jeffrey Donaldson für sich entscheiden konnte. Gewählt wurde der neue DUP-Chef von den 28 Abgeordneten zum nordirischen Parlament und den acht Vertretern der Partei im Londoner Unterhaus. Ob er auch den Posten des Regierungschefs von Foster übernehmen wird, war zunächst unklar, wurde von ihm aber in der Folge verneint. Im Gespräch als Nachfolger von Foster ist nunmehr der Abgeordnete Paul Givan. Die nordirische Regierung wird von den jeweils stärksten Parteien der beiden konfessionellen Lager – der protestantischen unionistischen DUP und der katholisch-republikanischen Sinn Fein, unter der Führung von Vize-Regierungschefin Michelle O’Neill – gebildet.156 Schon in seiner ersten Ansprache nach seinem Wahlsieg erklärte Poots, dass das im Austrittsabkommen enthaltene Nordirland-Protokoll eine „massive Herausforderung“ darstelle, da es Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs abkopple. Das Nordirland-Protokoll garantiert nämlich den Verbleib Nordirlands in der EU-Zollunion und in großen Teilen des Binnenmarkts, während dieses zugleich Teil des Vereinigten Königreichs ist. Dafür müssen allerdings Waren aus England bei ihrer Einfuhr nach Nordirland kontrolliert werden. Um aber die dabei notwendigen Kontrollen des Warenverkehrs von Großbritannien nach der Republik Irland an der nordirisch-irischen Grenze zu verhindern, werden diese auf den Fährschiffen in der irischen See vorgenommen. Unionisten, wie die Anhänger der DUP, sehen das aber als Gefahr für Nordirland an. Sie befürchten, dass das Nordirland-Protokoll mit der Warenverkehrs-Grenze in der Irischen See diejenigen unterstützt, die eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland befürworten.157 Die an der Regierung in Nordirland beteiligte unionistische DUP kann das zwischen dem UK und der EU abgeschlossene „Nordirland-Protokoll“ aber nicht aus eigenem aufkündigen, sondern nur versuchen, den Druck auf die britische Regierung zu erhöhen, um zB die Zahl der Warenkontrollen zu reduzieren, uam. Gegenwärtig verliert die DUP gemäßigte Wähler an die liberale Alliance Party und ultrakonservative Anhänger an die Traditional Unionist Voice. Neuesten Umfragen zufolge würden von den 18- bis 44-jährigen Wählern 156 Nordirische Unionisten wählen Edwin Poots zum Parteichef, Reuters, vom 14. Mai 2021. 157 Vgl. Prössl, C. Neuer DUP-Chef Poots. Ein Hardliner im Dilemma, ARD-Studio London, vom 15. Mai 2021.

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nur mehr 43% für einen Verbleib in Großbritannien eintreten. Im Gegensatz dazu nimmt die Unterstützung für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland – vor allem unter den Katholiken – kontinuierlich zu. Irlands Ex-Premier Bertie Ahern könnte sich in diesem Zusammenhang eine Volksabstimmung zum 30. Jahrestages des Karfreitagsabkommens vom 10. April 1998158 im Jahr 2028 durchaus vorstellen.159 13.3.  Weitere Problemlagen 13.3.1. Gibraltar Gibraltar wurde, im Gefolge des Spanischen Erbfolgekriegs, durch den am 13. Juli 1713 zwischen dem König von Spanien und der Königin von Großbritannien abgeschlossenen Vertrag von Utrecht von Ersterem an die britische Krone abgetreten. Art. X letzter Satz dieses Vertrages bestimmte, dass die britische Krone, sollte sie jemals die Absicht haben, das Eigentum an der Stadt Gibraltar zu verschenken, zu verkaufen oder auf irgendeine andere Art und Weise zu veräußern, der spanischen Krone vor allen anderen Interessenten ein vorrangiges Erwerbsrecht einzuräumen hat. Völkerrechtlich stellt Gibraltar ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung iSv Art. 73 SVN dar, unionsrechtlich ist es ein europäisches Hoheitsgebiet, dessen auswärtige Beziehungen vom UK wahrgenommen werden, und auf das dementsprechend gem. Art. 355 Abs. 3 AEUV die Verträge Anwendung finden. Die Beitrittsakte von 1972160 sieht jedoch vor, dass bestimmte Teile des Vertrags auf Gibraltar nicht anwendbar sind. Gem. Art.  29 iVm Anhang I Abschnitt 1 Nr. 4 der Beitrittsakte von 1972 ist Gibraltar vom Zollgebiet der EU ausgeschlossen.161 In Gibraltar, einer 6,5 km2 großen Landzunge am südlichen Ende der iberischen Halbinsel – das entspricht in etwa der Fläche des XVIII. Wiener Gemeindebezirks Währing – leben 34.000 Einwohner, zu denen noch 15.000 Pendler kommen, die täglich aus Südspanien einpendeln, unter Tags in Gi­ braltar arbeiten, und am Abend wieder nach La Línea ausreisen. Bisher mussten diese Pendler nur ihren Personalausweis vorzeigen und wurden dann durchgewunken. Als britische Kronkolonie gehört Gibraltar nicht zum UK, sondern stellt eines der 14 britischen Überseegebiete dar, und zwar das einzige, das in Europa liegt. Es ist mit umfangreichen Selbstverwaltungsbefugnissen und einer 158 Siehe dazu vorstehend auf S. 13. 159 Vgl. Schmölzer, M. Wenn der Brexit-Spaltpilz wütet, Wiener Zeitung vom 29. April 2021, S. 7. 160 ABl. 1972, L 73, S. 14. 161 Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 13. Juni 2017 in der Rs. C-591/15, The Gibraltar Betting and Gaming Association Limited/Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs und Her Majesty’s Treasury (ECLI:EU:C:2017:449), S. 3 Rdnr. 10.

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eigenen Regierung ausgestattet. Beim Brexit-Referendum 2016 hatten, bei einer Wahlbeteiligung von 84%, insgesamt 96% der Einwohner Gibraltars für den Verbleib in der EU gestimmt. Da der Austrittsvertrag des UK aus der EU für Gibraltar nicht gilt, wäre die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar zu einer „undurchlässigen“ EU-Außengrenze geworden, die den Pendlerverkehr zwischen beiden Gebieten zum Erliegen gebracht hätte, da Gibraltar zu einem „Drittland“ geworden wäre. Spanien konnte allerdings im Vorfeld der „Brexit“-Verhandlungen durchsetzen, dass alles, was Gibraltar betrifft, direkt zwischen Madrid und London verhandelt werden muss.162 In diesem Sinne strebte Spanien an, dass Gibraltar zwar nicht dem Schengen-Abkommen, aber zumindest dem „Schengen-Raum“163 beitreten sollte – in dem die Binnengrenzen zwischen den Schengen-Mitgliedstaaten an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen – womit ein freier Pendler-Verkehr zwischen Spanien und Gibraltar wieder möglich gewesen wäre. In der Folge verhandelten Spanien und Großbritannien, unter immer größeren Zeitdruck – parallel dazu liefen ja die dafür relevanten Austrittsverhandlungen des UK aus der EU164 – eine entsprechende Regelung über den Zutritt zum „Schengen-Raum“ via Gibraltar, die aber dadurch „belastet“ waren, dass Spanien nach wie vor Anspruch auf Gibraltar erhebt, und eine Einbeziehung Gibraltars in den „Schengen-Raum“ dieses enger an Spanien anbinden würde. Unmittelbar vor dem Austritt des UK aus der EU am 31. Dezember 2020 erzielten die beiden Regierungen in London und Madrid eine Grundsatzeinigung über die Einbeziehung Gibraltars in den „Schengen-Raum“165, die allerdings noch durch ein Übereinkommen zwischen der EU und dem UK „gespiegelt“ werden muss.166 Die dabei vereinbarten Regelungen werden zunächst nur für einen Zeitraum von vier Jahren umgesetzt. 162 Vgl. Wandler, R. Brexit-Kuriosum: Gibraltar wird zur EU-Außengrenze, Der Standard vom 1. Jänner 2021. 163 Vgl. Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93 ff.); Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2008, C 115, S. 290 ff.). 164 Vgl. Gallardo, C. Dire straits: The Rock faces a hard Brexit as Gibraltar talks drag on, Politico, vom 29. Dezember 2020. 165 Siehe dazu die beiden Schreiben von Tim Barrow, dem Ständigen Vertreter des UK bei der EU, sowie von der interimistischen Geschäftsträgerin der Ständigen Vertretung Spaniens bei der EU, María Lledó, an die Generalsekretäre der Europäischen Kommission und des Rates der EU, vom 31. Dezember 2020; vgl. auch Daventry, M. Spain and UK reach deal to place Gibraltar in EU’s borderless Schengen zone, Euronews vom 1. Januar 2021. 166 Vgl. dazu das Working Paper des GS des Rates vom 5. Jänner 2021: „Letters regarding a Proposed Framework for a UK-EU Legal Instrument setting out Gibraltar’s future Relationship with the EU (Rats-Dok. WK 83/2021 INIT)

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Was die technische Ausgestaltung dieses Übereinkommens betrifft, so wird sich die EU-Außengrenze an den internationalen Flughafen von Gi­ braltar verlagern, an dem die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX die Kontrolle der Ein- und Ausreisenden vornehmen wird. Die Aufsicht über diese Kontrolltätigkeit hat sich – laut Aussage der spanischen Außenministerin Arancha González Laya – Spanien deswegen vorbehalten müssen, da es ja den anderen Schengen-Staaten gegenüber verpflichtet sei, die Außengrenze zu kontrollieren. Das UK könne das nicht, da es nicht Mitglied des Schengen-Raumes sei, und Gibraltar wiederum könne dies auch nicht, da es kein Staat sei.167 13.3.2.  Blockade der Kanalinsel Jersey Die Insel Jersey, die 14 Meilen von der französischen und 100 Meilen von der britischen Küste entfernt im Ärmelkanal liegt, steht nicht in der territorialen Souveränität Großbritanniens, sondern ist ein autonomer Kronbesitz des britischen Herrscherhauses, der aber den Schutz der britischen Außenund Verteidigungspolitik genießt. Der aus 1839 stammende „Bay of Granville“-Vertrag, der im Jahr 2000 aktualisiert und ergänzt wurde,168 regelte bisher die Fischfangquoten zwischen Fischern aus Jersey und französischen Fischern. Die Regelungen im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen dem UK und der EU machten nunmehr eine Neuvergabe der Fischlizenzen notwendig, auf die vorstehend bereits eingegangen wurde.169 Nachdem die Behörden von Jersey am 7. Mai 2021 die Anträge französischer Fischer für den Fischfang vor der Insel teilweise zurückgewiesen hatten, drohte Frankreich mit der Abschaltung des elektrischen Stroms, den Jersey zu 95% über einige, erst 2016 fertiggestellte, Unterwasserkabel aus Frankreich bezieht. Darüber hinaus blockierten rund 50 französische Fischerboote den Hafen von Saint Helier, sodass der britische Premierminister Boris Johnson zwei Schiffe der Royal Navy – die HMS Severn und die HMS Tamar – „zur Patrouille“ nach Jersey beorderte.170 Frankreich entsendete im Gegenzug zwei Polizeiboote zur Beobachtung.171 Die Regierung in London wies alle von Frankreich gegen sie erhobene Vorwürfe zurück. Der britische Umweltminister George Eustice erklärte, 167 Vgl. Gallardo, C. Spain and UK strike deal to avoid hard border in Gibraltar after Brexit, Politico, vom 31. Dezember 2000. 168 Vgl. Fleury, C. The Island/Sea/Territory. Towards a broader and three dimensional view of the Aquapelagic Assemblage, Shima: The International Journal of Research into Island Cultures, vom 1. April 2013. 169 Vgl. dazu vorstehend auf S. 30. 170 Vgl. Gallardo, C. Boris Johnson urges „de-escalation“ in France-Jersey fishing row, Politico vom 5. Mai 2021. 171 Vgl. Brändle, S. Streit um Fisch im Ärmelkanal eskaliert, Der Standard vom 7. Mai 2021, S. 7.

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Spezielle Problemlagen

40 französische Fischerboote hätten die beantragte Genehmigung bereits erhalten, für die restlichen 17 Fälle arbeite man an einer Lösung, die aber durch die Vorlage „unvollständiger Daten“ erschwert werde.172 Die Briten müssen nämlich nur solche französischen Fischereiboote zulassen, die belegen können, dass sie bereits seit 2012 in den Gewässern um Jersey aktiv sind, und deswegen historisch begründete Fischereirechte haben.173 Die französische Regierung erklärte diese Bestimmung aber für „null und nichtig“.174 13.3.3.  Gründung von „Freihäfen“ Schon in seiner ersten Rede als Regierungschef im Juli 2019 wies Boris Johnson darauf hin, dass der „Brexit“ es dem UK ermöglichen würde, neue Freihäfen zu gründen, die einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung bewirken und eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze schaffen würden.175 Zuletzt wiederholte er diese Aussage des Öfteren, um von den desaströsen wirtschaftlichen Konsequenzen des „Brexit“,176 die immer mehr zutage traten, abzulenken. Ein „Freihafen“ ist eine Art Freihandels- und Sonderwirtschaftszone, innerhalb derer gelockerte Regulierungen und Steuererleichterungen gelten, um die Ansiedlung von Unternehmen anzuziehen. So sind zB in der „Jebel Ali Free Zone“ in Dubai, die den weltweit größten Freihafen darstellt, über 7.000 Firmen beheimatet. Der Aussage einer führenden Mitarbeiterin von Associated British Ports (ABP), Sue Simmonite, zufolge, könnte der Hafen von Southampton, als „Freihafen“, über die nächsten 25 Jahre 26.000 direkte und weitere 26.000 indirekte Arbeitsplätze entstehen lassen, sowie insgesamt 3,6 Mrd. Pfund an Wertschöpfung generieren.177 Ein „Freihafen“ ist ein eigenes Zollgebiet in Form einer Zollfreizone: sowohl beim Import, als auch beim Export von Waren, werden keine Zölle oder Abgaben fällig, sodass es dann, wenn der Einfuhrzoll eines Zielmarktes für die Bestandteile eines Produkts deutlich höher ist, als für das Endprodukt, Sinn machen würde, die Komponenten zollfrei in den Freihafen einzuführen, dort zu verarbeiten und anschließend das Endprodukt zu exportieren. Damit wären Freihäfen aber nicht nur Handels-, sondern auch Produktionsstandorte. 172 Vgl. Rath, G. Wenn die Navy im Kanal den Brexit verteidigt, Die Presse, vom 7. Mai 2021, S. 6. 173 Hafenblockade von Jersey ist abgewendet, NZZ vom 8. Mai 2021, S. 3. 174 France rejects British fishing demands as Brexit row deepens, EURACTIV.com, vom 7. Mai 2021. 175 Vgl. Triebe, B. Boris Johnson sagt, der Brexit bringe eine Wunderwaffe: Freihäfen. Aber die müssen sich erst beweisen, nzz.ch vom 25. Juni 2021. 176 Vgl. dazu vorstehend auf S. 28 ff. 177 Zitiert bei Triebe, B. Sind Freihäfen die Brexit-Wunderwaffe?, NZZ vom 26. Juni 2021, S. 18.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

Neben dieser zollrechtlichen Situation ist aber auch der steuerrechtliche Aspekt zu berücksichtigen, wie zB im Falle eines externen Versandverfahrens durch eine Beförderung von Waren über einen Freihafen in einem Mitgliedstaat, laut dessen innerstaatlichen Regelung Freihäfen nicht zu seinem nationalen Steuergebiet gehören. Für diese Frage, ob in einer solchen Fallkonstellation ein Mehrwertsteueranspruch entsteht oder nicht, ist bereits ein einschlägiges Urteil des Gerichtshofs ergangen.178 Die Rentabilität eines Freihafens hängt allerdings ganz entscheidend von der Zollstruktur ab, die – nach dem Brexit – die Einrichtung von Freihäfen an sich aber nicht begünstigt. So hat Großbritannien sehr niedrige Importzölle, auch für Vormaterialien, festgelegt, die bereits niedriger sind, als für Endprodukte, sodass es nur wenige Zollkonstellationen gibt, die eine Verarbeitung in Freihäfen begünstigen würden, wie eine rezente Analyse des „UK Trade Policy Observatory“ zeigt, die diesbezüglich von lediglich knapp einem Prozent der britischen Importe von Komponenten ausgeht.179 Worauf Boris Johnson bei seiner Propagierung der Errichtung von insgesamt zehn Freihäfen aber nicht hingewiesen hat, ist der Umstand, dass im UK bereits während seiner Mitgliedschaft in der EU eine Reihe von Freihäfen existierten – insgesamt bestanden zwischen 1984 und 2012 sieben Freihäfen – die alle aber wieder zurückgenommen wurden. Der gesamtwirtschaftliche Nutzen war umstritten, weil die Freihäfen zum einen wirtschaftliche Aktivitäten innerhalb des UK im Grunde nur verlagerten und zum anderen auch Steuereinnahmen kosteten.

14. „Hard Brexit“ im Bereich grenzüberschreitender Streitfälle in Zivil- und Handelssachen – Die EU verweigert dem UK den Beitritt zum „Lugano – Übereinkommen“ Wie bereits vor Kurzem angedeutet,180 kam es auf einem wichtigen Gebiet in den Beziehungen der EU zum UK aber nicht zu einer einvernehmlichen Regelung, sondern vielmehr zu einem „hard Brexit“. Seit dem Ende der Übergangszeit am 31. Dezember 2020, finden mit 1. Jänner 2021 die innerhalb der EU geltenden Bestimmungen für die Reglementierung und Vereinfachung grenzüberschreitender Streitfälle in Zivil- und Handelssachen, auf das UK keine Anwendung mehr. Dies betrifft vor allem das „Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ (sog. „LuganoÜbereinkommen“)181, das am 30. Oktober 2007 zwischen der EG sowie der 178 Gerichtshof, Rs. C-571/15, Wallenborn Transports SA gegen Hauptzollamt Gießen, Urteil vom 1. Juni 2017 (ECLI:EU:C:2017:417). 179 Vgl. Triebe, Sind Freihäfen die Brexit-Wunderwaffe? (Fn. 177). 180 Hummer/Pribas, Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR) (Fn. 99), S. 132 f. 181 ABl. 2007, L 339, S. 3 ff.

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„Hard Brexit“ im Bereich grenzüberschreitender Streitfälle in Zivil- und Handelssachen

Schweiz, Norwegen, Island und Dänemark182 abgeschlossen wurde, und das zum einen bestimmt, welches Gericht für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen international zuständig ist, und zum anderen die Durchsetzung gerichtlicher Urteile im Ausland erleichtert. Innerhalb der EU ist für den Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen die Verordnung Nr. 1215/2012 des EP und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) (Neufassung der Brüssel-Ia-Verordnung) (2015)183 maßgebend. Durch Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008184 trat das Lugano-Übereinkommen185 am 27. November 2009 in Kraft. Gem. Art.  69 Abs.  5 des Übereinkommens ist dieses „specialiter“ zwischen der EU und Norwegen am 1. Jänner 2010, zwischen der EU und der Schweiz am 1. Jänner 2011 und zwischen der EU und Island am 1. Mai 2011 in Kraft getreten. Der Gerichtshof hat in seinem Gutachten 1/03186 bestätigt, dass die EG über die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss des LuganoÜbereinkommens verfügt. Für den Ersatz dieser Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens wurde in den Austrittsverhandlungen des UK mit der EU überraschenderweise keine Regelung getroffen, sodass diesbezüglich von einem „hard Brexit“ ausgegangen werden muss.187 Weder das vorstehend erwähnte „Handels- und Kooperationsabkommen“ zwischen der EU und dem UK, noch das „EEA-EFTA-Separation Agreement“,188 das am 28. Jänner 2020 zwischen dem UK und den drei EWR-/EFTA-Staaten unterzeichnet wurde, und das großteils das EU-Austrittsabkommen widerspiegelt, enthält irgendeinen Bezug auf die judizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen. Ebensowenig nimmt das „EEA-EFTA No Deal Citizen’s Rights Agreement“189 darauf explizit Bezug. Im Handels- und Kooperationsabkommen finden sich weder Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und Gerichtsverfahren im Allgemei182 Dänemark war deswegen als eigene Vertragspartei an dem Übereinkommen beteiligt, da es sich nicht an der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 (sog. Brüssel I-Verordnung) beteiligt hatte, die nachfolgend von der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des EP und des Rates vom 12. Dezember 2012 (sog. Brüssel-Ia-Verordnung) (ABl. 2012, L 351, S. 1 ff.) ersetzt wurde. 183 Siehe Fn. 182. 184 ABl. 2009, L 147, S. 1 ff. 185 ABl. 2009, L 147, S. 5 ff. 186 Gutachten 1/03 des Gerichtshofs vom 7. Februar 2006 (ECLI:EU:C:2006:81). 187 Vgl. Tretthahn-Wolski, E. – Förstel-Cherng, A. – Klausegger, C. Post-Brexit CrossBorder Disputes, Blog Binder Grösswang, vom 9. April 2021. 188 Fn. 135. 189 Fn. 136.

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nen – etwa zu dem anwendbaren Recht der grenzüberschreitenden Zustellung von Schriftstücken, der Beweisaufnahme und der doppelt rechtshängigen Gerichtsverfahren – noch Regelungen über die grenzüberschreitende Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsurteilen. Im Wissen darum, dass die Bestimmungen des „Lugano-Übereinkommens“ auch nach dem Austritt des UK aus der EU für dieses weiterhin große Bedeutung haben werden – vor allem was die Anerkennung und Durchsetzung von Urteilen britischer Gerichte in den 27 EU-Mitgliedstaaten im Bereich des hochprofitablen „Legal Services“-Sektor190 betrifft – stellte das UK bereits am 8. April 2020 gem. Art.  72 des Lugano-Übereinkommens von 2007 einen formellen Beitrittsantrag zu diesem und schlug vor, die Anwendung des Übereinkommens auch auf Gibraltar auszudehnen. Gem. Art. 72 Abs. 3 des Lugano-Übereinkommens lädt der Verwahrer des Übereinkommens, nämlich der Schweizer Bundesrat, den Beitrittswerber aber nur dann zum Beitritt ein, wenn die Zustimmung aller Vertragsparteien vorliegt, die spätestens innerhalb eines Jahres nach der Aufforderung durch den Verwahrer erteilt werden muss. Mit Schreiben vom 14. April 2020 übermittelte der Verwahrer das Ersuchen des UK offiziell den Vertragsparteien des Lugano-Übereinkommens, einschließlich der EU, vertreten durch die Europäische Kommission. Während in der Folge Island, Norwegen und die Schweiz ihre Unterstützung für den Beitritt des UK bereits Anfang 2021 signalisiert haben, blieb die Zustimmung der EU innerhalb der Jahresfrist aus. Die EU-Kommission wies vielmehr Island, Norwegen und die Schweiz darauf hin, dass „a quick decision was not in the EU’s interest“.191 Nach einer anfänglich positiven Meldung aus Brüssel vom 12. April 2021 schlug die Stimmung nach einer Geheimsitzung von EU-Diplomaten aber um, die die Geltung des Lugano-Übereinkommens im Verhältnis zum UK nunmehr ablehnten.192 Das UK habe sich durch seinen Austritt gegen eine enge Partnerschaft mit der EU entschieden und ist – im Gegensatz zu allen Vertragsstaaten des Übereinkommens – weder Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) noch der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Dementsprechend lehnte die EU-Kommission in ihrer offiziellen Stellungnahme vom 4. Mai 2021 auch einen Beitritt des UK zum LuganoÜbereinkommen ab.193 Es mag dahingestellt bleiben, ob man diesbezüglich 190 Bar Council, Bar Council Parliamentary Briefing (12.2018), Rdnr. 21: „In 2016 (…) the Legal Services sector contributed 26bn to the EU economy and generates a trade surplus of 4.4bn“. 191 Brunsden/Khan/Bejoley/Parker, Britain risks losing access to valuable European legal pact (2020); O’Hora/Mitchell, Lugano Convention Post-Brexit (2020). 192 Vgl. Peiffer, E. – Wedding, C. Brexit-Krimi in der grenzüberschreitenden Streitschlichtung; cmshs-bloggt.de/rechtsthemen/brexit/brexit-zuständigkeit-gerichtgrenzuberschreitende-streitbeilegung/ 193 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Bewertung des Ersuchens des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland um

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„Hard Brexit“ im Bereich grenzüberschreitender Streitfälle in Zivil- und Handelssachen

der (eher vordergründigen) Argumentation der Kommission folgt, oder die Ablehnung nicht als harte „Retourkutsche“ seitens der Kommission für den Austritt des UK aus der EU empfindet. Künftige Grundlagen für die justizielle Zusammenarbeit des UK mit der EU könnten aber, nach Einschätzung der EU-Kommission, sowohl das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, als auch das Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile in Zivil- und Handelssachen sein, falls letzteres einmal in Kraft treten sollte. Das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, das für ausschließliche Gerichtsstandvereinbarungen in internationalen Ziviloder Handelssachen gilt, wurde am 30. Juni 2005 im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht geschlossen, 2009 von der EG unterzeichnet194 und 2014 von der EU genehmigt.195 Im Anschluss daran ratifizierte die EU das Übereinkommen am 15. Juni 2015, womit es für alle EU-Mitgliedstaaten – mit Ausnahme von Dänemark196 – sowie die übrigen Länder, die es ratifiziert haben, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens am 1. Dezember 2015 bindend wurde. Das Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- oder Handelssachen wiederum wurde am 2. Juli 2019197 von der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, als Ergänzung zum vorerwähnten Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, verabschiedet und schafft – vergleichbar mit dem New York Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. Juni 1958198, das (im Gegensatz zu staatlichen Gerichtsverfahren) im Verhältnis zum UK auch nach dem Brexit anwendbar bleibt – eine Rechtsgrundlage für die weltweite Beachtung staatlicher Gerichtsentscheidungen. Die Europäische Kommission hat mit den Vorbereitungen für den EU-Beitritt unmittelbar danach begonnen.199 Es ist damit zu rechnen, dass sowohl das Europäische Parlament, als auch der Rat der EU, dieser Einschätzung der Kommission folgen werden. Sollte auch Beitritt zum Lugano-Übereinkommen von 2007; COM(2021) 222 final vom 5. Mai 2021. 194 Beschluss 2009/397/EG des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unterzeichnung des Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen; ABl. 2009, L 133, S. 1 ff. 195 Beschluss 2014/887/EU des Rates vom 4. Dezember 2014 über die Genehmigung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005; ABl. 2014, L 353, S. 5 ff. 196 Vgl. dazu Fn. 182. 197 Vgl. Garcímartin, F. – Saumier, G. Convention of 2 July 2019 on the Recognition and Enforcement of Foreign Judgements in Civil or Commercial Matters – Explanatory Report (2020). 198 BGBl. Nr. 200/1961 idF BGBl. III Nr. 83/2020. 199 Vgl. Pressemitteilung vom 3. Juli 2019; ec.europa.eu/germany/news/20190703-an erkennung-zivil-handelsurteilen_de

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

das UK dieses Übereinkommen abschließen, dann würde dieses aber für die zukünftige justizielle Zusammenarbeit des UK mit der EU gelten.200 Damit ist aber gegenwärtig ein „hard Brexit“ im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit, vor allem aber in der Streitbeilegung, zwischen der EU und dem UK Realität. Erhebt zB die Partei eines deutsch-britischen Liefervertrages nach dem 1. Jänner 2021 Klage im Zusammenhang mit diesem Rechtsverhältnis, so bestimmt sich die Zuständigkeit der Gerichte in der Bundesrepublik und im UK nicht mehr nach der Verordnung Nr. 1215/2012 des EP und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) (Brüssel-Ia-Verordnung) (2015)201 sondern nach nationalem Recht. Dieser Umstand birgt aber das Risiko von Kompetenzkonflikten und Parallelverfahren. Damit könnte es zB in der Beurteilung von deutschen und britischen Gerichten bezüglich grenzüberschreitender Gerichtsverfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was aber soweit als möglich vermieden werden sollte. Im Schrifttum wird dementsprechend auch diskutiert, ob der Vorgänger der EuGVVO, nämlich das Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen von 1968 (EuGVÜ)202, im Verhältnis zwischen dem UK und den älteren EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, mangels Geltung der EuGVVO nicht wieder „auflebt“, was aber mehrheitlich verneint wird. Zum einen ist ein „Wiederaufleben“ des EuGVÜ politisch nicht gewollt und zum anderen spricht auch ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. März 2021203 eindeutig dagegen.204 Der „hard Brexit“ im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilund Handelssachen hat aber auch schwerwiegende Konsequenzen für die grenzüberschreitende Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen, da – im Verhältnis zum UK – Urteile von EU-mitgliedstaatlichen Gerichten nicht mehr von der unmittelbaren, und damit zeit- und kosteneffizienten Vollstreckbarkeit nach der EuGVVO profitieren können. Gleiches gilt für die Durchsetzung von Urteilen von Gerichten im UK in den EU-Mitgliedstaaten.

15. Schlussbetrachtungen Der mit der negativen Volksbefragung vom 23. Juni 2016 eingeleitete Austrittsprozess des UK aus der EU („Brexit“) stellt ohne Zweifel einen der 200 COM(2021) 222 final vom 5. Mai 2021, S. 5. 201 Siehe Fn. 182. 202 ABl. 1972, L 299, S. 32 ff. 203 Bundesgerichtshof, Beschluss X ZR 54/19. 204 Peiffer/Wedding, Brexit-Krimi in der grenzüberschreitenden Streitbeilegung (Fn. 192), S. 3 f.

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Schlussbetrachtungen

komplexesten Vorgänge dar, die jemals im internationalen Wirtschaftsrecht im Allgemeinen, und im Europarecht im Speziellen, abgehandelt werden mussten: Dementsprechend stellten auch beide Vertragspartner des Handels- und Kooperationsabkommens übereinstimmend fest: „The deal between the U.K. and the EU is the largest bilateral trade pact in history“.205 Ebenso ist er der erste erfolgreiche Austrittsvertrag aus einem supranationalen Integrationsgebilde, dessen Volumen 2019 ganze 905 Mrd. US-$ betrug. Die dabei zu bewältigenden Probleme waren außerordentlich vielfältig und betrafen nicht nur rein wirtschaftliche bzw. wirtschaftspolitische, sondern auch höchst politische Fragen, die mehrmals knapp vor ihrem Scheitern standen, in allerletzter Minute aber doch erfolgreich gelöst werden konnten, womit ein „hard brexit“ vermieden und ein Ausscheiden des UK aus der EU, der es über 47 Jahre als Mitglied angehört hatte, in geregelter Form ermöglicht wurde. Die im Zuge der vierjährigen Verhandlungen über einen ordnungsgemäßen Austritt des UK aus der EU gelösten Rechtsfragen sind Legion, wobei es aber verblüfft, dass auf einige ganz grundlegende Probleme zunächst nicht hingewiesen wurde. Ob dies aus Unkenntnis oder politischem Kalkül geschah, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers, ist aber deswegen von vitaler Bedeutung, da deren Berücksichtigung unter Umständen beim Referendum 2016 zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Interessanterweise sind die nachstehend aufgeführten Probleme in der einschlägigen Literatur nicht entsprechend aufgegriffen worden, obwohl sie für ein allgemeines Verständnis dieser komplexen Problematik von größter Bedeutung gewesen wären. (a) Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die von Premierminister David Cameron am 23. Juni 2016 dem Wahlvolk vorgelegte Frage folgendermaßen lautete: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“ Damit wurde aber das britische Elektorat nicht über die negativen Folgen des damit ebenfalls verbundenen Austritts des UK aus der EAG (EURATOM) befragt.206 Gem. Art. 3 des Protokolls (Nr. 2) zur Änderung des EAG-Vertrags iVm Art. 106a Abs. 1 EAGV207 gelten nämlich die Bezugnahmen auf die EU auch als solche auf die EURATOM-Gemeinschaft und den EAG-Vertrag, was ua auch auf die Austrittsbestimmungen des Art. 50 EUV zutrifft. Ein Austritt eines Mitgliedstaates aus nur einer der beiden Organisationen ist daher nicht möglich.208 Ein Austritt aus EURATOM würde aber die aktuellen britischen Atomkraft-Pläne massiv gefährden. Unter Hinweis auf die, gem. Art. 194 Abs. 2 205 Zitiert nach Isaac/Mears/Moens, UK-EU Brexit trade deal at a glance (Fn. 126), S. 1. 206 Vgl. Hummer, Bewirkt der „Brexit“ auch den automatischen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus EURATOM? (Fn. 5), S. 39 ff. 207 Konsolidierte Fassung ABl. 2010, C 84, S. 43. 208 Vgl. Kumin, Vertragsänderungsverfahren und Austrittsklausel (Fn. 25), S. 321 f.

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Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU

UAbs.  2 AEUV jedem EU-Mitgliedstaat zustehende Wahlfreiheit, seinen „Energie-Mix“ frei auswählen zu dürfen, beauftragte das UK den französischen Reaktorbauer Areva mit der Planung zweier neuer Atomreaktoren der „dritten Generation“ (ERP) in Hinkley Point C, deren Errichtung der erste Neubau eines AKW seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima wäre.209 Ein Brexit würde aber auch die Investitionsentscheidung des Hauptinvestors „Electricité de France“ (EdF) massiv gefährden. Der enge Grad der Verflechtung von EURATOM mit dem UK im Nuklearbereich geht aber vor allem sehr anschaulich aus dem Umstand hervor, dass die Regierung des UK am 30. Dezember 2020 mit EURATOM ein „Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der sicheren und friedlichen Nutzung der Kernenergie“210 abgeschlossen hat. Es ist daher eine mehr als verständliche Vermutung, dass dann, wenn bei der Volksbefragung die britischen Wähler auch nach den Konsequenzen eines Austritts aus EURATOM gefragt worden wären, mit großer Wahrscheinlichkeit die fehlenden 2% der Stimmen – 51,9% stimmten für einen Austritt und 48,1% für einen Verbleib in der EU211 – für ein „Remain“ hätten aufgebracht werden können, da das Stimmvolk ja dann auf die ausgesprochen negativen Reflexe eines Austritts aus EURATOM auf ihre Nuklearindustrie verwiesen worden wäre. Warum hat man ihnen diese (Zusatz) Frage aber nicht gestellt? Interessanter Weise ist diese Frage von den britischen Behörden bis heute nicht (entsprechend) beantwortet worden – gibt es dafür einen Grund, oder handelt es sich tatsächlich um ein „Versehen“ der britischen Behörden, was allerdings nur schwer vorstellbar ist? (b) Des Weiteren muss auf die völlig irreführende Bezeichnung des Vorgangs des Ausscheidens des UK aus der EU durch den Begriff „Brexit“ hingewiesen werden, der ja darauf hindeutet, dass es sich dabei (lediglich) um den Austritt von „Great Britain“ („British Exit“) handelt, was aber völlig falsch ist. Es ist nicht nur Großbritannien, sondern das gesamte Vereinigte Königreich“ („United Kingdom“, UK) – bestehend aus Großbritannien, Wales, Schottland und Nordirland – aus der EU ausgetreten, sodass es sich im Grunde um einen „UK-Exit“ und nicht um einen bloßen „Brexit“ handelt. Wie vorstehend festgestellt, haben ja auch die einzelnen Landesteile des UK unterschiedlich abgestimmt. So stimmten England und Wales mehrheitlich für den Austritt, Schottland (mit 62%) und Nordirland (mit 56%) aber dagegen. Es ist eigentlich völlig unverständlich, dass sich eine solche Fehlbezeichnung unwidersprochen etablieren konnte! (c) Zuletzt sei auch noch auf den interessanten Umstand verwiesen, dass es eine Fülle von „Schuldzuweisungen“ gibt, wer denn eigentlich für die 209 Hummer, Hinkley Point C – Der Kampf Österreichs gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken (Fn. 27). 210 ABl. 2020, L 445, S. 5 ff., modifiziert in ABl. 2021, L 150, S. 1 ff. 211 Vgl. dazu vorstehend auf S. 8.

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Schlussbetrachtungen

außerordentlichen politischen, wirtschaftspolitischen und finanziellen Schäden verantwortlich ist, die dem UK durch den „Brexit“ zugefügt wurden. Die einschlägigen Äußerungen zentrieren dabei um die Schuld des BrexitWortführers Nigel Farage, der Ministerpräsidenten Theresa May und Boris Johnson uam, wobei aber interessanter Weise Premierminister David Cameron nicht erwähnt wird. Cameron hat die letztlich allein durch ihn ausgelöste „Brexit“-Problematik politisch völlig unbeschädigt überstanden und wurde nicht als Verantwortlicher für die „Brexit“-Problematik genannt. Am 13. Juli 2016 trat David Cameron zurück und zog in eine Schäferhütte in den Cotswolds, um dort seine Memoiren zu verfassen. Negative Schlagzeilen lieferte nur seine Verbindung zu Lex Greensill, dem CEO von „Greensill Capital“, dem er ungehinderten Zugang zu den wichtigsten Stellen im Regierungsviertel Whitehall verschaffte, wofür er mit Bündeln von Aktien-Optionen dieses Unternehmens „belohnt“ wurde.212 Am 13. Mai 2021 musste Cameron wegen seiner Verwicklung in den „Greensill Capital“Skandal auch vor dem Finanzausschuss des Unterhauses Rede und Antwort stehen.213 Verfolgt man aber die „Kausalitätskette“ zurück, so steht David Cameron mit seiner – der bloßen Absicherung seiner innenpolitischen Position dienenden – Ankündigung vom Jänner 2013, im Falle seiner Wiederwahl im Jahre 2015, spätestens aber Ende 2017, einen Volksentscheid über den Verbleib des UK in der EU anzusetzen,214 als (kausal) allein Verantwortlicher eindeutig fest. In kaum einer einschlägigen Abhandlung wird aber auf diesen Umstand entsprechend verwiesen! Zum Abschluss soll noch auf eine Bemerkung des Abgeordneten Andreas Schieder, dem außenpolitischen Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zum UK, verwiesen werden, der vor der Illusion warnte, den Brexit lediglich als „Betriebsunfall“ zu betrachten. „Wir brauchen nicht damit zu rechnen, dass es unter einer Labour-Regierung einen baldigen Wiedereintritt des UK in die EU geben wird. In den nächsten Jahrzehnten, bis zur Jahrhundertmitte vermutlich, wird es keinen britischen EU-Beitritt geben, wonach dann alles wieder gut ist“.215

212 Szalai, G. Lobby-Skandal: Peinliche Rückkehr David Camerons, Kurier vom 17.  April 2021, S. 9; Hippin, A. David Cameron im Greensill-Strudel, NZZ vom 1. April 2021, S. 16. 213 Triebe, B. David Cameron kämpft um die Reste seines Rufs, NZZ vom 15. Mai 2021, S. 20; Triebe, B. Wie David Cameron es schaffte, seine Reputation nach dem misslungenen Brexit-Abenteuer noch mehr zu zerstören, nzz.ch vom 14. Mai 2021. 214 Siehe dazu vorstehend auf S. 7. 215 Äußerung des Abg. zum EP, Andreas Schieder, in einem Presse-Interview, „Bis Mitte des Jahrhunderts kein EU-Beitritt“, Die Presse vom 17. April 2021, S. 8.

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Teil II: Zusammenstellung aller Artikel (Auflistung der Artikel in chronologischer Folge ihres Erscheinens, samt Seitenangabe) 1. Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt.............................................................................................................. 56 2. Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“ und warum wird es von der österreichischen Bundesregierung bekämpft? Die „Übererfüllung“ von Richtlinien-Vorgaben als komplexes Problem........................................................ 66 3. Relativierung des fundamentalen Rechtsgrundsatzes „ne bis in idem“? Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen.................................................................................................................. 79 4. Die dritte österreichische „Präsidentschaft“ in der EU. Vorgaben und Herausforderungen für die Vorsitzführung Österreichs im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2018.............................................................................................. 90 5. Konkrete Fälle von „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung...... 106 6. Aktualisierung der „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) gegen die extraterritorialen US -Sanktionen gegen den Iran (2018). Aktivierung des Schutzmechanismus für Wirtschaftstreibende aus der EU, um damit Schadensersatzforderungen geltend zu machen............................................................................... 112 7. The „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ (2018). Die erste Übereinkunft über ein weltweites System ordnungsgemäßer Migration im Schoß der Vereinten Nationen............................................................................ 119 8. Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump. Rechtssoziologische Erkenntnisse aus der Richterbestellung am Supreme-Court der USA.................................................................................... 127 9. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtstaatlichen Pranger. Dieses Mal leitete aber das Europäische Parlament das “Frühwarnsystem“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn ein................................................................................. 136 10. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit. Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen wegen „systemischer Mängel“ in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz?....................................................................................... 150 11. Die Lösung des Namensstreits zwischen Mazedonien und Griechenland scheint zu scheitern. Damit wäre eine singuläre Chance vertan, die „Westbalkanstrategie“ der EU zu befördern..................................................................... 170 12. Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“. Allein zulässige elektronische Übermittlung von Prozessakten ab Anfang Dezember 2018................................ 182

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Zusammenstellung aller Artikel

13. Was hat eigentlich der Gerichtshof (EuGH) mit „rauchlosen Tabakerzeugnissen“, wie Kautabak, Schnupftabak, Lutschtabak und „Snus“, zu tun? Warum führte die Einstufung von „Snus“ zum ersten freiwilligen Rücktritt eines Kommissars?..................................................................................................... 187 14. „Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht. Stellenausschreibung des ersten „Europäischen Generalstaatsanwalts“ der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ durch die Europäische Kommission................................................ 194 15. Widerrufbarkeit der „Brexit-Erklärung“ des Vereinigten Königreichs? Der „Exit vom Brexit“ als komplexes Problem.............................................................. 202 16. Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat und seinen aktuellen Gefährdungen zu tun? Neueste Entwicklungen zur Bestärkung des Rechtsstaatsprinzips in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland............................................................................................................... 214 17. Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden? Von der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bis zu den Berufs- und Standesregeln...................... 227 18. Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) – 56 Jahre deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft.......................................... 233 19. INSTEX, die tripartite Zweckgesellschaft zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran. Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich schaffen eine „Tauschbörse“, um damit den EU-Iran – Handel zu ermöglichen und zugleich den US-Dollar zu schwächen............................................................ 248 20. Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU. Unbedingt notwendig, oder eigentlich entbehrlich?................................................................. 255 21. Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung. Enorme politische und juristische Komplexität einer sachgerechten Umsetzung dieses Erkenntnisses............................................................ 265 22. Vom „halben Feiertag“ am Karfreitag zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl. Welches Schicksal droht aber dem Auslöser dieser unglaublichen „Husch-Pfusch“-Gesetzgebung?.................................................... 281 23. Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn? Diente der „Weisenrat“ für Österreich (2000) tatsächlich als Modell für den „Weisenrat“ der EVP für Ungarn (2019)?..................................................................................... 300 24. Der facettenreiche „Fall Julian Assange“. Offene Fragen nach dem Verweis des „Whistleblowers“ aus der ecuadorianischen Botschaft in London und seiner Verhaftung....................................................................................................... 314 25. Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs der EU. Die Europäische Kommission muss ihre Methode zur Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeld anpassen.......................................................... 326 26. Vom „Monster at the Berlaymont“ zum Delegationsleiter der Europäischen Kommission in Österreich – Aufstieg und Fall des „mächtigsten Beamten Europas“, Martin Selmayr........................................................................................ 333 27. Wirtschaftliche Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Integrationszonen. Die Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA......................................................................................... 341 28. Österreichs Veto gegen den Abschluss des Abkommens MERCOSUR-EU und seine Implikationen. Politische und rechtliche Konsequenzen bindender Stellungnahmen des Nationalrates........................................................................... 358 29. Warum misst Österreich bei benachbarten Atomkraftwerken mit zweierlei Maß? Gegen grenznahe AKW in den MOEL geht Österreich rigide vor, gegen die Laufzeitverlängerung der alten AKW der Schweiz aber nicht........................ 367

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Zusammenstellung aller Artikel

30. Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU – verbunden mit einem Blick zurück auf die „Sanktionen der Vierzehn“........................................ 384 31. Die nordische Zusammenarbeit und ihre Relevanz für die europäische Integration. Der „Nordische Rat“, der „Nordische Ministerrat“ und der „Westnordische Rat“ im Vergleich........................................................................... 391 32. Erstmals verhängt die Europäische Union Sanktionen wegen Cyber-Angriffen. 400 33. „Petro“ und „Petro Oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen.......... 411 34. „Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des „Gerichtshofs der Europäischen Union“.............................. 424 35. Ist der Erwerb „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ EU-konform? Die Europäische Kommission ist anderer Meinung. Warum ist der „Verkauf“ von Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsberechtigungen aus verfassungsrechtlicher, völkerrechtlicher und europarechtlicher Sicht unterschiedlich zu beurteilen?.................................................................................................................. 440 36. Die Ablehnung der Schweizer Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“. Konsequenzen für die Beziehungen Schweiz – EU im Allgemeinen und für das Rahmenabkommen im Speziellen... 453 37. Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun? Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU verliert auch der Finanzplatz London seinen „EU-Pass“ und damit der LIBOR seine Bedeutung.................................. 475 38. Von LIBRA zu DIEM. Versuche der Europäischen Kommission, auf die mögliche Einführung dieser „Krypto-Währung“ zu reagieren............................. 484 39. Virtuelle Währungen (sog. „Krypto-Währungen“) und deren Bedeutung für das herkömmliche Geld- und Finanzsystem........................................................... 505 40. Das „Crypto Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets und die Stellung Österreichs dazu........................................................................... 521

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Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt

1. Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt Die rasante Entwicklung des Luftverkehrs in Europa ist wahrlich beängstigend: Im Jahr 2035 wird dieser voraussichtlich 14,4 Mio. Flüge (!) verzeichnen, was einer Steigerung von 50% gegenüber dem Aufkommen des Jahres 2012 bedeutet. Von Umweltschutzproblemen ganz abgesehen, werden dabei Flugsicherheitsprobleme im Mittelpunkt der Diskussionen stehen. Europäische Flugzeug- und Hubschrauber-Piloten sowie Fluglotsen haben die Kommission in diesem Zusammenhang bereits 2017 dazu aufgerufen, schnellstmöglich eine EU-weite Flugsicherheitsregelung für Drohnen zu implementieren. Man brauche unbedingt Vorschriften darüber, wo und in welchen Höhen Drohnen benutzt werden dürfen.1 Diesen Fragen der Definition und Klassifizierung, aber auch der der Reglementierung der Flugbahnen bzw. der Flughöhen von Drohnen soll anschließend kurz nachgegangen werden. Drohnen als Gefahr für den zivilen Flugverkehr Die Verbreitung von „Drohnen“ – auch als „unbemannte Luftfahrzeuge“ (ULF) bzw. „unmanned aircraft systems“ (UAS) bezeichnet – in den Mitgliedstaaten der EU hat dermaßen zugenommen, dass deren bisherige Regelung aktualisiert und verbessert werden muss. Gegenwärtig sind in Österreich an die 100.000 und in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 400.000 Drohnen im Einsatz. Die Deutsche Flugsicherung erwartet, dass die Zahl der Drohnen bis 2020 auf mehr als eine Million steigen wird. In ganz Europa werden es nach Schätzungen der EU dann mehr als sieben Millionen Drohnen sein, die den Luftraum befliegen. 2015 meldeten Flugzeugpiloten in der Bundesrepublik die Sichtung von 14 Drohnen, ein Jahr später waren es bereits 64.2 Wenngleich eine Studie des Mercatus Center der George Mason University in Virginia, die eine Parallele zum Impakt von vergleichbar großen Vögeln in Zivilflugzeugen herstellt, Entwarnung hinsichtlich des Zusammenstoßes mit kleinen Drohnen gibt, bleibt ein Restrisiko bestehen, vor allem, wenn es zu Beschädigungen des Cockpitfensters oder der Triebwerke kommen sollte. Seit 1990 hat es ca. 160.000 Zusammenstöße von Zivilflugzeugen mit Vögeln gegeben, von denen aber nur rund 14.000 Schäden am Flugzeug hinterlassen haben. Nur drei Prozent der Kollisionen mit 1 EU will Drohnen ab 2019 regulieren, euractiv.de, vom 31. März 2018; https://www. euractiv.de/section/eu-innenpolitik/news/eu-will-drohnen-ab-2019-regulieren/ (zuletzt abgefragt: 25. März 2018). 2 Drohne im Anflug; https://www.bayernkurier.de/inland/28980-drohne-im-anflug/ (zuletzt abgefragt: 25. März 2018).

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Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt

kleineren Vögeln, die mit kleinen Drohnen zu vergleichen sind, haben Schäden hinterlassen.3 Verstärkter Einsatz von Drohnen Aktuelle Anwendungsmöglichkeiten für Drohnen bieten sich bei Lieferdiensten aller Art in Stadtgebieten – so plant Amazon bereits eine Paketzustellung in Städten durch Drohnen –, bei der Datenerhebung für die unterschiedlichsten Zwecke, für die Kontrolle von Infrastrukturen, in der Präzisionslandwirtschaft, im Verkehr, in der Logistik uam, an. Weltweit soll der Drohnenmarkt bis 2020 in der Präzisionslandwirtschaft um 42%, in der Kontrolle und Überwachung von Infrastrukturen um 36%, für Freizeitaktivitäten um 30% und in der Medien- und Unterhaltungsbranche um 26% zunehmen.4 Dementsprechend wächst auch das Marktaufkommen für Drohnendienste, das bis 2035 auf 10 Mrd. Euro und auf 127 Mrd. Euro in den darauffolgenden Jahren ansteigen soll.5 Zuständige Rechtsordnung für die Reglementierung von Drohnen Was die zuständige Rechtsordnung für die Reglementierung von Drohnen bzw. deren Einsatzmöglichkeiten betrifft, so ist diesbezüglich deren Gewicht entscheidend: Drohnen mit einem Gewicht von unter 150 kg unterliegen der mitgliedstaatlichen Regelung, Drohnen mit einem Gewicht über 150 kg hingegen der unionsrechtlichen Reglementierung.

Unionsrecht Die unionsrechtliche Regelung wurde bisher im Rahmen der Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 216/2008 vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit6 vorgenommen, die mitgliedstaatlichen gesetzlichen Bestimmungen wurden bisher aber nicht vereinheitlicht, sodass es diesbezüglich zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes gekommen ist, was die Entwicklung neuer Produkte und die Standardisierung von Sicherheitsrisiken behindert hat. 3 Gefährdung für den Luftverkehr: Drohnen und der Faktor Mensch, derstandard.at vom 18. April 2016; https://derstandard.at/2000035122200/Gefaehrdung-fuer-denLuftverkehr-Drohnen-un... (zuletzt abgefragt: 25. März 2018). 4 MarketsandMarkets, Analysis & Forecast to 2020 (2015). 5 Luftfahrt: Europäische Kommission gibt Drohnenbranche Auftrieb, IP/17/1605. 6 ABl. 2008, L 79, S 1 ff.; vgl. dazu die Verordnungen (EU) Nr. 748/2012 und Verordnung (EU) Nr. 1321/2014 über die Aufrechterhaltung der Lufttüchtigkeit von Luftfahrzeugen und luftfahrttechnischen Erzeugnissen, Teilen und Ausrüstungen und die Erteilung von Genehmigungen für Organisationen und Personen, die diese Tätigkeiten ausführen (Neufassung) (ABl. 2014, L 362, S. 1 ff.).

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Dementsprechend schlug die Europäische Kommission im Rahmen ihrer am 7. Dezember 2015 veröffentlichten „Luftfahrtstrategie für Europa“7 auch vor, unionsweite Grundlagen für den Einsatz von Drohnen zu schaffen und dafür eine Überarbeitung der geltenden Verordnung (EG) Nr. 216/2008 vorzunehmen. Die Kommission beauftragte dazu das „Gemeinsame Unternehmen für die Forschung zum Flugverkehrsmanagementsystem für den einheitlichen europäischen Luftraum“ (SESAR)8, eine Studie über die Sicherheit und Umweltfreundlichkeit des Drohnenflugbetriebs im bodenna­ hen Luftraum zu erstellen. SESAR präsentierte am 16. Juni 2017 in Brüssel seine Vorstellungen, wie sich im bis zu einer Höhe von 150 m über Grund reichenden Luftraum („U-Space“) die Reglementierung von Drohnendiensten gestalten soll. Bis 2019 sollen dabei in einer ersten Phase Drohnen und deren Betreiber registriert, elektronisch identifiziert und ihr Betrieb mittels Geo-Fencing räumlich eingegrenzt werden. In einer zweiten Phase soll dann der Drohnen-Luftverkehr den Regeln des sonstigen Flugverkehrs mit bemannten Fluggeräten angepasst werden, was Folgendes bedeuten würde: Die Besitzer von Drohnen wären verpflichtet, vor Abflug eine Fluganfrage zu stellen und eine Starterlaubnis abzuwarten. Außerdem müssten die Drohnen mit entsprechenden Aufnahmefunktionen und Infosystemen ausgestattet werden.9 Durch genaue Bestimmungen über die Nutzung des „U-Space“ soll das wirtschaftliche Potential von Drohnen voll ausgeschöpft werden, ohne dass dabei aber die Sicherheit des Flugverkehrs beeinträchtigt wird. Auch in niedrigen Höhen soll die Sicherheit im „U-Space“ der der herkömmlichen bemannten Luftfahrt in nichts nachstehen. Dementsprechend wird das einzurichtende System die hoch automatisierten bzw. sogar autonomen Drohnen mit den entsprechenden Flugdaten versorgen, damit diese sicher fliegen, Hindernissen ausweichen und Kollisionen vermeiden können. Konkret soll die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA), gemeinsam mit den Mitgliedstaaten, unionsweite Sicherheitsvorschriften für den Betrieb von Drohnen ausarbeiten, die anschließend in einer vom Europäischen Parlament und vom Rat zu erlassenden EU-Grundverordnung über die Flugsicherheit umgesetzt werden sollen.

7 COM(2015) 598 final. 8 Das von der EU und Eurocontrol gegründete gemeinsame Unternehmen „Single European Sky Air Traffic Management Research“ (SESAR) ist eine europäische öffentlich-private Partnerschaft, die sich mit der Verwaltung und Koordinierung des Flugverkehrsmanagements befasst. SESAR hat 19 Mitglieder, die zusammen mit ihren Partnern und angeschlossenen Verbänden über 100 weltweit tätige Unternehmen repräsentieren. 9 EU will Drohnen ab 2019 regulieren (Fn. 1), loc. cit.

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Verbreitung und Multifunktionalität von „Drohnen“: der Regelungsbedarf in der EU steigt

Mitgliedstaatliche Regelungen Im österreichischen Recht Die Rechtsgrundlagen für die Reglementierung und den Betrieb von Drohnen in Österreich sind in den Internationalen Bestimmungen des 3. Abschnitts des zum 1. Jänner 2014 novellierten Luftfahrtgesetzes (LFG) (1957) idgF10 (§§ 24c bis 24f) enthalten, während dessen § 24a Abs. 1 LFG auf die unionsrechtlich anzuwendenden Bestimmungen verweist. Dabei wird die Definition und die Abgrenzung unbemannter Flugmodelle und die Qualifikation ihres rechtlichen Status wie folgt vorgenommen: 1) Spielzeug: Unbemannte Geräte mit einer maximalen Bewegungsenergie unter oder gleich 79 Joule (beim Aufprall); Flughöhe max. 30 Meter über Grund; maximale Abflugmasse 250 g. Diese Geräte fallen gem. § 24d Luftfahrtgesetz nicht in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes und sind daher bewilligungsfrei; 2) Flugmodell: Nicht der Landesverteidigung dienende Geräte, die in ständiger Sichtverbindung zum Piloten in einem maximalen Umkreis von 500 m zu Freizeitzwecken eingesetzt, aber nicht gewerblich genutzt werden dürfen; sie dürfen nicht mehr als 25 kg wiegen und keine aufnahme- oder streamingfähige Kamera mit sich führen; überschreitet ihr Gewicht allerdings die Grenze von 25 kg oder überschreiten sie die Flughöhe von 150 m, dann bedürfen sie einer Flugbewilligung der Austro Control GmbH; der Betrieb über dicht besiedeltem Gebiet oder Menschenansammlungen im Freien bedarf in zivilen Lufträumen ebenfalls einer Bewilligung der Austro Control GmbH; darüber hinaus ist der Betreiber des Flugmodells als Halter versicherungspflichtig, wobei dafür Gefährdungshaftung (bis 750.000 Euro), darüber hinaus aber Verschuldenshaftung besteht (§ 24c Luftfahrtgesetz); 3) Drohnen der Klasse 1: Drohnen der Klasse 1 sind unbemannte Luftfahrzeuge, die in Sichtverbindung zum Piloten von diesem gesteuert werden und mit einer aufnahmefähigen Kamera ausgestattet sind; neben einer privaten Nutzung werden sie aber auch mit einer gewerblicher/entgeltlicher Nutzung betrieben und dürfen dabei den Umkreis von 500 m überschreiten; wenngleich keine Einschränkung hinsichtlich des Umkreises besteht, ist eine Steuerung der Drohne nur von einem ortsfesten Standort aus zulässig; Beispiele für Drohnen der Klasse 1 sind DJI Phantom 4, DJI Mavic Pro, Typhoon, GoPro Karma, Parrot Beepop uam; neben einer Versicherungspflicht mit einer Deckungssumme von 750.000 Euro besteht hier eine allgemeine Bewilligungspflicht für den Betrieb seitens der Austro Control GmbH (§ 24f Luftfahrtgesetz)11; 10 BGBl. Nr. 253/1957 idF BGBl. I Nr. 92/2017. 11 Für das Formular für die Betriebsbewilligung unbemannter Luftfahrzeuge von Austro Control siehe FO_LFA_PPS_049_DE_v9_0.

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4) Drohnen der Klasse 2: Unbemannte Luftfahrzeuge der Klasse 2 sind nicht der Landesverteidigung dienende unbemannte Fahrzeuge, die selbständig im Fluge verwendet werden können und ohne Sichtverbindung zum Piloten betrieben werden. Auf sie sind sämtliche für (bemannte) Zivilluftfahrzeuge und deren Betrieb geltenden Bestimmungen des Luftfahrtgesetzes sowie der auf dessen Grundlage erlassenen Verordnungen anzuwenden (§ 24g Luftfahrtgesetz). Ein Drohnen-Kennzeichen bzw. eine Plakette – wie in der Bundesrepublik vorgeschrieben – ist in Österreich zwar nicht erforderlich, wird aber empfohlen, damit bei einem FlyAway oder einem Verlust der Drohne der Besitzer vom Finder leichter ausfindig gemacht werden kann. Die allgemeine Betriebsbewilligung für eine Drohne hat eine Gültigkeit von einem Jahr und muss erst danach wieder verlängert werden. Für die Beantragung einer solchen, die ca. 300 Euro kostet, ist ein Mindestalter von 16 Jahren erforderlich.12 Im deutschen Recht Der erste Teil der einschlägigen „Verordnung zur Regelung des Betriebs von unbemannten Fluggeräten“ vom 30. März 201713 ist am 7. April 2017, der zweite am 1. Oktober 2017 in Kraft getreten. Dabei ist in acht wesentlichen Bestimmungen Folgendes festgelegt: 1) Kennzeichnungspflicht: Drohnen, die schwerer als 250 Gramm sind müssen mit einer dauerhaften Plakette ausgestattet sein, auf der Name, Adresse und Telefonnummer des Halters vermerkt sind; 2) Kenntnisnachweis: Wiegt eine Drohne mehr als 2 kg, müssen folgende Dokumente: Drohnenführerschein und Bescheinigung über Einweisung durch einen Luftsportverein nachgewiesen werden; 3) Erlaubnisfreiheit: Das Steuern einer Drohne mit einem Gewicht von unter 5 kg bei Tageslicht ist erlaubnisfrei; 4) Erlaubnispflicht: Das Steuern einer Drohne über 5 kg und in der Nacht ist hingegen erlaubnispflichtig; 5) Chancen für Zukunftstechnologie: Gewerblich genutzte Drohnen unterhalb der 5 kg-Grenze benötigen keine Erlaubnis; 6) Betriebsverbot: Drohnen, leichter als 5 kg dürfen nicht außerhalb der Sichtweite des Piloten bedient werden; über sensiblen Orten darf nicht geflogen werden; Wohngrundstücke dürfen ebenfalls nicht überflogen werden und für Drohnen über 25 kg gilt ein generelles Flugverbot; 12 Für weitere Voraussetzungen siehe Drohnen-Gesetz in Österreich: Vorgaben/Bestimmungen; https://www.drohnen.de/18462/drohnen-gesetz-oesterreich/; Das Wichtigste im Überblick; https://www.oeamtc.at/thema/drohnen/das-wichtigste-im -ueberblick-19350983 (zuletzt abgefragt: 25. März 2018). 13 BGBl. 2017, Teil I, Nr. 17, vom 6. April 2017, S. 683 ff.

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7) Ausweichpflicht: Drohnen haben anderen Luftfahrzeugen auszuweichen, egal, ob es sich dabei um bemannte oder unbemannte (zB Freiballone) handelt; 8) Einsatz von Videobrillen: Drohnen unter 250 Gramm dürfen mit einer Videobrille gesteuert werden, dabei aber nicht höher als 30 m fliegen; bei schwereren Modellen müssen die Piloten eine weitere Person zuziehen, die das Flugmodell ständig beobachtet und den Piloten auf Gefahren aufmerksam macht; für diesen Fall gilt die Sichtweite der zweiten Person automatisch als Sichtweite des Piloten. Für Verstöße gegen diese Bestimmungen drohen Sanktionen in Form von Bußgeldern oder sogar strafrechtliche Maßnahmen.14 Das österreichische Unternehmen Schiebel als Weltmarktführer bei Drohnen Das Wiener Unternehmen Schiebel Elektronische Geräte GmbH wurde 1951 gegründet und produziert seit Beginn der 1990-Jahre Drohnen. Ursprünglich wollte man damit die Minensuche verbessern und von der Luft aus möglich machen, ohne damit ein Verletzungsrisiko bei den Mitarbeitern von Entminungsdiensten eingehen zu müssen. Das Paradestück der Produktpalette von Schiebel, der Camcopter@S-100, ist drei Meter lang, kann bis zu 200 km weit fliegen und bis zu 6 Stunden in der Luft bleiben. Ohne Zusatzausrüstung wiegt der Camcopter rund 200 kg. Produktionsstandort ist das Schiebel-Werk nahe Wiener Neustadt, in dem jährlich 40 bis 50 Stück davon produziert werden, wobei die Kapazität aber für bis zu 100 Camcopter pro Jahr ausgelegt ist. Der Camcopter ist seit über 12 Jahren am Markt und wurde bis Mai 2017 rund 300 Mal verkauft – ausschließlich in das Ausland. Abnehmer war dabei zu 80 Prozent der öffentliche Sektor, also Innen-, Verteidigungs- und Finanzministerien der jeweiligen Regierungen. Die Kosten für ein komplettes System mit zwei Camcopter, samt Hightech-Kameras und Bodenstation, liegen dabei im einstelligen Millionenbereich. 2006 gab es die ersten Großaufträge für den Camcopter, von dem allein 60 Stück in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) geliefert wurden, in denen Schiebel auch einen eigenen Produktionsstandort aufgebaut hat. Was die europäischen Einsatzgebiete des Camcopter betrifft, so wurden die Drohnen ua von der OSZE zur Überwachung des „Minsker-Abkommens“ vom 12. Februar 2015 im Donbass in der Ostukraine eingesetzt, wobei dieses Projekt allerdings nach rund zwei Jahren Dauer beendet werden musste, da die Drohnen dabei wiederholt mit Störsignalen attackiert und 14 https://www.drohnen.de/14181/neue-drohnen-verordnung-ab-januar-2017/; https:// www.mein-deal.com/drohnengesetz/; https://www.drohnen.de/vorschriften-ge nehigungen-fuer-die-nutzung-von-drohnen-un…; (zuletzt abgefragt: 25. März 2018).

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mehrere von ihnen auch abgeschossen wurden. Ab 2014 waren die SchiebelDrohnen aber auch im Mittelmeer im Einsatz, wo sie zur Unterstützung der INGO „Migrant Offshore Aid Station“ (MOAS) zur Rettung von „boat people“ auf den jeweiligen Flüchtlingsrouten eingesetzt wurden. MOAS verfügt mit der „Phoenix“ über ein 40 Meter langes Rettungsschiff, auf dem der Camcopter eingesetzt wird, der zB innerhalb von vier Stunden ein Gebiet in der Größe des Burgenlandes auf Schiffbrüchige hin absuchen kann. Erschließung „neuer Geschäftsfelder“ im zivilen und militärischen Bereich

Im zivilen Bereich Seit Jahren bemüht sich Schiebel bei der „Europäischen Agentur für Flugsicherheit“ (EASA) um eine entsprechende Zertifizierung für die Zulassung des Camcopters zum zivilen Flugverkehr, womit neue Geschäftsfelder erschlossen werden könnten. So sieht Hannes Hecher, der Geschäftsführer von Schiebel, vor allem in der Land- und Forstwirtschaft ein hohes Potential für den Einsatz von Drohnen, um damit den Zustand von Pflanzen und deren Bewässerung zu prüfen oder um Ernte- oder Unwetterschäden feststellen zu können. Als weitere Einsatzmöglichkeiten im zivilen Bereich nannte er etwa die Überwachung und Überprüfung von Hochspannungsleitungen, Pipelines und Bohrinseln, die Verkehrsüberwachung aus der Luft, aber auch Unterstützungseinsätze bei Umwelt- und Naturkatastrophen. Auch im Kampf gegen Piraterie oder zur Überwachung von Grenzen könnten die Drohnen sinnvoll eingesetzt werden.15

Drohnen als „dual use“-Güter Da Drohnen aber sogenannte „dual use“-Güter16 sind, die aufgrund ihrer hohen technischen Leistungsfähigkeit sowohl einer zivilen als auch militärischen Verwendung zugänglich sind, können sie auch im militärischen Bereich eingesetzt werden – und zwar mit oder ohne technische Umrüstung. So können Drohnen zB mit kleinen Bomben bzw. Raketen bestückt und dann für „gezielte Tötungen“ eingesetzt werden. Während aber der Einsatz 15 Wiener Drohnen-Hersteller sieht Zukunft im zivilen Luftverkehr, VIENNA.AT, vom 19. Mai 2017; http://www.vienna.at/wiener-drohnen-hersteller-sieht-zukunftim-zivilen-luftverkehr/… (zuletzt abgefragt: 25. März 2018). 16 Siehe dazu Verordnung (EG) 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (Neufassung) (ABl. 2009, L 134, S. 1 ff.), idF Verordnung (EU) Nr. 599/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 (ABl. 2014, L 173, S. 79 ff.); letzte Neufassung: Verordnung (EU) 2021/821 des EP und des Rates vom 20. Mai 2021 (ABl. 2021, L 206, S. 1 ff.).

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von Kampfdrohnen durch einen legitimen Kombattanten in einer kriegerischen Auseinandersetzung, grundsätzlich als zulässig angesehen wird – soweit dadurch, dem humanitären Völkerrecht entsprechend, keine „Kollateralschäden“ an unbeteiligten Zivilisten herbeigeführt werden – ist dieser im Kampf gegen Terroristen an sich unzulässig. Der Kampf gegen den Terror richtet sich in der Regel – von Formen des „Staatsterrorismus“ abgesehen – stets gegen terroristische Handlungen von Privaten, stellt daher keinen zwischenstaatlichen „Krieg“ iSd Völkerrechts dar, und legalisiert daher auch nicht den Einsatz von Kampfdrohnen für „targeted killings“.17 Interessanterweise wurde in diesem Zusammenhang die Vorgangsweise Frankreichs im Gefolge der Terroranschläge in Paris durch Mitglieder des Islamischen Staates (IS) am 13. November 2015, die mehr als 130 Todesopfer forderten, nicht gerügt, obwohl Frankreich als Reaktion auf diese Anschläge nicht die dafür „maßgeschneiderte“ „Solidaritätsklausel“ des Art.  222 AEUV, sondern – ganz bewusst – die militärische „Beistandsklausel“ des Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV anrief.18 Trotz seiner selbstgewählten Bezeichnung als „Islamischer Staat“ erfüllt der IS aber keinesfalls die Kriterien souveräner Staatlichkeit, sodass die Attentäter von Paris, als Anhänger des IS, lediglich als bloße (private) Terroristen zu qualifizieren waren, die keinesfalls einen „bewaffneten Angriff auf das Hoheitsgebiet“ Frankreichs iSv Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 EUV geführt haben konnten, der allein die Anrufung der militärischen „Beistandsklausel“ durch Frankreichs gerechtfertigt hätte. Da Frankreich sich aber unter dem Regime der „Beistandsklausel“ eine größere Autonomie in der Bekämpfung des IS sowie anderer Terrorgruppierungen anmaßte, als dies unter der „Solidaritätsklausel“ möglich gewesen wäre, setzte es – bewusst systemwidrig – die „Solidaritätsklausel“ des Art. 222 AEUV nicht ein.

Im militärischen Bereich Der Export von Drohnen, als „dual use“-Güter, wird in Österreich grundsätzlich auf der Basis des Außenwirtschafts-Gesetzes (2011)19 geregelt, außer deren militärische Eignung bedingt eine besondere Genehmigungspflicht iSd Kriegsmaterial-Gesetzes (2012).20 Bis 2010 wurden in Österreich durch die Firma Schiebel lediglich zivil eingesetzte Drohnen produziert, Ende September 2010 meldete das Unternehmen aber beim BM für Wirtschaft, 17 Vgl. Hummer, W. Drohnen als Mittel moderner Kriegsführung. Was haben Kampfdrohnen mit der immerwährenden Neutralität Österreichs zu tun?, SN vom 22. September 2014, S. 18. 18 Vgl. dazu Hummer, W. Terrorismusbekämpfung mit unerlaubten Mitteln?, ÖGfE Policy Brief 41/2015, S. 1 f. 19 § 15 Außenwirtschaftsgesetz 2011 (BGBl. I Nr. 26/2011 idF BGBl. I Nr. 153/2015) 20 Kriegsmaterialgesetz 1977 (BGBl. Nr. 540/1977) idgF iVm der Kriegsmaterial-Verordnung 1977 (BGBl. Nr. 624/1977) idgF.

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Familie und Jugend die Gründung der Schiebel Aircraft GmbH an, um über dieses Unternehmen in das reglementierte Gewerbe des Waffenhandels, vor allem mit Kampfdrohnen, einzusteigen. Mit Bescheid vom 16. Februar 2011 untersagte der Bundesminister die Gewerbeausübung mit dem Hinweis darauf, dass im Firmenbuch Herr H., ein britischer Staatsbürger, als handelsrechtlicher Geschäftsführer eingetragen sei, der damit das in der Gewerbeordnung (GO) für die Ausübung des Waffengewerbes notwendige Kriterium der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht erfülle. Damit seien aber wesentliche Sicherheitsinteressen Österreichs, wie zB die unbedingte Loyalität zur Republik, iSd Ausnahmebestimmung des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV, berührt, gemäß derer jeder Mitgliedstaat – in Abweichung von allen sonstigen unionsrechtlichen Bestimmungen – diejenigen Maßnahmen ergreifen kann, „die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen“. Die wesentlichen Sicherheitsinteressen Österreichs würden eben auch entscheidend durch seine dauernde Neutralität bestimmt. In ihrer Bescheidbeschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof (VwGH) machte Schiebel Aircraft GmbH diesbezüglich geltend, dass dieses „Staatsangehörigkeitserfordernis“ eine unmittelbar diskriminierende Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) bzw. der Niederlassungsfreiheit (Art.  49 AEUV) darstelle, die keinesfalls über Art.  346 AEUV gerechtfertigt werden könne. In der Folge legte der VwGH dem EuGH gem. Art.  267 AEUV diese Frage zur Vorabentscheidung vor, die dieser Anfang September 201421 wie folgt entschied. Zunächst führte der EuGH aus, dass zum einen die allgemeine „Fluchtklausel“ des Art. 346 AEUV als Ausnahmebestimmung eng auszulegen sei, und zum anderen der genaue Beweis geführt werden müsse, dass eine Berufung auf diese Bestimmung sicherheitspolitisch „erforderlich“ sei. Auch sei dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Diese beiden Kriterien seien aber im Falle des „Staatsbürgerschaftserfordernisses“ für den Geschäftsführer von Schiebel Aircraft GmbH offensichtlich nicht gegeben, wobei aber die konkrete Prüfung dieser Frage letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, dh des VwGH, sei. Schlussbetrachtungen Lässt man die unionsrechtlichen sowie die mitgliedstaatlichen Regelungen – exemplifiziert an den österreichischen und deutschen rechtlichen Vorgaben – für die Klassifikation und den Betrieb von unbemannten Luftfahrzeugen Revue passieren, erkennt man, dass damit lediglich ein erster Schritt getan 21 EuGH, Rs. C-474/12, Urteil vom 4. September 2014 (ECLI:EU:C:2014:2139).

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wurde. Es müssen nämlich nicht nur die einzelnen mitgliedstaatlichen Bestimmungen vereinheitlicht, sondern es muss ganz allgemein versucht werden, den unglaublich rasch wachsenden „Drohnen-Markt“ in all seinen Dimensionen – dh iSe einer wirtschaftlichen, militärischen, wissenschaftlichen Nutzung uam – juristisch „in den Griff zu bekommen“. Wenngleich gegenwärtig flugsicherheitspolitische Aspekte iSd Abwehr der Gefährdung des zivilen Flugverkehrs durch Drohnen im Vordergrund stehen, dürfen die neuen Einsatzmöglichkeiten von Drohnen im zivilen und militärischen Bereich nicht unterschätzt werden, die einen erheblichen Regelungsaufwand erfordern. Auf der europarechtlichen Ebene ist mit der Überarbeitung der aktuellen Rechtsgrundlage der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 der erste Schritt bereits getan. Quelle: EU-Infothek vom 10. April 2018, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 1)

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Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“

2. Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“ und warum wird es von der österreichischen Bundesregierung bekämpft? Die „Übererfüllung“ von Richtlinien-Vorgaben als komplexes Problem Unter „Gold-Plating“ („Vergolden“) ist die (vermeintlich) „überschießende“ Umsetzung von Richtlinien in der EU durch die Mitgliedstaaten iSe Überregulierung zu verstehen, die zulasten der nationalen Rechtsordnung bzw. auch Volkswirtschaft geht. Im Rahmen von Arbeiten am Projekt einer „Besseren Rechtssetzung“1 sowie dem Bürokratieabbauprogramm „REFIT“,2 die von der Kommission initiiert wurden, wird das „Gold-Plating“ einzelner EU-Mitgliedstaaten an sich bereits seit vielen Jahren thematisiert – in Österreich zB seit rund zwanzig Jahren. Obwohl sich damit in Österreich schon frühere Bundesregierungen auseinandergesetzt haben, war es der aktuellen ÖVP/FPÖ-Koalitionsregierung vorbehalten, diesen Begriff gleichsam „salonfähig“ zu machen und ihn im Zuge der angestrebten Bereinigung der österreichischen Rechtsordnung von überholtem Rechtsgut entsprechend zu instrumentalisieren. Dabei wurde aber rein pragmatisch vorgegangen, ohne die damit verbundenen komplexen rechtsdogmatischen Probleme im Zuge einer ordnungsgemäßen Richtlinien-Umsetzung anzuführen. Dies soll daher anschließend in aller Kürze nachgetragen werden, bevor auf die einzelnen Spielarten des „Gold-Plating“ eingegangen werden kann. Zuvor soll aber der (undifferenzierten) Kritik am „Gold-Plating“ Raum gegeben werden. Negative Einschätzung von „Gold-Plating“ Zum einen wird in der Kritik am „Gold-Plating“ davon ausgegangen, dass in Österreich EU-rechtlich vorgegebene Standards zum Schaden der Wirtschaft „übererfüllt“ werden, obwohl die einschlägigen Richtlinien durchaus niedrigere Standards vorsehen. Es soll dabei um den Abbau „überbordender Bürokratie“ und die Entlastung der Verwaltung gehen, allesamt Forderungen, deren Erfüllung durchaus positiv gesehen werden kann.3 1 Vgl. Mitteilung der Kommission „EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung“ (ABl. 2017, C 18, S. 10 ff. 2 Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtssetzung (REFIT), COM(2012) 746 final, vom 12. Dezember 2012; vgl. dazu den Abschlussbericht der Hochrangigen Gruppe im Bereich Verwaltungslasten „Bürokratieabbau in Europa. Resümee und Ausblick“, Brüssel 24. Juli 2014; aus sämtlichen Empfehlungen der Hochrangigen Gruppe ergibt sich in Summe ein Abbaupotential in Bezug auf die Verwaltungslasten von schätzungsweise 41 Mrd. Euro pro Jahr (S. 5). 3 Vgl. dazu die vom Komitee für Budgetkontrolle des Europäischen Parlaments in Auftrag gegebene Studie von Bocci, M. – De Vet, J. M. – Pauer, A. „Gold Plating“ in

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Im Gegensatz dazu wird aber auch darauf hingewiesen, dass beim Mantra gegen „Gold-Plating“ vor allem im sozialen Bereich Bestimmungen in Frage gestellt werden, die essentielle Teile des österreichischen Sozialstaates darstellen, wie zB Mindestsicherung, Arbeitszeit, funktionsfähige Sozialversicherungssysteme, Sozialpartnerschaft, Verbraucherschutz uam: „GoldPlating ist ein falsches Etikett, das – weil es so modern glänzt – nur das alte Etikett vom Sozialabbau und der einseitigen Entlastung der Wirtschaft überdecken soll“.4 Nach dieser Ansicht geht es bei „Gold-Plating“ also nicht um den Abbau einer überbordenden Bürokratie oder um besonderen Luxus, sondern vielmehr um selbstverständliche, teilweise seit Jahrzehnten bestehende fortschrittliche Standards, die nun unter dem Vorwand des „Gold-Plating“ infrage gestellt werden sollen.5 Ganz in diesem Sinne wird auch festgestellt, „dass Wirtschaftsvertreter gern die überschießende Umsetzung von EURichtlinien anprangern. In Wahrheit geht es ihnen aber um die Abschaffung von Standards, die mit „Gold Plating“ nichts zu tun haben“.6 Diejenigen Mitgliedstaaten der EU, die selbst niedrige Schutzniveaus – beispielsweise im Beschäftigungs- oder Umweltbereich – haben, kämpfen im Vorfeld von Verhandlungen zur Ausarbeitung einschlägiger Richtlinien naturgemäß dafür, dass die Minimalstandards in diesen möglichst tief angesetzt werden. Im Gegensatz dazu haben eine Reihe anderer Mitgliedstaaten wesentlich modernere Regelungen mit weit besseren Standards für Arbeitnehmer, Konsumenten oder die Umwelt. Diese fortschrittlichen Regelungen als „Gold Plating“ zu bezeichnen, ist aber irreführend. Es geht dabei um keine überbordende Bürokratie, sondern um selbstverständliche, uU bereits seit Jahrzehnten bestehende Standards, die nun unter dem Vorwand des „Gold-Plating“ abgesenkt werden sollen – iSe „race to the bottom“.7 Arbeiterkammerpräsident Rudi Kaske formuliert das drastisch: „Das bedeutet, dass wir uns an den Schlechtesten orientieren und nicht mehr an den Besten“.8 So sieht der Klubobmann der Liste Pilz, Peter Kolba, einen ersten Anlassfall für „Gold-Plating“ zum Nachteil von Verbraucherschutz darin, dass die Kommissarin für Justiz und Verbraucherschutz, Věra Jurová, am 9. April

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the EAFRD. To what extent do national rules unnecessarily add to complexity and, as a result, increase the risk of errors? (2014). Leodolter, S. Etikettenschwindel, Wirtschaft&Umwelt, Nummer 1/2018, S. 3. Ey, F. Gold Plating als Gefahr für Schutzstandards, Wirtschaft&Umwelt, Nummer 1/2018, S. 11. Streissler, C. Scheingefechte um „Gold Plating“, Wirtschaft&Umwelt, Nummer 1/2018, S. 14. Ey, F. Gold Plating: ein gefährliches Spiel um gesellschaftspolitische Standards, Arbeit&Wirtschaft, vom 8. Februar 2018. Gold Plating – welche Verschlechterungen auf Beschäftigte zukommen könnten, AK Wien.

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2018 höhere Geldstrafen bei Verstößen gegen das Verbraucherrecht ankündigte, die bis zum Vierfachen des Jahresumsatzes eines Unternehmens gehen können. Allerdings könnten die Mitgliedstaaten auch höhere Strafen vorsehen. Kolba vermutet nun, dass das Verbot von „Gold-Plating“ in Österreich diesbezüglich zu einer bloß minimalen Umsetzung mit geringeren Strafen führen würde, womit man sich die Möglichkeit entgehen lassen würde, „bei schweren Verstößen durch höhere Strafen den Unrechtsgewinn des Unternehmers abzuschöpfen“.9 Um diese komplexen Zusammenhänge wenigstens einigermaßen durchschauen und nachvollziehen zu können, soll zunächst ein Blick auf das In­ strument der Richtlinie geworfen werden, das komplex ausgestaltet ist und vor allem im nationalen Rechtsquellenkatalog kein Pendant hat, an dem man sich dabei orientieren könnte. Die Umsetzung von Richtlinien Die EU zerfällt regelungstechnisch in zwei große Bereiche, den (harten) Integrationsbereich und den (weichen) Koordinationsbereich. Sie bedient sich zu deren Reglementierung zweier ganz unterschiedlicher Rechtssatzformen, nämlich zum einen der Verordnung und zum anderen der Richtlinie. Man erkennt daher schon an der Wahl der Rechtsform des Sekundärrechts, in welchem Bereich man sich befindet: durch eine Verordnung wird inte­ griert, durch eine Richtlinie aber lediglich koordiniert bzw. harmonisiert. In letzterem Fall ist dabei stets zu beachten, ob das Unionsrecht nur eine Mindestharmonisierung (wie zB im Umweltrecht) oder aber eine Vollharmonisierung (wie zB häufig im Wirtschaftsrecht) – anordnet. Dementsprechend hat eine Verordnung allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.10 Eine Verordnung darf nur dann mitgliedstaatlich umgesetzt werden, wenn sie diese Vorgangsweise ausdrücklich selbst anordnet und den mitgliedstaatlichen Normsetzer expressis verbis dazu ermächtigt.11 Im Gegensatz dazu ist eine Richtlinie mitgliedstaatlich umzusetzen und dabei für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, (nur) hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.12 Während die Form der mitgliedstaatlichen Umsetzung einer Richtlinie relativ genau determiniert ist – sie muss in Form eines (Verfassungs-)Gesetzes bzw. einer Rechts-Verordnung, nicht aber in der einer Verwaltungs-Verordnung erfolgen – ist die Wahl der 9 Kolba: Erster Anlassfall für „Gold-Plating“ zum Nachteil von Verbraucherschutz?, Börse-Express vom 9. April 2018; vgl. dazu auch nachstehend auf S. 73 f. 10 Art. 288 Abs. 2 AEUV. 11 Vgl. dazu zB die Umsetzung der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) (2016) durch österreichische Bundesgesetze in den Fn. 23 und 24. 12 Art. 288 Abs. 3 AEUV.

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Mittel bei dieser Formulierung an sich interpretationsoffen und hängt von der Intensität der europarechtlichen Zielvorgabe zur Koordinierung bzw. Harmonisierung ab. Diese kann nämlich zum einen durch eine bloß generelle Bestimmung dem nationalen Gesetzgeber einen großen inhaltlichen Gestaltungsspielraum lassen, oder zum anderen durch eine hohe Regelungsdichte diesen Spielraum entsprechend einschränken, wie zB bei der Festlegung von Grenzwerten oder partiellen Vollregelungen. In diesen Fällen beschränkt sich die „Wahl der Mittel“ vor allem auf die Wahl der Art des nationalen Umsetzungsaktes, wobei sich die Mitgliedstaaten aber nicht auf Bestimmungen des nationalen (Verfassungs-)Rechts berufen können, um eine Nichteinhaltung der Umsetzungspflicht zu rechtfertigen. Darin kommt einmal mehr der Vorrang des Unionsrechts selbst vor nationalem Verfassungsrecht zum Ausdruck. Sollte die Zielvorgabe einer Richtlinie aber einen großen inhaltlichen Gestaltungsspielraum für den nationalen Rechtsetzer eröffnen, dann stellt sich die weitere grundsätzliche Frage, wie dieser korrekt ausgestaltet werden muss. Darf ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung des Richtlinienziels (a) das gelindeste, gerade noch zur Zielerreichung der Richtlinie führende Mittel einsetzen, oder hat er (b) die Richtlinie so effektiv als möglich umzusetzen? Als dritte Alternative bietet sich in diesem Zusammenhang, neben diesen beiden Extremen der minimalsten und der maximalsten Umsetzung einer Richtlinie, noch die „mittlere“ Variante an, dass nämlich der Mitgliedstaat (c) irgendein Mittel seiner Wahl einsetzen kann, das nur (irgendwie) zur Erreichung des vorgegebenen Richtlinien-Ziels geeignet sein muss. Zu dieser komplexen Fragestellung hat sich eine reiche Kasuistik herausgebildet, die auch Anlass für die meisten Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof gem. Art. 258 AEUV gegeben hat bzw. immer noch gibt. Dabei sind vor allem das (1) „Verschlechterungsverbot“, der (2) „effet utile“-Grundsatz und die (3) „Sperrwirkung“ zu berücksichtigen.13 Ad (1) Als Vorwirkung der Umsetzungspflicht besteht ab Inkrafttreten der Richtlinie ein Verschlechterungsverbot, aufgrund dessen die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen dürfen, die „geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage stellen“.14

13 Vgl. Vedder, C. Art. 288 Rdnr. 30 ff., in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht. Handkommentar, 2. Aufl. (2018), S. 1140 f. 14 EuGH, Rs. C-144/04, Mangold/Helm, Slg 2005, I-9981 Rdnr. 67 (ECLI:EU:C:2005:705).

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Ad (2) Gemäß dem judikativ vom EuGH entwickelten „effet utile“Grundsatz wiederum sind die Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung „verpflichtet, (…) die Formen und Mittel zu wählen, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) der Richtlinien unter Berücksichtigung des mit ihnen verfolgten Zwecks am besten eignen“.15 Dieser Grundsatz gilt, neben den rechtstechnischen Formen der Umsetzung, vor allem für die Wahl der Mittel, setzt aber nicht voraus, dass bei der Richtlinienumsetzung stets das effektivste Mittel zur Zielerreichung eingesetzt werden muss, da eine solche Vorgabe ja die zu berücksichtigende Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten auf Null reduzieren würde. Ad (3) Eine einmal ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzte Richtlinie entfaltet dahingehend eine „Sperrwirkung“, dass danach keine weitere nationale Rechtsetzung ergehen darf, die mit dem Inhalt der Richtlinie nicht vereinbar wäre. Ebenso ist die nationale Rechtsordnung richtlinienkonform zu interpretieren. Da der Sinn einer Richtlinie ja in der Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen besteht, stellt sich in diesem Zusammenhang aber die weitere interessante Frage, ob es einem Mitgliedstaat erlaubt ist, eine von ihm einmal durchaus rechtskonform getroffene Umsetzung einer Richtlinie, nachträglich noch zu „verbessern“ – da sich zB die innenpolitischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse dergestalt verändert haben, dass die Richtlinie nunmehr effektiver umgesetzt werden kann und soll – oder ob die Sperrwirkung derselben (auch) diese, an sich „positiv“ gemeinte, Vorgangsweise verbietet. Auf der einen Seite müsste dem Unionsrecht doch an sich daran gelegen sein, effektiver als bisher umgesetzt zu werden, auf der anderen Seite beeinträchtigt die „nachgebesserte“ nationale Regelung aber den bisher erreichten Harmonisierungsgrad in der Richtlinienumsetzung, auch in Bezug auf das Umsetzungsniveau in den anderen Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten haben der Kommission die von Ihnen zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie ergriffenen Maßnahmen – die Informationen darüber müssen „klar und genau“ sein – eindeutig anzugeben,16 bzw. in begründeten Fällen, zusätzlich zu dieser Mitteilung, ein oder mehrere Dokumente zu übermitteln, in denen der Zusammenhang zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen einzelstaatlicher Umsetzungsmaßnahmen näher erläutert wird. Um die Qualität der Informationen über die Umsetzung von Unionsrichtlinien zu verbessern, muss die Kommission, wenn sie der Auffassung ist, dass Dokumente zur Erläuterung des Zusammenhangs zwischen den Bestandteilen einer Richtlinie und den entsprechenden Teilen einzelstaatlicher Umsetzungsinstrumente erforderlich sind, im Einzelfall bei der Vorla15 EuGH, Rs. 48/75, Royer, Slg 1976, S. 479 Rdnr. 69 und 73 (ECLI:EU:C:1976:57). 16 EuGH, Rs. C-427/07, Kommission/Irland, Urteil vom 16. Juli 2009, Rdnr. 107 (ECLI:EU:C:2009:457).

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ge der entsprechenden Vorschläge die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit der Übermittlung derartiger Dokumente begründen, wobei sie insbesondere die Komplexität der Richtlinie bzw. ihrer Umsetzung sowie den etwaigen zusätzlichen Verwaltungsaufwand zu berücksichtigen hat.17 Im Rahmen der gemeinsamen Bemühungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, die Qualität der Rechtsetzung zu verbessern,18 werden die Mitgliedstaaten ua auch dazu aufgefordert, bei der Umsetzung von Richtlinien offenzulegen, ob einem nationalen Umsetzungsrechtsakt Aspekte hinzugefügt wurden, die nicht in Zusammenhang mit den umzusetzenden EU-Vorschriften stehen (Kenntlichmachung des „Gold-Plating“).19 Was bedeutet eigentlich „Gold-Plating“ in concreto? Vier idealtypische Szenarien Die Kritik am „Gold-Plating“ wird von ihren Befürwortern so undifferenziert eingesetzt, dass damit an sich eine Reihe von Fallkonstellationen gemeint sein könnten, die in der Regel aber nicht konkret angesprochen und erklärt werden. Legt man für deren Systematisierung aber die vorstehende Differenzierung der drei denkmöglichen Umsetzungsvarianten von Richtlinien zugrunde, dann können mit einer „Übererfüllung“ iSv „Gold-Plating“ folgende vier idealtypische Szenarien ausfindig gemacht werden: (a) Zum einen kann es in einem Mitgliedstaat zu einer „überschießenden“ Umsetzung des Richtlinienziels kommen, indem eine maximale Umsetzung desselben angestrebt wird. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen könnte sich zB ein Mitgliedstaat iSe „vorauseilenden Gehorsams“ der Kommission gegenüber besonders profilieren wollen, zum anderen aber auch aus innen- oder wirtschaftspolitischen Gründen an einer maximalen Richtlinienumsetzung besonderes Interesse haben. Des weiteren könnte der Grund der „Übererfüllung“ aber auch darin liegen, dabei strengere Maßstäbe anzulegen, als bei einem Kompromiss aller anderen Mitgliedstaaten zu erwarten ist, womit sich der betreffende Mitgliedstaat bei dem Richtlinienziel einer Verbotsnorm bzw. restriktiven Regelung einen Vorteil gegenüber 17 Vgl. die Gemeinsame Politische Erklärung vom 28. September 2011 der Mitgliedstaaten und der Kommission zu Erläuternden Dokumenten (ABl. 2011, C 396, S. 14); siehe auch die Gemeinsame Politische Erklärung vom 27. Oktober 2011 des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission zu Erläuternden Dokumenten (ABl. 2011, C 396, S. 15); vgl. dazu das Rundschreiben des BKA, betreffend die Übermittlung von Erläuternden Dokumenten oder Tabellen im Zusammenhang mit nationalen Maßnahmen zur Umsetzung von EU-Richtlinien, vom 19. Juni 2012. 18 Vgl. die Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission vom 13. April 2016 über bessere Rechtsetzung (ABl. 2016, L 123, S. 1 ff.). 19 Vgl. BKA, Rundschreiben betreffend die Mitteilung der Kommission „EU-Recht: Bessere Ergebnisse durch bessere Anwendung“, vom 24. Jänner 2017, S. 2.

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den anderen Mitgliedstaaten verschaffen könnte. Konkret werden in diesem Zusammenhang die Bereiche des Umweltschutzes und des Arbeitsrechts erwähnt.20 Wenn Richtlinien aber Mindesterfordernisse festlegen, könnten nationale Bestimmungen ganz allgemein ein höheres Schutzniveau vorschreiben und damit einen „Gold-Plating“-Effekt verursachen. (b) Zum anderen können einem nationalen Umsetzungsakt einer Richtlinie Aspekte hinzugefügt werden, die nicht unmittelbar oder mittelbar in Zusammenhang mit dem umzusetzenden Richtlinienziel stehen. Hier wird also nicht die maximalste Umsetzung des Ziels einer Richtlinie, sondern vielmehr deren inhaltliche Ausweitung angestrebt. (c) Es kann aber auch durch die bewusst restriktive Auslegung von Richtlinien zu einem „Gold-Plating“-Effekt kommen. So hat die Sorge, dass das „Gold-Plating“ – iSe restriktiven nationalen Auslegung von EU-Richtlinien – ein weiteres Gefahrenpotential für die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs darstellen könnte, diesbezüglich bereits Anlass für einen Parlamentarischen Entschließungsantrag gegeben, der am 27. Jänner 2016 von den Abg. Niko Alm, Kolleginnen und Kollegen im Österreichischen Nationalrat mit folgendem Wortlaut eingebracht wurde: „Der Nationalrat wolle beschließen: Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der Umsetzung von EURichtlinien darauf zu achten, dass in Zukunft kein Gold-Plating zur Anwendung kommt“.21 Eine solche (vermeintliche) „Mindererfüllung“ unionsrechtlicher Vorgaben wurde ua im Fall der österreichischen Umsetzung der am 25. Mai 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) (2016)22 durch das Datenschutzgesetz23 bzw. das Datenschutz-Deregulierungs-Gesetz (2018)24 gesehen, gemäß derer die Datenschutzregeln nur für private Unternehmen gelten, während öffentliche und privatrechtlich agierende Stellen mit gesetzlichem Auftrag von Geldbußen gänzlich ausgenommen sind. Auch wird bei Ersttätern auf die Maxime „Verwarnen statt strafen“ gesetzt. Diese, von Datenschützern heftig kritisierten (Minder)Regelungen sind aber formal durch eine sog. „Öffnungsklausel“ gedeckt, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, bestimmte Ausnahmen festzusetzen.25 (d) Zuletzt kann die „Übererfüllung“ aber auch in einer bewussten bzw. unbewussten regelungstechnischen „Verkomplizierung“ bestehen, die die Umsetzung eines Richtlinienziels besonders beschwerlich macht bzw. die 20 Formaler Kahlschlag, Wiener Zeitung vom 28./29. April 2018, S. 12. 21 1509/A(E) XXV. GP, vom 27. 01. 2016. 22 ABl. 2016, L 119, S. 1 ff. 23 BGBl. I 23/2018. 24 BGBl. I 24/2018. 25 Vgl. Gabriel, A. Datenschutz: Behörden ausgenommen, Die Presse vom 27. April 2018, S. 5; Böhm, W. So wird Datenschutz zur Farce, Die Presse vom 27. April 2018, S. 5; Tempfer, P. Die österreichische Lösung beim Datenschutz, Wiener Zeitung vom 25. Mai 2018, S. 12.

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Heranziehung mehr oder weniger geeigneter Mittel erfordert, wie dies zB bei der Allergen-Verordnung26 oder der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Lebensmittelhygiene passiert ist.27 In diesem Fall kommt es zu keiner überschießenden oder erweiternden Umsetzung einer Richtlinie, sondern lediglich zu einer intern schwerer zu administrierenden Regelung, die einen übergroßen legistischen bzw administrativen Aufwand verursacht. Das „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung Es ist weitgehend unbekannt, dass man sich auch in Österreich bereits seit Jahren Gedanken über eine eventuelle „Übererfüllung“ der in Richtlinien enthaltenen Standards gemacht hat. Während aber die „Legistischen Richtlinien“ 1979 und 199028 noch auf eine ordnungsgemäße Umsetzung von Richtlinien in die österreichische Rechtsordnung abstellten, ohne das Phänomen des „Gold-Plating“ expressis verbis zu erwähnen, wird im Beschluss der Landeshauptmännerkonferenz vom 14. April 1999 bereits darauf hingewiesen, dass Mehrbelastungen der Länder durch sachlich nicht gerechtfertigte Umsetzungsmaßnahmen, die über die Mindesterfordernisse von EURichtlinien hinausgehen, abgelehnt werden. In weiterer Folge enthält dann das Regierungsprogramm 2001 zum einen die Feststellung, „dass bei der Umsetzung von EU-Richtlinien Normen, die über die Umsetzung hinausgehen, besonders dargestellt werden sollen“29 und postuliert ferner erstmals ein Verbot des „Gold-Plating“ iSd Schaffung strengerer Regelungen bei der Umsetzung einer EG-Richtlinie als von dieser selbst gefordert wird30. Sollte aber eine einschlägige legistische Umsetzung über das zur Erfüllung der Verpflichtung notwendige Maß hinausgehen, so soll bereits im Vorblatt derselben eine Aussage über deren finanzielle Auswirkungen auf die Gebietskörperschaften sowie auf die Beschäftigung und den Wirtschaftsstandort Österreichs getroffen werden.31 Konkret spricht dann § 1 des Deregulierungsgesetzes (2001) das „GoldPlating“-Problem folgendermaßen an: „Insbesondere ist bei der Vorbereitung der Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft darauf zu achten, dass die vorgegebenen Standards nicht ohne Grund überer26 Vgl. Rosner, S. Gold-Plating. Über vergoldete Regeln, Wiener Zeitung Online vom 10. Jänner 2018; https://www.wienerzeitung.at/_em_cms/globals/print.php?em_ ssc=LCwsLA==&em_... 27 Formaler Kahlschlag (Fn. 20), op. cit. 28 http://www.austria.gv.at/regierung/VD/legistik.htm; vgl. dazu vor allem die „Ergänzungen zu den Legistischen Richtlinien 1990 (EU-Addendum), in: BKA (Hrsg.), Handbuch der Rechtssetzungstechnik, Addendum zu Teil 1 (o. J.), S. 10 ff. 29 Regierungsprogramm (2001), Kap. „Leistungsfähiger Staat“ (Abschnitt 8). 30 Regierungsprogramm (2001), Kap. „Stärkung des Wirtschaftsstandorts Österreich“ (Abschnitt 6.2.). 31 BKA, Rundschreiben, betreffend das Verhältnis zu Rechtsvorschriften der Europäischen Union (GZ 600.824/011-V/2/01) vom 6. März 2001, S. 2.

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füllt werden“ (Abs. 1).32 Darüber hinaus haben alle mit der Bundesgesetzgebung betrauten Organe „darauf Bedacht zu nehmen, die wesentlichen Auswirkungen von Gesetzen in finanzieller, wirtschafts-, umwelt- und konsumentenschutzpolitischer sowie sozialer Hinsicht abzuschätzen. Ebenso ist zu prüfen, ob der Vollzug der in Aussicht genommenen Regelung keinen übermäßigen Aufwand in der Verwaltung nach sich zieht“ (Abs. 2).33 Ebenso bestimmt § 1 Abs.  4 des Deregulierungsgrundsätzegesetzes (2017), mit dem das Deregulierungsgesetz (2001) aufgehoben wird (§ 4), „dass bei der Vorbereitung der Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Union darauf zu achten ist, dass die vorgegebenen Standards nicht ohne Grund übererfüllt werden“. Ganz allgemein ist in diesem Zusammenhang sicherzustellen, dass der aus der Erlassung von Bundesgesetzen resultierende bürokratische Aufwand sowie die finanziellen Auswirkungen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen gerechtfertigt und adäquat sind. Zur Vermeidung weiterer Belastungen wird jede Neuregelung, aus der zusätzlicher bürokratischer Aufwand oder zusätzliche finanzielle Auswirkungen erwachsen, nach Tunlichkeit durch Außerkraftsetzung einer vergleichbar intensiven Regulierung kompensiert (Abs. 2). Neben der Einführung einer solchen „One in, one out“-Regelung ist aber auch eine „Sunset Clause“ und ein weiterer Ausbau der Regelungen zur Vermeidung des „Gold-Plating“ vorgesehen. So soll die Verhinderung eines „Gold-Plating“, im Gegensatz zum bisherigen Deregulierungsgesetz (2001), nicht nur bei der Umsetzung von Richtlinien, sondern generell bei der Umsetzung von Unionsrecht an sich, also etwa auch bei der Erlassung von Begleitregelungen zu Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates34 sowie des Rates, zur Anwendung kommen. Ganz allgemein soll es bei der Umsetzung sekundärrechtlicher Bestimmungen der EU einfach zu solchen Reglementierungen kommen, die „notwendig oder zeitgemäß“ sind. Das Deregulierungsgrundsätzegesetz (2017) wurde anlässlich seiner Verabschiedung im Nationalrat aber nicht nur gelobt, sondern zugleich auch heftig kritisiert.35 „Gold-Plating“ im Regierungsprogramm der österreichischen ­Bundesregierung Politisch bewusst in Dienst genommen wird das „Gold-Plating“ aber erst im Regierungsprogramm der aktuellen schwarz/blauen Bundesregierung36, 32 BGBl. I Nr. 45/2017; vgl. Justizminister Mosers Gesetzespläne nur „Ästhetik“, derstandard.at, vom 8. Jänner 2018. 33 BGBl. I Nr. 151/2001. 34 Vgl. dazu bereits vorstehend auf S. 72. 35 Deregulierungsgrundsätzegesetz sorgt für viel Kritik im Nationalrat, APA-OTS vom 29. März 2017. 36 Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022.

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in dem es an insgesamt neun Stellen mit folgenden Formulierungen angesprochen wird, die aus Gründen der Anschaulichkeit nachstehend wörtlich wiedergegeben werden sollen: „Kein Gold-Plating bei der Umsetzung von EU-Recht“ (S. 23), „(…) durch die Vermeidung von Gold-Plating kann das Steuerrecht wesentlich entlastet (…) werden“ (S. 125), „(…) Gold-Plating von EU-Bestimmungen und Überregulierungen der heimischen Wirtschaft verursachen erhebliche Kosten“ (S. 132), „Rücknahme von Gold-Plating zu Lasten von Unternehmen“ (S. 133), „Rücknahme von Gold-Plating im Zuge der Reform des Kapitalmarktes“ (S. 140), „Rücknahme von Gold-Plating im Zuge der Reform des Banken- und Versicherungsrechts“ (S. 140), „Kein Gold-Plating bei EU-Richtlinien“ (S. 146), „bestehendes Gold-Plating gegenüber zwingenden EU-Vorgaben (ist) zu beseitigen“ (S. 156) und „kein Gold-Plating im Agrar- und Verwaltungsbereich“ (S. 159). An keiner einzigen Stelle im Regierungsprogramm wird dieser hochtechnische Kunstbegriff aber näher erklärt bzw. auf seine vorstehend aufgezeigten möglichen Spielarten hingewiesen. Lediglich in einem Schreiben des zuständigen Bundesministers Josef Moser, das nachstehend auch zitiert wird, wird versucht, „Gold-Plating“ anhand einiger Beispiele näher zu erklären. Gemäß den Vorstellungen des Regierungsprogramms sollen also die als „Gold Plating“ erkannten Bestimmungen im Arbeitsrecht und im Umweltbereich, aber auch im Kapitalmarktrecht, im Banken- und Versicherungsrecht, im Steuerrecht, im Landwirtschaftsrecht sowie im Verwaltungsbereich eliminiert werden. So sieht zB die Arbeitszeit-Richtlinie37 eine Wochenarbeitszeit von bis zu 75 Stunden, tägliche Arbeitszeiten von maximal 13 Stunden und einen nur vierwöchigen bezahlten Jahresurlaub vor (Art. 7). Das österreichische Arbeitszeitgesetz (AZG)38 sieht hingegen in der Regel eine Wochenarbeitszeit von maximal 50 Stunden und eine Tagesarbeitszeit von 10 Stunden vor (§ 9 Abs. 1 AZG), der Jahresurlaub wiederum beträgt fünf Wochen – bzw nach 25 Dienstjahren – sechs Wochen. Das (vermeintliche) „Gold-Plating“ beträgt in diesem Fall also 25 Stunden weniger Wochenarbeitszeit, und statt 13 nur 10 Stunden tägliche Arbeitszeit. Dazu kommt noch ein ein bis zwei Wochen längerer Jahresurlaub. Im Umweltbereich gehen zB die österreichischen Standards für die Errichtung und den Betrieb von Deponien weit über die Anforderungen der EU-Deponien-Richtlinie39 hinaus; so hat zB die Stadt Wien ihre Kläranlage mit einer höheren Reinigungsstufe ausgerüstet, als in der EU-AbwasserRichtlinie40 vorgeschrieben ist. Bei Strom und Gas ist eine Grundversorgung auch bei Zahlungsschwierigkeiten gesetzlich gesichert, obwohl eine solche Regelung auf EU-Ebene fehlt. 37 38 39 40

ABl. 2003, L 299, S. 9 ff. BGBl. Nr. 461/1969 idgF. ABl. 1999, L 182, S. 1 ff. idgF. ABl. 1991, L 135, S. 40 ff. idgF.

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In Österreich müssen alle Banken ein Basiskonto, zu dem alle Personen Zugang haben, anbieten, während die Zahlungskonto-Richtlinie41 nur vorsieht, dass eine ausreichend große Zahl von Banken ein solches Basiskonto anzubieten hat (Art. 16 Abs. 1). Im Telekommunikationsbereich schützt in Österreich eine eigene Kostenbeschränkungs-Verordnung42 österreichische Kunden vor einer unvorhergesehenen Kostenexplosion, ein Schutz, der in der TelekommunikationsRichtlinie43 nicht vorgesehen ist, usw.44 Wie zwiespältig allerdings die Bewertung von „Gold-Plating“ in einzelnen Bereichen sein kann, lässt sich im Umweltbereich sehr anschaulich an zwei sich widersprechenden Hypothesen veranschaulichen, nämlich der „Pollution Haven Hypothese“ und der „Porter Hypothese“. Die in den 1980-er Jahren formulierte „Pollution Haven Hypothese“ geht davon aus, dass eine Reglementierung der Umwelt die Produktionskosten für die betroffenen Unternehmen erhöht und damit deren Wettbewerbsfähigkeit reduziert. Im Gegensatz dazu betont die neuere „Porter Hypothese“, in ihrer „starken“ Version, eine synergetische Wirkung von Umweltregulierungen auf die Wirtschaftsleistung, indem damit ein Anreiz für Innovationen geschaffen wird. Auf der Basis empirischer Beobachtungen wurden in der einschlägigen Literatur diesbezüglich sechs Argumente abgeleitet, wonach eine Umweltregulierung für die Wirtschaftsleistung von Vorteil sein kann.45 Spezifizierung von Fällen von „Gold-Plating“ Die Arbeiten zum „Gold-Plating“ werden vom Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz (BMVRDJ), unter der Leitung von BM Josef Moser, koordiniert. Welche Standards aus der Sicht der Bundesregierung nun tatsächlich als „Gold-Plating“ angesehen werden sollen, geht aus einem Schreiben des BMVRDJ an die Sozialpartner und weitere Interessenvertreter hervor, das als Arbeitsbehelf für die Rücknahme von „Übererfüllungen“ von Unionsrecht dienen soll, wobei folgende Beispiele angeführt werden: a) im nationalen Recht werden zusätzliche inhaltliche oder bürokratische Anforderungen vorgesehen; b) der sachliche Anwendungsbereich wird über den in der Richtlinie vorgesehenen Bereich inhaltlich ausgedehnt; 41 ABl. 2014, L 257, S. 214 ff. 42 BGBl. II Nr. 45/2012. 43 ABl. 1999, L 91, S. 10 idgF. 44 Vgl. Ey, Gold Plating (Fn. 5), S. 13 f. 45 Kettner-Marx, C. – Kletzan-Slamanig, D. – Köppl, A. Umweltregulierung – Eine Chance für den Standort?, Wirtschaft&Umwelt, Nummer 1/2018, S. 19; vgl. Dechezleprêtre, A. – Sato, M. The Impacts of Environmental Regulation on Competitive­ ness, Review of Environmental Economy and Policy Nr. 2/11, S. 183 ff.

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c) nach Unionsrecht zulässige Ausnahmen (sog. „Öffnungsklauseln“) werden nicht in Anspruch genommen; d) es werden schärfere Sanktionen festgelegt, als es die jeweilige Richtlinie verlangt; e) die Umsetzung der nationalen Bestimmungen erfolgt zu einem früheren Zeitpunkt, als in der Richtlinie verlangt wird und f) bei EU-Rechtsakten, die zwei oder mehrere genau bestimmte Umsetzungsoptionen zur Wahl stellen, ist die strengere Variante als „Gold-Plating“ zu beurteilen.46 „Gold-Plating“ im Rahmen der Bemühungen der Bundesregierung um Rechtsbereinigung bzw. Deregulierung Die Bundesregierung sendete am 27. April 2018 ein (Zweites) „Bundesrechts­ bereinigungsgesetz“47 zur Begutachtung aus, mit dem rund die Hälfte der ca. 5.000 bisher in Kraft stehenden Rechtsvorschriften – konkret sind das mehr als 600 Gesetze und 1.800 Verordnungen – außer Kraft gesetzt werden soll. Demnach treten alle einfachen Bundesgesetze und Verordnungen von Bundesbehörden, die vor dem 1. Jänner 2000 kundgemacht wurden, mit Ende 2018 außer Kraft, mit Ausnahme derjenigen, die in der Anlage zum „Bundesrechtsbereinigungsgesetz“ aufgezählt werden. In einem weiteren Schritt sollen dann jene Regelungen beseitigt werden, die EU-Richtlinien unnötigerweise übererfüllen (Gold-Plating). Bis 15. Mai 2018 konnten sowohl Ministerien, als auch Interessensvertretungen dem BMVRDJ (vertraulich) einmelden, wo es ihres Erachtens solche „Übererfüllungen“ gibt.48 Zurecht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass damit dieser Plan der Bundesregierung nicht eindeutig bestimmbar ist, ob es sich dabei nämlich konkret um eine Rechtsbereinigung und/oder Deregulierung handelt.49 Forschungsprojekt zur Untersuchung von „Gold-Plating“ Zur näheren Untersuchung des genauen Umfangs von „Gold-Plating“ hat die WKO Steiermark mit der Universität Graz50 ein Forschungsprojekt ini46 Ey, Gold Plating (Fn. 5), S. 13. 47 Das Erste Bundesrechtsbereinigungsgesetz stammte aus dem Jahr 1999 (BGBl. I Nr. 191/1999 idgF). 48 Vgl. Gesetze werden entrümpelt, Der Standard, vom 26. April 2018, S. 7. 49 Vgl. dazu die Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Gesetzgebungslehre zum Workshop „Rechtsbereinigung und/oder Deregulierung: Was plant die Bundesregierung?“, am 26. April 2018 in das Veranstaltungszentrum des Verfassungsgerichtshofs, 1010 Wien, Freyung 8. 50 Im Rahmen des Grazer Instituts für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft/ Arbeitsbereich Univ.-Prof. MMag. Dr. Eva Schulev-Steindl, LL.M., Mitarbeiterin: Mag. Miriam Karl.

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tiiert, das überzogene Bestimmungen systematisch aufzeigen und für die Zukunft als Diskussionsgrundlage zur Eindämmung von „Gold-Plating“ dienen soll. Die Ergebnisse dieser Studie sollen bereits 2018 vorliegen. Den Ausgangspunkt für diese Untersuchung stellte eine am 21. November 2017 im Rahmen der Reihe „Wirtschafts- und umweltrechtliche Gespräche“ abgehaltene Diskussionsveranstaltung zum Thema „Gold Plating im Wirtschafts- und Umweltrecht“ der WKO Steiermark und des Instituts für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz dar, im Rahmen derer österreichische Wirtschaftsvertreter die Überregulierung im Allgemeinen sowie die Detailverliebtheit des Gesetzgebers und der Vollzugsbehörden scharf kritisierten.51 Schlussbetrachtungen Wie die vorstehenden Ausführungen belegen, handelt es sich beim „GoldPlating“ um ein komplexes Phänomen, das noch dazu zwei völlig unterschiedliche Stoßrichtungen hat, die auch politisch unterschiedlich instrumentalisiert werden können. Es wäre daher angezeigt gewesen, dass die gegenwärtige Bundesregierung in ihrem Regierungsprogramm „Gold-Plating“ nicht nur mehrfach erwähnt, sondern dessen Konsequenzen auch entsprechend aufdifferenziert hätte. Für eine korrekte Aufklärung der österreichischen Öffentlichkeit wäre es daher notwendig gewesen, jeweils genau anzugeben, ob es sich dabei um die bloße Zurücknahme einer „bürokratischen Übererfüllung“ oder doch um die Absenkung gesellschafts- und wirtschaftspolitisch bewährter Standards handelt. Mit dieser speziellen Differenzierung ist aber auch schon aufgezeigt, warum es dazu in concreto nicht gekommen ist und auch nicht kommen wird. Es wäre in diesem Zusammenhang aber auch interessant, zu erfahren, welche Organisationen und Interessenvertretungen welche Formen von „Übererfüllung“ dem Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz (BMVRDJ) bis zum 15. Mai 2018 eingemeldet haben, wozu es aber leider nicht kommen wird, da dafür ja Stillschweigen vereinbart wurde.52 Quelle: EU-Infothek vom 28. Mai 2018, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 2) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 5, nachstehend auf S. 106 ff. 51 Vgl. Problemfall „Gold Plating“: Forschungsprojekt soll erstmals wahres Ausmaß ans Tageslicht bringen, WKO-News vom 29. November 2017; kritisch dazu: Wieviel Spielräume gibt es bei der Umsetzung von Umweltrecht?, Wirtschaft&Umwelt, Nummer 1/2018, S. 17; https://news.wko.at/news/steiermark/problemfall-goldplating.html 52 Vgl. Ey, Gold Plating: ein gefährliches Spiel (Fn. 7), S. 5.

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3. Relativierung des fundamentalen Rechtsgrundsatzes „ne bis in idem“? Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen Mit seinen Urteilen vom 20. März 20181 hat der Gerichtshof (EuGH) einmal mehr grundlegende Aussagen zum „ne bis in idem“-Grundsatz („nicht zweimal in derselben Sache“) gemacht, die seine bisherige Rechtsprechung zum Verbot der Doppelbestrafung weiter aufdifferenzieren. Aus österreichischer Sicht ist diese Rechtsprechung besonders relevant, verfügt es doch mit seiner singulären Dichotomie „Strafrecht“ versus „Verwaltungs(straf) recht“ über ganz besondere Voraussetzungen für eine differenzierte Anwendung des „ne bis in idem“-Grundsatzes. So brachte Österreich diesbezüglich zum „ne bis in idem“-Verbot in Art.  4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (1984) explizit den Vorbehalt an, dass sich dieses Verbot der Doppelbestrafung nur auf „Strafverfahren“ iSd österreichischen Strafprozessordnung (StPO) bezieht. Daneben ist aber im Verwaltungsstrafrecht das „Kumulationsprinzip“ zu beachten, das nach den Plänen der gegenwärtigen Bundesregierung grundlegend überarbeitet bzw. 2020 ganz abgeschafft werden soll. Diesen komplexen und miteinander in Zusammenhang stehenden Fragen soll nachstehend entsprechend nachgegangen werden. Die aus dem römischen Recht stammende Rechtsparömie „bis de eadem re ne sit actio“, abgekürzt und verbalhornt „ne bis in idem“ genannt, drückt einen Teilaspekt der materiellen Rechtskraft in dem Sinne aus, dass ein mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbares Urteil einen bestimmten Sachverhalt endgültig klärt, über den nicht neuerlich ein Verfahren eröffnet werden soll. Damit stellt der „ne bis in idem“-Grundsatz prinzipiell ein verfahrensrechtliches Wiederholungsverbot „in derselben Sache“ – wobei Identität der Tat und der Person vorliegen muss – dar. Obwohl dieser Grundsatz auch im Verwaltungs- und Zivilrecht Anwendung findet, kommt er überwiegend im Strafrecht zum Tragen und bedeutet dort das Verbot der Doppelbestrafung, verbietet aber grundsätzlich auch eine erneute Strafverfolgung. Der Grundsatz des „Strafanklageverbrauchs“ kann nur in ganz bestimmten Fällen, wie zB in Form der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, durchbrochen werden. Grundsätzlich findet der Strafanklageverbrauch an sich auch nur innerhalb eines einzelnen Staates, nicht aber durch das Ergehen ausländischer Urteile statt, allerdings nur insoweit, als es darüber keine internationalen Verträge gibt, die eine solche Wirkung vorschreiben.

1 Vgl. dazu Fn. 15.

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„Der Grundsatz „ne bis in idem“ im Staatsrecht, im Völkerrecht und im Europarecht Dementsprechend ist der allgemeine Rechtsgrundsatz des „ne bis in idem“ nicht nur im nationalen Recht, sondern auch im Völkerrecht sowie im Europarecht enthalten, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. So findet er sich zB in der deutschen Verfassung (Art.  103 Abs.  3 GG), in Art.  14 Abs.  7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (1966),2 in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (1984)3, in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) (1990)4 sowie in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta5, die gem. Art.  6 Abs.  1 EUV einen Bestandteil des Unionsrechts im Rang von Primärrecht darstellt. Daneben ist er in der ständigen Judikatur des EuGH auch als allgemeiner (ungeschriebener) Rechtsgrundsatz des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts anerkannt. In all diesen Rechtsgrundlagen ist der „ne bis in idem“-Grundsatz nicht nur in durchaus unterschiedlichen „Konnotationen“ verankert, sondern auch judikativ durch die Rechtsprechung der österreichischen (Höchst)Gerichte (VerfGH, VerwGH, OGH, UVS), des Gerichtshofs der EMRK (EGMR) und des Gerichtshofs der EU (EuGH und EuG) unterschiedlich ausgeformt.6 Sollte es in absehbarer Zeit einmal zu dem in Art.  6 Abs.  2 EUV (verbindlich) vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK kommen,7 dann hätte der Gerichtshof der EU in seinen Judikaten die einschlägigen Urteile des EGMR „telle quelle“ zu berücksichtigen, ein Umstand, der wohl mit ein Grund dafür war, dass der EuGH im Dezember 2014 ein negatives Gutachten zum Beitrittsvertrag der EU zur EMRK abgegeben hat8. Anschließend sollen die wichtigsten Urteile des EuGH zum „ne bis in idem“Verbot dargestellt werden, aus denen, zumindest ansatzweise, die unter2 BGBl. 1978/591. 3 BGBl. 1988/628 idgF; für die Differenzierung zwischen Zusatz- und Änderungsprotokollen zur EMRK vgl. Hummer, W. „Zusatzprotokolle“ versus „Änderungsprotokolle“ zur EMRK. Zur Klarstellung zweier immer wieder verwechselter Begriffe, Austrian Law Journal 3/2017, S. 183 ff. 4 ABl. 2000, L 239, S. 19 ff. 5 ABl. 2016, C 202, S. 389 ff. 6 Siehe dazu die Zusammenstellung der einschlägigen Judikatur bei Postlmayr, J. Doppelbestrafung; http: www.emrk.at/rechte/ZP/art4-7.htm 7 Vgl. dazu Hummer, W. Strukturdivergenzen zwischen dem Grundrechtsschutz in der EU und nach der EMRK – unter besonderer Berücksichtigung des zukünftigen Beitritts der EU zur EMRK, in: Grundrechtsschutz, Minderheitenschutz, Datenschutz – Weichenstellungen für Europa, 9. Rechtsschutztag des BM.I, Schriftenreihe BM.I, Bd. 14 (2012), S. 23 ff. 8 EuGH, Gutachten 2/13, Urteil vom 18. Dezember 2014 (ECLI:EU:C:2014:2454); vgl. dazu Hummer, W. Der Beitritt der EU zur EMRK. Notwendige Änderungen und Anpassungen, EU-Infothek vom 15. November 2011 (Teil 1) und EU-Infothek vom 22. November 2011 (Teil 2).

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schiedliche Fallgestaltung bei der Anwendung dieses Grundsatzes anschaulich hervorgeht. Die bisherige einschlägige Judikatur des EuGH Erstmals wurde der EuGH im Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU mit der Anwendung des Art.  54 SDÜ in den verbundenen Rechtssachen Gözütok und Brügge9 befasst, bei denen es um eine in den Niederlanden bereits eingeleitete Strafverfolgung eines türkischen Beschuldigten gegangen war, die allerdings mit einer Verfahrenseinstellung ohne Verurteilung und ohne Einschaltung eines Gerichts (sog. „transactie“) beendet wurde, nachdem der Beschuldigte einen von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hatte. Auch in der zweiten Rechtssache, einem belgischen Ausgangsverfahren gegen einen deutschen Beschuldigten, dessen Verfahren wegen derselben Sache in Deutschland zuvor gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt worden war, ergab sich die Frage, ob Art. 54 SDÜ auf solche „staatsanwaltschaftlichen Vergleiche“ Anwendung findet.10 Die „Diversion“ des österreichischen Strafprozessrechts kennt übrigens ein ähnliches Prozedere. Der EuGH stellte diesbezüglich fest, dass das Verbot der Doppelbestrafung gem. Art.  54 SDÜ nicht nur für Strafurteile eines Gerichts, sondern auch für Entscheidungen gilt, mit denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates, ohne Mitwirkung eines Gerichts, ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte eine Geldbuße bezahlt oder bestimmte Auflagen erfüllt hat. Konkret hob der EuGH in seiner Begründung den Umstand hervor, dass die Anwendung des Art. 54 SDÜ auf „staatsanwaltschaftliche Vergleiche“ die Rechte der Opfer von Straftaten deswegen nicht verletzt, da diesen ja in jedem Fall der Zivilrechtsweg offensteht. Nach einer Reihe weiterer einschlägiger Judikate des EuGH11 kam es Ende 2008 zu einem grundlegenden Judikat des EuGH12, in dem dieser abzuklären hatte, ob Art. 54 SDÜ auch im Fall einer Verurteilung Anwendung findet, die nie vollstreckt werden konnte. Diesbezüglich stellte der EuGH fest, dass diese Bestimmung auf ein Strafverfahren Anwendung findet, das in 9 EuGH, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Hüseyin Gözütok und Klaus Brügge, Urteil vom 11. Februar 2003 (ECLI:EU:C:2003:87). 10 Vgl. Soyer, R. Schutz vor Doppelbestrafung in der EU, Der Standard, vom 11. März 2003. 11 EuGH, Rs. C-150/05, Jean von Straaten, Urteil vom 28. September 2006 (ECLI:EU:C:2006:614); EuGH, Rs. C-436/04, Henri van Esbroek, Urteil vom 9. März 2006 (ECLI:EU:C:2006:165); EuGH, Rs. C-469/03, Filomeno M. Miraglia, Urteil vom 10. März 2005 (ECLI:EU:C:2005:156). 12 EuGH, Rs. C-297/07, Staatsanwaltschaft Regensburg/Klaus Bourquain, Urteil vom 11. Dezember 2008 (ECLI:EU:C:2008:708)

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einem Schengen-Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet wird, für die der Angeklagte bereits in einem anderen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, auch wenn die Strafe, zu der er verurteilt wurde, nach dem Recht des Urteilsstaats wegen verfahrensrechtlicher Besonderheiten nie unmittelbar vollstreckt werden konnte. Mit dieser Auslegung wollte der EuGH offensichtlich vermeiden, dass eine Person aufgrund des Umstands, dass sie ihr Recht auf Freizügigkeit (Art. 45 bis 48 AEUV) ausübt, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Schengen-Vertragsstaaten verfolgt werden kann. Das Recht auf Freizügigkeit kann nämlich nur dann effektiv gewährleistet werden, wenn der Betroffene die Gewissheit hat, dass er sich, wenn er einmal verurteilt worden ist und die gegen ihn verhängte Strafe nach den Gesetzen des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann, im Schengen-Raum frei bewegen kann, ohne eine Verfolgung in einem anderen Schengen-Staat befürchten zu müssen. Eine weitere grundlegende Fragestellung ergab sich für den EuGH 2014 in der Rechtssache Zoran Spasic13, bei der es um die Frage ging, ob im Falle des Bestehens einer Sanktion aus einer Freiheits- und einer Geldstrafe, die Vollstreckung letzterer vor der Verhängung ersterer in einem anderen Schengen-Mitgliedstaat schützt bzw. inwieweit diesbezüglich Art. 54 SDÜ und Art.  50 der Grundrechte-Charta der EU divergieren. Art.  54 SDÜ macht die Verhängung des „ne bis in idem“-Grundsatzes nämlich davon abhängig, dass die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (sog. „Vollstreckungsbedingung“). Im Gegensatz dazu sieht Art. 50 der Grundrechte-Charta der EU, die sich in ihren Erläuterungen ausdrücklich auf das SDÜ bezieht, den „ne bis in idem“-Grundsatz ohne spezielle Bezugnahme auf eine solche Bedingung vor. Zoran Spasic, ein Serbe, der wegen eines 2009 in Mailand begangenen Betrugsdelikts in Italien zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe von 800 Euro verurteilt wurde, zahlte zwar die Geldstrafe, verbüßte aber die Freiheitsstrafe nicht. Spasic, der wegen anderer Delikte in der Folge in Österreich inhaftiert war, wurde von Österreich aufgrund eines in Deutschland erlassenen Europäischen Haftbefehls an Deutschland ausgeliefert, wo er sich seit Ende 2013 wegen des in Italien begangenen Betrugsdelikts in Untersuchungshaft befand. Aus der Sicht der deutschen Behörden kam das „ne bis in idem“-Verbot des Art. 54 SDÜ deswegen nicht zur Anwendung, da die Freiheitsstrafe in Italien noch nicht vollstreckt worden sei. Spasic hielt dem entgegen, dass die in Art.  54 SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung mit Art. 50 der Grundrechte-Charta an sich nicht vereinbar sei und er deswegen aus der Haft entlassen werden müsse, da er die Geldstrafe von 800 Euro bereits bezahlt habe, wodurch die verhängte Sanktion eben vollstreckt worden sei. 13 EuGH, Rs. C-129/14 PPU, Zoran Spasic, Urteil vom 27. Mai 2014 (ECLI:EU:C:2014:586).

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Im Gegensatz dazu ging der EuGH davon aus, dass die im Art.  54 SDÜ enthaltene Vollstreckungsbedingung eine mit Art.  50 der Grundrechte-Charta vereinbare Einschränkung des „ne bis in idem“-Grundsatzes darstelle, da in den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta ausdrücklich auf das SDÜ Bezug genommen wird, sodass das SDÜ diesen in der Grundrechte-Charta verankerten Grundsatz in zulässiger Weise einschränkt. Darüber hinaus steht die Vollstreckungsbedingung in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ziel, im Schengen-Raum für ein hohes Sicherheitsniveau zu sorgen, und geht auch nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um zu verhindern, dass rechtskräftig Verurteilte der Strafe entgehen. Werden in einem Fall sowohl eine Freiheitsstrafe, als auch eine Geldstrafe als (zwei) Hauptstrafen verhängt, dann lässt die bloße Zahlung der Geldstrafe nicht den Schluss zu, dass die Sanktion iSd Art.  54 SDÜ bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird. Wenn also zwei Hauptstrafen verhängt worden sind, reicht es nicht aus, wenn bloß die eine verbüßt wurde.14 Die neueste Judikatur des EuGH zum „ne bis in idem“-Grundsatz Eine ganz grundlegende Aussage zur Zulässigkeit der Kumulierung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur mit einem Strafverfahren ist nunmehr dem Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen Enzo Di Puma und Antonio Zecca15 zu entnehmen, in denen der Gerichtshof zu beurteilen hatte, welche Auswirkungen ein endgültig freisprechendes Strafurteil auf das Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion hat, bei dem es um dieselbe wie die im Strafurteil für nicht erwiesen erachtete Tat geht. In concreto handelte es sich dabei um die Umsetzung des Art.  14 Abs.  1 der Richtlinie 2003/6/EG über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Markt­miss­ brauch).16 Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang in zwei weiteren Rechtssachen fest, dass die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur, das sich auf dieselbe Tat stützt, eine Einschränkung des in Art.  50 der Grundrechte14 Vgl. Ferner, J. EuGH zum Verbot der Doppelbestrafung – §54 SDÜ vs. Grundrechtecharta, vom 31. Mai 2014; https://www.ferner-alsdorf.de/strafrecht_eughzum-verbot-der-doppelbestrafung-%c…; Geldstrafe schützt vor Freiheitsstrafe nicht, vom 27. Mai 2014; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-urteil-c129-14-ppu-schengen-doppelbest... 15 EuGH, verb. Rs. C-596/16 und C-597/16, Enzo Di Puma/Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) und Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)/Antonio Zecca, Urteil vom 20. März 2018 (ECLI:EU:C:2018:192). 16 ABl. 2003, L 96, S. 16 ff.

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Charta verbürgten Grundrechts darstellt.17 Eine solche Einschränkung des Grundsatzes „ne bis in idem“ kann jedoch nach Art. 52 Abs. 1 Grundrechte-Charta insoweit gerechtfertigt werden, als das Ziel – nämlich die Integrität der Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen – eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen kann, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.18 Aus der Sicht des EuGH können dann gegen ein und dieselbe Person gleichzeitig strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden, wenn die nationale Ausnahmeregelung vom „Doppelbestrafungsverbot“ kumulativ folgende vier Voraussetzungen erfüllt: – erstens muss sie eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben, die eine solche Kumulierung der Strafen überhaupt rechtfertigten kann; – zweitens muss die nationale (gesetzliche) Bestimmung präzise Regeln enthalten, die es den Bürgern ermöglichen, zu antizipieren, bei welchen Handlungen bzw. Unterlassungen eine doppelte Bestrafung infrage kommt; – drittens muss in der nationalen Regelung Vorsorge dafür getroffen werden, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, um die Belastungen, die mit einer Doppelbestrafung verbunden sind, für den Betroffenen auf ein Mindestmaß zu beschränken und – viertens muss dabei gewährleistet sein, dass die Sanktionen im Verhältnis zur Schwere der Straftat auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt werden. Gibt es allerdings einen rechtskräftigen Freispruch, mit dem festgestellt wird, dass keine Straftat vorliegt, dann wäre die Verhängung einer Geldbuße in einem Verwaltungsstrafverfahren mit dem „ne bis in idem“-Grundsatz unvereinbar.19 Bei der Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur ist jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt einzuhalten. Im Unterschied zu der Situation, die zum Urteil des Gerichtshofes in der Rs. Åkerberg Fransson20 geführt hat – 17 Vgl. EuGH, Rs. C-524/15, Menci, Urteil vom 20. März 2018, Rndr. 39 (ECLI:EU:C:2018:197) und EuGH, Rs. C-537/16, Garlsson Real Estate, Urteil vom 20. März 2018, Rdnr. 41 (ECLI:EU:C:2018:193). 18 EuGH, Rs. C-537/16, Garlsson Real Estate (Fn. 17), Rdnr. 46. 19 Vgl. Hecht, J. EuGH: Doppelbestrafung in bestimmten Fällen möglich, Die Presse, vom 23. März 2018, S. 15; Grundsatz „ne bis in idem“ gilt nicht uneingeschränkt, LTO vom 20. März 2018; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c52415-nebis-in-idem-verbot-doppelte-b... 20 EuGH, Rs. C-617/10, Åkerberg Fransson, Urteil vom 26. Februar 2013 (ECLI:EU:C:2013:105).

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wo das Strafverfahren nach der Verhängung einer steuerrechtlichen Sanktion eingeleitet worden war – werfen die gegenständlichen Ausgangsverfahren die Frage auf, ob ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur fortgesetzt werden kann, wenn es in einem Strafurteil zu einem entsprechenden Freispruch gekommen ist. Dabei würde die Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur offensichtlich über das hinausgehen, was zur Erreichung der notwendigen Zielsetzung erforderlich wäre, da es ja ein endgültig freisprechendes Strafurteil gibt, in dem festgestellt wird, dass der inkriminierte Straftatbestand nicht erfüllt ist. Angesichts einer solchen Feststellung steht Art. 50 Grundrechte-Charta der Fortsetzung von Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur entgegen. Dementsprechend darf ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion nicht fortgesetzt werden, nachdem in einem endgültigen freisprechenden Strafurteil festgestellt wurde, dass die Begehung der Tat nicht erwiesen ist. Judikatur des EGMR zur Frage der Doppelbestrafung Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Judikatur zu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK ähnliche Kriterien entwickelt, nach denen die Frage einer Doppelbestrafung zu prüfen und zu beurteilen ist, und diese folgendermaßen zusammengefasst: Werden gegen eine Person aus ein- und demselben Vorfall von verschiedenen Behörden in verschiedenen Verfahren mehrere Sanktionen verhängt, die als Strafen iSd EMRK angesehen werden können, so liegt dann kein Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot vor, wenn ein ausreichend enger Zusammenhang zwischen den Verfahren gegeben war, und zwar sowohl inhaltlich, als auch zeitlich. Bei einem solchen engen Zusammenhang kann nämlich nicht davon gesprochen werden, dass der Betroffene nach einer endgültigen Entscheidung wegen derselben Sache nochmals bestraft worden ist. Die Verfahren werden vielmehr als Einheit betrachtet. Um von einem ausreichend engen inhaltlichen Zusammenhang ausgehen zu können, sind in diesem Zusammenhang mehrere Faktoren entscheidend: Zum einen ist maßgeblich, ob die verschiedenen Verfahren auch verschiedene Zwecke verfolgen und damit, nicht bloß abstrakt, sondern auch konkret, verschiedene Aspekte des in Rede stehenden Fehlverhaltens sanktioniert werden. Zum anderen ist zu beachten, ob die unterschiedlichen Verfahren für den Beschuldigten vorhersehbar und so aufeinander abgestimmt waren, dass eine doppelte Beweisaufnahme und unterschiedliche Beweiswürdigung möglichst vermieden, bzw. Beweisergebnisse in den jeweils anderen Verfahren berücksichtigt werden konnten. Vor allem kommt es aber darauf an, ob die später auferlegte Sanktion auf die bereits erfolgten vorangegangenen Sanktionen Bedacht genommen hat, sodass die Gesamtstrafe als verhältnis-

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mäßig anzusehen ist. Trotz des Vorliegens dieser meritorischen Kriterien ist zusätzlich erforderlich, dass zwischen den gegenständlichen Verfahren ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht, die Verfahren also möglichst gleichzeitig geführt und abgeschlossen werden.21 „Kumulationsprinzip“ bei Verwaltungsdelikten Rechtsdogmatisch völlig getrennt von der Frage der Relativierung des „ne bis in idem“-Grundsatzes muss der Versuch der Umformung bzw. Eliminierung des „Kumulationsprinzips“ bei Verwaltungsstrafen betrachtet werden, den sich die Bundesregierung auf ihre Fahnen geschrieben hat.22 Das Kumulationsprinzip ist ein wesentliches Merkmal des Verwaltungsstrafverfahrens und stellt einen grundlegenden Unterschied zum gerichtlichen Strafverfahren dar. Verwaltungsstrafen werden grundsätzlich nebeneinander verhängt, dh dass jede Übertretung von Verwaltungsvorschriften getrennt zu bestrafen ist. Unmissverständlich stellt in diesem Zusammenhang § 22 Abs. 2 Verwaltungsstrafgesetz (VStG) 199123 fest: „Hat jemand durch mehrere selbständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen. Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen von einer Verwaltungsbehörde zu ahndenden strafbaren Handlungen“. Bei Verwaltungsstrafen, die gegen Unternehmen verhängt werden, kann es in diesem Zusammenhang aber zu einer Summierung von Strafen kommen, sodass schon bei geringen Verstößen hohe Geldbußen anfallen. Zeichnet zB ein KMU bei drei Mitarbeitern einmal die Mittagspause nicht auf, drohen neun Strafen: wegen Nichtaufzeichnung der Pause, wegen der Nichtgewährung der Pause und wegen der Überschreitung der Höchstarbeitszeit – und das mal drei für jeden der drei Mitarbeiter.24 Damit ergibt sich ein hohes Strafausmaß, da das Unternehmen in neun Fällen beanstandet und das Strafausmaß des Einzelfalles kumuliert wurde. Aus einer Nachzahlung in Höhe von 153 € wegen eines Fehlers in der Lohnverrechnung ergab sich damit in der Folge eine Strafzahlung in Höhe von 11.000 €.25

21 EGMR, A und B/Norwegen, 24130/11, Urteil vom 15. November 2016 (Große Kammer), Rdnr. 131 bis 134. 22 Vgl. dazu nachstehend auf S. 88. 23 BGBl. Nr. 52/1991 idF BGBl. I Nr. 194/1999; letzte Änderung BGBl. I Nr. 120/2016. 24 Kumulationsprinzip: WKÖ für Aufhebung von Schikanen, wirtschaft.tirol, gepostet am 18. April 2018; …Kumulationsprinzip: Reform ändert nichts an harten Strafen für schwarze Schafe, vom 4. Juni 2018; https://news.wko.at/news/oesterreich/ Kumulationsprinzip:-Reform... 25 Pechar, B. Kumulationsprinzip. Leitl zieht gegen unverhältnismäßige Strafen ins Feld, Wiener Zeitung Online, vom 29. Oktober 2015.

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Als ein weiteres Beispiel wird die Überschreitung der Höchstgrenzen der Arbeitszeit genannt: diese wird derzeit mit einer Strafe zwischen 72 € und 1.815 € geahndet, und zwar pro Arbeitnehmer, den der Verstoß betrifft. Bei Arbeitszeitüberschreitungen von 150 Mitarbeitern ergibt sich derzeit eine Mindeststrafe von 10.800 €. Würden aber die in der neuen Regelung der Bundesregierung für eine Entschärfung des Kumulationsprinzips enthaltenen Bestimmungen, auf die nachstehend eingegangen wird, angewendet, dann würde sich eine Mindeststrafe von lediglich 72 € ergeben und selbst die Höchststrafe wäre mit 1.815 € begrenzt.26 Die AK wiederum verweist auf den Arbeitsrechtsfall rund um das Bordservice bei „Henry am Zug“. Weil Pausen zu Unrecht vom Lohn abgezogen wurden, muss das Unternehmen jetzt mehr als 100.000 € Strafe zahlen. Ohne „Kumulation“ würde die Strafe aber lediglich 200 € ausmachen.27 Die Sozialpartner sehen daher durch diesen Gesetzesentwurf der aktuellen Bundesregierung wichtige Bereiche des Rechtsschutzes der Arbeitnehmer und des Kampfes gegen Lohn- und Sozialdumping gefährdet. Der leitende Sekretär des ÖGB, Bernhard Achitz, bringt das Problem auf den Punkt, in dem er anmerkt, dass die Abschaffung des Kumulationsprinzips Schwarzunternehmer dazu anreizt, ihre Arbeitnehmer nicht bei der Krankenkasse anzumelden, da sie künftig lediglich nur mehr pauschal 855 € Verwaltungsstrafe zu zahlen haben – auch wenn es sich um hunderte Beschäftigte handelt. „Kumulationsprinzip“ versus „Absorptionsprinzip“ Der von der WKÖ beauftragte Grazer Verwaltungsrechtler Gerhard Wielinger regt in seinem Gutachten für die Neugestaltung des § 22 VStG in diesem Zusammenhang an, dass das Kumulationsprinzip zum Teil durch das im Justizstrafrecht geltende „Absorptionsprinzip“ ersetzt werden soll, gemäß dessen beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen nur eine Strafe verhängt werden soll, die nach dem Gesetz zu bestimmen ist, das die höchste Strafe androht. In der Neufassung des § 22 Abs. 2 VStG sollen daher grundsätzlich zwei Fälle unterschieden werden, in denen das Kumulationsprinzip beseitigt werden soll: Erstens, dass durch mehrere zusammenhängende Taten eine Verwaltungsübertretung begangen wird und zweitens, dass durch eine Tat bzw mehrere zusammenhängende Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen werden.28 26 100 Vergehen, eine Strafe, ögb newsletter; www.at – 100 Vergehe… 27 „Ohrfeige für ehrliche Firmen“. Der Wegfall des Kumulationsprinzips bei Verwaltungsstrafen macht Sozialbetrug lukrativer; https://kurier.at/wirtschaft/ohrfeigefuer-ehrliche-firmen/400034977 28 Vgl. Schön, R. Wirtschaft gegen Kumulationsprinzip im Verwaltungsstrafrecht; https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20151029_OTS0146/wi…

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Die einschlägigen Umgestaltungspläne der Bundesregierung In ihrer Regierungsvorlage für ein Bundesgesetz, mit dem ua auch das Verwaltungsstrafgesetz 1991 geändert werden soll,29 geht die Bundesregierung von einer Entschärfung des Kumulationsprinzips aus. Es soll dann nur noch eine einzige Strafe geben, wenn durch eine Tat dieselbe Vorschrift mehrmals verletzt wird. Es muss dabei aber ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten bestehen (sog. „Tateinheit“). Bis dahin soll für solche Fälle eine außerordentliche Strafmilderung Platz greifen und Mehrfachstrafen sind dann auf ein angemessenes Ausmaß herabzumildern, wenn die Summe der Einzelstrafen im Hinblick auf das Verschulden unverhältnismäßig wäre. Ganz grundsätzlich sollen Vergehen mit lediglich geringem Verschuldensgrad der Maxime „Beraten statt strafen“ unterstellt werden, dh Straftäter mit geringem Verschulden sollen nicht bestraft, sondern beraten und lediglich abgemahnt werden. Reichte bisher die bloße Fahrlässigkeit laut Verwaltungsstrafgesetz aus, um eine Tat zu bestrafen, soll es künftig bei Strafdrohungen von über 50.000 € zu einer Umkehrung der Beweislast kommen, dh dass die Gerichte eine Schuld nachzuweisen haben. Bisher begründete ja das Vergehen die Schuld. Ganz allgemein soll das Kumulationsprinzip bei Strafen für Unternehmen ab dem Jahr 2020 völlig aufgehoben werden. Wie hoch die Ersparnis für die Unternehmer im Falle des Auslaufens des Kumulationsprinzips wäre, lässt sich schwer einschätzen. Im Gesetzesentwurf finden sich dazu keine Angaben. Laut Finanzministerium hat die Finanzpolizei 2017 im Zusammenhang mit Schwarzarbeit Strafen in Höhe von 32 Mio. € beantragt, davon 11,6 Mio. € wegen Lohn- und Sozialdumping und 7,6 Mio. € wegen illegaler Ausländerbeschäftigung. Wie viele „kumulierte“ Mehrfachstrafen darin enthalten sind, wird aber nicht ausgewiesen.30 Völkerrechtliche Zuordnung des „Verwaltungsstrafrechts“ Abschließend soll noch auf die interessante Frage eingegangen werden, wie denn in anderen Rechtsordnungen das österreichische Spezifikum des Verwaltungsstrafrechts rechtssystematisch eingeordnet wird. Gem. Art.  31 Abs.  1 der Wiener Diplomatenrechtskonvention (1961)31 genießen Diplomaten im Empfangsstaat absolute Immunität (nur) von der Strafgerichtsbarkeit, von der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit sind sie nur insoweit 29 Bundesgesetz, mit dem das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008, das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, das Verwaltungsstrafgesetz 1991 und das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz geändert werden; 193 der Blg.Sten.Prot.NR XXVI.GP. 30 Vgl. Pallinger, J. Zehn Vergehen, eine Strafe, Der Standard vom 4. Juni 2018, S. 11. 31 BGBl. Nr. 66/1966.

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eximiert, als es sich dabei nicht um die drei in den lit. a) bis c) des Abs. 1 aufgezählten Ausnahmetatbestände handelt. Es stellte sich daher die Frage, ob die österreichische Verwaltungsstrafgerichtsbarkeit dem Tatbestand der Strafgerichtsbarkeit (mit absoluter Immunität) oder dem der Verwaltungsgerichtsbarkeit (mit bloß relativer Immunität) zuzuordnen ist, was ja auch mit durchaus unterschiedlichen Konsequenzen für die Diplomaten verbunden wäre. Mit dem Argument des überwiegend pönalen Charakters des Verwaltungsstrafrechts erfolgte in praxi diesbezüglich die Zuordnung dieser Materie korrekterweise zum Strafrecht. In Österreich sieht nämlich das Verwaltungsstrafgesetz (1991)32 als Verwaltungsstrafen für Übertretungen von Verwaltungsvorschriften neben Geldstrafen – im Falle von deren Uneinbringlichkeit – auch Ersatzfreiheitsstrafen und daneben sogar primäre Freiheitsstrafen vor. Da diesbezüglich aber sogar Freiheitsstrafen verhängt werden können, ist damit der pönale Aspekt des österreichischen Verwaltungsstrafrechts auch völkerrechtlich eindrücklich belegt. Schlussbemerkungen Die vorstehend angeführten Fälle einer – allerdings unterschiedlich weit gehenden – Relativierung des Grundsatzes „ne bis in idem“ deuten auf einen paradigmatischen Wechsel in der Betrachtung des bisher als sakrosankt empfundenen Verbots der „Doppelbestrafung“ hin. Wenngleich die einschlägigen Judikate des EuGH an sich nur fallspezifisch ergangen und dementsprechend auch zu verstehen sind, lassen sie in einer zulässigen Verallgemeinerung eine eindeutige Tendenz in dem Sinn erkennen, Kumulierungsmöglichkeiten von Strafen nicht mehr „ex ante“ auszuschließen, sondern, in speziellen Fallkonstellationen, auch zuzulassen. Dieser Umstand ist vor allem für Österreich, einem Mitgliedstaat der EU, in dem mit der singulären rechtsdogmatischen Situation des Verwaltungsstrafrechts besondere Verhältnisse herrschen, von Bedeutung. Aber auch im Bereich der EMRK nimmt Österreich damit eine Sonderstellung ein. Nicht umsonst ergingen schon bisher die meisten einschlägigen Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hinsichtlich einer behaupteten Verletzung des „ne bis in idem“-Grundsatzes in Rechtssachen mit Bezug zur österreichischen Rechtsordnung. Quelle: EU-Infothek vom 19. Juni 2018, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 3)  

32 Siehe Fn. 23.

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4.  Die dritte österreichische „Präsidentschaft“ in der EU Vorgaben und Herausforderungen für die Vorsitzführung Österreichs im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2018 Die zwei bisherigen „Präsidentschaften“ Österreichs in der EU fanden 1998 und 2006 statt. Die erste „Präsidentschaft“ im Jahre 1998 wurde unter Bundeskanzler (BK) Viktor Klima und Außenminister (AM) Wolfgang Schüssel relativ unspektakulär absolviert,1 wohingegen die zweite 2006, unter dem nunmehrigen BK Schüssel und der AM Ursula Plassnig, bewusst medienwirksam angelegt wurde und dementsprechend auch entsprechende Aufmerksamkeit fand. Meritorisch konnte BK Schüssel vor allem im Bereich der mehrjährigen Finanzvorschau (2007–2013) „punkten“ und das erste Verhandlungskapitel mit der Türkei abschließen. 20 Jahre nach der ersten begann Anfang Juli 2018 unter BK Sebastian Kurz die dritte „EU-Präsidentschaft“, mitten in einer Reihe existentieller Krisenlagen, wie sie in der bisherigen sechzigjährigen Geschichte der Europäischen Gemeinschaften/Union noch nie vorgekommen waren. Anders als 1998 und 2006 ist Österreich heute auch Teil einer „Trio-Präsidentschaft“, mit gemeinsamen Schwerpunkten. Seit dem Vertrag von Lissabon sorgen zudem ein permanenter Präsident des Europäischen Rates und eine Hohe Vertreterin für die GASP für mehr Kontinuität und entlasten damit das jeweilige Vorsitzland. Nachstehend sollen die Vorgaben und Herausforderungen für diese dritte „EU-Präsidentschaft“ Österreichs dargestellt und kurz kommentiert werden. Dabei wird bewusst auf die offiziellen Dokumente abgestellt, da diese ja den formellen Rahmen für die Vorsitzführung Österreichs im Rat abgeben, an denen schlussendlich das Verhalten Österreichs gemessen werden wird. Vorbemerkung zum Begriff der „EU-Präsidentschaft“ Der Begriff „EU-Präsidentschaft“ erweckt den Eindruck, als wenn es sich dabei um eine neue Organschaft im institutionellen System der EU handeln würde. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser (euphemistischen) Bezeichnung lediglich der „Vorsitz“ im Rat der EU, der gem. Art. 16 Abs. 9 EUV nach einem System der gleichberechtigten Rotation wahrgenommen wird. Mit Ausnahme der Ratsformation „Allgemeine Angelegenheiten“, die gem. Art. 18 Abs. 3 EUV permanent vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dh aktuell von Federica Mogherini, geleitet wird, rotiert der Vorsitz in den anderen 9 Ratsformationen im sechsmonati1 Vgl. Kopeinig, M. Wir sind wieder wer, Europäische Rundschau 2018/2, S. 46; erwähnenswert ist aber der Beschluss zur EU-Osterweiterung und die Fixierung des Wechselkurses des Euro.

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gen Rhythmus, wobei dessen konkrete Ausgestaltung durch einen Beschluss des Europäischen Rates gem. Art. 236 lit. b) AEUV vorzunehmen ist. Gemäß dem Beschluss des Europäischen Rates vom 1. Dezember 20092 wird der Vorsitz im Rat von zuvor festgelegten Gruppen von drei Mitgliedstaaten für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrgenommen, die in der Folge vom Rat mit Beschluss vom selben Tag3 näher spezifiziert wurden. Damit wurde die Reihenfolge, in der die EU-Mitgliedstaaten den Vorsitz im Rat – und die Einteilung dieser Reihenfolge der Vorsitze in Gruppen von drei Mitgliedstaaten (sog. „Trio-Präsidentschaft“ bzw. „Team-Präsidentschaft“) – wahrzunehmen haben, bis zum 30. Juni 2020 festgelegt. Der Sinn dieser durch den Vertrag von Lissabon eingeführten „Trio“- bzw. „Teampräsidentschaften“ – bestehend aus der jeweiligen „outgoing“, „actual“ und „incoming“-presidency – besteht darin, drei zeitlich aufeinanderfolgende Präsidentschaften für jeweils 18 Monate eng zusammenzufassen, um damit eine genauere thematische Abstimmung ihrer Programme zu erleichtern und dementsprechend auch eine längerfristige Planung zu ermöglichen. Bedingt durch den Beitritt Kroatiens zur EU am 1. Juli 2013 sowie der Konsequenzen der britischen „Brexit“-Volksabstimmung vom 23. Juni 2016, im Gefolge derer das Vereinigte Königreich auf seinen ihm turnusgemäß zustehenden „Vorsitz“ im Rat verzichtete, musste die Reihung der Vorsitze im Rat aber wieder geändert werden, was durch Beschluss (EU) 2016/1316 des Rates vom 26. Juli 20164 auch erfolgte. In diesem Zusammenhang wurde der österreichische „Vorsitz“ auf den Zeitraum von Anfang Juli bis Ende Dezember 2018 terminisiert. Mit Jänner 2019 übernimmt dann Rumänien von Österreich den Vorsitz und gibt ihn in der Folge Anfang Juli an Finnland weiter. Was die „Trio-Präsidentschaft“ betrifft, so bildeten Estland, Bulgarien und Österreich die für Österreich relevante Gruppe von drei Mitgliedstaaten, deren Achtzehnmonatsprogramm, das sog. „Trio-Programm“, vom Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ am 20. Juni 2017 angenommen und am 1. Juli 2017 in Kraft getreten ist. Das „Trio-Programm“ bildet den strategischen Rahmen für die Arbeiten der drei Präsidentschaften in der Periode von Anfang Juli 2017 bis Ende Dezember 2018 und wird nachstehend näher dargestellt. Mit der nächsten österreichischen Präsidentschaft in dann wieder in 14 Jahren zu rechnen. Konzeption der „EU-Präsidentschaft“ Einer „EU-Präsidentschaft“ obliegt vor allem die Planung und Leitung der Tagungen des Rates in seinen unterschiedlichen Formationen und seiner Vorbereitungsgremien (COREPER, sonstige Ständige Ausschüsse, Arbeits2 Beschluss 2009/881/EU des Europäischen Rates (ABl. 2009, L 315, S. 50). 3 Beschluss 2009/908/EU des Rates (ABl. 2009, L 322, S. 28). 4 ABl. 2016, L 208, S. 42 ff. (Anhang 1, S. 44).

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gruppen und Fachausschüsse) sowie dessen Vertretung gegenüber den anderen Organen der EU. Daraus gehen schon die enormen personellen, logistischen und finanziellen Herausforderungen für das Vorsitzland Österreich hervor, hat dieses doch während seines Vorsitzes in Summe 13 informelle Ratstagungen, mehr als 30 formelle Ratssitzungen und, allein in Österreich, rund 300 flankierende Veranstaltungen, vor allem in den jeweiligen Landeshauptstädten, auszurichten. Der Höhepunkt wird zweifellos die obligate Herbsttagung des Europäischen Rates am 20. September 2018 in Salzburg darstellen. Die dafür ursprünglich mit 43 Mio. Euro präliminierten Kosten mussten zwischenzeitlich aber auf rund 120 Mio. Euro korrigiert werden.5 In diesem Zusammenhang muss aber auch der Mehrwert einer „Präsidentschaft“ erwähnt werden, der für den österreichischen Vorsitz 2006 sowohl vom Institut für Höhere Studien und wissenschaftliche Forschung (IHS), als auch vom Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), wie folgt bewertet wurde: Der IHS-Studie zufolge lag die einschlägige Wertschöpfung bei insgesamt 108 Mio. Euro und es konnten Arbeitsplätze im Ausmaß von 2.350 Vollzeitäquivalenten geschaffen werden. Laut WIFO lagen die positiven Gesamteffekte bei rund 120 Mio. Euro und die temporären Beschäftigungseffekte bei etwa 2.000 Vollzeitarbeitsplätzen.6 Nachdem die österreichische Bundesregierung plakativ am 6. Juni 2018 in Brüssel getagt hatte, wurde die österreichische „EU-Präsidentschaft“ am 30. Juni 2018, ebenso medienwirksam, in Schladming auf der Planei mit einem lauten „Servus Europa“ gestartet. In der Folge übergab der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow die „Stafette“ an BK Kurz, Vizekanzler Strache sowie an die BM Blümel und Kneissl. Das Motto der Präsidentschaft lautet: „Ein Europa, das schützt“. Österreich versteht seine Rolle während des Vorsitzes als die eines neutralen Vermittlers und wird engagiert und konstruktiv daran arbeiten, gemeinsame Lösungen zu finden. Damit entspricht es dem traditionellen Verständnis der Vorsitzführung, wie dies auch im dreibändigen Brüsseler Handbuch des EU-Vorsitzes zum Ausdruck kommt, wo es gleich im ersten Kapitel heißt: „Der Vorsitz ist definitionsgemäß zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet“.7 Österreich wird bestrebt sein, als ein im Zentrum der EU gelegenes Land, gemäß seiner traditionellen Rolle als Brückenbauer und im Sinne seiner Vermittlungs- und Ausgleichstätigkeit als immerwährend neutraler Staat, zur Einheit in der EU beizutragen. Im „Offenen Brief der Bundesregierung zum EU-Ratsvorsitz“, der in allen Medien geschaltet wurde,8 versi5 Vgl. Thalhammer, A. Die teure EU-Ratspräsidentschaft, Die Presse vom 4. Juni 2018, S. 5; Was kostet der Vorsitz?, Tiroler Tageszeitung, vom 27. Juni 2018, S. 3. 6 Vgl. Der österreichische Ratsvorsitz: „Ein Europa, das schützt“, Entgeltliche Einschaltung des BKA, Kronen-Zeitung vom 29. Juli 2018. 7 Kopeinig, M. Wir sind wieder wer, Europäische Rundschau 2018/2, S. 46. 8 ZB im Der Standard vom 30.6./1.7., S. 3.

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chert diese dazu wörtlich: „Wir werden die Gelegenheit ergreifen, uns noch stärker als Brückenbauer und Vermittler in Europa einzubringen“. Im Regierungsprogramm 2017-2022 der österreichischen Bundesregierung mit dem Titel „Zusammen. Für unser Österreich“ wird diese neutrale Vermittlerfunktion auch auf den Osten ausgeweitet, indem festgestellt wird: „Österreich soll als historische Drehscheibe ein aktiver Ort des Dialogs zwischen Ost und West sein und eine Entspannungspolitik zwischen dem Westen und Russland vorantreiben“.9 Rein praktisch wird Österreichs Rolle im Ratsvorsitz laut Othmar Karas eine vierfache sein: Es wird Gastgeber, Dienstleister, Konsensfinder und Tempomacher sein“.10 Die Vorsitzführung wird von den Österreichern eher nüchtern gesehen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Unique research für Profil meinte eine relative Mehrheit von 36 Prozent, der Vorsitz sei „eine gute Sache, weil man Einfluss nehmen kann“ – dicht gefolgt von 31 Prozent, die glauben, der Vorsitz „gehöre halt dazu, man könne realpolitisch aber nicht viel ausrichten“. 21 Prozent würden auf den Vorsitz lieber verzichten, da dieser „nichts bringt und nur Geld kostet“, und 39 Prozent sind der Ansicht, Österreich „sei zu klein, um Einfluss zu nehmen“.11 Personelle Komponente des österreichischen Vorsitzes Wohl schon im Vorgriff auf den Schwerpunkt seiner Regierungsperiode, nämlich die Ausrichtung und Durchführung der dritten „EU-Ratspräsidentschaft“ in der zweiten Jahreshälfte 2018, löste BK Kurz im Zuge seiner Regierungsbildung die EU-Agenden aus dem Bereich des von Karin Kneissl geführten Außenministeriums heraus, transferierte sie zu sich in das Bundeskanzleramt (BKA) und betraute seinen engsten Vertrauten, Gernot Blümel, mit der Übernahme derselben. Damit übernahm der 36-jährige Kanzleramtsminister Blümel12 die komplexen europarechtlichen Agenden, bei gleichzeitigem Verbleib der begleitenden völkerrechtlichen Materien im Außenministerium. 9 Regierungsprogramm, S. 22. 10 Karas, O. Österreich in der EU: Motor oder Bremsklotz?, Europäische Rundschau 2018/2, S. 20. 11 Zitiert bei Bauer, G. – Linsinger, E. Dem Erdteil inmitten, Profil Nr. 26, vom 25. Juni 2018, S. 28. 12 Gernot Blümel verfügt über zwei Studienabschlüsse, und zwar von der Universität Wien (Mag. phil.) und der Wirtschaftsuniversität Wien (Master of Business Administration (MBA)), begann seine politische Karriere als parlamentarischer Mitarbeiter im NR, wurde in der Folge durch die Unterstützung seines Cartellbruders, Vizekanzler Michael Spindelegger, 2013 mit 32 Jahren Generalsekretär der ÖVP und kurze Zeit später (2015) mit 34 Jahren Chef der Wiener ÖVP. Als Kanzleramtsminister hat er neben den EU-Agenden noch Kunst, Kultur und Medien in seinem Portefeuille; vgl. Böhmer, C. Dem der Kanzler blind vertraut, Kurier vom 2. Juli 2018, S. 3.

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Zur engeren Koordination an dieser heiklen „Nahtstelle“ zwischen Europarecht und Völkerrecht schrieb das BKA zum 26. Juli 2018 die Leitung der Sektion IV neu aus, die vor allem für die Koordination der österreichischen EU-Politik zuständig sein soll. Als Favorit für die Leitung dieser Stelle, die bisher von Sektionschef Stefan Imhof wahrgenommen wurde,13 gilt der von BK Kurz aus dem Außenministerium in das BKA geholte frühere Sprecher des Außenministeriums, Alexander Schallenberg, der die Sektion IV bereits interimistisch geleitet hatte. Zuvor leitete dieser im Außenministerium zunächst eine Stabsstelle für strategische Planung und zuletzt die EU-Sektion. Um auch die Beamtenschaft auf die Herausforderungen der „EU-Präsidentschaft“ entsprechend vorzubereiten, veranstaltete sowohl die Verwaltungsakademie des Bundes,14 als auch die Diplomatische Akademie (DA)15 eine Reihe spezieller Ausbildungskurse, die praktische Kenntnisse für die Vorsitzführung oder Delegationsleitung in den einzelnen Ratsarbeitsgruppen, sei es als Fachreferent, Liaison Officer und EU-Poolist oder im Support-Bereich, vermitteln sollten. Die DA bot diesbezüglich knapp 30 Module zu diversen fachlichen Themenbereichen, wie Trainings in praktischer Vorsitzführung, Grundlagen- und Aufbaumodule im Fach Europarecht, Fortbildungen in den Bereichen Protokoll und Veranstaltungsmanagement, Pressearbeit und Social Media, an, mit denen insgesamt 1.500 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes aller Verwendungsgruppen erreicht wurden. Während damit an der DA fachliche Weiterbildungsveranstaltungen dominierten, wurde an der Verwaltungsakademie des Bundes vor allem Wert auf sprachliche Weiterbildung, dh vor allem auf die Perfektionierung von Englisch und Französisch, gelegt. Daneben wurden aber auch „soft skills“, wie zB Verhandlungsführung, Verfassen von E-Mails, Lobbying, Medienkontakte, Abführung korrekter small talks, etc. angeboten. Allein schon die Titel einiger der einschlägigen Veranstaltungen – wie zB „Releasing the Caged Lion“, „Taking Coffee in the EU“ etc.16 – verraten die aufgelockerte Atmosphäre dieser Veranstaltungen.

13 Stefan Imhof leitet nunmehr die „Stabsstelle für internationale wirtschaftliche Angelegenheiten“ im BKA; vgl. Österreichs EU-Koordination erhält neuen Chef; Wiener Zeitung vom 27. Juni 2018, S. 10. 14 Für eine Zusammenstellung aller Seminare siehe https://www.oeffentlicherdienst. gv.at/vab/seminarprogramm/eu_ratspraesidentschaft_... 15 Für eine Zusammenstellung aller Seminare siehe https://www.da-vienna.ac.at/ eu-ratsvorsitz 16 „Von Smalltalk bis Twitter: Beamte rüsten sich für den Ratsvorsitz“, Der Standard, vom 12. Juli 2018, S. 9.

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Das „Achtzehnmonatsprogramm des Rates“ – „Die strategische Agenda voranbringen“ Die inhaltlichen Vorgaben, die die österreichische Bundesregierung in ihrer „EU-Präsidentschaft“ zu berücksichtigen hat, leiten sich zunächst aus dem „Achtzehnmonatsprogramm des Rates (1. Juli 2017 bis 31. Dezember 2018)“ – Die strategische Agenda voranbringen“17 ab, das die Gruppe der künftigen drei vorsitzführenden Mitgliedstaaten Estland, Bulgarien und Österreich sowie die Hohe Vertreterin, die den Vorsitz im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ führt, am 2. Juni 2017 erstellt haben. In diesem 19-seitigen Papier wird ein intensives Programm entwickelt, das vor allem die „Strategische Agenda des Europäischen Rates“ sowie die Initiativen der „Gemeinsamen Erklärung über die gesetzgeberischen Aktivitäten der EU für 2017“ befördern soll. Die Unterteilung des „Achtzehnmonatsprogramms“ erfolgt dabei in folgende fünf Schwerpunktbereiche: 1. Eine Union für Arbeitsplätze, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit: Im Vordergrund steht dabei der Abschluss der Vorarbeiten für einen digitalen Binnenmarkt, die Überprüfung der „European Union Agency for Network and Information Security“ (ENISA) und die Aktualisierung der Cybersicherheitsstrategie. Dazu kommt die Förderung wettbewerbsfähiger und sicherer Verkehrssysteme sowie die Bekämpfung von Steuerbetrug und die Gewährleistung eines fairen und wirksamen Steuersystems. Daneben sollen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie „Start-ups“ speziell gefördert werden. Im Bereich des Umweltschutzes soll auf eine verstärkte Umsetzung der „Agenda 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung“ abgestellt werden. Im Bereich des jährlichen EU-Haushaltsverfahren verpflichten sich die drei Vorsitze, im Hinblick auf den neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für den Zeitraum nach 2020 (2021–2027) enger zusammenzuarbeiten. Hinsichtlich der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wird eine Vertiefung derselben angestrebt, einschließlich verstärkter Bemühungen um die Vollendung der Bankenunion und die Schaffung einer Kapitalmarktunion. 2. Eine Union, die jeden ihrer Bürger befähigt und schützt: In diesem Bereich werden die drei Vorsitze wachsendem Populismus, Rassismus und Hassreden sowie dem wahrgenommenen Wettbewerb zwischen migrationsrelevanten und flüchtlingsbezogenen Prioritäten besondere Aufmerksamkeit widmen, ebenso wie auch der Achtung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten und dem Ausbau der sozialen Dimension, insbesondere in Bezug auf die Vorschläge im Zusammenhang mit der „europäischen Säule für soziale Rechte“. 3. Auf dem Weg zu einer Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimapolitik: In diesem Zusammenhang wird von den drei Vorsitzen über17 Rats-Dok. 9934/17, POLGEN 83.

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einstimmend bekräftigt, dass die Schaffung einer nachhaltigen, effektiven und krisenfesten Energieunion, die durch regionale Zusammenarbeit sowie Diversifizierung der Energiequellen, Lieferanten und Versorgungswege Energieversorgungssicherheit bietet, höchste Priorität für die EU haben muss. Ebenso dringlich ist die endgültige Festlegung der Regeln zur Umsetzung und Nachbereitung des Klimaabkommens von Paris (2015). Dazu kommt die Implementierung der einschlägigen EU-Zielsetzungen bis 2030 – und zwar mit Schwerpunkt auf der Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Emissionshandelssystem der EU (ETS), in den Nicht-ETS-Sektoren und im ETS für den Luftverkehr – und zwar gemäß den Grundsätzen von Fairness, Solidarität und Kostenwirksamkeit. 4. Eine Union der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Zur Bewältigung der neuen Bedrohungen im Bereich der Sicherheit muss die justizielle Zusammenarbeit noch weiter ausgearbeitet werden. Dabei werden Fortschritte bei der Migrationssteuerung, sowohl in ihrer internen als auch in ihrer externen Dimension, auf der Grundlage der „Europäischen Migrationsagenda“, für die drei Vorsitze Priorität haben. Daneben werden die Vorsitze die Arbeiten zur Schaffung einer echten Sicherheitsunion auf der Basis der „Europäischen Sicherheitsagenda“ – mit besonderem Schwerpunkt auf der Verbesserung der Interoperabilität der bestehenden IT-Großsysteme (Eurodac, SIS, VISA-Informationssystem, Europäisches Strafregisterinformationssystem) – verstärken und die Einführung neuer Systeme (Einreise/ Ausreisesystem (ETIAS)), eu-LISA uam fördern. 5. Die Union als starker globaler Akteur: Das internationale Umfeld der EU birgt beträchtliche strategische Herausforderungen für diese. Bedrohungen wie Terrorismus, hybride Kriegsführung, Cyberangriffe, organisierte Kriminalität, gewaltbereiter Extremismus, irreguläre Migration, Menschenhandel uam sollen entschlossener bekämpft werden, und zwar unter umfassender Anerkennung der Führungsrolle der Hohen Vertreterin für die GASP und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Federica Mogherini. Die Vorsitze werden sich dabei an der im Juni 2016 von Mogherini vorgelegten „Globalen EU-Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik“ und ihren fünf prioritären Bereichen – Sicherheit der Union, Widerstandsfähigkeit von Staat und Gesellschaft, integrierter Ansatz zur Bewältigung von Konflikten und Krisen, Zusammenarbeit regionaler Ordnungen und globale Ordnungspolitik für das 21. Jhdt. – orientieren, die dem Europäischen Rat im Juni 2016 vorgelegt wurde. Die Arbeiten zur Umsetzung dieser Globalen Strategie werden dabei einen kohärenten Rahmen für die Außenbeziehungen der EU bieten, einschließlich der Weiterentwicklung der GASP und der GSVP in den kommenden Jahren. Im Einzelnen werden dabei folgende Schwerpunkte im Mittelpunkt stehen: Migrationsfragen, Aufnahme von Ländern des westlichen Balkan, Stabilisierung der europäischen Nachbarschaftspolitik, verstärkte Zusammen-

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arbeit in den Bereichen Wirtschaft und Handel, Entwicklungszusammenarbeit, uam. Das Programm des österreichischen Ratsvorsitzes – im Spiegel der zehn Ratsformationen Das „Programm des österreichischen EU-Ratsvorsitzes“18, das am 6. Juni 2018 in Brüssel präsentiert wurde, erwähnt zunächst kurz die Schwerpunkte desselben, handelt diese in der Folge aber nicht entsprechend inhaltlich ab, sondern ordnet sie systematisch den jeweiligen Tätigkeitsbereichen der zehn Ratsformationen, zu. Damit muss aber zunächst die für den jeweiligen Schwerpunkt „zuständige“ Ratsformation aufgefunden werden, was vor allem bei solchen Materien mit „Querschnittscharakter“ nicht immer leicht fällt und bei sicherheits- und verteidigungspolitischen Agenden überhaupt versagt, da es diesbezüglich ja keine eigene Ratsformation gibt. Die Verteidigungsminister tagen allerdings informell im Schoß des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“, dürfen aber über ihre Beratungsergebnisse nicht offiziell abstimmen, da dies den Außenministern vorbehalten ist. Obwohl immer wieder die Einrichtung einer eigenen Ratsformation der Verteidigungsminister gefordert wird, ist es bis jetzt dazu noch nicht gekommen. Gem. Art. 236 lit. a) AEUV bedürfte es dazu eines Beschlusses des Europäischen Rates mit qualifizierter Mehrheit. Wie bereits das Motto der Ratspräsidentschaft: „Ein Europa, das schützt“, andeutet, geht es Österreich vor allem darum, das Vertrauen in eine EU, die Sicherheit und Frieden gewährleistet, wieder herzustellen, da dieses im Gefolge der vielfältigen Krisenlagen in der EU19, die sich zu einer veritablen „Poly-Krise“ entwickelt haben,20 schwer erschüttert wurde. In diesem Sinne wird der österreichische Ratsvorsitz die effektive Schutzfunktion der EU insbesondere in folgenden drei Schwerpunktbereichen in den Vordergrund stellen: 1) Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration, 2) Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung und 3) Stabilität in der Nachbarschaft – Heranführung des Westbalkans/Südosteuropas an die EU.

18 Wien, Juni 2018; erstellt von der Sektion IV: Task Force EU-Vorsitz im BKA, bebildert, im Umfang von 67 Seiten. 19 Vgl. Hummer, W. Die Europäische Union – ein Sanierungsfall?, in: Halper, D. – Kammel, A. (Hrsg.), FS für Werner Fasslabend (2014), S. 367 ff.; Hummer, W. Von der Krisenbewältigung zur Bestandssicherung der Europäischen Union, EU-Infothek vom 7. März 2017. 20 Vgl. Leitl, C. Ja – wir können Europas Krise überwinden!, Europäische Rundschau 2018/2, S. 24.

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In den einzelnen zehn Ratsformationen werden diese allgemeinen Schwerpunktbereiche wie folgt abgehandelt: 1) Rat Allgemeine Angelegenheiten: Dem Rat Allgemeine Angelegenheiten obliegt es, die politikübergreifende Kohärenz der Arbeiten auf EU-Ebene sicherzustellen. Dementsprechend werden eine Reihe von kontroversiellen Themen abzuhandeln und konsensual zu regeln sein, wie die Frage des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU, wobei der Text des Austrittsvertrags gem. Art. 50 Abs. 2 EUV bis Oktober 2018 ausgehandelt sein muss, damit dieser noch zeitgerecht ratifiziert werden kann; die Gestaltung des zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmens (2021–2027) und die Neuausrichtung der Kohäsionspolitik der EU; die Umsetzung der Empfehlungen zur besseren Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, die von der „Task Force für Subsidiarität, Proportionalität und „Weniger, aber effizienteres Handeln““ vorgelegt wurden;21 die Reform der Europäischen Bürgerinitiative; die Ergreifung von Folgemaßnahmen des informellen Treffens der Staats- und Regierungschefs am 20. September 2018 zu Fragen der inneren Sicherheit und Migration; die Ausrichtung der künftigen Handelspolitik der EU; die Heranführung der sechs Beitrittswerber des Westbalkans (Serbien, Montenegro, Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo) sowie eine Dynamisierung der laufenden Beitrittsverhandlungen mit Serbien und Montenegro;22 die Förderung und Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit („Rule of Law-Dialog“);23 die konkrete Umsetzung der bereits im April 2016 in Kraft getretenen „Interinstitutionellen Vereinbarung über Bessere Rechtsetzung“; die Beschleunigung der Verhandlungen mit der Schweiz über ein institutionelles Rahmenabkommen, das die bisherigen über 120 bilateralen Einzelabkommen („Bilaterale I“ und „Bilaterale II“ sowie eine Fülle weiterer Abkommen)24 ablösen könnte uam. 2) Rat Auswärtige Angelegenheiten: Österreich wird für ein einheitliches Auftreten der EU nach außen eintreten und vor allem die Vorsitzende dieses Rates, die Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, soweit als möglich unterstützen. Im Mittelpunkt ste21 Vgl. dazu Lopatka, R. Die EU und die Mitgliedstaaten: Subsidiarität, Proportionalität. Weniger, aber effizienteres Handeln, AIES-Studies Nr. 7, July 2018, 42 Seiten; für den 15./16. November 2018 ist eine eigene Subsidiaritätskonferenz in Vorarlberg geplant; Böhm, W. Blümel plant Subsidiaritätskonferenz in Bregenz, Die Presse vom 2. Juli 2018, S. 3. 22 Vgl. Hummer, W. Die „Westbalkan-Strategie für eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive“ der Europäischen Kommission, EU-Infothek vom 20. Februar 2018. 23 Vor allem in Bezug auf Polen und Ungarn; vgl. Hummer, W. Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen? Erstmalige Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV wegen „systemischer“ Gefährdung des Rechtsstaatsprinzips durch Polen, EU-Infothek vom 8. Jänner 2018. 24 Vgl. Hummer, W. Die Schweiz am integrationspolitischen Scheideweg – Neuer Bilateralismus, Rahmenabkommen, EWR II oder EU-Beitritt?, in: Schwind/Hoyer/Ofner (Hrsg.), FS 50 Jahre ZfRV (2013), S. 71 ff.

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hen dabei die vielfältigen Herausforderungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).25 In ersterem Bereich, der GASP, wird Österreich der Verbesserung der strategischen Kommunikation der EU auf dem Gebiet des effektiven Multilateralismus in der Internationalen Zusammenarbeit auf der Basis des Völkerrechts (Abrüstung, Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Rüstungskontrolle, Befriedung der Konflikte in der Ukraine, in Syrien, Libyen, Jemen, Libanon, Iran, Israel/Palästina, Nordkorea, Venezuela etc.) besondere Aufmerksamkeit widmen. Dazu kommen noch die externen Aspekte des Flüchtlings- und Migrationsproblems iSe partnerschaftlichen Zusammenarbeit der EU mit den relevanten Herkunfts- und Transitländern uam. In letzterem Bereich, der GSVP, wird sich Österreich verstärkt um die Konsensfindung in folgenden Themen bemühen: Schutz der EU-Außengrenzen; Finanzierung von GSVP-Missionen; Bekämpfung von Radikalisierung, gewaltbereitem Extremismus und organisierter Kriminalität; Ausbau der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO)26 und deren Projekte, an denen Österreich bisher vier Mal beteiligt ist27; Ausbau der Cybersicherheit; Bewältigung hybrider Bedrohungen uam. Weitere wichtige Bereiche stellen die Entwicklungszusammenarbeit und deren Einsatz zur Abwehr illegaler Migration dar. Da das Cotonou-Abkommen mit den AKP-Staaten 2020 ausläuft,28 müssen die Neuverhandlungen dazu aber bereits unter der österreichischen Präsidentschaft beginnen. Im Bereich des Handels muss es zu einem weiteren Ausbau moderner und ausgewogener Freihandels- und Investitionsabkommen sowie zu einem innovativen multilateralen Ansatz im Bereich der Streitaustragung im Rahmen des Investitionsschutzes – unter Beachtung der OECD-Leitsätze für Multinationale Unternehmen – kommen. Daneben gilt es auch, die Kon­ trolle des Handels von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck („dual use“-Güter) zu verbessern. Ganz allgemein soll es aber auch zur Unterstützung der Welthandelsorganisation (WTO) bzw. des GATT kommen, die 25 Vgl. dazu Hummer, W. Sicherheits- und verteidigungspolitische Konzepte der EU im Rahmen der ESVP/GSVP, EU-Infothek vom 17. Oktober 2017 (Teil 1), EU-Infothek vom 18. Oktober 2017 (Teil 2). 26 Vgl. Hummer, W. Die erstmalige Einrichtung einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) im Militärbereich durch 23 Mitgliedstaaten der EU – und zwar unter Teilnahme des dauernd neutralen Österreichs, EU-Infothek vom 27. November 2017. 27 Die vier Projekte sind: Militärische Katastrophenhilfe, Verbesserung der grenzüberschreitenden Militärtransporte, Kompetenzzentrum für EU-Trainingsmissionen und Abwehr von Cyberbedrohungen sowie die Errichtung einer Plattform für Informationsaustausch. 28 Vgl. Hummer, W. EU-AKP-Staaten: Von der Entwicklungshilfe zur Partnerschaft – Von Lomé (1975) über Cotonou (2000) zum neuen Partnerschaftsabkommen (2020), EU-Infothek vom 28. Februar 2018.

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durch die Drohungen des amerikanischen Präsidenten, aus strategischen Sicherheitsüberlegungen von der „stand-still“-Klausel“ abzuweichen und Strafzölle zu verhängen, verunsichert wurden. 3) Rat Wirtschaft und Finanzen: Als Vorsitzland wird Österreich in dieser Ratskonfiguration besonderes Augenmerk auf die Vollendung der Bankenunion sowie die Entwicklung einer Kapitalmarktunion legen. Im Hinblick auf die Bankenunion betrifft dies insbesondere die Einrichtung eines europäischen Einlagensicherungssystems (EDIS) sowie die Einführung einer gemeinsamen Letztsicherung („Backstop“) für den Einheitlichen Abwicklungsfonds durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). In erster Linie wird sich Österreich dabei um eine Einigung zum Bankenpaket („Risk Reduction Measures“) bemühen, das von der Kommission bereits im November 2016 vorgestellt wurde. Daneben muss es aber auch zu einer Verbesserung der Effizienz und Fairness in der Besteuerung kommen. Dementsprechend müssen die öffentlichen Haushalte auch vor schädlichem Steuerwettbewerb, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung geschützt und eine spezielle Besteuerung der digitalen Wirtschaft konzipiert werden. Auch muss es in diesem Zusammenhang zu einer Modernisierung der Mehrwertsteuer kommen. 4) Rat Justiz und Inneres: Im Bereich der Justiz ist der Ausbau der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Strafsachen, als auch in Zivilsachen zur effektiveren Verfolgung und Reglementierung grenzüberschreitender Sachverhalte mehr als notwendig. Was erstere betrifft, so soll die Agentur „Eurojust“ noch schlagkräftiger organisiert und der Rahmenbeschluss zum Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) überarbeitet werden. Zur Bekämpfung der Internetkriminalität sollen die Vorschläge für eine Verordnung über die Europäische Herausgabeanordnung („European Production Order“) und die Europäische Aufbewahrungsanordnung („European Preservation Order“) für elektronische Beweismittel in Strafsachen sowie für eine Richtlinie zur Harmonisierung von Bestimmungen über die Bestellung von rechtlichen Vertretern zum Zweck der Sammlung von Beweismitteln in Strafverfahren vorangetrieben werden. Nicht zuletzt bedarf es aber auch der Ausarbeitung flankierender Maßnahmen zur Vorbereitung der operativen Tätigkeit der „Europäischen Staatsanwaltschaft“29 zur Verfolgung von Straftaten zu Lasten des Haushalts der EU sowie deren Zusammenarbeit mit dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF)30. Hinsichtlich letzterer steht die Vollendung des digitalen Binnenmarkts im Vordergrund, im Zuge dessen die Richtlinienentwürfe über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte sowie auch 29 Vgl. dazu Hummer, W. Die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ als bisher letzter Fall einer „verstärkten Zusammenarbeit“ in der EU, Zeitschrift für Rechtsvergleichung (ZfRV), Heft 1/2018, S. 4 ff. 30 Vgl. dazu COM(2018) 338 final, vom 23. Mai 2018.

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des Warenhandels konkretisiert werden müssen. Des Weiteren sind die Arbeiten an der Revision der Brüssel IIa-Verordnung voranzutreiben, um grenzüberschreitende Scheidungsverfahren oder Sorgerechtsstreitigkeiten effektiver beilegen zu können. Nicht zuletzt muss das eben in Kraft getretene „Datenschutzpaket“, bestehend aus der Datenschutz-Grundverordnung und der Datenschutz-Richtlinie, durch weitere einschlägige Rechtsakte vervollständigt und mit der Datenschutzkonvention des Europarates (1981)31 abgeglichen werden. Was hingegen den Bereich der „inneren Sicherheit“ betrifft, so liegt der Schwerpunkt auf Asyl und Migration (Reform des GEAS, gemeinsame Rückführungspolitik etc.), dem Schutz der Außengrenzen (sowohl durch eine Verstärkung von FRONTEX32 und der Umsetzung der drei Verordnungen zur Verbesserung des SIS sowie die Implementierung der Verordnungen zur Schaffung eines Einreise/Ausreise-Systems (EES) und eines EU-Reiseinformations- und Genehmigungssystem (ETIAS)), dem Kampf gegen Radikalisierung, Terrorismus und organisierte Kriminalität (Weiterentwicklung des EU-Aufklärungsnetzwerkes gegen Radikalisierung (RAN) und besserer Zusammenarbeit der Agenturen im Bereich Justiz und Inneres)33, der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, der digitale Sicherheit, der Ausdehnung der Zusammenarbeit auf der Basis des Prüm-Vertrages auf den Westbalkan sowie der Förderung des Schutzes der europäischen Werte, wie sie in Art. 2 EUV verankert sind. 5) Rat Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz: Diese Ratsformation widmet sich vor allem der Beschäftigung und Sozialpolitik, der Gesundheit und dem Verbraucherschutz sowie der Gleichstellung der Geschlechter. 6) Rat Wettbewerbsfähigkeit: Zur nachhaltigen Sicherung des Wirtschaftsstandorts Europa bedarf es vor allem der Schaffung eines wirtschaftlichen Umfelds, das offen für neue Sektoren ist, innovative Geschäftsmodelle fördert und Forschung und Entwicklung forciert. Daher wird die österreichische Präsidentschaft bemüht sein, KMUs, Start-ups und Scale-ups wettbewerbsfähiger zu machen und das Thema „Künstliche Intelligenz“, als Chance für eine Reindustrialisierung der EU, weiter voranzutreiben. Ebenso sollen auch die Arbeiten zum Einheitspatent definitiv abgeschlossen werden. Da der österreichische Vorsitz Forschung und Innovation als generisches Politikfeld ansieht, das in den Dienst der einzelnen sektoralen Politik31 ETS Nr. 108; in Kraft getreten am 1. Oktober 1985. 32 So soll die bisherige „Mannstärke“ von FRONTEX von 1.340 bis 2020 auf 10.000 Mann verstärkt und auch deren Mandat ausgeweitet werden. Die Kommission wird dazu im September 2018 konkrete Vorschläge vorlegen 33 In diesem Zusammenhang kann die Förderung von Netzwerken zur Kooperation von Polizei und der Bevölkerung („Community Policing“) einen wichtigen Beitrag leisten, wobei der Ratsvorsitz das österreichische Modell „Gemeinsam.Sicher“ in die Diskussion einbringen will.

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bereiche gestellt werden muss, wird die neunte Auflage des 2021 startenden EU-Forschungsrahmenprogramms (FP9) „Horizon Europa“ – des weltweit größten Forschungsförderungsprogramms mit einem Budget von rund 100 Mrd. Euro für die Periode 2021 bis 202734 – besonders intensiv gefördert werden. In diesem Zusammenhang soll auch das 2014 gestartete EU-Projekt „Research Infrastructure for Research and Innovation Policy Studies“ (RISIS) weiterentwickelt und ausgebaut werden. 7) Rat Verkehr, Telekommunikation und Energie: Im Bereich des Verkehrs steht vor allem die Entwicklung moderner Transportsysteme im Land- und Schienenverkehr sowie die Umsetzung der Kommissionsvorschläge über den Markt- und Berufszugang, Lenk- und Ruhezeiten, die Einführung von Tachographen, die Kontrolle der Sozialvorschriften, die Entsendung im Transportsektor und die Anmietung von Fahrzeugen zur Diskussion. Darüber hinaus werden weitere Vorschläge der Kommission bezüglich der Neuregelung der Wegekosten, des elektronischen Mautdienstes (EETS), der Förderung umweltfreundlicher Fahrzeuge und des kombinierten Verkehrs zu erörtern sein. Unter Berücksichtigung der späteren Auslastung des Brennerbasis-Tunnels wird Österreich in diesem Zusammenhang bemüht sein, informelle Aktivitäten für eine Effizienzsteigerung im Schienengüterverkehr setzen. Im Bereich der Telekommunikation beabsichtigt der österreichische Ratsvorsitz, die Arbeiten an der Richtlinie für einen europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation sowie an der Verordnung zur Einrichtung des Gremiums europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) voranzutreiben. Im Bereich der Energie wiederum soll das von der Kommission Ende 2016 vorgelegte Legislativpaket „Saubere Energie für alle Europäer“, das ambitionierte energiepolitische Ziele enthält, die bis 2030 erreicht werden sollen, so weit als möglich umgesetzt werden. 8) Rat Landwirtschaft und Fischerei: Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ist der am längsten und besten integrierte Politikbereich der EU, dessen Weiterentwicklung für die Zeit nach 2020 eine Priorität des österreichischen Ratsvorsitzes darstellt. Die Basis dafür sind die Legislativvorschläge der Kommission, die diese in ihrer Mitteilung „Ernährung und Landwirtschaft der Zukunft“35 vorgestellt hat. Auch müssen diese Maßnahmen mit denen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der VN (FAO) abgestimmt werden. 34 Aus dem aktuellen Förderprogramm „Horizon 2020“ sind bisher 871 Mio. Euro an europäischen Forschungsmitteln nach Österreich geflossen; Horizon 2020. Europäische Erfolgsstory, Austria Innovativ 3–18, S. 38; vgl. auch Krichmayr, K. EU-Rat verhandelt „ehrgeizigstes“ Förderprogramm, Der Standard vom 18. Juli 2018, S. 13.100 35 COM(2017) 713 final, vom 29. November 2017.

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Im Bereich der Gemeinsamen Fischereipolitik müssen sowohl die zulässigen Gesamtfangmengen (TAC) für eine Reihe kommerzieller Fischbestände, als auch die den Mitliedstaaten für 2019 jeweils zuzuweisenden Quoten bestimmt werden und zwar in Bezug auf die Nordsee bzw. den Atlantik, die Ostsee und das Schwarze Meer. 9) Rat Umwelt: Aktiver Klimaschutz ist ein wichtiger Schwerpunkt der Umweltpolitik der EU während des österreichischen Ratsvorsitzes. Dementsprechend wird Österreich bei der 24. Konferenz der Vertragsparteien des Rahmenübereinkommens der VN über Klimaänderungen (COP24) im Dezember 2018 in Kattowitz als Verhandlungsführer der EU die klimapolitischen Interessen Europas vertreten. Durch den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaübereinkommen (2015) sind diesbezüglich ja neue Rahmenbedingungen entstanden. Weitere Schwerpunkte sind die verstärkte Reduktion des CO2-Ausstoßes für PkWs und leichte Nutzfahrzeuge, die Senkung der CO2-Emissionen schwerer Nutzfahrzeuge um 60 Prozent bis 2050, die Senkung der Treibhausgasemissionen – um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 –, die Reduktion von Plastik und Mikroplastik, die Neufassung der Verordnung über persistente organische Schadstoffe (POPs) sowie die Weiterführung der Verhandlungen zum Programm LIFE zur Förderung von Umwelt-, Klima- und nachhaltigen Energieprojekten für die Periode 2021– 2017. 10) Rat Bildung, Jugend, Kultur und Sport: Zentrale Aufgabe dieser Ratsformation wird die Verbesserung der EU-Bildungskooperation mit dem Ziel der Schaffung eines Europäischen Bildungsraumes („European Education Area“) sein. Daneben wird das Nachfolgeprogramm von ERASMUS+ zu verhandeln sein, ebenso wie auch der Kommissionsvorschlag für eine Ratsempfehlung zum Thema „Gegenseitige Anerkennung von Schulund Hochschulabschlüssen und von Studienzeiten im Ausland“. Im Bereich Jugend ist der Vorschlag einer neuen Jugendstrategie für die Periode ab 2019 sowie deren Implementierung zu verhandeln und die Möglichkeit der Inanspruchnahme des „Europäischen Solidaritätskorps“ durch insgesamt 350.000 junge Europäer bis 202736 zu evaluieren. Im Bereich der Kultur wird der Fokus auf der Revision der „Europäischen Kulturagenda“ (2007) und der Verabschiedung eines neuen Arbeitsplans für Kultur ab 2019 liegen, in dem des Sports sollen vor allem die vielfältigen volkswirtschaftlichen – einschließlich der regionalökonomischen Dimensionen – und gesundheitspolitischen Aspekte desselben näher diskutiert werden.

36 Dazu hat die Kommission die Aufstockung des Budgets des „Europäischen Solidaritätskorps“ um 1,26 Mrd. Euro vorgeschlagen; https://ec.europa.eu/germany/news/ solidaritaetskorps20180611_de

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Schlussbemerkungen Lässt man die Fülle der anstehenden Problemlagen Revue passieren, wird sofort ersichtlich, dass sich der österreichische Vorsitz nicht allen in der gleichen Intensität widmen kann. Von den sieben zentralen Themenstellungen für den österreichischen Ratsvorsitz, wie den Brexit, das Mehrjahresbudget, die Zukunft der Landwirtschaft und der regionalen Entwicklung, die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, das Migrationspaket, die Westbalkan-Erweiterungsstrategie und die vertiefte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik37 hat, wie vorstehend erwähnt, BK Sebastian Kurz vor allem drei Bereiche für prioritär erklärt: Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration; Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung und Stabilität in der Nachbarschaft durch Heranführung des Westbalkans/Südosteuropas an die EU. Vor allem die besondere Betonung der Abwehr illegaler Asylanten und Migranten sowie des dafür erforderlichen verstärkten Schutzes der Außengrenzen hat dabei zu Kritik und Zweifel an der Vermittlerrolle und Brückenbaufunktion Österreichs geführt, vor allem im Lager der Nichtregierungsorganisationen (NROs/ NGOs).38 Auch ein weiterer Umstand gibt in diesem Zusammenhang zu denken. Als BK Kurz am 3. Juli 2018 im Plenarsaal des Europäischen Parlaments (EP) den EU-Abgeordneten die Prioritäten der österreichischen „EU-Präsidentschaft“ erklären wollte, blickte er in einen gähnend leeren Saal, in dem sich lediglich ein kleines Häuflein von Mandataren aufhielt,39 was man eigentlich nur als veritablen Eklat bezeichnen kann. Die österreichische Bundesregierung darf aber auch die innenpolitische Wirkung der „EU-Präsidentschaft“ nicht überschätzen, wie das Beispiel der beiden früheren Vorsitze nachdrücklich belegt hat. Wie immer die Ausrichtung und Bewertung der österreichischen „EU-Präsidentschaft“ auch verlaufen möge, so darf die aktuelle Bundesregierung das Schicksal ihrer einschlägigen Vorgängerregierungen nicht vergessen – einen „Präsidentschaftsbonus“ gab es innenpolitisch diesbezüglich nicht. Sowohl BK Viktor Klima, der 1998 den Vorsitz im Rat innehatte, als auch BK Wolfgang Schüssel, der 2006 diese Funktion wahrnahm, unterlagen in den anschließenden Nationalrats-Wahlen ihren jeweiligen Herausforderern: Viktor Klima wurde 2000 durch Wolfgang Schüssel und dieser wiederum 2007 durch Alfred Gusenbauer abgelöst.

37 Vgl. Karas, O. Österreich in der EU: Motor oder Bremsklotz?, Europäische Rundschau 2018/2, S. 21. 38 Woollard, C. Österreich: Wenn aus guten Ländern böse werden, Der Standard vom 14./15. Juli 2018, S. 42. 39 Seifert, T. Rede vor einem fast leeren Plenarsaal, Wiener Zeitung vom 4. Juli 2018, S. 5.

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Offensichtlich sind die Meriten, die sich diese beiden Regierungschefs in ihrer Vorsitzführung im Rat erworben haben, im Gefolge der innenpolitischen Grabenkämpfe vor den Neuwahlen völlig untergegangen und von der österreichischen Wählerschaft nicht entsprechend honoriert worden. Die internationale Ausrichtung einer „EU-Präsidentschaft“ und deren „Abgehobenheit“ von tagesaktuellen Problemen40 führt eben zwangsläufig zu einer gewissen „Vernachlässigung“ der heimischen politischen Klientel und den damit verbundenen innenpolitischen Konsequenzen.41 Diese historische Reminiszenz sollte auch der aktuellen Bundesregierung, und vor allem BK Kurz, zu denken geben. Quelle: EU-Infothek vom 30. Juli 2018, S. 1 – 11 (Artikel Nr. 4)

40 Ein schönes Beispiel dafür lieferte der Umstand, dass sich zB BK Kurz beharrlich weigerte, die „unflätigen“ (Originalton Bundespräsident Alexander Van der Bellen) und absolut kontraproduktiven Anschuldigungen Harald Vilimsky’s gegen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wegen dessen angeblicher Trunksucht, zu kommentieren bzw. zurückzuweisen. 41 Vgl. Koller, A. Was von den österreichischen Präsidentschaften blieb, Salzburger Nachrichten vom 30. Juni 2018, S. 3.

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Konkrete Fälle von „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung

5. Konkrete Fälle von „Gold-Plating“ in der österreichischen Rechtsordnung Handlungsempfehlungen 1. Als einer der größten Verursacher von „Gold-Plating“ soll Österreich seine „überschießende“ Umsetzung von Unionsrecht in der nationalen Rechtsordnung überdenken und entsprechend reduzieren, um damit die Wirtschaft und die Verwaltung zu entlasten. 2. Bei der Reduzierung seiner „Überregulierung“ muss Österreich aber genau darauf achten, dass es dabei zu keinem „race to the bottom“ iSe Absenkung höherer Sozialstandards auf das niedrigere Niveau anderer EU-Mitgliedstaaten kommt. 3. Der bisher einzigen wissenschaftlichen Studie, die 2018 im Auftrag der WKO Steiermark von der Universität Graz über „Gold Plating im Wirtschafts- und Umweltrecht“ erstellt wurde, müssen unbedingt weitere Arbeiten auf verwandten Gebieten folgen, um das Phänomen des „Gold-Plating“ in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Zusammenfassung Obwohl Österreich von Kennern der Materie als „Musterschüler“ in Sachen „Übererfüllung“ von EU-Vorgaben bezeichnet wurde, existierte bis vor kurzem keine einzige Studie, die diese Aussage wissenschaftlich belegt hätte. Erst die von der WKO Steiermark beim Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz in Auftrag gegebene Studie, die im April 2018 als Sonderausgabe der „Wirtschaftspolitischen Blätter“ in Form eines Sammelbandes publiziert wurde, verifiziert diese Annahme. In den meisten der neun Einzelstudien, vom UVP-Verfahren bis hin zu Abfall-, Vergabe-, Wasser- und Industrieemissionsrecht, uam., kommen die jeweiligen Autoren zu der Schlussfolgerung, dass es sich dabei um veritables „Gold-Plating“ handelt. Einführung Unter einem „Gold-Plating“ („Vergolden“) versteht man grundsätzlich eine „Übererfüllung“ von EU-Richtlinienvorgaben durch einzelne Mitgliedstaaten, die in den unterschiedlichsten Formen auftreten kann. Zum einen kann dabei der sachliche Anwendungsbereich der nationalen Umsetzungsregelung über den in der Richtlinie vorgesehenen Bereich hinaus inhaltlich ausgedehnt bzw. weitere bürokratische Anforderungen vorgesehen werden. Zum anderen können strengere Sanktionen, als in der Richtlinie festgelegt sind, verhängt bzw. dort vorgesehene zulässige Ausnahmen – sog. „Öffnungsklauseln“ – nicht in Anspruch genommen werden. Von einem „GoldPlating“ kann aber auch schon dann gesprochen werden, wenn von den in

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einer Richtlinie zur Wahl gestellten Umsetzungsoptionen bewusst die strengere Variante gewählt wird bzw. die Umsetzung der nationalen Bestimmungen zu einem früheren Zeitpunkt erfolgt, als in der Richtlinie selbst vorgesehen ist, uam. Die Liste der einzelnen Varianten von „Gold-Plating“ ließe sich beliebig fortsetzen.1 Ebenso vielfältig ist aber auch die Motivation des nationalen Gesetzgebers für eine „überschießende“ Umsetzung von Richtlinien sowie deren damit – bewusst oder unbewusst – einhergehende Konsequenzen auf der wirtschafts- und sozialpolitischen Ebene. Für den einen Sozialpartner stellt die „Überregulierung“ eine willkommene Reglementierung eines bisher nicht ausreichend geregelten Sachbereichs, für den anderen aber eine „überbordende Bürokratie“ dar, die nicht nur die Verwaltung unnötig belastet, sondern unter Umständen auch sozialpolitische Errungenschaften abschwächt bzw ganz in Frage stellt. Im Umfeld der Sozialpartner wird seitens der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) und der Vereinigung Österreichischer Industrieller (VÖI) „Gold-Plating“ eher negativ eingeschätzt und kritisiert,2 wohingegen die Arbeiterkammer (AK) in einer ungeprüften Eliminierung des „Gold-Plating“ eine Verschlechterung des in Österreich vergleichsweise hohen Arbeitnehmerschutzes fürchtet. Drastisch drückte diesen Umstand die AKPräsidentin Renate Anderl mit folgenden Worten aus: „Wenn es um die Rechte der Arbeitnehmer geht, wollen wir Gold und nicht Blech“.3 „Gold-Plating“ im Kontext von Rechtsbereinigung und Deregulierung Das komplexe Phänomen des „Gold-Plating“ war der österreichischen Bundesregierung bereits seit längerem bekannt, enthielt doch bereits das Regierungsprogramm 2001 zum einen die Feststellung, „dass bei der Umsetzung von EU-Richtlinien Normen, die über die Umsetzung hinausgehen, besonders dargestellt werden sollen“4 und postulierte zum anderen 1 Vgl. dazu Hummer, W. Was versteht man eigentlich unter „Gold-Plating“ und ­warum wird es von der österreichischen Bundesregierung bekämpft? Die „Übererfüllung“ von Richtlinien-Vorgaben als komplexes Problem, EU-Infothek vom 28. Mai 2018; vgl. dazu Art. Nr. 2, vorstehend auf S. 66 f. 2 Vgl. „Gold Plating“ ist Wettbewerbsnachteil für heimische Unternehmen und Beschäftigte; https://www.iv.at/de/themen/finanzpolitik-recht/2018/gold-plating-istwettbewerbsnac... 3 Gold Plating: Betriebe wollen 200 Vorschriften loswerden; https://kurier.at/wirt schaft/gold-plating-betriebe-wollen-200-vorschriften-loswerden/400035841; vgl. Klare Absage an Gold Plating bei Arbeits- und Sozialrechten; https://www.oegb.at/ cms/S06/S06_0.a/1342592293924/home/klare-absage-an-gold-pl...; WWF zur GoldPlating-Debatte: Schutzstandards erhöhen statt senken; https://www.boerse-ex press.com/news/articles/wwf-zur-gold-plating-debatte-schutzst... 4 Regierungsprogramm (2001), Kap. „Leistungsfähiger Staat“ (Abschnitt 8).

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erstmals ein Verbot des „Gold-Plating“ iSd Schaffung strengerer Regelungen bei der Umsetzung einer EG-Richtlinie als von dieser selbst gefordert wird.5 Rechtliche bzw. politische Konsequenzen bezüglich eines solchen „Gold-Plating“ waren im Regierungsprogramm 2001 allerdings nicht vorgesehen. Im Gegensatz dazu wird das „Gold-Plating“ im Regierungsprogramm der aktuellen schwarz-blauen Bundesregierung von 20176 entsprechend instrumentalisiert, in dem es an insgesamt neun Stellen – vor allem im Bereich des Arbeits- und Umweltrechts, aber auch im Kapitalmarktrecht, im Banken- und Versicherungsrecht, im Steuerrecht, im Landwirtschaftsrecht sowie im Verwaltungsrecht – (negativ) angesprochen wird. Ganz allgemein wird das Phänomen des „Gold-Plating“ aber im Rahmen der Bemühungen der gegenwärtigen Bundesregierung um Rechtsbereinigung bzw. Deregulierung behandelt. Was die Rechtsbereinigung betrifft, so ist diesbezüglich neben dem Ersten (1999)7 vor allem das Zweite Bundesrechtsbereinigungsgesetz (2018)8 zu erwähnen, aufgrund dessen alle einfachen Bundesgesetze und Verordnungen von Bundesbehörden, die vor dem 1. Jänner 2000 kundgemacht wurden, mit 31. Dezember 2018 außer Kraft treten, soweit sie nicht in dessen Anlage in einer „Positiv-Liste“ als weitergeltend aufgeführt werden. In den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen insgesamt rund 5.000 Rechtsvorschriften, von denen rund 2.500 außer Kraft treten, was einer Bereinigungsquote von 50 Prozent entspricht. Von den insgesamt rund 1.600 Bundesgesetzen werden mehr als 600 gestrichen (rund 40 Prozent) sowie 1.800 von 3.400 Verordnungen (rund 55 Prozent) eliminiert.9 In einem weiteren Schritt werden dann diejenigen Bestimmungen beseitigt, die EU-Richtlinien unnötigerweise „übererfüllen“ und damit „Gold-Plating“ darstellen. Diesbezüglich konnten sowohl Ministerien, als auch Interessensvertretungen dem Bundesministerium für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz (BMVRDJ) bis zum 15. Mai 2018 (vertraulich) einmelden, wo es ihres Erachtens solche Fälle von „Gold-Plating“ gibt. Österreichweit gingen bis zu dieser Fallfrist 489 Beispiele von „Gold-Plating“ ein,10 von denen die 5 Vgl. Streissler, C. Scheingefechte um „Gold Plating“, Wirtschaft & Umwelt, Nr. 1/2018, S. 14. 6 Österreichische Bundesregierung, Zusammen. Für unser Österreich. Regierungsprogramm 2017–2022 (2017). 7 BGBl. I 191/1999. 8 BGBl. I 61/2018. 9 Zweites Bundesrechtsbereinigungsgesetz – 2. BRBG, 42/ME XXVI.GP – Ministerialentwurf – Kurzinformation; vgl. Regierung streicht gut ein Drittel der Gesetze, https://www.nachrichten.at/nachrichten/politik/innenpolitik/Regierung-streichtgut-ein… 10 Urlaub und Mindestlohn: Wirbel um „Gold Plating“-Liste; https://www.msn.com/ de-at/nachrichten/other/urlaub-und-mindestlohn-wirbel-um-gol...; vgl. auch Del-

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WKO, neben der VÖI, mit über 200 Fällen den weitaus überwiegenden Teil einmeldete.11 Im BMVRDJ werden die einzelnen Vorschläge mit einem eigenen „Ampelsystem“ wie folgt klassifiziert: rot markierte Vorschläge werden nicht umgesetzt, gelbe werden näher geprüft und grüne sollen sofort umgesetzt werden. Was hingegen die Deregulierung betrifft, so waren es die beiden Deregulierungsgesetze, die sich direkt bzw. indirekt auch auf Fälle von „Gold-Plating“ bezogen. Wenngleich bereits das Deregulierungsgesetz (2001)12 erste Ansätze für eine Vermeidung überschießender Regelungen iSe Unterlassung grundloser „Gold-Plating“-Aktivitäten enthielt, war es aber erst seiner Nachfolgeregelung, nämlich dem Deregulierungsgrundsätzegesetz (2017)13 vorbehalten, in diesem Zusammenhang eine entsprechende Grundsatzregelung zu treffen. Im Gegensatz zum bisherigen Deregulierungsgesetz (2001) soll dabei die Hintanhaltung eines „Gold-Plating“ aber nicht nur bei der Umsetzung von Richtlinien, sondern generell bei der Umsetzung von Unionsrecht an sich, also etwa auch bei der Erlassung von Begleitregelungen zu Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates sowie solcher des Rates, zur Anwendung kommen. Forschungsprojekt der WKO Steiermark und des Instituts für ­Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz Die vorstehend angeführten knapp 500 Einmeldungen – vor allem der Sozialpartner, aber auch von anderen Wirtschaftstreibenden und öffentlichen Institutionen – von „in praxi“ erkannten Fällen von „überschießender Umsetzung“ unionsrechtlicher Vorgaben in der österreichischen Rechtsordnung, die beim BMVRDJ eingingen, decken beinahe alle Bereiche des Wirtschaftslebens ab und entziehen sich daher einer detaillierten Systematisierung und Aufarbeitung. Trotzdem lag die Versuchung nahe, zumindest schwerpunktmäßig eine systematische Darstellung der Auswirkungen von „Gold-Plating“ in ausgewählten Materien vorzunehmen.

cheva, M. Das Gold blättert ab, Wiener Zeitung vom 11. Juli 2018, S. 8, die von 498 Rückmeldungen berichtet; Politik-Hickhack um Gold Plating, Die Presse vom 11. Juli 2018, S. 14.; vgl. Gesetze übererfüllt. Kampf gegen das „Gold Plating“, Wirtschaftsnachrichten 7–8/2018, S. 18. 11 Vgl. Rücknahme der Übererfüllung von Unionsrecht („Gold Plating“), Anhang des Schreibens des Präsidiums der WKO Tirol an die WKO Wien (Rp 1570/18/TK/SL) vom 15. März 2017; Deregulierungsoffensive: WKÖ übermittelt rund 200 Gold Plating Beispiele; https://news.wko.at/news/oesterreich/Deregulierungsoffensive:WKOe-uebermittelt-rund-200-G... 12 BGBl. I 151/2001. 13 BGBl. I 45/2017.

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Zu diesem Zweck initiierte die WKO Steiermark mit der Universität Graz14, ein Forschungsprojekt, im Zuge dessen zumindest einzelne Materien des Wirtschafts- und Umweltrechts auf das Vorhandensein von „GoldPlating“ untersucht werden sollten. Damit sollte das Phänomen des „GoldPlating“ erstmals in Österreich auf akademischem Niveau abgehandelt werden, wenngleich auch nur auf einigen (wichtigen) Teilgebieten. Vorweg kann aber bereits festgestellt werden, dass es kaum einen Bereich des Wirtschaftsund Umweltrechts gibt, in dem kein „Gold-Plating“ vorliegt. Gemäß der Projektleiterin vom Institut für Wirtschafts- und Standortentwicklung (IWS) der WKO Steiermark, Mag. Birgit Tockner, wurden insgesamt neun Themenkomplexe im Rahmen des Forschungsprojekts über „Gold Plating im Wirtschafts- und Umweltrecht“ untersucht und in der Folge auch in einer Sonderausgabe 2018 der „Wirtschaftspolitischen Blätter“15 in Form folgender Artikel veröffentlicht: – The Golden Touch: Compliance of Over-Implementation of EU Environmental Measures with EU Law; – Gold-Plating in der Praxis: Vier Mitgliedstaaten auf dem „Plastiksackerl-Prüfstand“; – Die Umsetzung der Abfallrahmenrichtlinie im nationalen Recht; – Gold Plating im UVP-G; – Schutz von Fließgewässern durch wasserwirtschaftliche Regionalprogramme – Innerstaatliche Umsetzung von Unionsvorschriften im Wasserrecht; – Die Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie in das Österreichische Recht – Vergleich ausgewählter Themen der Umsetzung mit den unionsrechtlichen Vorgaben; – Gebiets- und Artenschutz – Übererfüllung oder Notwendigkeit? – Eine Untersuchung anhand des Steiermärkischen Naturschutzgesetzes 2017; – Ökologische Beschaffung: Das Bestbieterprinzip zwischen Chance und Risiko; und – Strategische Maßnahmen zur Energieeinsparung – mit „Informieren, Fördern und Fordern“ zum Ziel? Bedauerlicherweise konnte aus Zeitgründen der grundlegende Beitrag der ursprünglichen Projektleiterin Miriam Karl über den innerstaatlichen Rechtsrahmen zum „Gold-Plating“ im Allgemeinen (Deregulierungsgrundsätzegesetz uam.) in diesen Sammelband nicht aufgenommen werden, sodass den neun speziellen Themenkomplexen keine allgemeine Einführung vorangestellt werden konnte. Die einzelnen Materien sind aber ambitioniert 14 Konkret mit dem Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft/Arbeitsbereich Univ.-Prof. MMag. Dr. Eva Schulev-Steindl, LL. M., Mitarbeiterin: Mag. Miriam Karl. 15 Manz, April 2018, 141 Seiten.

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und sachverständig aufbereitet und vermitteln so einen guten Überblick über zentrale Rechtsbereiche, wie zB UVP-Verfahren bis hin zu Abfall-, Vergabe-, Wasser- und Industrieemissionsrecht uam. Was die Autorenschaft dieses Sammelbandes betrifft, so stellt sie eine gelungene Mischung aus Theoretikern und Praktikern dar, die die jeweiligen komplexen Problemlagen anschaulich darstellen. Schlussbetrachtungen Bedenkt man, dass gegenwärtig 110.000 Gesetze und Verordnungen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene unseren Alltag bis ins letzte Detail regeln,16 dann erscheint es kaum nachvollziehbar, dass es dabei in Österreich immer wieder zu Fällen von „Gold-Plating“ kommt – und zwar geradezu regelhaft. In der einschlägigen Literatur wird diese Überregulierung auch wie folgt kommentiert: „Österreich hat in der Vergangenheit immer wieder als Umsetzungs-Musterschüler in der EU agiert und Fleißaufgaben bei der Transformation europäischer Vorgaben gezeigt“.17 Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema in Form des gegenständlichen Sammelbandes belegt diesen Befund nachdrücklich, stellt doch der Präsident der WKO Steiermark, Josef Herk, resumierend dazu fest: „Sämtliche untersuchten Bereiche sind national strenger umgesetzt als von der EU indiziert“. Die Untersuchung belege damit die Detailverliebtheit des nationalen Gesetzgebers und seiner Vollzugsbehörden. Herk schließt dementsprechend seine Betrachtungen mit der Bemerkung: „Hier müssen wir dringend eine Trendumkehr einleiten“.18 Dafür bedarf es aber weiterer Arbeiten auf verwandten Gebieten, um das Phänomen des „Gold-Plating“ in seiner gesamten Dimension zu erfassen. Quelle: ÖGfE, Policy Brief 21‘2018 vom 19. August 2018, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 5) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 2, vorstehend auf S. 66 ff.

16 Gold Plating: Nationaler Übereifer kostet extra; https://news.wko.at/news/steiermark/gold-plating-nationaler-uebereifer.html 17 Deregulierungsoffensive: WKÖ übermittelt rund 200 Gold Plating Beispiele (Fn. 11). 18 Gold Plating: Nationaler Übereifer kostet extra (Fn. 16).

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6. Aktualisierung der „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) gegen die extraterritorialen US-Sanktionen gegen den Iran (2018) Aktivierung des Schutzmechanismus für Wirtschaftstreibende aus der EU, um damit Schadensersatzforderungen geltend zu machen Am 7. August 2018 trat die aktualisierte „Blocking-Verordnung“ des Rates in Kraft, mittels derer die Auswirkungen der wiedereingeführten US-Sanktionen gegen den Iran auf die wirtschaftlichen Interessen von EU-Unternehmen abgemildert bzw. kompensiert werden sollen. Ursprünglich dafür gedacht, die extraterritoriale Geltungserstreckung von Urteilen amerikanischer Gerichte zur Kompensation kubanischer Verstaatlichungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten der EU zu konterkarieren, wurde die dazu 1996 erlassene „Blocking-Verordnung“ des Rates entsprechend novelliert und nunmehr gegen die extraterritorialen Sanktionen der USA in Bezug auf den Iran und deren (negative) Auswirkungen auf die Geschäftstätigkeit von Unternehmen aus der EU angewendet. Obwohl diese Reaktionsmöglichkeit der EU auf extraterritoriale Sanktionen der USA bereits seit über 20 Jahren besteht, ist sie kaum bekannt und soll daher nachstehend kurz dargestellt werden. Die „Blocking-Verordnung“ der EU gegen die Umsetzung US-amerikanischer extraterritorialer Justizakte (1996) Nach der Machtübernahme Fidel Castros in Kuba im Jahre 1959, und der darauf folgenden Enteignungsmaßnahmen amerikanischen Privateigentums in Kuba, verhängten sowohl die USA im Jahre 1962 ein bilaterales als auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 1964 ein multilaterales Embargo gegen Kuba. Im Gegensatz zur OAS, die ihr Embargo 1975 aber wieder zurücknahm, hielten die USA ihr Embargo nicht nur weiter aufrecht, sondern verschärften es 1992 noch mit dem so genannten „Torricelli Act“ und 1996 durch den Erlass des „Helms-Burton Act“, aufgrund dessen jedweder Rechtserwerb an ehemaligem amerikanischen Eigentum in Kuba, das durch Castro 1962 konfisziert wurde, durch Dritte von amerikanischen Gerichten als „bösgläubig“ zu qualifizieren war.1 Damit wurde der durch die Regierung Castro enteignete amerikanische Staatsbürger durch Richterspruch in den USA wieder in den Besitz seines Eigentums restituiert und – durch den extraterritorialen Geltungsanspruch dieser Judikatur – der (vermeintlich) gutgläubige europäischer Käufer disqualifiziert. 1 Hummer, W. Internationale nichtstaatliche Organisationen im Zeitalter der Globalisierung, in: Dicke ua (Hrsg.), Völkerrecht und IPR in einem sich globalisierenden internationalen System (2000), S. 61 ff.

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Vor allem die EU protestierte heftig gegen diese extraterritoriale Geltungserstreckung des amerikanischen (Privat-)Rechts und der Rat erließ als Retorsion darauf am 22. November 1996 die Verordnung (EG) Nr. 2271/96 zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen2, mittels derer die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, solchen Urteilen amerikanischer Gerichte in der EU die Gefolgschaft zu verweigern.3 Das „Blockade-Statut“ galt für alle in seinem Anhang genannten extraterritorialen Rechtsvorschriften der USA und untersagte in der EU ansässigen Personen und Unternehmen (sog. „Wirtschaftsteilnehmer“), die dort angeführten extraterritorialen Rechtsvorschriften zu befolgen – es sei denn, dass ihnen das von der Europäischen Kommission ausnahmsweise gestattet wurde – und räumte ihnen für den Fall, dass sie durch die genannten Rechtsvorschriften Schaden erleiden, die Möglichkeit ein, von den verursachenden Personen oder Unternehmen eine Entschädigung zu verlangen. Außerdem wurden Urteile ausländischer Gerichte, die zur Durchsetzung der Sanktionen ergangen sind, in der EU nicht anerkannt. Mit dieser „Blocking-Verordnung“ versagte die EU den US-amerikanischen Rechtsakten, die durch ihre extraterritoriale Anwendung das Völkerrecht verletzten, ihre Vollstreckung in den Mitgliedstaaten der EU, obwohl diese durchgehend aufrechte Rechtshilfeübereinkommen mit den USA abgeschlossen hatten, die unter anderem auch die Exekution von Urteilen amerikanischer Gerichte vorsahen. Für diejenigen wirtschaftlichen Interessen von EU-Unternehmen oder Unionsbürgern, die durch die Verordnung (EG) Nr. 2271/96 nicht geschützt werden konnten, nahm der Rat zusätzlich die Gemeinsame Aktion 96/668/GASP vom 22. November 1996 betreffend Maßnahmen zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlasssener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen4 an, um damit sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten der EU die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz derjenigen natürlichen und juristischen Personen ergreifen, deren Interessen durch die extraterritorialen amerikanischen Bestimmungen beeinträchtigt werden.

2 ABl. 1996, L 309, S. 1 ff. 3 Vgl. dazu Hummer, W. Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Kuba, Wiener Zeitung vom 5. September 2008, S. 11. 4 ABl. 1996, L 309, S. 7 ff.

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Die Aktualisierung der „Blocking-Verordnung“ (1996) durch die delegierte Verordnung (EU) 2018/1100 der Kommission vom 6. Juni 2018 gegen den Iran Im Gefolge des Gemeinsamen Standpunkts 2007/140/GASP des Rates über restriktive Maßnahmen gegen Iran,5 durch den die Resolution 1737 (2006) des Sicherheitsrates (SR) der Vereinten Nationen (VN) umgesetzt wurde, ergingen eine Reihe weiterer Gemeinsamer Standpunkte bzw. Beschlüsse und Verordnungen des Rates zur Umsetzung zusätzlicher Sanktionen, die durch den SR der VN wegen des Atomprogramms des Iran angeordnet worden waren. Nachdem sich aber am 14. Juli 2015 in Wien der Iran einerseits und China, Frankreich, Deutschland, die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich und die USA – die dabei von der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik unterstützt wurden – andererseits auf einen „Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan“ („Joint Comprehensive Plan of Action“ (JCPOA), sog. „Atomabkommen“), geeinigt hatten, kam es zu einer Lockerung des Sanktionsregimes der EU gegen den Iran. In der Folge billigte der SR der VN am 20. Juli 2015 durch seine Res. 2231 (2015)6 den JCPOA und forderte nachdrücklich zu dessen vollständiger Umsetzung entsprechend dem darin festgelegten Fahrplan auf. In dieser Resolution des SR der VN ist vorgesehen, dass dann, wenn die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) verifiziert hat, dass der Iran seine im JCPOA niedergelegten Zusagen betreffend den Nuklearbereich erfüllt hat, die Sanktionsbestimmungen aller Resolutionen des SR der VN aufzuheben sind. Parallel dazu nahm der Rat am 18. Oktober 2015 den Beschluss (GASP) 2015/18637 an, durch den zeitgleich mit der von der IAEO verifizierten Durchführung der vereinbarten Maßnahmen im Nuklearbereich durch den Iran alle wirtschaftlichen und finanziellen Nuklearsanktionen der Union ebenfalls aufgehoben werden. Zuletzt wurde durch den Beschluss (GASP) 2016/37 des Rates vom 16. Januar 20168 der genaue Zeitpunkt für die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran mit dem 16. Jänner 2016 festgelegt. Konkreter Anlass für die Aktualisierung des „Blockade-Statuts“ der EU war diesbezüglich die überraschende Ankündigung des amerikanischen Präsidenten, sich aus dem JCPOA zurückziehen zu wollen, da es sich dabei um einen der schlechtesten Verträge handle, der von den Vereinigten Staaten je abgeschlossen wurde. Am 8. Mai 2018 erklärte Donald Trump die Beteiligung der USA am JCPOA für beendet und kündigte an, sämtliche auf dessen Grundlage aufgehobenen Sanktionen wieder in Kraft zu setzen. Die re5 ABl. 2007, L 61, S. 49 ff. 6 S/RES/2231 (2015); das „Atomabkommen“ ist dieser Res. des VN als Anlage A (S/2015/544) angefügt. 7 ABl. 2015, L 274, S. 174 ff. 8 ABl. 2016, L 11, S. 1 f.

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aktivierten Sanktionen sollen nach einer gewissen Frist, die im Falle einiger Sanktionen 90 Tage und bei den übrigen Sanktionen 180 Tage beträgt, wirksam werden. Dementsprechend traten, nach einer Übergangsperiode von 90 Tagen, die am 6. August 2018 endete, folgende amerikanischen Sanktionen gegen den Iran wieder in Kraft: – Sanktionen gegen den Kauf oder den Erwerb von US-Dollar-Banknoten durch die iranische Regierung; – Sanktionen gegen Irans Handel mit Gold oder Edelmetallen; – Sanktionen gegen den direkten oder indirekten Verkauf, die Lieferung oder den Transfer in den oder aus dem Iran von Grafit, rohen oder halbfertigen Metallen, wie Aluminium oder Stahl, Kohle und Software zur Integration industrieller Prozesse; – Sanktionen gegen bedeutende Transaktionen im Zusammenhang mit dem Kauf oder dem Verkauf iranischer Rial oder der Aufrechterhaltung bedeutender Gelder oder Konten in iranischen Rial außerhalb des iranischen Hoheitsgebiets; – Sanktionen gegen den Kauf, den Bezug oder die Ausgabe iranischer Staatsanleihen; und – Sanktionen gegen Irans Automobilsektor. Darüber hinaus widerrief die amerikanische Regierung, und zwar nach dem Stichtag, dem 6. August 2018, die mit dem JCPOA verbunden gewesenen Genehmigungen für folgende wirtschaftliche Aktivitäten: – Die Einfuhr von Teppichen und Lebensmitteln iranischer Herkunft in die USA und bestimmte, damit zusammenhängende, Finanztransaktionen; – Tätigkeiten im Zusammenhang mit spezifischen Lizenzen, die in Verbindung mit der Ausfuhr oder Wiederausfuhr von kommerziellen Passagierflugzeugen und zugehörigen Teilen und Dienstleistungen aus den USA in den Iran erteilt wurden, uam. Nach einer Übergangsperiode von 180 Tagen, die am 4. November 2018 endet, treten dann folgende weitere Sanktionen wieder in Kraft: – Sanktionen gegen die iranischen Hafenbetreiber sowie den Schifffahrts- und Schiffbausektor, einschließlich der Islamic Republic of Iran Shipping Lines (IRISL), der South Shipping Line Iran und ihrer Tochtergesellschaften; – Sanktionen gegen Transaktionen in Zusammenhang mit Erdöl, ua mit der National Iranian Oil Company (NIOC), der Naftiran Intertrade Company (NICO) und der National Iranian Tanker Company (NITC), einschließlich des Ankaufs von Erdöl, Erdölprodukten oder petrochemischen Produkten aus dem Iran; – Sanktionen gegen Transaktionen von ausländischen Finanzinstituten mit der iranischen Zentralbank und bestimmten iranischen Finanzinstituten;

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– Sanktionen gegen die Bereitstellung von spezialisierten Finanztransaktionsdiensten für die iranische Zentralbank und iranische Finanzinstitute; – Sanktionen gegen die Bereitstellung von Versicherungsleistungen, Versicherungen oder Rückversicherungen; und – Sanktionen gegen Irans Energiesektor.9 Gegen die Effekte dieser US-Sanktionen auf die Rechtsstellung natürlicher und juristischer Personen in der EU machte diese mit einer Aktualisierung der „Blockade-Verordnung“ (1996) mobil. Rechtstechnisch erfolgte die Adaptierung der „Blockade-Verordnung“ in Form einer delegierten Verordnung der Kommission, die von dieser am 6. Juni 2018 angenommen wurde10 und gegen die weder der Rat noch das Europäische Parlament innerhalb der vorgesehenen (zweimonatigen) Frist Einspruch erhoben.11 Dementsprechend wurde die delegierte Verordnung (EU) 2018/1100 der Kommission am 7. August 2018 veröffentlicht12 und trat am selben Tag in Kraft. Im Anhang dieser delegierten Verordnung wurde eine Liste aller extraterritorialen US-Sanktionen gegen den Iran aufgenommen und diese damit in den sachlichen Anwendungsbereich des „Blockade-Statuts“ einbezogen. Die zentrale Bestimmung des „Blockade-Statuts“ ist allerdings die Regelung, dass keine Verurteilung und keine Entscheidung einer US-amerikanischen Behörde anerkannt wird und damit auch nicht vollstreckbar ist. Dem „Blockade-Statut“ zufolge haben Wirtschaftsteilnehmer aus der EU „Anspruch auf Ersatz aller Schäden, einschließlich von Rechtskosten, die ihnen aufgrund der Anwendung der im Anhang aufgeführten Gesetze oder der darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen entstanden sind“. Der Schadensersatz ist dabei „von der natürlichen oder juristischen Person oder sonstigen Stelle, die den Schaden verursacht hat, oder von der Person, die in deren Auftrag handelt oder als Vermittler auftritt, zu leisten“. Was wiederum die Geltendmachung des Schadensersatzes betrifft, so können Schadensersatzklagen vor den Gerichten der Mitgliedsstaaten erhoben werden, und die Exekution eines verurteilenden Erkenntnisses kann in Form der Beschlagnahme und des Verkaufs der Vermögenswerte der den Schaden verursachenden Person, ihrer Vertreter oder der entsprechenden Vermittler erfolgen. Da die Durchführung des „Blockade-Statuts“ in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fällt, sind diese auch für die Festlegung wirksamer und abschreckender Strafen für Verstöße zuständig, deren Vollstreckung ebenfalls in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit fällt. In außeror9 Vgl. Steininger, S. USA führen Sanktionen gegen Iran wieder ein; https://www.s-ge. com/de/article/aktuell/20182-iran-us-sanktionen 10 C(2018) 3572. 11 Vgl. Art. 290 Abs. 2 lit. b) AEUV. 12 ABl. 2018, L 199, S. 1 ff.

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dentlichen Fällen kann die Kommission einem „Marktteilnehmer“ aus der EU aber gestatten, die extraterritoriale US-amerikanische Regelung ganz oder teilweise einzuhalten, wenn eine Nichteinhaltung derselben die Inter­ essen des Wirtschaftsteilnehmers oder der EU schwer beeinträchtigen würde. Die Kommission wird dabei von einem „Ausschuss für extraterritoriale Rechtsakte“ unterstützt, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt.13 Schlussbetrachtungen Um den Umfang und damit auch die Auswirkungen der „Blockade-Maßnahmen“ der EU näher zu spezifizieren, soll nachstehend ein kurzer Blick auf die Handelsvolumina beider Seiten geworfen werden. Abschließend sei auch noch ein kleiner Exkurs auf die einschlägige Situation Österreichs in diesem „Sanktionsreigen“ gestattet. Was das Volumen des Handelsaustausches mit dem Iran betrifft, so ist dieses in Bezug auf die USA und die EU völlig unterschiedlich. 2017 standen im USA-Iran – Handel Importe im Ausmaß von knapp 56 Mio. Euro Exporte von 120 Mio. Euro gegenüber. Im selben Jahr standen hingegen im EU-Iran – Handel Importen von 10,1 Mrd. Euro Exporte in der Höhe von 10,8 Mrd. Euro gegenüber.14 Daraus ist unschwer ersichtlich, dass die Wiedereinführung der US-Sanktionen die europäischen Volkswirtschaften „reflexartig“ wesentlich stärker als die US-Wirtschaft trifft, wobei neben den „Primärsanktionen“ der USA gegen den Iran auch die sog. „Sekundärsanktionen“ berücksichtigt werden müssen, mittels derer die USA allen Staaten und Unternehmen, die weiterhin Geschäfte mit dem Iran machen, den Zugang zum amerikanischen Markt untersagen. Besonders nachteilig wird sich für den Iran aber die Ankündigung der USA auswirken, diesen ab dem 4. November 2018 den Zugang zum Verrechnungssystem des Internationalen Zahlungsverkehrs, nämlich der „Socie­ty for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“ (SWIFT)15, zu untersagen, womit alle internationalen finanziellen Transaktionen des Irans schwer behindert, wenn nicht gar verunmöglicht werden. Damit wäre 13 MEMO/18/4786. 14 US-Strafmaßnahmen treffen vor allem europäische Firmen, Die Presse, vom 7. August 2018, S. 2. 15 Präsident Trump müsste eigentlich über den Umstand aufgeklärt worden sein, dass mit der Verlegung des Spiegelservers des im belgischen La Hulpe ansässigen Unternehmens SWIFT von Culpeper/Virginia in den USA nach Diessenhofen in die Schweiz – die eben genau aus dem Grunde erfolgte, um damit dem amerikanischen Geheimdienst den Zugriff auf die dort „gespiegelten“ Daten zu verunmöglichen – die Manipulation von SWIFT durch die USA nicht mehr so wie früher möglich ist; vgl. dazu Hummer, W. Die „SWIFT-Affaire“ – US-Terrorismusbekämpfung versus Datenschutz, Archiv des Völkerrechts 3/2011, S. 203 ff.

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aber die Abwicklung von Geschäften auch für jene europäischen Unternehmen verunmöglicht, die nicht in den USA tätig sind und dementsprechend keine Sanktionen fürchten müssen. So übernahm zB die Österreichische Kontrollbank (OeKB) bisher Haftungen für Irangeschäfte österreichischer Firmen, wenn diese nicht unter das Sanktionsregime der USA fielen. 2017 stellte die OeKB diesbezüglich für den Iran Haftungszusagen in Höhe von 33 Mio. Euro aus.16 Nach dem Ausschluss der USA aus dem Zahlungssystem SWIFT wird dieses Vorgehen aber nicht mehr möglich sein. Auch die iranische Währung, der Rial, leidet enorm unter den US-Sanktionen, verlor dieser doch seit Anfang des Jahres 2018 gegenüber dem Dollar zwei Drittel seines Wertes.17 Was die Betroffenheit Österreichs durch die amerikanischen Iran-Sanktionen betrifft, so sind vor allem der Handel mit Buntmetallen, Autozulieferungen und manche Finanztransaktionen davon in Mitleidenschaft gezogen. Derzeit geht es erst um rund 5 Prozent der österreichischen Exporte in den Iran, die sich im Vorjahr auf etwa 300 Mio. Euro beliefen.18 Die österreichischen Importe aus dem Iran betrugen hingegen knapp 120 Mio. Euro. Nach dem 4. November 2018 wird es aber zu einer weiteren Verschärfung der Situation kommen, die die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) in einer Aussendung auch schon zu der plakativen Warnung veranlasst hat, festzustellen: „Das dicke Ende kommt im November“.19 Quelle: EU-Infothek vom 20. August 2018, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 6) PS: Vgl. dazu auch Artikel Nr. 19, nachstehend auf S. 248 ff.

16 Danzer, A. US-Sanktionen als Wirtschaftsschreck, Der Standard vom 7. August 2018, S. 14. 17 Gehlen, M. Sanktionen erwischen Iran auf dem falschen Fuß, Die Presse vom 7. August 2018, S. 3. 18 Österreich vorerst kaum betroffen, Tiroler Tageszeitung vom 7. August 2018, S. 10. 19 Vgl. Mayerhofer, J. Wirtschaftskammer sieht noch keinen Grund zur Panik, Wiener Zeitung vom 7. August 2018, S. 3

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The „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ (2018)

7. The „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ (2018) Die erste Übereinkunft über ein weltweites System ordnungsgemäßer Migration im Schoß der Vereinten Nationen Im Gegensatz zu Flüchtlingen, für die mit der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) und ihrem New Yorker Zusatzprotokoll (1967) eine grundlegende völkerrechtliche Rechtsgrundlage besteht, ist die Rechtsstellung von Migranten international nicht allgemein geregelt und kann daher von den einzelnen Staaten „ad libitum“ wahrgenommen werden, wie zB die (Nicht) Ratifikation der „International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families“1 uam. Wie Staaten ihre jeweilige Einwanderungspolitik gestalten wollen und wieviel Migranten sie überhaupt aufnehmen wollen2, liegt daher in deren Händen und ist völkerrechtlich nicht vorgegeben. Selbst wenn bisher ausgesprochen einwanderungsfreundliche Staaten, wie zB Australien, ihre Migrationspolitik plötzlich drastisch ändern, liegt das noch immer in deren Zuständigkeit und stellt dementsprechend auch kein völkerrechtliches Delikt dar – solange sie dabei nur die grund- und menschenrechtlichen Standards beachten. Ein treffendes Beispiel für die dabei zu berücksichtigende Problematik stellt im Rahmen des „Dublin-Systems“ in der EU das Verhalten der beiden Mittelmeerstaaten Italien und Malta dar, die Schiffen von Nichtregierungsorganisationen, die aus Seenot gerettete Flüchtlinge und Migranten an Bord haben, ihre Häfen nicht mehr anlaufen bzw. diese nicht mehr von Bord gehen lassen. Die Rettung aus Seenot und die Anlandung im nächsten sicheren Hafen stellen aber nicht nur seerechtliche, sondern, ganz allgemein, auch menschenrechtliche Verpflichtungen dar und dürfen nicht mit dem Hinweis verweigert werden, dass man schon zu viele Flüchtlinge aufgenommen habe und man Migranten ja überhaupt nicht „einreisen“ lassen müsse. Die Migrations-Agenda war bisher das einzige globale Problem, das noch nie im Schoß der Vereinten Nationen (VN) zu regeln versucht wurde. Erst in der allerletzten Zeit widmete man sich angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen „irregulärer“ Migration und deren Bekämpfung dieser Frage und setzte entsprechende Maßnahmen zur Ausgestaltung eines Regelungssystems für weltweite Migrationsströme. Migration als komplexes, universelles Phänomen Bedenkt man, dass gegenwärtig ca. 250 Mio. Menschen – was etwa drei Prozent der gesamten Weltbevölkerung entspricht – aus den verschiedensten 1 UN, Treaty Series, vol. 2220, No. 39481. 2 Vgl. dazu Art. 79 Abs. 5 AEUV, nachstehend auf S. 124.

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Gründen auf der Suche nach einem neuen Aufenthalts- und beruflichen Betätigungsort sind, kann man ermessen, welche Bedeutung einer gesicherten Migrationsregelung iSe kohärenten Einwanderungs- und Auswanderungspolitik zukommt. Da, wie vorstehend bereits erwähnt, Migrationsfragen in der Zuständigkeit der jeweils betroffenen Staaten liegen, regeln diese auch nach ihren (innen)politischen und wirtschaftlichen Erfordernissen sowohl den Problembereich der Einwanderung, als auch den der Einbürgerung von Drittstaatsangehörigen selbständig, ohne sich dabei (zwingend) mit den anderen Staaten abzustimmen. Fügt man diesen Voraussetzungen des jeweils aufnehmenden Staates aber noch die unterschiedlichsten Motivationen der einreisewilligen Migrationswerber hinzu, kommt man auf eine Fülle von berücksichtigungswürdigen Elementen im (einzelnen) Migrationsfall, die kaum mehr überblickt werden kann. Damit ist aber ersichtlich, dass Berechenbarkeit und Antizipierbarkeit im Bereich der Migrationsbewegungen größte Bedeutung zukommt. Dieser Erkenntnis ist lange Zeit aus dem Grund nicht nachgegangen worden, da man sich lediglich auf die Unterbindung und Sanktionierung der „illegalen“ Migration konzentriert und diesbezüglich vor allem die Möglichkeiten der Rückstellung des unliebsamen Migranten in seinen Heimatstaat oder einen sicheren Drittstaat untersucht hat. Dieser negative Aspekt der Abwehr unerwünschter Migration durch Abschiebung überlagerte lange Zeit die Erkenntnis, dass es doch sinnvoller wäre, sich eher um die positiven Voraussetzungen „erwünschter“ Migration zu bemühen. Dieser Umstand wird nunmehr erstmals durch den „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“, der im Schoß der VN ausgearbeitet wurde, berücksichtigt. Erste konkrete Befassung der Vereinten Nationen mit ­Migrationsfragen Diskussionen über internationale Migrationsbewegungen auf universeller Ebene sind nicht neu. So hat es bereits 2006 und 2013 „UN High-Level Dialogues on International Migration and Development“ gegeben, und 2007 wurde auch das „Global Forum on Migration and Development“ eingerichtet. Trotzdem bedurfte es erst der im Jahr 2015 voll ausgebrochenen Flüchtlingskrise, im Zuge derer über 1,3 Mio. Flüchtlinge und Migranten nach Europa kamen, um die spezielle Notwendigkeit der Regulierung auch des damit eng verbundenen Migrationsproblems zu erkennen. So ernannte der Generalsekretär (GS) der VN, Ban Ki-moon, im Jänner 2016 mit der amerikanischen Staatsangehörigen Karen AbuZayd eine eigene Sonderbeauftragte der VN für die Vorbereitung des für September 2016 geplanten „UN Summit for Refugees and Migrants 2016“.3 3 http://www.un.org/press/en/2016/sga1623.doc.htm

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Einen Monat später, nämlich im Februar 2016, bestellte wiederum der damalige Präsident der Generalversammlung (GV) der VN, Peter Thomson, die Ständige Vertreterin des Haschemitischen Königreichs Jordanien, Dina Kawar, und den Ständigen Vertreter Irlands, David Donoghue bei den VN, zu „Ko-Organisatoren“ dieser geplanten Gipfelkonferenz über Flüchtlingsund Migrationsfragen. Auf der 71. Sitzung der GV der VN am 19. September 2016 kam es schließlich zur Verabschiedung der „New York Declaration for Refugees and Migrants“4, in der sich die Staatengemeinschaft ua dazu verpflichtete, im Jahr 2018 sowohl eine einschlägige zwischenstaatliche Konferenz zur Lösung der grundlegenden Flüchtlings- als auch eine solche zur Regelung der anstehenden Migrationsprobleme zu veranstalten. Am 13. Juli 2018 nahm nun die GV der VN beinahe einstimmig – von den 193 Mitgliedstaaten der VN beteiligte sich lediglich die USA nicht an der Abstimmung5 – den Text des „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ an, der von den beiden Ständigen Vertretern Mexikos6 und der Schweiz7 bei den VN ausgearbeitet und in einem über 18 Monate dauernden offenen und transparenten „drafting-Prozess“ in sechs zwischenstaatlichen Verhandlungsrunden diskutiert und auch endredigiert wurde.8 Es ist dies das erste Mal, dass die Mitgliedstaaten der VN an der Ausarbeitung eines Textes mitgewirkt haben, der ein generelles System für eine weltweit sichere und geregelte Migrationsbewegung einzurichten versucht. Darüber hinaus sollen damit unter anderem auch neue Perspektiven für legale Einwanderungsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Verabschiedung des Textes des „Migrations-Paktes“ wurde allgemein begrüßt. Nachdem der GS der VN, António Guterres, zuvor dazu aufgerufen hatte, Migration als „positives globales Phänomen anzuerkennen“, erklärte der Präsident der 72. GV der VN, Miroslav Lajčák, dass diese Übereinkunft „can guide us from a reactive to a proactive mode. It can help us to draw out the benefits of migration, and mitigate the risks. And it can be a resource, in finding the right balance between the rights of people and the sovereignty of States“. Die Stellvertretende GS der VN, Amina J. Mohammed, wiederum erklärte: „This compact demonstrates the potential of multilateralism: our ability to come together on issues that demand global collaboration – however complicated and contentious they may be“. Louise 4 A/RES/71/1 5 Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto kündigte unmittelbar nach der Annahme des Textes des „Global Compact“ einen möglichen Rückzug seines Landes aus dieser (unverbindlichen) Vereinbarung an, da seine Regierung fürchte, dass diese unter Umständen zu Maßnahmen führen könnte, die Länder dazu zwingen würden, ihre Grenzen für Migranten zu öffnen. 6 Ständiger Vertreter Mexiko’s war Juan José Ignacio Gómez-Camacho. 7 Ständiger Vertreter der Schweiz war Jürg Lauber. 8 Vgl. Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration, Final Draft, 11 July 2018.

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Arbour, die Sonderbeauftragte des Generalsekretärs (GS) der VN für internationale Migrationsangelegenheiten, fügte noch hinzu: „Human mobility will be with us, as it has always been. Its chaotic, dangerous exploitative aspects cannot be allowed to become a new normal. The implementation of the Compact will bring safety, order and economic progress to everyone’s benefit“.9 Der nicht-verbindliche Text des „Migrations-Paktes“ soll in der Folge am 10./11. Dezember 2018 in Marrakesch/Marokko auf einer Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten der VN formell angenommen werden, wobei Louise Arbour, als Generalsekretärin der Konferenz fungieren soll. Der „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ Der Vertragsentwurf für eine sichere, geordnete und geregelte Migration enthält auf 34 Seiten eine außerordentlich gelungene, detaillierte und akribisch erarbeitete Zusammenstellung sowohl der Ziele, als auch der Instrumente zur Herbeiführung eines weltweit funktionierenden Migrationssystems. Er ist das erste internationale Dokument, mit dem das komplexe Phänomen „Migration“ systematisiert und durchstrukturiert wurde. Der „Global Compact“ umfasst 23 konkrete Zielvorgaben, um die globalen Migrationsströme in geregelte Bahnen zu lenken und damit besser steuern zu können. Jede dieser abstrakten Zielsetzungen ist im Dokument näher aufdifferenziert, um entsprechend umgesetzt werden zu können. Um die Genauigkeit und Funktionalität der einzelnen Ziele präzise nachvollziehen zu können, sollen sie nachstehend im Originalwortlaut wiedergegeben werden: 1) Collect and utilize accurate and disaggregated data as a basis for evidence-based policies; 2) Minimize the adverse drivers and structural factors that compel people to leave their country of origin; 3) Provide accurate and timely information at all stages of migration; 4) Ensure that all migrants have proof of legal identity and adequate documentation; 5) Enhance availability and flexibility of pathways for regular migration; 6) Facilitate fair and ethical recruitment and safeguard conditions that ensure decent work; 7) Adress and reduce vulnerabilities in migration; 8) Save lives and establish coordinated international efforts on missing migrants; 9) Strengthen the transnational response to smuggling of migrants; 9 United Nations Finalizes First Ever Global Compact for Migration, UNIS/INF/542, 13 July 2018.

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10) Prevent, combat and eradicate trafficking in persons in the context of international migration; 11) Manage borders in an integrated, secure and coordinated manner; 12) Strengthen certainty and predictability in migration procedures for appropriate screening assessment and referral; 13) Use migration detention only as a measure of last resort and work towards alternatives; 14) Enhance consular protection, assistance and cooperation throughout the migration cycle; 15) Provide access to basic services for migrants; 16) Empower migrants and societies to realize full inclusion and social cohesion; 17) Eliminate all forms of discrimination and promote evidence-based public discourse to shape perceptions of migration; 18) Invest in skills development and facilitate mutual recognition of skills, qualifications and competences; 19) Create conditions for migrants and diasporas to fully contribute to sustainable development in all countries; 20) Promote faster, safer and cheaper transfer of remittances and foster financial inclusion of migrants; 21) Cooperate in facilitating safe and dignified return and readmission, as well as sustainable reintegration; 22) Establish mechanism for the portability of social security entitlements and earned benefits; 23) Strengthen international cooperation and global partnerships for safe, orderly and regular migration. Alle diese 23 speziellen Zielvorgaben werden im „Global Compact“ in der Folge näher spezifiziert und für den konkreten Einsatz speziell aufbereitet. Der damit erreichte Informationsstand – der sogar bis zur Reglementierung von Kapitalsendungen von Migranten in ihre Heimatstaaten (sog. „Rimessen“)10 reicht (Zielsetzung 20)11 – ist mehr als ausreichend, um das „Migrations-Phänomen“ entsprechend zu erfassen und zu reglementieren. Reflexe des „Global Compact“ auf die Migrationssituation in der EU Mit dem globalen „Migrations-Pakt“ liegt erstmals ein grundlegendes Ins­ trument für den Umgang mit weltweiten Wanderungsbewegungen vor. Wenngleich er im Moment noch ein unverbindliches Dokument darstellt, bietet er doch eine unvergleichliche Orientierungshilfe für die Erfassung und Steuerung von Migrationsströmen im weltweiten Kontext – und zwar nicht nur für die einzelnen Staaten selbst, sondern vor allem auch für die 10 Vgl. dazu Artikel Nr. 38, nachstehend auf S. 484 ff., 488. 11 Global Compact (Fn. 9), S. 27 ff.

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EU, die diesbezüglich über ein umfangreiches Regelwerk verfügt, das vor allem in Art. 79 AEUV seine Rechtsgrundlage hat: So hat die EU gem. Art. 79 Abs. 1 AEUV eine „gemeinsame Einwanderungspolitik“ zu entwickeln, „die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll“. Damit werden durch Abs. 1 die drei Kernbereiche der Einwanderungspolitik der EU festgelegt: Steuerung der Migrationsströme, angemessene Behandlung der Migranten und effektive Verhütung und Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels. Nach Art. 79 Abs. 2 AEUV steht dem Europäischen Parlament (EP) und dem Rat gem. dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Erlass von Maßnahmen in diesen Kernbereichen zu, wovon diese beiden Organe auch bereits reichlich Gebrauch gemacht haben.12 Gem. Art. 79 Abs. 3 AEUV wiederum kann die Union mit Drittländern Übereinkünfte über die Abschiebung illegaler Einwanderer schließen, in deren Mittelpunkt die Rückführungsrichtlinie13 steht. Nach dem „Stockholmer Programm“14 des Europäischen Rates soll die Migrationspolitik ganz allgemein ein fester Bestandteil der Außenpolitik der Union werden. Gem. Art. 79 Abs. 4 AEUV können EP und Rat gem. dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren – und zwar unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften – Maßnahmen festlegen, mit denen die Bemühungen der Mitgliedstaaten um die Integration der sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen gefördert und unterstützt werden. Gem. Art. 79 Abs. 5 AEUV berührt dieser Artikel nicht das Recht der Mitgliedstaaten, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen bzw. beruflich tätig zu werden. Die „Europäische Migrationsagenda“ (2015) der Kommission als Orientierungsinstrument und ihre Fortschreibung Die bisherige sekundärrechtliche Ausformung der Migrationspolitik der EU orientierte sich weitgehend an der von der Kommission am 13. Mai 2015 12 Vgl. dazu Rosenau/Petrus, Kommentar von Art. 79 AEUV, Rdnr. 3 ff., in: Vedder/ Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, S. 530 f. 13 Richtlinie 2008/115 des EP und des Rates vom 16. 12. 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98 ff.). 14 Europäischer Rat, „Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa – im Dienste und zum Schutz der Bürger“ (Kap. 6) (ABl. 2010, C 115, S. 1 ff.).

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vorgelegten „Europäischen Migrationsagenda“15, die am Höhepunkt der Flüchtlingskrise erstellt wurde und in ihrem ersten Teil dementsprechend auch die notwendigen Sofortmaßnahmen umfasst, die es ermöglichen, rasch und entschlossen auf die menschliche Tragödie im gesamten Mittelmeerraum zu reagieren. Der zweite Teil der Migrationsagenda enthält folgende vier Schwerpunkte für eine bessere Steuerung der Migration: 1) Reduzierung der Anreize für irreguläre Migration; 2) Grenzmanagement: Rettung von Menschenleben und Sicherung der Außengrenzen; 3) Europas Schutzauftrag: eine starke, gemeinsame Asylpolitik; und 4) Eine neue Politik für legale Migration.16 In ihrem dritten Teil bietet die Agenda zusätzliche Überlegungen an, die es auf kurze oder mittlere Sicht ermöglichen sollen, weitere Fortschritte in den genannten Bereichen zu erzielen. In ihrem Bericht vom 16. Mai 2018 über die Fortschritte bei der Umsetzung der „Europäischen Migrationsagenda“ und des Fahrplans vom Dezember 201717 zeigt die Kommission, vor allem aber ihr zuständiges Mitglied, nämlich der Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Dimitris Avramopoulos, auf, was noch alles getan werden muss, um die derzeitigen Maßnahmen im Schoß der EU zu verbessern. Konkret wird dabei darauf hingewiesen, dass es insbesondere gilt, die noch bestehenden Lücken bei der Ausstattung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (FRONTEX) zu füllen18, Fortschritte bei der Rückkehr bzw. Rückführung zu erzielen19, die Neuansiedlung voranzubringen20 und die Migranten auf den drei hauptsächlichen Migrationsrouten – zentrale Mittelmeerroute, Westbalkanroute und westliche Mittelmeerroute – besser zu schützen.

15 COM(2015) 240 final. 16 Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission, Migration besser bewältigen – die Europäische Agenda für Migration, IP/2015/4956, vom 13. Mai 2015. 17 Pressemitteilung der Europäischen Kommission, Europäische Migrationsagenda: Die nach wie vor instabile Lage gibt keinen Anlass, sich auf den Fortschritten auszuruhen, IP/18/3743, vom 16. Mai 2018. 18 Die bisherigen, auf allen Migrationsrouten eingesetzten 1.350 FRONTEX-Mitarbeiter, sollen auf insgesamt 10.000 Experten aufgestockt werden. 19 2017 wurden lediglich 36,6 Prozent der Rückführungsentscheidungen tatsächlich umgesetzt. 20 Im Rahmen der neuen Neuansiedelungsregelung der Kommission haben 20 Mitgliedstaaten mehr als 50.000 Plätze zugesagt; 4.252 Personen wurden bereits in die Aufnahmeländer gebracht. Die Kommission ersucht in diesem Zusammenhang die Mitgliedstaaten, bis Oktober 2018 insgesamt 50 Prozent der zugesagten Neuansiedelungen vorzunehmen.

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Auch hierbei könnten die Überlegungen, die dazu im gegenständlichen „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ angestellt wurden, einen geradezu idealen Referenzrahmen darstellen. Die Hauptorgane der EU, vor allem aber die Europäische Kommission, wären gut beraten, sich bei der weiteren Ausgestaltung der Migrationspolitik der EU eng an den im Schoß der VN ausgearbeiteten „Migrations-Pakt“ anzulehnen und diesen als „Blaupause“ für die Bewältigung ihrer Migrationsprobleme im Zuge der Reformierung sowohl des „Schengen“- als auch des „DublinSystems“,21 zu benützen. Quelle: EU-Infothek vom 23. August 2018, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 7)

21 Vgl. dazu Hummer, W. Ambitioniertes Arbeitsprogramm der Kommission für 2018: Kann das Arbeitsprogramm die ambitionierten Zielsetzungen der Kommission für ein „enger vereintes, stärkeres und demokratischeres Europa“ erfüllen?, EU-Infothek vom 18. Jänner 2018.

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Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump

8. Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump Rechtssoziologische Erkenntnisse aus der Richterbestellung am SupremeCourt der USA Einführung Mit der Nominierung des konservativen Richters Brett Kavanaugh für den vakant gewordenen Sitz im US-Supreme-Court hat Präsident Donald Trump „eine der wichtigsten Amtshandlungen eines amerikanischen Präsidenten ausgeführt und einen zentralen Teil seines politischen Vermächtnisses bestimmt“.1 Damit steht, nach dem 2017 nominierten Richter Neil Gorsuch, bereits der zweite von Trump nominierte konservative Höchstrichter vor seiner Bestellung als Mitglied des amerikanischen Höchstgerichts, was als „Triumph für die Republikaner“ bezeichnet wird.2 Das weltweite Aufsehen, das mit dieser Besetzung einer vakanten Stelle im Obersten Gericht der USA einhergeht,3 überdeckt dabei völlig die damit verbundenen grundlegenden rechtssoziologischen und -theoretischen Fragen, die in diesem Zusammenhang um das Erfordernis einer Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit von (Höchst-)Richtern kreisen. Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang in einschlägigen publizistischen Äußerung in europäischen Medien nicht (kritisch) darauf hingewiesen, wie bei einer solchen, vor allem politisch motivierten, Bestellung eines Richters dessen erforderliche Unabhängigkeit überhaupt entsprechend gewahrt werden kann. Ganz allgemein muss die Auswahl von Richtern nach deren ideologischer Einstellung als problematisch angesehen werden. Es wird dabei ja nicht nur gezielt auf die Persönlichkeitsstruktur des Richters und dessen politische Gesinnung abgestellt, sondern von diesem auch gleichzeitig erwartet, dass er im konkreten Anlassfall auch dementsprechend urteilen wird. Im Gegensatz zu unteren Gerichtsinstanzen, wo ein solches richterliches Verhalten entsprechend auffallen würde, sind diejenigen Rechtssachen, die bis zum nationalen Höchstgericht gelangen, aber bereits dermaßen ab­ strakt formuliert, dass deren Begründung in die eine oder andere Richtung vorgenommen werden kann, ohne dass dem Richter dabei unmittelbar ein „parteiisches“ Verhalten vorgeworfen werden kann. Dies war in den USA in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe gesellschaftspolitischer Fragen der Fall, wie zB im Falle der Beendigung der Rassentrennung (1953), der landes1 New York Times, zitiert nach Marti, W. J. Amerikas mächtige Verfassungshüter, NZZ vom 6. September 2018, S. 15. 2 Marti (Fn. 1), a.a.O. 3 Vgl. Winkler, P. Das Spektakel beginnt. Die Bestätigung eines Supreme-Court-Richters wird in Washington als Drama inszeniert, NZZ vom 6. September 2018, S. 3.

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weiten Zulassung der Abtreibung (1973)4 oder der Einführung der Homosexuellen-Ehe (2015). Es soll daher nachstehend der Versuch unternommen werden, das amerikanische Bestellungsverfahren von Höchstrichtern kurz darzustellen, um danach auf die speziellen Besonderheiten des anglo-amerikanischen Rechtssystems einzugehen, die diesen Bestellungsmodus für die amerikanische Öffentlichkeit überhaupt erst akzeptabel und nachvollziehbar machen. Trump nominiert mit Brett Kavanaugh erneut einen konservativen Höchstrichter Im internationalen Vergleich haben amerikanische Höchstrichter eine außerordentliche Machtfülle, die unter anderem daraus resultiert, dass die amerikanische Verfassung nur sehr knapp und allgemein gehalten ist. Dementsprechend haben die neun Richter des Supreme-Court, die – nominiert vom jeweiligen Präsidenten der USA und vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt – auf Lebenszeit gewählt sind, in der Beurteilung der von ihnen zu behandelnden Rechtssachen einen ungewöhnlich großen Interpretationsspielraum, den sie dementsprechend auch ausnützen. Sie entscheiden auch selbständig, welche Rechtssachen sie zur Überprüfung auf ihre Verfassungskonformität annehmen wollen oder nicht. Bei wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen, die weder von der Exekutive, noch von der Legislative entsprechend gelöst werden können, obliegt es notgedrungen dem SupremeCourt, judikativ die entsprechende Richtung vorzugeben. Wenngleich diese Vorgangsweise aus Gründen der Gewaltenteilung bzw. der in den USA herrschenden „checks and balances“-Doktrin an sich bedenklich ist, wird sie, der Notwendigkeit gehorchend, nolens volens vorgenommen. Dass es dabei sehr stark auf die ideologische Prägung der Höchstrichter ankommt, ist offensichtlich und wird ganz bewusst in Kauf genommen. Eingedenk solcher Überlegungen nominierte Präsident Trump am 9. Juli 2018 auch den deutlich konservativen bisherigen Bundesappellationsrichter Brett Kavanaugh für den durch den Rücktritt von Anthony Kennedy vakant gewordenen Sitz im US-Supreme-Court. Wenig später begann am 4.  September das Anhörungs- bzw. Bestätigungsverfahren für Kavanaugh vor der Justizkommission des amerikanischen Senats, das direkt im Fernsehen übertragen wird und damit dem Kandidaten Gelegenheit gibt, seine Vorstellungen über die geplante Amtsführung publik zu machen, diese damit gleichsam für das amerikanische Publikum zu „personalisieren“ und für Recherchen zum „judicial behavior“ aufzubereiten.5 Für dieses Hearing ist Kavanaugh von der republikanischen Partei des Präsidenten entsprechend intensiv vorbereitet worden, vor allem um die zu erwartenden „Fangfragen“ zu umgehen. 4 Vgl. Roe v. Wade (1973). 5 Siehe dazu nachstehend auf S. 130 f.

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Wenngleich mit der Bestellung Kavanaugh’s die „ideologische“ Balance des Supreme Court erstmals seit dreizehn Jahren wieder verschoben wird, wird das Richtergremium dadurch an sich keine völlig andere ideologische Ausrichtung erhalten. Etwas anderes würde es allerdings sein, wenn Präsident Trump in den nächsten zweieinhalb Jahren auch noch die beiden ältesten, von Präsident Clinton ernannten progressiven Richter – die 85-jährige Ruth Bader Ginsburg und den 80-jährigen Stephen Breyer – durch konservative Richter ersetzen könnte. Damit wären wieder sieben der neun Höchstrichter von republikanischen Präsidenten ernannt worden, was von 1976 bis 2009 auch durchgehend so der Fall war. Man muss bis in die 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückgehen, um auf einen SupremeCourt zu stoßen, in dem von Demokraten ernannte Richter eine knappe Mehrheit bildeten.6 Unterschiedliche Stellung und Funktion der Judikative im kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen System Im gewaltenteilend strukturierten Rechtsstaat kontinentaleuropäischer Provenienz wird nicht nur von einem idealtypischen Verständnis eines stets objektiv urteilenden unbefangenen Richter ausgegangen, sondern dem Richter kommt auch lediglich eine reine Rechtsanwendungs- und keine Rechtsfortbildungsfunktion zu. Ganz grundsätzlich genießt die Judikatur eine völlig unabhängige Stellung, dh dass ein Gericht in seiner Entscheidungsfindung rechtsdogmatisch keiner wie immer gearteten Bindung durch dritte Justizund Verwaltungsorgane unterworfen ist. Im Besonderen betrifft das auch die Unabhängigkeit eines Gerichts hinsichtlich der Entscheidungsbegründung im Sinn einer verpflichtenden Berücksichtigung der Judikatur eines anderen Gerichts – vom rechtstatsächlichen Fall der Tendenz der Angleichung der Untergerichte an die „herrschende Judikatur“ der Höchstgerichte abgesehen. Im Gegensatz dazu ist das angloamerikanische Recht durch das sogenannte „stare decisis“7 – ein richtergetragenes Präjudizienrecht („reasoning from case to case“) – geprägt, sodass es ua die kontinentaleuropäische Unterscheidung in Rechtsprechung und Rechtssetzung nicht kennt und daher in gewissen Fällen auch von einer erlaubten Rechtsfortbildung durch den Richter zur Erreichung einer größeren „Einzelfallgerechtigkeit“ ausgeht. Der angloamerikanische Richter ist daher in seiner Entscheidungsfindung viel freier als der europäische Richter, dem eine rechtsfortbildende Funk­ tion, aufgrund gewaltenteilender Überlegungen, an sich untersagt ist.

6 Marti (Fn. 1), a.a.O. 7 Vgl. dazu allgemein Powell, L. F. (Jr.), Stare decisis and judicial restraint, Washington and Lee Law Review, Vol. 47, Spring 1990, S. 281 ff.

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Allerdings unterliegt der angloamerikanische Richter dabei – wiederum völlig unterschiedlich zum kontinentaleuropäischen Richter – einer Reihe von „judicial restraints“, die ganz unterschiedliche Ursprünge haben können, nämlich solche inter-institutioneller oder persönlicher Art.8 Einige dieser Fälle eines „judicial restraint“ haben zur Folge, dass sich der Richter in seiner eigenen Entscheidungsfindung an der Entscheidung und auch Begründung eines anderen Richters bzw. Gerichts verpflichtend zu orientieren hat. Dieser „judicial restraint“ kann in mehrfachen Konfigurationen auftreten und hat auch unterschiedliche Wurzeln, was seine Entstehung betrifft. Sind diese aber einmal offengelegt, dann kann Richterverhalten mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch vorhergesagt werden. Die „judicial behavior“-Doktrin Weiß man den ideologischen Hintergrund und die politische Ausrichtung eines Richters korrekt zu deuten, dann kann mit Hilfe rechtssoziologischer Methoden dessen Entscheidungsverhalten, zumindest in Extremsituationen, entsprechend antizipiert werden. So wird im Rahmen der im angloamerikanischen Rechtskreis weit verbreiteten – im kontinental-europäischen Rechtsbereich aber nahezu unbekannten – Disziplin der „Richterverhaltens-Forschung“ („judicial behavior“)9 versucht, das Entscheidungsverhalten von Richtern zu analysieren, wobei davon ausgegangen wird, dass Richter, die eine Rechtssache an sich nach „objektiven“ (normativen) Kriterien zu entscheiden hätten, ihre subjektive Prägung und das daraus resultierende „Vorverständnis“ für die Aufbereitung einer Rechtssache nie ganz verleugnen können.10 In der Erkenntnis, dass auch Richter durch subjektive Werthaltungen und Attitüden geprägt sind, leugnen die Anhänger dieser methodischen Ausrichtung das Platon‘sche Ideal eines – jedweder eigenen Ideologie entrückten – weisen „Richter-Königs“, der, völlig unabhängig von subjektiven Elementen, allein aufgrund der objektiven Gegebenheiten entscheidet. Gerade letztere Fiktion liegt aber der kontinental-europäischen Rechtsdogmatik zugrunde, die von diesem Idealtypus eines Richters ausgeht und lediglich eng definierte „Befangenheitsgründe“ von Richtern als deren Ausschlussgründe vom Verfahren kennt. Eine diesbezügliche richterliche „Befangenheit“ hat aber mit dem (unbewusst) geprägten Vorverständnis eines 8 Vgl. dazu allgemein Ferejohn, J. A. – Kramer, L. D. Independet Judges, Dependent Judiciary: Institutionalizing Judicial Restraint, New York University Law Review, Vol 77, October 2002, S. 962 ff.; vgl. dazu auch die nachstehenden Bemerkungen. 9 Vgl. dazu allgemein Segal, J. A. Judicial Behavior, The Oxford Handbook of Political Science (2011). 10 Vgl. dazu allgemein Voeten, E. Judicial Behavior on International Courts, The European Court of Human Rights, Working Paper, George Washington University (2005).

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Richters, das diesen in einer Rechtssache eben so und nicht anders entscheiden lässt, nicht das Geringste zu tun und kann iSe konkreten „Richterverhalten“ empirisch nachgewiesen werden. „Judicial behavior“-Untersuchungen amerikanischer Rechtssoziologen weisen diesbezüglich auf signifikante Korrelationen zwischen ideologisch konservativen oder progressiven Richtern und deren Entscheidungsverhalten zB in Sexualstrafsachen, oder aber auf signifikante Gemeinsamkeiten im Urteils- und Strafzumessungsverhalten von Verkehrs(straf-)Richtern hin, je nachdem, ob sie Führerscheinbesitzer sind oder nicht. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass sich naturgemäß auch in Europa ähnliche Fallkonstellationen ereignen, die aber nicht durch eine etablierte rechtssoziologische Methodik, wie zB eine „judicial behavior“-Technik, untersucht und aufbereitet werden. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang lediglich das vor einigen Jahren von einem höchstrichterlichen Senat in Österreich gefällte Urteil erwähnt, das einem korrekt auf der Autobahn fahrenden Pkw-Lenker, der mit einem „Geisterfahrer“ kollidierte, ein Mitverschulden anlastete, da er offensichtlich „nicht auf Sicht“ gefahren sei. Wäre dies nämlich der Fall gewesen, hätte er die Gefahr zeitgerecht erkennen, dementsprechend auch ausweichen und damit eine Kollision vermeiden können. Eine nähere Auswertung dieses völlig realitätsfremden Judikats hat dann allerdings ergeben, dass keines der (älteren) Senatsmitglieder über einen Führerschein verfügte (sic). Irgendwelche methodischen Konsequenzen wurden aus diesem singulären Vorfall aber nicht gezogen. Die hoch entwickelte „judicial behavior“-Technik11 hat in den USA dazu geführt, dass sich eine Reihe von Anwaltskanzleien auf die Erforschung der Lebensläufe gewisser Richter spezialisiert haben und mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen des Öfteren auch in der Lage sind, deren Entscheidungsverhalten entsprechend korrekt vorherzusagen. Wenngleich diese Vorgangsweise keineswegs wissenschaftlichen Kriterien einer exakten Pro­ gnostik standhält, zeigt sie doch auf, dass es in bestimmten Fällen eine signifikante Korrelation zwischen der persönlichen Prägung eines Richters und dessen beruflichen Entscheidungsverhalten gibt. Weitere rechtssoziologische Ansätze zur Aufdifferenzierung und Prognostizierung von Richterverhalten Neben dem „judicial behavior“-Ansatz hat die amerikanische Rechtssoziologie aber auch noch andere einschlägige Ansätze zur Aufdifferenzierung 11 So wurde zB mit Hilfe des PC-basierten „Wordscore-Programms“ die ideologische Positionierung der Entscheidungen des Supreme Court minutiös recherchiert und aufbereitet; siehe McGuire, K. T. – Vanberg, G. Mapping the policies of the U. S. Supreme Court: data, opinions, and constitutional law (2005).

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von Richterverhalten entwickelt, wie zB den (a) „judicial restraint“, den (b) „judicial activism“ und den (c) „judicial dialogue“. Einige Elemente davon lassen sich auch, mehr oder weniger entsprechend angepasst, in der europäischen judikativen Praxis nachweisen. Ad (a) Unter „judicial restraint“ werden in der einschlägigen angloamerikanischen Literatur die Fälle „richtlicherlicher Zurückhaltung“ untersucht, die zum einen auf den vorstehend erwähnten „judicial behavior“Ansatz zurückgehen, zum anderen aber darin bestehen, dass der Richter bewusst von seinen eigenen subjektiven Attitüden Abstand nimmt, dafür aber Begründungen und Würdigungen übernimmt, die „fremdbestimmt“ sind. Diese „Fremdbestimmung“ kann zum einen in einem System des „institutional self-restraint“ aus institutionellen Zwängen der Gerichtsbarkeit resultieren – so orientiert sich zum Beispiel ein unterinstanzlicher Richter in der Regel am Entscheidungsverhalten der Revisionsinstanz – andererseits aber auch aus Formen eines „personal self-restraint“ hervorgehen, in dem sich zum Beispiel ein Richter in seiner Entscheidungsbegründung sachlogischen Argumenten eines anderen Richters bzw. Gerichts anschließt. Dabei kann es sich sowohl um Plausibilitäts- bzw. Sachrationalitätsgründe als auch um Gründe der besonderen „Fallgerechtigkeit“ (im „stare decisis“-System) u.a.m. handeln.12 Sachrationalität liegt in diesem Zusammenhang immer dann besonders vor, wenn es sich um rechtsanaloge Übernahmen aus verwandten und strukturell gleichförmigen juristischen Sachgebieten handelt. Einen Sonderfall des institutionellen „judicial restraint“ im europäischen Kontext stellt zum Beispiel die Verpflichtung nationaler Gerichte dar, Vorabentscheidungen vom Gerichtshof gem. Art. 267 AEUV dann einzuholen, wenn es sich um eine entscheidungserhebliche Frage handelt und von vorlageberechtigten bzw. -verpflichteten nationalen Gerichten die „act claire“Theorie nicht angewendet, sondern der Gerichtshof um die Auslegung der interpretationsoffenen unionsrechtlichen Bestimmung gebeten wird. Vorabentscheidungen stellen darüber hinaus aber auch Formen eines „judicial dialogue“ dar, da sie ein enges Dialogverhältnis zwischen dem vorlegenden nationalen Gericht und dem Gerichtshof begründen.13 Eine ganz spezielle Form einer solchen „richterlichen Zurückhaltung“ im Sinne der Hintanstellung einer eigenen Judikaturlinie zugunsten der Übernahme einer Fremdjudikatur, existiert im kontinentaleuropäischen Rechtskreis vor allem im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), indem die Richter des EFTA-Gerichtshofs im EWR gehalten sind, sich an die (frühere) Judikatur des EuGH so weit als möglich anzunähern, um im EWR – einem „Assoziationsverhältnis“ von drei EFTA-Staaten mit der Europäischen Union – „binnenmarktähnliche“ Verhältnisse zu schaf12 Vgl. dazu allgemein Ferejohn/Kramer (Fn. 8), a.a.O. 13 Siehe dazu nachstehend auf S. 134.

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fen.14 Art.  6 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (1994)15 bestimmt diesbezüglich folgendes: „Unbeschadet der künftigen Entwicklungen der Rechtsprechung werden die Bestimmungen dieses Abkommens, soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der aufgrund dieser beiden Verträge erlassenen Rechtsakte in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind, bei ihrer Durchführung und Anwendung im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen ausgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens erlassen hat“. Ad (b) Was den „judicial activism“16 betrifft, so verfallen manche USamerikanischen Gerichte – im Versuch, ein Rechtsgebiet geschlossen und konsistent zu judizieren – in eine zunächst „überschießende Judikatur“ dahingehend, dass sie, über den einzelnen Fall hinausgehend, allgemeine Prinzipien in ihrer Rechtsprechung zu entwickeln beginnen, die sie aber dann, zB auf Grund fehlender politischer Akzeptanz, wieder Schritt für Schritt zurücknehmen müssen. So etwas findet aber auch im europäischen Kontext statt. Ein klassischer Anwendungsfall dieses „judicial activism“ mit nachfolgendem „self-restraint“ war zB die überschießende Judikatur des EuGH im Bereich der Sozialpolitik, indem er den Austausch von bzw. Zugang zu medizinischen Dienstleistungen im Binnenmarkt zu „dynamisch“ reglementierte und aufgrund des Widerstands in den Mitgliedstaaten diese Judikatur in der Folge dann aber wieder abschwächte.17 Einen weiteren Schulfall für den Versuch der Erzwingung eines „judicial restraint“ des EuGH in seinen „judicial activism“-Bestrebungen stellte die Forderung der britischen Delegation auf der Regierungskonferenz zur Ausarbeitung des Vertrages von Amsterdam (1995–1997) dar, die aus ihrer Sicht ausufernde Judikatur des EuGH in Sachen Staatshaftung – vor allem durch den Ansatz der Haftung bereits „ex tunc“ und nicht erst „ex nunc“ – durch eine entsprechende Novellierung des Primärrechts des EG-Vertrages zurückzubinden. Interessanterweise wurde von einem solchen Versuch seitens

14 Baudenbacher, C. The Relationship Between the EFTA Court and the Court of Justice of the European Union, in: Baudenbacher, C. (ed.), The Handbook of EEA Law (2016), S. 179 ff. 15 ABl. 1994, L 1, S. 3 ff. 16 Vgl. dazu beispielsweise Obermaier, A. J. Fine-tuning the Jurisprudence: The ECJ’s Judicial Activism and Self-restraint, Working Paper Series, Institute for European Integration Research, Working Paper No. 02/2008, September 2008, S. 1 ff. 17 Vgl. dazu die Judikatur des EuGH in den Rechtssachen C-158/96, Raymond Kohll/ Union des Caisses de Maladie, Slg. 1998, S. I-1931 ff. und C-120/95, Nicolas Decker/ Caisses de Maladie des Employés Privés, Slg. 1998, S. I-1831 ff.; vgl. dazu Obermaier (Fn. 16), S. 4 ff.

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der EU-Mitgliedsstaaten als „Herren der Verträge“ aber bewusst Abstand genommen.18 Ad (c) Unter einem „judicial dialogue“ wird die enge Zusammenarbeit von Höchstgerichten sowohl auf horizontaler, als auch auf vertikaler Ebene verstanden. Auf horizontaler Ebene handelt es sich dabei um die Abstimmung der judikativen Tätigkeit zwischen den Richtern nationaler Höchstgerichte bzw. der internationalen Gerichte untereinander, auf der vertikalen Ebene hingegen um die Vernetzung der Rechtsprechung internationaler Gerichte mit nationalen (Höchst-)Gerichten. Dieser von der angloamerikanischen Lehre zur besseren Abgleichung von Judikaturlinien geforderte und sowohl horizontal als auch vertikal praktizierte Dialog findet ansatzweise auch im kontinentaleuropäischen Kontext statt.19 Institutionalisiert ist der vertikale Dialog in Europa vor allem in der speziellen Einrichtung des vorerwähnten Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV sowie der neuen Gutachtenskompetenz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf der Basis des Protokolls Nr. 16 zur EMRK20. Was hingegen den horizontalen Dialog betrifft, so beschränkt er sich auf periodische Treffen der Präsidenten der einzelnen Höchstgerichte auf europäischer Ebene. Schlussbetrachtungen Wie die vorstehenden Bemerkungen zeigen, unterscheidet sich das angloamerikanische Justizsystem markant von seinem europäischen Pendant, vor allem, was die Rekrutierung und die ideologische Ausrichtung seiner 18 Vgl. Hummer, W. – Obwexer, W. Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat“ und wieder retour? Reflexionen über das britische Memorandum über den EuGH vom 23. Juli 1996 zur Frage der „korrigierenden Kodifikation“ von Richterrecht des EuGH, Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht 10/1997, S. 295 ff. 19 Vgl. dazu allgemein Jacobs, F. G. Judicial Dialogue and the Cross-Fertilization of Legal Systems: The European Court of Justice, in: Symposium: Judicialization and Globalization of the Judiciary, 38 Texas International Law Journal, 2003, S. 547 ff; vgl. dazu auch Baudenbacher, C. The EFTA Court – an Example of Judicialisation of the International Economic Law, European Law Review, Issue 6, 2003, S. 880 ff.; Baudenbacher, C. The EFTA Court: An Actor in the European Judicial Dialogue, Fordham International Law Journal, Vol. 28, January 2005, Number 2, S. 353 ff; Baudenbacher, C. The EFTA Court, the CJEU, and the Latter’s Advocates General – A Tale of Judicial Dialogue, in: Arnull/Eckhout/Tridimas (eds.), Continuity and Change in EU Law. Essays in honour of Sir Francis Jacobs (2008), S. 90 ff.; Skouris, V. The Role of the Court of Justice of the European Union (CJEU) in the Development of the EEA Single Market: advancement trough Collaboration between the EFTA-Court and the CJEU, in: EFTA Court (ed.), The EEA and the EFTA Court (2014), S. 3 ff. 20 Siehe Hummer, W. „Judicial dialogue“ zwischen EGMR und nationalen Höchstgerichten, in: Heid/Stotz/Verny (Hrsg.), Die Rechtsprechung der EU-Gerichte in Wissenschaft und Praxis, FS Manfred Dauses (2014), S. 167 ff.

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Neuerliche Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Donald Trump

Höchstrichter betrifft. Der Umstand, dass diese in den USA in einem rein politischen Auswahlverfahren zwischen Präsident und Senat nominiert und anschließend auch bestellt werden, belegt eindeutig den Umstand, dass man sich dabei durchaus bewusst ist, dass die kontinentaleuropäische Annahme eines nicht subjektiv geprägten und daher allein nach objektiven Kriterien entscheidenden Richters eine reine Fiktion ist. Wenngleich auch in Österreich die Auswahl und Bestellung von Höchstrichtern durch Legislativ- und Exekutivorgane erfolgt – der Präsident, der Vizepräsident, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofs werden von der Bundesregierung, drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder vom Nationalrat und drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied vom Bundesrat vorgeschlagen; die Ernennung erfolgt durch den Bundespräsidenten – so geschieht dies vorrangig nach qualitativen Kriterien und nicht auf der Basis von deren ideologischer und parteipolitischer Zugehörigkeit. In diesem Zusammenhang sind die rechtssoziologischen Ansätze zur Aufdifferenzierung und Prognostizierung richterlicher Verhaltensweisen im angloamerikanischen Rechtskreis von grundlegender Bedeutung und sollen zumindest vergleichsweise auch in der kontinentaleuropäischen Rechtsdogmatik zur Kenntnis genommen werden. Wenngleich dies auch zu keinem Paradigmenwechsel hinsichtlich der Stellung und Funktion der Judikative im rechtsstaatlichen und gewaltenteilenden System europäischer Prägung führen wird, würde es die Nachvollziehbarkeit so mancher judikativer Entscheidungen erleichtern und für die Öffentlichkeit verständlicher machen. An der Erkenntnis subjektiver Prägungen und ideologischer Ausrichtungen einzelner Richterpersönlichkeiten führt einfach kein Weg vorbei. Quelle: EU-Infothek vom 10. September 2018, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 8)

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Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtsstaatlichen Pranger

9. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtsstaatlichen Pranger Dieses Mal leitete aber das Europäische Parlament das „Frühwarnsystem“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn ein Einführung Nachdem die Europäische Kommission bereits am 20. Dezember 2017 den Rat mit einem begründeten Vorschlag aufgefordert hatte, das Sanktionssystem des Art.  7 Abs.  1 EUV – das sog. „Frühwarnsystem“ – gegen Polen einzuleiten, um die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Werte der EU hintanzuhalten, wurde am 12. September 2018 dieses Mal das Europäische Parlament (EP) aktiv und richtete dieselbe Aufforderung an den Rat, nunmehr auch gegen Ungarn entsprechend vorzugehen. Damit hat auch das zweite, für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ zuständige Organ die Initiative ergriffen und ist gegen Ungarn vorgegangen, gegen das die Kommission interessanterweise bisher nicht einschlägig tätig geworden ist, obwohl Ungarn seit Jahren die Grundwerte des Art. 2 EUV in „systemischer“ Weise immer wieder verletzt. Die neuerliche Einleitung eines Sanktionsverfahrens gegen einen EUMitgliedstaat wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf, denen nachstehend in aller Kürze nachgegangen werden soll. Zuvor ist allerdings ein kurzer Blick auf die beiden unterschiedlichen Verfahren zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit bzw. zur Sanktionierung bei einem „systemischen“ Bruch derselben zu werfen, die in der einschlägigen Literatur aber nicht immer exakt auseinandergehalten werden. Noch dazu ist das sog. „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ nur gegen Polen, nicht aber gegen Ungarn zum Einsatz gekommen. Ebenso muss auch kurz aufgezeigt werden, wie diese beiden Verfahren zu den parallel von der Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV stehen. Das Zusammenspiel des (formellen) Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV mit dem (informellen) „EU-Rahmen zur Sicherung des Rechtsstaatsprinzips“ (sog. „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“)

Das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV Das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV zum Schutz der Grundwerte der EU wurde durch den Vertrag von Amsterdam (1997) in die EU eingeführt. Es umfasst zwei Mechanismen: Präventionsmaßnahmen im Falle der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte, und Sanktionen, wenn eine solche Verletzung bereits stattgefunden hat. Zurückgehend auf die Erfahrungen, die man mit den „Sanktionen der 14“ gegen Österreich im Jahre 2000 gemacht hatte – so wurde Österreich weder eine

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Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, noch wurde ein Ausstiegsszenario eingeplant1 – wurde im Zuge der Novellierung der Verträge im Gefolge des Vertrags von Lissabon (2007), mit dessen Inkrafttreten am 1. Dezember 2009, dem Art.  7 EUV ein neuer Absatz 1 angefügt, in dem ein eigenes „Frühwarnsystem“ verankert wurde. Für ein entsprechendes Verständnis des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV muss zunächst ein Blick auf die komplexen formalen Voraussetzungen für die Einleitung und Durchführung desselben geworfen werden, wobei hinsichtlich der erforderlichen Präsenz- bzw. Konsens-Quora auch die Art.  238 und 354 AEUV, sowie für den Fall der (gegenständlichen) Beantragung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV durch das EP, auch die Art.  83 Abs.3 und Art.  178 Abs.  3 der GO des EP zu berücksichtigen sind. (a) Gem. Art. 7 Abs. 1 EUV sind für die Einleitung des sog. „Frühwarnsystems“ die Mitgliedstaaten (ein Drittel), das EP (zwei Drittel der „abgegeben Stimmen“ und Mehrheit der Mitglieder des EP) und die Europäische Kommission zuständig. Auf deren begründeten Vorschlag kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder, und nach Zustimmung des EP, feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Zuvor hat der Rat den betreffenden Mitgliedstaat anzuhören und kann auch Empfehlungen an diesen richten. (b) Gem. Art. 7 Abs. 2 EUV kann in der Folge der Europäische Rat – auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des EP – einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er diesen zu einer Stellungnahme aufgefordert hat. (c) Gem. Art. 7 Abs. 3 EUV kann der Rat, falls eine solche Feststellung gem. Abs. 2 getroffen wurde, mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte des betroffenen Staates auszusetzen, einschließlich der Stimmrechte desselben im Rat. Diese Suspendierung der Stimmrechte im Rat ist die maximale Sanktion, die im Rahmen des Art. 7 EUV-Verfahren ergriffen werden kann, ein Ausschluss des unbotmäßigen Mitgliedstaates aus der EU ist dabei nicht vorgesehen. (d) Gem. Art. 7 Abs. 4 EUV kann der Rat zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, die nach Abs. 3 getroffenen Maß1 Vgl. Hummer, W. Das Ende der „EU-Sanktionen“ gegen Österreich – Präjudiz für ein neues Sanktionsverfahren?, The European Legal Forum 2-2000/01, S. 77 ff.; Hummer, W. Die „Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung – Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht, in: Hummer/Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“. Die „Maßnahmen der 14“ gegen die österreichische Bundesregierung aus politikwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2000), S. 50 ff.

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nahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind. (e) Gem. Art. 7 Abs. 5 EUV richten sich die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke des Art. 7 EUV für das EP, den Europäischen Rat und den Rat gelten, nach Art. 354 AEUV.

Das „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ Da das Sanktionsverfahren des Art.  7 EUV, wegen seiner komplexen formellen und materiellen Voraussetzungen und Wirkungen, als politische „Atombombe“ angesehen wurde,2 die eigentlich nicht eingesetzt werden soll, bemühte sich die Kommission, diesem „harten“ Sanktionsverfahren ein „weiches“ Dialogverfahren vorzuschalten, für das die Verträge allerdings keine formelle Rechtsgrundlage vorsahen, sodass dessen Rechtmäßigkeit angezweifelt wurde.3 Der von der Kommission am 11. März 2014 vorgestellte „Neue EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“,4 der aufgrund seiner Positionierung iSe „Vorschaltung“ vor dem Art. 7 EUV-Verfahren auch anschaulich „Vor Artikel 7 EUV-Verfahren“ genannt wurde5, ist – als bloßes „Dialogverfahren“ zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat – dreistufig ausgestaltet: (a) in einer ersten Stufe bewertet die Kommission den konkreten Sachstand der Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsgebots und tritt danach mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaates in einen (vertraulichen) Dialog ein, wobei sie ihre Bedenken in einer „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ formuliert; (b) kann im Rahmen dieses Dialogs das Rechtsstaatlichkeitsproblem nicht zufriedenstellend gelöst werden, dann richtet die Kommission in einer zweiten Stufe eine „Rechtsstaatlichkeitsempfehlung“ an den betreffenden Mitgliedstaat. Darin empfiehlt sie diesen die genannten Probleme innerhalb einer bestimmten Frist zu lösen und sie anschließend über die getroffenen Maßnahmen zu unterrichten. Diese Empfehlung wird von der Kommission veröffentlicht; 2 „Nuclear bomb of article 7“: Bemerkung von Kommissionspräsident José Manuel Barroso in seiner „State of the Union adress 2013“ vom 11. September 2013 (SPEECH/13/684). 3 Laut einem Gutachten des Rechtsdienstes des Rates vom 27. Mai 2014 (Dok. 10296/14, nicht veröffentlicht) handelt es sich dabei um eine Vertragsänderung iSe (verbotenen) Überschreitung des „Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung“; vgl. Kochenov, D. – Pech, L. Upholding the Rule of Law in the EU: On the Commission‘s „Pre-article 7 procedure“ as a timid Step in the Right Direction, European Issues No. 356, 12th May 2015, S. 8 f. 4 KOM(2014) 158 endg.; vgl. dazu Hummer, W. Neuer Frühwarnmechanismus bei Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in der EU, EU-Infothek vom 8. April 2014. 5 „Pre-Article 7 procedure“ laut einer Bemerkung von Kommissarin Viviana Reding in ihrer Rede „A new Rule of Law initiative“; SPEECH/14/202 vom 11. März 2014, S. 1.

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(c) in der dritten Stufe überprüft die Kommission, ob die von ihr angeordneten Maßnahmen bis zum vorgegebenen Zeitpunkt entsprechend durchgeführt wurden. Sollte dies nicht der Fall sein, kann die Kommission den (formellen) Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV einleiten. Dieses „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ wurde erstmals am 13. Jänner 2016 gegen Polen eingeleitet und endete im Rahmen der dritten Stufe am 20. Dezember 2017 mit der (vierten) „Rechtsstaatlichkeitsempfehlung“ der Kommission an Polen und der gleichzeitigen Überleitung in das vorstehend erwähnte „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV.6 Im Gegensatz zu Polen wurde dieses „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ gegen Ungarn – neben einer Reihe unterschiedlicher politischer Überlegungen – aber alleine schon deswegen nicht eingeleitet, da im Falle von Ungarn die Beantragung des „Frühwarnsystems“ ja nicht durch die (aufsichtsführende) Kommission, sondern durch das EP, erfolgte. Vertragsverletzungsklage gem. Art. 258 AEUV Konträr zu diesen beiden „politischen“ Verfahren – des Art. 7 EUV- und „Vor Art. 7 EUV“-Verfahren – dient das dritte in Frage kommende Verfahren des Art. 258 AEUV dazu, konkrete Rechtsverstöße gegen das Unionsrecht mit einer Vertragsverletzungsklage zu sanktionieren, sodass dieses parallel zu diesen beiden Verfahren eingesetzt werden kann und auch wird.7 Dabei ist aber zu bedenken, dass der sachliche Anwendungsbereich von Art. 7 EUV nicht auf die konkreten Verpflichtungen aus den Verträgen beschränkt ist, sodass die Union das Vorliegen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Grundwerte auch in Bereichen prüfen kann, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.8 Wodurch unterscheidet sich eigentlich die Gefährdung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in Ungarn von der in Polen? Wie der Verfasser bereits mehrfach festgestellt hat, hätte die Einleitung des Sanktionsverfahrens wegen gravider Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips gem. Art. 7 EUV aus zeitlicher Sicht zunächst gegen Ungarn und erst da6 Hummer, W. Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen?, EU-Infothek vom 8. Jänner 2018. 7 So brachte die Kommission am 24. September 2018 eine Vertragsverletzungsklage gegen Polen ein; Rechtsstaatlichkeit: Europäische Kommission verklagt Polen vor dem Europäischen Gerichtshof, um Unabhängigkeit des Obersten Gerichts zu schützen (IP/18/5830, vom 24. September 2018); vgl. dazu schon allgemein Hummer, W. Sanktionen der EU gegen Ungarn. Vertragsverletzungs- oder Sanktionsverfahren?, EU-Infothek vom 7. Februar (Teil 1), vom 14. Februar (Teil 2) und vom 21. Februar 2012 (Teil 3). 8 Vgl. Mitteilung der Kommission zu Artikel 7 EUV: Wahrung und Förderung der Grundwerte der Europäischen Union, KOM(2003) 606.

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nach gegen Polen erfolgen sollen. Ungarn verletzt unter den mehrfachen Regierungen Viktor Orbáns – zwar noch nicht in der Regierung Orbán I (1998–2002),9 aber dann in den Nachfolgeregierungen Orbán II (2010– 2014), Orbán III (2014–2018) und Orbán IV (10. Mai 2018 ff.) – kontinuierlich tragende Grundwerte der EU, vor allem aber das Rechtsstaatsprinzip, ohne dass ihm bisher die Einleitung eines Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV dafür angedroht wurde.10 Auch die im Gefolge des überwältigenden Wahlsieges vom 8. April 2018, der der Fidesz die seit der Nachwahl von Veszprem am 22. Februar 2015 verloren gegangene Zwei-Drittel-Mehrheit11 in der ungarischen Nationalversammlung wieder erbrachte, ergriffenen Maßnahmen haben dazu geführt, „dass Ungarn näher an einem totalitären Regime anzusiedeln ist als an einer bürgerlichen Demokratie“.12 Im Gegensatz dazu ereigneten sich die systematischen Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip in Polen erst mit dem Amtsantritt der Regierung von Beata Szydło am 16. November 2015, setzten sich aber unter dem neuen Ministerpräsidenten, Mateusz Morawiecki, der sie am 11. Dezember 2017 als Regierungschef ablöste, kontinuierlich fort. Inhaltlich ging es dabei vor allem um die Säuberung und komplette Umgestaltung des polnischen Justizsystems auf allen seinen Ebenen. Dass Ungarn bisher von der Einleitung eines „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV verschont geblieben ist, hat vor allem zwei Gründe: Zum einen blieb Viktor Orbán immer gesprächsbereit und kam seinen Kritikern im richtigen Moment mit kleinen Konzessionen entgegen, und zum anderen ist seine Partei Fidesz – anders als die polnische Regierungspartei PiS – Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), der stärksten Fraktion im EP, die Orbán immer wieder unterstützte und gegen Angriffe verteidigte. Erst als der unter der Federführung der niederländischen Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini erstellte Bericht des EP-Ausschusses für Bürgerrechte, 9 Das ungarische „Statusgesetz“ vom 19. Juni 2001 begegnete allerdings bereits völkerrechtlichen und europarechtlichen Bedenken; vgl. Hummer, W. Das ungarische Statusgesetz – völkerrechtliche und europarechtliche Implikationen, AWR Bulletin 2/2005, S. 78 ff. 10 Vgl. Hummer W. Rechtstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen. Misst die Europäische Kommission dabei mit zweierlei Maß?, EU-Infothek vom 12. Mai 2017 (Teil 1) und EU-Infothek vom 16. Mai 2017 (Teil 2); Hummer, W. Ungarn erneut am Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Europarecht 5/2015, S. 625 ff.; Hummer, W. Die Reaktionen der EU und des Europarates auf die vierte Novellierung der ungarischen Verfassung, EU-Infothek vom14. Mai 2013 (Teil 1) und EU-Infothek vom 21. Mai 2013 (Teil 2). 11 Nachwahl in Ungarn: Orbán-Partei verliert Zweidrittelmehrheit, Spiegel.online vom 22.02.2015. 12 Magyari, P. 2018 – die neue Wende in Ungarn, Der Standard vom 11. September 2018, S. 27; vgl. Bugarič, B. Protecting Democracy inside the EU: On Article 7 TEU and the Hungarian turn to Authoritarianism, in: Closa, C. – Kochenov, D. (eds.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union (2016), S. 82 ff.

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Justiz und Inneres13 eine Reihe von rechtsstaatlichen Fehlentwicklungen in Ungarn akribisch auflistete und die Einleitung des „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV anregte, begann diese Front der Unterstützung der Fidesz (12 Abg.) durch die Parteienfamilie der EVP (insgesamt 219 Abg.) zu bröckeln. Da es Orbán nicht gelang, in der Debatte über diesen Bericht am 11. September 2018 die Bedenken zu zerstreuen14 und auch der Fraktionsvorsitzende der EVP, Manfred Weber, für die Einleitung des Sanktionsverfahrens gegen Ungarn plaidierte, konnte die Fidesz nicht mehr mit der bedingungslosen Unterstützung durch die EVP rechnen. Als Weber in der Folge für die EVP auch noch die Abstimmung über den „Sargentini-Bericht“ im EP am nächsten Tag freigab, war das Schicksal Ungarns grundsätzlich besiegelt. Damit brach die bisherige Geschlossenheit des Stimmblocks der EVP aus­ einander und die überwiegende Mehrheit der EVP-Abgeordneten stimmte für die Einleitung des Sanktionsverfahrens gegen Ungarn. Nur EVP-Abgeordnete aus osteuropäischen Staaten, Italien und Bayern stimmten dagegen.15 Die Einleitung des „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn durch das EP Am 4. Juli 2018 legte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des EP durch seine Berichterstatterin Judith Sargentini (Grüne/ EFA, NL) dem EP den Entwurf einer Entschließung zu einem Vorschlag vor, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der EU durch Ungarn besteht,16 und wies dabei zunächst auf die Fülle seiner bisherigen einschlägigen Entschließungen17 hin, die allerdings seitens der ungarischen Regierung völlig unbeachtet geblieben sind. 13 PE 620.837v02-00, A8-0250/2018. 14 Orbán ging in seiner Rede auf die einzelnen Vorwürfe bewusst nicht ein, sondern wies diese brüsk als Lügen zurück und erklärte, dass dieser kritische Bericht die Ehre seines Landes verletze und bloß eine Bestrafung für die Migrationspolitik seines Landes sei. Er enthalte auch 37 faktische Fehlinformationen. Im Übrigen sei Sargentini nicht Juristin, sondern Historikerin und daher inkompetent, einen solchen Bericht zu erstellen; vgl. Nuspliger, N. Viktor Orban auf Konfrontationskurs, NZZ vom 12. September 2018, S. 5; Gelegs, E. Wie das System von Viktor Orbán organisiert ist, Kurier vom 16. September 2018, S. 8 f.; Kopeinig, M. Türkis-blaues Fernduell um Orbán, Kurier vom 12. September 2018, S. 3. 15 Vgl. Mayer, G. Orbán kokettiert mit Führerschaft in EU-Rechtsblock, Der Standard vom 14. September 2018, S. 5. 16 Siehe Fn. 14. 17 In seiner Entschließung vom 17. Mai 2017 zur Lage in Ungarn erklärte das EP zum ersten Mal, dass angesichts der aktuellen Lage in Ungarn die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte besteht und es da-

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Danach listete er konkret zwölf Punkte auf, die dem EP in der ungarischen Rechtsordnung besondere Bedenken verursachen: 1) die Funktionsweise des Verfassungs- und des Wahlsystems; 2) die Unabhängigkeit der Justiz und anderer Institutionen sowie die Rechte der Richter; 3) Korruption und Interessenkonflikte; 4) Privatsphäre und Datenschutz; 5) das Recht auf freie Meinungsäußerung; 6) die akademische Freiheit; 7) die Religionsfreiheit; 8) die Vereinigungsfreiheit; 9) das Recht auf Gleichbehandlung; 10) die Rechte von Personen, die einer Minderheit angehören, einschließlich Roma und Juden, und den Schutz vor hetzerischen Äußerungen, die gegen diese Minderheiten gerichtet sind; 11) die Grundrechte von Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen; 12) wirtschaftliche und soziale Rechte. Diese Bedenken werden in der Folge in 75 detaillierten Absätzen näher dargestellt und begründet. Nach einer Reihe von Stellungnahmen18 kam es in der Folge am 12. September 2018 zur definitiven Annahme des „Sargentini-Entwurfs“, und damit zur Aufforderung des Rates, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht.19 Korrektes Zustandekommen der Zwei-Drittel-Mehrheit für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ gegen Ungarn? Für die Annahme dieser Entschließung zur Einleitung des „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn war eine absolute Mehrheit der Mitglieder des EP sowie eine Zwei-Drittel-Mehrheit der „abgegebenen Stimmen“ erforderlich. Mit den in der Abstimmung, bei der von den insgesamt 751 Abg. des EP 693 Abg. anwesend waren, erzielten 448 Pro-Stimmen – bei 197 Gegenstimmen und 48 Enthaltungen – wurde aus Sicht des EP die Entschließung nicht nur mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder des her gerechtfertigt ist, das Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV einzuleiten. Diese Entschließung (P8_TA(2017)0216) wurde mit 393 Pro- gegen 221 Kontra-Stimmen angenommen; Hummer, W. Erstmals versucht das Europäische Parlament das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn einzuleiten, EU-Infothek vom 23. Mai 2017. 18 Stellungnahmen des Haushaltskontrollausschusses, des Ausschusses für Kultur und Bildung, des Ausschusses für konstitutionelle Angelegenheiten und des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (A8-0250/2018). 19 2017/2131(INL) (ABl. 2019, C 433, S. 66); P8_TA-PROV(2018)0340, A8-0250/2018.

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EP20, sondern auch mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen (69,5% zu 30,5%), rechtskonform angenommen. Aus der Sicht Ungarns war dies aber nicht der Fall, da es sich auf den Standpunkt stellte, dass bei der Berechnung der Stimmen auch die StimmEnthaltungen als „abgegebene Stimmen“ bewertet werden müssen. Unter diesen Umständen wären aber 462 Stimmen für eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig gewesen, sodass die Einleitung des „Frühwarnsystems“ gegen Ungarn als gescheitert anzusehen sei. Mit den tatsächlich abgegebenen 448 Pro-Stimmen hätten nur knapp 65 Prozent – und nicht die notwendigen 66,6% – für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ gestimmt. Zur Verdeutlichung dieser Interpretationsdivergenz soll in aller Kürze auf die einschlägigen Rechtsgrundlagen verwiesen werden. Wie vorstehend bereits erwähnt, richten sich gem. Art. 7 Abs. 5 EUV die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke des Art. 7 EUV für das EP, den Europäischen Rat und den Rat gelten, nach Art. 354 AEUV. Gem. Art. 354 Abs. 4 AEUV beschließt das EP für die Zwecke des Art. 7 EUV mit der Mehrheit von zwei Dritteln der „abgegebenen Stimmen“ und mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Diese Bestimmung wird in Art. 83 Abs. 3 der GO des EP wortgleich wiederholt. In Ergänzung dazu bestimmt Art. 178 Abs. 3 der GO des EP, dass für die Annahme eines Textes nur die „abgegebenen Ja- und NeinStimmen“ bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt werden, ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist. Da es daher grundsätzlich nur auf die „abgegebenen Ja- und Nein-Stimmen“ ankommt, sind Stimmenthaltungen nicht zu berücksichtigen. Dieses vermeintlich offensichtliche Ergebnis wird aber durch den letzten Satzteil von Art. 178 Abs. 3 der GO des EP – „ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist“ – unter Umständen in Frage gestellt, da es denkmöglich hinsichtlich der Behandlung von Stimmenthaltungen im Falle „spezifischer Mehrheiten“ zu einer anderen Regelung kommen könnte, was aber in praxi nicht der Fall ist. So bestimmt zB Art. 354 Abs. 1 AEUV bezüglich des Abstimmungsverhaltens der Mitglieder des Europäischen Rates bzw. des Rates expressis verbis, dass die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern dem Erlass von Beschlüssen nach Art. 7 Abs. 2 EUV nicht entgegensteht, was allerdings in Art.  354 Abs.  4 AEUV nicht wiederholt wird. Dementsprechend stellt Art. 354 Abs. 4 AEUV auch keine „Ausnahme“ iSv Art. 178 Abs. 3 der GO des EP in der Form dar, dass er eine „spezifische Mehrheit“ darstellt. Als niederrangigere Geschäftsordnungsbestimmung kann sich Art. 178 Abs. 3 GO des EP ohnehin nur am vorgegebenen Primärrecht der Verträge orientieren bzw. auf dieses verweisen.

20 Erforderlich wären dafür mindestens 376 Abgeordnete.

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Die ungarische Regierung wird laut Kanzleramtsminister Gergely Gulyas in Kürze über die konkreten rechtlichen Schritte entscheiden, wobei eine Klage vor dem Gerichtshof die „wahrscheinlichste“ Option sein wird.21 Im Übrigen wird es aber so oder so zu keinen Sanktionen gegen Ungarn gem. Art. 7 Abs. 2 EUV kommen, da sowohl Polen als auch Tschechien für diesen Fall bereits ein Veto angekündigt haben.22 Diese interessante Interpretationsdivergenz, ob Stimmenthaltungen auch als „abgegebene Stimmen“ qualifiziert werden müssen oder nicht, beschäftigte auch die österreichische Außenpolitik, da Außenministerin Karin Kneissl, nach Rücksprache mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache, den Juristischen Dienst des Rates ersuchte, zu prüfen, ob dies der Fall sei oder nicht – und zwar noch bevor sich der Rat der EU mit dieser Frage befasst.23 Dieser erklärte sich aber umgehend als dafür nicht zuständig, da er interne Entscheidungsabläufe des EP nicht kommentiere. Dieses Vorgehen eines Ministers des Vorsitzlandes Österreich fand Judith Sargentini „enttäuschend, da es zeigt, dass sie bloß parteipolitische Spielchen spielen wollen“.24 Der Vorschlag des EP für einen Beschluss des Rates zur Einleitung des „Frühwarnsystems“ wird nun den EU-Mitgliedstaaten zugeleitet, die mit einer Mehrheit von vier Fünfteln feststellen können, dass in Ungarn eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte des Art. 2 EUV besteht. Zunächst müsste aber der Rat die Ansichten der ungarischen Behörden hören und auch das EP müsste dazu zustimmen. Die Mitgliedstaaten können sich zunächst aber auch dafür entscheiden, entsprechende Empfehlungen an Ungarn zu richten. In diesem Sinne kam es bereits am 26. Juni 2018 zu einer Befragung des ungarischen Europaministers Konrad Szymanski (PiS) im Rat, die aber wenig informativ verlief, da dieser immer wieder darauf hinwies, dass Polen nicht darauf verzichten werde, sein Justizwesen eigenständig auszugestalten. Diese Vorgangsweise wiederholte sich in der zweiten Anhörung Szymanski’s zur Rechtsstaatlichkeit in Polen am 18. September 2018 im Rat (Allgemeine Angelegenheiten). Behindert die Einleitung des „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn „Dublin-Überstellungen“ sowie die Vollstreckung von „Europäischen Haftbefehlen“? Eines der interessantesten Probleme im Zusammenhang mit der Einleitung des „Frühwarnsystems“ gegen Ungarn betrifft die Frage, ob damit sowohl 21 Orbans Ungarn will gegen Rechtsstaatsverfahren der EU klagen – mit einem Trick, Hersfelder Zeitung vom 13. September 2018; vgl. PS:, nachstehend auf S. 149. 22 Ungarn will EU-Beschluss anfechten, tagesschau.de vom 13. September 2018. 23 Vgl. FPÖ will Ungarn-Abstimmungsergebnis überprüfen lassen, Kleine Zeitung vom 16. September 2018. 24 Zitiert bei Grimm, O. Verhandlung mit Ungarn „unmöglich“, Die Presse vom 28. September 2018, S. 8.

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Überstellungen im Rahmen des „Dublin-Systems“ als auch Vollstreckungen von „Europäischen Haftbefehlen“ in Ungarn unzulässig geworden sind oder nicht. Zum einen forderte das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) bereits am 10. April 2017 die sofortige Aussetzung von „Dublin-Überstellungen“ nach Ungarn. 2017 wurden von den insgesamt 3.397 in Ungarn gestellten Anträgen auf internationalen Schutz 2.880 abgelehnt, womit die Ablehnungsquote bei 69,1% liegt. 2015 wurden von 480 Einsprüchen vor Gericht im Zusammenhang mit Anträgen auf internationalen Schutz lediglich 40 positiv entschieden, was einem Satz von lediglich 9% entsprach.25 Damit liegt Ungarn an der letzten Stelle, was die Befürwortung von Anträgen auf internationalen Schutz betrifft. Was wiederum die Behandlung von „Europäischen Haftbefehlen“ betraf, so stellt die Rechtssache ML26 vor dem Gerichtshof ein interessantes Präjudiz dar. Dabei ging es um einen ungarischen Staatsangehörigen, der sich seit dem 23. November 2017 aufgrund eines früheren Haftbefehls aus Ungarn – basierend auf Verurteilungen wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Betrugshandlungen und Einbruchsdiebstählen – in deutscher Auslieferungshaft befindet. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) Bremen wird der Gerichtshof aber nicht nach dem Vorliegen „systemischer“ rechtsstaatlicher oder allgemeiner Mängel im Strafvollzug in Ungarn sondern vielmehr vor allem danach gefragt, ob die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr, dass eine Person, gegen die ein „Europäischer Haftbefehl“ zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art. 4 EU-Grundrechte-Charta erfährt, nicht allein aus dem Grund ausschließen kann, dass dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat des „Europäischen Haftbefehls“ eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, die es ihr ermöglicht, ihre Haftbedingungen in Frage zu stellen. Diesbezüglich stellte der Gerichtshof fest, dass die bloße Möglichkeit der betroffenen Person, in Ungarn eine Haftbeschwerde einzubringen, nicht genüge, um das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher Behandlung auszuschließen. Die vollstreckenden Justizbehörden seien weiterhin verpflichtet, die Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen, ob diese nicht einer solchen Gefahr tatsächlich ausgeliefert werde. Allerdings seien diese Behörden nur verpflichtet, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden soll.27 25 Entschließung des EP vom 12. September 2018, Punkt 62. 26 Gerichtshof, Rs. C-220/18 PPU, ML (ECLI:EU:C:2018:589); im Jahr 2018 wurden insgesamt 17.471 Europäische Haftbefehle ausgestellt. 27 Vgl. Hummer, W. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit, EuR Heft 6/2018, S. 653 ff.

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Wie kann das „kollusive“ Einverständnis zwischen Polen und ­Ungarn überwunden werden, um deren reziprokes Veto zu umgehen? Die Eröffnung eines weiteren „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV, nunmehr neben Polen auch gegen Ungarn – dieses Mal aber durch das EP und nicht durch die Kommission initiiert – wirft eine Reihe von Fragen auf, die die Schöpfer dieses Sanktionsverfahrens bei der Konzipierung desselben nicht vorhergesehen haben. Waren sie schon der Meinung, dass es an sich nie dazu kommen werde, dass in einem Mitgliedstaat der EU das Rechtsstaatsprinzip in „systemischer“ Weise verletzt werden würde, so haben sie umso weniger daran gedacht, dass dies nicht nur in einem, sondern sogar in mehreren Mitgliedstaaten – mehr oder weniger gleichzeitig – der Fall sein könnte. Dementsprechend konnten sie auch nicht rechtstechnisch die Situation antizipieren, die sich in diesem Zusammenhang in dem Moment einstellte, in dem sich Polen und Ungarn gegenseitig versicherten, das gem. Art.  7 Abs. 2 EUV notwendige Einstimmigkeitserfordernis im Europäischen Rat zur Feststellung des Vorliegens einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte, jeweils reziprok durch ihr Veto zu verhindern. Durch diese Vorgehensweise zweier Mitgliedstaaten, gegen die gleichzeitig das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 Abs. 1 EUV eingeleitet wurde, wird dieses – von den formalen Voraussetzungen desselben in den Bereichen des Präsenz- und Konsensquorum ohnehin nur äußerst schwer erfüllbare – Verfahren völlig „ad absurdum“ geführt und komplett inoperativ gemacht. Um es aber nicht völlig untergehen zu lassen wird in der spärlichen Literatur nach Möglichkeiten gesucht, dieses „kollusive Einverständnis“ zwischen Polen und Ungarn irgendwie aufzubrechen. Eine der originellsten dabei angebotenen Möglichkeiten, die daraus folgende Funktionsunfähigkeit des Art. 7 EUV zu umgehen, bestünde in der Technik der Einrichtung eines „gemeinsamen Verfahrens“ gegen Polen und Ungarn.28 Ein solches gemeinsames Verfahren hätte zur Folge, dass im Europäischen Rat auch nur einmal abgestimmt werden würde, wobei Polen und Ungarn (gemeinsam) nicht stimmberechtigt wären. Die Einstimmigkeit wäre dabei also schon gegeben, wenn die 26 anderen Mitgliedstaaten mit Ja stimmen bzw. sich enthalten würden. Obwohl sich eine solche Verfahrensverbindung der Regelung des Art. 7 EUV formal nicht entnehmen lässt, erscheint es zumindest nicht völlig unzulässig, eine solche anzunehmen, um ein Vorgehen gegen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit ähnlichen „systemischen“ Verletzungen des Wertekanons des Art. 2 EUV in ihren Rechtsordnungen zu ermöglichen und deren reziproke Veto‘s zu neutralisieren. Dafür müssten aber folgende zwei Vor28 Vgl. Prantl, H. Orbáns europarechtliches Verbrechen muss Folgen haben, Süddeutsche Zeitung vom 8. September 2017; Okonska, M. Debatte: Artikel 7 gegen Ungarn und Polen gleichzeitig, treffpunkt-Europa.de vom 8. August 2017.

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aussetzungen kumulativ vorliegen: zum einen bedürfte es eines engen Zusammenhangs zwischen den jeweils vorgeworfenen Werteverstößen, sodass es im Grunde „um die gleiche Sache“ gehen müsste.29 Zum anderen bedarf es des Nachweises eines begründeten Verdachts eines kollusiven Zusammenwirkens der betroffenen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die bewusste Verhinderung einer Einstimmigkeitsentscheidung des Europäischen Rates, mit der eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte des Art.  2 EUV festgestellt und damit der konkrete Sanktionsbereich des Art. 7 Abs. 3 EUV eröffnet wird.30 Wenngleich sich letzteres Kriterium aufgrund der mehr als eindeutigen Äußerungen Viktor Orbán’s, aber auch von Beata Szydło und ihrem Nachfolger, Mateusz Morawiecki – sich gegenseitig abstimmungsmäßig zu unterstützen – eindeutig belegen lässt, ist die Frage, ob es sich in Polen und in Ungarn um mehr oder weniger „die gleiche Sache“ an rechtsstaatlichen Verstößen handelt, schon schwieriger zu beantworten. Während es sich in Polen um die völlige Umpolung der Richterschaft und die politische Umfärbung der (Höchst)Gerichte in all ihren Facetten handelt, überwiegt in Ungarn die systematische Umgestaltung des Landes von einem demokratischen in einen „illiberalen“ Staat, was – neben einigen grundlegenden Änderungen im institutionellen und materiellen (Verfassungs)Recht – eine Unzahl von kleineren rechtsstaatswidrigen Umgestaltungen der nationalen ungarischen Rechtsordnung zur Folge hat. Insofern kann man zwar sowohl in Polen, als auch in Ungarn abstrakt von gleichartigen „systemischen“ Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips sprechen, es handelt sich dabei aber „in concreto“ inhaltlich nicht „um die gleiche Sache“. In einer „erweiterten“ Interpretation des Begriffs „betroffener“ bzw. „betreffender“ Mitgliedstaat in Art. 354 Abs. 1 Satz 1 AEUV könnte man im gegenständlichen Fall der Eröffnung paralleler Sanktionsverfahren gegen Polen und Ungarn aber auch folgern, dass dann beide Staaten „betroffen“ wären und dementsprechend ihr Stimmrecht im jeweils anderen Verfahren ebenfalls nicht ausüben dürften.31 Eine weitere (Hilfs)Argumentation geht wiederum davon aus, dass in den einschlägigen Bestimmungen zwar nur von „einem“ Mitgliedstaat die Rede ist, was aber nicht zwingend als nur „einen einzigen“ zu verstehen ist. Alle diese theoretischen Überlegungen stellen aber nur Interpretationen „de lege ferenda“ dar, die ihre praktische Effizienz erst noch in einem gerichtsförmigen Verfahren im Schoß der EU beweisen müssten. 29 Unter ähnlichen Voraussetzungen der „Gleichartigkeit“ können zB zwei oder mehrere Rechtssachen gem. Art.  54 VerfO des Gerichtshofs vom 25. September 2012 (ABl. 2012, L 265, S. 1 ff. idF ABl. 2016, L 217, S. 69) in Verfahren vor dem EuGH verbunden werden. 30 Thiele, A. Art.  7 EUV im Quadrat? Zur Möglichkeit von Rechtsstaats-Verfahren gegen mehrere Mitgliedstaaten, Verfassungsblog 2017/7/24 vom 24. Juli 2018. 31 Hummer, Erstmals versucht das Europäische Parlament (Fn. 17), Fn. 21.

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Schlussbetrachtungen Wie die vorstehenden Ausführungen aufzeigen, hat nunmehr das EP die bisherige Säumnis der Kommission, gegen Ungarn das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV einzuleiten, kompensiert und dies selber veranlasst. Damit ist die bisherige Taktik Viktor Orbán’s gescheitert, sich dialogbereit zu zeigen und auf die entsprechenden Aufforderungen der Kommission mit minimalen Zugeständnissen zu reagieren, ohne dabei aber die große Linie, nämlich die Errichtung eines „illiberalen“ Staates in Ungarn, aufzugeben. Im Gegenteil, Orbán verfolgt jetzt seine nationalistische Politik mit noch größerer Vehemenz und versucht dafür – neben den anderen Visegrád-Staaten – noch weitere Bundesgenossen zu finden, was ihm mit Bulgarien ja auch bereits geglückt ist. Damit bildet sich in der EU aber ein gefährlicher Block „illiberaler“ Staaten heraus, der sich zu einem Kristallisationspunkt weiterer mit der gegenwärtigen Politik der EU nicht mehr zufriedener Mitgliedstaaten verdichten könnte, womit aber die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu Solidarität und loyaler Zusammenarbeit weiter unterlaufen werden würde. Lässt man allerdings den weiteren Fortgang des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV gegen Ungarn Revue passieren, muss man erkennen, dass – genauso wie im parallelen Verfahren gegen Polen – die Einleitung weiterer Schritte aus pragmatischen Gründen nicht möglich sein wird. Ist schon die im Rat gem. Art.  7 Abs.1 EUV für die Feststellung, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art.2 EUV genannten Werte“ besteht, notwendige Mehrheit von vier Fünfteln der Mitgliedstaaten nicht gesichert, so sinkt die Wahrscheinlichkeit auf Null, im Europäischen Rat gem. Art. 7 Abs. 2 EUV einstimmig die Feststellung des Bestehens einer solchen schwerwiegenden Verletzung festzustellen, um damit den Rat gem. Art. 7 Abs. 3 EUV zu ermächtigen, mit qualifizierter Mehrheit bestimmte Rechte von Ungarn auszusetzen. Die vorstehend angeführten „de lege ferenda“-Argumente, vor allem die verfahrensmäßige „Verbindung“ beider Sanktionsverfahren, werden daran wohl nichts ändern. Im parallelen Sanktionsverfahren gegen Polen ist es bisher lediglich zu zwei Anhörungen Polens durch den Rat gekommen, die gem. Art. 7 Abs. 1 EUV ja Voraussetzung für die vorerwähnte Feststellung dieses Organs ist, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte des Art. 2 EUV vorliegt. Das belegt einmal mehr, wie schwerfällig sich die weitere Durchführung des „Frühwarnsystems“ dann gestaltet, wenn die entsprechenden Quora an sich zwar vorhanden sind, aus politischer Opportunität aber (noch) nicht eingesetzt werden wollen. Was aber bereits jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, ist der Umstand, dass eine von Ungarn angekündigte Anfechtung der Empfehlung des EP zur Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art.  7 Abs.  1 EUV, wegen der Nichtberücksichtigung

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von Stimmenthaltungen, erfolgreich sein würde. Dazu reichen die bisher vorgebrachten Anfechtungsgründe nicht aus. Abschließend muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass die Einführung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV durch den Vertrag von Amsterdam und dessen weitere Ausgestaltung durch den Vertrag von Lissabon eine sehr wichtige Maßnahme war, um in einem supranationalen Integrationsgebilde wie der EU die notwendige Solidarität und Loyalität der Mitgliedstaaten entsprechend abzusichern. Dabei dachte man aber nicht daran, dass es einmal mehrere Mitgliedstaaten geben könnte, die schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der in Art. 2 EUV verankerten Grundwerte der EU, mehr oder weniger gleichzeitig, begehen könnten. Dementsprechend mangelhaft ist das Sanktionsverfahren des Art.  7 EUV verfahrensmäßig auch ausgestaltet,32 das diesen Artikel im konkreten Anlassfall inoperativ macht. Trotzdem kommt der Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Polen und Ungarn durch die Kommission und das EP eine wichtige politische „Ermahnungs-Funktion“ zu, wenngleich diese in praxi auch nicht durchgesetzt werden kann. Quelle: EU-Infothek vom 2. Oktober 2018, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 9) PS: Ungarn machte am 17. Oktober 2018 seine vorstehend angekündigte Drohung wahr und erhob gem. Art. 263 AEUV Nichtigkeitsklage gegen die Entschließung des EP vom 12. September 2018, die der Gerichtshof mit Urteil vom 3. Juni 2021 in der Rs. C-650/18 (ECLI:EU:C:2021:426) aber abwies. Er stellte dabei zum einen fest, dass die angefochtene Entschließung zwar Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle gem. Art. 263 AEUV sein kann, führte zum anderen aber aus, dass die Enthaltungen von Abgeordneten des EP nicht für die Feststellung zu zählen sind, ob die in Art. 354 Abs. 4 AEUV genannte Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erreicht ist. Er rekurrierte dabei auf den „gewöhnlichen Sprachgebrauch“, der nur die Äußerung eines befürwortenden oder ablehnenden Votums über einen bestimmten Vorschlag umfasst, während die als Weigerung, Stellung zu beziehen, verstandene Enthaltung nicht mit einer „abgegebenen Stimme“ gleichgesetzt werden kann.33 Vgl. dazu Artikel Nr. 10 und Artikel Nr. 23, nachstehend auf S. 150 ff. und S. 300 ff.

32 Neben der Nichtberücksichtigung der Möglichkeit einer gegenseitigen Vetozusage bei mehreren betroffenen Staaten fehlt dem Art. 7 EUV auch die Festsetzung eines konkreten Zeitrahmens, ohne den – wie in den gegenständlichen Fällen ersichtlich – Verzögerungsstrategien nicht ausgeschlossen werden können. 33 Vgl. Gerichtshof, Pressemitteilung Nr. 93/21 vom 3. Juni 2021.

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10. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen ­wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen wegen „systemischer Mängel“ in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz? Der gegenständliche Beitrag behandelt die interessante Frage, ob allein durch die Einleitung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 Abs. 1 EUV wegen einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen grundlegenden Werte der EU – vor allem des Rechtsstaatsprinzips, und zwar in „systemischer Form“ – gegen einen Mitgliedstaat, die Exekution eines „Europäischen Haftbefehls“ nicht mehr zulässig ist. Betroffen davon wären Polen und Ungarn, gegen die ein solches Sanktionsverfahren bereits eröffnet wurde, sodass sich die grundlegende Frage stellt, ob nach einer eventuellen Auslieferung eines Straftäters aufgrund eines „Europäischen Haftbefehls“ an die polnische oder ungarische Justiz diesem bereits durch die Einleitung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen diese Mitgliedstaaten eine echte Gefahr der Verletzung seines Grundrechts auf ein „faires Verfahren“ gemäß Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta drohen würde. Einführung Nach dem Versuch der erstmaligen Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art.  7 Abs.  1 EUV gegen Polen im Dezember 2017 wegen dessen „systemischer“ Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, vor allem im Rahmen der Justiz, ist dieser Mitgliedstaat neuerlich mit einer einschlägigen Problematik konfrontiert, die dieses Mal aber von der Judikatur des Gerichtshofs (EuGH) ausgeht und auf die der Verfasser bereits einmal hingewiesen hat.1 Es geht dabei um die grundlegende Frage, ob nach einer eventuellen Auslieferung eines Straftäters aufgrund eines „Europäischen Haftbefehls“ an die polnische Justiz diesem bereits durch die Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 Abs. 1 EUV eine echte Gefahr der Verletzung seines Grundrechts auf ein „faires Verfahren“ gemäß Art.  47 Abs.  2 der EUGrundrechte-Charta drohen würde. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann wären die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, auf denen der „Europäische Haftbefehl“ beruht,2 nicht mehr gegeben, sodass dieser auch nicht mehr vollstreckt werden müsste bzw. dürfte. In diesem Sinne weigerte sich der irische High Court in Dublin am 12.  März 2018, der Auslieferung des mit einem Europäischen Haftbefehl eines polnischen Gerichts gesuchten polnischen Drogenschmugglers Artur 1 Hummer, W. Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen?, EU-Infothek vom 8. Jänner 2018. 2 Vgl. EuGH, Rs. C-270/17 PPU, Tupikas (ECLI:EU:C:2017:628), Rn. 49.

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Celmer an Polen stattzugeben.3 Celmer’s Anwalt, Ciarán Mulholland, sprach in diesem Zusammenhang von einem erstmaligen Vorgang in der EU, der einen möglichen Präzedenzfall für Auslieferungen innerhalb der EU an Polen und später vielleicht auch an andere Mitgliedstaaten abgeben werde.4 Ein aktueller Anlassfall dafür bot sich bereits am selben Tag, als nämlich der Gerichtshof zu entscheiden hatte, ob die Gefahr, dass einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, in Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art.  4 EU-Grundrechte-Charta droht, nicht allein schon aus dem Grunde ausgeschlossen werden kann, dass ihr in Ungarn eine Rechtsschutzmöglichkeit dagegen zur Verfügung steht. Die Position Ungarns wird in diesem Zusammenhang durch die am 12. September 2018 im EP abgehaltene Abstimmung über die Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 Abs. 1 EUV weiter belastet, bei der sich das EP, auf der Basis eines Berichts der Abg. Judith Sargentini (Grüne/EFA, NL),5 mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen (448 Pro-, 197 Kontra-Stimmen, bei 48 Enthaltungen) und der absoluten Mehrheit der Abgeordneten des EP dafür aussprach. Es ist dies bereits die zweite Aufforderung des EP an den Rat, gegen Ungarn gem. Art.  7 Abs. 1 EUV das „Frühwarnsystem“ einzuleiten.6 Ungarn wies in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass auch die 48 Stimmenthaltungen als „abgegebene Stimmen“ zu zählen gewesen wären – womit aber die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreicht worden wäre – und kündigte gleichzeitig die Anfechtung dieses Beschlusses an.7 Die österreichische Außenministerin Karin Kneissl ersuchte in diesem 3 The Minister for Justice and Equality v Artur Celmer, High Court (2018) IEHC 119; Record Number 2013 295 EXT; 2014 8 EXT; 2017 291 EXT; Judgement delivered on the 12th day of March, 2018; im Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof in der Rs. C-216/18 PPU (Fn. 24) wird Artur Celmer allerdings durch das Akronym „LM“ anonymisiert; vgl. dazu nachstehend auf S. 157 ff. 4 Rechtsstaatliche Bedenken: Irisches Gericht stoppt Auslieferung an Polen; https:// www.euractiv.de/section/europakompakt/news/rechtsstaatliche-bedenken-irisc... 5 A8-0250/2018; vgl. dazu vorstehend auf S. 141 f. 6 Die erste erfolgte am 17. Mai 2017 mit Entschließung zur Lage in Ungarn (P8_ TA(2017)0216); vgl. Hummer, W. Erstmals versucht das Europäische Parlament das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn einzuleiten. Damit zeigt sich das Europäische Parlament „mutiger“ als die Europäische Kommission – warum eigentlich?, EU-Infothek, vom 23. Mai 2017; zuvor hatte das EP am 10. Juni und am 16. Dezember 2015 in zwei Entschließungen zur Lage in Ungarn die Kommission aufgefordert, auch gegen Ungarn das „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ einzuleiten; vgl. Hummer, W. Erneute Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn, Europäische Rundschau 2/2017, S. 32 ff. 7 Der begründete Vorschlag des EP, mit dem der Rat aufgefordert wird, Maßnahmen nach Art. 7 Abs. 1 EUV zu treffen, bedarf gem. Art. 354 Abs. 4 AEUV iVm Art. 83 Abs. 3 GO des EP der Mehrheit von zwei Dritteln der „abgegebenen Stimmen“ und der Mehrheit der Mitglieder des EP. Für die Annahme oder Ablehnung eines Textes durch das EP werden gem. Art. 178 Abs. 3 GO des EP nur die „abgegebenen Ja- und

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Zusammenhang den Rechtsdienst des Rates um ein entsprechendes Gutachten, der sich aber dafür für unzuständig erklärte. Eine ähnliche Problematik bei der Exekution eines „Europäischen Haftbefehls“ im Hinblick auf das Vorliegen einer mangelnden Rechtsstaatlichkeit im Vollstreckungsstaat könnte sich aber unter Umständen auch im Falle eines „Brexit“ stellen, da jetzt ja noch nicht festgestellt werden kann, wie sich die grundrechtliche Situation in Zukunft im nunmehrigen Drittstaat Vereinigtes Königreich (UK) darstellen wird. Aufgrund der ähnlichen Problematik dieser beiden Fälle wird auf diese in zwei kurzen Exkursen am Ende dieses Beitrags eingegangen und die einschlägige Judikatur des EuGH dazu dargestellt. Zunächst muss aber noch einmal ein Blick auf die Vorgänge bezüglich der Aushöhlung der Rechtstaatlichkeit in Polen und die Reaktion der EU darauf geworfen werden. Das „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ und das „Art. 7 EUV-Verfahren“ gegen Polen

Das „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ Wie der Verfasser bereits mehrfach dokumentieren konnte, kam es in Polen im Gefolge des Amtsantritts der Regierung von Beata Szydło Mitte November 2015 zum Erlass einer Reihe legislativer und administrativer Maßnahmen – vor allem im Justizbereich – die das Rechtsstaatsprinzip schwer erschütterten.8 Da Polen auf die Aufforderungen der Europäischen Kommission, diese Maßnahmen zunächst temporär auszusetzen und mit ihr in einen Dialog darüber einzutreten, nicht reagierte, leitete die Kommission am 13. Jänner 2016 erstmals die erste Stufe des von ihr am 11. März 2014 vorgestellten dreistufigen „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprin­ zips“9 gegen Polen ein. Dieses neue Instrument sollte dem „harten“ SanktiNein-Stimmen“ berücksichtigt – allerdings mit Ausnahme der Fälle, „für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist“. Im Gegensatz zu Art.  354 Abs. 1 AEUV, der die Behandlung von Stimmenthaltungen von Mitgliedern des Rates bzw. Europäischen Rates regelt, enthält Art. 354 Abs. 4 AEUV aber keine diesbezügliche spezielle Regelung für die Mitglieder des EP, sodass diese Bestimmung keine Ausnahmeregelung iSe „spezifischen Mehrheit“ gem. Art. 178 Abs. 3 GO des EP darstellt. Als niederrangigere GO-Bestimmung kann sich Art. 178 Abs. 3 GO des EP ohnehin nur am vorgegebenem Primärrecht der Verträge orientieren. Die Bedeutung dieses Satzteils ist dementsprechend interpretationsoffen; vgl vorstehend auf S. 149. 8 Hummer, W. Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß?, Europäische Rundschau 1/2016, S. 41 ff.; Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen. Misst die Europäische Kommission dabei mit zweierlei Maß? (Teil 1), EUInfothek vom 12. Mai 2017, (Teil 2), EU-Infothek vom 16. Mai 2017; Hummer, W. „Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert…, ÖGfE, Policy Brief 8/2017, S. 1 ff.; Hummer, Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen? (Fn. 1). 9 KOM(2014) 158 endg.; vgl. dazu Hummer, W. Neuer Frühwarnmechanismus bei Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in der EU, EU-Infothek vom 8. April 2014.

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onsverfahren des Art. 7 EUV als „weiches“ Dialogverfahren vorgeschaltet werden und wurde in der Folge dementsprechend auch „Vor Art. 7 EUVVerfahren“10 genannt.11 Da Polen sich aber nicht dialogbereit zeigte und weiterhin die Grundwerte des Art. 2 EUV – vor allem das Rechtsstaatlichkeitsprinzip – verletzte, richtete die Kommission am 27. Juli 2016 eine „Empfehlung zur Rechtstaatlichkeit“ an Polen, und leitete damit die zweite Stufe des „Vor Art. 7 EUVVerfahren“ ein. Da Polen wiederum keine Anstalten machte, die gerügten „systemischen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit“ zurückzunehmen, sah sich die Kommission veranlasst, am 21. Dezember 2016 eine weitere „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ an Polen zu richten, in der alle inkriminierten Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip detailliert aufgelistet waren und Polen zur Behebung derselben ein Zeitraum von zwei Monaten eingeräumt wurde. Da Polen aber weder dieser noch der dritten „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ vom 26. Juli 2017 nachkam, gab die Kommission am 20. Dezember 2017 eine ergänzende (vierte) „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ ab, leitete damit die dritte Phase des „Vor Art. 7 EUV-Verfahrens“ ein und unterbreitete dem Rat einen begründeten Vorschlag zur Annahme eines Beschlusses gem. Art. 7 Abs. 1 EUV12, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung des Rechtsstaatsprinzips durch Polen besteht. In concreto bezieht sich diese vierte „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ auf neue Bedenken der Kommission hinsichtlich zweier vom polnischen Parlament am 15. Dezember 2017 verabschiedeter Gesetze über das Oberste Gericht und den Nationalen Justizrat. In ihrer Empfehlung spezifiziert die Kommission diejenigen Maßnahmen, die die polnischen Behörden ergreifen müssen, um ihre Bedenken auszuräumen, wie folgt: – Das Gesetz über das Oberste Gericht muss dahingehend geändert werden, dass das Pensionsalter amtierender Richter nicht abgesenkt wird und die Ermessensbefugnis des Präsidenten zur Verlängerung der Amtszeit von Richtern am Obersten Gericht sowie das außerordentliche Rechtsmittelverfahren, mit dem bereits vor Jahren abgeschlossene Verfahren wieder aufgenommen werden können, aufgehoben werden; – Das Gesetz über den Nationalen Justizrat muss insofern geändert werden, als die Amtszeit der Mitglieder aus der Richterschaft nicht 10 Sog. „Pre-Article 7 procedure“ gemäß einer Bemerkung von Kommissarin Viviana Reding in ihrer Rede „A new Rule of Law initiative“; SPEECH/14/202 vom 11. März 2014, S. 1. 11 Da dieser von der Kommission eingerichtete (informelle) „Neue EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ bzw. das „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ keine vertragliche Rechtsgrundlage hatte, wurde er vom Rechtsdienst des Rates der EU auch als rechtswidrig qualifiziert – allerdings ohne dass daraus irgendwelche rechtliche Konsequenzen entstanden sind. 12 COM(2017) 835 final.

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beendet wird, und das neue Ernennungsverfahren weiterhin die Wahl von Richtern aus den eigenen Reihen garantiert; – Das Gesetz über die ordentlichen Gerichte ist zu ändern oder zurückzuziehen, insbesondere um die neue Pensionsregelung für Richter und die Ermessensbefugnis des Justizministers zur Verlängerung ihrer Amtszeit und zur Ernennung und Entlassung der Gerichtspräsidenten aufzuheben; – Die Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichts ist wiederherzustellen und gleichzeitig sicherzustellen, dass dessen Richter, Vizepräsidenten, und vor allem sein Präsident, rechtmäßig gewählt und alle Urteile veröffentlicht und vollumfänglich vollstreckt werden; – Die polnischen Behörden haben sich aller Maßnahmen und öffentlichen Äußerungen zu enthalten, die die Legitimität der Justiz weiter untergraben können.13

Das „Art. 7 EUV-Verfahren“ Mit dieser ihrer vierten „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ beendete die Kommission das vorerwähnte (informelle) „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips und übergab die Verantwortung für die weitere Fortführung des (formellen) Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV an den Rat. Um dessen Willensbildung zu unterstützen, musste sich Polen – vertreten durch seinen Europaminister Konrad Szymanski (PiS) – am 26. Juni 2018 im Rat einer hochnotpeinlichen Befragung durch die anderen EU-Mitgliedstaaten unterziehen.14 Zuvor musste aber noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments (EP) eingeholt werden, die mit einer überwältigenden Mehrheit – 438 Pro-Stimmen standen 152 Gegenstimmen, bei 71 Enthaltungen, gegenüber – erfolgte, wobei das EP Polen nachdrücklich aufforderte, keine neuen Gesetze zu verabschieden, solange mit diesen die Unabhängigkeit der Justiz nicht uneingeschränkt garantiert werde, sowie alle Empfehlungen der Europäischen Kommission und der „VenedigKommission“ des Europarates uneingeschränkt umzusetzen. Gem. Art. 83 GO des EP hatte im Anschluss an dieses Votum des EP dessen „Ausschuss für bürgerliche Freiheiten“ einen „begründeten Vorschlag“ auszuarbeiten, um damit den Rat aufzufordern, als Reaktion auf die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Werte des Art. 2 EUV durch Polen, 13 Rechtsstaat in Polen bedroht: EU-Kommission löst Artikel 7-Verfahren aus; https:// ec.europa.eu/germany/news/20171220-polen_de 14 Bereits im Vorfeld dieser Befragung merkte Minister Szymanski im polnischen Radio folgendes an: „Ich denke, in der Europäischen Kommission sollte niemand ernsthaft erwarten, dass Polen auf sein Recht verzichtet, sein eigenes Justizwesen zu gestalten“, zitiert nach Pallokat, J. Justizreform vor EU-Rat. Polen im „Dämmerzustand“, tagesschau.de vom 26.06.2018.

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das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV in Gang zu setzen. Trotz der damit vorstrukturierten Einleitung des „Frühwarnsystems“ ließ sich Polen aber nicht von weiteren „Unterminierungen“ des Rechtsstaatlichkeitsprinzips abbringen. Fasst man alle inkriminierten Rechtsakte Polens zusammen, dann muss man feststellen, dass Polen allein innerhalb von zwei Jahren nach dem Regierungsantritt von Beata Szydło im November 2015 über 13 Gesetze (sic) erlassen hat, die sich auf die gesamte Struktur des polnischen Justizsystems – dh auf den Verfassungsgerichtshof, das oberste Gericht, die ordentlichen Gerichte, den Nationalen Justizrat, den Bereich der Strafverfolgung und die Einrichtung der Staatlichen Hochschule für Richter und Staatsanwälte – auswirken, wobei diesen Legislativakten gemeinsam ist, dass durch sie sowohl die Exekutive, als auch die Legislative systematisch befähigt wurden, direkten politischen Einfluss auf die Zusammensetzung und die Befugnisse der Judikative auszuüben, was aus gewaltentrennenden Überlegungen absolut rechtsstaatswidrig ist.

Die Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV Parallel zum Versuch der Einleitung des „Frühwarnsystems“ gem. Art.  7 Abs. 1 EUV versuchte die Kommission aber auch, mit Vertragsverletzungsverfahren gem. Art.  258 AEUV gegen Polen vorzugehen.15 Nachdem sie bereits am 29. Juli 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet hatte,16 erhob die Kommission am 15. März 2018 erneut eine Vertragsverletzungsklage gegen die Republik Polen17, da diese im Gesetz vom 12. Juli 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit Vorschriften eingeführt habe, die unterschiedliche Ruhestands­ alter für Richter und Richterinnen vorsehen, das Pensionsalter für Richter der ordentlichen Gerichte abgesenkt und dem Justizminister die Kompetenz eingeräumt haben, über die Verlängerung der Dienstzeit von Richtern eigenständig zu entscheiden. Da sich Polen auch diesbezüglich nicht kooperationsbereit zeigte, beschloss die Kommission am 2. Juli 2018, ihre rechtlichen Bedenken mit einem Aufforderungsschreiben unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Die polnischen Behörden beantworteten das Aufforderungsschreiben am 2. August 2018. Da auch diese Antwort Polens die Kommission nicht zufriedenstellte, beschloss diese am 14. August 2018, eine mit Gründen ver15 Zur Stellung beider Verfahren zueinander siehe das Interview von Constantin Baron van Lijnden mit Thomas Giegerich: „Europarechtler zum Rechtsstaatsdialog mit Polen. Es geht zäh und auf Umwegen, aber es geht“; https://www.lto.de/recht/ hintergruende/h/eu-kommission-sanktionsverfahren-polen-re... 16 EU leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein, ZEITONLINE, vom 29. Juli 2017. 17 EuGH, Rs. C-192/18, Kommission/Polen (ABl. 2018, C 182, S. 14 f.).

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sehene Stellungnahme an Polen zu richten, die von den polnischen Behörden innerhalb eines Monats zu beantworten war.18 Sollte dies nicht der Fall sein, kann die Kommission den Gerichtshof mit einem (weiteren) Vertragsverletzungsverfahren anrufen. Polen ließ sich trotzdem aber nicht davon abhalten, am 30. Juli 2018 durch den polnischen Senat ein neues Gesetz über den Wahlmodus für die nächsten Europawahlen am 26. Mai 2019 zu verabschieden, das das Proportionalitätsprinzip massiv verletzt und damit auch unionswidrig ist.19 Parallel zur Beantwortung des Aufforderungsschreibens richtete der Oberste Gerichtshof Polens gem. Art. 267 AEUV am selben Tag, nämlich dem 2. August 2018, eine Reihe von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof, die alle um die juristische Qualifikation der forcierten Pensionierungen polnischer Höchstrichter zentrierten, obwohl diese ihre Bereitschaft, weiterhin tätig sein zu wollen, bekundet hatten. Von den fünf Vorabentscheidungsfragen betrafen die beiden ersten den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter20, die dritte das Verbot der Altersdiskriminierung21 und die beiden letzten Probleme der effektiven Umsetzung des Unionsrechts durch die nationalen (polnischen) Gerichte.22 Mit den erwähnten Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV wird der vorerwähnte „Rechtsstaatlichkeitsdialog“ der Kommission mit Polen gem. dem „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ bzw. dem „Sanktionsverfahren“ gem. Art. 7 EUV – es handelt sich dabei ja um zwei ganz unterschiedliche Verfahren – nicht nur nicht abgebrochen, sondern bewusst „parallelisiert“. Da die Kommission um die Schwierigkeiten der Durchführung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV weiß – die dafür notwendigen Abstimmungsmehrheiten wären aufgrund der Solidarisierung der anderen drei „Visegrád-Staaten“ mit Polen nicht gesichert, da vor allem Ungarn bereits angekündigt hat, dagegen sein Veto einzulegen – würde sie es vorziehen, wenn das Problem einer „systemischen“ Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen vor allem auf dem Wege von Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gelöst werden könnte.

18 Vgl. Teffer, P. EU commission steps up legal case against Poland, EUOBSERVER vom 14. August 2018; https://euobserver.com/political/142585 19 Vgl. Mycielski, M. While Poles defend courts, Kaczynski hijacks EU elections, EUOBSERVER vom 30. Juli 2018; https://euobserver.com/opinion/142484 20 ISv Art. 2, 4 Abs. 3, 19 Abs. 1 EUV, Art. 267 AEUV und Art. 47 EU-GrundrechteCharta. 21 ISv Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000, L 303, S. 16 ff. 22 Vgl. Biernat, S. – Kawczyńska, M. Why the Polish Supreme Court‘s Reference on Judicial Independence to the CJEU is Admissible after all, Verfassungsblog vom 23. August 2018.

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Mit der Einleitung des „Frühwarnsystems“ gem. Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Polen wird dieser Mitgliedstaat gleichsam einem „screening“ unterworfen, ob eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte – im gegenständlichen Fall vor allem des Wertes der Einhaltung des fundamentalen „Rechtsstaatsprinzips“ – vorliegt, womit dieser aber nicht mehr zu den Mitgliedstaaten zu zählen ist, die die tragenden Grundwerte der EU problemlos erfüllen. Genau darauf kam es aber in einer Reihe von gleich gelagerten Judikaten des EuGH an, in denen es um die Exekution eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen ging, der ja nur in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden darf, die die gemeinsamen Werte des Art.  2 EUV beachten. Auf die interessanten Begründungen dieser Urteile soll nachstehend eingegangen werden. Das Verfahren in der Rs. C-216/18 PPU, LM (Artur Celmer)

Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom High Court Irland am 27. März 2018 Am 1. Februar und am 4. Juni 2012 sowie am 26. September 2013 erließen polnische Gerichte drei „Europäische Haftbefehle“ gegen den polnischen Staatsangehörigen Artur Celmer, die dessen Festnahme und Übergabe an die polnische Justiz zur Strafverfolgung ua wegen unerlaubtem Handel mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen bezweckten. Am 5. Mai 2017 wurde der Betroffene aufgrund dieser Haftbefehle in Irland angehalten und dem irischen High Court vorgeführt, wobei Celmer aber darauf hinwies, dass er durch eine Auslieferung nach Polen der echten Gefahr einer gegen Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta („Recht auf ein faires Verfahren“) verstoßenden eklatanten Rechtsverweigerung auf Durchführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens ausgesetzt werden würde. Dabei stützte er sich namentlich auf den vorerwähnten begründeten Vorschlag der Kommission vom 20. Dezember 2017 nach Art.  7 Abs.  1 EUV zur Rechtsstaatlichkeit in Polen23 und auf die darin erwähnten Dokumente, vor allem die gutachtliche Äußerung der „Venedig-Kommission“ des Europarates. In diesen spricht die Kommission vor allem zwei Punkte an, die besonderen Bedenken begegnen, nämlich zum einen das Fehlen einer unabhängigen und legitimen verfassungsgerichtlichen Kontrolle und zum anderen die Gefährdung der Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen. Des Weiteren wies Celmer auch darauf hin, dass die Kommission in diesem Zusammenhang den Rat ersucht hat, gem. Art. 7 Abs. 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art.  2 EUV genannten Werte durch die Republik Polen besteht. 23 Siehe Fn. 12.

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Für das vorlegende Gericht – im Vorabentscheidungsverfahren C-216/18 PPU24 wird Artur Celmer durch das Akronym LM anonymisiert25 – stellte sich nun die Frage, ob unter dieser Voraussetzung der Einleitung des Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV gegen Polen ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die einen „Europäischen Haftbefehl“ ausstellende polnische Behörde in Anbetracht des systemischen Charakters der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Polen niemals eine konkrete Garantie für ein faires Verfahren für die betroffene Person abgeben kann, oder ob auch in diesem Fall konkret und genau geprüft werden muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene der Gefahr der Verletzung des Rechts auf ein „faires Verfahren“ ausgesetzt sein wird. Damit bezieht sich der irische High Court auf das Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen Aranyosi und Caˇldaˇraru vom 5. April 201626, in dem dieser einen Aufschub der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur nach einer zweistufigen Prüfung für zulässig erklärt hat. Dabei ist zunächst in einem ersten Schritt seitens der vollstreckenden Justizbehörde festzustellen, ob im Ausstellungsmitgliedstaat des Europäischen Haftbefehls, ua wegen „systemischer“ rechtsstaatlicher Mängel, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besteht. In der Folge muss sich die Behörde in einem zweiten Schritt aber vergewissern, dass es ernsthaft und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der vom Europäischen Haftbefehl Betroffene tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt ist. Das Bestehen systemischer Mängel im Rechtsstaatssystem bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er überstellt wird. In seinem Vorfrageersuchen frägt der irische High Court nun den Gerichtshof, ob er für eine Entscheidung, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen Celmer uU aufzuschieben, das zweistufige Prüfungsschema des EuGH in den vorerwähnten verbundenen Rechtssachen Aranyosi und Caˇldaˇraru27 anwenden müsse, oder ob es ausreicht, dass er das Bestehen von systemischen Mängeln im polnischen Justizsystem feststellt, ohne sich vergewissern zu müssen, dass Celmer im Falle seiner Auslieferung einer solchen Gefahr konkret ausgesetzt ist. Nach der Auffassung des irischen High Court ist die zweite Stufe der Prüfung deswegen problematisch, da es unrealistisch sei, vom Betroffenen zu verlangen, dass er nachweise, dass sich die genannten Mängel auf das gegen ihn eingeleitete Verfahren entsprechend auswirken. 24 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (ECLI:EU:C:2018:586). 25 Siehe dazu Fn. 3. 26 EuGH, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Caˇldaˇraru (ECLI:EU:C:2016:198). 27 Siehe Fn. 26.

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Des Weiteren vertritt der irische High Court die Meinung, aufgrund des systemischen Charakters der gegenständlichen Mängel könne von der ausstellenden Justizbehörde keinerlei individuelle Garantie gegeben werden, die Gefahr auszuschließen, der der Betroffene im Falle seiner Auslieferung unter Umständen ausgesetzt sein würde. Obwohl sowohl die Schlussanträge des Generalanwalts, als auch die Entscheidungsgründe des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C-216/18 PPU28 grundsätzlich von einem „zweistufigen“ Prüfverfahren ausgehen, unterscheiden sie sich doch in einer Reihe von Detailfragen, sodass auf sie nachstehend entsprechend eingegangen werden soll.

Schlussanträge von Generalanwalt Evgeni Tanchev vom 28. Juni 2018 In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-216/18 PPU stellt der Generalanwalt zunächst fest, dass es Sache der vollstreckenden Justizbehörde sei, sich zum Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren wegen rechtsstaatlicher Mängel im polnischen Justizsystem zu äußern. Dabei sei es ohne Bedeutung, dass der Rat den Beschluss, zu dem er mit dem vorstehend erwähnten Vorschlag der Kommission vom 20. Dezember 201729 aufgefordert worden sei, bisher noch nicht erlassen habe. Die Beurteilung, die der Rat gegebenenfalls im Zuge des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV vornehmen werde, beziehe sich nämlich nicht auf denselben Gegenstand wie die Beurteilung der den Europäischen Haftbefehl vollstreckenden Justizbehörde. Erstere betreffe nämlich die Gefahr einer „systemischen“ Verletzung des Rechtsstaatsprinzips an sich, während Letztere die Gefahr einer konkreten Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren vor Augen habe. Die eine Gefahr könne nämlich bestehen, während dies bei der anderen nicht notwendigerweise der Fall sei. Eine echte Gefahr der Verletzung, allerdings nicht des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, um die es in den Rechtssachen Aranyosi und Caˇldaˇraru gegangen war, sondern des Rechts auf ein faires Verfahren, kann allerdings die Pflicht auslösen, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufzuschieben. Die gegenseitige Anerkennung der Europäischen Haftbefehle setze nämlich voraus, dass die Strafverfolgung, für deren Zweck diese erlassen worden seien, im Ausstellungsmitgliedstaat von einer unabhängigen und unparteiischen Justizbehörde erfolge. Da die Beschränkungen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens eng auszulegen seien, ist der Generalanwalt in diesem Zusammenhang allerdings der Auffassung, dass eine echte Gefahr – nicht der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern einer eklatanten Rechtsverweige28 Siehe Fn. 24. 29 Siehe Fn. 12.

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rung – bestehen müsse, damit die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeschoben werden dürfe.30 Das Recht auf ein faires Verfahren könne unter Umständen eingeschränkt werden, sofern diese Einschränkungen den Wesensgehalt dieses Grundrechts nicht verletzen würden. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sei daher nur dann verpflichtend aufzuschieben, wenn eine echte Gefahr der Verletzung des „Wesensgehalts“ des Rechts auf ein faires Verfahren bestünde. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass die mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte in Polen grundsätzlich eine solche eklatante Rechtsverweigerung darstellen könnte, damit dies aber der Fall sein würde, müsse die mangelnde Unabhängigkeit allerdings derart schwerwiegend sein, dass die Fairness des Verfahrens auf Null reduziert werde.31 Diesen Umstand habe das irische Gericht zu prüfen, wobei es sich auf objektive, zuverlässige und genaue Angaben bezüglich der mangelnden Unabhängigkeit der polnischen Gerichte zu stützen habe. Daneben hat es aber auch zu prüfen, ob der von diesem Haftbefehl Betroffene im Falle seiner Überstellung nach Polen einer solchen Gefahr ausgesetzt werde. Für die Feststellung, ob die betreffende Person einer solchen Gefahr ausgesetzt ist, muss die vollstreckende Justizbehörde die besonderen Umstände sowohl der Person, als auch der Straftat, wegen der sie verfolgt wird, oder bereits verurteilt wurde, berücksichtigen. Dabei ist es Sache des Betroffenen, zu belegen, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass er in Polen der echten Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung ausgesetzt sein werde. In der Folge sei es Sache des irischen Gerichts zu prüfen, ob Celmer im gegenständlichen Fall dargetan habe, inwiefern die nachgewiesenen Mängel des polnischen Justizsystems es verhindern würden, dass seine Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört werde. Dementsprechend ist die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dann aufzuschieben, wenn die zuständige Justizbehörde nicht nur feststellt, dass wegen Mängeln im Justizsystem des Ausstellungsmitgliedstaates eine echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung besteht, sondern auch, dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, einer solchen Gefahr ausgesetzt ist. Für die Feststellung, ob die betreffende Person einer solchen Gefahr ausgesetzt ist, muss die vollstreckende Justizbehörde die besonderen Umstände sowohl der Person, als auch der Straftat, wegen der sie verfolgt wird, oder bereits verurteilt wurde, berücksichtigen.

30 Eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ist an sich nur in den in Art.  3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates (Fn. 34) abschließend aufgezählten Fällen geboten, kann aber auch aus den in Art. 4 des Rahmenbeschlusses erwähnten Gründen erfolgen. 31 Vgl. Pressemitteilung des EuGH, Nr. 95/18 vom 28. Juni 2018.

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Urteil des Gerichtshofs (EuGH) (Große Kammer) vom 25. Juli 2018 In seinem Urteil vom 25. Juli 2018 in der Rechtssache C-216/18 PPU (LM)32 das gem. Art. 107 der VerfO des GH in einem Eilvorabentscheidungsverfahren ergangen ist, führt der Gerichtshof (Große Kammer) dazu Folgendes aus: Aus der Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in den verbundenen Rechtssachen Aranyosi und Caˇldaˇraru33 ergibt sich, dass die bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten34 davon absehen kann, einem „Europäischen Haftbefehl“ Folge zu leisten, wenn im Falle der Überstellung der gesuchten Person an die ausstellende Justizbehörde die Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein „faires Verfahren“ iSv Art.  6 Abs.  1 EMRK bzw. Art. 47 Abs 2 der EU-Grundrechte-Charta verletzt wird. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof aber zunächst fest, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls immanent ist, darstellt und als solche dementsprechend eng auszulegen ist. Allerdings kann es dann, wenn eine echte Gefahr besteht, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein, ausnahmsweise – auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates – davon abzusehen, dem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten. Insoweit geht die Begründung einer möglichen Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch den Gerichtshof in seinem Urteil grundsätzlich konform mit der Argumentation des Generalanwalts in dessen Schlussanträgen, ist aber, was die konkrete Marge des Beurteilungsspielraums der vollstreckenden Justizbehörde betrifft, weniger strikt. In einem ersten Schritt hat diese auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu beurteilen, ob eine echte Gefahr einer Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat gegeben ist, wobei der Gerichtshof die Informationen über eine „systemische“ Verletzung des Rechtsstaatsprinzips in Polen, wie diese aus dem erwähnten begründeten Vorschlag der Kommission an

32 Siehe Fn. 24; „LM“ steht hier, wie bereits mehrfach erwähnt, als Akronym für Artur Celmer; vgl. dazu die Fn. 3 und 25. 33 Siehe Fn. 26. 34 ABl. 2002, L 190, S. 1 ff.

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den Rat zur Eileitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV hervorgehen, als besonders relevant ansieht.35 Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat die konkrete Gefahr besteht, dass das Grundrecht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt wird, muss sie in einem zweiten Schritt genau prüfen, ob – trotz der von der Kommission bereits festgestellten „systemischen“ Beeinträchtigung des Rechtsstaatsprinzips – die gesuchte Person einer solchen Gefahr nach ihrer Auslieferung auch tatsächlich ausgesetzt sein wird. Sie muss dabei untersuchen, ob und inwieweit sich die „systemischen“ oder allgemeinen rechtsstaatlichen Mängel auf der Ebene der Gerichte auswirken können, die für den Fall der gesuchten Person zuständig sind. Ergibt diese Untersuchung, dass die besagten Mängel die betreffenden Gerichte berühren können, muss die vollstreckende Justizbehörde dann beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird. Diesbezüglich muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die richterliche Unabhängigkeit zwei Aspekte umfasst: der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt, setzt voraus, dass die Justiz ihre Funktion in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen zu erhalten, sodass sie auf diese Weise von Interventionen von außen geschützt ist. Diese Freiheit von äußeren Einflüssen erfordert gewisse Garantien, wie zB die Unabsetzbarkeit von Richtern36, sowie deren entsprechende Besoldung37. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und verlangt, dass neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht. 35 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24), Rn. 61. 36 EuGH, Rs. C-506/04, Wilson (ECLI:EU:C:2006:587), Rn. 51. 37 EuGH, Rs. C-64/16, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (ECLI:EU:C:2018:117), Rn. 45; vgl. Pech, L. – Platon, S. EU Law Analysis: Rule of Law backsliding in the EU: The Court of Justice to the rescue?, eulawanalysis vom 13.03.2018; http://eula wanalysis.blogspot.com/2018/03/rule-of-law-backsliding-in-eu-court-of.html; Ovádek, M. Has the CJEU just Reconfigured the EU Constitutional Order?, Verfassungsblog vom 28.02.2018; https://verfassungsblog.de/has-the-cjeu-just-reconfigu red-the-eu-constitutional-order/

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Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es entsprechende Regelungen, insbesondere für die Zusammensetzung der Gerichte, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt. Das Unabhängigkeitserfordernis verlangt aber auch, dass die Disziplinarregelung für die Richter die erforderlichen Garantien aufweist, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass diese als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Stellt die vollstreckende Justizbehörde anhand dieser Anforderungen fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird, muss diese in einem zweiten Schritt genau prüfen, ob dadurch die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Betroffene nach seiner Überstellung an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Diese konkrete Prüfung muss auch dann angestellt werden, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Kommission bereits einen begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV in Bezug auf den Ausstellungsmitgliedstaat Polen angenommen hat, und zum anderen die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht ist, dass sie auf der Grundlage insbesondere eines solchen Vorschlags über Anhaltspunkte dafür verfüge, dass es im Hinblick auf das Rechtsstaatlichkeitsprinzip im betreffenden Mitgliedstaat im Bereich der Justiz „systemische“ Mängel gebe. Aus dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates geht in diesem Zusammenhang hervor, dass die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nur dann ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gem. Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt wird. Deshalb müsste die vollstreckende Justizbehörde nur dann, wenn der Europäische Rat gem. Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwere und anhaltende Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hat – und die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates gegenüber diesem Mitgliedstaat daraufhin vom Rat ausgesetzt worden ist – die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ohne Weiteres ablehnen, ohne konkret prüfen zu müssen, ob die betroffene Person einer echten Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird. Solange der Europäische Rat keinen entsprechenden Beschluss erlassen hat, kann also die vollstreckende Justizbehörde einem Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage von Art.  1 Abs.  3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates nur unter außergewöhnlichen Umständen keine Folge leisten, nämlich dann, wenn sie nach einer genauen Prüfung des Einzelfalls festgestellt hat, dass die betroffene Person nach ihrer Überstellung der echten Gefahr ausgesetzt sein würde, dass der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet werde.

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Daneben muss die vollstreckende Justizbehörde aber auch noch im Lichte der von der betroffenen Person geäußerten konkreten Bedenken und der von dieser gegebenenfalls gelieferten Informationen beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.38 In den bisher vorliegenden spärlichen Kommentaren wird dieses Urteil überwiegend positiv kommentiert, wenngleich auch festgehalten wird, dass bei diesem „Zwei-Stufen-Test“ vorliegende systemische Mängel in der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat für sich alleine nicht ausreichen und die fehlende Unabhängigkeit sich auch konkret auswirken müsse: „Die konkreten Auswirkungen im Einzelfall bleiben leider als Hürde, wobei aber letztlich das Gericht des ersuchten Staates hierzu entscheidet, im Wege einer Grundrechtsgefährdungsprognose“.39 Ein anderer Kommentator merkt wiederum kritisch an, dass das Urteil keine eigene Bewertung der Mängel des polnischen Justizsystems beinhalte und diese Prüfung den nationalen Gerichten im Einzelfall überlasse. Er weist aber auch auf die großen Folgewirkungen hin, die das Urteil für andere Rechtsgebiete, namentlich das Asylrecht, haben werde. So könnten aus dem Urteil Überstellungsverbote abgeleitet werden, die nicht mehr alleine aus einem echten Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 EU-Grundrechte-Charta, sondern einer etwaigen Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren iSv Art.  47 Abs.  2 EUGrundrechte-Charta, folgen. Was die konkreten Voraussetzungen eines solchen Überstellungsverbotes betreffe, werfe das Urteil allerdings mehr Fragen auf, als es beantworte.40 Schlussbemerkungen Im Zuge der Anhörung der Parteienvorbringen in der Rechtssache Celmer (LM) am 1. Juni 2018 wurden eine Fülle von Argumenten vorgebracht,41 die 38 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24), Rn. 70 ff. 39 Aussage von Prof. Dr. Franz Mayer, zitiert nach Suliak, H. Europäischer Haftbefehl aus Polen. Vollstreckung nur bei fairem Verfahren, vom 25.07.2018; https://www.lto. de/recht/hintergruende/h/eugh-c21618ppu-europaeischer-haftbefehl-p... 40 Aussage von Prof. Dr. Mattias Wendel, zitiert nach Suliak, H. Europäischer Haftbefehl aus Polen (Fn. 39), a.a.O. 41 Vgl. dazu Dori, A. Hic Rhodus, hic salta: The ECJ Hearing of the Landmark „Celmer“ Case, Verfassungsblog, vom 6. Juni 2018; Bárd, P. – van Ballegooij, W. Judicial Independence as a Precondition for Mutual Trust, Verfassungsblog, vom 10. April 2018; Krajewski, M. The AG Opinion in the Celmer Case: Why the Test for the

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im Grunde alle um die entscheidende Frage kreisten, ob die seitens der Kommission behauptete und in ihrem begründeten Vorschlag an den Rat zur Annahme eines Beschlusses gem. Art. 7 Abs. 1 EUV mehrfach belegte Feststellung des Bestehens einer „systemischen“ Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen – die auch durch mehrere Resolutionen des Europäischen Parlament unterstützt wurde – alleine schon ausreicht, um die Vollstreckung eines von polnischen Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls zu verweigern. Daneben wurde aber auch die Frage heftig diskutiert, ob sich das „politische“ Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV überhaupt dazu eignet, als (alleiniges) Kriterium für die Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit einer (Nicht-) Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ zu fungieren. Auch wurde das gegenseitige Verhältnis des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV zum Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV im Falle der Verletzung tragender Grundwerte iSv Art. 2 EUV angesprochen, ebenso wie auch diskutiert wurde, ob die in der bisherigen Judikatur des EuGH – zB in den Rechtssachen Melloni42 oder Aranyosi u. Căldăraru43 uam – aufgestellten Voraussetzungen für ein Auslieferungsverbot auf den gegenständlichen Fall überhaupt übertragbar sind, oder nicht. So ging es in den verbundenen Rechtssachen Aranyosi u. Căldăraru vor allem um die Frage, ob die Haftbedingungen in Polen eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ iSv Art. 4 EU-Grundrechte-Charta darstellen, während in der Rechtssache Celmer die Art. 6 EMRK und Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta mit ihrer grundrechtlichen Verbürgung eines „fair trial“ durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Mittelpunkt standen. Sowohl der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen, als auch der Gerichtshof in seinem Urteil gingen von einer Übertragbarkeit und Präjudizwirkung dieser Vorjudikatur aus und übernahmen – ohne weitere Problematisierung dieser Frage – den zweistufigen Test, den der Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen Aranyosi u. Căldăraru vorgegeben hatte: In einem ersten Schritt muss das Vorliegen „systemischer“ oder allgemeiner (rechtsstaatlicher) Mängel durch spezielle Informationen nachgewiesen werden;44 liegt eine solche Gefahr aufgrund genereller Umstände vor, muss Appearance of Independence is Needed, Verfassungsblog, vom 5. Juli 2018; Bárd, P. – van Ballegooij, W. The AG Opinion in the Celmer Case: Why Lack of Judicial Independence Should Have Been Framed as a Rule of Law Issue, Verfassungsblog, vom 2. Juli 2018; Matczak, M. 10 Facts on Poland for the Consideration of the European Court of Justice, Verfassungsblog, vom 13. Mai 2018; Wendel, M. Die Rechtsstaatlichkeit vor Gericht: der Anfang vom Ende gegenseitigen Vertrauens, Verfassungsblog, vom 17. März 2018; Baudrihaye-Gerard, L. Poland arrest warrant case highlights broader issues; https://euobserver.com/opinion/142491. 42 EuGH, Rs. C-399/11, Melloni (ECLI:EU:C:2013:104). 43 Siehe Fn. 26. 44 EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24), Rn. 61 ff.

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in einem zweiten Schritt dann geprüft werden, wie sich diese individuellkonkret auf den vorliegenden Fall auswirken kann.45 Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem die angedeutete Inpflichtnahme des vom Europäischen Auslieferungsbefehl Betroffenen zur Beibringung von Nachweisen, wie sich die massiven Defizite des polnischen Justizsystems konkret auf seinen individuellen Fall auswirken können. Weder darf dem Betroffenen diesbezüglich die Beweislast aufgebürdet, noch für seine Behauptungen ein „voller Beweis“ iSe echten Nachweises gefordert werden. Es kann sich dabei, wenn überhaupt, nur um die „Glaubhaftmachung“ der von ihm geäußerten Tatsachen handeln, die von der den Europäischen Haftbefehl zu exekutierenden Behörde zu überprüfen sind. Erst wenn die vollstreckende Justizbehörde über ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Anhaltspunkte – wie zB diejenigen, die im begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV enthalten sind – verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaates eine echte Gefahr der Verletzung des in Art.  47 Abs.  2 EU-Grundrechte-Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, kann diese gem. Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Überstellung des vom Europäischen Haftbefehl Betroffenen verweigern.46 Exkurs 1: Behandlung eines „Europäischen Haftbefehls“ zur Auslieferung nach Ungarn – Polen als Präjudiz? Am selben Tag wie das vorerwähnte Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-216/18 PPU (LM)47, nämlich am 25. Juli 2018, erging – mit der absolut verwechslungsanfälligen akronymen Rechtssachenbezeichnung ML48 (sic) – ein paralleles Urteil des Gerichtshofs zur Frage der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – dieses Mal in Ungarn – in dem an mehreren Stellen explizit auf das gleichzeitig ergangene Urteil in der Rechtssache LM Bezug genommen wird. Es geht in der Rechtssache ML um einen ungarischen Staatsbürger der sich seit dem 23. November 2017 aufgrund eines früheren Haftbefehls aus Ungarn, basierend auf Verurteilungen wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Betrugshandlungen und Einbruchsdiebstählen, in deutscher Auslieferungshaft befindet. Im Zuge dieses Vorabentscheidungsersuchens des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) in Bremen wird der Gerichtshof aber nicht nach dem Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in Ungarn sondern vielmehr vor allem danach gefragt, ob die vollstreckende 45 46 47 48

EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24), Rn. 68 f. EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24), Rn. 79. EuGH, Rs. C-216/18 PPU, LM (Fn. 24). EuGH, Rs. C-220/18 PPU, ML (ECLI:EU:C:2018:589).

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Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art. 4 EUGrundrechte-Charta erfährt, nicht allein aus dem Grund ausschließen kann, dass dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, die es ihr ermöglicht, ihre Haftbedingungen in Frage zu stellen. Wie Generalanwalt (GA) Manuel Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen vom 4. Juli 2018 betont, hat sich die Situation in Ungarn im Verhältnis zu den im April 2016 entschiedenen Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru49 aber dahingehend geändert, dass in Ungarn seit Anfang 2017 Rechtsmittel in Form von Beschwerden gegen unzureichende Haftbedingungen eingelegt werden können. Es gehe daher jetzt um die Klärung der Frage, ob die bloße Beschwerdemöglichkeit ausreiche, um einen Bürger, trotz Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Haftbedingungen, nach Ungarn auszuliefern – und zwar ganz nach dem Motto: „Wer sich beschweren kann, darf ausgeliefert werden“.50 Diesbezüglich stellte der Gerichtshof in seinem Urteil fest, dass die alleinige Möglichkeit der betroffenen Person, in Ungarn die Haftbedingungen in Form einer Beschwerde in Frage zu stellen, nicht genüge, um das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher Behandlung auszuschließen. Die vollstreckenden Justizbehörden seien weiterhin verpflichtet, die Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen, ob diese nicht einer solchen Gefahr tatsächlich ausgeliefert werde. Allerdings seien diese Behörden nur verpflichtet, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden solle. Da eine solche Gefahr aber für die für den Strafvollzug von ML vorgesehenen Haftanstalten in Budapest und Szombathely auszuschließen sei, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Auslieferung von ML an die ungarischen Behörden zulässig erscheine, was jedoch das OLG Bremen zu beurteilen habe.51 Exkurs 2: Bleibt ein „Europäischer Haftbefehl“ auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU („Brexit“) noch vollstreckbar? Zu dieser interessanten Frage liegen aktuell zwei einschlägige Rechtssachen vor, bei denen es sich um fast idente Sachverhalte und Rechtsfragen handelt. Es geht dabei um zwei von verschiedenen irischen Gerichten vorgelegte 49 Fn. 26. 50 LTO-Redaktion, Wer sich beschweren kann, darf ausgeliefert werden, vom 4. Juli 2018; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c220-18ppu-europaeischer-haft befehl-un... 51 Vgl. Gerichtshof, Pressemitteilung Nr. 114/18 vom 25.07.2018.

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Vorabentscheidungsersuchen in den Rs. C-191/1852 und C-327/18 PPU53, in denen die Frage im Mittelpunkt stand, ob der zwischenzeitlich vom Vereinigten Königreich (UK) gem. Art. 50 EUV eingebrachte Austrittswunsch aus der EU („Brexit“) die vom UK bereits früher ausgestellten „Europäischen Haftbefehle“ invalidiere oder nicht. Während aber das am 16. März 2018 vom Supreme Court (Ireland) eingebrachte Vorabentscheidungsersuchen in der Rs. C-191/1854 durch Beschluss des Präsidenten vom 30. Mai 2018 nicht dem erbetenen beschleunigten Verfahren gem. Art.  105 Abs.  1 VerfO des Gerichtshof unterworfen wurde, wurde das vom High Court (Ireland) eingebrachte Ersuchen in der Rs. C-327/18 PPU in Form eines Eilvorabentscheidungsverfahren gem. Art. 107 VerfO abgehandelt. Der Rs. C-327/18 PPU lag folgender Fall zugrunde. Im Jahr 2016 erließen britische Behörden zwei „Europäische Haftbefehle“ zur Strafverfolgung wegen vorsätzlicher Tötung, Brandstiftung und Vergewaltigung. Der Gesuchte – anonymisiert im Verfahren als „RO“ – wurde aufgrund dieser beiden Haftbefehle in Irland festgenommen und befindet sich dort seit dem 3. Februar 2016 in Haft. Gegen seine Auslieferung an das UK erhob RO eine Reihe von Einwänden, vor allem aber denjenigen, dass das UK ja mit 29. März 2019 die EU verlassen werde und – vor allem nach einem „hard Brexit“ – nicht feststehen würde, welche einschlägigen Regelungen im nunmehrigen Drittstaat UK gelten würden. Es sei vor allem ungewiss, in welchem Umfang er dann in der Praxis die Grundrechte und die Rechte, die ihm im Wesentlichen nach dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI zustehen würden, in Anspruch nehmen könnte, sollte er dem UK übergeben werden und nach dessen Austritt aus der EU in Haft bleiben. In seinen Schlussanträgen vom 7. August 2018 führte GA Maciej Szpunar ua Folgendes aus: Das Argument von RO, dass die „Brexit“-Erklärung des UK einen außergewöhnlichen Umstand darstelle, der es gebiete, den „Europäischen Haftbefehl“ nicht zu vollstrecken, gehe fehl. Das Unionsrecht finde Anwendung, solange das UK ein Mitgliedstaat der EU sei, sodass der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die da­ raus resultierende Übergabepflicht einzuhalten seien. Es gebe auch keine greifbaren Hinweise darauf, dass sich die politischen Umstände im UK nach dem „Brexit“ dergestalt verändern würden, dass der wesentliche Inhalt des Rahmenbeschlusses und die Rechte aus der „EU-Grundrechte-Charta“ nicht mehr beachtet werden würden. Mit seinem Austritt aus der EU gebe das UK ja keinesfalls den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Grundrechte auf. Die vollstreckenden Justizbehörden dürfen damit bei der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls vom UK erwarten, dass es 52 EuGH, Rs. C-191/18, KN/Minister for Justice and Equality (ECLI:EU:C:2018:383). 53 EuGH, Rs. C-327/18 PPU, Minister for Justice and Equality/RO (ECLI:EU:C:2018:733). 54 ABl. 2018, C 190, S. 9.

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die Vorgaben des Rahmenbeschlusses auch nach dem „Brexit“ beachten werde. Nur wenn es manifeste gegenteilige Anhaltspunkte geben würde, könnten die Justizbehörden eines Mitgliedstaates beschließen, den Europäischen Haftbefehl nicht zu vollstrecken.55 Der Gerichtshof schloss sich in seinem Urteil vom 19. September 2018 diesen Ausführungen der Schlussanträge des GA vollinhaltlich an.56 Aufgrund der identen Gestaltung der Vorlagefragen und der Mitwirkung desselben GA kann für die speditive Erledigung der Rs. C-191/18 unter Umständen ein mit Gründen versehener Beschluss des Gerichtshofs nach Art. 99 der VerfO erwartet werden, der noch vor der Durchführung eines schriftlichen und mündlichen Verfahrens erfolgen könnte. Diese Vorgangsweise muss allerdings abgewartet werden. Nachdem der irische Supreme Court dem Gerichtshof am 24. Oktober 2018 mitgeteilt hatte, dass er seinen Antrag auf Einleitung eines Vorabent­ scheidungsersuchen gem. Art. 267 AEUV nicht mehr aufrechterhalten wolle, verfügte der Präsident des Gerichtshofs, durch Beschluss vom 26. Oktober 2018, die Streichung der Rs. C-191/18 aus dem Register.57 Quelle: EuR Heft 6/2018, S. 653 - 671 (Artikel Nr. 10) PS: Wie aktuell die Frage der Einwirkung des „Brexit“ auf einen Haftbefehl samt Auslieferungsbegehren ist, zeigt der Fall der Tötung der 13-jährigen Wienerin Leonie in Wien-Donaustadt am 26. Juni 2021 durch junge Afghanen, im Zuge derer der vierte mutmaßliche Täter nach England geflüchtet war. Er konnte infolge einer Zielfahndung in London lokalisiert werden, für die Auslieferung nach Österreich musste aber erst der EU-Haftbefehl für die Briten entsprechend „adaptiert“ werden.58

55 Vgl. Bis zum Brexit vollstreckbar; https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eughgeneralanwalt-c32818-vereinigtes-koenig...; EU arrest warrant still valid in UK, despite Brexit, EUOBSERVER, vom 7. August 2018; ECJ says suspect connected to murder CANNOT use Brexit to avoid UK’s EU arrest warrant; https://www.express.co.uk/news/uk/1000552/Brexit-news-UK-EU-European-Arrest-… 56 Vgl. Gerichtshof, Pressemitteilung Nr. 135/18 vom 19.09.2018. 57 ECLI:EU:C:2018:884. 58 Auslieferung von Afghanen könnte dauern, SN vom 31. Juli 2021, S. 9; Loibnegger, K. – Budin, C. So lief die Flucht auf Insel: Verdächtiger in Hotel aufgespürt, KronenZeitung vom 31. Juli 2021, S. 14 f.

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11. Die Lösung des Namensstreits zwischen Mazedonien und Griechenland scheint zu scheitern Damit wäre eine singuläre Chance vertan, die „Westbalkan-Strategie“ der EU zu befördern Der negative Ausgang des mazedonischen Referendums vom 30. September 2018 über die Umbenennung der bisherigen FYROM in „Nord-Mazedonien“ hat bedeutende Auswirkungen auf die völkerrechtliche und europarechtliche Stellung Mazedoniens im Allgemeinen und dessen angestrebten Beitritt zur EU und zur NATO im Speziellen. Wenngleich unmittelbar danach versucht wurde, das Abstimmungsergebnis „schönzureden“, so können diese Kommentare des mazedonischen Ministerpräsidenten Zoran Zaev sowie der Hohen Vertreterin der EU für die GASP, Federica Mogherini, und des Kommissars Johannes Hahn, nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch diesen negativen Entscheid sowohl Mazedonien selbst, als auch die „Westbalkan-Strategie“ der EU mehr oder weniger intensiv bzw. sogar unwiderruflich beeinträchtigt wurden. Damit wird die Einbindung dieses geostrategisch wichtigen Staates in den Westen verzögert, wenn nicht gar verhindert. Es gilt daher, diesen Auswirkungen im Einzelnen nachzugehen und deren Relevanz näher darzustellen. Vorab muss aber auf die komplexe Entstehungsgeschichte dieses Namensstreits kurz eingegangen werden, auf die der Autor bereits im Frühjahr 2016 hingewiesen hatte.1 Von der jugoslawischen Teilrepublik „Mazedonien“ über die „Republik Mazedonien“ und die „FYROM“ zur „Republik Nord-Mazedonien“ Nach dem Zerfall der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ (SFRJ), die von 1944 bis 1991 bestanden hatte, und der Umwandlung von deren abhängigen Teilrepubliken in souveräne Neustaaten2, erklärte auch die frühere Teilrepublik der SFRJ, nämlich die Sozialistische Republik Mazedonien, am 8. September 1991 ihre Unabhängigkeit, und zwar unter dem Namen „Republik Mazedonien“. Mazedonien ist mit seiner Fläche von 25.713 km2 kleiner als das österreichische Bundesland Tirol und verfügt 1 Hummer, W. Mazedonien: Ein Staat, zwei Namen. Flüchtlingstragödie überlagert einen lange schwelenden Namens- und Territorialkonflikt am Balkan, EU-Infothek vom 24. März 2016. 2 Siehe dazu Hummer, W. Probleme der Staatennachfolge am Beispiel Jugoslawien, in: Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht, 4/1993, S. 425 ff.; Hummer, W. – Mayr-Singer, J. SFRJ, BRJ und IGH. Das heutige Jugoslawien und die Organe der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 3/1999, S. 104 ff.; Hummer, W. – Mayr-Singer, J. Die Bundesrepublik Jugoslawien. Identitätsanspruch und Sukzessionsfragen im universellen, regionalen und nationalen Kontext, in: Archiv des Völkerrechts 2/2000, S. 298 ff.

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über ca. 2,1 Mio. Einwohner, wovon 1,8 Mio. bei Wahlen und Abstimmungen stimmberechtigt sind.3 Der Unabhängigkeitserklärung ging ein Referendum voraus, in dem sich 91 Prozent der Bewohner der jugoslawischen Teilrepublik für die Unabhängigkeit aussprachen. Während der Nachbarstaat Griechenland gegen diese Benennung solange keinen Einspruch erhoben hatte, als Mazedonien noch eine Teilrepublik der SFRJ war, nahm es die nunmehrige Unabhängigkeit dieses Staates zum Anlass, um gegen dessen Namens- und Flaggenwahl4 zu protestieren, da diese eindeutig hellenistischen Ursprungs sei. Einem slawischen Staat sei eine solche Usurpation fremder Symbole keinesfalls erlaubt. Auch befürchtete Griechenland irredentistische und territoriale Ansprüche in Bezug auf seine gleichnamige nordgriechische Region „Makedonien“ durch Mazedonien. Diese Befürchtung war nicht ganz unbegründet, enthielt doch die erste Verfassung Mazedoniens vom 17. November 1991 einige „missverständliche“ Formulierungen. In Art. 3 war von möglichen Grenzänderungen im Einklang mit der Verfassung die Rede und Art. 49 forderte die Republik auf, für den Status und die Rechte der Angehörigen des „mazedonischen Volkes“ in den Nachbarstaaten zu sorgen und die dortigen Minderheiten in ihrer kulturellen Entwicklung zu unterstützen und zu fördern. Auf Druck Griechenlands und der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) kam es im Jänner 1992 zu einer Novellierung beider Bestimmungen, aufgrund derer Art. 3 der Verfassung um den Satz ergänzt wurde, dass die Republik Mazedonien keine territorialen Ansprüche gegenüber benachbarten Staaten erheben und Art.  49 die Bestimmung angefügt wurde, dass sich Mazedonien nicht in die souveränen Rechte anderer Staaten und deren innere Angelegenheiten einmischen werde.5 Trotz dieser Zugeständnisse verweigerte die griechische Regierung die diplomatische Anerkennung der „Republik Mazedonien“ und machte ihre Zustimmung für eine Aufnahme Mazedoniens in die EU und die NATO von einer Lösung der Namensfrage abhängig. Obwohl sich Mazedonien in der Folge bereit erklärte, im internationalen (multilateralen) Verkehr die Bezeichnung „The former Yugoslav Republic of Macedonia“ („FYROM“) zu verwenden, verhängte Griechenland am 16. Februar 1994 eine Handelsblockade6 und schloss seine Grenze zu Mazedonien, da dieses in seiner Flag3 Vgl. Czarnowska, M. Ein Urnengang als Wendepunkt, Wiener Zeitung vom 29./30. September 2018, S. 6. 4 Die Flagge Mazedoniens enthielt den „Stern von Vergina“, ein altes griechisches bzw. makedonisches Symbol, das erst am 5. Oktober 1995 aus der Flagge entfernt wurde; vgl. dazu nachstehend auf S. 172. 5 Giersch, C. Konfliktregulierung in Jugoslawien 1991–1995: Die Rolle von OSZE, EU, UNO und NATO (1997), S. 193 f. 6 Das Embargo war auf Art. 224 EGV (nunmehr Art. 347 AEUV) gestützt; vgl. Hummer, W. Das griechische Embargo, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS Everling (1995), Bd. 1, S. 511 ff.

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ge noch immer den „Stern von Vergina“, ein altes makedonisches Symbol, führte. Der seitens der Europäischen Kommission auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aussetzung des griechischen Embargos eingebrachte Antrag wurde vom Präsidenten des EuGH in der Folge am 29. Juni 1994 zurückgewiesen.7 Am 19. März 1996 verfügte der Präsident auch die Streichung der Rechtssache aus dem Register.8 Erst nachdem Mazedonien am 5. Oktober 1995 den Stern von Vergina in seiner Flagge durch eine stilisierte achtstrahlige Sonne ersetzt hatte, hob Griechenland am 14. Oktober 1995, nach fast zwanzig Monaten, das Embargo wieder auf. Rechtstechnische Grundlage dafür war das am 13. September 1995 unter der Vermittlung der Vereinten Nationen zwischen der „Ersten Partei“ (Hellenische Republik) und der „Zweiten Partei“ (Republik Makedonien) erzielte Interimsabkommen über die Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Griechenland und der FYROM9, dem am 13. Oktober 1995 eine endgültige Vereinbarung über die Normalisierung der bilateralen Beziehungen und über die gegenseitige Einrichtung von diplomatischen Vertretungen in beiden Hauptstädten folgte. Im Interimsabkommen verzichtete Griechenland vor allem auf die weitere Einlegung eines Veto’s gegen einen Beitritt Mazedoniens zu Internationalen Organisationen (IO), solange dies nur unter dessen (provisorischem) Namen10 FYROM geschieht. Dementsprechend wurde Mazedonien auf der Basis einer Aufnahmeempfehlung des SR der VN11 am 8. April 1993 durch den Aufnahmebeschluss der Generalversammlung der VN gem. Art.  4 Abs.  2 SVN in die Vereinten Nationen (VN) aufgenommen,12 wobei ausdrücklich festgehalten wurde, „dass dieser Staat in den VN bis zur Beilegung der Meinungsverschiedenheit, die über dessen Namen entstanden ist, provisorisch als „the former Yugoslav Republic of Macedonia“ (FYROM) bezeichnet wird“. Dieser Vorgangsweise schlossen sich in der Folge eine Reihe anderer IO an. Durch die Res. 845 des SR der VN vom 18. Juni 1993 wurden Griechenland und Mazedonien in diesem Zusammenhang dazu aufgefordert, den zwischen ihnen bestehenden Namensstreit im Rahmen und unter der Vermittlung der VN zu lösen, und 1994 wurde für die Unterstützung der Vermittlungstätigkeit der VN in dieser komplexen Frage, ein eigener persönlicher Beauftragter des Generalsekretärs der VN für Mazedonien, nämlich Matthew Nimetz, eingesetzt. 7 EuGH, Rs. C-120/94 R, Kommission/Griechenland (ECLI:EU:C:1994:275). 8 Slg. 1996, S. I-01513. 9 UNTS Vol. 1891, I-32193; https://web.archive.org/web/20111205001503/http: www.u.org/Depts/german/sr/sr_95/srb95-02.pdf#S/PRST/1995/46 10 Vgl. Janev, I. Legal Aspects of the Use of a Provisional Name for Macedonia in the United Nations System, AJIL Vol. 93, No. 1, 1999, S. 155 ff. 11 Aufnahmeempfehlung des SR der VN (SC-Res. 817 (1993) vom 7. April 1993. 12 GA-Res. 47/225 (A/RES/47/225), vom 8. April 1993.

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In Bezug auf den angestrebten Beitritt der FYROM zur NATO legte Griechenland ebenfalls sein Veto ein, wogegen diese aber am 17. November 2008 gegen Griechenland eine Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Verstoßes gegen das vorerwähnte Interimsabkommen vom September 1995 einbrachte, der dieser mit Urteil vom 5. Dezember 201113 zugunsten der FYROM auch stattgab. Dabei stellte der IGH fest, dass Griechenland gegen Art. 11 Abs. 1 des Interimsabkommen verstoßen habe, indem es den Beginn von Gesprächen über eine mögliche Mitgliedschaft der FYROM in der NATO auf dem Bukarester NATO-Gipfel im April 2008 verhindert und diese Attitüde auch danach noch jahrelang beibehalten habe.14 Die Zuständigkeit des IGH zur Lösung dieser Streitfrage ergab sich explizit aus Art. 21 Abs. 2 des Interimsabkommens, wobei allerdings keine Lösung des sogenannten Namensstreits damit präjudiziert werden sollte. Der Namensstreit bleibt damit ein politischer Streit, der auch nur im Rahmen politischer Verhandlungen gelöst und vertraglich fixiert werden kann. Was allerdings die Anerkennung Mazedoniens als Neustaat im bilateralen völkerrechtlichen bzw. diplomatischen Verkehr betraf, so erfolgte diese in der Regel unter dem Namen „Republik Mazedonien“,15 wobei Bulgarien der erste Staat war, der Mazedonien 1992 unter dieser Bezeichnung anerkannte. In der Zwischenzeit folgten viele andere Staaten dem bulgarischen Vorbild, sodass zur Zeit über 140 Staaten die „Republik Mazedonien“ als solche anerkannt haben. Von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der UNO wurde die „Republik Mazedonien“ allerdings nur von den USA, Russland und China, nicht aber von Frankreich und dem Vereinigten Königreich anerkannt, da sich diese als Mitglieder der EU dem Druck Griechenlands beugten. Die Namensgebung eines Staates Zur näheren Verdeutlichung dieser komplexen Fragestellung der Namenswahl eines (neuentstandenen) Staates soll kurz auf die völkerrechtlichen Vorgaben derselben eingegangen werden. Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Staatsvolks eines Staates hat dieser grundsätzlich freie Hand bei der Auswahl seines Namens, muss dabei allerdings darauf Bedacht nehmen, dass damit die kulturelle Integrität eines anderen Staates nicht verletzt wird, soweit diese einen Unterfall der territorialen Integrität desselben darstellt. Sollte die kulturelle Integrität aber einen solchen Unter13 Case concerning „Application of the Interim Accord of 13 September 1995 (the former Yugoslav Republic of Macedonia v. Greece)“, ICJ Reports 2011, S. 644 ff. 14 Vgl. Lachmann, R. Athen unterliegt im Mazedonien-Namensstreit, tagesschau.de vom 5. Dezember 2011. 15 Vgl. Roguski, P. Mazedonien trägt weiterhin das Erbe des großen Alexanders, lto.de vom 6. Dezember 2011; Staatsname ändern? 140 Staaten haben Republik Makedo­ nien anerkannt, Mazedonien News vom 22. Januar 2018.

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fall der territorialen Integrität darstellen und diese durch die Namensgebung eines anderen Staates verletzt werden, dann läge unter Umständen ein möglicher Verstoß gegen das Völkerrecht vor. Eine solche Rechtsfrage ist dem IGH bisher aber noch nie in einem streitigen Verfahren vorgelegt und dementsprechend auch noch nicht judikativ abgeklärt worden. Lediglich gutachtliche Äußerungen haben bisher stattgefunden, wie dies zB im Falle der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch die Republik Serbien der Fall war.16 Die Verhandlungen zur Lösung der Namensfrage Obwohl sich die griechisch-mazedonischen Beziehungen nach dem Stellen des Beitrittsantrages Mazedoniens zur EU am 22. März 2004 sowie der Zuteilung des Status eines Beitrittskandidaten im Dezember 200517 zu normalisieren begannen, sollte es noch bis Ende 2007 dauern, bis – unter der Vermittlung der Vereinten Nationen – bilaterale Verhandlungen über die endgültige Benennung Mazedoniens beginnen konnten. Der in diesem Zusammenhang vom UNO-Sonderbeauftragten für Mazedonien, Matthew Nimetz, vorgeschlagene Namen „Republika Makedonija-Skopje“ wurde aber von Griechenland rotund abgelehnt, da er durch die Verwendung des Begriffs „Makedonien“ eine Usurpation fremder Geschichte und Kultur darstelle. Für Griechenland sei lediglich eine geographische Länderbezeichnung akzeptabel. In der Folge wurden von Matthew Nimetz und anderen Kennern der Situation eine Reihe weiterer Kompromissformulierungen vorgeschlagen,18 die aber alle nicht konsensfähig waren.19 Die Verhandlungen wurden unter anderem auch noch dadurch belastet und verzögert, dass die (damalige) mazedonische Regierung bekanntgab, den Flughafen von Skopje nach Alexander dem Großen zu benennen, ebenso wie sie auch in Skopje eine Statue von Alexander dem Großen errichteten ließ. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2012 vom früheren langjährigen Regierungschef Mazedoniens, Nikola Gruevski, bewusst gesetzt, um damit das antike makedonische Erbe für das heutige Mazedonien zu reklamieren, zugleich aber auch, um von der tristen wirtschaftlichen Lage abzulenken.20

16 Gutachten des ICJ zur Unabhängigkeit des Kosovo vom 22. Juli 2010, ICJ, General List No. 141; vgl. Hantke, M. – Wagner, J. IGH-Gutachten zum Kosovo, IMI August 4/2010, S. 24 f. 17 Die Kommission hat den Beitrittsdialog mit Mazedonien (und Albanien) erst mit großer Verspätung im April 2018 (!) aufgenommen; Brüssel für Gespräche mit Albanien und Mazedonien, tagesschau.de vom 17. April 2018. 18 Vgl. dazu nachstehend auf S. 175. 19 Vgl. Ioannidis, M. Naming a State: Disputing over Symbols of Statehood at the Example of „Macedonia“, Yearbook of United Nations Law 14 (2010), S. 507 ff. 20 Das Armenhaus im Süden Europas, Kurier vom 30. September 2018, S. 10.

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Mit der Amtsübernahme der Regierung Zoran Zaev im Mai 2017 wurden diese Aktivitäten aber wieder eingestellt.21 Mitte Jänner 2018 fanden am Sitz der Vereinten Nationen erstmals nach vielen Jahren wieder offizielle bilaterale Gespräche zur Überwindung des Namensstreits statt, für die Matthew Nimetz folgende fünf Vorschläge ausgearbeitet hatte, die den Namen Mazedonien über einen geographischen oder zeitlichen Bezug aufdifferenzieren und damit eigenständig machen sollten: „Republik Neu-Mazedonien“, „Republik Nord-Mazedonien“, „Republik Vardar-Mazedonien“, „Republik Ober-Mazedonien“ und „Republik Mazedonien (Skopje)“. Wenige Monate später wurde mit dem Namen „Ilinden-Mazedonien“22 ein weiterer Kompromissvorschlag vorgelegt, der aber ebenfalls keine Zustimmung fand. Das „Prespa-Abkommen (2018) Erst am 12. Juni 2018 einigten sich die beiden Regierungschefs Zoran Zaev und Alexis Tsipras im grenznahen griechischen Ort Psarades an den Ufern des Prespa-Sees auf die Kompromisslösung „Republik Nord-Mazedonien“ (Gorna Makedonija),23 die in der Folge durch die beiden Außenminister Nikos Kotzias und Nikola Dimitrov auch formell unterzeichnet wurde. Zum Kern des Abkommens zählt neben der Namensübereinkunft die Erklärung des künftigen „Nord-Mazedoniens“, nichts mit dem hellenistischen Makedonien der Antike zu tun zu haben und auch jegliche Ansprüche auf die gleichnamige griechische Nordprovinz aufzugeben. Unter den Ehrengästen dieser Zeremonie befanden sich neben der Vize-UN-Generalsekretärin Rosemary DiCarlo auch UN-Vermittler Matthew Nimetz sowie die Hohe Vertreterin für die GASP, Federica Mogherini, und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.24 Das sog. „(Lake) Prespa“-Abkommen umfasst 20 Seiten, muss aber zu seiner Gültigkeit zuvor noch vom mazedonischen und griechischen Parlament bestätigt und durch ein mazedonisches Referendum eingeleitet werden. Am 20. Juni 2018 genehmigte das mazedonische Parlament das Abkommen zur Namensänderung, wobei die Abstimmung durch die Abgeordneten der Oppositionspartei VMRO-DPMNE aber boykottiert wurde. Am 26. Juni 2018 erklärte der der Opposition nahestehende mazedonische 21 Vgl. Bernath, M. Einigung: Mazedonien soll nun Nord-Mazedonien heißen, derstandard.at vom 12. Juni 2018. 22 Der Name stammt von dem 1903 von der „Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation“ initiierten Ilinden-Preobraschenie-Aufstand gegen die Herrschaft der Osmanen; Ilinden-Mazedonien statt Mazedonien?, tagesschau.de vom 20. Mai 2018. 23 Macedonia and Greece: Deal after 27-year row over a name, BBC News vom 12. Juni 2018; Namensstreit um Mazedonien beigelegt, tagesschau.de vom 12. Juni 2018. 24 Streit mit Griechenland vorbei. Mazedonien verordnet sich neuen Namen, n.tv.de vom 17. Juni 2018.

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Präsident Gjorge Ivanov, dass er das Abkommen nicht unterzeichnen werde, da die Namensänderung auf „Nord-Mazedonien“ aus Mazedonien einen „halbsouveränen“ Staat machen würde.25 Die Abstimmung sei daher „nationaler Selbstmord“.26 Am 27. September 2018 wiederholte Präsident Ivanov diese Aussage auch noch in seiner Ansprache vor der Generalversammlung der VN.27 Am 5. Juli 2018 genehmigte aber das mazedonische Parlament mit 69 der 120 Abgeordneten das von Zaev und Tsipras unterzeichnete Abkommen und überstimmte damit das Präsidentenveto.28 Das „Referendum“ vom 30. September 2018 Obwohl es bei dem für den 30. September 2018 angesetzten Referendum inhaltlich um die Namensänderung Mazedoniens ging, lautete die im Referendum an die ca. 1,8 Mio. Stimmberechtigten gestellte Frage völlig anders, nämlich: „Sind Sie für die Mitgliedschaft in der EU und der NATO, indem Sie dem Abkommen zwischen der Republik Mazedonien und der Republik Griechenland zustimmen?“ Zum einen kam diese Fragestellung im Grunde einer „self fulfilling prophecy“ gleich, hatte doch Mazedonien bereits 2004 seinen Beitritt zur EU beantragt und versuchte seit Jahren der NATO beizutreten, wurde dabei aber immer wieder von Griechenland behindert. Zum anderen erzwingt die Bejahung der Mitgliedschaft in der EU und der NATO zugleich aber die Aufgabe des verfassungsmäßigen Namens der Republik Mazedonien. Wer gegen das Abkommen ist, wird durch die Formulierung der Referendumsfrage andererseits aber gezwungen, gleichzeitig gegen einen EU- und NATO-Beitritt zu stimmen. Dementsprechend wird vom Leiter der Boykottkampagne der VMRO-DPMNE, Antonio Milošoski, die Fragestellung des Referendums auch als „manipulativ“ bezeichnet und die Vermischung von Aspekten, die angeblich nicht zusammengehören, kritisiert.29 Da für die Gültigkeit des Referendums eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent erforderlich war, wurde schon vor der Abstimmung die möglicherweise zu geringe Wahlbeteiligung als größtes Problem gesehen. In diesem Zusammenhang muss nämlich berücksichtigt werden, dass seit der jüngsten Volkszählung im Jahre 2002 schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Einwohner Mazedonien für immer verlassen haben, ohne dass diese offen25 Vgl. Ein Land entscheidet über seinen Namen, tagesspiegel.de vom 28. September 2018. 26 Vgl. Wisdorff, F. Der Westen hat in Mazedonien zu viel zu schnell gewollt, welt.de vom 1. Oktober 2018. 27 Namensreferendum in Mazedonien gescheitert – Schlappe für EU und Transatlantiker, unzensuriert.at, vom 1. Oktober 2018. 28 Referendum in Mazedonien 2018, Wikipedia, S. 2. 29 Vgl. Martens, M. Die düstere Schönheit der Demokratie, FAZ vom 29. September 2018, S. 6.

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sichtlich aus den Wählerlisten gestrichen worden wären. Damit wurde aber das Kriterium der Wahlbeteiligung beim Namensreferendum verfälscht, da von den geforderten mindestens 50 Prozent der Stimmberechtigten sich ja mehrere Hunderttausend im Ausland befanden.30 Der Vorsitzende der Nicht-Regierungsorganisation „Assoziation für Demokratische Initiativen“ (ADI), Albert Musliu, schätzt, dass vermutlich nicht mehr als 1,2 Mio. Wähler am Wahltag in Mazedonien anwesend waren. Angesichts dessen wäre die Zahl von 660.000 Beteiligten, die am Referendum teilgenommen haben, aber ausreichend gewesen.31 Das Ergebnis des Referendums bestätigte diese Befürchtung der inkorrekten Ermittlung der Wahlberechtigten, da die Wahlbeteiligung lediglich 36,91 Prozent betrug, die Zustimmungsrate der Abstimmenden allerdings bei 94,18 Prozent lag. Damit war aber das Referendum, trotz dieser überwältigen Zustimmung, formell nicht gültig zustande gekommen.32 Die Abstimmung war konsultativ und daher nicht bindend. Die für die Umbenennung notwendige Verfassungsänderung kann nur vom mazedonischen Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, dh 82 von 120 Abgeordneten, verabschiedet werden. Obwohl, wie vorstehend erwähnt, zuletzt nur 69 der 120 Abgeordneten für die parlamentarische Genehmigung des Namens-Abkommens gestimmt hatten, ist der mazedonische Regierungschef Zoran Zaev – aufgrund der „riesigen Mehrheit“ von über 94 Prozent, die für eine Mitgliedschaft in der EU und in der NATO gestimmt habe – entschlossen, das Abkommen zur Einführung des Namens „Nord-Mazedonien“ dem Parlament zuzuleiten und hofft dabei auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit33, für die lediglich einige Stimmen der Opposition fehlen. Da die Regierungskoalition zwischen den Sozialdemokraten und einigen Albanerparteien über 71 Mandate verfügt, würde sie dafür weitere elf Stimmen benötigen. Da die oppositionelle VMRO-DPMNE über 42 Abgeordnete, also knapp mehr als ein Drittel, im mazedonischen Parlament verfügt, wäre im Falle der Freigabe der Wahl bzw. eines „Ausscherens“ einiger Abgeordneter, die Erlangung einer Zwei-Drittel-Mehrheit denkmöglich.34 Im Gegensatz dazu begrüßte in Griechenland der Chef der mitregierenden rechtspopulistischen Partei 30 Vgl. Czarnowska, M. Der große Exodus, Wiener Zeitung vom 6./7. Oktober 2018, S. 6. 31 Aussage von Albert Musliu im Interview mit Keno Verseck, in: „Das ist Mazedoniens letzte Chance“, spiegel.de vom1. Oktober 2018. 32 Namensreferendum in Mazedonien scheitert an geringer Beteiligung, tagesspiegel.de vom 1. Oktober 2018; Wölfl, A. Zu geringe Beteiligung an Mazedoniens Namensreferendum, derstandard.at vom 1. Oktober 2018. 33 Mazedonien. Referendum über Namensänderung scheitert am Quorum, ZEIT ONLINE, vom 30. September 2018. 34 Vgl. Wölfl, A. Mazedoniens Regierung stellt Opposition ein Ultimatum, derstandard. at vom 1. Oktober 2018, unter Zitierung von Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Südosteuropa-Studien der Universität Graz.

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der „Unabhängigen Griechen“ (ANEL) das Scheitern des Referendums und erklärte, dass er die Koalition mit Alexis Tsipras verlassen werde, sollte das Abkommen dem griechischen Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden.35 Die Kommentare aus dem Bereich der NATO und der EU waren hingegen durchaus positiv und betonten die große Zustimmung, die ihre jeweiligen Organisationen im Referendum erhalten hatten. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sah darin eine historische Chance Mazedoniens, den Namensstreit mit Griechenland zu beenden. Im Übrigen stünden die Tore zur NATO für Mazedonien offen, das dann der 30. Mitgliedstaat werden würde, nachdem im Juni 2017 Montenegro als letzter Staat der NATO beigetreten ist. Der für Erweiterungsfragen zuständige Kommissar Johannes Hahn wiederum appellierte an alle politischen Führer, diese Entscheidung zu respektieren, und zwar mit folgenden Worten: „Dies ist eine historische Chance, nicht nur für die Aussöhnung in der Region, sondern auch für den Weg des Landes in die Europäische Union.“36 „Die Perspektive der Europäischen Union für den westlichen Balkan, die kürzlich auf dem Gipfel von Sofia bekräftigt wurde, bleibt die stärkste stabilisierende Kraft für die Union“.37 Im Besonderen fordert Hahn die größte Oppositionspartei VMRO-DPMNE auf, für die Namensänderung zu stimmen.38 Im Übrigen glaube er an „einen Mix aus Ratio und Balkan“.39 Schlussbetrachtungen Der seit 27 Jahren schwelende Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland konnte aufgrund einer (fragwürdigen) technischen Voraussetzung in der Zählung des mazedonischen Wahlvolkes bedauerlicher Weise nicht positiv beendet werden. Mit dem negativen Ausgang des Referendums vom 30. September 2018 sind aber für die nächsten Jahre nicht nur die Beitrittsambitionen Mazedoniens zur EU und zur NATO schwer gefährdet worden, sondern es wurde dadurch auch die Anfang Februar 2018 von der Europäischen Kommission vorgelegte „Westbalkan-Strategie für eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive“40 empfindlich beeinträchtigt. 35 Namensreferendum in Mazedonien mangels Beteiligung ungültig, derstandard.at, vom 20. September 2018. 36 Referendum über Beilegung des Namensstreits zwischen Athen und Skopje, ec.europa.eu vom 1. Oktober 2018. 37 EU gratuliert Athen und Skopje zur Beilegung des Namensstreits, ec.europa.eu vom 13. Juni 2018. 38 Mazedonien: Hahn fordert Opposition zur Namensänderung auf, Der Standard vom 9. Oktober 2018, S. 4. 39 Schwarz, A. „Ich glaube an einen Mix aus Ratio und Balkan“, Kurier vom 5. Oktober 2018, S. 5. 40 „Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan“, COM(2018) 65 final vom 6. Februar

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Dabei handelt es sich um eine neue Erweiterungsstrategie sowie ein verstärktes Engagement zugunsten der noch nicht der EU beigetretenen sechs Westbalkan-Staaten Montenegro, Serbien, Mazedonien (FYROM), Albanien, Bosnien & Herzegowina und dem Kosovo. Konkret enthält die „Westbalkan-Strategie“ einen Aktionsplan mit sechs Leitinitiativen, für die im Zeitraum von 2018 bis 2020 spezielle Maßnahmen vorgesehen sind. Die sechste Leitinitiative, „Aussöhnung und gutnachbarliche Beziehungen“, zielt dabei auf die Unterstützung bei der Beilegung der mannigfachen Konflikte ab. Am vorläufig letzten Westbalkan-Gipfel am 17. Mai 2018 in Sofia wurde die „Westbalkan-Strategie“ mit ihrer europäischen Perspektive für die vorgenannten sechs Staaten – allerdings erst fünfzehn Jahre nachdem diese durch die „Agenda von Thessaloniki“ vom 21. Juni 200341 erstmals eine solche EU-Perspektive erhalten hatten – bekräftigt und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass jetzt rasch vorgegangen werden muss, damit sich das gegenwärtig offene „Zeitfenster“ nicht wieder schließt. Um – trotz des negativen Referendums vom 30. September 2018 – zu retten, was noch zu retten ist, begann am 16. Oktober 2018 im mazedonischen Parlament die Plenardebatte, die die Namensänderung per Verfassungsänderung festschreiben soll. Dafür ist aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig, für die Premierminister Zoran Zaev, wie vorstehend bereits erwähnt, auf die Unterstützung von etwa einem Dutzend Abgeordneten der Oppositionspartei VMRO-DPMNE angewiesen ist. Um diese Mehrheit zu erreichen, bot Zaev sogar eine Amnestie für jene VMRO-DPMNE – Funktionäre an, die im April 2017 am Sturm auf das Parlament beteiligt waren, bei dem mehr als 100 Personen verletzt wurden. Auch sollen weitere ­VMRO-DPMNE – Funktionäre, die wegen Korruption und Amtsmissbrauch vor Gericht stehen, von dieser Amnestie erfasst werden. Am 22. Oktober 2018 kommt es dann im mazedonischen Parlament zur entscheidenden Abstimmung über die Verfassungsänderung zur Namensfrage. Misslingt die Verfassungsänderung, dann will die Regierung Zaev möglichst schnell vorgezogene Parlamentswahlen abhalten. Als mögliche Termine dafür gelten derzeit der 25. November sowie der 2. oder 9. Dezember 2018.42 Kommissar Hahn warnt ausdrücklich vor Neuwahlen, da diese eine weitere Verzögerung mit sich bringen würden. Er bezweifelt auch, dass bei

2018; vgl. Hummer, W. Die „Westbalkan-Strategie für eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive“ der Europäischen Kommission (2018): Sechs Leitinitiativen mit ihren Implikationen, EU-Infothek vom 20. Februar 2018. 41 „Agenda von Thessaloniki für die westlichen Balkanstaaten: Auf dem Weg zur europäischen Integration“, EU-Press Releases C/03/163, vom 21. Juni 2003, 10229/03 (Presse 163); vgl. Hummer, W. Die „Westbalkan-Strategie (Fn. 40), loc. cit. 42 Vgl. Zehn entscheidende Tage für Mazedonien, Wiener Zeitung vom 16. Oktober 2018, S. 4.

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wesentlichen Verzögerungen die griechische Regierung noch imstande sein wird, das Namensabkommen im eigenen Parlament durchzubringen.43 Sollte aber die Befriedung des Dauerkonflikts zwischen Mazedonien und Griechenland scheitern, dann scheint sich das Zeitfenster wieder zu schließen – mit unabsehbaren Folgen für Mazedonien und die gesamte Region des Westbalkan. Ein Umstand ist dabei besonders gravierend, an den vordergründig nicht immer gedacht wird, nämlich die intergenerative Komponente. So liegt die reale Wartezeit auf einen möglichen EU-Beitritt fast schon im Bereich der Generationen. Nach 15 Jahren der versuchten (erfolglosen) EU-Annäherung liegen für Menschen im mittleren Alter in den sechs Westbalkan-Staaten die möglichen Beitrittsdaten fast schon außerhalb ihrer eigenen Lebensspanne. Dementsprechend ist die Tendenz bei den Zustimmungsraten zur EU weiter sinkend und immer mehr Menschen stellen den Weg in die EU als unumstößliches Ziel in Frage.44 Gleichzeitig wird ganz allgemein von einer „fatalen Alternativlosigkeit Europas für den Westbalkan“ gesprochen.45 Schwindet aber der Einfluss der EU am Balkan, dann trifft der vorerwähnte Vorsitzende der ADI, Albert Musliu, mit seiner Aussage den Nagel auf den Kopf: „Die euroatlantische Integration, also die Möglichkeit des Beitritts zur NATO und EU, ist das Narrativ, das uns alle in Mazedonien zusammenhält. Wenn es diesen Klebstoff nicht mehr gibt, dann werden andere Kräfte auftreten“.46 Diese stehen offensichtlich bereits „Gewehr bei Fuß“, vor allem sind dies die USA und die Russländische Föderation, die ihren Einfluss auf dem Westbalkan massiv erhöhen wollen.47 Artan Grubi, ein Abgeordneter der albanischen DUIPartei, bringt es auf den Punkt: „Moskau will die ethnischen Konflikte in Mazedonien am Köcheln halten und so den EU- und den NATO-Beitritt verhindern“.48 Aber auch die Türkei, China und Saudiarabien versuchen, am Westbalkan an Einfluss zu gewinnen.49 Obwohl dieser vitale Interessenskonflikt am Westbalkan und damit gleichsam „unmittelbar vor der Haustüre“ Österreichs stattfindet, fällt es dem österreichischen Vorsitz im Rat schwer, diesbezüglich vermittelnd ein43 Vgl. Wölfl, A. Hahn fordert schnelle Namensänderung im mazedonischen Parlament, derstandard.at vom 8. Oktober 2018. 44 Vgl. Dzihic, V. Westbalkan als Kollateralschaden der europäischen Passivität?, ÖGfE Policy Brief 38‘2015, S. 5. 45 Grimm, O. Europas fatale Alternativlosigkeit für den Westbalkan, Die Presse vom 12. Februar 2018, S. 2. 46 Aussage von Albert Musliu (Fn. 31), loc. cit. 47 Vgl. Kotschy, H. Die Republik Mazedonien – ein Kollateralschaden der US-Geopolitik, Wiener Zeitung vom 2. Oktober 2018, S. 2. 48 Vgl. Tschinderle, F. Mazedonien heisst bald anders, NZZ vom 12. September 2018, S. 6. 49 Vgl. Windisch, E. Das Rennen um Einfluss am Balkan, Kurier vom 30. September 2018, S. 10.

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zugreifen. Auch aus dem Umstand, dass im Anschluss an den österreichischen Vorsitz im ersten Halbjahr 2019 mit Rumänien und im ersten Halbjahr 2020 mit Kroatien zwei EU-Mitgliedstaaten mit ausgeprägter „Westbalkan-Connection“ den Vorsitz im Rat der EU innehaben werden, lässt sich nicht unbedingt der Schluss ziehen, dass dadurch die Beitrittsvoraussetzungen der Westbalkanstaaten zur EU entscheidend verbessert werden. Ob eine solche Chance wirklich besteht, oder ob sich diese Konstellation nicht gerade in das Gegenteil verkehren wird, sei dahingestellt.50 Quelle: EU-Infothek vom 17. Oktober 2018, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 11) PS: Während der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2018 gelang die Unterzeichnung eines Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrages zwischen Bulgarien und (Nord)Mazedonien, dessen Abschluss zuvor beinahe über ein Jahrzehnt in (Nord)Mazedonien innenpolitisch blockiert wurde. Nach dieser Annäherung an Bulgarien suchte (Nord)Mazedonien den Namensstreit mit Griechenland zu lösen, was – nach der erfolgten Einigung mit Griechenland – am 12. Februar 2019 durch Beschluss des (nord)mazedonischen Parlaments auch definitiv erfolgte. In der Folge wurde Nordmazedonien am 27. März 2020 auch in die NATO aufgenommen.51 Am 29. Juli 2021 haben Nordmazedonien, Serbien und Albanien in Skopje das Projekt „Open Balkan“ beschlossen. Die Initiative dazu war im Oktober 2019 unter dem Namen „Mini-Schengen“ in Novi Sad ins Leben gerufen worden. Die Grenzöffnung gilt ab dem 1. Januar 2023 und betrifft zunächst nur den Personenverkehr zwischen diesen drei Staaten. In einem weiteren Schritt sollen die Arbeitsmärkte geöffnet und der Außenhandel erleichtert werden. Die drei verbleibenden Westbalkanstaaten Kosovo, Montenegro und Bosnien-Herzegowina haben sich diesem Projekt nicht angeschlossen.52 Parellel dazu besteht ein Visa-Aussetzungsmechanismus, aufgrund dessen Staatsangehörige Nordmazedoniens, Montenegros und Serbiens seit Dezember 2009 ohne Visum in die EU einreisen können. Für Staatsangehörige Albaniens, sowie Bosnien und Herzegowinas ist dies seit Ende 2010 möglich. Im April 2014 trat die Befreiung von der Visumpflicht für die Republik Moldau in Kraft, im März 2017 für Georgien und im Juni 2017 für die Ukraine.53

50 Hummer, Die Westbalkan-Strategie (Fn. 40), loc. cit. 51 Romann, H. NATO-Beschluss: Nordmazedonien wird aufgenommen, tagesschau vom 6. Februar 2019. 52 Vgl. Mikovic, N. Open Balkan: Who benefits from it?, CGTN vom 2. August 2021. 53 Vgl. European Commission, Fourth Report under the Visa Suspension Mechanism (COM(2021) 602 final vom 4. August 2021.

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12. Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“ Allein zulässige elektronische Übermittlung von Prozessakten ab Anfang Dezember 2018 Die dem Gerichtshof (EuGH), dem Gericht (EuG) und dem Gericht für den öffentlichen Dienst (GöD) der Europäischen Union gemeinsame Informatikanwendung „e-Curia“ für den papierlosen Austausch von Akten auf elektronischem Weg hat sich in den sieben Jahren ihres Einsatzes (2011– 2018) sehr bewährt, sodass nunmehr daran gedacht wurde, diese Vorgangsweise als allein verbindliche Übermittlung von Verfahrensschriftstücken verpflichtend festzulegen. Die Vorteile, die sich aus der Unmittelbarkeit des Austausches der Schriftstücke auf elektronischem Weg ergeben, verbunden mit den Effizienzgewinnen, die sich daraus erzielen lassen, dass nicht länger zwei verschiedene Übermittlungsformen – Papierform und digitale Form – zu verwalten sind, haben dazu geführt, dass sich das EuG dazu entschlossen hat, seinen Schriftverkehr zu vereinheitlichen und ab Dezember 2018 nur mehr über „e-Curia“ stattfinden zu lassen. Damit werden aber die Rechtsanwälte und Bevollmächtigten, die noch nicht über ein „e-Curia“-Zugangskonto verfügen, unter enormen Zugzwang gebracht, da sie dessen Eröffnung nunmehr nicht nur so bald als möglich beantragen, sondern sich mit dessen sachgerechter Benutzung auch entsprechend vertraut machen müssen. Die Einrichtung der EDV-Anwendung „e-Curia“ Die EDV-Anwendung „e-Curia“ wurde geschaffen, um der fortschreitenden Entwicklung der Kommunikationstechnologien auch im Rahmen der Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (Art.  19 Abs.  1 UAbs. 1 EUV) zu entsprechen. Damit konnten seit Anfang November 2011 in allen Verfahren vor dem dreigliedrigen Gerichtshof der EU – dh vor dem EuGH,1 dem EuG2 und dem GöD3 – Verfahrensschriftstücke bei den Kanz1 Beschluss des Gerichtshofs vom 13. September 2011 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia (ABl. 2011, C 289, S. 7 f.). 2 Beschluss des Gerichts vom 14. September 2011 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia (ABl. 2011, C 289, S. 9 f.); vgl. dazu den neuen „Beschluss über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia“ des EuG vom 11. Juli 2018 (Fn. 12). 3 Beschluss des Gerichts für den öffentlichen Dienst Nr 3/2011, ergangen in der Sitzung des Plenums vom 20. September 2011 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia (ABl. 2011, C 289, S. 11 f.); durch die VO (EU, Euratom) 2015/2422 des EP und des Rates vom 16. De-

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leien der jeweiligen Gerichte elektronisch eingereicht und auch untereinander ausgetauscht werden. Das kostenlose elektronische Datenaustauschsystem „e-Curia“ zeitigte sofort nach seiner Installierung positive Auswirkungen und wurde von den Verfahrensbeteiligten gerne angenommen. Um „e-Curia“ nutzen zu können, müssen die Interessenten mittels eines Formulars zur Beantragung des Zugangs die Eröffnung eines Kontos beantragen.4 In der Folge erhält der jeweilige Antragsteller durch gesonderte EMails von den Kanzleien der Gerichte eine Benutzerkennung und ein vorläufiges Passwort. Diese Anwendung, die auf einer elektronischen Authentifizierung unter Rückgriff auf eine Benutzerkennung in Verbindung mit einem Passwort beruht, entspricht den Anforderungen an die Authentizität, Unversehrtheit und Vertraulichkeit der ausgetauschten Dokumente. Die Verfahrensschriftstücke müssen im PDF-Format eingereicht werden und dürfen eine Größe von 30 MB nicht überschreiten. Die Schriftstücke müssen nicht handschriftlich unterzeichnet sein, da die Verwendung der Benutzerkennung und des persönlichen Passworts des Vertreters für die Einreichung eines Verfahrensschriftstücks als Unterzeichnung dieses Schriftstücks gilt. Eine parallele postalische Übersendung des Originaldokuments ist ebenso wenig erforderlich, wie die Übersendung beglaubigter Abschriften. Stellt die Kanzlei des EuG ein Verfahrensschriftstück über „e-Curia“ zu, wird der Empfänger davon per E-Mail benachrichtigt und kann auf „e-Curia“ Einsicht in das zugestellte Schriftstück nehmen. Sobald die Einsichtnahme erfolgt ist, wird die Kanzlei darüber informiert. Wird aber nicht auf das Schriftstück zugegriffen, so gilt alternativ die Zustellung mit Ablauf des siebten Tages nach Übersendung des Benachrichtigungs-E-Mails als erfolgt. Wird eine Partei von mehreren Bevollmächtigten oder Rechtsanwälten vertreten, wird für die Berechnung der Fristen auf den Zeitpunkt des ersten Zugriffs abgestellt. Ein Verfahrensschriftstück gilt dabei als zur Ortszeit des Großherzogtums Luxemburg als eingegangen. Erweist sich die Einreichung eines Verfahrensschriftstücks über „e-Curia“ als technisch unmöglich, so hat der Benutzer umgehend die Kanzlei des Gerichts per E-Mail5 oder per Telefax6 darüber zu informieren und vor allem die Art der festgestellten technischen Unmöglichkeit anzugeben. Ist der Vertreter an eine Frist gebunden, so übermittelt er der Kanzlei des EuG in geeigneter Weise eine Kopie des Schriftstücks. zember 2015 zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der EU (ABl. 2015, L 341, S. 14 ff.) kam es aber mit 1. September 2016 zur Auflösung des GöD und zur Eingliederung von dessen sieben Richtern in die Richterbank des Gerichts (EuG). Auch wurden die Agenden des GöD auf das EuG übertragen. 4 https://curia.europa.eu/e-Curia/login.faces 5 [email protected] 6 [+352] 43 03 21 00.

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Ein eigenes Suchformular ermöglicht es dem Benutzer, die Suche innerhalb der empfangenen Zustellungen und der von ihm vorgenommenen Einreichungen entsprechend einzugrenzen. Der Benutzer kann sein Passwort, seine E-Mail-Adresse oder die Sprache, in der sein Profil angezeigt wird, jederzeit ändern. Sollte er die Benutzerkennung oder sein Passwort vergessen haben, besteht ein Verfahren für deren Wiedererlangung. Der Gerichtshof der EU hat in einer eigenen 28-seitigen „Benutzungsanleitung für eCuria“7 all diese Voraussetzungen übersichtlich zusammengefasst und auch entsprechend erklärt.8 Seit ihrer Einführung im November 2011 hat sich die Übertragungsart von Dokumenten in Form von „e-Curia“ als sehr erfolgreich erwiesen, was an der wachsenden Zahl der Inhaber eines Zugangskontos (gegenwärtig sind das 4.230 Berechtigte) und dem steigenden Anteil der über „e-Curia“ vorgenommenen Einreichungen (das waren 83 Prozent aller Einreichungen im Jahr 2017 beim EuG) zum Ausdruck kommt.9 Dieses positive feedback der Nutzer hat das EuG veranlasst, den Prozess des Übergangs zur papierlosen Durchführung seiner Verfahren fortzusetzen10 und Mitte 2018 auch als rechtlich verbindlich zu verankern. „e-Curia“ ist beim Schriftverkehr des EuG ab Dezember 2018 ­ausschließlich anzuwenden Dementsprechend hat das EuG am 11. Juli 2018 sowohl Änderungen an seiner Verfahrensordnung11 vorgenommen, als auch einen neuen „Beschluss über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia“12 gefasst, womit „e-Curia“ ab 1. Dezember 2018 zur ausschließlichen Technik für den Austausch von Verfahrensschriftstücken zwischen den Parteien und dem EuG wird. Diese Entwicklung betrifft alle Parteien, dh Kläger, Beklagte und Streithelfer, und alle Arten von Verfahren, einschließlich Eilverfahren, wobei allerdings im Hinblick auf die Wahrung des Rechts auf Zugang zum Gericht bestimmte Ausnahmen gelten – wenn sich zB die Nutzung von „e-Curia“ als technisch unmöglich erwei-

7 https://curia.europa.eu/e-Curia/help/e-Curia_UserGuide_DE.pdf 8 Vgl. auch https://curia.europa.eu/jcms/jcms/P_78957/de/ 9 Einreichen von Schriftsätzen beim EuG künftig nur noch über „e-Curia“, EuGH, Pressemitteilung Nr.157/2018 vom 17. Oktober 2018. 10 Vgl. Contini, F. Searching for Maximum Feasible Simplicity: The Case of e-Curia at the Court of Justice of the European Union, in: Contini, F. – Lanzara, G. F. (Hrsg.), The Circulation of Agency in E-Justice: Interoperability and Infrastructures for European Transborder Judicial Proceedings (2014), S. 217 ff. (228 ff.). 11 ABl. 2018, L 240, S. 68 ff. 12 ABl. 2018, L 240, S. 72 ff.; dieser Beschluss ersetzt den vorgenannten „e-Curia“-Beschluss des Gerichts vom 14. September 2011 (Fn. 2).

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sen sollte, oder wenn Prozesskostenhilfe von einer nicht anwaltlich vertretenen Person beantragt wurde. Schlussbetrachtungen Dass nunmehr für den Eingang und Austausch von Verfahrensschriftstücken beim Gericht mit Dezember 2018 verpflichtend auf das elektronische Datenaustauschsystem „e-Curia“ zurückgegriffen werden muss, ist als Erfolg zu werten, kommt es dadurch doch zu einer Vereinfachung und Beschleunigung des Schriftverkehrs in allen Verfahren vor dem EuG. Dass man dafür doch eine einigermaßen lange Vorlaufzeit von sieben Jahren (2011–2018) benötigt hat, zeigt einmal mehr auf, wie komplex die Einführung der Digitalisierung in gerichtliche Verfahrensabläufe eigentlich ist. Dieselbe Erfahrung hat man bei der Einführung der verbindlichen elektronischen Veröffentlichung des Amtsblatts der EU zum 1. Juli 2013 gemacht. In der Erkenntnis, dass dann, wenn eine Veröffentlichung in der elektronischen Ausgabe des Amtsblatts einer ordnungsgemäßen Veröffentlichung gleichkäme, schneller und kostengünstiger auf das Unionsrecht zugegriffen werden könnte, entschloss sich die Kommission im April 2011 einen diesbezüglichen Vorschlag13 vorzulegen, der vom Rat in der Verordnung (EU) Nr. 216/2013 vom 7. März 2013 über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der Europäischen Union14 aufgegriffen wurde. Damit wurde zwar die leichtere Verfügbarkeit des Europarechts entscheidend erhöht, es mussten aber auch Vorkehrungen dafür getroffen werden, dass die Echtheit, Unverfälschtheit und Unveränderlichkeit der elek­ tronischen Veröffentlichung sichergestellt wird. Ebenso mussten auch Regeln festgelegt werden, die in den Fällen anzuwenden sind, in denen es aufgrund unvorhergesehener Umstände nicht möglich ist, die elektronische Ausgabe des Amtsblatts zu veröffentlichen.15 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang allerdings der Umstand, dass der verpflichtende Einsatz des elektronischen Datenaustauschsystems „e-Curia“ zunächst nur auf die Verfahren vor dem Gericht (EuG) beschränkt ist und damit der Schriftverkehr vor dem Gerichtshof (EuGH) nicht erfasst wurde. Bedenkt man, dass dem Gerichtshof allein im Jahr 2017 insgesamt 739 (neue) Rechtssachen – das ist die höchste Zahl in den letzten fünf Jahren – vorgelegt wurden,16 kann man ermessen, wie wichtig auch bei 13 KOM(2011) 162. 14 ABl 2013, L 69, S. 1. 15 Vgl. Hummer, W. Das Europarecht ist nun leichter verfügbar, Salzburger Nachrichten vom 26. März 2013. 16 Workload of EU court remains high, euobserver vom 23. März 2018; https://euobserver.com/tickers/141428; vgl. dazu allgemein Europäischer Rechnungshof, Beurteilung der Effizienz des Gerichtshofs der Europäischen Union bei der Bearbeitung von Rechtssachen, Sonderbericht Nr. 14 (2017); Hummer, W. Der Gerichtshof der

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ihm die verpflichtende Berücksichtigung von „e-Curia“ für eine raschere und effizientere papierlose Kommunikation an sich wäre. Offensichtlich liegt die Differenzierung in der verpflichtenden Anwendung von „e-Curia“ zwischen dem EuG und dem EuGH in der doch recht unterschiedlichen Natur der jeweiligen Verfahren und dem dadurch bedingten Adressatenkreis. Vor dem EuGH spielt die Teilnahme von Mitgliedstaaten und nationalen Gerichten – über das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV – eine größere Rolle, sodass man für diese institutionellen Verfahrensteilnehmer den Rückgriff auf „e-Curia“ noch nicht generell verpflichtend machen und diesen weiterhin die Wahl zwischen den beiden Übermittlungsformen von Dokumenten – Papierform oder digitale Form – überlassen wollte. In Kürze ist allerdings eine Änderung des „e-Curia“-Beschlusses des EuGH vom 13. September 201117 zu erwarten, allerdings nur um den Kreis der Anwendungsberechtigten für „e-Curia“ zu erweitern, und zwar vor allem um die nationalen, mitgliedstaatlichen Gerichte. Quelle: EU-Infothek vom 24. Oktober 2018, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 12) PS: Der bisherige e-Curia – Beschluss des Gerichtshofs vom 13. September 201118 wurde durch Beschluss des Gerichtshofs vom 16. Oktober 2018 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia19 aufgehoben und ersetzt. Demgemäß ist im Rahmen der Bearbeitung von Vorabentscheidungsersuchen durch den Gerichtshof den Gerichten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, Verfahrensschriftstücke im Wege der Anwendung von e-Curia einzureichen und zu erhalten. Diese Möglichkeit ist – allerdings nur in Vorabentscheidungssachen20 – auch Personen einzuräumen, die zwar nicht Bevollmächtigte oder Anwälte, aber berechtigt sind, eine Partei vor dem Gericht eines Mitgliedstaates zu vertreten.

EU: Garant der Rechtsstaatlichkeit oder unzulässiger Rechtsetzer?, EU-Infothek vom 7. März 2018. 17 Siehe Fn. 1. 18 Siehe Fn. 1. 19 ABl. 2018, L 293, S. 36 ff. 20 Bis zum Stichtag 1. Januar 2021 haben österreichische ordentliche Gerichte insgesamt 306 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH übermittelt.

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Was hat eigentlich der Gerichtshof mit „rauchlosen Tabakerzeugnissen“ zu tun?

13. Was hat eigentlich der Gerichtshof (EuGH) mit „rauchlosen Tabakerzeugnissen“, wie Kautabak, Schnupftabak, ­Lutschtabak und „Snus“, zu tun? Warum führte die Einstufung von „Snus“ zum ersten freiwilligen Rücktritt eines Kommissars? Dass der Gerichtshof (EuGH) mit seinen Entscheidungen des Öfteren bis in die kleinsten Einzelheiten der persönlichen Lebensführung von Unionsbürgern eingreift, ist mittlerweile bekannt und wird dementsprechend kommentiert bzw. auch kritisiert. Exemplarisch dafür soll in diesem Zusammenhang das aktuelle Urteil des Gerichtshofs vom 17. Oktober 2018 im Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs1 zitiert werden, in dem dieser zum einen der allgemeinen Frage nachzugehen hatte, ob „rauchlose Tabakerzeugnisse“ unter das Verbot des Inverkehrbringens von „Tabak zum oralen Gebrauch“ fallen, zum anderen aber auch feststellen sollte, wie in diesem Zusammenhang der Begriff „Tabakerzeugnisse, die zum Kauen bestimmt sind“ zu verstehen ist. Im Kern ging es dabei um die Frage, wann es sich bei einem Produkt um erlaubten „Kautabak“ und wann um verbotenen „Tabak zum oralen Gebrauch“ handelt. Tabak kann nämlich an sich gelutscht, gekaut oder sein Rauch inhaliert werden – nur erstere Darreichungsform ist in der EU verboten, allerdings mit Ausnahme von Schweden. Bereits einmal spielte die Einstufung der schwedischen Tabakspezialität „Snus“ – entweder als (verbotener) „Lutschtabak“ oder als (erlaubter) „Kautabak“ – sowie die wiederholten Versuche einer möglichen Vermarktung von „Snus“ in der EU als „Kautabak“, eine wichtige Rolle, „stolperte“ doch ein Mitglied der Europäischen Kommission, nämlich John Dalli, da­ rüber, der in der Folge vom damaligen Kommissionspräsidenten, José Barroso, zum Rücktritt aufgefordert wurde und diesen danach auch vollzog. Obwohl es damit zum ersten Mal in der Geschichte der EU zu einem Rücktritt eines Kommissars gekommen ist,2 sind die näheren Zusammenhänge 1 Vorlagebeschluss vom 11. Juli 2017; für das Urteil des EuGH in der Rs. C-425/17 siehe Fn. 5; vgl. die beiden weiteren einschlägigen Vorabentscheidungsverfahren EuGH, Rs. C-220/17, Planta Tabak/Land Berlin; EuGH, Rs. C-439/17, British American Tobacco/Freie und Hansestadt Hamburg (ECLI:EU:C:2018:114); Zechmeister, D. Tabakproduktrichtlinie erneut auf dem Prüfstand, GRUR-Prax 2017, S. 458 ff. 2 Im Korruptionsskandal um die französische Kommissarin Edith Cresson kam es zu keinem Einzelrücktritt der Kommissarin, sondern die ganze Kommission trat geschlossen zurück; Hummer, W. – Obwexer, W. Der „kollektive“ Rücktritt der Europäischen Kommission – ein Rechtsirrtum?, in: Europäisches Wirtschafts- & Steuerrecht 5/1999, S. 161 ff.; Hummer, W. – Obwexer, W. Der “geschlossene” Rücktritt der Europäischen Kommission. Von der Nichtentlastung für die Haushaltsführung zur Neuernennung der Kommission, in: integration 2/1999, S. 77 ff.

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nicht allgemein bekannt und sollen daher nachstehend ebenfalls dargestellt werden. Der gegenständliche Beitrag ist daher zum einen ein Beleg für die unglaublichen „Kapriolen“ juristischer Semantik, zum anderen aber auch ein Beweis dafür, welche praktischen Konsequenzen die dabei gefundenen Ergebnisse haben können, und wie diese auch manipuliert werden, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen – selbst wenn dies zum Rücktritt eines Mitglieds der Europäischen Kommission führt. Rechtsgrundlage für das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen Nach Art. 17 der Richtlinie 2014/40/EU des EP und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen (…) (sog. „Tabak-RL“)3 ist das Inverkehrbringen von „Tabak zum oralen Gebrauch“ in der EU verboten, lediglich für Schweden gilt diesbezüglich gem. Art. 151 Abs. 1 iVm Anhang XV der Beitrittsakte (1994)4 für den Lutschtabak „Snus“ eine Ausnahme. „Tabak zum oralen Gebrauch“ wird in Art. 2 Nr. 8 der Tabak-RL definiert als „alle Tabakerzeugnisse, zum oralen Gebrauch – mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Inhalieren oder Kauen bestimmt sind – die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen und die in Pulver- oder Granulatform oder in einer Kombination aus beiden Formen, insbesondere in Portionsbeuteln oder porösen Beuteln, angeboten werden“. Bei „Kautabak“, der gemäß dieser Definition nicht von dem Verbot von „Tabak zum oralen Gebrauch“ erfasst wird, handelt es sich hingegen gem. Art.  2 Nr. 6 der Tabak-RL um ein „rauchloses Tabakerzeugnis, das ausschließlich zum Kauen bestimmt ist“. Bei „Schnupftabak“ wiederum handelt es sich gem. Art. 2 Nr. 7 der Tabak-RL um ein „rauchloses Tabakerzeugnis, das über die Nase konsumiert werden kann“. Ausgangspunkt der gegenständlichen Streitsache war die Klage eines deutschen Unternehmens gegen die Stadt Kempten, die diesem den Vertrieb seiner beiden von der dänischen Firma „V2 Tobacco“ importierten TabakProdukte „Thunder Chewing Tobacco“ und „Thunder Frosted Chewing Bags“ untersagt hatte, da diese zum anderweitigen oralen Gebrauch als „Rauchen“ oder „Kauen“ bestimmt seien. Es handelt sich dabei zum einen um ein pastenartiges Tabakerzeugnis aus fein gemahlenen Tabak, zum anderen um einen porösen Portionsbeutel aus Zellulose mit Tabakfeinschnitt als Inhalt. Beide Erzeugnisse werden ähnlich wie schwedischer „Snus“ konsu3 ABl. 2014, L 127, S. 1 ff. 4 ABl. 1994, C 241, S. 9 ff.

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miert, in dem man sie zwischen Lippen und Zahnfleisch oder in der Wangenfalte positioniert. Zur Beurteilung der Frage, ob rauchlose Tabakerzeugnisse, wie die hier streitverfangenen, unter das Verbot des Inverkehrbringens von „Tabak zum oralen Gebrauch“ fallen, wollte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vom EuGH wissen, wie der Begriff „Tabakerzeugnisse, die zum Kauen bestimmt sind“ iSd Art. 2 Nr. 8 iVm Art. 2 Nr. 6 der Tabak-RL auszulegen ist. In seinem Urteil vom 17. Oktober 20185 weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 17 der Tabak-RL – unbeschadet des Art. 151 der Beitrittsakte 1994 – das Inverkehrbringen von „Tabak zum oralen Gebrauch“ verboten haben. Durch dieses Verbot wird ein doppeltes Ziel verfolgt, nämlich zum einen ein hoher Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, und zum anderen die Erleichterung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse.6 Was das Verbot von „Tabak zum oralen Gebrauch“ betrifft, so wurde dieses bereits durch die Richtlinie 92/41/EWG des Rates vom 15. Mai 19927 eingeführt, und zwar deswegen, da die neu in Umlauf gebrachten Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrach vor allem für Kinder und Jugendliche ein ernst zu nehmendes Risiko darstellten, da sie für diese Verbrauchergruppe besonders anziehend seien und damit eine frühe Nikotinabhängigkeit verursachen würden. Gleichzeitig war der Unionsgesetzgeber aber der Ansicht, dass andere rauchlose Tabakerzeugnisse, wie zB „Kautabak“, als „herkömmliche“ Tabakerzeugnisse angesehen werden könnten, die – unter Berücksichtigung insbesondere ihrer fehlenden Neuartigkeit und Attraktivität für Kinder und Jugendliche – durchaus anders zu behandeln seien.8 Der Lutschtabak „Snus“ als schwedisches Kulturgut Was in diesem Zusammenhang die originelle, und damit auch bei der Jugend attraktive, Form des Lutschtabaks vom Typ „Snus“ betrifft, so handelt es sich dabei um ein Tabakerzeugnis in Form eines fein gemahlenen oder geschnittenen Tabaks, der lose oder in kleinen Portionsbeuteln verkauft und zum Konsum zwischen Zahlfleisch und Lippe geschoben wird.9 In der Folge wird der Speichel braun, Nikotin strömt durch die Mundschleimhaut und wird vom Körper aufgenommen. Snus ist daher ein klassischer „Lutsch5 EuGH, Rs. C-425/17, Günter Hartmann Tabakvertrieb GmbH & Co. KG/Stadt Kempten (ECLI:EU:C:2018:830). 6 EuGH, Rs. C-547/14, Philip Morris Brands ua, Rdnr.171 (ECLI:EU:C:2016:325). 7 ABl. 1992, L 158, S. 30 ff. 8 EuGH, Rs. C-210/03, Swedish Match/Secretary of State for Health, Rdnr. 66 (ECLI:EU:C:2004:802). 9 EuGH, Rs. C-434/02, Arnold André/Landrat des Kreises Herford, Rdnr. 19 (ECLI:EU:C:2004:800).

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tabak“, der seine wesentlichen Inhaltsstoffe im Mund nur durch „Lutschen“ und nicht durch „Kauen“ freisetzt. Obwohl Snus rein technisch auch gekaut werden könnte, ist es ein Erzeugnis, das nur im Mund gehalten werden muss, um seine wesentlichen Inhaltsstoffe freizusetzen.10 Snus ist Jahrhunderte altes schwedisches Kulturgut und dementsprechend in Schweden auch zum Konsum zugelassen, kann aber nicht in die EU exportiert werden.11 Als verbotener „Tabak zum oralen Gebrauch“ darf Snus in der EU nicht in Verkehr gebracht und kann auch nicht durch eine „Umqualifikation“ als „Kautabak“ – „Lutschtabak“, wie Snus, stellt eben keine Unterform von „Kautabak“ dar – zugelassen werden, obwohl es wiederholte Versuche einer Vermarktung von Snus als „Kautabak“ gab. Aus den Materialien zur TabakRL (2014) geht eindeutig hervor, dass der Unionsgesetzgeber mit der Hinzufügung des Adverbs „ausschließlich“ zur Definition des Begriffs „Kautabak“ in Art. 2 Nr. 6 dieser Richtlinie – siehe dazu vorstehend – eine Klarstellung dieses Begriffs vornehmen wollte, um die Möglichkeiten der Umgehung des Verbots von „Tabak zum oralen Gebrauch“ angesichts wiederholter Versuche einer Vermarktung von Snus als „Kautabak“ einzuschränken.12 Wie „Snus“ Kommissar John Dalli zum Verhängnis wurde Alle diese Versuche der „Legalisierung“ von Snus fielen in das Ressort des maltesischen Staatsangehörigen John Dalli, der in der „Barroso-Kommis­ sion“ (2010–2014) als Kommissar für Gesundheit und Konsumentenschutz zuständig war.13 Nachdem sich Korruptionsvorwürfe gegen Kommissar Dalli verdichtet hatten, bestellte Kommissionspräsident José Barroso am 16. Oktober 2012 diesen in sein Büro, konfrontierte ihn mit den seitens des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) gegen ihn erhobenen Bestechungsvorwürfen und forderte ihn unter Hinweis auf Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 EUV ultimativ zum Rücktritt auf, da er ihn ansonsten zur Niederlegung seines Amtes zwingen müsse.14 Am Ende dieses bilateralen Gesprächs stießen sowohl der Kabinettschef Barroso’s, Johannes Laitenberger, als auch der Generaldirektor des Rechtsdienstes der Kommission, Luis Ro10 Kautabak wird gekaut – nicht gelutscht, tagesschau.de vom 17. Oktober 2018. 11 Vgl. dazu auch die Schlussanträge von GA Henrik Saugmandsgaard Ø ´ e vom 12. April 2018 in der Rs. C-151/17, Swedish Match AB/Secretary of State for Health (ECLI:EU:C:2018:938); Gerichtshof, Pressemitteilung Nr. 41/18 vom 12. April 2018. 12 Urteil des EuGH in der Rs. C-425/17 (Fn. 5), Rdnr. 31. 13 John Dalli wurde mit Beschluss 2010/80/EU des Europäischen Rates vom 9. Februar 2010 zur Ernennung der Europäischen Kommission (ABl. 2010, L 38, S. 7) für den Zeitraum vom 10. Februar 2010 bis zum 31. Oktober 2014 zum Mitglied der Europäischen Kommission ernannt und bekam die Ressorts Gesundheit und Verbraucherschutz zugewiesen. 14 Vgl. Hummer, W. Freiwilliger oder erzwungener Rücktritt von Kommissar Dalli?, EU-Infothek vom 30. Oktober 2012.

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mero Requena, zu dieser Besprechung hinzu, wobei Letzterer John Dalli ein bereits vorgefertigtes Rücktrittsformular vorlegte, das dieser, nach einigen kleinen stilistischen Änderungen, auch unterzeichnete. Barroso stützte sich bei seiner harschen Vorgangsweise auf einen Bericht von „Bild am Sonntag“, wonach sich Dalli für die Aufhebung des Handelsverbotes von „Snus“, einem schwedischen Lutschtabak, eingesetzt habe, wofür ihm 10 Mio. Euro in Aussicht gestellt worden seien. Treibende Kraft hinter diesem Bestechungsversuch war der maltesische Geschäftsmann Silvio Zammit, der dem Tabakkonzern Swedish Match im Namen Dallis angeboten haben soll, für einen Betrag von 60 Mio. Euro eine Aufhebung des EU-weiten Handelsverbots für „Snus“ zu erreichen.15 Durch die Öffnung des gesamten Binnenmarktes für den Vertrieb von „Snus“ sei nämlich ein Umsatzvolumen von ca. 300 Mio. Euro zu erwarten. Swedish Match ging auf diesen Handel aber nicht ein, sondern kontaktierte im Mai 2012 über seinen Kontaktmann Patrick Hildingsson die Betrugsbekämpfungs-Agentur OLAF und teilte dieser den gegenständlichen Vorgang mit. OLAF nahm daraufhin Ermittlungen auf und leitete in der Folge seinen Untersuchungsbericht zum einen an den Präsidenten der Kommission, José Barroso, und zum anderen an den maltesischen Generalstaatsanwalt zur Untersuchung und Verfolgung strafrechtlich relevanter Aspekte des Betrugsverdachts gegen Dalli weiter.16 In diesem Bericht wurde festgehalten, dass Kommissar John Dalli zwar nicht direkt in die Machenschaften Zammit’s involviert gewesen sei, aber eindeutig davon gewusst und nichts dagegen unternommen habe. Diese Untätigkeit stelle nach Ansicht von OLAF eindeutig eine Verletzung des Verhaltenskodex für EU-Kommissare17 dar. John Dalli war in der Folge bemüht, nicht nur seine Unschuld zu beteuern, sondern auch die „Freiwilligkeit“ seines Rücktritts unter Bezugnahme auf den im Gespräch am 16. Oktober 2012 angekündigten Beschluss des Kommissionspräsidenten Barroso, von seiner ihm nach Art.  17 Abs.  6 UAbs. 2 EUV eingeräumten Befugnis – nämlich den Rücktritt eines Mitglieds der Europäischen Kommission zu verlangen – Gebrauch zu machen, zu verneinen. Barroso hätte immer eindringlicher auf ihn eingewirkt und dabei mehrfach versichert, dass es ehrenhafter für ihn sei, aus freien Stücken zurückzutreten, als dazu aufgefordert zu werden. Falls dies nicht geschehen sollte, würde er sich genötigt sehen, ihn zur Niederlegung seines Amtes aufzufordern. Gegen diese mündliche Ankündigung Barroso’s, im Falle eines nicht freiwillig erfolgten Rücktritts mit der in Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 EUV vor15 Ex-EU-Kommissar Dalli sollte 10 Millionen Euro bekommen, eu-info.de vom 21. Oktober 2012; vgl. Kuhrt, N. – Hecking, C. Wer hat John Dalli verraten?, SPIEGEL ONLINE vom 26. Februar 2014. 16 OLAF Press Release No. 5, 2012, Brussels, 19 October 2012. 17 K(2011) 2904; für einen genauen Ablauf der vermeintlichen Bestechung siehe „Die Affäre um John Dalli“, Lobbypedia.

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gesehenen Sanktion einer Amtsenthebung vorzugehen, erhob Kommissar John Dalli Nichtigkeitsklage vor dem Gericht (EuG) gem. Art. 263 AEUV18, die dieses allerdings mit Urteil vom 12. Mai 2015 abwies,19 ebenso wie auch die von Dalli in diesem Zusammenhang erhobenen Schadensersatzforderungen. Das Gericht wies dabei, in einer streng formalen Betrachtungsweise,20 darauf hin, dass die Äußerung des Präsidenten der Kommission, dass er, falls Dalli nicht freiwillig zurücktrete, fest gewillt sei, die gem. Art.  17 Abs.  6 EUV im Ermessen stehende Befugnis auszuüben, Dalli zum Rücktritt aufzufordern, nicht als rechtswidriger Druck angesehen werden kann, der die Gültigkeit der „Freiwilligkeit“ des Rücktritts von Kommissar Dalli beeinträchtigt. Damit hat, nach Ansicht des Gerichts, der Rücktritt von Kommissar John Dalli, den dieser mündlich während des Vier-Augen-Gesprächs mit Präsident Barroso am 16. Oktober 2012 geäußert hat, tatsächlich „freiwillig“ stattgefunden, und wurde von diesem auch den später zu diesem Gespräch hinzukommenden Beamten Laitenberger und Requena gegenüber bestätigt. Dalli legte gegen das Urteil des Gerichts beim EuGH ein Rechtsmittel ein21, das aber vom EuGH mit Beschluss vom 14. April 2016 zurückgewiesen wurde.22 Damit wurde das Urteil des Gerichts und der darin ausgesprochene „freiwillige“ Rücktritt Dalli’s bestätigt. Schlussbetrachtungen Wenngleich die Vorgangsweise von Kommissionspräsidenten Barroso, Kommissar Dalli ohne die geringste Vorwarnung mit einer Rücktrittsaufforderung zu konfrontieren und diesem auch keine ausreichende Zeit für die Entkräftung der gegen ihn seitens des OLAF erhobenen Bestechungsvorwürfe zu geben, mehr als ungewöhnlich war, ist sie vom Gericht als zulässig bezeichnet worden, sodass Dalli’s Rücktritt als „freiwillig“ eingestuft werden konnte. Dass gegen John Dalli nach seinem Ausscheiden aus der Europäischen Kommission in seinem Heimatstaat Malta kein Strafverfahren wegen Bestechlichkeit eröffnet wurde, ist bemerkenswert. Immerhin hat OLAF seinen Untersuchungsbericht wegen des Betrugsverdachts gegen Dalli auch an den maltesischen Generalstaatsanwalt zur Untersuchung und Verfolgung strafrechtlich relevanter Aspekte weitergeleitet. 18 EuG, Rs. T-562/12, Dalli/Europäische Kommission (ECLI:EU:T:2015:270). 19 EuG, Rs. T-562/12 (Fn. 18) loc. cit. 20 Dalli scheitert mit Klage gegen vermeintliche Amtsenthebung, ms/LTO-Redaktion vom 12. Mai 2015. 21 EuGH, Rs. C-392/15 P, John Dalli/Kommission (ECLI:EU:C:2016:262). 22 EuGH, Pressemitteilung Nr. 40/16; vgl. Hummer, W. Verschärfte Ethikregeln für die Mitglieder der Europäischen Kommission. Der neue Verhaltenskodex vom Jänner 2018, EU-Infothek vom 16. Februar 2018.

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Die brutal ermordete maltesische Aufdeckungs-Journalistin und Bloggerin Daphne Caruana Galizia, die ua auch die „Causa Dalli“ genau recherchierte, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Dalli nach seinem Rücktritt als Kommissar von Maltas Premier Joseph Muscat nicht nur zu seinem persönlichen Berater für das öffentliche Gesundheitswesen ernannt wurde, sondern auch vor den Nachforschungen des FBI und den Ermittlungen der maltesischen Strafverfolgungsbehörden geschützt werde. So soll Premier Muscat kurzerhand einen Polizeioffizier abgesetzt haben, der den ehemaligen Kommissar Dalli in Untersuchungshaft nehmen wollte.23 Ganz allgemein belegt das gegenständliche Urteil des Gerichtshofs aber die besondere Komplexität der Auslegung sekundärrechtlicher Bestimmungen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren. Diesbezüglich stellt das Urteil fest, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind.24 Mit diesem „salvatorischen“ Hinweis auf den Kontext sowie auf Ziel und Zweck einer Bestimmung verschafft sich der Gerichtshof immer wieder die notwendige „semantische Bewegungsfreiheit“, um die auftretenden Interpretationsprobleme lösen zu können. Dass sich der Gerichtshof der EU, ganz im Gegenteil zu nationalen Gerichten, bei seiner Interpretation nicht strikt an die „Wortlautschranke“ gebunden fühlt, ist darauf zurückzuführen, dass er im Unionsrecht keinem gewaltenteilenden System unterliegt, in dem die Judikative nicht in den Kompetenzbereich der Legislative eingreifen darf. Im Verbandsrecht der EU, das nicht strikt gewaltenteilend organisiert ist, ist es dem Gerichtshof rechtsdogmatisch an sich nicht verboten, Ziel und Zweck einer Bestimmung stärker zu berücksichtigen bzw. sogar rechtsfortbildend vorzugehen. Er verschafft sich damit immer wieder genügend „interpretativen Freiraum“, um sein Hauptziel, nämlich die Sicherung der Funktionsfähigkeit der EU, zu bestärken.25 Quelle: EU-Infothek vom 29. Oktober 2018, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 13)

23 Vgl. Sina, R. Maltas Ex-EU-Kommissar Dalli. Der Tabak und die Millionen, tagesschau.de vom 19. Oktober 2017. 24 Vgl. EuGH, Rs. C-419/15, Thomas Philipps, Rdnr. 18 (ECLI:EU:C:2016:468); EuGH, Rs. C-646/16, Jafari, (ECLI:EU:C:2017:586); Urteil des EuGH in der Rs. C-425/17 (Fn. 5), Rndr. 18. 25 Vgl. Hummer, W. Gerichtshof der EU: Garant der Rechtsstaatlichkeit oder unzulässiger „Rechtssetzer“, EU-Infothek vom 7. März 2018; vgl. auch Artikel Nr. 8, vorstehend auf S. 127 ff.

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14.  „Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht Stellenausschreibung des ersten „Europäischen Generalstaatsanwalts“ der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ durch die Europäische Kommis­ sion Am 19. November 2018 veröffentlichte die Europäische Kommission die Stellenausschreibung des ersten „Europäischen Generalstaatsanwalts“ der neuen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ („European Public Prosecutor’s Office“, EPPO)1, der für eine nicht verlängerbare Amtszeit von sieben Jahren ernannt wird. Bewerbungsschluss war der 14. Dezember 2018, 12.00 Uhr Brüsseler Ortszeit. Damit wird eine der interessantesten, zugleich aber auch unbekanntesten, Positionen im Bereich der Untersuchung und Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU ausgelobt. Es bietet sich daher an, nachstehend in aller Kürze auf diese singuläre Position einzugehen. Die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ Gem. Art. 86 Abs. 1 AEUV kann der Rat, „ausgehend von Eurojust“, zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU – zB Korruption oder Betrug im Zusammenhang mit der Verfügung über Finanzmittel der EU mit einem Schaden von mehr als 10.000 Euro oder grenzüberschreitender Mehrwertsteuerbetrug mit einer Schadenshöhe von mehr als 10 Mio. Euro – durch Verordnung eine „Europäische Staatsanwaltschaft“ einsetzten. Damit sollte es zur Errichtung einer eigenen Anklagebehörde zum Schutz der finanziellen Interessen der EU gegen betrügerische Manipulationen zulasten des EU-Haushalts kommen, die diesbezüglich eng mit der Agentur der EU für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust),2 dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF)3 und dem Europäischen Polizeiamt (Europol)4 kooperieren soll. 1 ABl. 2018, C 418 A, S. 1 ff. 2 Errichtet durch die Verordnung (EU) 2018/1727 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 (ABl. 2018, L 295, S. 138 ff.). Die mit dieser Verordnung errichtete „Agentur Eurojust“ ist Rechtsnachfolgerin der mit Beschluss 2002/187/JI des Rates im Jahr 2002 eingerichteten früheren „Stelle Eurojust“. 3 Vgl. Von OLAF über Eurojust zur Europäischen Staatsanwaltschaft, (Teil 1) EUInfothek vom 20. August 2013 und (Teil 2) EU-Infothek vom 27. August 2013. 4 Gem. Art. 86 Abs. 2 AEUV ist die „Europäische Staatsanwaltschaft“, „gegebenenfalls in Verbindung mit Europol“, zuständig für die strafrechtliche Untersuchung, Verfolgung und Anklageerhebung in Bezug auf Straftäter, die zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union gehandelt haben. Diese Formulierung ist schwächer als die in Art.  86 Abs.  1 AEUV in Bezug auf Eurojust gewählte („ausgehend von Eurojust“).

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Nachdem die Kommission Mitte Juli 2013 einen entsprechenden Verordnungs-Vorschlag vorgelegt hatte,5 dauerte es in der Folge noch vier weitere Jahre, bis im Rat am 7. Februar 2017 die Feststellung getroffen wurde, dass keine Einstimmigkeit über den Verordnungs-Entwurf erzielt werden konnte. Neben Dänemark,6 dem Vereinigten Königreich und Irland,7 die eine primärrechtliche „opt-out“-Klausel für die Einrichtung solcher Ämter in Anspruch nehmen konnten, wurde die Einrichtung einer „Europäischen Staatsanwaltschaft“ aber auch von Malta, den Niederlanden, Polen, Schweden und Ungarn – unter Hinweis auf die damit verbundene Verletzung des Subsidiaritätsprinzips – expressis verbis abgelehnt. Damit war gem. Art. 86 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV nur mehr ein Vorgehen im Rahmen einer „Verstärkten Zusammenarbeit“ iSv Art. 20 Abs. 2 EUV iVm Art. 329 Abs. 1 AEUV möglich. Nach einer politischen Einigung zwischen 20 Mitgliedstaaten der EU im Schoß des Rates „Justiz“ auf eine diesbezügliche „Verstärkte Zusammenarbeit“ am 8. Juni 2017, kam es am 12. Oktober 2017 in der Folge zur Annahme der Verordnung des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft8, die am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU, dh am 20. November 2017, in Kraft trat.9 Wie alle Formen einer „Verstärkten Zusammenarbeit“, war auch diese offen für den Beitritt weiterer EU-Mitgliedstaaten. So bestätigte die Kommission auf der Basis von Art.  331 Abs.  1 UAbs. 2 AEUV mit Beschluss (EU) 2018/1094 vom 1. August 2018 die Beteiligung der Niederlande10 und mit Beschluss (EU) 2018/1103 vom 7. August 2018 die Beteiligung Maltas11 an der „Verstärkten Zusammenarbeit“ zur Errichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“, wodurch die Zahl der Mitgliedstaaten an dieser „Verstärkten Zusammenarbeit“ auf insgesamt 22 anstieg. Was den Beginn der Aufnahme ihrer investigativen und exekutiven Tätigkeit betrifft, so soll die „Europäische Staatsanwaltschaft“ nach ihrer Errichtung diese erst zu einem Zeitpunkt beginnen, der durch eine Entscheidung der Kommission auf der Basis eines Vorschlags des „Europäischen Generalstaatsanwalts“ festgelegt wird. Dieser Termin darf aber nicht früher 5 6 7 8

COM(2013) 534 final. Vgl. Protokoll Nr. 22 über die Position Dänemarks. Vgl. Protokoll Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands. Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates (ABl. 2017, L 283, S. 1 ff.); Herrnfeld/Brodowski/Burchard, European Public Prosecutor’s Office: EPPO. Article-by-Article Commentary – Regulation (EU) 2017/1939 (2021). 9 Siehe dazu Hummer, W. Die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ als bisher letzter Fall einer „verstärkten Zusammenarbeit“ in der EU, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 1/2018, S. 4 ff. 10 ABl. 2018, L 196, S. 1 f. 11 ABl. 2018, L 201, S. 2 f.

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als nach dem Verstreichen einer Frist von drei Jahren nach dem Inkrafttreten der Verordnung liegen.12 Dementsprechend wird frühestens Ende 2020 mit der Funktionsaufnahme der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ gerechnet. Die Struktur der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ Die „Europäische Staatsanwaltschaft“ ist ein Kollegialorgan der EU mit eigener Rechtspersönlichkeit, die sich aus zwei unterschiedlichen Ebenen zusammensetzt, nämlich einer zentralen und einer dezentralen. Die zentrale Ebene, mit Sitz in Luxemburg, besteht aus dem „Europäischen Generalstaatsanwalt“ und 22 abgeordneten Europäischen Staatsanwälten – je einem pro teilnehmenden Mitgliedstaat – von denen zwei als „Stellvertretende Europäische Generalstaatsanwälte“ fungieren, sowie einem Verwaltungsdirektor und Fachpersonal und -ermittlern. Die dezentrale Ebene besteht hingegen aus den „Delegierten Europäischen Staatsanwälten“ – mindestens zwei pro beteiligtem Mitgliedstaat – die in den Mitgliedstaaten lokalisiert und für die laufende Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen gemäß ihren jeweiligen Rechtsvorschriften zuständig sind. Diese haben aber weiterhin ihr Amt als nationale Staatsanwälte auszuüben (Doppelfunktion). Wenn die „Europäische Staatsanwaltschaft“ ermittelt, üben die nationalen Behörden ihre Kompetenzen in derselben Strafsache nicht aus. Die Versammlung aller 22 „Europäischen Staatsanwälte“ erlässt die Verfahrensordnung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ und achtet auf die Kohärenz, Konsistenz und Effizienz zwischen den einzelnen Fällen. Den operativen Bereich besorgen vor allem permanente Kammern, die aus drei Mitgliedern – zwei „Europäische Staatsanwälte“ unter dem Vorsitz des „Europäischen Generalstaatsanwalts“ oder dessen Stellvertreter bzw eines sonstigen „Europäischen Staatsanwalts“ – bestehen.13 Die „Delegierten Europäischen Staatsanwälte“ führen, als Teil der „Europäischen Staatsanwaltschaft“, in der Regel die Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat durch – und zwar in Zusammenarbeit mit den einzelstaatlichen Strafverfolgungsbehörden und unter Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts. Ihre Tätigkeit wird dabei von der zentralen Ebene überwacht, geleitet und beaufsichtigt, an deren Spitze der „Europäische Staatsanwalt“ steht, der die Kohärenz und Effizienz der Maßnahmen in den teilnehmenden Mitgliedstaaten gewährleistet. Auf diese Weise wird eine in der gesamten Union konsistente Ermittlungsund Strafverfolgungspolitik hergestellt,14 die auch die in der EU-Grundrechte-Charta verbürgten Rechte – vor allem auf ein faires Verfahren 12 Art. 120 Abs. 2 UAbs. 3 VO (EU) 2017/1939 des Rates (Fn. 8). 13 IP/17/1550, vom 8. Juni 2017. 14 Hummer, Die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ (Fn. 9), S. 12.

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(Art. 47 Abs. 2) und auf Achtung der Verteidigungsrechte (Art. 48 Abs. 2) – berücksichtigt. Das Anforderungsprofil für den „Europäischen General­ staatsanwalt“

Zulassungskriterien Was die Zulassungskriterien für die Auswahlphase betrifft, so müssen die Bewerber vor Ablauf der Bewerbungsfrist am 14. Dezember 2018 laut Stellenausschreibung folgende Mindestkriterien erfüllen: (a) Staatsangehörigkeit: Sie müssen die Staatsangehörigkeit eines der 22 Mitgliedstaaten besitzen, die an der „Verstärkten Zusammenarbeit“ im Rahmen der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates teilnehmen; (b) Berufserfahrung: Sie müssen aktive Mitglieder der Staatsanwaltschaft oder Richterschaft in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat sein und die für die höchsten staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und auf nationaler, europäischer oder völkerrechtlicher Ebene einschlägige praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der nationalen Rechtsordnungen, der Finanzermittlungen und der internationalen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erworben haben; (c) Sprachkenntnisse: Die Bewerber müssen über gründliche Kenntnisse einer der 24 Amtssprachen der EU sowie ausreichende Kenntnisse in einer weiteren Amtssprache verfügen (Art. 12 Abs. 2 lit. e) der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union15). Dabei ist anzugeben, auf welchem Niveau gem. dem „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen“16 die jeweiligen Sprachen beherrscht werden. Die Bewerbung selbst kann in jeder der 24 Amtssprachen der Union eingereicht werden; (d) Alter: Gem. Art. 14 der Verordnung (EU) 2017/1939 wird der „Europäische Generalstaatsanwalt“ für eine nicht verlängerbare Amtszeit von sieben Jahren ernannt. Unter Berücksichtigung der Erfordernisse von Art. 47 lit. a) der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der EU sowie von Art.  52 des Beamtenstatuts17, sollte der „Europäische Generalstaatsanwalt“ in der Lage sein, sein Amt tatsächlich sieben Jahre lang auszuüben um dann spätestens mit 70 Jahren in den Ruhestand zu treten. Die Bewerber sollten daher zum Zeitpunkt der Ernennung – die voraussichtlich zum 1. März 2019 wirksam werden wird – nicht älter als 63 Jahre sein; 15 Vgl. Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1023/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Änderung des Statuts der Beamten der Europäischen Union und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Union (ABl. 2013, L 287, S. 15 ff.). 16 Erstellt auf der Basis einer Empfehlung des Europarates aus 2001. 17 Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates (ABl. 1968, L 56, S. 1 ff.).

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(e) Sonstige Voraussetzungen: Die Bewerber müssen die Absolvierung ihrer Wehrpflicht nachweisen und auch den Nachweis erbringen, dass sie den körperlichen und sittlichen Anforderungen des Amtes gewachsen sind. Zuletzt müssen sie sich noch im Besitz einer gültigen Sicherheitsbescheinigung (Geheimhaltungsgrad Secret EU/EU Secret) befinden, die von der jeweiligen nationalen Sicherheitsbehörde erteilt wird und damit den Zugang zu Verschlusssachen bis zu einem bestimmten Geheimhaltungsgrad eröffnet. Die personenbezogenen Daten, die von den einzelnen Personen im Rahmen ihrer Bewerbung übermittelt werden, werden gem. der DatenschutzVerordnung18 entsprechend bearbeitet und gesichert.

Eignungskriterien Was die Eignungskriterien für das Amt des „Europäischen Generalstaatsanwalts“ betrifft, so wird diesbezüglich nach einer Persönlichkeit gesucht, die idealiter folgende Kompetenzen mitbringt: (a) mindestens 15 Jahre Berufserfahrung als aktives Mitglied der Staatsanwaltschaft oder der Richterschaft; (b) mindestens fünf Jahre Erfahrung und nachweislicher Erfolg in leitender Funktion bei einer Staatsanwaltschaft oder einer Gerichtsbehörde; (c) mindestens fünf Jahre staatsanwaltschaftliche Erfahrung mit der Untersuchung und Verfolgung von Finanzstraftaten, wobei einschlägige Erfahrungen in der Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen In­ teressen der EU oder schweren grenzüberschreitenden Straftaten von Vorteil wären; (d) herausragende fachliche Qualifikation; (e) ausgezeichnete Kenntnis des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Union; (f) hohe ethische Standards und persönliche Integrität; (g) solide Führungs- und Managementqualitäten und kommunikatives Geschick auf strategischer und interner Führungsebene uam. Ganz allgemein ist der „Europäische Generalstaatsanwalt“ verpflichtet, im Interesse der Union insgesamt zu handeln und keine Weisungen von Personen außerhalb der „Europäischen Staatsanwaltschaft“, von Mitgliedstaaten der EU oder deren Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen entgegenzunehmen.19 Dazu hat sich der „Europäische Generalstaatsanwalt“ vor Amtsantritt in einer eigenen Erklärung zu verpflichten. 18 Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch die Organe und Einrichtungen der Union und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1 ff.) 19 Art. 6 VO (EU) 2017/1939 (Fn. 8).

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„Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht

Auswahl und Ernennung des „Europäischen Generalstaatsanwalts“ Der „Europäische Generalstaatsanwalt“ wird auf der Grundlage eines Auswahlverfahrens vom Europäischen Parlament und vom Rat im gegenseitigen Einvernehmen auf der Basis einer Auswahlliste (shortlist) ernannt, die von einem Auswahlausschuss erstellt wird.20 Der Auswahlausschuss besteht aus 12 Personen, die aus dem Kreis ehemaliger Mitglieder des Gerichtshofs und des Rechnungshofs, ehemaliger nationaler Mitglieder von Eurojust, der Mitglieder höchster nationaler Gerichte, hochrangiger Staatsanwälte und von Juristen von anerkannt herausragender Befähigung ausgewählt werden. Neben der Europäischen Kommission21 hat auch das Europäische Parlament dabei die Befugnis, (nur) eine der ausgewählten Personen vorzuschlagen. Die Mitglieder des Auswahlausschusses werden in der Folge vom Rat auf Vorschlag der Kommission ernannt, und zwar für eine Periode von vier Jahren, beginnend mit dem 9. Oktober 2018. 22 Der Rat bestimmt in diesem Zusammenhang ebenso die Regeln für die Tätigkeit des Auswahlausschusses.23 Der „Europäische Generalstaatsanwalt“ wird als „Bediensteter auf Zeit“ iSv Art. 2 lit. a) der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der EU für einen nicht verlängerbaren Zeitraum von sieben Jahren eingestellt und hat als Dienstort Luxemburg. Während der Aufbauphase der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ kann von ihm aber verlangt werden, seine Tätigkeit von Brüssel aus auszuüben. Schlussbetrachtungen Bedenkt man, dass allein durch grenzüberschreitenden Betrug den nationalen Haushalten der EU-Mitgliedstaaten Jahr für Jahr Mehrwertsteuereinnahmen in Höhe von mindestens 50 Mrd. Euro (sic) entgehen, und die Mitgliedstaaten zB im Jahr 2015 sonstige betrügerische Unregelmäßigkeiten in Höhe von 638 Mio. Euro ermittelt und der Kommission eingemeldet haben,24 dann wird die Notwendigkeit der Einrichtung einer starken, unabhängigen und effizienten Behörde, die auf eine EU-weite Bekämpfung von Finanzkriminalität spezialisiert ist, offensichtlich. 20 Art. 14 Abs. 3 VO (EU) 2017/1939 (Fn. 8). 21 Die Kommission schlug dem Rat am 1. August 2018 Kandidaten für den Auswahlausschuss vor und berücksichtigte dabei eine ausgewogene geografische Verteilung, ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen und Männern sowie eine angemessene Vertretung der Rechtssysteme der 22 Mitgliedstaaten (Europäische Kommission/Pressemitteilung IP/18/4770 vom 1. August 2018). 22 Beschluss (EU) 2018/1275 des Rates vom 18. September 2018 (ABl. 2018, L 238, S. 92 ff.). 23 Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1696 des Rates vom 13. Juli 2018 (ABl. 2018, L 282, S. 8 ff.). 24 Europäische Kommission/Pressemitteilung IP/17/1550, vom 8. Juni 2017.

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Die „Europäische Staatsanwaltschaft“ soll in diesem Zusammenhang die Anstrengungen zum Schutz von Steuergeldern verstärken, indem sie einen „europäischen Ansatz“ zur strafrechtlichen Ermittlung und Verfolgung von Straftaten zulasten des Unionshaushalts gewährleistet. Sie ist damit eine wesentliche Ergänzung der derzeit auf Unionsebene verfügbaren Mittel, dh der Arbeit des OLAF im Bereich der verwaltungsrechtlichen Untersuchungen. Ebenso ergänzt die „Europäische Staatsanwaltschaft“ die Arbeit von Eurojust – der 2018 neu gegründeten EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen25 – sodass sich diese verstärkt der Bekämpfung von Terrorismus, Menschenhandel und anderen Straftaten widmen kann. In diesem Zusammenhang ist allerdings anzumerken, dass gem. Art. 86 Abs.  4 AEUV der Europäische Rat eine Ausdehnung der Befugnisse der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension ebenso vorsehen kann. Diesbezüglich schlug Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker anlässlich seiner Rede zur Lage der Union am 12. September 2018 vor, „die Aufgaben der neu geschaffenen „Europäischen Staatsanwaltschaft“ auf die Bekämpfung terroristischer Taten auszuweiten“. Mit Blick auf das Gipfeltreffen von Sibiu im Mai 2019 ersucht daher die Kommission den Europäischen Rat, diese Initiative gemeinsam mit dem Europäischen Parlament voranzubringen und die Ausdehnung der Befugnisse der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ auf terroristische Straftaten, die mehr als einen Mitgliedstaat betreffen, zu beschließen.26 Für diejenigen sechs EU-Mitgliedstaaten, die nicht an der Verstärkten Zusammenarbeit der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ teilnehmen, bleibt Eurojust weiterhin in vollem Umfang für die in Anhang I der Verordnung (EU) 2018/172727 aufgeführten Formen der schweren Kriminalität zuständig. Eurojust bleibt auch für Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zuständig, wenn die „Europäische Staatsanwaltschaft“, obwohl sie zuständig wäre, ihre Kompetenz nicht ausübt. Mit der Ausschreibung des Postens des „Europäischen Generalstaatsanwalt“ ist nunmehr der erste Schritt für die definitive Errichtung der institutionellen Struktur der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ getan, sodass die frühestens für Ende 2020 geplante Funktionsaufnahme dieser Einrichtung an sich als realistisch anzusehen ist. Allerdings ist das vorstehend dargestellte Anforderungsprofil für die Bekleidung der Position eines „Europäischen Generalstaatsanwalts“ äußerst komplex und muss erst einmal von einem Kandidaten umfassend erfüllt werden. Wie aber die Probleme bei der Nach25 Siehe Fn. 2. 26 Lage der Union 2018: Stärkung des Mandats der Europäischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung grenzüberschreitender terroristischer Straftaten (Europäische Kommission/Pressemitteilung IP/18/5682 vom 12. September 2018). 27 Siehe Fn. 2.

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besetzung der österreichischen Richterin Maria Berger im EuGH in der letzten Zeit in ähnlicher Form gezeigt haben, ist die kumulative Erfüllung aller geforderten fachlichen und persönlichen Voraussetzungen durch an sich qualifiziert erscheinende Kandidaten – die ja ansonsten nicht vorgeschlagen worden wären – nicht immer gewährleistet. Quelle: EU-Infothek vom 26. November 2018, S. 1 – 6 (Artikel Nr. 14) PS: Am 14. Oktober 2019 ernannte der Rat Laura Codruta Kövesi als erste Europäische Generalstaatsanwältin für eine Amtszeit von sieben Jahren, die in der Folge auch vom Europäischen Parlament bestätigt wurde. Am 27. Juli 2020 wiederum ernannte der Rat 22 Europäische Staatsanwälte für eine Amtszeit von sechs Jahren. Aus Österreich gehört die frühere Oberstaatsanwältin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), Ingrid Maschl-Clausen, dazu. Die „Europäische Staatsanwaltschaft“, mit Sitz in Luxemburg, nahm am 1. Juni 2021 ihre Tätigkeit auf. Vgl. dazu auch Artikel Nr. 34, nachstehend auf S. 424 ff.

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Widerrufbarkeit der „Brexit“-Erklärung des Vereinigten Königreichs?

15. Widerrufbarkeit der „Brexit“-Erklärung des Vereinigten Königreichs? Der „Exit vom Brexit“ als komplexes Problem Obwohl im Zuge der Aushandlung des Austrittsabkommens des Vereinigten Königreichs (UK) mit der Europäischen Union (EU) gem. Art. 50 Abs. 2 EUV mehrfach auch die Möglichkeit eines Widerrufs der „Brexit“-Erklärung des UK angedacht wurde, ist es bisher noch nicht zu einer vertieften Diskussion darüber gekommen. In dem, legistisch alles andere als geglückten, Art. 50 EUV,1 ist darüber keine wie immer geartete Regelung enthalten. Nunmehr liegt aber ein entsprechendes Vorabentscheidungsersuchen eines schottischen Gerichts vor, über das der EuGH in Kürze in einem beschleunigten Verfahren zu entscheiden hat. Auf die dabei anstehenden Rechtsfragen soll nachstehend in aller Kürze eingegangen werden. Einführung In Bezug auf den Brexit und dessen möglichen Widerruf („Exit vom Brexit“) wird in der Literatur einerseits von einer „der größten rechtlich organisierten Zäsuren in der Europäischen Rechtsgeschichte“ und andererseits der „Vorlagefrage des Jahrzehnts“,2 die als „historisch einzustufen“ ist,3 gesprochen, was durchaus nicht als Übertreibung anzusehen ist. Die dabei auftauchenden rechtsdogmatischen Probleme sind singulär und von einer solchen Komplexität, dass sich dazu noch keine einheitliche Meinung unter den (wenigen) einschlägigen Autoren herausgebildet hat. Dazu kommt noch die enge zeitliche Verzahnung dieser Rechtsfragen mit den politischen Vorgaben im UK, die sich wechselseitig bedingen und auch gegenseitig anregen. Das besondere Merkmal ist dabei aber der Umstand, dass der Gerichtshof (EuGH) zu dieser Fragestellung mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst wurde, über das er nun in aller Kürze zu entscheiden hat, ohne sich dabei auf eine mehr oder weniger gesicherte Rechtsmeinung beziehen zu können. Allerdings werden ihm in wenigen Tagen die Schlussanträge des Generalanwalts vorliegen, an denen er sich orientieren kann.

1 Siehe Dok. 3, nachstehend auf S. 551; vgl. dazu Hummer, W. Unschlüssige Austrittsszenarien aus der EU und deren Konsequenzen, in: Stieber, K.-S. (Hrsg.), Brexit und Grexit. Voraussetzungen eines Austritts, Hanns Seidel-Stiftung/Akademie für Politik und Zeitgeschichte – Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 102 (2015), S. 15 ff. 2 Schmidt-Kessel, M. Lässt sich der Brexit rechtlich noch stoppen?, lto.de vom 12. Oktober 2018, S. 1. 3 Centrum für Europäische Politik: Exit vom Brexit?, cep.eu, vom 28. November 2018.

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Es ist daher zunächst der enge zeitliche Zusammenhang zwischen den Vorgängen im UK und dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH aufzuzeigen, um dann auf die denkmöglichen Alternativen in der Lösung der Rechtsfrage „Exit vom Brexit“ sowie deren jeweilige Begründung einzugehen. Das Vorabscheidungsverfahren in der Rs. C-621/18 Am 21. September 2018 fasste das oberste schottische Zivilgericht, der Court of Session, Inner House, First Division – als Rechtsmittelinstanz – den Beschluss, dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen gem. Art. 267 AEUV mit der Frage vorzulegen, ob es neben der parlamentarischen Zustimmung zu einem etwaigen Austrittsvertrag oder einem „harten Brexit“ (ohne Austrittsvertrag) auch noch eine dritte Alternative gibt, nämlich die Rücknahme der Brexit-Erklärung.4 Formal war der Antrag gegen den Secretary of State for Exiting the European Union gerichtet. Das Ersuchen ging am 3. Oktober 2018 beim EuGH ein und wurde dort unter der Rechtssachen-Nummer C-621/18 registriert.5 Seinen Ausgang nahm dieses Verfahren in einer Anrufung des Court of Session durch sieben schottische Abgeordneten des Europäischen Parlaments, des britischen Parlaments und des schottischen Parlaments6, die auf eine Feststellungsentscheidung hinauslief, ob der Widerruf der Austrittserklärung des UK einseitig möglich sei, oder nicht, und mit welchen Rechtsfolgen die Austrittserklärung des UK aus der EU gem. Art. 50 Abs. 1 EUV vom 29. März 2017 zurückgenommen werden könnte. Mit dieser Entscheidung würde ihnen nämlich die Möglichkeit eröffnet werden, den etwaigen Austrittsvertrag nicht nur deswegen abzulehnen, da er eine schlechtere Option als ein Austritt ohne Vertrag wäre, sondern womöglich auch deswegen, da er eine schlechtere Option als ein Verbleib des UK in der EU wäre. Der erstinstanzliche Richter des Court of Session, Outer House, wies den Antrag am 8. Juni 2018 aus folgenden drei Gründen ab: Zum einen qualifizierte er das Feststellungsbegehren als rein hypothetisch, sodass dieses nach schottischem Recht unzulässig sei; zum anderen würde dieses auch gegen den Grundsatz der Parlamentssouveränität verstoßen, da Äußerungen der Regierung im Parlament für unrichtig erklärt würden; zuletzt hielt der Richter das Begehren aber auch aus europarechtlicher Sicht7 für hypo-

4 Rs. Andy Wightman MSP and others versus Secretary of State for Exiting the European Union (2018) CSIH 62, additional parties: Tom Brake und Chris Leslie. 5 ECLI:EU:C:2018:851. 6 Eingebracht von den sieben Abgeordneten Andy Wightman, Ross Greer, Alyn Smith, David Martin, Catherine Stihler, Jolyon Maugham und Joanna Cherry. 7 Siehe dazu das OMT-Urteil des EuGH vom 16. Juni 2015 in der Rs. C-62/14, Gauweiler ua./Deutscher Bundestag (ECLI:EU:C:2015:400).

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thetisch, sodass ein diesbezügliches Vorabentscheidungsersuchen gem. Art. 267 AEUV unzulässig wäre. Der Dreier-Senat des Court of Session, Inner House, verwarf diese Argumentation und stellte fest, dass das Verfahren nach Auslösung der Wirkungen des Art. 50 EUV nicht mehr als rein hypothetisch zu betrachten sei, sodass sehr wohl zulässigerweise ein Vorabentscheidungsbegehren gem. Art.  267 AEUV gestellt werden könnte. Zudem sei die Überprüfung der Richtigkeit von Aussagen von Regierungsvertretern im Parlament kein Eingriff in dessen verfassungsmäßig verbürgte Rechte.8 Aufgrund der Dringlichkeit der gegenständlichen Frage ordnete der Präsident des Gerichtshofs, Koen Lenaerts, am 19. Oktober 2018, nach Anhörung des Berichterstatters C. G. Fernlund, und des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona, für das gegenständliche Vorabentscheidungsersuchen ein „Beschleunigtes Verfahren“ gem. Art. 105 der Verfahrensordnung des EuGH an,9 im Zuge dessen er umgehend auch den Termin für die mündliche Verhandlung im Plenum mit 27. November 2018 festsetzte.10 Die Präsentation der Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona ist für den 4. Dezember 2018 vorgesehen. Gegenseitige Bedingtheiten zwischen dem zu erwartenden EuGHUrteil und den innenpolitischen Gegebenheiten im UK Gem. Section 13 des Austrittsvertrages vom 14. November 2018, der am 25. November 2018 von allen Mitgliedstaaten der EU übereinstimmend angenommen wurde,11 kann sowohl dieser, als auch das Protokoll über Irland/ Nordirland sowie die Politische Erklärung über den Rahmen der künftigen Beziehungen zwischen dem UK und der EU,12 aber erst dann ratifiziert werden, wenn auch das Parlament des UK diesen Übereinkommen zugestimmt hat. Bedenkt man, dass für diese Abstimmung im britischen Unterhaus bereits der 11. Dezember 2018 vorgesehen ist, erkennt man, wie klein dadurch das „Zeitfenster“ für die Sachentscheidung durch den EuGH geworden ist. Sollte, wie allgemein erwartet, die Abstimmung im britischen Parlament negativ ausgehen, dann wäre der Entwurf des gegenständlichen 8 Schmidt-Kessel, Lässt sich der Brexit rechtlich noch stoppen? (Fn. 2), S. 3. 9 VerfO des Gerichtshofs vom 25. September 2012 (ABl. 2012, L 265, S. 1), idF der Änderungen vom 18. Juni 2013 (ABl. 2013, L 173, S. 65) und 19. Juli 2016 (ABl. 2016, L 217, S. 69). 10 Rettman, A. EU judges urged not to let Britain halt Brexit, euobserver vom 28. November 2018. 11 Agreement on the withdrawal of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland from the European Union and the European Atomic Energy Community, as endorsed by leaders at a special meeting of the European Council on 25 November 2018; vgl. dazu Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU, vorstehend auf S. 14 f. 12 Vgl. Rats-Dok. XT 21095/18, vom 22. November 2018.

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Austrittsvertrages sowie der Rahmenbedingungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen dem UK und der EU gem. Art. 50 Abs. 2 EUV bereits gefallen, und realistischer Weise auch nicht mehr „verbesserbar“. Damit wäre aber ein „hard Brexit“ unvermeidbar und die Verträge der Union würden gem. Art. 50 Abs. 3 EUV zum bereits feststehenden Austrittszeitpunkt, nämlich dem 29. März 2019, auf das UK keine Anwendung mehr finden. Für diesen Fall würde sich gegebenenfalls die Alternative einer einseitigen Zurücknahme der Austrittserklärung des UK – mit oder ohne Zustimmung des Europäischen Rates bzw. mit oder ohne neuerlichem Referendum – anbieten. Sollte es am 11. Dezember 2018 im britischen Unterhaus aber überraschenderweise doch zu einer Zustimmung zum Abschluss des Austrittsvertrages sowie der Rahmenbedingungen für die zukünftigen Beziehungen zwischen dem UK und der EU kommen, dann würde eine spätere einseitige Zurücknahme der Austrittserklärung des UK an sich keinen Sinn mehr machen, wäre aber denkmöglich nicht ausgeschlossen. Diese Überlegungen würden es nahelegen, dass der Gerichtshof für seine Entscheidung zunächst den Ausgang der Abstimmung im britischen Unterhaus abwartet und diese nicht durch eine „vorschnelle“ Entscheidung präjudiziert. Sowohl eine Bejahung, als auch eine Verneinung der Zulässigkeit einer einseitigen Revokation des Austrittsbegehrens des UK würde direkte Konsequenzen für die Einstellung der Abgeordneten und damit auch für den Ausgang der Abstimmung haben. Würde nämlich der EuGH die Unzulässigkeit eines „Exit vom Brexit“ feststellen, dann müssten die Abgeordneten im Falle einer Verwerfung des Austrittsabkommens mit einem unwiderruflichen „hard Brexit“ und dessen nachteiligen wirtschaftlichen Konsequenzen rechnen, anderenfalls bliebe aber die Hoffnung bestehen, diesen unter Umständen – mit oder ohne neuerliches Referendum – noch abwenden zu können. Dementsprechend wird in der Literatur auch die Hoffnung gehegt: „In die grausame Situation, einem überraschenderweise dann doch angesetzten zweiten Referendum die Hoffnung zu nehmen, dürfte sich der Gerichtshof nach Möglichkeit nicht bringen lassen“.13 Auch aus pragmatischen Gründen ist wohl mit keinem „verfrühten“ Urteil des EuGH zu rechnen, verkündet der Generalanwalt seine Schlussanträge doch am 4. Dezember 2018, sodass dem Gerichtshof bis zur Abstimmung im britischen Parlament am 11. Dezember lediglich einige wenige Tage bleiben, um deren rechtsdogmatische Begründungen entsprechend zur Kenntnis zu nehmen bzw. auch darauf einzugehen. Wie weitgehend in diesem Zusammenhang die Vermutungen hinsichtlich des zu erwartenden Urteils des EuGH gehen, zeigt folgende Argumentation eines Autors, der annimmt, dass der EuGH unter Umständen einen Mittelweg suchen könnte, um den Briten nicht die volle Verfahrenshoheit zu ge13 Schmidt-Kessel, Lässt sich der Brexit rechtlich noch stoppen? (Fn. 2), S. 4.

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ben. Er könnte zB einen Rückzug vom Brexit davon abhängig machen, dass die ursprüngliche Austrittserklärung nach Art. 50 EUV mit einem Willensmangel behaftet war.14 Aus pragmatischer Sicht werden vor allem aber folgende drei UrteilsVarianten des EuGH erwartet: (1) Der EuGH könnte entscheiden, dass eine Rücknahme des Austrittswunsches nicht zulässig ist; (2) Eine einseitige Rücknahme durch Großbritannien wäre möglich und (3) Eine Rücknahme wäre nur mit Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten zulässig. Für die letzte Variante spräche der Umstand, dass selbst die Zwei-Jahres-Frist für die Austrittsverhandlungen nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten verlängert werden kann.15 Mögliche Interpretationsalternativen des „Exit vom Brexit“ Die gegenständliche Fragestellung eines möglichen „Exit vom Brexit“ ist singulär, da zur Anwendung von Art.  50 EUV weder konkrete Anwendungsfälle,16 noch eine einschlägige Rechtsprechung existiert, auf die eine abschließende Aussage gestützt werden könnte. Dazu kommt noch der Umstand, dass wegen der durch den Europäischen Rat gem. Art. 50 Abs. 2 Satz 2 EUV dafür festzulegenden Leitlinien von einem weiten politischen Handlungsspielraum im Rahmen des Austrittsverfahrens gem. Art. 50 EUV ausgegangen werden muss. Aus diesem Grunde kann im vorliegenden Kurzbeitrag auch keine abschließende Bewertung der komplexen Rechtsfrage eines „Exit vom Brexit“ auf der Basis von Art. 50 EUV gegeben, sondern nur versucht werden, eine Zusammenfassung der für und gegen die Möglichkeit einer Rücknahme der Austrittsmitteilung sprechenden Überlegungen im Rahmen einer Interpretation der dafür vorgesehenen Voraussetzungen des Art. 50 EUV zu geben. Die einschlägige Literatur dazu ist spärlich und darüber hinaus auch noch kontrovers.17 14 Aussage des Professors für Europarecht an der Universität Bielefeld, Franz Mayer, im Interview mit Wolfgang Janisch, unter dem Titel „Können die Briten den Brexit einfach absagen?“, Süddeutsche.de, vom 27. November 2018. 15 Kornmeier, C. Ist der Exit vom Brexit möglich?, tagesschau.de, vom 27. November 2018. 16 Der sog. „Austritt“ Grönlands im Jahr 1985 stellte keinen Austritt Grönlands, sondern lediglich eine nunmehrige Anwendung der Bestimmungen über die „Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ (ÜLG) auf Grönland dar (Art. 204 AEUV); vgl. Hummer, W. Kommentierung von Art.  204 AEUV, Rdnr. 2–5, in: Vedder, C. – Heintschel v. Heinegg, W. (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Handkommentar 2. Aufl. (2018), S. 917 f. 17 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang lediglich die Ausarbeitung der „Unterabteilung Europa – Fachbereich Europa“ des Deutschen Bundestages mit dem Titel „Zurücknahme eines Antrags gemäß Art. 50 EUV“ vom 28. Juni 2016 (PE 6 – 3000– 112/16); „Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union – Recht-

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Widerruf der Austrittsmitteilung mit bzw. ohne Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten? Was den Widerruf der Austrittsmitteilung mit bzw. ohne Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten betrifft, so besteht weithin Übereinstimmung, dass das Austrittsverfahren ausgesetzt werden könnte, wenn alle anderen Mitgliedstaaten der EU dieser Vorgangsweise zustimmen würden. Der Europäische Rat könnte daher im Konsens beschließen, den Widerruf der Mitteilung gem. Art. 50 EUV anzunehmen, wenngleich die Zustimmung anderer EU-Organe gegebenenfalls ebenfalls erforderlich sein könnte.18 Andere Kommentatoren gehen wiederum von zwei weiteren Szenarien aus: entweder wird durch die künftige Beziehung zwischen der EU und dem austretenden Mitgliedstaat nach Abschluss der Verhandlungen lediglich die Anwendung der Verträge auf diesen Staat erneut bestätigt, oder die Parteien könnten sich darauf einigen, die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit auszudehnen und möglicherweise ein Protokoll in die Verträge aufzunehmen, in dem der Widerruf der Austrittsmitteilung gem. Art.  50 EUV bestätigt wird.19 Auch das Europäische Parlament geht in seiner Resolution vom 5. April 2017 von der Zulässigkeit eines Widerrufs der Austrittsmitteilung der Briten aus, der aber nur unter Bedingungen, die von allen Mitgliedstaaten der EU27 festgelegt werden, möglich sein dürfte.20 Im Gegensatz zu diesen Möglichkeiten der einvernehmlichen Aussetzung des Austrittsverfahrens erscheint ein einseitiger Widerruf einer Austrittsmitteilung gem. Art. 50 EUV wesentlich problematischer und wird in der einschlägigen Literatur dementsprechend auch kontrovers diskutiert. Nachstehend sollen die wesentlichsten Pro- und Contra-Argumente für einen einseitigen „Exit vom Brexit“ kurz dargestellt werden. Argumente für die Zulässigkeit eines „Exit vom Brexit“ Art.  50 EUV geht, in bewusster Abweichung von den Kündigungs- bzw. Beendigungsgründen völkerrechtlicher Verträge gemäß der Wiener Vertragsrechtskonvention (1969), von einem speziellen einseitigen Austrittsrecht eines Mitgliedstaates aus der EU aus, das in dessen freiem Ermessen steht und an keine materiellen Voraussetzungen gebunden ist. Demgemäß liche und verfahrensbezogene Aspekte – Eingehende Analyse“, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, Autoren: Jesús Carmona, Carmen-Cristina Cîrlig und Gianluca Sgueo (PE 599.352 vom März 2017); diese Studie geht auf die gegenständliche Frage lediglich auf zwei Seiten (S. 11 f.) in sehr kursorischer Art ein. 18 Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (Fn. 17), S. 11. 19 Eeckhout, P. – Frantziou, E. Brexit and Article 50 TEU: A constitutionalist reading, UCL European Institute, Working Paper, Dezember 2016. 20 Vgl. Becker, M. Juristen halten Exit vom Brexit für möglich, SPIEGEL ONLINE, vom 5. April 2017.

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könnte man von einer Revokationsmöglichkeit der Austrittsmitteilung als zulässigem contrarius actus ausgehen, vor allem auch deswegen, da durch die gegenständliche Mitteilung ja kein qualifizierter Vertrauenstatbestand auf Seiten der EU entstanden ist, den es zu beachten gelte. So regelt auch das Austrittsabkommen gem. Art. 50 Abs. 2 EUV lediglich die konkreten Modalitäten des Austritts, nicht aber diesen selbst, der in der alleinigen Verfügungsgewalt des austrittswilligen Mitgliedstaates verbleibt. Drastisch drückt dies ein Autor folgendermaßen aus: „Unglaublich aber wahr ist, dass die Briten (...) jederzeit einseitig ihre Austrittsabsicht widerrufen können“.21 Die Wirkung der Mitteilung der Austrittsabsicht eines Mitgliedstaates gem. Art. 50 Abs. 1 EUV ist aufschiebend bedingt, hängt sie doch zum einen vom Abschluss eines Austrittsabkommens innerhalb einer Frist von zwei Jahren (Abs. 2), oder vom ergebnislosen Verstreichen dieser Fallfrist (Abs. 3) ab. Damit wird dem Europäischen Rat vom austrittswilligen Mitgliedstaat aber nicht der Austritt selbst, sondern lediglich die „Absicht“ seines Austritts mitgeteilt. Diese Formulierung könnte den Schluss zulassen, dass davon aber wieder Abstand genommen werden kann. Es wird aber auch der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) bemüht, um festzustellen, dass es mit diesem unvereinbar sei, dass ein zunächst austrittswilliger Staat, der von dieser Absicht später Abstand nimmt, nach einer bereits erfolgten Austrittsmitteilung zunächst das Austrittsverfahren des Art. 50 EUV und anschließend das Aufnahmeverfahren gem. Art.  49 EUV durchlaufen müsste, um EU-Mitglied zu bleiben bzw. zu sein.22 Einem Mitgliedstaat, der seine Austrittsentscheidung bereue, könne schließlich nicht zugemutet werden, zunächst das Austrittsverfahren und anschließend wieder ein komplettes Aufnahmeverfahren durchstehen zu müssen.23 Mit anderen Worten geht es dabei um die Frage, ob die Rücknahme des Austrittsantrags einen Neubeitritt zur EU erforderlich machen würde, oder ob die Mitgliedschaft unter den bisherigen Konditionen wieder auflebt bzw. beibehalten bleibt. In diesem Zusammenhang wird aber auch auf die Bestimmung des Art.  68 WVK (1969) rekurriert, gemäß derer iSe „favor contractus“ eine Notifikation der Austrittsabsicht aus einem Vertrag jederzeit widerrufen werden darf, bevor sie rechtskräftig wird. Auch wenn Art. 50 EUV als „lex specialis“ dieser Bestimmung vorgeht,24 so dient die WVK (1969) doch als Interpretationshilfe, da Art. 50 EUV zu den Bedingungen und Rechtsfolgen eines Widerspruchs schweigt. Ansonsten käme man zu dem Ergebnis, dass 21 Straubhaar, T. Die heikle Hintertür im Brexit-Szenario, WELT.de vom 24. Jänner 2017. 22 Gutachten Deutscher Bundestag (Fn. 17), S. 12. 23 Ostendorf, P. Kein Exit vom Brexit, lto.de, vom 10. April 2017, S. 2. 24 Brexit Unknowns, House of Commons Library, Briefing Paper, Number 7761, 9 November 2016, S. 6.

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eine neu gewählte, pro EU-Regierung eines Mitgliedstaates keinerlei Möglichkeit hätte, den Austrittsprozess rückgängig zu machen, selbst wenn sie sich auf einen Parlaments- oder Referendumsentschluss stützen könnte. „Der Mitgliedstaat würde somit aus der EU hinausgezwungen“.25 Sollten also die Bürger eines Noch-Mitgliedstaates ihre Meinung vor Inkrafttreten des Austritts ändern, sollte ihnen schon aus Zweckmäßigkeitsgründen eine solche Widerrufsmöglichkeit gewährt werden. Bei dieser Interpretation ergibt sich auch, dass für den einseitigen Widerruf kein zweites britisches Referendum erforderlich wäre, wiewohl es politisch opportun erscheinen könnte. Ganz ähnlich argumentieren einige andere Autoren, die die Meinung vertreten, dass der einseitige Widerruf einer Austrittsmitteilung dann rechtlich möglich ist, wenn dies im Einklang mit den nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften des austretenden Mitgliedstaates erfolgt. Wenn der austretende Staat in diesem Szenario beschließt, das Austrittsverfahren zu stoppen, wären die anderen Mitgliedstaaten rechtlich nicht in der Lage, diesen Staat zum Verlassen der EU zu zwingen.26 Ein Staat teilt seine Austritts­ absicht mit und eine Absicht kann auch wieder geändert werden. Jede andere Situation käme einem Ausschluss aus der EU gleich, was nicht das Ziel der Verfasser des Art. 50 EUV gewesen sein dürfte.27 Argumente für die Unzulässigkeit eines „Exit vom Brexit“ Art. 50 EUV sieht keine Ausnahme für den Fall vor, dass ein austrittswilliger Mitgliedstaat seine Meinung ändert und weiter in der EU verbleiben will. Aus systematischen Überlegungen heraus, könnte aus der Formulierung „es sei denn“ in Art. 50 Abs. 3 EUV aber abgeleitet werden, dass eine einvernehmliche und einstimmige Fristverlängerung durch den Europäischen Rat eine abschließende Ausnahmevorschrift darstellt,28 sodass kein Platz für einen einseitigen Widerruf der Austrittsabsicht übrig wäre. Im Gegensatz zur vorstehend angeführten Ansicht, dass die Wirkung der Mitteilung der Austrittsabsicht eines Mitgliedstaates gem. Art. 50 Abs. 1 EUV nur „aufschiebend bedingt“ ist, wird in der Literatur aber auch angenommen, dass die Rechtsnatur der Austrittserklärung durchaus unmittelbar 25 Wixforth, S. – Weeks, J. Exit vom Brexit: der Weg über die Wiener Vertragsrechtskonvention, Arbeit & Wirtschaft, vom 5. Februar 2018, S. 3; Weeks, J. Brexit And The Status Quo Ex-Ante, Social Europe, vom 11. September 2017. 26 Vgl. Garner, O. After Brexit: Protecting European Citizens and Citizenship from Fragmentation, EUI Department of Law Working Paper No. 2016/22. 27 „Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Rechtliche und verfahrensbezogene Aspekte – Eingehende Analyse“, Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments (Fn. 17), S. 12 (unter Berufung auf Jean-Claude Piris und John Kerr). 28 Gutachten Deutscher Bundestag (Fn. 17), S. 9.

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rechtsgestaltend ist. Zum einen geht der Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV nach dem klaren Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 EUV ein Beschluss des Mitgliedstaates zum Austritt im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben voraus und zum anderen ist auch die Rechtsfolge der Erklärung eindeutig: Allein ihr Zugang führt nach dem Ablauf einer zweijährigen Frist automatisch zur ungeregelten Beendigung der Mitgliedschaft des betroffenen Mitgliedstaates in der EU. Abgewendet werden kann dieses Ergebnis nach Art. 50 Abs. 3 EUV nur durch ein aktives und einvernehmliches Handeln aller Mitgliedstaaten – entweder durch den Abschluss eines Austrittsabkommens oder aber durch die einvernehmliche Verlängerung der vorgesehenen Zwei-Jahres-Frist.29 Ohne vorab die Zulässigkeit von zivilrechtlichen und völkerrechtlichen Analogien im Verbandsrecht der EU überprüft zu haben, kommt dieser Autor in weiterer Folge zu dem Schluss, dass die in Art.  50 Abs.  2 EUV geregelte Austrittsmitteilung „Gestaltungsrechten“ entspricht, wie sie aus dem privaten Vertragsrecht bekannt sind (sic). Die Gestaltungswirkung tritt schon unmittelbar mit dem Zugang der Willenserklärung ein, da die Vertragsbeendigung kein weiteres Zutun der Vertragsparteien mehr verlangt und nur noch vom Zeitablauf abhängig ist. „Der Kündigende kann die bereits eingetretene Änderung des Rechtsverhältnisses daher nach Zugang der Kündigungserklärung auch nicht mehr einseitig ungeschehen machen“.30 Konsequenter Weise kommt dieser Autor, neben dieser zivilrechtlichen rechtsdogmatischen „Anleihe“, auch durch einen völkerrechtlichen Analogieschluss zum selben Ergebnis. Im Gegensatz zur vorerwähnten Argumentation, dass Art.  68 WVK ausdrücklich die Rücknahme einer Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages bis zu dem Zeitpunkt erlaubt, zu dem sie wirksam wird, ist folgendes festzuhalten: Führt die Kündigung aber automatisch, wenngleich erst zu einem späteren Zeitpunkt, eine Vertragsbeendigung herbei, ist sie zutreffender Weise schon mit ihrem Zugang nach Art. 78 WVK und nicht erst dann wirksam, wenn die Kündigungsfrist verstrichen ist. Zuletzt wird aber auch entstehungsgeschichtlich argumentiert und deswegen für die Unzulässigkeit eines Widerrufs der Austrittsmitteilung plaidiert, da im Zuge des Verfassungskonvents31 ja ein Vorschlag zur Diskussion stand, der ein ausdrückliches Widerrufsrecht vorsah – „Der Widerruf der Austrittsabsicht kann jederzeit durch Erklärung gegenüber dem Präsidenten des Europäischen Rates erfolgen“32 – letztlich aber verworfen wurde. 29 Ostendorf, P. Kein Exit vom Brexit (Fn. 23), S. 3. 30 Ostendorf, Kein Exit vom Brexit (Fn. 23), S. 4. 31 Europäischer Konvent, Entwurf der Verfassung, Bd. I, 28. Mai 2003; CONV 724/1/03 REV 1 Annex 2, S. 133 ff. 32 Sylvia-Yvonne Kaufmann, Suggestion for amendment of Article 46; http://european-convention.europa.eu/docs/Treaty/pdf/46/Art46KaufmannDE.pdf

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Der Umstand, dass in der endgültigen Fassung von Art. 50 EUV trotz entsprechender Änderungsvorschläge keine Rücknahmemöglichkeit aufgenommen worden ist, legt die Annahme nahe, dass eine solche Rücknahme unbeachtlich bzw. ausgeschlossen sein soll.33 Mit ein Grund für die explizite Nichtaufnahme einer Widerrufsmöglichkeit in Art. 50 EUV dürfte vor allem aber die dadurch befürchtete Möglichkeit einer zeitlichen und inhaltlichen Manipulation der Austrittskonditionen durch den Austrittsbefürworter gewesen sein. Könnte nämlich der austrittswillige Staat seine Mitteilung ad libitum zurücknehmen, um die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Zweijahresfrist durch eine zweite Mitteilung erneut in Gang zu setzen, so könnten hierdurch sowohl die Fristsetzung als auch das Einstimmigkeitserfordernis im Europäischen Rat für eine Fristverlängerung umgangen werden. Ein einseitiger Rückzug und späterer Neuantrag des Austritts wäre treuwidrig, die Briten dürften den Widerruf nicht als Verfahrenstrick missbrauchen, um zwei Jahre später erneut einen Brexit zu versuchen.34 Schlussbetrachtungen Wie die vorstehend angeführten kontroversiellen Ansichten belegen, herrscht hinsichtlich der Zulässigkeit eines „Exit vom Brexit“ in der Literatur alles andere als Einhelligkeit vor. Wenngleich in Kürze vom EuGH dazu auch eine definitive Rechtsmeinung zu erwarten ist,35 erscheint es für ein umfassendes Verständnis dieser sowohl juristisch als auch politisch äußerst komplexen Fragestellung angezeigt, auch auf die Vorfragen dafür entsprechend einzugehen, wie dies vorstehend versucht wurde. Leider sind die wenigen dazu geäußerten Rechtsmeinungen nicht konsistent und ergeben daher keine einheitliche Linie. Das Fazit der Unterabteilung Europa/Fachbereich Europa des Deutschen Bundestages ist vage und fällt folgendermaßen aus: Die bisher vorgebrachten Argumente sprächen eher für die Möglichkeit einer Rücknahme des Austrittsgesuchs. Schließlich habe das UK lediglich seine Absicht bekundet, aus der Union auszutreten und nicht den Austritt selbst dekretiert. Der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments wiederum betont in seiner knappen Analyse, dass es einen Weg zurück geben müsse, da alles andere faktisch einem Zwang zum Austritt gleichkomme, was keinesfalls von Art. 50 EUV intendiert sei. 33 Gutachten Deutscher Bundestag (Fn. 17), S. 10. 34 Aussage von Daniel Thym im Interview mit Albrecht Meier, unter dem Titel „Je früher das Austrittsverfahren gestoppt würde, umso besser“, tagesspiegel.de vom 4. Jänner 2018. 35 Vgl. dazu Fn. 42.

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Im Gegensatz dazu stellt der High Court of Justice in seinem Urteil vom 3. November 2016 unmissverständlich fest: „Important matters in respect of Article 50 were common ground between the parties: (1) a notice under Article 50(2) cannot be withdrawn, once it is given“.36 Lässt man alle geäußerten Meinungen Revue passieren, dann ist mehrheitlich wohl davon auszugehen, dass Art. 50 EUV einen „Exit vom Brexit“ unter bestimmten Voraussetzungen zulasse. Wie sehr auch die europäische Öffentlichkeit an dieser Frage der Zulässigkeit eines „Exit vom Brexit“ und dem damit unter Umständen verbundenen Verbleib des UK in der EU interessiert ist, belegt die große Anzahl von „Europäischen Bürgerinitiativen“, die sich mit diesem Thema beschäftigen, von der Europäischen Kommission aber durchaus unterschiedlich behandelt wurden. Nachdem die Kommission in den letzten zwei Jahren vier einschlägige Bürgerinitiativen registriert37, zwei weitere aber verworfen hatte,38 verweigerte sie am 28. November 2018 die Eintragung der Bürgerinitiative mit dem Titel „EU-weites Referendum um festzustellen, ob die EU-Bürger den Verbleib oder Austritt des Vereinigten Königreichs wollen!“, da deren Begehren ihres Erachtens außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Union liege.39 Im Gegensatz dazu hatte sie aber am 18. Juli 2018 die Europäische Bürgerinitiative „Dauerhafte Unionsbürgerschaft“ registriert,40 die die Notwendigkeit feststellt, dass die Kommission Mittel vorschlägt, um damit das Risiko eines kollektiven Verlustes der Unionsbürgerschaft – wie eben im Falle eines Brexit – und der damit verbundenen Rechte zu vermeiden. Nachtrag Wie angekündigt, trug Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona am 4. Dezember 2018 seine Schlussanträge vor dem Plenum des EuGH vor, in denen er die Rechtsansicht vertrat, dass Art. 50 Abs. 1 EUV es zulasse, die Mitteilung der Austrittsabsicht einseitig zurückzunehmen und zwar bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Austrittsabkommens, vorausgesetzt, über die Rücknahme sei im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaates entschieden worden, sie werde dem Euro-

36 [2016] EWHC 2768 (Admin), Case No: CO/3809/2016 und CO/3281/2016, Rdnr. 10. 37 „Dauerhafte Unionsbürgerschaft“, „Erhalt der Unionsbürgerschaft“, „Unionsbürgerschaft für die Europäerinnen und Europäer: In Vielfalt geeint trotz Bodenrecht und Abstammungsrecht“ und „Europäisches Ausweisdokument für Freizügigkeit“. 38 „Stop Brexit“ und „British friends – stay with us in EU“. 39 https://ec.europa.eu/germany/news/20181128-buergerinitiative-referendum_de 40 ABl. 2018, C 264, S. 4.

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päischen Rat förmlich mitgeteilt, und es liege keine missbräuchliche Praxis vor.41 Quelle: EU-Infothek vom 4. Dezember 2018, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 15) PS: In seinem, wenige Tage später ergangenen, Urteil vom 10. Dezember 2018 führte der Gerichtshof dazu aus: „Art. 50 EUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat, der dem Europäischen Rat im Einklang mit diesem Artikel mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Europäischen Union auszutreten, gestattet, solange ein Austrittsabkommen zwischen ihm und der Europäischen Union nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, die genannte Mitteilung durch ein an den Europäischen Rat gerichtetes Schreiben einseitig, eindeutig und unbedingt zurückzunehmen, nachdem er den Rücknahmebeschluss im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften getroffen hat. Gegenstand einer solchen Rücknahme ist die Bestätigung der Zugehörigkeit dieses Mitgliedstaats zur Europäischen Union unter Bedingungen, die hinsichtlich seines Status als Mitgliedstaat unverändert sind, so dass die Rück­ nahme das Austrittsverfahren beendet“ [Rs. C-621/18, Wightman ua (ECLI:EU:C:2018:999)]. Vgl. dazu auch Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU, vorstehend auf S. 12.

41 Gerichtshof der Europäischen Union/Pressemitteilung Nr. 187/18 vom 4. Dezember 2018.

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

16. Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat und seinen aktuellen Gefährdungen zu tun? Neueste Entwicklungen zur Bestärkung des Rechtsstaatsprinzips in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland Die mehrfachen Gefährdungen des Rechtsstaatsprinzips, vor allem in Polen1 und in Ungarn2 – zwei Mitgliedstaaten, gegen die bereits das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV eingeleitet wurde bzw. kurz vor der Einleitung steht – neuerdings aber auch in Rumänien,3 haben in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union äußerst interessante Reaktionen provoziert, die der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit und der besseren Verankerung dieses Prinzips in der öffentlichen Meinung dienen sollen. Besonders markant sind in diesem Zusammenhang die Messungen der „Fieberkurve“ des Rechtsstaates in Österreich, die seit 2016 stattfinden, sowie die Einrichtung eines Informationszentrums für den Rechtsstaat, namens „Forum Recht“, in der Bundesrepublik Deutschland, dessen Inbetriebnahme für das Jahr 2025 vorgesehen ist. Auf diese beiden außergewöhnlichen Initiativen zur Besicherung des Rechtsstaates soll nachstehend kurz eingegangen werden. Die Messung der Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Österreich Die mit großer Verspätung eingeleiteten Sanktionsmaßnahmen gegen einige Mitgliedstaaten der EU wegen mannigfacher Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips veranlassten auch Österreich, dem sog. „Kopenhagen-Paradoxon“ nachzugehen. Darunter versteht man den merkwürdigen Umstand, dass zwar von den Beitrittswerbern zur EU die strikte Befolgung der „Kopenhagen-Kriterien“ abverlangt, von den Mitgliedstaaten der EU deren Einhaltung aber nur sehr zögerlich kontrolliert wird. Es ist wohl mehr als paradox, wenn für den Beitritt zur EU strengere Voraussetzungen gelten, als sie in der Folge von den Mitgliedstaaten selbst verlangt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die einzelnen Mitgliedstaaten der EU einen (selbst-)kritischen Blick auf die Ausgestaltung und Implementierung des Rechtsstaatsprinzips in ihrer eigenen Rechtsordnung werfen, um damit festzustellen, wie komplett dieses tragende Baugesetz der EU gem. Art. 2 EUV von ihnen in praxi beachtet wird. Ebenso wichtig erscheint aber auch die Aufklärung über die Funktion des Rechtsstaates in den modernen Demokratien sowie deren aktuelle Gefährdungen.

1 Siehe dazu Fn. 13. 2 Siehe dazu Fn. 14. 3 Siehe dazu Fn. 15.

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Das „Kopenhagen-Paradoxon“ Um das „Kopenhagen-Paradoxon“ richtig zu verstehen, muss zunächst ein Blick auf die sog. „Kopenhagen-Kriterien“ geworfen werden, die vom Europäischen Rat am 21./22. Juni 1993 für die fünfte Erweiterung der EU (sog. „Ost-Erweiterung“) festgelegt wurden. In diesem Zusammenhang wurden vom Europäischen Rat als Beitritts-Voraussetzungen der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) zur EU folgende Kriterien postuliert: 1) Institutionelle Stabilität als Garantie für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Schutz der Minderheiten (politisches Kriterium); 2) Eine funktionsfähige Marktwirtschaft, sowie Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck des Binnenmarktes standzuhalten (wirtschaftliches Kriterium), 3) Übernahme der Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft (sog. „acquis communautaire“), einschließlich der Ziele der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion (sonstige Verpflichtungen);4 Ausgehend von den Erfahrungen im Zuge der fünften Erweiterung ergänzte der Europäische Rat am 16./17. Dezember 2004 diese Kriterien noch um weitere Vorgaben, die insbesondere 4) die vollständige Erfüllung der Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft sowie 5) die Beachtung der grundlegenden Werte der Union (sog. „Verfassungsgrundsätze“), samt dem Sanktionsverfahren des Art.  7 EUV, ­betrafen. Neben diesen Beitrittskriterien für Drittstaaten wurde auch noch ein Kriterium für die Europäische Union selbst postuliert, nämlich deren 6) Fähigkeit zur Aufnahme weiterer Mitglieder (sog. „Aufnahmefähigkeitskriterium“) – und zwar sowohl in finanzieller, als auch institutio­ neller Hinsicht. Die „Fieberkurve des Rechtsstaats“ Um die Entwicklungen, Tendenzen, Stärken und Schwächen der österreichischen Rechtsstaatlichkeit zu dokumentieren, legte der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) erstmals im Jahr 2016 eine Studie vor, in der der Stand sowie die Entwicklungen der österreichischen Rechtsstaatlichkeit empirisch dokumentiert wurden.5 Unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser Studie sowie deren weiterer Fortschreibung wurde im November 2018 – in Kooperation mit der Unternehmensberatung Obergantschnig Management Partners und dem Forschungsinstitut für Rechts4 BullEG6-1993, Ziff. I.13. 5 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) (Hrsg.), Fieberkurve des Rechtsstaates (2016).

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entwicklung der Universität Wien – eine neuerliche Untersuchung6 vorgelegt, aufgrund derer sich im Untersuchungszeitraum von zwei Jahren 15 Indikatoren verbessert und 12 Indikatoren verschlechtert haben, während 6 Indikatoren unverändert geblieben sind. Damit ist eine grundsätzlich positive Entwicklung festzustellen, da bei 45% der Indikatoren eine positive Entwicklungstendenz zu beobachten ist, während sich 36% der Indikatoren in der Referenzperiode verschlechtert haben.7 Im Detail setzt sich der ÖRAK dabei, im Zuge eines mehrjährigen Projekts und unter Einbindung der österreichischen Rechtsanwälte, mit der Frage auseinander, auf der Basis welcher Faktoren und Indikatoren die Rechtstaatlichkeit „messbar“ und damit auch vergleichbar ist. Dabei hat man sich auf die Untergliederung in folgende elf „Cluster“ verständigt: 1) Qualität und Stabilität staatlicher Strukturen; 2) Qualität der Gesetzgebung; 3) Bekämpfung von Korruption; 4) Grund- und Freiheitsrechte; 5) Ordnung und Sicherheit; 6) Wirtschaftsstandort – Rechtssicherheit juristischer Personen; 7) Lebensraum Österreich – Rechtssicherheit natürlicher Personen; 8) Zivilgerichtsbarkeit; 9) Strafgerichtsbarkeit; 10) Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsbarkeit; 11) Bürgernaher Staat. Methodik Für jeden dieser elf Cluster wurden drei Indikatoren entwickelt, sodass jeder Cluster zwischen +3 Punkten (alle Indikatoren haben sich verbessert) und –3 Punkten (alle Indikatoren haben sich verschlechtert) schwankt. Innerhalb der jeweiligen Cluster werden die drei Indikatoren jeweils gleichgewichtet („Gesamtindex-Gleichgewichtet“). Daneben hat der ÖRAK in einer von April bis Mai 2018 unter 410 der insgesamt 6.300 österreichischen Rechtsanwälten8 durchgeführten Umfrage die Cluster, die aus Sicht der Rechtsanwälte für die Rechtstaatlichkeit von besonderer Bedeutung sind, herausgearbeitet. Die befragten Anwälte konnten die elf Cluster nach ihrer subjektiv empfundenen Wichtigkeit reihen, wobei die Bandbreite zwischen 4% und 15% festgelegt wurde. Der Cluster mit der geringsten Relevanz wurde mit 4% gewichtet. Entsprechend der in der Umfrage getroffenen Einstufung wurde die Gewichtung der folgenden Cluster jeweils um 6 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) (Hrsg.), Fieberkurve des Rechtsstaates, Wien November 2018, 169 Seiten. 7 Fieberkurve des Rechtsstaats (Fn. 5), S. 103, 109. 8 Vgl. Tempfer, P. „Die Gefährdung der Grund- und Freiheitsrechte liegt in der Luft“, Wiener Zeitung vom 13. November 2018, S. 9.

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1%-Punkt erhöht, wobei der Cluster mit der größten Relevanz eine Ausnahme bildete und mit 15% in den „Gesamtindex-Umfragegewichtet“ einfloss. Auf der Basis der Ergebnisse dieser Umfrage ermittelte der ÖRAK in der Folge einen Gesamtindex mit der Bezeichnung „Fieberkurve des Rechtsstaates“. Was die Relevanz der Cluster betrifft, so sehen die Umfrageteilnehmer die mit Abstand größte Relevanz für den Cluster „Grund- und Freiheitsrechte“ (Nr. 4), wohingegen dem Cluster „Bürgernaher Staat“ (Nr. 11) die relativ geringste Bedeutung beigemessen wird. Im Hinblick auf die „Status-Quo“-Beurteilung der einzelnen Cluster wurden die Cluster „Lebensraum Österreich – Rechtssicherheit natürlicher Personen“ (Nr. 7), „Zivilgerichtsbarkeit“ (Nr. 8) sowie „Ordnung und Sicherheit“ (Nr. 5) von den Befragten am besten beurteilt. Im Vergleich dazu wurden die Cluster „Qualität der Gesetzgebung“ (Nr. 2), „Bürgernaher Staat“ (Nr. 11) und „Bekämpfung von Korruption“ (Nr. 3) von den befragten Rechtsanwälten am schlechtesten eingeschätzt. In Bezug auf die Frage, wie sich die Qualität der einzelnen Cluster in den vergangenen 10 Jahren verändert hat, lauteten die Antworten folgendermaßen: In diesem Zeitraum wurde in den Clustern „Bekämpfung von Korruption“ (Nr. 3), „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ (Nr. 10) und „Bürgernaher Staat“ (Nr. 11) die deutlichste Verbesserung erzielt. Im Gegensatz dazu sind die Cluster „Qualität der Gesetzgebung“ (Nr. 2), „Qualität und Stabilität staatlicher Strukturen“ (Nr. 1) sowie „Grund- und Freiheitsrechte“ (Nr. 4) jene Bereiche, die sich nach Einschätzung der Befragten am deutlichsten verschlechtert haben. Im Rahmen der Umfrage wurden die Rechtsanwälte aber auch dahingehend befragt, wie sie die Entwicklung der zugrundeliegenden Cluster innerhalb der kommenden 10 Jahre einschätzen. Dabei wurden die Cluster „Bürgernaher Staat“ (Nr. 11), „Bekämpfung von Korruption“ (Nr. 3) und „Wirtschaftsstandort Österreich – Rechtssicherheit juristischer Personen“ (Nr. 6) am besten eingeschätzt, während die Befragten bezüglich der Cluster „Grund- und Freiheitsrechte“ (Nr. 4), „Qualität der Gesetzgebung“ (Nr. 2) sowie „Qualität und Stabilität staatlicher Strukturen“ (Nr. 1) davon ausgingen, dass es in diesen Clustern in den nächsten 10 Jahren zu erheblichen Verschlechterungen kommen wird. Ergebnis Zusammengefasst lässt sich die „Fieberkurve des Rechtsstaates“ auf der Cluster-Ebene wie folgt beschreiben:9 Cluster 1) Der Cluster „Qualität und Stabilität staatlicher Strukturen“ zeigt ein gemischtes Bild. Während der Subindikator zur politischen Stabili9 Fieberkurve (Fn. 6), S. 115 f.

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tät einen markanten Rückgang erleidet, verbessern sich die Indikatoren zur Wahlbeteiligung und Qualität der Verwaltung; Cluster 2) Im Cluster „Qualität der Gesetzgebung“ bleibt der Subindikator zur Qualität der Regularien stabil. Die Indikatoren zu den aufgehobenen Gesetzen und zum Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik verbessern sich; Cluster 3) Im Cluster „Bekämpfung von Korruption“ wird ein leichter Rückgang beim Subindikator zur Wahrnehmung von Korruption durch Verbesserungen der Subindikatoren zur Kontrolle und zum Einfluss von Korruption aufgewogen; Cluster 4) Bis auf den Subindikator für Verfahrenshilfe zeigen sämtliche Subindikatoren des Clusters „Grund- und Freiheitsrechte“ eine negative Tendenz; Cluster 5) Der Cluster „Ordnung und Sicherheit“ zeigt eine positive Entwicklung, was sowohl die Kriminalität, die Effektivität der Arbeit der Ermittlungsbehörden, als auch die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit betrifft. Der Subindikator zur Ordnung und Sicherheit bleibt auf konstant hohem Niveau; Cluster 6) Im Vergleich zur letzten Beobachtungsperiode entwickeln sich die Subindikatoren des Clusters zum „Wirtschaftsstandort – Rechtssicherheit juristischer Personen“ durchwegs negativ. Die Einschätzung zu den rechtlichen Rahmenbedingungen trübt sich ein, Gründungsaktivitäten werden eingeschränkt; Cluster 7) Im Cluster „Lebensraum – Rechtssicherheit natürlicher Personen“ verbessert sich der Subindikator zu den Eigentumsrechten. Die Dauer der Verfahren von strittigen Scheidungen und Verfahren beim Arbeits- und Sozialgericht bei rechtswidriger Entlassung und Kündigung nimmt jedoch zu; Cluster 8) Die Subindikatoren des Clusters „Zivilgerichtsbarkeit“ zeigen ein eher positives Bild. Während der Subindikator für die Zivilgerichtsbarkeit stabil bleibt, verbessern sich die Subindikatoren für die Durchsetzung von Ansprüchen und die Effektivität von Zivilverfahren; Cluster 9) Im Cluster „Strafgerichtsbarkeit“ zeigt sich ein gemischtes Bild. Der Subindikator zur Strafgerichtsbarkeit verschlechtert sich, während die Effektivität bei den Strafverfahren steigt. Der Subindikator zur Auslastung der Staatsanwaltschaft bleibt unverändert; Cluster 10) Allgemein zeigt sich im Cluster „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ eine positive Entwicklung. Sowohl die Verfahrensdauer beim Verwaltungsgerichtshof als auch die Qualität der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts verbessern sich. Der Subindikator ‚Regulatory Enforcement‘ bleibt stabil; Cluster 11) Die einzige Verbesserung im Cluster „Bürgernaher Staat“ zeigt der Subindikator E-Governance. Die Subindikatoren zu Direkter Demokratie und Informationsfreiheit verschlechtern sich.

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Rupert Wolf, der Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags, resumierte die „Fieberkurve“, und damit den Gesundheitszustand des „Patienten“ Österreich, bei der Präsentation der Studie am 12. November 2018 wie folgt: Es sei insgesamt eine Verbesserung seit 2016 bemerkbar, „allerdings mussten wir schon 2016 eine schlechte Basis attestieren. Da ist Luft nach oben“.10 Zählt man alle elf Cluster zusammen, dann ist die Fieberkurve in Summe etwas gesunken. Was aber Sorge macht, ist – nach knapp einem Jahr der Regierung Kurz/Strache – die Beeinträchtigung der Grund- und Freiheitsrechte, und damit auch der Pressefreiheit, eine der wichtigsten Säulen von Rechtstaat und Demokratie. Über 46 Prozent der befragten Anwälte glauben, dass sich die Situation der Grund- und Freiheitsrechte in den nächsten zehn Jahren weiter verschlechtern, und nur 6 Prozent glauben, dass sie sich verbessern wird.11

Ein Informationszentrum für den Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland Bezüglich der Überlegung, wie die rechtsstaatlichen Errungenschaften des Bonner Grundgesetzes (1949) nach beinahe 70 Jahren der heutigen jungen Generation wieder verstärkt in Erinnerung gerufen werden können, ist die Bundesrepublik Deutschland einen anderen Weg gegangen. Im Wissen da­ rum, dass das, was für so lange Zeit zum Selbstverständnis und zu den Grundpfeilern der deutschen Gesellschaft gehörte, für die nachkommende Generation alltäglich wurde und damit an Aufmerksamkeit und Wertschätzung sukzessive verlor, müssen neue Anstrengungen unternommen werden, um das gesellschaftliche Bewusstsein über den Wert, aber auch die Schutzbedürftigkeit des deutschen Rechtsstaates und seiner demokratischen Institutionen wieder zu stärken. Zudem gelte es, der Agitation der Populisten und Feinden von Rechtsstaat und Demokratie entschlossen entgegenzutreten, die keine sachliche Kritik am Rechtsstaat üben sondern ihn offen ablehnen und die mit der Rechtssetzung befassten Berufsgruppen systematisch anfeinden.12

10 Schmidt, C. M. Wo der Rechtsstaat fiebert, Der Standard vom 13. November 2018, S. 9. 11 Schmidt, C. M. Was der Rechtsstaat wert ist, Der Standard vom 13. November 2018, S. 28. 12 Bundestag beschließt Gründung von „Forum Recht“: Gegen „populistische und spaltende politische Strömungen“, Epoch Times vom 18. Oktober 2018.

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Rechtsstaatlich negative Entwicklungen in den Visegrád-Staaten Polen13 und Ungarn14, hin zu einem „illiberalen“ Staat, aber auch in Rumänien15 und der Türkei, zeigen auf, dass man bei dieser gegenwärtig rapid um sich greifenden Erosion der Rechtsstaatlichkeit das Wissen um den Rechts- und Verfassungsstaat dringend stärken und dessen Bedeutung für ein Leben in Freiheit und Sicherheit verdeutlichen muss. Es ist daher höchste Zeit, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit noch stärker zu thematisieren und auf diese Weise die freiheitssichernde Wirkung des Rechtsstaates zu stabilisieren. Die Machbarkeitsstudie für das „Forum Recht“ in Karlsruhe16 zeigt die nötigen Weichenstellungen dazu auf. Das „Forum Recht“ in Karlsruhe Der Deutsche Bundestag beschloss am 18. Oktober 2018 die Einrichtung des Informationszentrums für den Rechtsstaat „Forum Recht“ mit Haupt13 Siehe dazu Hummer, W. Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß? Konsequenzen der Einleitung eines „Vor-Artikel 7-Verfahrens“ gegen Polen, Europäische Rundschau 2016/1, S. 41 ff; Hummer, W. Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Einleitung der zweiten Stufe des neuen „EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, EU-Infothek vom 2. August 2016; Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen – misst die Europäische Kommission dabei mit zweierlei Maß?, (Teil 1) EU-Infothek vom 12. Mai 2017, (Teil 2) EU-Infothek vom 16. Mai 2017; Hummer, W. „Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert, ÖGfE, Policy Brief 8/2017; Hummer, W. Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen? Erstmalige Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art.  7 EUV wegen „systemischer“ Gefährdung des Rechtsstaatsprinzips durch Polen, EUInfothek vom 8. Jänner 2018; Hummer, W. Nebeneffekte des Sanktionsverfahrens gegen Polen wegen dessen Rechtsstaatlichkeitsdefizit. Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ in Polen wegen „systemischer Mängel“ in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz?, EuR Heft 6/2018, S. 652 ff. 14 Siehe dazu Hummer, W. Ungarn erneut am Prüfstand der Rechtstaatlichkeit und Demokratie. Wird Ungarn dieses Mal zum Anlassfall des neu konzipierten „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahrens?, Europarecht 5-2015, S. 625 ff.; Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen – misst die Europäische Kommission dabei mit zweierlei Maß?, (Teil 1) EU-Infothek vom 12. Mai 2017, (Teil 2) EU-Infothek vom 16. Mai 2017; Hummer, W. Erneute Rechtstaatlichkeitsprobleme in Ungarn, Europäische Rundschau 2/2017, S. 32 ff.; Hummer, W. Erstmals versucht das Europäische Parlament das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn einzuleiten. Damit zeigt sich das Europäische Parlament „mutiger“ als die Europäische Kommission – warum eigentlich?, EU-Infothek vom 23. Mai 2017; Hummer, W. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtsstaatlichen Pranger, EU-Infothek vom 2. Oktober 2018. 15 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. November 2018 zur Rechtsstaatlichkeit in Rumänien (2018/2844(RSP)); P8_TA-PROV(2018)0446; B80522/2018. 16 Projektverantwortliche: bogner.knoll: Dieter Bogner, Katharina Knoll (1010 Wien, Wipplingerstraße 15/14) und TRIAD: Lutz Engelke, Ulf Eberspächer, Karl Karau (10789 Berlin, Marburgerstraße 3), August 2017.

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sitz in Karlsruhe, wo seit über 60 Jahren bereits das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof und die Bundesanwaltschaft angesiedelt sind. Zudem steht Karlsruhe für die Nähe zu Straßburg, dem Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), und zu Luxemburg, dem Sitz des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, EuG). Damit kann das „Forum Recht“ in seine Arbeit nicht nur die drei deutschen Höchstgerichte vor Ort, sondern auch den EGMR und den EuGH bzw. das EuG mit einbeziehen. Ein weiterer Standort soll in Ostdeutschland, voraussichtlich in Leipzig, eingerichtet werden. Der Antrag im Deutschen Bundestag für die Einrichtung des „Forum Recht“ ging gleichsam „flächendeckend“ von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – lediglich die AfD-Fraktion verweigerte ihre Zustimmung – aus, wobei durch das „Forum Recht“ „ein Kommunikations-, Informations- und Dokumentationsforum geschaffen werden soll, das das Recht, unseren Rechtsstaat und die Geschichte des Rechts erfahrbar und begreifbar machen und den hohen Wert des Rechtsstaats für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft zum Ausdruck bringen wird“.17 Zugleich beauftragte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung, ihm unter Berücksichtigung der Vorschläge der verschiedenen Akteure der Zivilgesellschaft sowie der vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz finanzierten vorerwähnten Machbarkeitsstudie,18 ein Realisierungskonzept vorzulegen, das anschließend von ihm in einer öffentlichen Anhörung diskutiert werden soll. Zur weiteren Realisierung der Vorbereitungsarbeiten bewilligte der Deutsche Bundestag in der Folge am 22. November 2018 mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD im Bundesjustizhaushalt Mittel in Höhe von 857.000 Euro, die für den weiteren Aufbau, die Infrastruktur und die Schaffung von Dienststellen in der Geschäftsstelle des „Forum Recht in Karlsruhe“ sowie für die Ausschreibung des Architektur-Wettbewerbs für den Bau des Forum benötigt werden. Als nächstes Ziel ist ein zeitnaher Beschluss des Bundestages über ein Stiftungsgesetz zur Errichtung der Stiftung „Forum Recht“ vorgesehen, um damit dem Forum den notwendigen rechtlichen Rahmen zu geben. Insgesamt werden damit, laut Aussage des CDU-Bundestagsabgeordneten Ingo Wellenreuther, für die definitive Errichtung des „Forum Recht“ in Karlsruhe ca. 82 Mio. Euro bis zum Jahr 2025 veranschlagt werden müssen.19 Im Gegensatz dazu gehen die Autoren der Machbarkeitsstudie von Gesamtkosten in Höhe von 75 Mio. Euro für Bau- und Ausstattungskosten aus und

17 Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/5047 vom 16. 10. 2018, S. 1. 18 Siehe Fußnote 16. 19 https://www.ingo-wellenreuther.de/artikel/forum-recht-karlsruhe-im-bundesjustizhaus...

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

prognostizieren eine Eröffnung des Neubaus des „Forum Recht“ bereits für das Frühjahr bzw. den Sommer 2023.20 Mit dem „Forum Recht“ wird, im Gegensatz zu den bereits bestehenden einschlägigen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, ein singulärer Versuch unternommen, die deutsche Öffentlichkeit in den komplexen Fragen des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit aufzuklären. Die Thematik „Deutschland seit 1945“ wird im Haus der Geschichte erfahr- und nachvollziehbar, Erfindungen in technischen Museen und die Entwicklung der Demokratie im Deutschen Dom oder im Hambacher Schloss dargestellt.21 Man benötigt aber auch einen Ort, um den Rechtsstaat zu verstehen, Recht und Rechtsstaatlichkeit als wichtige Faktoren einer demokratischen Gesellschaft zu erkennen und wieder zu lernen, diese aktiv mitzugestalten. Weltweit finden sich nur einige wenige Einrichtungen, die sich in dieser Form mit Recht und Rechtsstaatlichkeit beschäftigen, wie zB das kanadische „Museum of Human Rights“ und das „Museo de Derechos Humanos“ in Santiago de Chile. Diese dienen aber vorrangig der Dokumentation von Menschenrechten und deren brutaler Verletzung unter diktatorischen Regimen – und setzen damit in der Darstellung des Themas beim Unrecht an – während das „Forum Recht“ genau die andere Seite, nämlich die positiven Wirkungen des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit betonen will. Rahmenbedingungen und Ausgestaltung des „Forum Recht“ Die Idee für die Einrichtung und Ausgestaltung des „Forum Recht“ geht auf einen privaten Initiativkreis „Recht“ von vierzehn Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Politik, Justiz und Medien zurück, der sich seit mehreren Jahren für die Verwirklichung der Idee eines deutschen „Forum Recht“ einsetzt.22 In diesem Initiativkreis sind neben privaten Personen das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof, die Generalbundesanwaltschaft, die Anwaltschaft, die Justizpressekonferenz, ebenso wie die Stadt Karlsruhe selbst, vertreten. Im Juli 2018 gründete der Initiativkreis noch einen Unterstützungsverein mit deutschlandweiter Ausrichtung, damit sich noch mehr Menschen mit dieser Idee solidarisieren können. Das „Forum Recht“ soll möglichst vielen Menschen unterschiedlichster sozialer Verhältnisse, Altersstufen, Bildungsgrade und Berufen, die Mög20 Vgl. Justiz anschaulich machen: So soll das „Forum Recht“ in Karlsruhe aussehen; https://www.ka-news.de/region/karlsruhe/Karlsruhe~/Justiz-anschaulich-machenSo-s... 21 Baer, S. – Limperg, B. – Mentrup, F. – Hirsch, G. (Hrsg.), Wir müssen reden – über den Rechtstaat und das Recht. Konzept und Machbarkeitsstudie für das Forum Recht in Karlsruhe (2018), S. 4. 22 Zunächst lancierte der Initiativkreis ein anderes Projekt, nämlich die Bewerbung der Stadt Karlsruhe als Kulturhauptstadt Europas. Nach dessen Scheitern 2005 wurde in der Folge auf das Projekt „Forum Recht“ in Karlsruhe umgestellt.

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

lichkeit bieten, sich aktiv mit sie persönlich bewegenden, ebenso wie grundsätzlichen, gesellschaftsrelevanten Fragen des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit auseinanderzusetzen. Dabei soll das traditionelle ausstellungsbasierte Museumsmodell durch ein neues Format ersetzt werden, das einen interaktiven und partizipatorischen Ansatz aufweist.23 Demgemäß werden die Besucher des Forums nicht als passive Konsumenten von Ausstellungsgegenständen und wissenschaftlich aufbereiteter Informationen, sondern als aktive Teilnehmer an Prozessen des Erfahrungsgewinns, des Erwerbs und der Anwendung von Wissen über Recht und Rechtsstaatlichkeit und der Erarbeitung von wirkungsorientierten Lösungen betrachtet. Diese partizipatorische Teilhabe – von Einzelpersonen wie auch Gruppen – unterschiedlicher gesellschaftlicher und kultureller Herkunft, Altersstufen und Bildungsniveaus an allen Aktivitäten und Angeboten gilt als Grundprinzip des „Forum Recht“. Als Kommunikations-, Informations- und Dokumentationsforum wurde das „Forum Recht“ auch in drei unterschiedliche, aber gleichberechtigte und vor allem miteinander interagierende „Denk- und Handlungsräume“, eingeteilt: Forum (Diskursraum), Ausstellungsraum und Virtueller Raum. Im Virtuellen Vermittlungsraum wird eine virtuelle Architektur geschaffen, in der sich die Besucher bewegen, Informationen aus der Gegenwart sowie aus der Geschichte des Rechts und des Rechtsstaates suchen und sich auch auf Begegnungen und Diskussionen mit anderen Teilnehmern einlassen können. Wichtig ist dabei, dass über diese Schiene die im Diskursraum und in den Ausstellungen aus partizipatorischen Prozessen gewonnenen und bearbeiteten Ergebnisse, Erkenntnisse, Dispute und Handlungen ihren Weg in den elektronischen Raum finden. In einem eigenen „Research-Cluster“ organisieren Mitarbeiter des „Forum Recht“ ein internationales Netzwerk, das sich auf das Erkennen, Nachverfolgen und die Verarbeitung von Diskussionen zu den Themen des Forums im Internet spezialisiert. Damit ist das virtuelle „Forum Recht“ zugleich Portal und Austauschplatz für Informationen und Meinungen zur Rechtsstaatlichkeit – und dies global und nicht nur auf Deutschland beschränkt.24 Inhaltskonzept Das vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München-Berlin erstellte Inhaltskonzept für das „Forum Recht“ folgt einem Verständnis von Rechtsgeschichte iSe modernen Sozial- und Kulturgeschichte, die zwar den normati23 Projekt „Forum Recht“ in Karlsruhe: „Keine Vitrine für das Grundgesetz“, Interview von Prof. Susanne Baer durch Tanja Podolski; LTO Online vom 30. Juli 2018; https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/projekt-forum-recht-karlsruhe-muse um-rechts... 24 Karlsruhe Forum Recht – Machbarkeitsstudie. Kurzfassung, August 2017, S. 5 f.

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

ven Aspekt des Rechts betont, zugleich aber die enge Wechselwirkung des Rechts mit Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aufzeigt. Dabei sollen sieben übergeordnete Themeneinheiten (unterteilt in einzelne Module) Recht und Rechtstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland behandeln: 1) Alles, was Recht ist. Grundprobleme und Grundbegriffe 2) Rechtsstaat in Deutschland. Eine lange Geschichte 3) Rechtsstaat Bundesrepublik. Kernfragen der Demokratie 4) Der Rechtsstaat auf dem Prüfstand. Lob, Kritik, Verachtung 5) Kulturen des Rechts. Symbole, Medien, Orte 6) Gestalter des Rechts. Menschen und Institutionen 7) Recht international. Europa und das Globale Gleichzeitig durchziehen fünf Themenstränge die Ausstellung, die aufgrund ihrer zentralen Bedeutung kontinuierlich präsent sind und dementsprechend auch in den sieben Themeneinheiten und deren Modulen immer wiederkehren: 1) Sprache des Rechts 2) Biografien und das Recht 3) Erinnerungsorte des Rechtsstaats 4) Erfahrungen mit dem Unrechtsstaat 5) Technik und das Recht. Die verschiedenen Teilgebiete des Rechts (Öffentliches Recht, Zivilrecht, Strafrecht uam) werden nicht als separate thematische Blöcke behandelt. Vielmehr werden Module, Themen und Beispiele so ausgewählt, dass sie zusammen die Vielfalt und die Breite des Rechts anschaulich zum Ausdruck bringen. Mit Hilfe dieser Themeneinheiten und Themenstränge soll die Vorstellung einer geschlossenen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard) über den Rechtstaat in Frage gestellt werden. Stattdessen werden die Besucher des Forums mit unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen Deutungsangeboten und Themenperspektiven konfrontiert, um sich iSe pluralistischen Demokratie eine sachlich begründete eigene Meinung bilden und so als mündige Bürger die Zukunft des Rechtsstaats aktiv mitgestalten zu können.25 Was die Lokalisierung des „Forum Recht“ in Karlsruhe betrifft, so soll das Gebäude auf dem Gelände des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe errichtet werden, wobei auch ein unter Denkmalschutz stehenden Sitzungssaal, in dem unter anderem die Prozesse gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) stattgefunden haben, mit einbezogen werden könnte. In diesem Saal können auch Gerichtsverhandlungen anschaulich und authentisch nachgespielt werden.

25 Konzept für Forum Recht, Karlsruhe (Anlage II), Inhaltskonzept des Instituts für Zeitgeschichte IfZ, München-Berlin (2018), S. 2 f.

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

Schlussbetrachtungen Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in und außerhalb der Europäischen Union ist nicht mehr zu übersehen. Neben der Judikatur des Gerichtshofs der EU ist es vor allem auch die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die immer wieder darauf hinweist. Zuletzt geschah dies in unmissverständlicher Form in zwei Judikaten, die zum einen gegen die Türkei und zum anderen gegen die Russländische Föderation gerichtet waren. Sowohl in der Causa Selahattin Demirtas gegen die Türkei26, als auch in der Rechtssache Alexej Nawalnyy gegen Russland27 bezeichnete der EGMR den Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte als Messlatte für die Demokratie, die unbedingt verteidigt werden müsse. Je früher die Institutionalisierung des Vorhabens „Forum Recht“ gelingt, umso eher können die in der Bundesrepublik Deutschland anstehenden Jubiläen – 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 70 Jahre Bonner Grundgesetz und 70 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention – als Schritte auf einem Weg zu einem Forum für Recht und Rechtsstaatlichkeit genützt werden. Anhang In Österreich wird das Gedenken an 100 Jahre Republik bescheidener begangen, wenngleich im kürzlich eröffneten „Haus der Geschichte Österreich“ (hdgö) in der Neuen Burg am Heldenplatz in Wien im Rahmen der Eröffnungsausstellung „Aufbruch ins Ungewisse – Österreich seit 1918“ unter anderem auch aufgezeigt wird, was die Abwesenheit von Demokratie und Rechtstaatlichkeit politisch und juristisch bedeutet. Das „Haus der Geschichte Österreich“ soll ein Kompetenzzentrum für die Darstellung und Erörterung der jüngeren und jüngsten österreichischen Geschichte sein, zugleich aber auch als ein multifunktionales Forum und eine offene Diskussionsplattform sowie als ein zentraler Knotenpunkt im Netzwerk aller mit Geschichte befassten Institutionen und Forschungsund Bildungseinrichtungen in Österreich fungieren. Anschaulich wird dieses ambitionierte Konzept durch das Veranstaltungsprogramm für die nächsten fünf Monate28 belegt. Wenngleich das „Haus der Geschichte Österreich“ mit 46 einschlägig tätigen Einrichtungen bereits kooperiert, oder zu kooperieren gedenkt,29 wäre es angezeigt, dass sich die Leitung des Hauses, unter der Direktorin 26 EGMR, Beschwerde Nr. 14305/17, Urteil vom 20. November 2018. 27 EGMR, Beschwerde Nr. 29580/12, Urteil vom 15. November 2018. 28 hdgö (Hrsg.), Ausstellungen, Vermittlung, Veranstaltungen, November 2018 – März 2019. 29 http://haus-der-geschichte.at/Kooperationen/Kooperationen.html

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Was hat die „Fieberkurve“ und das „Forum Recht“ mit dem Rechtsstaat zu tun?

Frau Mag. Dr. Monika Sommer-Sieghart, gegebenenfalls auch von der einen oder anderen originellen Facette inspirieren ließe, die im Konzept und der Machbarkeitsstudie für das „Forum Recht“ in Karlsruhe30 detailliert aufgelistet ist. Damit könnte das traditionell ausstellungsbasierte „Museumsmodell“ des Hauses der Geschichte Österreich durch ein neues Format ergänzt werden, das einen stärker interaktiven und partizipatorischen Ansatz aufweist, der auf Sicht unter Umständen neue Besucherschichten anziehen könnte. Quelle: EU-Infothek vom 7. Dezember 2018, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 16) PS: Nach der Judikatur des Gerichtshofes zur Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz31 sind von den Mitgliedstaaten der EU bei Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit klare rechtliche Anforderungen zu erfüllen. Diesbezüglich legte die Europäische Kommission im September 2020 den „Ersten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU“32 vor, dem am 20. Juli 2021 der „Zweite Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in der EU 2021“33 folgte.

30 https://www.forum-recht-karlsruhe.de/downloads/ 31 Gerichtshof, Urteil vom 20. März 2021 in der Rs. C-896/19, Repubblika/Il-Prim Ministru (ECLI:EU:C:2021:311). 32 COM(2020) 580 final. 33 COM(2021) 700 final.

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Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden?

17.  Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden? Von der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte bis zu den Berufs- und Standesregeln Manche Fallkonstellationen mit europarechtlicher Relevanz sind des Öfteren so außergewöhnlich ausgestaltet, dass man sich eigentlich schwertäte, sie frei zu erfinden. Dazu gehört neuerdings die Frage, ob die Eintragung eines Mönchs als Rechtsanwalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat als dem, in dem er seine Berufsqualifikation erworben hat, verhindert werden kann, oder nicht. Aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchen des griechischen „Staatsrats“ wurde der Gerichtshof (EuGH) der EU mit dieser ganz und gar nicht alltäglichen Frage befasst, hat aber bisher dazu noch kein Urteil erlassen. Was allerdings bereits vorgelegt wurde, sind die Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston, die diese Mitte Dezember 2018 veröffentlicht hat.1 Da der EuGH in seinen Urteilen nur sehr selten von den Schlussanträgen des jeweiligen Generalanwalts abweicht, ist mit einer ähnlichen Entscheidung des Gerichtshofs zu rechnen. Daher sollen die Schlussanträge anschließend kurz dargestellt und kommentiert werden. Einführung Monachos Eirinaios ist ein Mönch in einem griechischen Kloster, nämlich im Heiligen Kloster von Petra in Karditsa, der aber gegenwärtig auf der griechischen Insel Zakynthos stationiert ist. Er ist auch ein ausgebildeter Rechtsanwalt, der sich am 11. Dezember 2014 aber in die Liste der Rechtsanwälte von Zypern eintragen ließ, da nach griechischem Staatskirchenrecht Geistliche oder Mönche nicht in die nationale Rechtsanwaltsliste eingetragen werden können. Daher wählte der griechische Mönch eine „Umwegskonstruktion“ und ließ sich zunächst in die zypriotische Rechtsanwaltsliste eintragen, um danach als dort bereits eingetragener Rechtsanwalt Aufnahme auch in die griechische Anwaltsliste zu begehren. Am 12.  Juni 2015 beantragte Monachos Eirinaios bei der Rechtsanwaltskammer von Athen, als ein Rechtsanwalt eingetragen zu werden, der seine Berufsbezeichnung in einem anderen EU-Mitgliedstaat, nämlich Zypern, erworben hat. Am 18. Juni 2015 lehnte der Verwaltungsrat der Rechtsanwaltskammer von Athen seinen Antrag ab, wobei er sich auf Art. 8 Abs. 1 des Präsidialdekrets 152/20002 stützte, wonach die nationalen Vorschriften 1 Schlussanträge von Generalanwältin Eleanor Sharpston vom 19. Dezember 2018 in der Rs. C-431/17, Monachos Eirinaios gegen Dikigorikos Syllogos Athinon (ECLI:EU:C:2018:1028). 2 Präsidialdekret 152/2000 zur Erleichterung der Ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Rechtsanwälte in Griechenland, die ihre Berufsqualifikation in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erworben haben.

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Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden?

über Inkompatibilitäten – insbesondere der Umstand, Geistlicher oder Mönch zu sein – auch auf Rechtsanwälte Anwendung finden, die ihre Tätigkeit in Griechenland unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ausüben wollen. Am 29. September 2015 legte Monachos Eirinaios vor dem griechischen „Staatsrat“ ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung des Verwaltungsrats der griechischen Rechtsanwaltskammer ein. In diesem Zusammenhang wies der „Staatsrat“ darauf hin, dass die für griechische Rechtsanwälte geltenden Berufs- und Standesregeln es Mönchen nicht erlauben, als Rechtsanwalt tätig zu sein, und zwar aus Gründen, wie denen, die von der Rechtsanwaltskammer von Athen bereits angeführt wurden, nämlich das Fehlen von Garantien hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit, Zweifeln, ob sie sich vollständig ihren Aufgaben widmen und streitige Fälle bearbeiten können, das Erfordernis einer tatsächlichen, nicht fiktiven Niederlassung im geographischen Bezirk des maßgeblichen erstinstanzlichen Gerichts und die Verpflichtung, Dienstleistungen nicht unentgeltlich zu erbringen. Der „Staatsrat“ wies darüber hinaus aber auch auf seine eigene Judikatur hin, gemäß derer die frühere Vorschrift des Rechtsanwaltskodex, wonach Geistliche keine Rechtsanwälte werden durften, nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz oder die Freiheit der Berufs- und Beschäftigungsausübung verstoße. Erstens setze das öffentliche Interesse voraus, dass sich ein Rechtsanwalt ausschließlich seinen Aufgaben widme, und zweitens bringe die Tätigkeit als Rechtsanwalt die Bearbeitung von Streitigkeiten mit sich, was mit der Stellung eines Geistlichen unvereinbar sei. Vor diesem Hintergrund ersucht der „Staatsrat“ den EuGH um eine Vorabentscheidung zu der Frage, ob die Eintragung von Monachos Eirinaios in die griechische Rechtsanwaltsliste mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass ein Mönch der Kirche von Griechenland nach nationalem Recht deswegen nicht eintragungsfähig ist, weil er aufgrund seiner Stellung als Person, die klösterlichen Regeln unterliegt, bestimmte für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs erforderliche Garantien nicht bietet. Anwendbares Recht In der gegenständlichen Rechtssache sind nicht nur die Vorschriften über die Eintragung in die Rechtsanwaltsliste und die Berufs- und Standesregeln für Anwälte auseinanderzuhalten, sondern auch die verschiedenen Richtlinien, die für die jeweils unterschiedlichen Aspekte des breiten Tätigkeitsspektrums eines Rechtsanwalts gelten. Dabei sind neben den nationalen, griechischen Vorschriften, vor allem die unionsrechtlichen Regelungen im Binnenmarkt der EU zu beachten.

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Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden?

Nationales griechisches Recht Art. 5 Abs. 1 des Präsidialdekrets 152/20003, das die Richtlinie 98/54 in griechisches Recht umgesetzt hat, sieht vor, dass der zuziehende Rechtsanwalt bei der Rechtsanwaltskammer, in deren Bezirk er seine Berufstätigkeit ausüben wird, eingetragen sein und ein Büro in diesem geografischen Bezirk unterhalten muss. Außerdem sieht Art. 8 Abs. 1 vor, dass dieser den gleichen Berufs- und Standesregeln unterliegt, wie griechische Rechtsanwälte. Ergänzend dazu enthält Art. 6 des Gesetzes 4194/2013 („Rechtsanwaltskodex“) vier Hinderungsgründe für die Ausübung des Amtes eines Rechtsanwalts, und zwar unter anderem auch den, nicht die Stellung eines Geistlichen oder Mönchs zu bekleiden. Sollte dieser Status von einem Rechtsanwalt später erlangt werden, würde dieser gem. Art.7 Abs.  1 ipso iure die Stellung eines Rechtsanwalts verlieren. Das Gesetz 590/1977 über das Statut der Kirche von Griechenland wiederum sieht in seinem Art. 39 vor, dass Klöster religiöse Einrichtungen sind, in denen die Mönche und Ordensfrauen nach klösterlichen Gelübden und nach den heiligen Regeln und Traditionen der Orthodoxen Kirche über das klösterliche Leben ein enthaltsames Leben führen. Das Gesetz 3414/1909 über den allgemeinen Kirchenfonds und die Verwaltung der Klöster sieht in Art. 18 vor, dass das gesamte Eigentum einer Person, die sich den klösterlichen Regeln unterwirft, mit Ausnahme des Anteils, der nach dem Erbrecht Erben vorbehalten ist, auf das Kloster übergeht.

Unionsrechtliche Bestimmungen Im Schoß der EU enthalten eine Reihe von Bestimmungen spezielle Bezüge zum Beruf des Rechtsanwalts. So behandelt die Richtlinie 2005/36/EG5 die Anerkennung von Berufsqualifikationen, während die Richtlinie 77/249/ EWG6 die Erbringung von Dienstleistungen durch Rechtsanwälte betrifft. Die Richtlinie 2006/123/EG7 betrifft einen weiten Bereich von Tätigkeiten 3 Fn. 2. 4 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36 ff.). 5 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Text von Bedeutung für den EWR) (ABl. 2005, L 255, S. 22 ff.). 6 Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. 1977, L 78, S. 17 ff. idF ABl. 2013, L 158, S. 368 ff.). 7 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36 ff.).

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innerhalb des Binnenmarktes, einschließlich der Erbringung von Rechtsberatungen im Zusammenhang sowohl mit der Niederlassung, als auch der Erbringung von Dienstleistungen. Die Richtlinie 98/58 wiederum gilt für Rechtsanwälte, die ihre Tätigkeit auf Dauer im Aufnahmestaat ausüben möchten. Das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht betrifft in concreto die Weigerung der griechischen Rechtsanwaltskammer, einen Rechtsanwalt einzutragen, der seine Berufsqualifikationen in einem anderen EU-Mitgliedstaat erworben hat. Dementsprechend ist der Gegenstand der Vorlagefrage die Niederlassung als Rechtsanwalt und nicht die Freiheit, Rechtsdienstleistungen zu erbringen, sodass allein die Richtlinie 98/5 als einschlägig zu betrachten ist. Allerdings ist die Richtlinie 98/5 eine „hybride Richtlinie“, die die Niederlassungsfreiheit zuziehender Rechtsanwälte behandelt, die ihre Tätigkeit unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung ausüben möchten, und die zu diesem Zweck bestimmte Aspekte harmonisiert, während sie den Mitgliedstaaten für andere Aspekte ein hohes Maß an Autonomie belässt. Daraus ergibt sich ein inhärentes Potential für Spannungen zwischen der Zulassung zur Ausübung der Tätigkeit (Art. 3) und den Regeln für die Ausübung dieser Tätigkeit (Art. 6).9 Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 98/510 betrifft ausschließlich die Eintragung zuziehender Rechtsanwälte, auf die gleichsam ein automatischer Anspruch besteht, wenn der Antragsteller den Nachweis seiner Eintragung bei der zuständigen Stelle in seinem Herkunftsstaat erbringt. Dementsprechend stellen die Schlussanträge – unter Verweis auf zwei einschlägige Vorjudikate des Gerichtshofs11 – auch fest, dass die Mitgliedstaaten kein Ermessen haben, für die Eintragung zuziehender Rechtsanwälte unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung zusätzliche Anforderungen einzuführen. Damit steht für die Frage der Eintragung in die Rechtsanwaltsliste fest, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 98/5 die Einführung einer zusätzlichen Bedingung – wie derjenigen, kein Geistlicher oder Mönch zu sein – für die Eintragung eines Rechtsanwalts unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung verbietet.12 Was hingegen die Frage der Einhaltung der Berufs- und Standesregeln betrifft, so hat der Gerichtshof in der Rechtssache Jakubowska13 entschieden, dass die Berufs- und Standesregeln – anders als die Vorschriften über die Eintragungsvoraussetzungen – nicht harmonisiert wurden, und daher 8 Fn. 4. 9 Schlussanträge (Fn. 1), Rdnr. 49. 10 Fn. 2. 11 EuGH, Rs. C-506/04, Wilson, Urteil vom 19. September 2006, Rdnr. 77 (ECLI:EU:C:2006:587); EuGH, Rs. C-58/13 und C-59/13, Torresi, Urteil vom 17. Juli 2014, Rdnr. 9, 40 (ECLI:EU:C:2014:2088). 12 Schlussanträge (Fn. 1), Rdnr. 61 f. 13 EuGH, Rs. C-225/09, Jakubowska, Urteil vom 2. Dezember 2010, Rdnr. 57 (ECLI:EU:C:2010:729).

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erheblich von den Vorschriften abweichen können, die im Herkunftsstaat gelten. Somit ist die Tatsache, dass bestimmte Berufs- und Standesregeln strenger sind, als solche nicht zu beanstanden, sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung ihres Ziels erforderlich ist. Dementsprechend müssen die von den nationalen Rechtsvorschriften verfolgten Ziele zunächst identifiziert und danach auf ihre „Ziel-Mittel – Adäquanz“ überprüft werden. Ohne dieser komplexen Prüfung, die vom vorlegenden griechischen Gericht vorzunehmen ist, vorgreifen zu wollen, kommen die Schlussanträge zu der grundsätzlichen Aussage, dass Art. 6 der Richtlinie 98/5 es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, einer Person, die für eine Eintragung nach Art.  3 qualifiziert ist, automatisch die Ausübung der Rechtsanwaltstätigkeit unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung mit der Begründung zu verweigern, dass sie sich als Person, die ein Gelübde religiösen Gehorsams abgelegt habe, per definitionem nicht in der Weise verhalten könne, die erforderlich sei, um die zur Ausübung der Rechtsanwaltstätigkeit notwendigen Garantien zu bieten.14 Schlussbetrachtungen Den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston ist insoweit beizupflichten, als dass eine automatische Disqualifikation eines Mönches – unter der Annahme, dass dieser aufgrund seiner klösterlichen Gelübde und Verhaltensregeln die Berufs- und Standesregeln eines Rechtsanwaltes grundsätzlich nicht einhalten könne – als Rechtsanwalt tätig werden zu können, nicht zulässig erscheint. In einem ihrer zwei fiktiven Beispiele, die die Generalanwältin am Ende ihrer Schlussanträge selbst anführt, setzt sich der Mönch nämlich mit seinen Kirchenoberen ins Einvernehmen und bekommt von diesen die Zusage, für seine anwaltschaftliche Tätigkeit von seinen Verpflichtungen im Kloster entsprechend befreit zu werden. Auch werde dessen berufliche Unabhängigkeit strikt beachtet. Interessanterweise setzen sich die Schlussanträge aber nicht mit der ebenso grundlegenden Frage auseinander, ob unter Umständen nicht so sehr profane – wie zB die Freistellung von klösterlichen Präsenzpflichten während der Prozessdauer – sondern vielmehr klerikale Hemmnisse für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch einen Mönch bestehen, der ja einem klösterlichen Lebenswandel (conversatio morum) unterworfen ist und eine Reihe von Gelübden abgelegt hat, von denen ihn seine Kirchenoberen nicht so ohne weiteres entbinden können. Auch hat er den Dekalog konsequenter zu beachten als seine „profanen“ Rechtsanwaltskollegen, sodass sich allein schon daraus die grundlegende Frage ergibt, wie zB ein Mönch in seiner rechtsanwaltschaftlichen Praxis bei der Bearbeitung von Streitigkei14 Schlussanträge (Fn. 1), Rdnr. 79.

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Müssen Mönche als Rechtsanwälte zugelassen werden?

ten mit einander widersprechenden Behauptungen mit einer von ihm als Beschönigung oder sogar als Lüge erkannten Aussage seines Mandanten umzugehen hat. Kann er sie, als eine strikter der Wahrheit verpflichtete Person, bewusst zugunsten seines Mandanten einsetzen, um diesen zu entlasten bzw. eine für ihn günstigere Rechtsposition zu erzielen, oder darf er das nicht? Dem in Kürze zu erwartenden Urteil des EuGH ist unter diesen Umständen mit großem Interesse entgegenzusehen. Quelle: EU-Infothek vom 4. Januar 2019, S. 15 (Artikel Nr. 17) PS: Das vorstehend angedeutete Urteil des EuGH in der Rs. C-431/17, Monachos Eirinaios gegen Dikigorikos Syllogos Athinon ist am 7. Mai 2019 ergangen (ECLI:EU:C:2019:368).

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Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019)

18. Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019) – 56 Jahre deutsch-französische Freundschaft und Partnerschaft Am 22. Jänner 1963 wurde, als wohl einer der signifikantesten Fälle eines „spill-over“, in Paris der „Élysée-Vertrag“ unterzeichnet, der die erbitterte Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland beendete und eine neue Ära der Zusammenarbeit einleitete. Allein zwischen 1870 und 1945 hatte es drei blutige Kriege zwischen diesen beiden Staaten gegeben (1870, 1914 und 1940), was zur Verstetigung und Vertiefung der ohnehin bereits seit langem vorhandenen Aversion der Franzosen gegen die Deutschen geführt hatte. Nunmehr wurde, auf Initiative Konrad Adenauers und Charles De Gaulle, die Aussöhnung durch den „Élysée-Vertrag“ besiegelt, der nicht umsonst in der Begründung für die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU am 10. Dezember 2012 ausdrücklich erwähnt wurde.1 Er errichtete zugleich aber auch die „deutsch-französische Achse“, den wichtigsten Impulsgeber der europäischen Integration. 56 Jahre später schließen beide Staaten am 22. Jänner 2019 im Krönungssaal des Aachener Rathauses neuerlich einen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration („Vertrag von Aachen“, „Traité d’Aix-la-Chapelle“), der auf den Grundlagen des „Élysée-Vertrages“ aufbaut und die durch diesen bereits erreichten Errungenschaften vertiefen soll. Wurde mit dem „Élysée-Vertrag“ ein „Vertrag der Versöhnung“ geschaffen, so geht es laut dem französischen Staatspräsidenten Macron beim „Vertrag von Aachen“ um einen „Vertrag der Konvergenz“.2 In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, wie die Verträge strukturell aufgebaut sind und wie sie zueinander stehen. In der Folge sind dann die jeweiligen Inhalte der beiden Verträge miteinander zu vergleichen. Dementsprechend sind nachstehend, und zwar in aller Kürze, die wichtig­ sten institutionellen und materiellen Strukturen des „Élysée-Vertrages“ darzustellen,3 um anschließend deren Fortentwicklung durch den „Vertrag von Aachen“ zu skizzieren. Abschließend soll untersucht werden, wie die internationalen Reaktionen auf diesen neuerlichen Schulterschluss Frankreichs und Deutschlands ausgefallen sind.

1 Siehe dazu Hummer, W. Verdient die Europäische Union den Friedensnobelpreis? in: EU-Infothek vom 23. Oktober 2012. 2 Zitiert nach Mühlauer, A. – Wernicke, C. Du willst es doch auch, Süddeutsche Zeitung, vom 23. Januar 2019, S. 3. 3 Siehe dazu bereits Hummer, W. Grundlage der „deutsch-französischen Achse“. 50  Jahre deutsch-französischer Zusammenarbeits-Vertrag (Élysée-Vertrag“), EUInfothek vom 22. Jänner 2013.

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Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019)

Der „Élysée-Vertrag“ (1963) als exemplarisches „spill-over“Phänomen Nach dem Ende des II. WK 1945 schien eine Versöhnung zwischen den erbitterten Feinden Deutschland und Frankreich zunächst unvorstellbar. Trotzdem kam es, nur 5 Jahre nach Kriegsende, auf der Basis der Vorarbeiten von Jean Monnet, am 9. Mai 1950 zur Vorlage des Schuman-AdenauerPlans, im Gefolge dessen 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS), die sogenannte Montanunion, als erste der drei Europäischen Gemeinschaften gegründet wurde. Bezweckte die EGKS noch, den kriegswirtschaftlich relevanten Sektor der Stahlindustrie unter die supranationale Verwaltung einer „Hohen Behörde“ zu stellen, um damit eine unkontrollierte Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland beeinflussen zu können,4 so verfolgte die 1957 gegründete „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) bereits die Idee der Ausbildung eines „Gemeinsamen Marktes“ zwischen ihren sechs Gründungsstaaten. Beide Integrationszonen wurden in der Erwartung eines „spill over“ gegründet, der sich auch überraschend schnell einstellen sollte. Im Gefolge der wirtschaftlichen Integrationsbemühungen kamen sich die beiden Staaten naturgemäß immer näher und am 14. September 1958 setzte der französische Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Charles de Gaulle eine einmalige historische Geste – die es für Niemanden sonst vorher oder nachher je gegeben hat – indem er den damaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer auf seinen privaten Landsitz in Colombey-les-Deux-Eglises einlud. Mit der Versöhnungsmesse am 8. Juli 1962 in der Kathedrale von Reims, dem Krönungsort der französischen Könige, machten de Gaulle und Adenauer die deutsch-französische Freundschaft öffentlich. Damit war das Eis gebrochen und es wurden zwischen beiden Staatsmännern die Weichen – neben der wirtschafts- und integrationspolitischen Ebene – auch für eine politische Annäherung beider Staaten gestellt. In Verfolg dieser Aussöhnung kam es, lediglich fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages, am 22. Jänner 1963 zur Unterzeichnung des als „Élysée-Vertrag“ bezeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit5 durch den französischen Staatspräsidenten de Gaulle, Premierminister Pompidou und Außenminister Couve de Murville sowie den deutschen Bundeskanzler Adenauer und Außenminister Schröder im Pariser Élysée-Palast. Mit der Ratifikation durch beide Vertragspartner trat dieser in der Folge am 2. Juli 1963 in Kraft. Er stellte damit einen klassischen 4 Demselben Zweck diente auch die am 23. Oktober 1954 aus dem „Brüsseler Pakt“ (1948) hervorgegangene, Ende Juni 2011 aber wieder aufgelöste, „Westeuropäische Union“ (WEU). 5 dBGBl. 1963 II, S. 707 ff.

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Vom „Élysée-Vertrag“ (1963) zum „Vertrag von Aachen“ (2019)

Anwendungsfall eines neofunktionalistischen „spill over“ dar, womit man den Umschlag von der Ebene der wirtschaftlichen Integration (EGKS, EWG, EAG) auf die Ebene engerer politischer Kooperation („Élysée-Vertrag“) bezeichnet. Es entstand damit ein weltweit einzigartiges Beziehungsnetzwerk zwischen früher verfeindeten Staaten. Die Ausgestaltung des „Élysée-Vertrages“ (1963) Dem „Élysée-Vertrag“ ist eine „Gemeinsame Erklärung“ des deutschen Bundeskanzlers und des Präsidenten der Französischen Republik über die Organisation und die Grundsätze der Zusammenarbeit6 vorangestellt, die in ihrem zweiten Erwägungsgrund auf die Überzeugung hinweist, „dass die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, welches das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet.“ Im deutschen Zustimmungsgesetz zur Gemeinsamen Erklärung und zum „Élysée-Vertrag“ vom 15. Juni 1963 wiederum wird ua auch noch da­ rauf hingewiesen, dass durch den gegenständlichen Vertrag auch das Ziel der „Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für das deutsche Volk und die Wiederherstellung der deutschen Einheit“7 befördert werden soll. Beim „Élysée-Vertrag“ handelt es sich um ein Rahmendokument, in dem vor allem die Hauptziele der deutsch-französischen Kooperation und die institutionell-prozeduralen Bestimmungen zu deren Verwirklichung festgelegt sind. Zum einen soll über regelmäßige Treffen auf allen politischen Ebenen der Zusammenarbeit ein gewisser Automatismus geschaffen und zum anderen sollen die Kooperationsfelder gebündelt und auf die wichtigsten Bereiche beschränkt werden. Um den „Élysée-Vertrag“ (1963) mit dem „Vertrag von Aachen“ (2019) inhaltlich näher vergleichen zu können, soll anschließend eine genaue Inhaltsanalyse derselben angestellt werden. Dabei wird ersichtlich, wie intensiv die gegenseitige Zusammenarbeit beider Staaten bereits 1963 konzipiert wurde. Der „Élysée-Vertrag“ ist in folgende drei Teile gegliedert: I. Organisation, II. Programm sowie III. Schlußbestimmungen.

Organisation Im Teil I. Organisation wird verfügt, dass die Staats- und Regierungschefs zur Überprüfung des vereinbarten Programms so oft es erforderlich ist, 6 dBGBl. 1963 II, S. 706. 7 dBGBl. 1963 II, S. 705.

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grundsätzlich aber mindestens zweimal jährlich, zusammentreten. Die Außenminister, die mindestens alle drei Monate zusammentreten, tragen für die Ausführung des Programms in seiner Gesamtheit Sorge. Daneben treten auch die leitenden Beamten der beiden Außenministerien allmonatlich zusammen, um die Ministersitzungen entsprechend vorzubereiten. Zuletzt kooperieren aber auch die diplomatischen Vertretungen und die Konsulate sowie die Ständigen Vertretungen beider Länder bei Internationalen Organisationen in Fragen gemeinsamen Interesses. Neben dieser Zusammenarbeit in außenpolitischen Fragen haben aber auch regelmäßige Zusammenkünfte auf den Gebieten der Verteidigung, der Erziehung und der Jugend stattzufinden. Auch bei diesen Treffen sind regelmäßig die Außenminister präsent, um die Gesamtkoordinierung der Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die Verteidigungsminister treten wenigsten einmal alle drei Monate zusammen. Im gleichen Zeitintervall treffen sich auch die beiden Erziehungsminister. Die Generalstabschefs beider Seiten treten wenigstens einmal alle zwei Monate zusammen. Der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen trifft sich wenigsten einmal alle zwei Monate mit dem französischen Hohen Kommissar für Jugend und Sport. Diese Fülle periodischer Treffen kann aber nicht nur als sinnvoller Sachzwang zur besseren inhaltlichen Abstimmung, sondern vor allem auch als „vertrauensbildende Maßnahme“ im weiteren Sinn verstanden werden, kommen sich dabei doch die zuständigen Staats- und Ministerpräsidenten, Ressortminister und leitende Ministerialbeamte persönlich näher, was zu einem Abbau unter Umständen vorhandener Vorurteile und zum Aufbau eines besseren gegenseitigen Verständnisses führt. Allein unter diesem Aspekt kann diese gemeinsame Tagungsroutine nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Programm Was den Teil II. Programm betrifft, so ist dieses in drei Sachbereiche – (1) Auswärtige Angelegenheiten, (2) Verteidigung sowie (3) Erziehungs- und Jugendfragen – schwerpunktmäßig unterteilt. (1) Im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten konsultieren sich die beiden Regierungen vor jeder Entscheidung in allen wichtigen außenpolitischen Fragen, um so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Haltung zu gelangen. Diese Konsultationspflicht betrifft ua folgende Gegenstände: Fragen der Europäischen Gemeinschaften und der europäischen politischen Zusammenarbeit; Ost-West-Beziehungen, und zwar sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich; einschlägige Abstimmungen in Internationalen Organisationen (UNO, Sonderorganisationen, NATO, Europarat, OSZE) uam. Daneben haben sich die beiden Staaten in Fragen der Entwicklungshilfe, der Wirtschafts-, Energie- und Verkehrspolitik enger abzustimmen.

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(2) Im Bereich der Verteidigung sollen deutsch-französische Institute für operative Forschung eingerichtet werden; des Weiteren soll der Personalaustausch zwischen den Streitkräften verstärkt werden; gemeinsame Rüstungsvorhaben und deren Finanzierung sind auszuarbeiten, uam. Den Verteidigungsministern, die alle drei Monate zusammentreffen, sind diesbezüglich entsprechende Vorschläge zu erstatten, zu deren Ausführung sie die notwendigen Richtlinien erlassen. Die beiden Regierungen haben darüber hinaus die Voraussetzungen zu prüfen, unter denen eine deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des zivilen Bevölkerungsschutzes hergestellt werden kann. (3) Im Bereich der Erziehungs- und Jugendfragen sollen sich die Kooperationsbemühungen vor allem auf den Sprachunterricht, die Frage der Gleichwertigkeit der Diplome und auf die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung konzentrieren. Es wird ein Austauschund Förderungswerk errichtet, das durch einen Gemeinschaftsfonds finanziert wird.

Schlußbestimmungen Im Teil III. Schlußbestimmungen verpflichten sich die beiden Staaten, die erforderlichen Anordnungen zur unverzüglichen Verwirklichung der vorstehend vereinbarten Aktivitäten zu treffen. Die beiden Regierungen werden in diesem Zusammenhang die Regierungen der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über diese Entwicklungen laufend unterrichtet halten. Die beiden Regierungen können all diejenigen Anpassungen vornehmen, die sich zur Ausführung dieses Vertrages als wünschenswert erweisen. In der Folge kam es sowohl durch einige Protokolle, als auch durch ein einschlägiges Abkommen, sowie ganz allgemein durch eine dynamische Umsetzung der vertraglichen Vorgaben, zu einer kontinuierlichen weiteren Vertiefung der Zielsetzungen des „Élysée- Vertrages“, auf die nachstehend kurz eingegangen werden soll. Die Weiterentwicklung des „Élysée-Vertrages“ Während sich in den ersten Jahren nach Vertragsschluss die deutsch-französische Beziehung hauptsächlich auf die schulpolitischen Aspekte beschränkte, begann die gelebte „Freundschaft“ mit dem Amtsantritt von Helmut Schmidt (1974–1982) und Valéry Giscard d’Estaing und führte in der Folge zu immer häufigeren Treffen zwischen den jeweiligen Staatschefs der beiden Staaten und zur Gründung einer Reihe von bilateralen Einrichtungen. Der „Élysée-Vertrag“ wurde nur ein einziges Mal durch zwei Protokolle geändert, die in Paris am 22. Jänner 1988 zum 25-jährigen Bestehen des Vertrages unterzeichnet wurden und deren geistige Väter Bundeskanzler Hel-

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mut Kohl und Präsident François Mitterand waren. Zum einen handelte es sich dabei um das Protokoll über den „Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ und zum anderen um das Protokoll zum „Deutsch-Französischen Finanz- und Wirtschaftsrat“. Der „Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ ist aus den Staats- und Regierungschefs sowie den Außen- und Verteidigungsministern beider Staaten zusammengesetzt, an dem auch der Generalinspekteur der Bundeswehr und der Generalstabschef der französischen Streitkräfte teilnehmen. Das „Ratskomitee“ besteht aus den Außen- und Verteidigungsministern und wird vom „Deutsch-Französischen Ausschuss für Verteidigung und Sicherheit“ unterstützt. Sitz des Sekretariates beider Einrichtungen ist Paris. Dem „Deutsch-Französischen Finanz- und Wirtschaftsrat“ hingegen gehören die Minister der Finanzen und für Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, der Wirtschafts- und Finanzminister der Französischen Republik sowie die Präsidenten der beiden Zentralbanken an. Der Rat tritt viermal im Jahr zusammen und berichtet dem deutschen Bundeskanzler, dem Präsidenten der Französischen Republik sowie dem Premierminister der französischen Regierung über seine Tätigkeit. Im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung 1989/1990, die die Bundesrepublik zur nunmehr eindeutig stärksten Wirtschaftsmacht in Europa erstarken ließ, geriet der deutsch-französische Motor ins Stottern und musste wieder neu angeworfen werden. Dies geschah durch den Abschluss des sog. „Blaesheim-Abkommen“8 am 31. Jänner 2001, in dem es zu einer Neuausrichtung des deutsch-französischen Kooperationsprozesses und der Einführung weiterer Diskussionsbereiche, wie zB Fragen der Erweiterung der EU, Konkretisierung der Beitrittsbedingungen, Gemeinsame Agrarpolitik uam kam. Die wohl wichtigste Vereinbarung im Rahmen dieser Übereinkunft war aber die Etablierung der sog „Blaesheim-Treffen“, einer informellen Zusammenkunft des deutschen Bundeskanzlers mit dem französischen Staatspräsidenten in unregelmäßigen Abständen. Das erste Treffen fand am 31. Jänner 2001 statt und in der Folge traf man sich alle sechs bis acht Wochen, wobei die Zusammenkünfte in kleinstem Kreis und ohne feste Tagesordnung abgehalten werden. Neben der wirtschaftlichen Dominanz des wiedervereinigten Deutschlands war den Franzosen aber auch die Stärke der deutschen Währung, nämlich der DM – die die des französischen Francs bei weitem übertraf – ein steter Dorn im Auge. Präsident Mitterand griff in diesem Zusammenhang zu einem genialen Trick, indem er die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung, die Frankreich in einer Reihe von internationalen Gremien 8 Blaesheim ist eine elsässische Ortschaft, die bewusst für die Begründung des sog. „Blaesheimer-Prozesses“ gewählt wurde, da sich in ihr am 19. Juli 1977 Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt im Hotel Au Boeuf erstmals inoffiziell trafen.

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ohne Weiteres hätte behindern oder zumindest verzögern können, mit der Überlegung junktimierte, dass es wohl sinnvoll sei, im Rahmen der europäischen Integration auch eine gemeinsame Währung einzuführen, und diesen Plan auch Bundeskanzler Kohl besonders ans Herz legte. Helmut Kohl blieb unter diesen Voraussetzungen – es war auch nicht klar, wie lange das Zeitfenster für eine deutsche Wiedervereinigung überhaupt offen stehen würde, sodass die Zeit drängte – nichts anderes übrig, als auf die DM, die in der Bundesrepublik geradezu als „identitätsstiftend“ empfunden wurde, als Landeswährung zu verzichten und diese in einer neuen gemeinsamen Währung, nämlich dem Euro, aufgehen zu lassen.9 Damit hatten die Franzosen erreicht, was sie wollten: die Deutschen verloren ihre überaus dominante Währung, die DM, und besicherten – nolens volens – den Aufbau der gemeinsamen Währung, den EURO. In der Gemeinsamen Erklärung zum 40-jährigen Jubiläum der Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“ vom 22. Januar 2003 wurde beschlossen, die seit 1963 halbjährlich stattfindenden Regierungskonsultationen künftig in Form von gemeinsamen Ministerräten abzuhalten. Dementsprechend tagte auch zum ersten Mal ein gemeinsamer „Deutsch-Französischer Ministerrat“10 und es fand auch eine erste gemeinsame Sitzung des deutschen Bundestages mit der französischen Nationalversammlung in Versailles statt, die ein weltweit singuläres Ereignis darstellte. Die „Deutsch-Französischen Ministerräte“ finden jeweils im Frühjahr und im Herbst, abwechselnd in Deutschland und in Frankreich, statt. Ebenso wurde beschlossen, den 22. Januar, den Tag der Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“, in beiden Ländern als „Deutsch-Französischen Tag“ zu begehen. Zum 50-jährigen Gedenken wurde am 22. September 2012 von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Hollande 2013 als „Deutsch-Französisches Jahr“ ausgerufen und zwar sowohl auf offizieller, als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene, und durch eine Reihe gemeinsamer Programme und Veranstaltungen umgesetzt. 9 Am 3. Mai 1998 kam es im Rat zur Festlegung derjenigen elf Staaten, die die Konvergenzkriterien erfüllten und daher zum 1. Jänner 1999 in die dritte Stufe der WWU eintreten konnten. Mit 1. Jänner 1999 trat der Euro aber nur als Buch- oder Giralgeld an die Stelle der nationalen Währungen der damaligen zwölf (Griechenland folgte 2001 nach) Mitgliedstaaten. Erst Anfang 2002 löste der Euro die nationalen Währungen als effektives Bargeld ab. 10 Die Vorbereitung derselben obliegt den „Beauftragten“ für die Deutsch-Französische Zusammenarbeit, die persönlich beim Bundeskanzler/Premierminister angesiedelt sind und über geeignete Strukturen im Außenministerium verfügen. Sie sind gleichzeitig Staatsminister für europäische Angelegenheiten bzw. Staatsminister für Europa; vgl. Loiseau, N. – Roth, M. Die Beauftragten für die Deutsch-Französische Zusammenarbeit; https://www.france-allemagne.fr/Die-Beauftagten-fur-dieDeutsch,1004.html

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Am 22. Jänner 2013, anlässlich der 50-Jahr–Feier der Unterzeichnung des „Élysée-Vertrages“, fand im Reichstagsgebäude zum zweiten Mal eine gemeinsame Sitzung der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestags statt, in der es erstmals auch eine einstündige Aussprache der Abgeordneten gegeben hat. Für Andreas Schockenhoff (CDU), den Vorsitzenden der deutsch-französischen Parlamentarierdelegation, ist diese gemeinsame Sitzung der beiden Parlamente einzigartig: „Ich kenne weltweit kein anderes Beispiel dafür“11. In der Folge kam es zu einer Reihe von Reformvorstößen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, die aber aufgrund der innenpolitischen Schwächung der deutschen Bundeskanzlerin nicht entsprechend aufgenommen und umgesetzt werden konnten. Schließlich wurde aber auch Staatspräsident Macron durch die anhaltenden Proteste der „GelbwestenBewegung“ („gilets jaunes“) delegitimiert und innenpolitisch stark angeschlagen.12 Am 26. September 2017 hatte Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede zur Zukunft Europas an der Sorbonne-Universität die Notwendigkeit einer weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit in Europa betont,13 wobei er erklärte, dass er einen neuen Freundschaftsvertrag mit der Bundesrepublik Deutschland – als ein „Zeichen von Stabilität und ein Symbol gegen die Krisen in der EU“14 – schließen möchte. In der Folge vereinbarte er im Jänner 2018, anlässlich des 55. Jahrestages des „Élysée-Vertrages“, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ausarbeitung eines solchen. Am 10. Mai 2018 bekam Macron für seine Verdienste um die europäische Einigung in Aachen den Karlspreis verliehen, wobei Angela Merkel die Laudatio hielt. Trotzdem blieb die Reaktion auf die französischen Initiativen in der Bundesrepublik eher verhalten. Vor allem der Vorschlag Macrons einer stärker integrierten Euro-Zone mit einem gemeinsamen Haushalt begegnete in Berlin großer Skepsis. So kursierte noch im Dezember 2018 lediglich ein bescheidener Entwurf eines neuen deutsch-französischen Kooperationsvertrages, der nicht mehr als sechs Seiten lang und noch dazu auf Englisch verfasst war und ganz offensichtlich den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen beiden Nachbar-

11 Vgl. Burgert, J. Élysée-Vertrag – Wiedersehen in Berlin, Das Parlament Nr. 01-03 2013, vom 2. Januar 2013; http://www.das-parlament.de/2013/01-03/Themenausga be/42263629.html 12 Vgl. Devčić, J. – Fislage, F. Die „Gelbwesten“ in Frankreich: Gelbe Karte für Macron?, KAS Analysen & Argumente, Nr. 337, Januar 2019. 13 Merkel und Macron: Neuer Freundschaftsvertrag in Aachen, welt.de vom 8. Januar 2019; https://www.welt.de/regionales/nrw/article186767900/Merkel-und-MacronNeuer-Freundschaftsvertrag-in-Aachen.html 14 https://jura-online.de/blog/2019/01/25/vertrag-von-aachen-merkel-und-macronbesieg...

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staaten darstellte.15 In der Folge wurden die Verhandlungen aber intensiviert und mündeten schon nach wenigen Wochen am 22. Jänner 2019 in den Abschluss des „Vertrages von Aachen“. Weltweit gibt es kein vergleichbares Abkommen zwischen zwei Ländern mit einer dermaßen intensiven politischen Zusammenarbeit. Der „Vertrag von Aachen“ (2019) als Ergänzung des „Élysée-Vertrages“ (1963) In Ergänzung zum 56 Jahre zuvor ausgearbeiteten „Élysée-Vertrag“ ist der „Vertrag von Aachen“ über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration vom 22. Jänner 201916 meritorisch umfassender ausgestaltet und deckt eine Fülle weiterer spezieller Kooperationsgebiete zwischen Frankreich und Deutschland ab. Wenngleich einige der Zielsetzungen nicht ganz neu sind, so sind sie noch nie so explizit formuliert worden. Gem. seinem Art. 27 „ergänzt“ der „Vertrag von Aachen“ den „Élysée-Vertrag“ iSv dessen Abs. 4 der Schlussbestimmungen, der – wie vorstehend bereits erwähnt – verfügt, dass die beiden Regierungen „die Anpassungen vornehmen können, die sich zur Ausführung dieses Vertrages als wünschenswert erweisen“. Der „Vertrag von Aachen“ besteht aus 28 Artikeln, denen eine breite Präambel vorangestellt ist, in der eingangs darauf hingewiesen wird, dass der „Élysée-Vertrag“ zur historischen Errungenschaft der Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk „einen außerordentlichen Beitrag geleistet hat“. Des Weiteren wird darin festgestellt, dass es an der Zeit ist, die bilateralen Beziehungen – mit dem Ziel, die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften und ihrer Sozialmodelle zu erhöhen, die kulturelle Vielfalt zu fördern und ihre Gesellschaften und ihre Bürgerinnen und Bürger enger zusammenzubringen – auf „eine neue Stufe zu heben“. Auch wird ua die Überzeugung betont, „dass die enge Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich für eine geeinte, leistungsfähige, souveräne und starke Europäischen Union entscheidend gewesen ist und ein unverzichtbares Element bleibt.“ Der aus 28 Artikel bestehende „Vertrag von Aachen“ ist in folgende sieben Kapitel eingeteilt: Kap. 1 „Europäische Angelegenheiten“ (Art. 1 bis 2): In Art. 1 verpflichten sich die beiden Staaten zu einer vertieften Zusammenarbeit in der Europapolitik und setzen sich dementsprechend für eine wirksame und starke Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein. Sie stärken und vertiefen die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), bemühen sich um die Vollendung des Binnenmarkts, wirken auf eine wettbewerbsfähige, sich 15 Meister, M. Zurück in die Zukunft, Welt am Sonntag, vom 20. Januar 2019, S. 5. 16 https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1570126/c720a7f2e1a0128 050baaa6a16b760f7/2019-01-19-vertrag-von-aachen-data.pdf

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auf eine starke industrielle Basis stützende, Union hin, und fördern so die wirtschaftliche, steuerliche und soziale Konvergenz sowie die Nachhaltigkeit in allen ihren Dimensionen. In Art. 2 verpflichten sich die Vertragspartner, vor großen europäischen Treffen regelmäßig Konsultationen auf allen Ebenen abzuhalten, um damit gemeinsame Standpunkte herzustellen und gemeinsame Äußerungen der zuständigen Minister herbeizuführen. Ebenso stimmen sie sich bei der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben in ihr natio­nales Recht ab. Kap. 2 „Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ (Art. 3 bis 8): Gem. Art. 3 vertiefen die beiden Staaten ihre Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung und wirken zugleich auf eine Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln. In Anbetracht ihrer Verpflichtungen zur kollektiven Selbstverteidigung nach Art.  5 NATO-Vertrag (1949) und nach Art. 42 Abs. 7 EUV nähern die beiden Staaten, in der Überzeugung, dass ihre Sicherheitsinteressen untrennbar miteinander verbunden sind, ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Zielsetzungen und Strategien einander zunehmend an und stärken so auch die Systeme kollektiver Sicherheit, denen sie angehören. Dementsprechend leisten sie einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein (Art. 4 Abs. 1). Des Weiteren unterstützen sie die engstmögliche Zusammenarbeit zwischen ihren Verteidigungsindustrien und entwickeln bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte (Art. 4 Abs. 3). Beide Staaten richten auch den „Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ als politisches Steuerungsorgan für diese beiderseitigen Verpflichtungen ein, der regelmäßig auf höchster Ebene zusammentreten wird (Art. 4 Abs. 4). Gem. Art. 5 weiten beide Staaten ihre Zusammenarbeit zwischen ihren Außenministerien, einschließlich ihrer diplomatischen und konsularischen Vertretungen, aus. Sie werden auch Austauschprogramme zwischen ihren Ständigen Vertretungen bei den VN, der NATO und der EU einrichten. Im Bereich der inneren Sicherheit verstärken die Regierungen beider Staaten ihre bilaterale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität sowie im Bereich der Justiz, der Nachrichtendienste und der Polizei (Art. 6). Gem. Art. 7 setzen sich die beiden Staaten für eine immer engere Partnerschaft zwischen Europa und Afrika ein und richten dazu einen jährlichen Dialog auf politischer Ebene im Bereich der internationalen Entwicklungspolitik ein. Im Bereich der VN werden beide Staaten in allen Organen eng zusammenarbeiten und ihre Positionen eng abstimmen, auch als Teil breiter angelegter Bemühungen für eine Abstimmung der dem Sicherheitsrat der VN angehörigen Mitgliedstaaten der EU (Art. 8 Abs. 1). Gem. Art. 8 Abs. 2 ist „die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der VN eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie“.

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Kap. 3 „Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität“ (Art.  9 bis 12): In diesem Kapitel geht es vor allem um den Ausbau des „Deutsch-Französischen Jugendwerks“ (Art. 9), der besseren Verzahnung der Bildungssysteme durch die Förderung der Partnersprache, der gegenseitigen Anerkennung von Schulabschlüssen sowie der Einrichtung integrierter deutsch-französischer dualer Studiengänge (Art. 10). Gem. Art. 11 werden die beiden Vertragspartner die „Deutsch-Französische Hochschule“ weiter entwickeln und ihre Hochschulen anregen, sich an Netzwerken Europäischer Hochschulen zu beteiligen. In Art. 12 ist die Einrichtung eines gemeinsamen Bürgerfonds vorgesehen, der Bürgerinitiativen und Städtepartnerschaften fördern und unterstützen soll. Kap. 4 „Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ (Art. 13 bis 17): In Anerkennung der Bedeutung grenzüberschreitender Zusammenarbeit statten beide Staaten die Gebietskörperschaften der Grenzregionen sowie grenzüberschreitende Einheiten wie Eurodistrikte mit angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und beschleunigten Verfahren aus, um Hindernisse bei der Umsetzung grenzüberschreitender Vorhaben zu überwinden (Art. 13 Abs. 2). Gem. Art. 14 richten beide Staaten einen „Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ ein, der Interessenträger wie nationale, regionale und lokale Gebietskörperschaften, Parlamente und grenzüberschreitende Einheiten, wie Eurodistrikte und Euroregionen, und alle Aspekte der grenzüberschreitenden Raumbeobachtung umfasst. Beide Staaten sind dem Ziel der Zweisprachigkeit in den Grenzregionen verpflichtet und unterstützen die dortigen Stellen bei ihren Bemühungen, diesbezüglich geeignete Strategien zu entwickeln und umzusetzen (Art.  15). Gem. Art. 16 erleichtern beide Staaten die grenzüberschreitende Mobilität, indem sie die zwischen ihnen bestehenden digitalen und physischen Netze, unter anderem die Eisenbahn- und Straßenverbindungen, besser miteinander verknüpfen. Beide Staaten regen aber auch zur dezentralisierten Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften an, die nicht an der Grenze liegen (Art. 17). Kap. 5 „Nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten“ (Art. 18 bis 22): Gem. Art. 18 arbeiten beide Staaten da­ rauf hin, den Prozess der Durchführung mehrseitiger Übereinkünfte in den Bereichen der nachhaltigen Entwicklung, der globalen Gesundheit sowie des Umwelt- und Klimaschutzes, insbesondere das Übereinkommen von Paris vom 12. Dezember 2015 und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der VN, zu stärken. In Art. 20 Abs. 1 ist die Vertiefung der Inte­ gration beider Volkswirtschaften, hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln, gefordert. Der „Deutsch-Französische Finanz- und Wirtschaftsrat“ fördert die bilaterale Rechtsharmonisierung, um so die Konvergenz zwischen beiden Staaten zu befördern und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu verbessern. Abs.  2 sieht die Einrichtung eines deutsch-französischen „Rates der Wirtschaftsexper-

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ten“ vor, der sich aus zehn unabhängigen Fachleuten zusammensetzt und das Ziel verfolgt, ihren jeweiligen Regierungen wirtschaftspolitische Em­ pfehlungen zu unterbreiten. Um sich mit Transformationsprozessen in ihren Gesellschaften auseinanderzusetzen, werden Interessenträger und einschlägige Akteure in einem deutsch-französischen „Zukunftswerk“ zusammengebracht. Kap. 6 „Organisation“ (Art. 23 bis 26): Gem. Art. 23 finden mindestens einmal jährlich Treffen zwischen den Regierungen beider Staaten statt und der „Deutsch-Französische Ministerrat“ verabschiedet eine mehrjährige Vorhabenplanung für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Mindestens einmal im Quartal nimmt ein jeweils wechselndes Mitglied der Regierung eines der beiden Staaten an einer Kabinettssitzung des anderen Staates teil (Art. 24). Die Räte, Strukturen und Instrumente der deutsch-französischen Zusammenarbeit werden regelmäßig überprüft, wobei die erste Überprüfung innerhalb der ersten sechs Monate nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages stattfinden soll (Art. 25). Gem. Art. 26 können Vertreter der Länder und der französischen Regionen sowie des Ausschusses für grenzüberschreitende Zusammenarbeit eingeladen werden, am „Deutsch-Französischen Ministerrat“ teilzunehmen. Kap. 7 „Schlussbestimmungen“ (Art. 27 bis 28): Der Vertrag von Aachen ergänzt den „Élysée-Vertrag“ iS des Abs. 4 der Schlussbestimmungen jenes Vertrages (Art.  27). Gem. Art.  28 unterrichten beide Staaten einander auf diplomatischem Weg von der Erfüllung der erforderlichen innerstaatlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten dieses Vertrages. Der Vertrag tritt am Tag des Eingangs der letzten Notifikation in Kraft. Vergleich beider Verträge Trotz ihrer völlig unterschiedlichen Ausgangslagen – während der „ÉlyséeVertrag“ (1963) durch eine enge Zusammenarbeit vor allem einen Beitrag zur historischen Versöhnung zwischen den beiden verfeindeten Nachbarn Deutschland und Frankreich zu leisten versucht hat, ist der „Vertrag von Aachen“ (2019) als weiteres Bekenntnis zu einem starken, zukunftsfähigen und souveränen Europa zu qualifizieren – hängen die beiden Verträge inhaltlich engstens zusammen. Wie vorstehend erwähnt, versteht sich der „Vertrag von Aachen“ gem. seinem Art. 27 expressis verbis als „Ergänzung“ des „Élysée-Vertrages“ – der seine volle Geltung behält – enthält aber auch, neben der Erneuerung alter Bekenntnisse zur bilateralen Zusammenarbeit, eine Reihe weiterer Kooperationsabsichten auf den Gebieten der Verteidigung, Sicherheit, Rüstung, Wirtschaft, Umwelt und Kultur. Konkret sind diesbezüglich im „Vertrag von Aachen“ vor allem die Bekenntnisse zur Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Wunsch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN, die Vertiefung der Zusammenarbeit von Grenzregionen, die Zusammenarbeit der organi-

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sierten Zivilgesellschaft beider Länder, die nähere Ausgestaltung der Europäischen Verteidigungsunion, die enge Partnerschaft mit Afrika, die Förderung des gegenseitigen Spracherwerbs, die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen, die Errichtung eines gemeinsamen Bürgerfonds uam, verankert. In einer Zeit der Polykrise in der EU17 ist es mehr als hilfreich, wenn die beiden wichtigsten Mitgliedstaten der EU ihren Willen zur Zusammenarbeit noch einmal bekräftigen und den zur Zeit stotternden Motor der europäischen Integration, nämlich die „deutsch-französische Achse“, wieder auf Hochtouren zu bringen versuchen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte anlässlich der Unterzeichnungszeremonie des „Élysée-Vertrages“ in diesem Zusammenhang fest, dass „die deutsch-französische Freundschaft kein Gedicht, sondern Realität und vor allem eine Notwendigkeit ist“.18 Reaktionen Die Reaktionen auf den „Vertrag von Aachen“ fielen durchaus unterschiedlich aus. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit niemandem ausschließt, sondern stark in eine europäische Perspektive eingebettet ist, „sodass das deutsch-französische Tandem als Ideenschmiede und Motor für die europäische Dynamik dienen kann“,19 was sich ua auch darin manifestiert, dass diesbezüglich auf eine Reihe wichtiger Kooperationen verwiesen werden kann, wie zB auf mehr als 2.200 Städtepartnerschaften,20 180 akademische Austauschprogramme, Kooperationen von Forschungseinrichtungen und einen regen Austausch junger Menschen, allein von 8. Mio. über das „Deutsch-Französische Jugendwerk“.21 Zum anderen wird aber auf das Fehlen wirklich großer Projekte und Ziele verwiesen, ebenso wie auch erwähnt wird, dass nirgendwo im Vertrag Engagement und Enthusiasmus zu erkennen sind.22 Kritik kam auch von den 17 Vgl. Hummer, W. Die Europäische Union – ein Sanierungsfall?, in: Halper, D. – Kammel, A. (Hrsg.), Quergedacht, Werner Fasslabend zum 70. Geburtstag (2014), S. 367 ff; Hummer, W. Von der Krisenbewältigung zur Bestandssicherung der Europäischen Union, EU-Infothek vom 7. März 2017. 18 Juncker zum Aachener Vertrag: Deutsch-französische Freundschaft „ist eine Notwendigkeit“; https://ec.europa.eu/germany/news/20190122-juncker-aachen_de 19 Loiseau, N. – Roth, M. Die Beauftragten für die Deutsch-Französische Zusammenarbeit; https://www.france-allemagne.fr/Die-Beauftragten-fur-die-Deutsch,1004.html 20 Vgl. dazu Marchetti, A. – Lerch, P. – Piepenschneider, M. (Hrsg.), Städte- und Gemeindepartnerschaften. Stukturen – Praxis – Zukunft in deutsch-französischer Perspektive, KAS Kommunalpolitik, Bd. 26. 21 Meister, M. Zurück in die Zukunft, Welt am Sonntag, vom 20. Januar 2019, S. 5. 22 Rásonyi, P. Deutsch-französische Freundschaft ist immer gut; https://www.nzz.ch/ international/deutsch-franzoesische-freundschaft-ist-immer-gut-ld.1453768?mktcid= nled&mktcval=107&kid=_2019-1-23

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deutschen Grünen. „Das, was in Aachen beschlossen wurde, ist eine Zusammenarbeit auf Sparflamme“, sagte der Bundestagsfraktionschef der Grünen, Anton Hofreiter. Vor allem das Kanzleramt habe viele Reformhoffnungen ausgebremst. „Sowohl Präsident Emmanuel Macron als auch der Deutsche Bundestag und das französische Parlament wären zu einer weit engeren Zusammenarbeit und ambitionierten Zielen, beispielsweise beim Klimaschutz, bereit gewesen“, stellte Hofreiter fest.23 Von der extremen Rechten in Frankreich wird mit Verschwörungstheorien Stimmung gegen den „Vertrag von Aachen“ gemacht. Die Vorsitzende des „Rassemblement National“ (RN), Marine Le Pen, sprach davon, dass dieser Vertrag „einem Verrat an Frankreich“ und einem „Ausverkauf“ Frankreichs gleichkomme, da im Elsass und in Lothringen „bald wieder die Deutschen das Sagen haben werden“. Auch innerhalb der Protestbewegung „Gilets jaunes“ kursiert die (faktenfreie) Behauptung, Macron übergebe damit die Grenzregion Elsass-Lothringen an die Deutschen.24 Der französische Abgeordnete zum Europäischen Parlament, Bernard Monot, twitterte ebenso: „Wie Judas wird Herr Macron das Elsass und Lothringen an eine fremde Macht ausliefern“25 und meinte dazu gar, „dass die Verwaltungssprache der Grenzregionen nunmehr Deutsch werde“.26 Le Pen verkündete des Weiteren auch (fälschlicherweise), „dass Macron erwäge, den ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN mit Deutschland zu teilen“27, obwohl – wie vorstehend erwähnt – in Art. 8 Abs. 2 des Aachener Vertrages nur steht, dass die Aufnahme der Bundesrepublik als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der VN „eine Priorität der deutsch-französischen Diplomatie ist“.28 In der Bundesrepublik wiederum äußerte die AfD die Befürchtung, dass es Frankreich vor allem auf deutsches Geld abgesehen habe.29 23 Hofreiter: Abkommen ist Zusammenarbeit auf Sparflamme, welt.de vom 22. Januar 2019; https://www.welt.de/regionales/nrw/aericle187490210/hofreiter-Abkommenist-zusammenarbeit-auf-Sparflamme.html 24 Grimm, O. Merkel und Macron trippeln Adenauer und de Gaulle hinterher, Die Presse vom 23. Jänner 2019, S. 4. 25 Zitiert bei Brändle, S. Nationalismen, Fake-News und Morallektionen, Der Standard, vom 24. Jänner 2019, S. 3. 26 Brändle, S. Im Gleichschritt, aber nicht immer und überall, Der Standard vom 22. Jänner 2019, S. 3. 27 Wiegel, M. Ist das Elsass bald deutsch?; https://www.faz.net/aktuell/politik/aus land/aachener-vertrag-die-aengste-vor-einem-a... 28 Laut Gehler, M. Ein verheißungsvoller Neustart für Europa?, Wiener Zeitung vom 18. Jänner 2019, S. 16 ist damit „die Absicht, den ständigen Sitz Frankreichs in einen EU-Sitz umzuwandeln, ad acta gelegt“. Als Internationaler Organisation steht der EU in der staatengetragenen UNO aber ohnehin keine Mitgliedschaft offen, sodass die EU in den VN lediglich über einen „erweiterten Beobachterstatus“ in der Generalversammlung der VN verfügt; vgl. dazu Hummer, W. Hybride Rechtsstellung der Europäischen Union in der UNO, ecolex 2011, S. 675 ff. 29 Nachbarn im Gleichklang, Wiener Zeitung vom 22. Jänner 2019, S. 4.

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Tschechiens Ex-Präsident Václav Klaus wiederum sprach von einem „Geheimvertrag über den faktischen Zusammenschluss Frankreichs und Deutschlands“, zu dem die Bürger nicht befragt worden wären. Provokant fragte er auch „ob es Frankodeutschland gelingen werde, Europa zu beherrschen“, da zu befürchten ist, dass ein „paralleles Integrationsprojekt zur EU“ iSe neuen „Superstaats“ entsteht, in dem auf Bremser keine Rücksicht mehr genommen werden müsse. Auch hält Klaus die Pläne für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin im Bereich der Verteidigung für beunruhigend.30 Resumierend stellt Klaus fest: „Es hat schon etwas Morbides: Der Präsident mit der niedrigsten Zustimmung in der Geschichte Frankreichs und eine Kanzlerin, die ihren definitiven Abschied aus der Politik bereits verkündet hat, schließen einen Regierungsvertrag, der genauso wenig Zukunft hat wie sie selbst als Politiker“.31 Betrachtet man den „Vertrag von Aachen“ sine ira et studio dann muss man feststellen, dass er den Versuch darstellt, in Zeiten abnehmender Inte­ grationsintensität – vor allem aufgrund innenpolitischer Probleme in Deutschland und Frankreich – die Zusammenarbeit dieser beiden Staaten wieder zu intensivieren. Dass er sich dabei als „Ergänzung“ des „ÉlyséeVertrages“ bezeichnet, ist signifikant, soll damit doch der Eindruck erweckt werden, dass er nur fortführen und dynamisieren will, was in den letzten 50 Jahren im Bereich der europäischen Integration dank der „deutsch-französischen Achse“ alles entstanden ist. Quelle: EU-Infothek vom 4. Februar 2019, S. 1 – 11 (Artikel Nr. 18) PS: Die Parlamentskooperation war bisher ein Stiefkind der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Mit der Gründung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) im März 2019 wurde diese Lücke geschlossen. Die DFPV beansprucht für sich die „Förderung der Integration der EU in allen Bereichen“, es gelang ihr aber nicht, für die in Art. 13 Abs. 2 des Aachener Vertrages (2019) geschaffenen Möglichkeiten von Ausnahmeregelungen eine besondere Zuständigkeit zu erhalten.32 Der ambitionierteste Plan der DFPV ist die gemeinsame Umsetzung von EU-Richtlinien, der aber eine Reihe von Problemen aufwirft. Im Übrigen ist die DFPV nicht die erste Form strukturierter Zusammenarbeit nationaler Parlamente, wie die Beispiele des Nordischen Rates (1952),33 der Baltischen Versammlung (1991) und der Interparlamentarischen Versammlung BENELUX (2015) zeigen. 30 Tschechiens Ex-Präsident spricht von „Geheimvertrag“, spiegel.de vom 22. Januar 2019; http://www.spiegel.de/politik/ausland/vertrag/-von-aachen-vaclav-klaus-kri tisiert-gehe... 31 „Geheimvertrag“ von Aachen: Der Anfang vom Ende der EU?; https://friedlicheloesungen.org/en/feeds/geheimvertrag-von-aachen-anfang-vom-ende... 32 Vgl. Demesmay, C. – Seidendorf, S. Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung – Ein Schritt zur Europäisierung der Parlamente?, integration 2/2021, S. 107 f.; vgl. auch Risse, H. Die Deutsch-Französische Parlamentarische Zusammenarbeit, DVBl. 14/2020, S. 925 ff. 33 Siehe dazu Artikel Nr. 31, nachstehend auf S. 391 ff.

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INSTEX, die tripartite Zweckgesellschaft zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran

19. INSTEX, die tripartite Zweckgesellschaft zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich schaffen eine „Tauschbörse“, um damit den EU-Iran-Handel zu ermöglichen und zugleich den US-Dollar zu schwächen Einmal mehr sorgt der amerikanische Präsident Donald Trump mit der Aufkündigung eines wichtigen Vertrages für große Verwirrung. Anfang Mai 2018 erklärte er den Austritt der USA aus der sog. „Wiener Nuklearvereinbarung“ vom Juli 2015, mittels derer sich die E3/EU+3-Staaten und der Iran nach mehrjährigen intensiven Verhandlungen auf eine langfristige Lösung des Nuklearstreits geeinigt hatten, und kündigte die Verhängung weiterer Sanktionen gegen den Iran, vor allem aber auch dessen Ausschluss aus dem „SWIFT-System“, an. Gleichzeitig drohte er all jenen Unternehmen in der EU mit Strafmaßnahmen, die weiterhin Geschäfte mit iranischen Unternehmen machen würden. Um dem Iran den durch die US-Sanktionen entstandenen Devisenausfall zu kompensieren und ihn damit weiterhin zu veranlassen, seine Verpflichtungen aus der „Wiener Nuklearvereinbarung“ einzuhalten, erklärten sich die E3/EU+3-Staaten ihrerseits dazu bereit, eine eigene „Zweckgesellschaft“ zur Ermöglichung eines legitimen Handels mit dem Iran zu gründen. Diese sollte eine Art „Tauschbörse“ darstellen, mittels derer die Lieferungen iranischer und europäischer Exporteure miteinander verrechnet werden können, ohne dass es dabei zum Einsatz von US-Dollars kommen müsste. Seitens der USA wurde die Errichtung dieser Zweckgesellschaft als Instrument zur Umgehung seines Embargos gegen den Iran gesehen und dementsprechend beeinsprucht. Für die E3/EU+3-Staaten geht der Erhalt des Atomabkommens mit dem Iran offensichtlich dem Beibehalt ungestörter transatlantischen Beziehungen mit den USA vor. Auf diese komplexe Problemlage soll anschließend in aller Kürze eingegangen werden. Die „Wiener Nuklearvereinbarung“ (2015) Um den ausschließlich friedlichen Charakter des Nuklearprogramms des Iran sicherzustellen, ergingen zum einen seit 2006 eine Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrates (SR) der Vereinten Nationen (VN)1, und zum anderen wurde von einer Gruppe von Staaten eine entsprechende Verhandlungslösung angestrebt. Dabei handelte es sich um die E3 (Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich) bzw. die EU+3 (Hohe Vertreterin der EU für die GASP, China, die Russische Föderation und die USA), 1 SC-Res. 1696 (2006), 1737 (2006), 1747 (2007), 1803 (2008), 1835 (2008), 1929 (2010), und 2224 (2015), aufgehoben durch SC-Res. 2231 (2015) vom 20. Juli 2015 (S/ RES/2231 (2015)).

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die eine umfassende, langfristige und angemessene Lösung der iranischen Nuklearfrage herbeizuführen versuchten. Nach mehr als zwölf Jahren zäher Verhandlungen einigten sich die E3/EU+3 und die Islamische Republik Iran am 14. Juli 2015 in Wien auf einen „Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan“ („Joint Comprehensive Plan of Action“) (JCPoA),2 die sog. „Wiener Nuklearvereinbarung“, die vom SR der VN durch die einstimmig angenommene Res. 2231 (2015) vom 20. Juli 2015 ausdrücklich begrüßt und gebilligt wurde. In ihr bekräftigt der Iran, dass er unter keinen Umständen jemals Kernwaffen anstreben, entwickeln oder erwerben wird. Im Gegenzug zu strengen Auflagen und genauen Transparenzverpflichtungen für seine Nuklearaktivitäten sieht der JCPoA vor, die gegen den Iran verhängten Sanktionen der VN zu lockern, sie allerdings – im Falle eines Verstoßes – wieder rasch in Kraft treten zu lassen (sog. „snap back“-Mechanismus“). Bisher hat die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in ihren Quartalsberichten aber stets bestätigt, dass sich der Iran an die vertraglichen Vorgaben hält.3 Dementsprechend wurden auch am sog. Implementation Day, dem 16. Jänner 2016, die Sanktionen gegen das iranische Atomprogramm – diese betrafen neben den Sanktionen der VN und der EU auch die extraterritorial wirkenden US-Wirtschafts- und Finanzsanktionen – aufgehoben. Das bilaterale US-Embargo gegen den Iran – Ausnahmen bestehen dabei für Flugzeuge, Lebensmittel und Teppiche – sowie Listungen wegen Terrorunterstützung und Menschenrechtsverletzungen seitens der VN, der EU und der USA, bleiben aber bestehen. Am 8. Mai 2018 erklärte der amerikanische Präsident Donald Trump den Austritt der USA aus der „Wiener Nuklearvereinbarung“ vom 14. Juli 2015, was von der Hohen Vertreterin der EU für die GASP im Namen der EU mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen wurde. Dieser Erklärung der Hohen Vertreterin schlossen sich auch die Kandidatenstaaten Türkei, das jetzige „Nordmazedonien“4, Montenegro, Serbien und Albanien sowie Bosnien & Herzegowina und die beiden EWR-Staaten Liechtenstein und Norwegen, an.5 In der Folge verhängten die USA eine Reihe von Sanktionen gegen den Iran, von denen der IGH mit seiner einstimmig verabschiedeten einstweili-

2 S/2015/544, zugleich Anlage A der S/RES/2231 (2015), S. 8/107 ff. 3 Die Wiener Nuklearvereinbarung über das iranische Atomprogramm, Auswärtiges Amt.de vom 30. April 2018; https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/ regionaleschwerpunkte/nahermittlererosten/wiener-nuklearvereinbarung-atompro gramm-iran/2... 4 Vgl. Hummer, W. Die Lösung des Namensstreits zwischen Mazedonien und Griechenland scheint zu scheitern. Damit wäre eine singuläre Chance vertan, die „Westbalkanstrategie“ der EU zu befördern, EU-Infothek vom 17. Oktober 2018, S. 1 ff. 5 Council of the EU, Press Release 251/18 vom 9. Mai 2018.

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gen Verfügung vom 3. Oktober 20186 allerdings diejenigen für unzulässig erklärte, die den Export in den Iran von „medicines and medical devices, food and agricultural commodities“ betroffen haben.7 Da sich der Iran bei dieser im Juli 2018 beim IGH eingebrachten Beschwerde gegen die USA auf den bilateralen Freundschaftsvertrag zwischen den USA und dem Iran von 1955 berufen hatte, kündigten die USA auch diesen auf, wobei der amerikanische Außenminister, Mike Pompeo, darauf hinwies, dass diese Maßnahme eigentlich „schon seit 39 Jahren überfällig gewesen ist“.8 Die Gründung von INSTEX Um den vom SR der VN gebilligten „Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan“ (JCPoA) aufrechtzuerhalten und es dem Iran damit zu ermöglichen, seine Verpflichtungen im Hinblick auf die vertragskonforme Bewirtschaftung seines Nuklearprogramms entsprechend einzuhalten, musste allerdings eine Lösung gefunden werden, die – trotz der bilateralen US-Sanktionen – legitime Handelsbeziehungen zwischen Europa und dem Iran zulassen würde. Immerhin war die EU im Jahre 2017, nach China, der zweitgrößte Handelspartner des Iran. „Wenn wir unser Öl nicht verkaufen und keine Finanztransaktionen durchführen können, glaube ich nicht, dass uns das Atomabkommen noch nutzen wird“, erklärte Ali Akbar Salehi, Leiter der Atomenergieorganisation des Iran.9 Immerhin beträgt der Verkauf von Öl 80 Prozent der Exporteinnahmen des gesamten Landes.10 Der stellvertretende iranische Außenminister, Abbas Araghchi, sprach in diesem Zusammenhang von einem „ersten Schritt“, der seitens der Europäer gemacht werde.11 Dementsprechend kam es am 31. Jänner 2019 zur Verabschiedung einer „Gemeinsamen Erklärung“ der E3-Außenminister, Jean-Yves Le Drian (Frankreich), Heiko Maas (Deutschland) und Jeremy Hunt (Vereinigtes Königreich), in der diese die Gründung von INSTEX SAS („Instrument for Supporting Trade Exchanges“) – einer Zweckgesellschaft („Special Purpose

6 ICJ, Alleged violations of the 1955 Treaty of Amity, Economic Relations and Consular Rights (Islamic Republic of Iran v. United States of America). Request for the indication of provisional measures, 3 October 2018, General List No. 175. 7 UN court orders US to ditch Iran sanctions; https://www.dw.com/en/un-courtorders-us-to-ditch-iran-sanctions/a-45737767 8 US terminates 1955 „Treaty of Amity“ with Iran; https://www.dw.com/en/us-termi nates-1955-treaty-of-amity-with-iran/a-45742464 9 Was ist das neue Zahlungssystem INSTEX?, FOCUS Online vom 31. Januar 2019; https://www.focus.de/politik/ausland/was-ist-das-neue-zahlungssystem-instex_ id_102... 10 Iran sanctions: 5 things to know; https://www.dw.com/en/iran-sanctions-5-thingsto-know/a-46139206 11 INSTEX: Europe sets up transactions channel with Iran; https://www.dw.com/en/ instex-europe-sets-up-transactions-channel-with-iran/a-47303...

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Vehicle“)12, die zum Ziel hat, den legitimen Handel zwischen europäischen Wirtschaftsakteuren und dem Iran zu ermöglichen – bekanntgaben. Die E3 bekräftigten in diesem Zusammenhang erneut, dass ihre Bemühungen, die wirtschaftlichen Bestimmungen des JCPoA aufrechtzuerhalten, daran gebunden sind, dass der Iran seine Verpflichtungen im Hinblick auf das Nu­ klearprogramm vollständig umsetzt, was auch die uneingeschränkte und rasche Zusammenarbeit mit der IAEO einschließt. INSTEX wird seine Arbeit nach einem schrittweisen Ansatz aufnehmen: zunächst werden die E3 gemeinsam mit INSTEX weiterhin an konkreten und operativen Einzelheiten arbeiten, um die Arbeitsweise der Gesellschaft festzulegen, um danach mit dem Iran dahingehend übereinzukommen, einen wirksamen und transparenten korrespondierenden Rechtsträger zu schaffen, der dafür notwendig ist, dass INSTEX seine Arbeit aufnehmen kann. INSTEX wird dann mit einer ähnlichen Institution im Iran zwischen europäische und iranische Banken geschaltet werden, sodass Ex- und Importe zwischen beiden Regionen über INSTEX wie über ein Clearing House verrechnet werden können.13 80 Prozent des deutschen Handels mit dem Iran spielen sich übrigens in Branchen ab, die nicht den US-Sanktionen unterliegen, wie zB erneuerbare Energien, Bauwirtschaft und die Konsumgüterindustrie.14 Insbesondere diese Unternehmen sollen zunächst sollen zunächst für eine Zusammenarbeit mit INSTEX gewonnen werden. INSTEX wird nach den höchsten internationalen Standards im Hinblick auf die Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung (AML/CFT) sowie die Einhaltung von EU- und VN-Sanktionen arbeiten. Vor diesem Hintergrund erwarten die E3, dass der Iran rasch alle Elemente seines FATF-Aktionsplans (Financial Action Task Force on Money Laundering) umsetzt. Die E3 betonen auch ihre Entschlossenheit, die weitere Entwicklung von INSTEX mit interessierten europäischen Ländern voranzubringen, damit dieses Instrument zur Unterstützung von Handelsaktivitäten mit dem Iran nach Abschluss der oben angeführten Schritte seine Arbeit aufnehmen kann.15 Über die „Tauschbörse“ INSTEX sollen zunächst von europäischer Seite lediglich Lebensmittel, Medizin und Medizinprodukte gehandelt werden. 12 Vgl. EU and Iran create „special vehicle“ for trade despite US sanctions; https:// www.dw.com/en/eu-and-iran-create-special-vehicle-for-trade-despite-us-sancti... 13 Vgl. What is the EU-Iran payment vehicle INSTEX?; https://www.dw.com/en/ what-is-the-eu-iran-payment-vehicle-instex/a-47306401 14 Vgl. INSTEX – Tauschbörse in Paris soll europäisches Iran-Geschäft retten; https:// www.tt.com/ticker/15282120/instex-tauschboerse-in-paris-soll-europaeisches-i... 15 Gemeinsame Erklärung über die Gründung von INSTEX, der Zweckgesellschaft zur Ermöglichung legitimen Handels mit Iran, im Rahmen der Bemühungen zur Aufrechterhaltung des Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplans (JCPoA), Auswärtiges Amt – Pressemitteilung vom 31. Januar 2019; https://auswaertiges-amt.de/ de/newsroom/instex/2185396

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Da es sich bei INSTEX primär um eine reine „Tauschbörse“ handeln soll, kann sie nur dann funktionieren, wenn ein annähernd großes Handelsgleichgewicht zwischen den europäischen und iranischen Handelstreibenden herrscht, da anderenfalls Importe und Exporte nicht ordnungsgemäß gegenverrechnet werden können. Um diesen Ausgleich herbeizuführen und dem Iran die Möglichkeit zu eröffnen, namhafte Exporteinnahmen zu erzielen, müsste es aber zur Einbeziehung iranischer Ölausfuhren an europäische Staaten kommen, die aber mit US-Sanktionen belegt sind. Auch wird es interessant sein, inwieweit sich Italien, Griechenland und Rumänien an INSTEX beteiligen, da diese ja in größerem Umfang iranisches Öl importieren. INSTEX wird seinen Sitz in Paris haben und von dem früheren Commerzbank-Manager (1985–2014) Per Fischer zunächst für sechs Monate geleitet werden. Geplant ist, dass Großbritannien den Vorsitz im Aufsichtsrat – in den jedes der drei Länder jeweils einen leitenden Beamten aus seinem Außenministerium entsenden wird – übernimmt, eine Frage, die allerdings nach einem uU zu erwartenden „hard Brexit“ des Vereinigten Königreichs am 29. März 2019 noch offen ist. Die „Tauschbörse“ INSTEX als offizielles Instrument der EU zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran Interessanterweise richtet die EU mit der Zweckgesellschaft INSTEX wissentlich und willentlich eine Einrichtung ein, die ganz eindeutig zur „Umgehung“ der US-Sanktionen gegen den Iran konzipiert ist und nimmt damit auch eventuelle Retorsionsmaßnahmen der USA in Kauf. So ist es dem Iran seit dem 6. August 2018 untersagt, Kauf- oder Verkaufsgeschäfte auf der Basis von US-Dollar abzuschließen und dieser ist seit dem 4. November 2018 auch von allen internationalen Zahlungssystemen, vor allem dem „SWIFT-System“ („Society for Worldwide Interbank Financial Telecom­ munication“),16 ausgeschlossen.17 Wenngleich der amerikanische Einfluss auf SWIFT nach dem Umzug von dessen Operating Center von Culpeper (USA) nach Diessenhofen (Schweiz) nicht mehr so stark ist, wie er früher einmal war,18 dominieren die USA nach wie vor weite Bereiche dieses Finanz-Telekommunikationsunternehmens. 16 SWIFT ist eine, 1973 gegründete und ursprünglich in Belgien (La Hulpe) ansässige genossenschaftlich organisierte Banken-Kooperation, in der weltweit rund 8.000 Kommerzbanken, Brokerhäuser, Börsen und andere Finanzinstitute aus 208 Ländern zusammengeschlossen sind. SWIFT ist keine Bank, sondern ein Telekommunikationsunternehmen, über das Informationen über Finanztransaktionen ausgetauscht werden. 17 Can Europe rescue Iran as Trump’s sanctions loom?; https://www.dw.com/en/caneurope-rescue-iran-as-trumps-sanctions-loom/a-44491048 18 Siehe dazu Hummer, W. Die „SWIFT-Affaire“ – US-Terrorismusbekämpfung versus Datenschutz, in: Archiv des Völkerrechts 3/2011, S. 203 ff.

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Wie die Reaktion der USA auf die Vorgangsweise des chinesischen Technologiekonzerns HUAWEI und dessen Finanzchefin Meng Wanzhou – denen vorgeworfen wird, zwischen 2007 und 2017 über die Tochtergesellschaft Skycom mit dem Iran Handel getrieben zu haben, der laut Ansicht der USStaatsanwaltschaft einen Verstoß gegen die US-Sanktionen darstellte19 – zeigt, ist davon auszugehen, dass die Behörden der USA dies auch im Falle von INSTEX annehmen werden. Ein Regierungssprecher der USA wiederholte diese Drohung nach der Unterstützungszusage der EU für die Errichtung von INSTEX noch einmal. Europäischen Firmen könnte beispielsweise der Zugang zum US-Finanzmarkt verboten oder der Handel mit USFirmen komplett untersagt werden. Fazit Es ist ohne Zweifel ein außergewöhnlicher Vorgang, wenn sich Mitgliedstaaten der EU dazu entschließen, eine Zweckgesellschaft zu gründen, um mit dieser offizielle US-Sanktionen zu umgehen, und dabei auch noch offen riskieren, ebenfalls von ähnlichen Sanktionen überzogen zu werden. Der EU scheint in Zeiten der Aufkündigung des INF-Abkommens durch die USA und einem drohenden Wettrüsten zwischen China, Russland und den USA offensichtlich sehr viel am Erhalt der „Wiener Nuklearvereinbarung“ mit dem Iran zu liegen,20 die aus ihrer Sicht durch die USA mehr oder weniger willkürlich aufgekündigt wurde. Daneben spielt aber auch noch eine weitere Überlegung für die EU eine strategische Rolle, nämlich damit indirekt die Dominanz des Dollars im Weltwährungssystem zu schwächen. 20 Jahre nach der Einführung des Euro wird mit dem „Special Purpose Vehicle“ INSTEX versucht, die Übermacht des Dollars – vor allem auch im weltweiten Öl-Handel, der ausschließlich in Dollar abgewickelt wird – zu verringern und dem Euro zu mehr Einfluss zu verhelfen. Vor allem mit der Abschottung des Irans vom weltweiten SWIFTSystem haben die USA einmal mehr den Dollar als Waffe eingesetzt, was in Zukunft so nicht mehr der Fall sein sollte. Obwohl der Euro dem Dollar als Verrechnungswährung heute bereits mehr oder weniger ebenbürtig ist, hinkt er diesem als Leit- und Reservewährung noch nach.21 Sollte INSTEX tatsächlich operativ werden, würde dies die Rolle des Euro aber entschieden 19 Vgl. Anklage wirft Wanzhou Betrug vor, zdf.de vom 7. Dezember 2018; https:// www.zdf.de/nachrichten/heute/huawei-finanzchefin-anklage-wirft-wanzhou-be trug-vor-100.html 20 Vgl. Schmied, T. INSTEX: EU unterstützt nun offiziell das Umgehen von US-Sanktionen im Iran; https://www.politaia.org/instex-eu-unterstuetzt-nun-offiziell-dasumgehen-von-us-san... 21 Vgl. dazu allgemein Lim, E.-G. The Euro’s Challenge to the Dollar: Different Views from Economists and Evidence from COFER (Currency Composition of Foreign Exchange Reserves) and Other Data, IMF Working Paper WP/06/153, June 2006.

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stärken. Ob damit der „Kampf der Weltwährungen“ bereits begonnen hat,22 sei dahingestellt. Quelle: EU-Infothek vom 7. Februar 2019, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 19) PS: Laut Aussage des Präsidenten von INSTEX, Michael Bock, ist es bis Mitte 2021 aber lediglich zum Abschluss eines einzigen Geschäfts gekommen, nämlich einer Medikamentenlieferung.23 Vgl. dazu Artikel Nr. 6, vorstehend auf S. 112 ff.

22 Jilch, N. Europa legt sich mit König Dollar an, Die Presse vom 4. Februar 2019, S. 13. 23 Svensson, B. Nur ein einziger Deal wurde abgewickelt, Wiener Zeitung vom 8. Juli 2021, S. 7.

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Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU

20.  Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU Unbedingt notwendig, oder eigentlich entbehrlich? Gegenwärtig arbeiten oder leben 17 Mio. Unionsbürger – davon 11,8 Mio. im erwerbsfähigen Alter – in einem anderen Mitgliedstaat der EU als ihrem Heimatstaat (das sind doppelt so viele als noch vor zehn Jahren) und jeden Tag überschreiten 1,4 Mio. davon eine EU-Binnengrenze, um an ihren Arbeitsort zu gelangen. Dazu kommen noch über 2 Mio. LkW-Lenker im internationalen Straßengüterverkehr, die jeden Tag beim Transport von Gütern oder Fahrgästen eine oder mehrere Binnengrenzen überqueren.1 Darüber hinaus ist auch die Zahl der Entsendungen im Zeitraum von 2010 bis 2016 um 68 Prozent auf 2,3 Mio. angewachsen. Dabei ist die Bundesrepu­ blik Deutschland derjenige EU-Mitgliedstaat, der die meisten entsandten Arbeitnehmer beschäftigt: 2016 waren es rund 440.000 Personen, umgekehrt gehen jährlich mehr als eine Viertelmillion Deutsche als Arbeitnehmer in andere EU-Mitgliedstaaten.2 Aus diesen Zahlen wird der Bedarf für eine Erleichterung und Koordinierung dieser enormen privaten und beruflichen Mobilität eindrücklich ersichtlich. Wenngleich diese Mobilität durch einige der Marktfreiheiten im Binnenmarkt, wie zB die Freizügigkeit der Arbeitnehmer3 und die Dienstleistungsfreiheit, produziert wird, fehlen in diesem doch spezielle Bestimmungen zur gegenseitigen Abgleichung und Homogenisierung dieser Arbeitskräftemobilität. Arbeitsmarktpolitik stellt bisher noch keine Agenda der Europäischen Kommission dar. Dieses Manko soll nun durch die Schaffung einer „Europäischen Arbeitsbehörde“ (European Labour Agency, ELA) in Form einer dezentralen EU-Agentur so weit als möglich ausgeglichen werden. Hintergrund Der Ausgangspunkt für die gegenständliche Thematik liegt in den Politischen Leitlinien der Kommission vom Juli 2014, in denen unter anderem der Aufbau eines sozialeren Europas und die Stärkung der Fairness im Binnenmarkt zu den wichtigsten Prioritäten der gegenwärtigen Kommission gezählt werden. In seiner Antrittsrede als Präsident der Europäischen Kommission im Oktober 2014 wählte Jean-Claude Juncker diesbezüglich drastische Worte. Die neue Kommission sei die Kommission „der letzten Chan1 European Commission, European Pillar of social rights. Towards fair labour mobility: setting up a European Labour Authority, o. J., S. 2. 2 EU-Arbeitsbehörde soll ab 2019 Mindeststandards sichern; https://www.euractiv. de/section/soziales-europa/news/eu-arbeitsbehoerde-soll-ab-201... 3 Die „Freizügigkeit“ der unselbständig Erwerbstätigen zählt zu den am meisten geschätzten Freiheiten des Binnenmarktes. Laut einer Eurobarometer-Umfrage vom Herbst 2017 befürworten mehr als 8 von 10 Unionsbürgern diese Marktfreiheit.

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Die „Europäische Arbeitsbehörde“ als neue Agentur der EU

ce“ und Europa brauche ein „soziales Triple-A-Rating“ – in Anspielung auf die Bestnote, die Ratingagenturen für die Kreditwürdigkeit von Staaten verteilen. Der rhetorische Vergleich war bewusst gewählt: Die EU, die in allererster Linie eine Wirtschaftsunion ist, sollte künftig auch in der Sozialpolitik Maßstäbe setzen.4 In der Folge schlug Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union am 13. September 2017 vor dem Europäischen Parlament konkret vor, eine Europäische Aufsichts- und Umsetzungsbehörde für alle einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften zur Mobilität von Arbeitskräften einzurichten,5 wozu bis Ende 2018 ein dementsprechender Vorschlag vorgelegt werden sollte. Diesbezüglich existiert bereits ein umfangreicher Bestand einzelner Rechtsvorschriften in der EU, wie zB die Freizügigkeits-Verordnung6 bzw. die Freizügigkeits-Richtlinie7, die Entsende-Richtlinie8 und die Durchsetzungs-Richtlinie zur Entsende-Richtlinie9 sowie die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit10, uam. Die wirksame Durchsetzung all dieser unionsrechtlichen Vorschriften in den einzelnen Mitgliedstaaten erfordert jedoch eine strukturierte Zusammenarbeit und einen geregelten Austausch zwischen den zuständigen nationalen Behörden sowie die Bereitstellung von Ressourcen für gemeinsame Tätigkeiten, wie zB die Organisation gemeinsamer Kontrollen oder die Schulung nationaler Mitarbeiter im Umgang mit grenzüberschreitenden Fällen.11 Nachdem die Kommission, neben einer Reihe gezielter Konsultationen, vom 27. November 2017 bis 7. Jänner 2018 auch eine öffentliche Online4 Diekmann, F. Wirtschaftlich einig, sozial gespalten, Spiegel Online vom 13. März 2018; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eu-kommission-gruendet-arbeits marktbehoe... 5 https://ec.europa.eu/commission/state-union-2017_de 6 Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1 ff.). 7 Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern in Ausübung der Freizügigkeit zustehen (ABl. 2014, L 128, S. 8 ff.). 8 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1 ff.). 9 Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (…) (ABl. 2014, L 159, S. 11 ff.). 10 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. 2004, L 166, S. 1 ff.). 11 Vgl. Einigung auf Arbeitsbehörde erleichtert grenzüberschreitende Mobilität; ­https://ec.europa.eu/ germany/news/arbeit20190214_de

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Konsultation durchgeführt hatte,12 legte sie auf der Grundlage der eingegangenen Beiträge am 13. März 2018 einen Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde13 sowie eine Empfehlung des Rates für den Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbständige14 vor. Flankiert wurden diese Vorschläge von einer Mitteilung über das Monitoring der Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, die eng mit dem Europäischen Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik verknüpft ist. Damit legt die Kommission nunmehr konkrete Vorschläge vor, wie das umgesetzt werden soll, was im November 2017 auf dem Sozialgipfel für faire Arbeitsplätze und Wachstum in Göteborg als sog. „Europäische Säule Sozialer Rechte“ (ESSR) vom Europäischen Parlament, Rat und Kommission proklamiert wurde.15 Die ESSR ist keine bindende Übereinkunft, sondern eine reine Absichtserklärung, die aus 20 sozialpolitischen Grundsätzen besteht, die in folgende drei Kategorien unterteilt sind: – Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang; – Faire Arbeitsbedingungen und – Sozialschutz und Inklusion.16 Aufgaben der zu errichtenden „Europäischen Arbeitsbehörde“ Laut dem Verordnungs-Vorschlag hat die Europäische Arbeitsbehörde vor allem folgende Aufgaben zu übernehmen: – Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Bereitstellung von Informationen und Diensten für Bürger und Unternehmen über Arbeits-, Ausbildungs-, Mobilitäts-, Einstellungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie Bereitstellung von Leitlinien über die entsprechenden Rechte und Pflichten; – Förderung der Zusammenarbeit und des Informationsaustausches zwischen den nationalen Behörden bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und Unterstützung derselben durch konzertierte und gemeinsame Kontrollen17 zur Bekämpfung von Missbrauch, Betrug und nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit; 12 Kommission startet Konsultation zur Europäischen Arbeitsmarktbehörde und zur Europäischen Sozialversicherungsnummer; https://ec.europa.eu/germany/news/ 20171127-arbeitsmarktbehoerde_de 13 COM(2018) 131 final. 14 COM(2018) 132 final. 15 European Commission, European Pillar of Social Rights – Towards fair labour mobility: setting up a European Labour Authority, o. J. 16 https://ec.europa.eu/commission/priorities/deeper-and-fairer-economic-and-mo netary-... 17 Die Durchführung von Inspektionen und Kontrollen verbleibt aber auf nationaler Ebene.

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– Vermittlung bei Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten und Hinwirkung auf entsprechende Lösungen, wie zB bei Unternehmensumstrukturierungen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen.18 Was den Empfehlungs-Vorschlag betrifft, so hat sich die Arbeitswelt aufgrund veränderter Lebensweisen, Geschäftsmodelle und der Digitalisierung weiterentwickelt, sodass sich die Sozialschutzsysteme ständig auf neue Gegebenheiten einstellen müssen. Heute befinden sich fast 40 Prozent der Beschäftigten entweder in einem atypischen Arbeitsverhältnis – dh ohne unbefristeten Vollzeitarbeitsvertrag – oder sie sind selbständig. Diese Beschäftigten sind sozial nicht immer gut abgesichert und haben keine Arbeitslosenversicherung oder keinen Zugang zu Rentenansprüchen. Dementsprechend sollen auch Selbständige und atypisch Beschäftigte künftig überall in der EU Zugang zur Sozialversicherung erhalten, unabhängig davon, ob dies nun die Rente, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung betrifft. Dementsprechend sieht der Empfehlungs-Vorschlag in concreto vor, – formale Lücken bei der Absicherung zu schließen, sodass sich Arbeitnehmer und Selbständige, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, entsprechenden Sozialversicherungssystemen anschließen können; – diesen eine angemessene tatsächliche Absicherung anzubieten, damit sie geeignete Ansprüche aufbauen und geltend machen können; – die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen von einem Arbeitsplatz zum nächsten zu erleichtern; – Arbeitnehmer und Selbständige klar über ihre Sozialversicherungsansprüche und -verpflichtungen zu informieren.19 Ganz allgemein soll die Europäische Arbeitsbehörde das bereits bestehende Netz einschlägiger Einrichtungen bzw. Agenturen – wie zB der ­Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound), des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop), der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) und der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (ETF) – die der Kommission vor allem einschlägige Forschungsarbeiten im gegenständlichen Bereich zuliefern, übernehmen und ausbauen. Diese vier Agenturen sind mit einem jährlichen Budget zwischen 15 und 20 Mio. Euro ausgestattet. Dazu kommen noch als weitere einschlägige Einrichtungen das Europäische Portal zur beruflichen Mobilität bzw. 18 Die Behörde kann ihre Mediationsdienste ausschließlich bei Streitigkeiten zwischen nationalen Behörden anbieten, und zwar auf Antrag der betroffenen nationalen Behörden. Sie dient nicht als Forum für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Einzelpersonen oder Arbeitgebern und den einzelnen Verwaltungen der Mitgliedstaaten. 19 Europäische Kommission, Pressemitteilung: Die Kommission beschließt Vorschläge zur Einrichtung einer Europäischen Arbeitsbehörde und für den Zugang zum Sozialschutz für alle, IP/18/1624 vom 13. März 2018.

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das Europäische Netzwerk für Arbeitsvermittlung (EURES) und die Europäische Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit (EPAUW), hinzu.20 Dabei kommt es aber nicht zur Schaffung neuer Kompetenzen der EU, sodass die Mitgliedstaaten nach wie vor in vollem Umfang für die Durchsetzung der Arbeits- und Sozialversicherungsvorschriften zuständig bleiben. Der Mehrwert der Europäischen Arbeitsbehörde besteht vor allem darin, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, bestehende Strukturen straffen und operative Unterstützung leisten wird, sodass die Vorschriften effizienter durchgesetzt werden können. Diese Straffung und Rationalisierung von Verfahrensabläufen wird nicht nur Einsparungen auf der Ebene der EU mit sich bringen, sondern auch den Mitgliedstaaten eine effizientere Beitreibung von Sozialversicherungsbeiträgen ermöglichen. Dazu kommt noch die Entlastung der Mitgliedstaaten durch die technische und logistische Unterstützung seitens der Europäischen Arbeitsbehörde. Aber auch Unternehmen und Privatpersonen werden von der Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde profitieren. Diese können nämlich nahtlos auf Informationen sowohl auf der EU- als auch der nationalen Ebene im Hinblick auf die Arbeitskräftemobilität zugreifen. So könnte beispielsweise ein im Baugewerbe tätiger Arbeitnehmer oder Arbeitgeber diesbezüglich Informationen zu Beschäftigungsmöglichkeiten und den im Unionsrecht verankerten Rechten und Pflichten erhalten, ebenso wie auch zu einschlägigen nationalen Tarifverträgen in dieser Branche, sowie auch zu Arbeitsbedingungen, Löhnen oder speziellen Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) – bei 90 Prozent der auf dem aktuellen EURES-Portal zur beruflichen Mobilität registrierten Unternehmen handelt es sich ja um KMU – würden von einem solchen verbesserten Zugang zu Informationen profitieren.21 Vorläufige Einigung auf Errichtung der „Europäischen Arbeits­ behörde“ Was die konkrete Einrichtung der Europäischen Arbeitsbehörde betrifft, so erzielten die Europäische Kommission, der Rat und das Europäische Parlament am 14. Februar 2019 eine vorläufige Einigung über den vorerwähnten Vorschlag der Kommission vom 13. März 2018 zur Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde.22 Wichtige Vorarbeit dazu leisteten der Berichterstatter des Europäischen Parlaments, Jeroen Lenaers, sowie die rumänische 20 Europäische Kommission, Lage der Union 2017: Eine Europäische Arbeitsbehörde, S. 2. 21 Europäische Kommission – Factsheet: Fragen und Antworten zur Europäischen Arbeitsbehörde; http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-18-1622_de.htm 22 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-1624_de.htm

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Rats-Präsidentschaft – unter der Federführung des rumänischen Arbeitsministers, Marius-Constantin Budai – wofür sich auch das für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität zuständige Mitglied der Europäischen Kommission, Marianne Thyssen, ausdrücklich bedankte. Ergänzend dazu erklärte die Kommissarin: „Ich habe immer gesagt, dass wir klare, faire und durchsetzbare Regeln für die Arbeitskräftemobilität brauchen. Die heute erzielte Einigung über die Europäische Arbeitsbehörde ebnet den Weg zu einem fairen europäischen Arbeitsmarkt. Die Behörde wird sowohl den nationalen Behörden dabei helfen, Betrug und Missbrauch zu bekämpfen, als auch den Bürgerinnen und Bürgern die Mobilität zu erleichtern“. Sie schloss mit den Worten, dass die Europäische Arbeitsbehörde „als Kirsche auf dem Kuchen eines fairen europäischen Arbeitsmarkts“ anzusehen ist. Journalisten gegenüber erklärte sie auch, dass die Europäische Arbeitsbehörde „das Juwel in der Krone eines gut funktionierenden europäischen Arbeitsmarktes“ werde.23 Ob sich diese geradezu euphorischen Qualifikationen der Europäischen Arbeitsbehörde seitens der zuständigen Kommissarin in der Realität auch tatsächlich bewahrheiten werden, sei dahingestellt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wiederum begrüßte die Einigung mit folgenden Worten: „Mit der europäischen Säule sozialer Rechte24 haben wir der Zukunft der Europäischen Union eine starke soziale Dimension verliehen. Heute machen wir einen weiteren wichtigen Schritt zur Einlösung unserer Zusagen für ein sozialeres Europa. Angesichts von 17 Millionen Europäerinnen und Europäern, die heute in einem anderen EU-Mitgliedstaat leben oder arbeiten, ist es höchste Zeit für eine Europäische Arbeitsbehörde, die unsere mobilen Bürgerinnen und Bürger unterstützt, die Arbeit unserer Mitgliedstaaten erleichtert und für Fairness und Vertrauen im Binnenmarkt sorgt. Wir haben in den letzten Jahren große Fortschritte hin zu faireren Regeln für die Arbeitskräftemobilität erzielt, die neue Behörde wird uns dabei helfen, diese Regeln konkret umzusetzen“.25 Als nächster Schritt wird die gegenständliche Einigung dem Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) des Rates zur Annahme vorgelegt, um danach vom Rat versabschiedet zu werden. Nach dessen Zustimmung wird sie in der Folge dem Europäischen Parlament zur Schlussabstimmung im Plenum zugeleitet. Dabei ist aber Eile geboten, da bereits am 26. Mai 2019 das Europäische Parlament neu gewählt wird und wenige Monate danach, nämlich am 31. Oktober 2019, die Amtszeit der Kommission und ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker endet. 23 https://www.euractiv.de/section/soziales-europa/news/kommission-fordert-neueeu-ar... 24 Siehe Fn. 15. 25 Europäische Kommission – Erklärung: Faire Arbeitskräftemobilität: Kommission begrüßt Einigung über die Europäische Arbeitsbehörde, 14. Februar 2019; http:// europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-19-844_de.htm

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Institutionelle Struktur und Dotierung Als neue (dezentrale) Agentur der EU wird die Europäische Arbeitsbehörde, nach einem speditiven Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, ihre Arbeit wohl noch im Jahre 2019 aufnehmen können, und sollte bis 2023 voll einsatzfähig sein. Was ihren Personalstand betrifft, so wird sie über etwa 140 Bedienstete verfügen, darunter 60 detachierte nationale Sachverständige, die von ihren jeweiligen Mitgliedstaaten unter anderem als nationale Verbindungsbeamte eingesetzt werden. Das Jahresbudget ist mit rund 50 Mio. Euro präliminiert und soll aus dem EU-Haushalt bestritten werden. Über den Sitz der Agentur werden die Mitgliedstaaten der EU zeitgerecht zu entscheiden haben.26 Zur Unterstützung der Kommission beim Aufbau der Europäischen Arbeitsbehörde wird eine spezielle „Europäische Beratungsgruppe“ eingesetzt, die unter dem Vorsitz der Kommission tagen wird. Im Einklang mit dem Konzept für die dezentralen Agenturen der EU,27 wird die Europäische Arbeitsbehörde inhaltlich von einem Verwaltungsrat geleitet werden, der sich aus einem hochrangigen Vertreter aus jedem Mitgliedstaat und zwei Vertretern der Kommission zusammensetzt, die alle stimmberechtigt sind. Die technisch-administrative Leitung der Behörde obliegt einem Exekutivdirektor. Fazit Wenngleich im Jahre 2012 zur Verbesserung der Verwaltungszusammenarbeit und des Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission ein eigenes „Binnenmarkt-Informationssystem“ (Internal Market Information System, IMI)28 – eine über das Internet zugängliche Software-Anwendung – für eine Reihe von Rechtsakten eingerichtet wurde, bedurfte es zur Beförderung und gegenseitigen Abgleichung der Verwaltungszusammenarbeit in anderen wichtigen Bereichen weiterer Anstrengungen. Für die besonders wichtigen Bereiche der Arbeitskräftemobilität und der Entsendung von Arbeitnehmern sowie der Koordinierung der sozialen Sicherheit wurde dementsprechend mit der Europäischen Arbeitsbehörde 26 Für die dabei uU auftretenden Probleme vgl. Hummer, W. Dislozierung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und der Europäischen Bankenaufsichtsagentur (EBA) durch Losentscheid – Sachgerechte Lösung oder politischer Kuhhandel?, EU-Infothek vom 9. Jänner 2018, S. 1 ff. 27 Vgl. dazu Hummer, W. Von der „Agentur“ zum „Interinstitutionellen Amt“, in: Hammer/Somek/Stelzer/Weichselbaum (Hrsg.), Demokratie und sozialer Rechtsstaat in Europa, FS für Theo Öhlinger (2004), S. 92 ff. 28 Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des BinnenmarktInformationssystems und zur Aufhebung der Entscheidung 2008/49/EG der Kommission („IMI-Verordnung“) (ABl. 2012, L 316, S. 1 ff.).

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eine eigene (dezentrale) Agentur der EU eingerichtet, die erstmals von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union Mitte September 2017 expressis verbis angesprochen wurde. Obwohl die österreichische EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2018 nolens volens die Frage der Errichtung der geplanten Europäische Arbeitsbehörde – die an sich bei der österreichischen Bundesregierung nicht populär ist29 – zum Thema des österreichischen Rats-Vorsitzes machen und auch lösen wollte, ist es erst dem nachfolgenden Vorsitzland Rumänien gelungen, diese Agenda aufzunehmen und Mitte Februar 2019 vorläufig abzuschließen. Erwartungsgemäß rief die Einrichtung und Ausstattung der Europäischen Arbeitsbehörde nicht nur bei den Sozialpartnern, sondern auch ganz allgemein, zwischen den wohlhabenden EU-Mitgliedstaaten im Norden und Westen und den ärmeren mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten (MOEL), gemischte Reaktionen hervor. Bei ersterer Gruppe verweisen zum einen die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände darauf, dass die EU an sich nicht für die Sozialpolitik zuständig ist, während die Gewerkschaft und Arbeitnehmerverbände zum anderen einheitliche EU-Regeln auf westeuropäischem Niveau wollen. Letztere hingegen bangen in diesem Zusammenhang um ihre Wettbewerbsvorteile, die sie bislang durch niedrigere Sozialstandards gehabt haben. Ganz allgemein fiel die Reaktion auf die Schaffung der Europäischen Arbeitsbehörde interessanter Weise eher verhalten und in vielen einzelnen Punkten sogar negativ aus. Exemplarisch erteilte der deutsche Bund der Arbeitgeber (BDA) in einer Aussendung dieser Behörde eine klare Absage, indem er apodiktisch feststellte: „Aus Arbeitgebersicht schafft die vorgeschlagene EU-Arbeitsbehörde vor allem teure Parallelstrukturen und neue Bürokratie, wird aber weder bei der Förderung von Mobilität noch bei der Bekämpfung von Missbrauch einen Mehrwert bieten können (…) Wenn die Kommission ihre eigenen Informationsplattformen optimieren, vernetzen und konsolidieren würde, so wäre dies aus Arbeitgebersicht sehr zu begrüßen. Die Möglichkeit, digital und unbürokratisch auf alle notwendigen Informationen zugreifen zu können, würde einen wirklichen Mehrwert im betrieblichen Alltag darstellen. Dazu bedarf es allerdings keiner neuen Behörde“.30 Im Detail wurden eine Reihe von Punkten, die inhaltliche und technische Ausgestaltung der Europäischen Arbeitsbehörde betreffend, kritisch angesprochen. So wurde darauf verwiesen, dass die Behörde nicht viel Macht 29 Will Österreich die künftige EU-Arbeitsbehörde?, Extrajournal.Net vom 28. Mai 2018; https://extrajournal.net/2018/05/28/will-oesterreich-die-kuenftige-eu-arbeits behoerde/ 30 Zitiert nach Stierle, S. Debatte um Europäische Arbeitsbehörde; https://www.euractiv.de/section/finanzen-und-wirtschaft/news/debatte-um-europaeisc...

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haben werde, da sie zu klein und zu sehr auf die bloße Koordination zwischen den nationalen Arbeitsbehörden ausgelegt sei.31 Auch hätte man, laut SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch, da Österreich nicht nur Zielland von Entsendungen sei, sondern gleichzeitig auch der Lohn- und Sozialbetrug bei den Entsendefirmen steige, eine effektiv funktionierende grenzüberschreitende Kontrolle bei Arbeits- und Sozialvorschriften benötigt, um die Ausbeutung von Beschäftigten zu verhindern. Freiwilligkeit nütze in diesem Zusammenhang nichts. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisiert die mangelnde Handlungsfähigkeit der Europäischen Arbeitsbehörde, da deren Dienste freiwillig sind und den Behörden nicht aufgezwungen werden können. Es müsste aber die Möglichkeit geben, verpflichtende Kontrollen über Grenzen hinweg durchführen zu können, meint in diesem Zusammenhang Alexandra Kramer, Referatsleiterin für Europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beim DGB. Nur dann könnte effektiv gegen Lohndumping oder gefälschte Sozialversicherungsbescheinigungen vorgegangen werden.32 Auch Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des DGB, schlägt in dieselbe Kerbe und fordert eine Verpflichtung zur Kooperation seitens der Mitgliedstaaten im Falle von grenzüberschreitenden Kontrollen. Ganz allgemein schlägt sie vor, sich die Europol-Verordnung zum Vorbild zu nehmen, die im Bereich der Strafverfolgung durchaus eine effiziente Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gewährleistet. Außerdem sollten die Sozialpartner die Möglichkeit bekommen, Rechtsverstöße im grenzüberschreitenden Bereich zu melden und damit Kontrollen über die Europäische Arbeitsbehörde zu initiieren, was bisher in den vorliegenden sekundärrechtlichen Entwürfen aber nicht vorgesehen ist.33 Auch Liina Carr vom Europäischen Gewerkschaftsbund argumentiert in diese Richtung, indem sie anmerkt, dass der Richtlinien-Vorschlag die EUMitgliedstaaten nicht verpflichte, sich an grenzüberscheitenden Arbeitsbedingungs-Inspektionen zu beteiligen. Des Weiteren forderte Carr, dass sich die Europäischen Arbeitsbehörde auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und nicht auf Unternehmen mit mehreren Standorten in der EU konzen­ trieren solle, da dadurch deren grenzüberschreitende Aktivitäten erleichtert werden und es diesen damit immer einfacher gemacht wird, bestehende Vorschriften zu umgehen.34

31 Europäische Arbeitsbehörde soll noch dieses Jahr kommen, Spiegel Online vom 14.  Februar 2019; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/europaeische-arbeitsbehoerde-soll-noch-die... 32 EU-Arbeitsbehörde soll ab 2019 Mindeststandards sichern; https://www.euractiv. de/section/soziales-europa/news/eu-arbeitsbehoerde-soll-ab-201... 33 „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht zur Ausbeutung führen“; https://www. euractiv.de/section/finanzen-und-wirtschaft/interview/die-arbeitnehmerfr... 34 Kommission fordert neue EU-Arbeitsbehörde ab 2019; https://www.euractiv.de/ section/soziales-europa/news/kommission-fordert-neue-eu-ar...

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Diese Liste kritischer Bemerkungen, vor allem aus dem Bereich von Arbeitnehmerverbänden, ließe sich noch weiter fortsetzen, wird aber bemerkenswerter Weise nicht entsprechend durch positive Anmerkungen seitens der Arbeitgebervertretungen konterkariert und damit abgeschwächt. Es wird daher in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass es sich bei der Errichtung der Europäischen Arbeitsbehörde um eine zwar gut gemeinte, aber auf halbem Weg stecken gebliebene Einrichtung handelt, die das vorhandene Potential an Möglichkeiten der Erleichterung und Beförderung von Arbeitsmobilität bei Weitem nicht nur nicht ausschöpft, sondern in einigen Bereichen sogar kontraproduktiv wirken könnte. Quelle: EU-Infothek vom 25. Februar 2019, S. 1 – 6 (Artikel Nr. 20) PS: Laut dem neuesten Jahresbericht über die Arbeitsmobilität in der EU35 ist die Mobilität der EU-BürgerInnen 2019 leicht gestiegen: 17,9 Mio. Personen lebten in einem anderen EU-Land. Knapp die Hälfte (46%) der mobilen EU-Staatsangehörigen im erwerbsfähigen Alter gingen nach Deutschland oder in das Vereinigte Königreich, 28% haben sich in Frankreich, Italien oder Spanien niedergelassen. In Österreich lebten 2019 rund 546.000 Menschen aus anderen EU-Staaten. Die Länder, aus denen die meisten Staatsangehörigen abwanderten, waren Rumänien (163.000), Deutschland (161.000), das Vereinigte Königreich (110.000), Polen (106.000) und Italien (89.000). Die wichtigsten Wirtschaftszweige für die Zu- und Abwanderer waren das verarbeitende Gewerbe sowie der Groß- und Einzelhandel. Der Anteil der hochqualifizierten Personen hat im Laufe der Zeit zugenommen: so war 2019 bereits jeder dritte (34%) EU-Arbeitsmigrant hochqualifiziert. Die durch die Verordnung (EU) 2019/1149 des EP und des Rates vom 20. Juni 201936 definitiv errichtete Europäische Arbeitsbehörde (ELA) hat ihren Sitz in Bratislava/Slowakei.

35 European Commission (ed.), Annual Report on Intra-EU Labour Mobility 2020 (2021). 36 ABl. 2019, L 186, S. 21 ff.

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21. Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung Enorme politische und juristische Komplexität einer sachgerechten Umsetzung dieses Erkenntnisses Im Gegensatz zur katholischen Kirche, die den Karfreitag „nur im negativen Sinn, als liturgische Leerstelle“1 feiert, ist der Karfreitag für die Protestanten nicht nur der höchste aller kirchlichen Feiertage, sondern auch „identitätsstiftend“.2 Dementsprechend ist in Österreich der Karfreitag auch nur für die Angehörigen der Evangelischen Kirchen des Augsburger (AB) und des Helvetischen Bekenntnisses (HB), der Altkatholischen Kirche und der Evangelisch-Methodistischen Kirche als ein „bezahlter Feiertag“ mit einer Ruhezeit von mindestens 24 Stunden ausgestaltet. Obwohl in der Vergangenheit des Öfteren darauf hingewiesen wurde, dass Sonderfeiertagsregelungen nur für Angehörige einzelner Religionen verfassungsrechtlich problematisch und arbeitsrechtlich unzulässig sind, ist die selektive „Karfreitags-Regelung“, die innerhalb Europas einzigartig ist,3 in Österreich beibehalten worden. Gemäß dem Grundsatz: „Wo kein Kläger, da kein Richter“, bedurfte es erst der Klage eines österreichischen Angestellten, Herrn Markus Achatzi, um diese Regelung zu Fall zu bringen. Durch das Urteil des EuGH in der Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH/Markus Achatzi,4 vom 22. Jänner 2019, ist dies zwar geschehen, gleichzeitig wurde damit aber eine solche Fülle von weiteren Fragen aufgeworfen, die eine akkordierte Vorgangsweise aller Betroffenen bei der Umsetzung dieses Urteils nicht zuließ. Die von der österreichischen Bundesregierung letztlich gewählte Form, den Karfreitag als „halben“ Feiertag für alle Arbeitnehmer, gleich welchen Bekenntnisses, gesetzlich auszugestalten, hat im Grunde mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet, und sieht sich bereits mit mehreren Klagsdrohungen konfrontiert. Es ist aber Eile geboten, da diese komplexe Fragestellung unbedingt noch vor dem nächsten Karfreitag, der dieses Jahr auf den 19. April 2019 fällt, definitiv gelöst werden muss. 1 Gaulhofer, K. Ein Feiertag, an dem sich auch die frommen Geister scheiden, Die Presse vom 23. Jänner 2019, S. 2; Karfreitag ist der einzige Tag im Jahr, an dem in der katholischen Kirche keine Eucharistie stattfindet. 2 Aussage von Peter Krömer, dem Präsidenten der Generalsynode der evangelischen Kirche A und HB, zitiert bei EuGH-Anwalt: Kein Feiertagsentgelt für alle bei Arbeit am Karfreitag; derstandard.at vom 25. Juli 2018. 3 Vgl. zB Wanderer, R. Feiertage: Gleiches Recht für alle, Der Standard vom 26. September 2014, der diese offenkundige gesetzliche Diskriminierung im österreichischen Arbeitsruherecht als „innerhalb Europas einzigartig und höchst beschämend“ bezeichnete; https://derstandard.at/2000005934350/Feiertage-Gleiches-Recht-fueralle 4 ECLI:EU:C:2018:614.

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Die wichtigsten Religionsgemeinschaften in Österreich Was die Angehörigen der wichtigsten Religionsgemeinschaften in Österreich betrifft, so stellt sich die Situation folgendermaßen dar. Während die römisch-katholische und die evangelische Kirche massiv an Angehörigen verlieren, weisen die orthodoxe Ostkirche und der Islam markant steigende Bekennerzahlen auf. Die Anhänger der israelitischen Kultusgemeinde sind hingegen zahlenmäßig fast völlig unverändert geblieben. Ganz allgemein steigt damit die Zahl der Atheisten, die sich einen Staat, der weltanschaulich und religiös neutral ist, wünschen, kontinuierlich an.5 Vergleicht man die entsprechenden Zahlen zwischen der Erhebung der jeweiligen Bekenner der Religionsgemeinschaften im Rahmen der letzten Volkszählung im Jahre 2001 mit dem gegenwärtigen Stand im Jahre 2018, so stellt sich die Situation – bei einer Gesamtbevölkerung Österreichs von 8,032.926 Personen (2001) – folgendermaßen dar: – Römisch-katholisches Bekenntnis: 5,915.421 (2001) und 5,110.000 (2018); – Atheisten: 1,028.390 (2001) und 1,931.572 (2018); – Orthodoxie/Ostkirche: 353.857 (2001) und 775.000 (2018); – Islam: 338.988 (2001) und 700.000 (2018); – Evangelisches Bekenntnis (AB, HB): 376.150 (2001) und 297.578 (2018) sowie – Israelitisch: 8.140 (2001) und 8.117 (2018).6 Darüber hinaus bekannten sich 2001 insgesamt 14.621 Personen zur altkatholischen und 1.263 Menschen zur methodistischen Glaubensgemeinschaft.7 Die Begünstigung der Angehörigen von vier Kirchen im Arbeits­ ruhegesetz (1983) § 7 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 3. Februar 1983 über die wöchentliche Ruhezeit und die Arbeitsruhe an Feiertagen (Arbeitsruhegesetz) (ARG)8 zählt 13 nationale Feiertage auf, die für alle Arbeitnehmer gelten, ganz gleich, welchem Religionsbekenntnis sie angehören. § 7 Abs. 3 ARG sieht hingegen vor, dass für die Angehörigen von vier Kirchen – nämlich der Evangelischen Kirche des Augsburger (AB) und des Helvetischen Bekenntnisses (HB), der Altkatholischen Kirche und der Evangelisch-Methodistischen Kirche – ausnahmsweise auch der Karfreitag ein Feiertag ist. § 9 Abs. 1 ARG bestimmt in diesem Zusammenhang, dass ein Arbeitnehmer, der an einem Feiertag nicht arbeitet, seinen Anspruch auf das volle 5 Vgl. Alm, N. Ohne Bekenntnis. Wie mit Religion Politik gemacht wird (2019). 6 Mayr, P. – Rohrhofer, M. Ich glaube nicht, Der Standard vom 19. Februar 2019, S. 8. 7 Urteil des OGH vom 24. März 2017, GZ 9 ObA 75/16v, Rdnr. 14. 8 BGBl. Nr. 144/1983 idgF.

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Arbeitsentgelt für diesen Tag behält und – falls er doch arbeiten sollte – den doppelten Arbeitslohn dafür bezieht (Abs. 5). Jeder Arbeitnehmer, der an einem der 13 Feiertage arbeitet, erhält damit über sein normales Entgelt hin­ aus ein zusätzliches Feiertagsentgelt in derselben Höhe, das praktisch zur Folge hat, dass er für seine Arbeit an diesen Tagen doppelt entlohnt wird. Da der Karfreitag jedoch nur für die Angehörigen der vier erwähnten Kirchen – Evangelische (AB und HB-Bekenntnis), Altkatholiken und Methodisten – ein bezahlter Feiertag ist, steht auch nur diesen Angehörigen am Karfreitag ein bezahlter Feiertag – oder, wenn sie an diesem Tag arbeiten – auch ein Feiertagsentgelt, zusätzlich zu ihrem normalen Entgelt, zu. Nationaler Anlassfall wegen behaupteter Diskriminierung aus Gründen der Religion Herr Markus Achatzi ist Arbeitnehmer in einer privaten Detektei (Cresco Investigation GmbH) und erhielt, da er keiner der vorerwähnten vier Kirchen angehörte, von seinem Arbeitgeber für seine am Karfreitag, dem 3. April 2015, geleistete Arbeit – über sein normales Entgelt hinaus – auch kein zusätzliches Feiertagsentgelt ausbezahlt. Er fand diese Regelung diskriminierend iSe Ungleichbehandlung aufgrund der Religion und der Weltanschauung und begehrte von seinem Arbeitgeber eine Zahlung von 109,09 Euro brutto zuzüglich Zinsen, die ihm aber verweigert wurde, worauf er diesen klagte. Das Arbeits- und Sozialgericht Wien wies, als Erstgericht, am 15. Oktober 2015 das Klagebegehren ab9, wobei es davon ausging, dass bei der Karfreitagsregelung eine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung an sich ungleicher Sachverhalte vorliege. Das Oberlandesgericht (OLG) Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen gab hingegen mit Urteil vom 29. März 201610 der Berufung des Klägers Folge, da es sich seiner Ansicht nach bei der Ungleichbehandlung um einen Verstoß gegen die unmittelbar anwendbare und in Verfassungsrang stehende Bestimmung des Art.  21 der EU-Grundrechte-Charta (GRC)11 handle. Es liege daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion vor, die nicht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf12 gerechtfertigt sei. In der Folge hatte der Oberste Gerichtshof (OGH) über die gegen die Berufungs9 10 11 12

GZ 16 Cga 86/15f-7. GZ 9 Ra 23/16t-11. ABl. 2016, C 202, S. 389 ff., berichtigt durch ABl. 2016, C 400, S. 1 ff. ABl. 2000, L 303, S. 16 ff.; die Richtlinie war von den Mitgliedstaaten bis zum 2. Dezember 2003 umzusetzen und deckt sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen ab.

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entscheidung erhobene Revision der Beklagten zu entscheiden, die die Wiederherstellung des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils anstrebte. Der OGH fasste am 24. März 2017 den Beschluss, dem EuGH vier Fragen zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorzulegen und das Verfahren bis zum Einlangen derselben gem. § 90a Abs.1 GOG auszusetzen.13 Im Mittelpunkt stand dabei die Fragestellung, ob diese Sonderstellung gegenüber Arbeitnehmern, die den genannten vier Religionen nicht angehören, als unmittelbar diskriminierend wegen der Religion gegen Art. 21 GRC verstößt, oder als Maßnahme zum Schutz der Freiheit der Religionsausübung bzw zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung der Angehörigen der genannten Kirchen im Berufsleben gerechtfertigt ist. Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der EU Im gegenständlichen Vorabentscheidungsverfahren in der Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH/Markus Achatzi, stimmen die Schlussanträge des Generalanwalts Michal Bobek und der Tenor des Urteils des Gerichtshofs zwar grundsätzlich darin überein, dass es sich bei der vorliegenden Regelung um eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Religion und eine Verletzung der Gleichbehandlungspflicht in Beschäftigung und Beruf handelt, divergieren aber in ihrer rechtsdogmatischen Begründung bzw. setzen andere Schwerpunkte. Schlussanträge des Generalanwalts In seinen Schlussanträgen vom 25. Juli 2018 geht Generalanwalt Bobek von der Rechtsansicht aus, dass die Gewährung eines bezahlten Feiertags nur für die Angehörigen der vier Kirchen, verbunden mit einem Feiertagsentgelt, falls sie an diesem Tag arbeiten, eine Diskriminierung aus Gründen der Religion iSv Art. 21 Abs. 1 GRC und einen Verstoß gegen die Gleichbehandlungspflicht in Beschäftigung und Beruf iSv Art.  2 Abs.  2 lit. a) der RL 2000/78/EG darstellt, für die keine entsprechenden Rechtfertigungsgründe gefunden werden können. Es gebe keinen ersichtlichen Bezug zwischen dem Schutz der Religionsfreiheit und dem Anspruch auf ein Feiertagsentgelt, wenn man am Karfreitag arbeite. Die Maßnahme sei damit ungeeignet, das Ziel des Schutzes der Religionsfreiheit zu erreichen. Ebenso scheint es nicht möglich zu sein, die österreichische Bestimmung als Regelung anzusehen, die spezifische Maßnahmen enthält, mit denen eine Benachteiligung wegen der Religion unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie des Gleichheitsgrundsatzes ausgeglichen wird. Nach Ansicht des Generalanwalts ist die komplexere Frage in der vorliegenden Rechtssache aber diejenige, welche Rechtsfolgen in einem Rechts13 GZ 9 ObA 75/16v (Fn. 7).

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streit zwischen Privatpersonen die (abstrakte) Feststellung einer Diskriminierung hat, die auf eine Richtlinie – die keine horizontale unmittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen entfaltet14 – und eine Bestimmung der primärrangigen EU-Grundrechte-Charta15 gestützt wird. Aus seiner Sicht verlangt der Anwendungsvorrang, dass die nationale Regelung unangewendet bleibt. „Lässt sich aus diesem Grundsatz oder einer möglichen horizontalen unmittelbaren Wirkung von Art.  21 Abs.  1 GRC jedoch außerdem ableiten, dass ein (privatrechtlicher) Arbeitgeber unionsrechtlich verpflichtet ist, das Feiertagsentgelt zusätzlich zum normalen Arbeitslohn jedem, unabhängig von dessen religiösen Überzeugungen, zu zahlen, der am Karfreitag arbeitet? Meiner Ansicht nach ist dies nicht der Fall. Das Unionsrecht verlangt gleichwohl einen wirksamen Rechtsbehelf, der die Möglichkeit einer Schadensersatzklage gegen den Mitgliedstaat einschließen mag“ (Rdnr. 18). – Resumiert man die Feststellungen des Generalanwalts in der vorliegenden Rechtssache, der ein Verfahren zwischen Privaten zugrunde liegt, dann lässt sich Folgendes feststellen: – Die nationalen Rechtsvorschriften, die als mit Art. 21 Abs. 1 GRC iVm Art.  1, Art.  2 Abs.  2 lit. a) und Art.  7 Abs.  1 der Richtlinie 2000/78 unvereinbar angesehen werden, bleiben solange unangewendet, solange der Gesetzgeber keine diskriminierungsfreie Rechtslage geschaffen hat; – Art. 21 Abs. 1 GRC iVm Art. 1, Art. 2 Abs. 2 lit. a) und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 kann für sich alleine dem Arbeitgeber keine Verpflichtungen auferlegen; – kann sich ein durch eine solche Anwendung des nationalen Rechts Geschädigter gleichwohl auf das Urteil des EuGH in der Rs. Francovich und Bonifaci16 berufen, um gegebenenfalls im Wege der Staatshaftung Ersatz für den entstandenen Schaden zu erhalten.17 Urteil des Gerichtshofs In seinem Urteil vom 22. Januar 201918 stellt der Gerichtshof (Große Kammer) fest, dass die inkriminierte Feiertagsregelung am Karfreitag, die ausschließlich für die Angehörigen der erwähnten vier Kirchen gilt, gem. 14 Vgl. EuGH, Rs. C-91/92, Faccini Dori/Recreb Srl., Urteil vom 14. Juli 1994, Rn. 20 (ECLI:EU:C:1994:292). 15 Gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV sind die EU-Grundrechte-Charta und die Gründungsverträge der EU rechtlich gleichrangig. 16 EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Urteil vom 19. November 1991 (ECLI:EU:C:1991:428). 17 Pressemitteilung des EuGH vom 25. Juli 2018. 18 ECLI:EU:C:2019:43.

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Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2000/78/EG eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Religion darstellt.19 Die gegenständliche Regelung begründet nämlich eine unmittelbar auf der Religion der Arbeitnehmer beruhende unterschiedliche Behandlung, wobei das Unterscheidungskriterium unmittelbar der Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zu einer bestimmten Religion entspringt. Die mit dieser nationalen Regelung vorgesehenen Maßnahmen können auch weder als zur Wahrung der Rechte und Freiheiten anderer notwendige Maßnahmen iSv Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2000/78/EG noch als spezifische Maßnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen aus Gründen der Religion iSv Art.  7 Abs.  1 dieser Richtlinie angesehen werden.20 In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof insbesondere darauf hin, dass ein Angehöriger der vier Kirchen am für ihn freien Karfreitag nicht eine bestimmte religiöse Pflicht erfüllen, sondern nur formal einer dieser Kirchen angehören muss, sodass es ihm freisteht, den Karfreitag einfach zu Erholungs- oder Freizeitzwecken zu nutzen.21 Aus diesem Grunde kann von der Karfreitags-Regelung auch nicht angenommen werden, dass sie zum Schutz der Religionsfreiheit notwendig ist. Die österreichische Regelung enthält auch keine spezifischen Maßnahmen, mit denen eine Benachteiligung aus religiösen Gründen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und, soweit wie möglich, auch des Gleichheitsgrundsatzes, kompensiert wird. Ein Arbeitnehmer, der einer anderen Konfession angehört, ist nämlich am Karfreitag auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers angewiesen, aufgrund derer ihm erlaubt werden kann, sich zur Befolgung spezieller religiöser Riten von seinem Arbeitsplatz zu entfernen. Daraus ist aber ersichtlich, dass die gegenständlichen Maßnahmen über das hinausgehen, was zum Ausgleich einer solchen (mutmaßlichen) Benachteiligung nötig ist und damit eine unterschiedliche Behandlung von mit vergleichbaren religiösen Pflichten konfrontierten Arbeitnehmern begründen, die die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes nicht so weit wie möglich gewährleistet.22 Art.  21 der GRC ist nach Ansicht des EuGH dahin auszulegen, dass, solange Österreich seine einschlägigen Rechtsvorschriften zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer nicht entsprechend geändert hat, ein privater Arbeitgeber, der dieser Regelung unterliegt, verpflichtet ist, auch seinen anderen Arbeitnehmern am Karfreitag einen bezahlten Feiertag samt Feiertagsentgelt zu gewähren. Diese müssen allerdings zuvor mit dem Anliegen an ihn herangetreten sein, an diesem Tag nicht arbeiten zu müssen. Sollte ihnen der Arbeitgeber aber nicht freigegeben haben, steht 19 20 21 22

Urteil vom 22. Januar 2019, Rn. 51. Urteil vom 22. Januar 2019, Rn. 66. Urteil vom 22. Januar 2019, Rn. 46. Urteil vom 22. Januar 2019, Rn. 60.

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diesen Arbeitnehmern das Recht auf ein Zusatzentgelt für die an diesem Tag erbrachte Arbeitsleistung zu.23 Mit dieser Antragspflicht – aufgrund derer der Arbeits- und Sozialrechtler der WU Wien, Franz Marhold, den Karfreitags-Feiertag als „Feiertag zweiter Klasse“ bezeichnet – hat sich der EuGH offensichtlich etwas gedacht, vor allem im Hinblick auf den Umstand, dass seinen Urteilen rückwirkende Geltung zukommt. Denn wäre der Karfreitag von ihm zu einem normalen Feiertag für alle erklärt worden, wären den Arbeitgebern uU hohe Nachzahlungen ins Haus gestanden, und zwar an alle jene Mitarbeiter, die – unter der Berücksichtigung der Verjährungsfrist – in den vergangenen drei Jahren an einem Karfreitag gearbeitet hatten. Laut gegenständlichem Urteil besteht diese Pflicht aber nur dann, wenn der Arbeitnehmer zuvor beantragt hatte, am Karfreitag einen bezahlten Feiertag zu haben. Das werden in der Vergangenheit aber die Wenigsten gemacht haben,24 sodass sich im Normalfall für die Vergangenheit kein Nachzahlungsrisiko stellen sollte.25 Reaktionen Die Reaktionen auf das gegenständliche Urteil fielen erwartungsgemäß kontrovers aus, insbesondere soweit sie die unterschiedlichen Sozialpartner betrafen. So erwartet sich Karlheinz Kopf, der Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreichs (WKÖ), ein rasches Handeln des Gesetzgebers und eine aufkommensneutrale Neuregelung, wobei für die Wirtschaft ein zusätzlicher freier Tag für alle österreichischen Arbeitnehmer nicht in Frage komme. Österreich liege mit seinen 13 Feiertagen ohnehin jetzt schon unter jenen Ländern mit den großzügigsten Feiertagsregelungen in Europa. „Ein zusätzlicher Feiertag würde die österreichische Wirtschaft 600 Mio. Euro kosten. Das würde den Faktor Arbeit enorm verteuern und ist weder unseren Betrieben zuzumuten, noch aus standortpolitischen Gründen sinnvoll“.26 Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) geht hingegen von einer diesbezüglichen Reduktion des BIP um 400 Mio. Euro aus, sodass der Karfreitag die Wertschöpfung um 0,1 bis 0,15 Prozent verringern würde. Generell senke ein arbeitsfreier Tag das österreichische BIP um bis zu 0,2 Prozent.27 23 Urteil vom 22. Januar 2019, Rn. 83 ff. 24 Aichinger, P. Ein Feiertag auf Antrag, Die Presse vom 23. Jänner 2019, S. 1. 25 Riegler, M. – Regitnig, K. EuGH-Urteil zu Karfreitag lässt Fragen offen, Wiener Zeitung vom 25. Jänner 2019, S. 14. 26 Zitiert bei Golser, C. Urteil zum Karfreitag: Für gleichheitskonforme Lösung ohne Mehrbelastung der Wirtschaft; WKO eu|panorama, vom 25. Jänner 2019, S. 10; auch der Leiter der Sozialpolitik in der WKO, Martin Gleitsmann, spricht von 600 Mio. Mehrkosten. 27 Wifo: Freier Karfreitag senkt BIP um Millionen, OÖN vom 12. Februar 2019, S. 9.

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Im Gegensatz dazu will die Gewerkschaft den Karfreitag zu einem gesetzlichen Feiertag für Alle machen. Der Leitende Sekretär des ÖGB, Bernhard Achitz, begründete diese Forderung damit, dass die Österreicher bei den wöchentlichen Arbeitszeiten in Europa ohnehin schon an der Spitze liegen.28 Auch würde bei dem Hinweis auf die 13 Feiertage verschwiegen werden, dass manche davon jedes Jahr auf einen Sonntag fallen, nämlich Oster- und Pfingstsonntag. Auch der 6. Jänner ist heuer als Feiertag de facto ausgefallen, da er auf einen Sonntag zu liegen kam. Was hingegen den Betrag von 600 Mio. Euro betrifft, den der Generalsekretär der WKO benannte, so sei, nach Ansicht von ÖGB-Chef Wolfgang Katzian, diese Summe durch nichts nachvollziehbar, es handle sich vielmehr um eine „Märchenstunde der Wirtschaftskammer“.29 Nach Rückfrage bei der APA habe sich nämlich herausgestellt, dass der Betrag von 600 Mio. Euro eine grobe Schätzung sei. Diese sei so zustande gekommen, dass man einfach die volkswirtschaftliche Gesamtleistung der Privatwirtschaft von 140 Mrd. Euro durch 220 Arbeitstage dividiert habe. Dass es in manchen Branchen bereits teilweise Vier-Tage-Wochen mit freiem Freitag gibt und meistens am Freitag auch weniger Arbeitsstunden anfallen als von Montag bis Donnerstag, sei zB nicht berücksichtigt worden. Auch wurde der gesamte öffentliche Bereich, vom Lehrer bis zum Polizisten, ausgeklammert. Weitere Vorgangsweise Zunächst muss der OGH in der ihm vorliegenden Rechtssache als Revisionsgericht in der Sache entscheiden, wobei er an das Urteil des EuGH gebunden ist. Anders als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen verlangt der EuGH allerdings nicht, dass die Angehörigen der vier erwähnten privilegierten Kirchen den Anspruch auf den Feiertag oder ein Feiertagsentgelt, wenn man dennoch arbeitet, verlieren. Ganz im Gegenteil steht der Karfreitag allen österreichischen Arbeitnehmern zu, wenn sie an diesem Tag nicht arbeiten wollen und dies ihrem Arbeitgeber zeitgerecht bekanntgeben. Sollte dieser Wunsch aber abschlägig beschieden werden, steht dem Arbeitnehmer das Recht auf ein Zusatzentgelt für die an diesem Tag erbrachte Arbeitsleistung zu. Der Bundesregierung obliegt es in der Folge, für eine diskriminierungsfreie Karfreitags-Regelung durch eine entsprechende Novellierung des Feiertagsruhe- bzw. Arbeitsruhegesetzes zu sorgen. Sollte es ihr aber nicht gelingen, rechtzeitig vor dem 19. April 2019 die entsprechenden gesetzlichen Regelungen zu erlassen, um dem Urteil nachzukommen, dann würde dies aufgrund von dessen Direktwirkung bedeuten, dass die Arbeitgeber allen 28 Zitiert bei Baldinger, I. – Wiens, R. Das Kreuz mit dem Karfreitag, Salzburger Nachrichten vom 23. Jänner 2019, S. 11. 29 Zitiert bei Tempfer, P. Regierung gegen neuen Feiertag, Wiener Zeitung vom 24. Jänner 2019, S. 10.

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Arbeitnehmern, die den Karfreitag bereits im Vorfeld als Feiertag für sich beanspruchen, frei geben oder – für den Fall, dass sie am Karfreitag doch arbeiten – das zusätzliche Feiertagsentgelt auszahlen müssten. Der Bundesregierung wurden in diesem Zusammenhang eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie sie die Vorgaben des Urteils des EuGH am besten umsetzen könnte. So könnte sie zB den Karfreitag zu einem normalen gesetzlichen Feiertag für alle Arbeitnehmer machen, was von ihr aber strikt abgelehnt wird.30 Eine Untervariante dieser Regelung, die sowohl vom evangelischen Bischof Michael Bünker, als auch vom evangelischen Synodenpräsident, Peter Krömer, vorgeschlagen wurde, könnte wiederum darin bestehen, dass als Ausgleich dafür auf einen freien Pfingstmontag verzichtet wird, der ohnehin kein biblisches Geschehen widerspiegelt und nur dazu dient, Pfingsten „mehr Gewicht zu verleihen“.31 Einen solchen Tausch schlug auch Synodenpräsident, RA Peter Krömer, vor.32 Es könnte aber auch der Karfreitag als Feiertag gestrichen werden, sodass er zu einem normalen Arbeitstag werden würde. In diesem Fall müssten aber die Arbeitgeber dazu verpflichtet werden, es den Angehörigen der vier Religionen zu ermöglichen, einen Gottesdienst zu besuchen. Man könnte aber auch festlegen, dass der Karfreitag für die Angehörigen der vier Religionen ein Feiertag bleibt, diejenigen Angehörigen, die aber arbeiten wollen, keinen Feiertagszuschlag bekommen sollen.33 Sollte es keinen ganzen Karfreitag-Feiertag für alle geben, schlägt die Arbeiterkammer alternativ dazu einen religionsunabhängigen Wahl-Feiertag für alle bzw auch einen frei wählbaren zusätzlichen Urlaubstag für alle vor, wobei der Unterschied darin bestehen würde, dass die Arbeitnehmer auf einen Wahl-Feiertag einen Rechtsanspruch hätten, ein bloßer Urlaubstag aber zunächst vom Arbeitsgeber genehmigt werden müsste. In dieselbe Kerbe schlägt der Arbeitsrechtler an der Universität Wien, Martin Risak, für den eine Lösung am sachadäquatesten erscheint, die einen zusätzlichen Urlaubstag für alle ArbeitnehmerInnen bringt, dessen zeitliche Lage mit dem/ der ArbeitgeberIn aber grundsätzlich vereinbart werden muss. Für Angehörige staatlich anerkannter Religionsgemeinschaften sollte dieser mit einem Rechtsanspruch kombiniert werden, diesen zusätzlichen Urlaubstag an einem religiösen Feiertag zu konsumieren. Dafür müsste dem/der betreffenden ArbeitgeberIn die Religionszugehörigkeit allerdings 30 Bundesregierung will keinen neuen Feiertag; https://www.msn.com/de-at/nachrich ten/politik/bundesregierung-will-keinen-neuen-fe… 31 Vgl. Gaulhofer, Ein Feiertag, an dem sich auch die frommen Geister scheiden (Fn. 1). 32 Feiertagsentgelt für Evangelische am Karfreitag EU-widrig; https://www.msn.com/ de-at/nachrichten/inland/feiertagsentgelt-f%c3%bcr-evangelisc... 33 Vorschlag vom Generalsekretär der römisch-katholischen Bischofskonferenz, Peter Schipka, zitiert nach Feiertagsentgelt für Evangelische am Karfreitag EU-widrig; ­https://www.msn.com/de-at/nachrichten/inland/feiertagsentgelt-f%c3%bcr-evan gelisc...

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rechtzeitig, dh innerhalb einer gesetzlich festzulegenden Frist, im Vorhinein bekanntgegeben werden. Ebenso ist für ihn denkbar, dass zwei der bisherigen Feiertage mit einer katholischen Fundierung idS ebenso flexibel gestaltet werden, um Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften eine Gesamtzahl von drei Feiertagen zu bieten.34 Muslime hätten dann ebenfalls künftig einen Anspruch darauf, an hohen Festtagen frei zu bekommen.35 Franz Marhold von der WU Wien warnt hingegen vor der Variante eines zusätzlichen Urlaubstages, um die „Karfreitagsproblematik“ zu lösen, da Arbeitnehmer laut Angestelltengesetz bereits dann Anspruch auf eine Lohnfortzahlung haben, wenn sie ihre Arbeit „aus wichtigen, die Person betreffenden Gründen“ nicht erbringen können. Darunter würden auch religiös motivierte verstanden, wie aus dem Urteil des OGH zum jüdischen Totengebet Kaddisch aus dem Jahre 1996 hervorgeht. Wird daher der Karfreitag als Feiertag gestrichen und erhalten alle Arbeitnehmer zum Ausgleich einen Urlaubstag mehr, wird wohl auf diese Bestimmung zurückgegriffen werden, um zumindest teilweise am Karfreitag arbeitsfrei zu bekommen. Den zusätzlichen Urlaubstag würde man sich dann „nach Gutdünken“ nehmen, womit aber ein zusätzlicher Urlaubstag geschaffen werde und am Karfreitag weiterhin die Möglichkeit bestünde, für seine (religiösen) „Verpflichtungen“ eine gewisse Zeit frei zu nehmen. Vorstellbar ist für Marhold hingegen der Abtausch mit einem anderen Feiertag, wobei er nicht den Pfingstmontag, wie von vielen vorgeschlagen, sondern vielmehr den Stephanitag vorschlagen würde. Der 26. Dezember ist nicht im Konkordat verankert und fällt wie der Karfreitag in die Ferienzeit, sodass sich auch für die Schulen nichts ändern würde.36 Was den Islam betrifft, so existiert kein diesbezüglicher Feiertag, obwohl er durch das Islamgesetz vom 15. Juli 191237 schon früh als Religionsgesellschaft anerkannt wurde und auch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen bekam. Damit genießt der Islam in Österreich eine Rechtsstellung, die in Westeuropa einzigartig ist. Mit dem Islamgesetz wurde den Anhängern des Islams nach hanefitischem Ritus religiöse Selbstbestimmung zugesichert. 1979 wurde der Antrag auf Gründung der „Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (IGGiÖ) bewilligt, deren Alleinvertretungsanspruch aber ab 2009 offen in Frage gestellt wurde. In der Folge wurde 2013 die „Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ als Religionsgemeinschaft anerkannt,38 der unmittelbar danach 34 Mailnachricht von Martin Risak ([email protected]) vom 12. Februar 2019 an den Verfasser. 35 Interviewaussage von Martin Risak, zitiert von Szigetvari, A. „Ein zusätzlicher Urlaubstag für alle“, Der Standard vom 28. Jänner 2019, S. 11. 36 Karfreitag: Experte warnt vor zusätzlichem Urlaubstag; https://orf.at/stories/ 3109550/ 37 Reichsgesetzblatt Nr. 159/1912. 38 BGBl. II Nr. 133/2013.

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die „Islamisch-Schiitische Glaubensgemeinschaft“ als Bekenntnisgemeinschaft folgen sollte. Ende März 2015 wurde das Islamgesetz (2015) erlassen,39 durch das das Islamgesetz (1912) außer Kraft gesetzt wurde. Gem. § 6 Abs. 2 des Islamgesetzes (2015) dürfen islamische Glaubensgemeinschaften nicht mehr dauerhaft aus dem Ausland finanziert werden, was BK Sebastian Kurz im Juni 2018 veranlasste, anzukündigen, sieben Moscheen schließen und die Ausweisung zahlreicher Imame prüfen zu lassen.40 In der Folge kam es aber nicht mehr dazu. Neben der IGGiÖ als Körperschaft öffentlichen Rechts als Interessensvertretung findet das religiöse Leben der Muslime vorwiegend in den Moschee-Vereinen statt, die in der Regel Ableger gesamteuropäischer Zusammenschlüsse sind, die ihren Sitz vorwiegend in der Bundesrepublik Deutschland haben, wie zB der Zentralrat der Muslime, der Moscheeverband Ditib, der Islamrat, der Verband Islamischer Kulturzentren uam. Die Aktivitäten dieser Verbände werden aktuell in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Erhebung einer „Moscheesteuer“ diskutiert, die – ebenso wie in Österreich – dazu dienen soll, die Muslime von ihrer (finanziellen) Abhängigkeit vom Ausland zu befreien.41 Die Regierungsvorlage der österreichischen Bundesregierung Das Dilemma, in dem sich die österreichische Bundesregierung in der Umsetzung des Karfreitag-Urteils des EuGH befindet, ist offensichtlich. Zum einen will sie aus dem Karfreitag keinesfalls einen zusätzlichen Feiertag für alle machen,42 und zum anderen „soll auch Niemandem etwas weggenommen werden“, wie Minister Gernot Blümel versicherte.43 Zur näheren Ausarbeitung einer entsprechenden Kompromissformel wurde ein Verhandlungsteam, unter der Leitung des stellvertretenden ÖVP-Klubobmanns, Peter Haubner (ÖVP) und des FPÖ-Klubobmanns Walter Rosenkranz (FPÖ), eingesetzt, das in aller Eile einen Lösungsvorschlag ausarbeitete, der am 19. Februar 2019 offiziell vorgestellt wurde. Danach soll der Karfreitag ein „halber“ Feiertag werden, was bedeutet, dass alle Arbeitnehmer ab 14.00 Uhr frei haben sollen. Diese Regelung will die Bundesregierung, auf Grund des knappen Fristenlaufs, bereits am Mittwoch, dem 27. Februar 2019, im Nationalrat zur Behandlung einbringen. In seiner Begründung für diese gesetzliche Regelung führte Kanzleramtsminister Gernot Blümel am 39 BGBl. I Nr. 39/2015. 40 Kurz-Regierung: Österreich schließt mehrere Moscheen, SpiegelOnline vom 9. Juni 2018; http://www.spiegel.de/politik/ausland/oesterreich-regierung-laesst-siebenmoscheen-schliessen-und-will-imame-ausweisen-a-1211858.html 41 Wagner, J. Zweifel an Rechtstreue, Welt am Sonntag vom 20. Januar 2019, S. 8. 42 Bundesregierung will keinen neuen Feiertag; https://www.msn.com/de-at/nachrich ten/politik/bundesregierung-will-keinen-neuen-fe... 43 Der ungeklärte Kompromiss; Die Presse vom 21. Februar 2019, S. 7.

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20. Februar nach der Ministerratssitzung aus, dass man damit vor allem „Rechtssicherheit angestrebt“ und eine Lösung gefunden habe, die so nahe an der bisherigen Lösung liege, wie dies nur möglich sei. Diese Lösung werde man nun rasch durchziehen.44 Die Reaktionen auf die Regierungsvorlage fielen fast durchwegs negativ aus. Sowohl die Opposition, als auch die Arbeitnehmerverbände, die Religionsgemeinschaften und die Wirtschaft äußerten zum Teil scharfe Kritik. So führte der Leitende Sekretär des ÖGB, Bernhard Achitz, dazu aus: „Ein Feiertag ab 14.00 Uhr an einem Freitag, an dem ohnehin sehr viele Arbeitnehmer schon zu Mittag Dienstschluss haben, ist lächerlich“.45 Selbst ausgehend von einem Acht-Stunden-Tag und Dienstbeginn um acht Uhr früh, blieben gerade einmal zwei Stunden mehr Freizeit übrig, weshalb die Präsidentin der AK, Renate Anderl, auch süffisant von einem freien „Viertelfeiertag“ sprach.46 Am größten ist die Enttäuschung allerdings bei der evangelischen Kirche, da deren Gläubige durch diese Regelung einen halben Feiertag verlieren.47 Auch der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Peter Schipka, wies darauf hin, dass Feiertage „vom Wesen her immer ein ganzer Tag seien“.48 Die mit einer solchen „halben“ Feiertagsregelung verbundenen Probleme sind komplex. Zum einen gibt es im österreichischen Arbeitsrecht keine „halben“ Feiertage. Da an Feiertagen auch kein Urlaubsverbrauch stattfinden dürfe, hätte die Regelung zur Folge, dass der Arbeitgeber dem Verbrauch von Zeitguthaben zustimmen müsste. Verfügt aber ein Angestellter über kein solches Zeitguthaben, sei ein freier Karfreitag im Gegensatz zu bisher eigentlich nicht möglich, wie der AK-Experte Wolfgang Kozak feststellt. Auch für die Schicht- bzw. Teilzeitarbeiter würden sich grundsätzliche Probleme ergeben, da Personen, die Frühdienst haben oder in Teilzeit nur am Vormittag arbeiten, schlechter gestellt wären als jene, die am Nachmittag im Feiertagsmodus Dienst hätten.49 Ganz allgemein muss aber in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass dann, wenn man wirklich jedem einen halben Arbeitstag „schenken“ 44 Bachner, M. Urlaubstag statt halber Feiertag? Regierung zieht „14 Uhr“ durch; Kurier vom 23. Februar 2019, S. 2. 45 Laut einer AK-Umfrage betrifft dies knapp 40 Prozent aller Angestellten; https:// www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/1018252_karfreitag-wir... 46 Mit der Karfreitagslösung ist niemand glücklich; Der Standard vom 20. Februar 2019, S. 17. 47 Reisinger, W. Karfreitag auf Österreichisch, Wiener Zeitung vom 20. Februar 2019, S. 9. 48 Zitiert bei ÖVP und FPÖ einig: Karfreitag wird ein halber Feiertag, Die Presse.com vom 19. Februar 2019; https://diepresse.com/home/innenpolitik/5582000/OeVPund-FPOe-einig_Karfreitag... 49 Zitiert bei Bruckner, R. Der halbe Feiertag wirft viele Fragen auf; Der Standard vom 21. Februar 2019, S. 19.

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will, man nicht umhinkommt, sich von einer fixen Uhrzeit zu verabschieden. Stattdessen müsste auf die jeweilige individuelle Arbeitszeit abgestellt werden, wobei für eine Vollzeitkraft ein halber Tag in der Regel ein Zehntel der Wochenarbeitszeit, also vier Stunden, ist. Bei einer Halbtagsbeschäftigung wären das lediglich zwei Stunden. Das sind dann die Arbeitsstunden, die sich ein Arbeitnehmer bei Entgeltfortzahlung ersparen muss, will man in die Nähe einer Feiertagshälfte kommen. Würden diese Zeitguthaben für die individuell letzten Arbeitsstunden am Karfreitag gewährt werden, müsste man, statt von acht bis 16 Uhr (plus Pause) nur bis 12 Uhr arbeiten und, statt von acht bis 14 Uhr, nur bis elf Uhr.50 Auch wenn das (Arbeitsruhe)Gesetz nunmehr geändert wird, gelten kollektivvertragliche Regelungen weiter – und würden selbst bei einer Aufkündigung derselben noch nachwirken. Da das Recht auf einen freien Karfreitag der vier Kirchen sowohl im einschlägigen General-Kollektivvertrag, als auch in einer Reihe von Branchen-Kollektivverträgen verankert ist, müssten sich also zunächst die Sozialpartner – das sind die Wirtschaftskammer (WKO) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) – auf eine entsprechende Änderung der Kollektivverträge einigen, da ein direkter gesetzlicher Eingriff in dieselben nicht zulässig ist. Die Kollektivvertragsfreiheit ist sowohl in Art. 11 EMRK, als auch in Art. 12 GRC, verfassungsrangig verankert. Es kommt in diesem Zusammenhang vor allem aber darauf an, wie die Verweisungen in den einzelnen Kollektivverträgen auf die gesetzlichen Vorgaben jeweils formuliert sind – nämlich entweder in „statischer“ oder „dynamischer“ Form. Letztere, in der Version einer Formulierung, dass zB das Gesetz „in der jeweiligen Fassung“ gilt, sind allerdings laut Judikatur des OGH grundsätzlich unwirksam.51 Die Kollektivverträge könnten zwar von der WKO bzw. dem OGB einseitig gekündigt werden, wobei die Kündigungsfrist allerdings drei Monate beträgt, sodass die Zeitspanne bis zum nächsten Karfreitag am 19. April 2019 schon überschritten wäre. Selbst eine solche Kündigung würde aber nur für danach neu eingestellte Mitarbeiter gelten, für alle anderen bestünde die bisherige Karfreitagsregelung weiter.52 Hauptbetroffen wäre von der gegenständlichen Regelung vor allem der stationäre Handel, der den Karfreitag als umsatzmäßig zweitstärksten Einkaufstag – nach dem 23. Dezember, dem Vorweihnachtstag – nicht verlieren möchte. Damit müsste zunächst aber geklärt werden, ob die Geschäfte am Karfreitag ab 14.00 Uhr überhaupt offen halten dürfen. Dazu müsste das Öffnungszeitengesetz geändert werden, das vorsieht, dass Geschäfte an 50 Silberbauer, K. Der Halbfeiertag kann nicht um 14 Uhr beginnen; Der Standard vom 25. Februar 2019, S. 12. 51 Vgl. Kary, C. Karfreitags-Regelung sorgt für Chaos; Die Presse vom 21. Februar 2019, S. 15. 52 Aichinger, P. Das Kreuz mit dem „halben Feiertag“; Die Presse vom 20. Februar 2019, S. 7.

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Sonn- und Feiertagen grundsätzlich – bei einigen Ausnahmebestimmungen für den 8., den 24. und den 31. Dezember – geschlossen bleiben. Ebenso müssten sich die Sozialpartner auf die Zuschlagsregelung für die Angestellten einigen, wofür der Handelsverband am 19. Februar 2019 eine Regelung wie für den 8. Dezember (Maria Empfängnis) vorgeschlagen hat. Diese Lösung – Überstundenzuschlag von 200 Prozent und Zeitausgleich – ist ex­ trem teuer und würde für den Handel zwei- bis dreimal so teuer, wie ein normaler Arbeitstag kommen.53 Iris Thalbauer, Geschäftsführerin der Bundessparte Handel in der WKO stellt in diesem Zusammenhang fest, „dass ein ab 14.00 Uhr geschlossener Karfreitag für uns der worst case wäre. Aber auch so verlangen wir eine Kompensation für die Zusatzkosten von 30 bis 40 Mio. Euro allein im Handel“.54 Nachtrag: Jom Kippur, Reformationstag und Schulzeitregelung Obwohl im gegenständlichen Urteil des EuGH nicht verfahrensgegenständlich, könnten ähnliche Diskriminierungserwägungen auch für die Feiertagsregelung des jüdischen Versöhnungsfestes „Jom Kippur“ gelten, obwohl dieses nicht im Arbeitsruhegesetz sondern vielmehr in einem Generalkollektivvertrag aus dem Jahr 1953 – abgeschlossen zwischen der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund – geregelt sowie in einer Reihe von Branchen-Kollektivverträgen verankert ist. Der Versöhnungstag gilt für einen Arbeitnehmer, der der israelitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich angehört, dann als arbeitsfreier Tag, wenn der Anspruch auf Freistellung spätestens eine Woche vorher begehrt wird und der Freistellung nicht betriebliche Gründe entgegenstehen.55 Sollte der Gesetzgeber aber zB zugleich reglementieren, dass Kollektivverträge keine Feiertags- bzw. Ruheregelungen enthalten dürfen, die aus Gründen der Religion differenzieren, dann wäre der Jom Kippur – als Reaktion auf die Verbrechen der Shoa – auf jeden Fall davon auszunehmen, da er ohne Zweifel den Fall einer sachlich gerechtfertigten positiven Diskriminierung darstellt.56 Ähnlich verhält es sich mit dem evangelischen Reformationstag. Obwohl sich das Urteil des EuGH an sich nur auf das Arbeitsruhegesetz bezieht, 53 Höller, C. Sollen Geschäfte um 14 Uhr schließen?, Die Presse vom 20. Februar 2019, S. 7 54 Bachner, M. Karfreitag wird ein halber Feiertag für alle – aber niemand freut sich; Kurier vom 20. Februar 2019, S. 4. 55 EuGH: Recht auf Karfreitag-Feiertag steht allen Arbeitnehmern zu; http://www. bindergroesswang.at/index.php?id=829; WKO, Arbeiten an Feiertagen. 56 Vgl. dazu die Aussagen von Roland Gerlach und Franz Marhold, zitiert bei Kary, Karfreitags-Regelung sorgt für Chaos (Fn. 51); Die Presse vom 21. Februar 2019, S. 15.

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müsste dessen Tenor diesbezüglich analog auch auf kollektivvertragliche Regelungen – und wohl auch Einzelarbeitsverträge – erstreckt werden. Da diese Bestimmungen durch eine Gesetzesänderung vielfach nicht automatisch wegfallen bzw mitgeändert werden, könnten in praxi auch nach einer Gesetzesänderung diverse „Parallelregelungen“ entstehen.57 Aber nicht nur bei Arbeitnehmern, sondern auch bei Schülern gibt es laut Schulzeitgesetz (1985)58 markante Unterschiede, bei denen nach Religionszugehörigkeit differenziert wird. So sind Angehörige der Evangelischen Kirche am 31. Oktober vom Schulbesuch befreit. Schüler der israelitischen Religionsgesellschaft sind an den beiden ersten und den beiden letzten Tagen des Passahfestes, den beiden Tagen des Offenbarungsfestes, den beiden Tagen des Neujahrsfestes, dem Versöhnungstag sowie an den beiden ersten und den beiden letzten Tagen des Laubhüttenfestes ebenso vom Schulbesuch befreit. Und schließlich sind Schüler, die einem Religionsbekenntnis angehören, nach dem der Schulbesuch am Samstag oder bestimmte Tätigkeiten an diesem Tag für seine Anhänger unzulässig sind, vom Schulbesuch zu befreien.59 Fazit Wie die vorstehenden Ausführungen belegen, wurde mit dem KarfreitagsUrteil des EuGH arbeitsrechtlich die „Büchse der Pandora“ geöffnet. Die gegenseitige Verzahnung der dadurch berührten innerstaatlichen Bestimmungen ist so komplex, dass jede Veränderung einer einzelnen Bestimmung automatisch die Angleichung der anderen einschlägigen Bestimmungen zur Folge hat. In diesem Sinne entspricht die ausgesprochen kursorische gegenständliche gesetzliche Regelung eines „halben Feiertags“ für alle am Karfreitag ab 14.00 Uhr weder exakt der Vorgabe des EuGH-Urteils, noch geht sie mit den sonstigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen in Österreich konform. Sie ist als „Schnellschuss“ dem Termindruck für das Zustandekommen einer gesetzlichen Regelung noch vor dem nächsten Karfreitag am 19. April 2019 geschuldet, wird aber von vielen als „Frotzelei“ empfunden60 und von der evangelischen Kirche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch beeinsprucht werden.61

57 Riegler/Regitnig, EuGH-Urteil zu Karfreitag lässt Fragen offen (Fn. 25). 58 BGBl. Nr. 77/1985 idgF. 59 Brocza, S. Der nächste Karfreitag kommt bestimmt, Die Presse vom 22. Februar 2019, S. 25. 60 Halber Kar-feier-tag: Kritik an Neuregelung; Kurier vom 20. Februar 2019, S. 1. 61 Klage gegen halben Feiertag geplant; Tiroler Tageszeitung vom 22. Februar 2019, S. 21.

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Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung

Nachtrag Die vorstehend geschilderte Situation wurde bis Dienstag, dem 26. Februar 2019, am Vormittag noch offiziell vertreten, zu Mittag kam dann aber der Schwenk. Die umstrittene Regelung des Karfreitags als „halber Feiertag“ ab 14.00 Uhr kommt ebenso wenig wie ein ganzer Feiertag für alle. Dafür bietet die Bundesregierung den Arbeitnehmern jetzt einen „persönlichen Feiertag“ an: Wer rechtzeitig einen Tag aus seinem bisherigen Urlaubskontingent als „persönlichen Feiertag“ anmeldet, soll diesen freien Tag garantiert bekommen oder zu Feiertagsbezügen an diesem Tag arbeiten können. Einen zusätzlichen Urlaubstag gibt es dafür aber nicht. Sollte es bei dieser Regelung bleiben, würde den Angehörigen der vier Kirchen zuerst ein halber Feiertag und jetzt sogar der ganze gestrichen werden, obwohl er sowohl im Arbeitsruhegesetz, als auch im General-Kollektivvertrag verankert ist. Dass diese nunmehr gefundene Regelung für den evangelisch-lutherischen Bischof Michael Bünker „eine positive Lösung mit Wermutstropfen“ ist62, ist eigentlich unverständlich. Quelle: EU-Infothek vom 27. Februar 2019, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 21) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 22, nachstehend auf S. 281 ff.

62 Urlaub statt Feiertag: Regierung streicht Karfreitags-Regelung, vom 26. Februar 2019; https://www.msn.com/de-at/nachrichten/inland/urlaub-statt-feiertag-regie rung-streicht...

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Vom „halben Feiertag“ am Karfreitag zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl

22. Vom „halben Feiertag“ am Karfreitag zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl Welches Schicksal droht aber dem Auslöser dieser unglaublichen „HuschPfusch“-Gesetzgebung? So einen „salto mortale“, wie man ihn vor kurzem in der Behandlung der Frage der Ausgestaltung des nächsten Karfreitags erlebt hat, hat es in der jüngeren Geschichte der österreichischen Legistik noch nicht gegeben. Die ursprünglich angedachte Regelung eines „halben Feiertages“ am Karfreitag ab 14.00 Uhr für alle wurde plötzlich fallen gelassen und dafür in wenigen Stunden ein neues Konzept ausgearbeitet, gemäß dessen ein Urlaubstag zum „persönlichen Feiertag“ erklärt wurde, den sich der jeweilige Arbeitnehmer nach eigener Wahl aussuchen könne. Dies alles geschah in einem atemberaubenden Tempo, ohne entsprechende Beteiligung der betroffenen Sozialpartner und Glaubensgemeinschaften und ohne öffentliche Begutachtung. Diese singuläre Vorgangsweise der österreichischen Bundesregierung bei der Ausarbeitung einer so umstrittenen Rechtsfrage verdient eine nähere Betrachtung. Auf den historischen Vorlauf und den Auslöser dieser Problematik ist der Verfasser allerdings bereits einmal vertieft eingegangen, sodass auf diesen Beitrag1 verwiesen werden kann. Der Ausgangspunkt dieses Problemfalles war ein VorabentscheidungsUrteil des Gerichtshofs der EU (EuGH) gem. Art.  267 AEUV von Ende Jänner dieses Jahres, in dem dieser auf die Frage des Obersten Gerichtshofs (OGH) feststellte, dass eine exklusive Feiertagsregelung am Karfreitag – allein für die Angehörigen von vier Religionsgemeinschaften – eine unzulässige unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Religion darstellt. Anstatt dieses Urteil aber entsprechend selbst umzusetzen, setzte der OGH das Revisionsverfahren fort, hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die anstehende Rechtssache an das Erstgericht zur weiteren Erhebung zurück. Damit droht dem Auslöser der gesamten Problematik, Markus Achatzi, aber nicht nur der Verlust seiner „Ergreiferprämie“, sondern es besteht auch die Gefahr, dass er auf seinen Gerichtskosten „sitzen bleibt“. Er muss nämlich nachweisen können, dass er seinem Arbeitgeber die Forderung nach Erhalt einer zusätzlichen Karfreitag – „Feiertags-Vergütung“ zeitgerecht vorab mitgeteilt hatte, was aber mehr als unwahrscheinlich ist. Es gilt daher, einem außerordentlich komplexen Ausgangsverfahren sowie der Umsetzung eines dabei ergangenen Vorabentscheidungsurteils des EuGH durch die österreichischen Gerichte in aller Kürze nachzugehen. 1 Hummer, W. Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung. EU-Infothek vom 27. Februar 2019, S. 1 ff.; siehe dazu Artikel Nr. 21, vorstehend auf S. 265 ff.

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Ausgangslage Aufgrund der heftigen Kritik, die die bisher angedachte Karfreitags-Lösung in Form eines „halben Feiertags“ ab 14.00 Uhr für alle Arbeitnehmer, vor allem aus den Kreisen der Religionsgemeinschaften, aber auch von wichtigen Interessensvertretungen, erfahren hat, hat sich die Bundesregierung umgehend entschlossen, einen völlig neuen Vorschlag vorzulegen, der in der Einführung eines „persönlichen Feiertags“ nach eigener Wahl eines jeden Arbeitnehmers besteht. Damit übernimmt sie einen Vorschlag des Handelsverbandes, den dieser bereits am 23. Jänner vorgelegt hatte.2 Die Vertreter der österreichischen Handelsunternehmen hatten nämlich besonders heftig gegen einen zusätzlichen Feiertag protestiert und dafür die „halbe“ Feiertagslösung vorgeschlagen. Mit dieser Vorgangsweise nahm die Bundesregierung aber den Parlamentsklubs im Nationalrat das Heft aus der Hand, da bis dahin die Abgeordneten der ÖVP-FPÖ-Koalition die Lösung mit dem „halben Feiertag“ am Karfreitag für alle federführend vereinbart hatten. Die Leitung dieses Verhandlungsteams lag in den Händen des stellvertretenden ÖVP-Klubobmanns, Peter Haubner, und des FPÖ-Klubobmanns, Walter Rosenkranz, die ihren Lösungsvorschlag am 19. Februar 2019 offiziell vorgestellt hatten. Am Tag der Einigung auf den „persönlichen Feiertag“, nämlich am Dienstag, dem 26. Februar 2019, fungierten dann konsequenterweise die beiden Regierungskoordinatoren Gernot Blümel und Norbert Hofer als Sprachrohre.3 Nachdem, aufgrund der massiven Proteste von Kirchenvertretern, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, die Idee eines „halben Feiertages“ gefallen war, kam es in der Folge zu sehr kurzfristig anberaumten Gesprächen der Regierungskoordinatoren Blümel und Hofer mit Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaften, die letztlich aber ergebnislos blieben. Kurzfristig hatte man dabei am Montag, dem 25. Februar, auch folgenden Lösungsvorschlag des evangelisch-lutheranischen Bischofs Michael Bünker,4 in Erwägung gezogen: Der Karfreitag sollte für alle zum Feiertag gemacht werden, der Pfingstmontag dafür aber fallen. Diesen „Feiertagstausch“ wollten aber wiederum die Vertreter von Religionsgemeinschaften, der Gastronomie und des Tourismus nicht akzeptieren, sodass die Idee des vom

2 Wirtschaft. Allgemeine Erleichterung, Kleine Zeitung vom 27. Februar 2019, S. 5; vgl. Karfreitag ist jetzt gar kein Feiertag mehr, Tiroler Tageszeitung vom 27. Februar 2019, S. 23; Bachner, M. Tausche Urlaubstag gegen Feiertag, Kurier vom 27. Februar 2019, S. 3. 3 Karfreitagslitanei, Der Standard vom 27. Februar 2019, S. 15. 4 Brief von Bischof Bünker vom 3. März 2019 an alle evangelischen Pfarrgemeinden; https://evan.at/karfreitag-bischof-buenker-wendet-sich-in-brief-an-alle-pfarrge meinden/

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Handelsverband bereits früher vorgeschlagenen „persönlichen Feiertages“ wieder aufgegriffen wurde.5 In der Folge wurde von Montag auf Dienstag bis drei Uhr früh verhandelt, anschließend dann wieder ab halb neun Uhr. Zuletzt einigte man sich am Dienstag, dem 26. Februar, zu Mittag auf einem Gipfel mit den betroffenen Religionsgemeinschaften im Kanzleramt auf den Text der „neuen Karfreitagsregelung“, die in der Wahl eines „persönlichen Feiertages“ bestehen sollte.6 Diese neue Regelung wurde den anderen im Nationalrat vertretenen Parteien allerdings erst am Dienstag Abend – gerade einmal wenige Minuten vor Mitternacht – übermittelt, obwohl die Bundesregierung ursprünglich die Übersendung derselben bereits für Montag, dem 25. Februar, angekündigt hatte.7 Laut ÖVP-Klubobmann August Wöginger habe es eben bis in die Abendstunden gedauert, bis der Gesetzestext fertig geworden sei. Anders als die Oppositionsparteien, sehen ÖVP und FPÖ damit die in der Präsidiale getroffene Vereinbarung deswegen nicht als verletzt an, da man schließlich die Zusage, den Abänderungsantrag allerspätestens am Dienstag vorzulegen, doch eingehalten habe. SPÖ, NEOS und JETZT wehrten sich dagegen aber heftig. Ersatzlos einen Feiertag zu streichen und die konkreten Bestimmungen noch dazu erst fünf Minuten vor Mitternacht vorzulegen, gehe einfach nicht, zeigte sich SPÖ-Abgeordneter Jörg Leichtfried empört. Auch Nikolaus Scherak (NEOS) und Wolfgang Zinggl (JETZT) kritisierten diese Vorgangsweise scharf. Ganz allgemein wiesen die Redner der Oppositionsparteien darauf hin, dass unter diesen Umständen weder eine entsprechende Begutachtung des Gesetzesentwurfs noch eine ausführliche Debatte mit allen von der neuen Regelung betroffenen Interessengruppen möglich gewesen sei. Dies führte in der Folge zu einer hitzigen Geschäftsordnungsdebatte, wobei aber Natio­ nalratspräsident Sobotka keine Veranlassung sah, den Verhandlungsgegenstand von der Tagesordnung zu nehmen. So hielt er, im Anschluss an eine kurze Sitzungsunterbrechung zur Abhaltung einer sog. „Stehpräsidiale“ fest, dass es zweckmäßig sei, die Debatte im Parlament zeitnah zur öffentlichen Diskussion zu führen.8 Schließlich wurde die gesetzliche Verankerung der „neue Karfreitagsregelung“ am Abend des 27. Februar 2019 – dh nur einen Tag nach Bekanntwerden der konkreten Pläne der Bundesregierung (sic) – im Nationalratsplenum mit den Stimmen der beiden Regierungspar5 Thalhammer, A. Der Karfreitag wird abgeschafft, Die Presse vom 27. Februar 2019, S. 1. 6 Renner, G. Der „perfekte“ Ersatz für den Karfreitag, Kleine Zeitung vom 27. Februar 2019, S. 4. 7 Regierung beschließt neue Karfreitagsregelung trotz Kritik, Wiener Zeitung vom 28.  Februar 2919, S. 9; Bonavida, I. Als das Parlament einen Feiertag strich, Die Presse vom 28. Februar 2019, S. 7. 8 Nationalrat beschließt neue Karfreitags-Regelung; Parlamentskorrespondenz Nr. 190 vom 27.02.2019.

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teien ÖVP und FPÖ beschlossen.9 Die weitere Behandlung dieser Materie im Bundesrat wurde für den 14. März vorgesehen. In diesem Zusammenhang muss aber noch erklärt werden, wie es zu dieser überaus raschen parlamentarischen Beschlussfassung überhaupt kommen konnte. Da es an sich nicht möglich ist, ein neues Gesetz im Nationalrat einzubringen und noch am selben Tag zu beschließen, nützte die Bundesregierung die Geschäftsordnung des Nationalrates „kreativ“, indem sie die Gesetzesvorlage nicht als neuen Gesetzesantrag in Form einer Regierungsvorlage, sondern lediglich als Änderungsantrag eines bereits in der letzten Nationalratssitzung, nämlich am 30. Jänner 2019, von den Abgeordneten Ernst Gödl (ÖVP), Dagmar Belakowitsch (FPÖ) und KollegInnen eingebrachten Gesetzesentwurfs (auf Änderung des Arbeitsruhegesetzes, des Feiertagsruhegesetzes und weiterer Gesetze) zur bloßen Anpassung desselben an die aktuellen Ressortbezeichnungen im Bundesministeriengesetz (BMG) sowie zur Vornahme redaktioneller Berichtigungen10, qualifizierte. Danach wurde dieser vorsorglich von den Koalitionsparteien eingebrachte (Abänderungs)Antrag dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Nationalrates zugewiesen und von diesem am 19. Februar 2019 mit ÖVP– FPÖ-Mehrheit auch beschlossen.11 Damit konnte aber der noch nicht konkretisierte Gesetzesantrag in seiner jeweiligen Ausformung auf die Tagesordnung der dafür in Aussicht genommenen Plenartagung des Nationalrates gesetzt werden. Dank dieser „Trägerrakete“, wie diese Vorgangsweise im Parlamentsjargon genannt wird,12 konnte die „neue Karfreitagsregelung“ dann auch per (bloßem) Abänderungsantrag eines bereits eingebrachten Gesetzesentwurfes – und nicht als neuer Gesetzesantrag in Form einer formellen Regierungsvorlage – im Plenum des Nationalrates eingebracht und auch sofort beschlossen werden. Die Benützung dieser geschäftsordnungsmäßig zulässigen Technik zur Beschleunigung der Beschlussfassung von Gesetzesvorlagen zeugt allerdings von einer wohldurchdachten Vorgangsweise der Bundesregierung, um diese heikle Materie ohne Begutachtung und intensive Befassung der davon betroffenen Interessengruppen gesetzlich noch „zeitgerecht“ verabschieden zu können.

9 Bundesgesetz, mit dem das Arbeitsruhegesetz, das Bäckereiarbeiter/innengesetz 1996, das Feiertagsruhegesetz 1957, das Landarbeitsgesetz 1984 und das Land- und Forstarbeiter-Dienstrechtsgesetz geändert werden, 500 der Beilagen XXVI. GP; siehe dazu PS:, nachstehend auf S. 299. 10 606/A vom 30.01.2019 (XXVI.GP). 11 Parlamentskorrespondenz Nr. 149 vom 19.02.2019. 12 Oswald, G. – Szigetvari, A. Auch neue Karfreitagsregel wird wohl Fall für die Gerichte, Der Standard vom 28. Februar 2019, S. 17.

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Die „neue Karfreitagsregelung“: ein „persönlicher Feiertag“ nach eigener Wahl für alle Das Bundesgesetz über die „neue Karfreitagsregelung“13 ist in fünf Artikel unterteilt, die folgende Änderungen an den bestehenden gesetzlichen Regelungen vornehmen: Änderung des Arbeitsruhegesetzes 1983 (Artikel 1); Änderung des Bäckereiarbeiter/innengesetzes 1996 (Artikel 2); Änderung des Feiertagsruhegesetzes 1957 (Artikel 3); Änderung des Landarbeitsgesetzes 1984 (Artikel 4) und Änderung des Land- und Forstarbeiter-Dienstrechtsgesetzes 1980 (Artikel 5). Nachstehend soll nur auf die einschlägigen Artikel 1 und 3 kurz eingegangen werden. Gem. Artikel 1 wird dem Arbeitsruhegesetz14 ein neuer § 7a mit der Überschrift „Einseitiger Urlaubsantritt („persönlicher Feiertag“)“ eingefügt und dem § 33a werden die beiden Absätze 28 und 29 angefügt. Gem. § 7a Abs. 1 kann der Arbeitnehmer den Zeitpunkt des Antritts eines Tages des ihm zustehenden Urlaubs einmal pro Urlaubsjahr einseitig bestimmen, wobei er diesen Zeitpunkt spätestens drei Monate im Voraus schriftlich bekannt zu geben hat. Gem. Abs. 2 steht es dem Arbeitnehmer frei, auf Ersuchen des Arbeitgebers den bekannt gegebenen Urlaubstag nicht anzutreten. In diesem Fall hat der Arbeitnehmer weiterhin Anspruch auf diesen Urlaubstag. Des Weiteren hat er für den bekannt gegebenen Tag außer dem Urlaubsentgelt Anspruch auf das für die geleistete Arbeit gebührende Entgelt, insgesamt daher das doppelte Entgelt, womit das Recht gem. Abs.  1 erster Satz konsumiert ist. Gem. § 33a Abs. 28 Arbeitsruhegesetz sind Bestimmungen in Normen der kollektiven Rechtsgestaltung, die nur für Arbeitnehmer, die den evangelischen Kirchen AB und HB, der Altkatholischen Kirche oder der Evangelisch-methodistischen Kirche angehören, Sonderregelungen für den Karfreitag vorsehen, unwirksam und künftig unzulässig. Gem. Abs. 29 kann der Arbeitnehmer binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes einen Zeitpunkt für den Urlaubsantritt wählen, ohne die Frist gem. Art. 7a Abs. 1 einzuhalten. In diesem Fall hat der Arbeitnehmer den Zeitpunkt des Urlaubsantritts frühestmöglich, spätestens aber zwei Wochen vor diesem Zeitpunkt, dem Arbeitgeber bekannt zu geben. Gem. Artikel 3 wird § 1 Abs. 1 des Feiertagsruhegesetzes dahingehend geändert, dass der Karfreitag nicht mehr als Feiertag iSd Bundesgesetzes gilt. Gem. Abs. 2 sind für öffentlich Bedienstete, deren Dienstverhältnis bundesgesetzlich geregelt ist, § 7a und § 33a Abs. 29 Arbeitsruhegesetz sinngemäß anzuwenden. Kurz zusammengefasst stellt sich die nunmehrige „neue Karfreitagsregelung“ damit folgendermaßen dar. Der Karfreitag als bisheriger gesetzlicher Feiertag für Protestanten, Altkatholiken und Methodisten wurde gestri13 Siehe Fn. 9. 14 BGBl. Nr.144//1983 idF BGBl. I Nr. 53/2018.

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chen. Stattdessen wird ein wahlweiser „persönlicher Feiertag“15 für alle eingeführt, der allerdings nicht in einem zusätzlichen Urlaubstag besteht, sondern aus dem gegebenen Urlaubskontingent heraus bestritten werden muss. Der Unterschied zu einem „normalen“ Urlaubskonsum besteht lediglich darin, dass der als „persönlicher Feiertag“ deklarierte Urlaubstag nicht vereinbart werden muss, sondern vom Arbeitnehmer einseitig gewählt werden kann. Eine Zustimmung des Arbeitgebers ist also nicht erforderlich. Auch Konfessionslosen steht ein „persönlicher Feiertag“ im Rahmen der Urlaubstage zu. Evangelische Arbeitnehmer, Altkatholiken und Methodisten verlieren damit aber einen Feiertag und müssen sich am Karfreitag einen Urlaubstag nehmen, so sie das wollen. Das Recht auf einen selbstbestimmten Urlaubstag gilt grundsätzlich auch für Bundesbedienstete, nicht gelten soll der „persönliche Feiertag“ allerdings für Lehrerinnen und Lehrer, da das für sie ja geltende Dienstrecht auf „Schuljahre“ und „Schulferien“ und nicht auf Urlaubsjahre abstellt. Im Übrigen hätten sie am heurigen Karfreitag ohnehin frei, da dieser ja in die Osterferien fällt. Der „persönliche Feiertag“ kann von einem Arbeitnehmer zwar gegen den Willen des Arbeitgebers genommen werden, wird er aber auf dessen ausdrücklichen Wunsch nicht angetreten, so hat der Arbeitnehmer weiterhin Anspruch auf diesen Urlaubstag und hat dabei außer dem Urlaubsgeld auch Anspruch auf das für die geleistete Arbeit gebührende Entgelt, insgesamt daher auf das doppelte Entgelt. Dem Arbeitnehmer steht damit das Feiertagsentgelt zu, ohne dass der Urlaubstag verfällt. Der einzige Vorteil gegenüber regulärem Urlaub: Sollten die Arbeitnehmer am „persönlichen Feiertag“ dennoch arbeiten, weil das Unternehmen „dringende betriebliche Gründe“ geltend macht, soll es dafür eben einen Feiertagszuschlag geben. In das nächste Jahr übertragen kann man den „persönlichen Feiertag“ allerdings nicht, was bei einem Arbeitgeberwechsel während des Jahres gilt – ob Jobwechsler ein Anrecht auf zwei persönliche Feiertage pro Jahr haben (einen pro Arbeitgeber) oder nicht – ist offensichtlich ungeklärt.16 Ebenso offen ist die Frage, was denn passiert, wenn alle Arbeitnehmer eines Betriebs ihren persönlichen Feiertag „akkordiert“ für den gleichen Tag geltend machen. Dass von der „neuen Karfreitagsregelung“ in diesem Zusammenhang durchaus eine „missbräuchliche“ Verwendung gemacht werden kann, sei nur an folgendem Beispiel exemplifiziert. Wenn zB die gesamte Belegschaft einer Buchhaltungsabteilung – untereinander abgesprochen – beschließt, den „persönlichen Feiertag“ auf den Tag vor dem Ultimo zu verlegen, wird dem Dienstgeber nichts anderes übrig bleiben, als seine Buchhalter zum Bleiben zu bewegen und zähneknirschend die Feiertagszu15 Bachner, Tausche Urlaubstag gegen Feiertag (Fn. 2) spricht bezüglich des „persönlichen Feiertags“ von einem „marketing-technisch nicht uninteressanten Begriff“. 16 Fragen zum Karfreitag: „Persönlicher Feiertag“ erregt Gemüter; https://www.msn. com/de-at/nachrichten/inland/fragen-zum-karfreitag-pers%c3%b6nli...

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schläge zu bezahlen.17 Ganz allgemein stellt in diesem Zusammenhang auch Martin Risak fest, dass sich Arbeitnehmer eines Betriebs an sich nur gegenseitig darüber absprechen müssen, ein und denselben Tag zum „persönlichen Feiertag“ zu erklären, um damit Druck auf den Arbeitgeber auszuüben. Sollte dieser Tag nicht ohnehin produktionsfrei sein, braucht der Unternehmer ja seine Angestellten, denen er aber in diesem Fall Feiertagszuschläge zu entrichten hätte.18 Der „persönliche Feiertag“ muss mit einem Vorlauf von drei Monaten dem Arbeitsgeber gemeldet werden, wobei es aber im heurigen Jahr eine verkürzte Frist von nur zwei Wochen gibt, falls der Arbeitnehmer den Zeitpunkt seines Urlaubsantritts binnen drei Monaten nach Inkrafttreten des gegenständlichen Bundesgesetzes bekannt gibt. Mit anderen Worten muss der Arbeitgeber in diesem Jahr seinen „persönlichen Feiertagswunsch“, zB für den nächsten Karfreitag am 19. April 2019, bis spätestens 5. April schriftlich anmelden. Der Arbeitgeber hat diesbezüglich kein Ablehnungsrecht. Im Pressefoyer nach der Ministerratssitzung am Mittwoch, dem 27. Februar 2019, verteidigten Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache die „neue Karfreitagslösung“ und wiesen darauf hin, dass keiner der 13 in Österreich geltenden Feiertage gestrichen und auch die Diskriminierung der Nicht-Evangelen beseitigt wurde, und sich ganz allgemein, auch „für 96 Prozent der Österreicher nichts ändere“.19 Damit wollten die beiden offensichtlich auf die geringe Größe der Anhängerschaft der evangelischen Kirche in Österreich hinweisen, die lediglich etwas mehr als 290.000 Mitglieder zählt, von denen der allergrößte Teil der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (A.B.) angehört.20 Kritik an der „persönlichen Feiertagsregelung“ Massive Kritik an der „neuen Karfreitagsregelung“ kommt nicht nur von den Oppositionsparteien und den Arbeitnehmervertretungen, sondern auch von den Vertretern der Religionsgemeinschaften – und hier wiederum nicht nur von denen, die die Evangelischen, Altkatholiken und Methodisten ver17 Koller, A. Jetzt wird doch jemandem etwas weggenommen, Salzburger Nachrichten vom 27. Februar 2019, S. 1. 18 Szigetvari, A. – Oswald, G. Wie der Karfreitag heuer zum „persönlichen Feiertag“ wird und was sich sonst ändert; DerStandard.at vom 7. März; https://derstandard. at/2000098655312/Karfreitag-kein-Feiertag-mehr-Was-die-Neuregelung-konkretbedeutet 19 Diese Aussage von BK Kurz sorgte bei Synodenpräsident Peter Krömer für „blankes Entsetzen“; Evangelische: „Blankes Entsetzen“ über „96-Prozent“-Sager von Kurz; https://www.msn.com/de-at/nachrichten/politik/evangelische-blankes-entsetzen%c3... 20 Özkan, D. Das Leben der Protestanten: Eine Kirche im Umbruch, Die Presse vom 10. März 2019, S. 34.

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treten. Lediglich die Wirtschaft ist mit der neuen Regelung (einigermaßen) zufrieden. Was die Oppositionsparteien betrifft, so haben – schon vor der Beschlussfassung über den Gesetzesantrag – nicht nur der Abgeordnete Josef Mu­ chitsch, Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Nationalrates einen Antrag auf einen freien Karfreitag für alle eingebracht21, sondern es hat auch die SPÖ eine Online-Petition gestartet. Für die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner ist die neue Regelung „skurril und bizarr“ bzw. „völlig untauglich und arbeitnehmerfeindlich“22 und für Daniela Holzinger (JETZT) nichts anderes als ein „nett verpackter Urlaubsraub“.23 Ihr Fraktionskollege Alfred Noll ortet gar einen „Lohnraub“ und sieht den höchsten Feiertag der Protestanten massiv herabgewürdigt. Der Sozialsprecher der NEOS, Gerald Loacker, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „persönliche Feiertagsregelung“ einen hohen bürokratischen Aufwand erfordern und für die Lohnverrechnung der einzelnen Unternehmen eine besondere Herausforderung darstellen wird. Von Arbeitnehmerseite zeigte sich vor allem die Arbeiterkammer (AK)Präsidentin, Renate Anderl, erzürnt, die in diesem Zusammenhang von einem „Kniefall vor der Wirtschaft“, aber auch von einer „Verhöhnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“, und ganz allgemein, von der „schlechtesten Lösung“, um eine Diskriminierung zu beseitigen, sprach. Anderl sieht in diesem neuen Stil eine „Abkehr vom Ausgleich der Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Das hat es so in der Zweiten Republik noch nie gegeben“.24 Auch befürchtet die AK, ganz wie der eben erwähnte Sozialsprecher der NEOS, Gerald Loacker, ein „Abrechnungschaos“ durch die Regelung, dass für die Arbeit am „persönlichen Feiertag“ sowohl „Urlaubsentgelt“ als auch das Entgelt für die geleistete Arbeit zu zahlen ist, obwohl man ja keinen Urlaub verbraucht hat, usw. Für den ÖGB stellt die „neue Karfreitagsregelung“ einen „Tabubruch“ dar, da bisher noch keine Bundesregierung in die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie der Sozialpartner eingegriffen hat. Zu dieser verfassungsrechtlichen Problematik bestehen aber unter den Experten zwei unterschiedliche Denkrichtungen: während die einen anmerken, dass nur durch einen solchen Eingriff die vom EuGH gerügte Feiertagsdiskriminierung beseitigt werden kann – da diese ua ja auch kollektivvertraglich veran21 Antrag 575/A, 499 der Beilagen XXVI. GP. 22 Karfreitag kein Feiertag, aber dafür Anspruch auf Urlaub, Der Standard vom 27. Februar 2019, S. 1; Halbfreier Karfreitag ist gestrichen, Tiroler Tageszeitung vom 27. Februar 2019, S. 1. 23 Regierung streicht Karfreitag aus Feiertagskalender; https://www.msn.com/de-at/ nachrichten/inland/regierung-streicht-karfreitag-aus-feiert... 24 Karfreitag: „Regierung hat schlechteste Variante ausgesucht“; https://www.msn. com/de-at/nachrichten/politik/karfreitag-regierung-hat-schlechteste-...

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kert ist – gehen die anderen davon aus, dass die Bundesregierung einfach einen Feiertag für alle einführen oder es den Sozialpartnern hätte überlassen können, selbst eine neue, diskriminierungsfreie Regelung zu finden. Für den Leitenden ÖGB-Sekretär Bernhard Achitz wiederum stellt die Neuregelung eine durchaus anfechtbare Lösung dar, die auch konkret angefochten werden soll bzw. auch sicherlich wird.25 Was die Vertreter der einzelnen Kirchen betrifft, so zeigen sich vor allem die der Evangelen, Altkatholiken und Methodisten bestürzt. Während der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker zunächst noch erklärte, dass die neue Karfreitagsregelung „eine positive Lösung mit Wermutstropfen sei“,26 erklärte der Superintendent Kärntens, Manfred Sauer, dass er „empört und geschockt sei“, da den Evangelischen ein Feiertag weggenommen wurde und diese damit um ihren Karfreitag „betrogen wurden“. Der Präsident der Synode der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich, Peter Krömer, wiederum stellte fest, dass die Tatsache, dass die evangelischen Kirchen in einer so zentralen Frage, wie der der Abschaffung des Karfreitags als gesetzlicher Feiertag, weitgehend negiert wurden, „insgesamt demokratieschädlich“ sei.27 Dementsprechend wollten Evangelische und Altkatholiken die Feier des „politischen Aschermittwoch“ der ÖVP in Klagenfurt für einen Protest in Sachen Karfreitag nützen und einen „Schweigemarsch“ veranstalten. Dabei planten sie, BK Sebastian Kurz eine Erklärung zu übergeben, in der ein Abtausch des Karfreitags mit dem Pfingstmontag gefordert28 und, ganz allgemein, kritisiert wird, dass fast ausschließlich wirtschaftliche Argumente für die „neue Karfreitagslösung“ ins Treffen geführt werden.29 Durch einen interessanten Trick gelang es aber der Jungen ÖVP, den „politischen Aschermittwoch“ der ÖVP in Klagenfurt störungsfrei zu halten. Nach einer Andacht im Hof des Landhauses wollten die evangelischen Demonstranten, wie vorstehend bereits erwähnt, in einem Schweigemarsch 25 Siehe dazu nachstehend auf S. 298. 26 Als (bloßen) „Wermutstropfen“ bezeichnete der evangelisch-lutherische Bischof Bünker zunächst den Umstand, dass der selbst gewählte Feiertag aus dem bestehenden Urlaubskontingent zu bestreiten ist. In der Folge verschärfte er aber seine Kritik und sprach von einem „gebrochenem Versprechen“ der Bundesregierung; Karfreitag: Bünker spricht von „gebrochenem Versprechen“; https://www.msn.com/de-at/ nachrichten/politik/Karfreitag-b%c3%bcnker-spricht-von-... 27 Böhmer, C. „Demokratieschädlich“: Synode geht auf Distanz zur Regierung, Kurier vom 10. März 2019, S. 7. 28 Einen solchen Abtausch mit einem anderen, kirchlich-theologisch niederrangigeren Feiertag – vorzugsweise einem nicht vom Konkordat geschützten (Oster-, Pfingstmontag, Stefanitag) – forderten aber auch eine Reihe von Nicht-Kirchenvertreter, wie zB Stourzh, G. Die Karfreitagslösung neu regeln, Der Standard vom 22. Februar 2019 und Mitlöhner, R. Karfreitagszauber (II), Die Furche (2019) Nr. 9, S. 1. 29 Empörung über Karfreitags-Ausnahmen, Tiroler Tageszeitung vom 5. März 2019, S. 20; Spektakuläre Karfreitagsallianz, Die Presse vom 2. März 2019, S. 11.

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zur Klagenfurter Messehalle marschieren, wo die ÖVP-„AschermittwochFeier“ stattfinden würde, die auch BK Kurz die Gelegenheit für einen pu­ blikumswirksamen Auftritt bieten sollte. Die ca. 500 Demonstranten konnten aber nur bis zum Kärntner Landesarchiv – eine Straßenzeile von der Messehalle entfernt – vordringen, da sie dort von der Polizei zurückgewiesen wurden, die zwischenzeitlich eine Schutzzone von 50 bis 150 Metern rund um eine gleichzeitig von der Jungen Volkspartei (JVP) abgehaltene Kundgebung errichtet hatte. Der Grund dafür lag in dem Umstand, dass die JVP ihre Kundgebung zum Thema „Einführung des Familienbonus durch die Bundesregierung“ vorsorglich bereits am 1. März angemeldet hatte, während die Evangelen ihre Karfreitags-Demonstration erst am 4. März registrieren ließen. Durch diese „trickreiche“ frühere Anmeldung der Kundgebung der Parteijugend war also dafür gesorgt, dass die ÖVP in der Messehalle ihren „politischen Aschermittwoch“ ungestört abhalten konnte.30 Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) sieht hingegen die neue „Karfreitags-Lösung“ vorsichtig optimistisch. Wie ihr Präsident, Ümit Vural, erklärte, freue er sich darüber, dass es nun einen Rechtsanspruch der Muslime auf einen Feiertag gebe, den die Muslime in diesem Land bisher noch nicht gehabt haben. Es ist dies tatsächlich der erste Feiertag für die Muslime in Österreich. Bedauerlich sei nur, dass man dafür einen Urlaubstag opfern müsse.31 Die Interessenvertretungen der Wirtschaft äußerten sich grundlegend positiv, wenngleich mit einigen Differenzierungen. Was die Wirtschaftskammer (WK) betrifft, so zeigte sich vor allem der Handel mit der Offenhaltung der Geschäfte am Karfreitag, dem zweitstärksten Umsatztag nach dem Vorweihnachtstag,32 zufrieden, wie dies Peter Buchmüller, der Obmann der Bundessparte Handel in der WK, ausdrückte. Die Vereinigung Österreichischer Industrieller (IV) ist hingegen vorsichtig optimistisch und besteht auf der Sicherstellung, dass das Gesetz tatsächlich praxisgerecht und ohne Mehrbelastung der heimischen Unternehmen umgesetzt wird. Offene Fragen Neben den vorstehend erwähnten kritischen Anmerkungen müssen aber auch eine Reihe offener Rechtsfragen erwähnt werden, auf die die Bundesregierung bis jetzt noch nicht detailliert eingegangen ist und hinsichtlich derer kontroverse Äußerungen von einschlägigen Fachvertretern existieren. Aus der Fülle der dabei angesprochenen Problemlagen sollen nachstehend lediglich die wichtigsten herausgegriffen werden. 30 Zaunbauer, W. Für ungestörten Aschermittwoch griff die ÖVP tief in die Trickkiste, Kurier vom 9. März 2019, S. 2. 31 Vgl. Karfreitag wird als Feiertag gestrichen, Wiener Zeitung vom 27. Februar 2019, S. 9. 32 Siehe Hummer, Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung (Fn. 1).

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Gesetzlicher Eingriff in Kollektivverträge: verfassungswidrig? Rechtsdogmatisch der wohl größte Vorwurf, der der „neuen Karfreitagsregelung“ gemacht wird, ist der, dass dabei durch ein Gesetz in die Kollektivvertragsautonomie der Sozialpartner – ÖGB und WKÖ – eingegriffen wird. Unter Experten ist das höchst umstritten, wie vorstehend bereits erwähnt wurde. So sehen zB Franz Marhold und Walter Pfeil jeden Eingriff des Gesetzgebers in Inhalte von Kollektivverträgen als Verletzung von Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der die Koalitionsfreiheit – und damit das Recht, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände zu bilden – schützt, an.33 Ergänzend dazu verleiht Art. 28 der EU-Grundrechte-Charta sowohl den Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebern das Recht auf Kollektivverhandlungen und den Abschluss von Tarifverträgen. So hat der EuGH in einem Urteil vom September 201134, in dem es um die Frage der Altersdiskriminierung in einem Tarifvertrag ging, festgestellt, dass die Regierung zunächst den Sozialpartnern Gelegenheit geben müsse, eigenständig eine rechtskonforme Regelung auszuarbeiten. Erst dann, wenn diese in ihren Bemühungen scheitern, wäre ein gesetzlicher Eingriff zulässig.35 Neben dem EuGH sieht aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in zwei türkischen Anlassfällen36 die Sache ähnlich: Sollten Änderungen an Kollektivverträgen notwendig sein, müsste die Regierung die Lösung dieses Problems zunächst den Sozialpartnern überlassen. Im Gegensatz zu dieser Ansicht einer generellen Unzulässigkeit des Eingriffs des Gesetzgebers in bestehende Kollektivverträge, relativiert Georg Schima diese Sichtweise mit dem Hinweis darauf, dass die Regelungsmacht für Kollektivverträge nicht wie bei Verträgen unter Privaten aus dem Grundsatz der allgemeinen Privatautonomie, sondern aus der Zuweisung durch den Gesetzgeber stammt, sodass diesem dabei sehr wohl ein gewisser Handlungsspielraum zukommt. So wäre etwa auch eine Streichung von § 2 Abs. 2 Ziff. 4 des Arbeitsverfassungsgesetzes (ArbVG), die die Ausverhandlung von Sozialplänen auf Kollektivvertragsebene regelt, kein Eingriff in den Wesenskern der durch die EMRK und die EU-Grundrechte-Charta geschützten Tarifautonomie. Deshalb wäre auch die „neue Karfreitagsregelung“ sys33 Karfreitag: Arbeitsrechtler hält Eingriff in KV für unzulässig; kurier.at vom 27. Februar 2019; https://kurier.at/politik/inland/karfreitag-arbeitsrechtler-haelt-eingriffin-kv-fuer-unzulaessig/400419893 34 EuGH, verb. Rs. C-297/10 und C-298/10, Sabine Hennigs/Eisenbahn-Bundesamt und Land Berlin/Alexander Mai, Urteil vom 8. September 2011 (ECLI:EU:C:2011:560). 35 Karfreitag: Arbeitsrechtler hält Eingriff in KV für unzulässig (Fn. 33); Schnauder, A. Hoher Karfreitagspreis, Der Standard vom 27. Februar 2019, S. 34. 36 EGMR, Nr. 34503/97, Demir und Baykara/Türkei, Urteil vom 12. November 2008, Rdnr. 147 ff.; EGMR, Nr. 68959/01, Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei, Urteil vom 21. April 2009, Rdnr. 24 ff.; vgl. dazu Widmaier, U. – Alber, S. Menschenrecht auf Streik auch für deutsche Beamte?, ZEuS Heft 4/2012, S. 387 ff. (391).

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tematisch besser bei § 2 Abs. 2 ArbVG als im Arbeitsruhegesetz (ARG) zu verorten gewesen. Ein Eingriff, mit dem eine vom EuGH erkannte Diskriminierung auf zulässige Weise beseitigt wird, muss jedenfalls möglich sein.37 Damit wird ja an sich nur einer unionsrechtlichen Verpflichtung nachgekommen und nicht unverhältnismäßig in die Koalitionsfreiheit eingegriffen. Es werden aber auch differenziertere Positionen eingenommen. So ist zB RA Philipp Maier der Meinung, dass der Gesetzgeber sehr wohl in Kollektivverträge eingreifen dürfe, aber nur dann, wenn die Eingriffe begünstigend sind.38 Der Linzer Arbeits- und Sozialrechtler Elias Felten vertritt wiederum die Ansicht, dass der Gesetzgeber grundsätzlich schon in Kollektivverträge eingreifen dürfe, wobei aber abgewogen werden müsse, was stärker wiegt: das Interesse an einem Eingriff oder jenes, das dagegen spricht. Das einzige Problem, das er in diesem Zusammenhang mit der „neuen Karfreitagsregelung“ sieht, ist, dass dabei nicht auch die begünstigende Regelung für den jüdischen Feiertag Jom Kippur39 aus dem Generalkollektivvertrag eliminiert wurde, sodass auch das neue Gesetz diskriminierend sein könnte.40

„Neue Karfreitagsregelung“ und öffentlicher Dienst Während sich Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft aufgrund der „neuen Karfreitagsregelung“ einen „persönlichen Feiertag“ nehmen können, sieht die Situation für Öffentlich-Bedienstete – das sind 132.000 Bundesbedienstete und Zig-Tausende Landes- und Gemeindebedienstete – anders aus. Für Bundesbedienstete gibt es seit dem 8. März 1963 eine günstigere Regelung, und zwar unabhängig vom Religionsbekenntnis. Kraft Regierungsbeschluss haben diese seither am Karfreitag einen halben Tag frei und sind damit gegenüber Beschäftigten in der Privatwirtschaft bevorzugt.41 Der für die Beamten zuständige Bundesminister Heinz-Christian Strache verwies auf Befragung am 6. März 2019 expressis verbis auf diesen Ministerratsbeschluss.42 Unmittelbar nach dem Gesetzesbeschluss über die „neue Karfreitagsregelung“ kündigte eine Reihe von ÖVP-Bürgermeistern an, sich nicht daran halten zu wollen und manchen ihrer Mitarbeiter am Karfreitag freizugeben – sei es, dass diese Regelung schon länger bestehe oder nunmehr erstmalig 37 Schima, G. Die Karfreitagslösung verletzt keine Grundrechte, Der Standard vom 4. März 2019, S. 12; vgl. auch Köck, S. Karfreitag – Chaos oder Gelassenheit?, Wiener Zeitung vom 1. März 2019, S. 12. 38 Aichinger, P. Karfreitag: Nationalrat könnte zu weit gehen; Die Presse vom 28. Februar 2019, S. 7. 39 Siehe dazu nachstehend auf S. 294 f. 40 Szigetvari/Oswald, Wie der Karfreitag heuer zum „persönlichen Feiertag“ wird und was sich sonst ändert (Fn. 18). 41 Halber freier Karfreitag für Bundesbedienstete löst neue Probleme aus; Wiener Zeitung vom 5. März 2019, S. 10. 42 Karfreitagsregelung: ÖGB-Vorstand gibt Gutachten in Auftrag, Die Presse vom 7. März 2019, S. 5.

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eingeführt werde. So gibt, nach den Bürgermeistern von Mödling43 und Eisenstadt, auch der Innsbrucker Bürgermeister am Karfreitag frei. Während aber die Bürgermeister von Mödling und Innsbruck44 nur Protestanten Sonderurlaub gewähren, haben in Eisenstadt alle städtischen Bediensteten frei, wie dies ein entsprechender Erlass des Stadtsenats schon vor Jahrzehnten verfügt hat. Auch die Landesbeamten des Burgenlands sollen weiterhin am Karfreitag zuhause bleiben dürfen. Anders ist die Lage aber in Kärnten: Wer hier am Karfreitag einen Feiertag einlegen will, muss einen Urlaubstag dafür „opfern“. Gleiches gilt in Tirol und in der Stadt Salzburg.45 Von den rund 8.000 Mitarbeitern in der Salzburger Landesverwaltung sind 91 evangelischen Glaubens. Für diese gab es schon seit langem einen Erlass, der ihnen einen freien Karfreitag zusicherte, eine Regelung, die jetzt zurückgenommen werden muss. Personalvertreter fordern als Ersatz einen anderen freien Tag, zB den Rupertitag im September, der bereits schon einmal frei war, dann aber wieder gestrichen wurde.46 In der oberösterreichischen Gemeinde Gosau – wo von etwa 1.800 Gemeindebürgern sich 1.380 zum evangelischen Glauben bekennen – prüft der sozialistische Bürgermeister, Friedrich Posch, ob er allen Gemeindebediensteten am Karfreitag einen Tag „Sonderurlaub“ geben könne.47 Dieser „Fleckerlteppich“ an unterschiedlichen Feiertagsregelungen für die Öffentlich-Bediensteten in Ländern und Gemeinden wirft die Frage auf, welchen Spielraum eigentlich Länder und Gemeinden in Sachen Dienstrecht haben und was sich daran mit der Judikatur des EuGH und der „neue Karfreitagsregelung“ des Nationalrates geändert hat bzw. noch ändern muss. Die Gewährung eines Sonderurlaubs allein auf der Basis der Religionszugehörigkeit der Begünstigten ist im Lichte des Urteils des EuGH in der gegenständlichen Vorabentscheidungsfrage Cresco/Achatzi48 nicht zulässig. Soll43 In Mödling gewährt der ÖVP-Bürgermeister Hans Stefan Hintner den 20 evangelischen Mitarbeitern der Stadtgemeinde am Karfreitag einen Sonderurlaubstag; Schwarzer Rebell verschenkt Urlaub, Kurier vom 3. März 2019, S. 15. 44 Der Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi (Grüne) wiederum kündigte an, evangelischen Magistratsbediensteten einen Sonderurlaub von fünf Stunden zu gewähren. Ein Sonderurlaub für alle 1.600 Beschäftigten im Magistrat sei hingegen nicht administrierbar. Vertreter des Landes Tirol erklärten hingegen, die Regelung des Bundes für die eigenen Landesbediensteten übernehmen zu wollen; Karfreitag: Tirol schert nicht aus, Tiroler Tageszeitung vom 5. März 2019, S. 1. 45 Schnauder, A. – Stefan, L. Karfreitagslotterie im öffentlichen Dienst, Der Standard vom 5. März 2019, S. 15. 46 Huber, H. Land: Karfreitag oder Ruperti frei?, Salzburger Nachrichten vom 9. März 2019, S. 5. 47 Hirsch, Ph. Karfreitag im evangelischen Gosau: „Jetzt werden erst recht alle frei haben“, OÖ Nachrichten vom 9. März 2019, S. 35. 48 EuGH, Rs. C-193/17, Cresco Investigation GmbH/Markus Achatzi, Urteil vom 22.  Jänner 2019 (ECLI:EU:C:2019:43); siehe dazu Hummer, Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung (Fn. 1).

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ten sich Öffentlich-Bedienstete bzw. Vertragsbedienstete durch einen Sonderurlaub nur für Protestanten benachteiligt fühlen, steht ersteren der Weg zu den Verwaltungsgerichten und letzteren der zivilrechtliche Instanzenweg offen. Beide Wege könnten letztlich wieder in ein Verfahren vor dem EuGH münden, der von seiner bisherigen Judikaturlinie in dieser Frage sicher nicht abgehen wird. Der „Fleckerlteppich“ bei den „Öffentlich-Bediensteten“ wird aber noch dadurch erweitert, dass auch Unternehmen spezielle Karfreitags-Lösungen für ihre Angestellten auszuarbeiten beginnen, um damit entweder die eigene Belegschaft zu gratifizieren, oder die Attraktivität des Unternehmens zu erhöhen.49 Dass Minister oder Bürgermeister Mitarbeitern Feiertage einräumen, als wären ihre öffentlichen Einrichtungen eigene Firmen, stößt zusehends auf Kritik. So gab Außenministerin Karin Kneissl ihren Mitarbeitern am „Männertag“ frei, da sie ansonsten – nachdem sie ihren Mitarbeiterinnen am „Weltfrauentag“ freigegeben hatte – fürchtete, Klagen wegen fehlender Gleichbehandlung gewärtigen zu müssen. Nachdem bekannt wurde, dass in vielen öffentlichen Stellen Mitarbeiter weiterhin in den vollen Genuss eines freien Karfreitags kommen, während sich „normale“ Arbeitnehmer dafür einen freien Tag nehmen müssen, mehren sich die Stimmen, dass es sich dabei ja doch um Steuergeld, dh öffentliche Mittel, handelt, deren missbräuchliche Verwendung durchaus interessante Haftungsfragen auslösen könnte.50

Jom Kippur: ebenfalls gefährdet? Unter Diskriminierungseffekten macht aber auch die, zwar nicht gesetzlich als Feiertag, aber im Generalkollektivvertrag von 1953 vorgesehene, exklusive Feiertagsregelung am Tag der Sühne bzw. „Versöhnungstag“ (Jom Kippur), der auf den 10. Tag des Monats Tishri, des ersten Monats im Jahr nach dem jüdischen bürgerlichen Kalender – der unterschiedlichen Tagen zwischen September und Oktober nach dem Gregorianischen Kalender entspricht – fällt, Probleme.51 2019 fällt der Jom Kippur auf den 9. Oktober. Dementsprechend könnten sich dadurch nunmehr nicht-jüdische Arbeitnehmer benachteiligt fühlen. Die Arbeitsrechtlerin Katharina KörberRisa erklärte in diesem Zusammenhang: „Das ist genau derselbe Fall wie beim Karfreitag. Wenn ich diesen nicht regle, haben wir dasselbe Problem in zwei, drei Jahren, wenn es beim EuGH war, wieder“52 und Walter Pfeil stellt 49 Bachner, M. „Viel Spaß beim Eiersuchen“: Erste Firmen geben Karfreitag frei, Kurier vom 2. März 2019, S. 2. 50 Nowak, R. Vom schnellen politischen Eigennutz, Die Presse vom 10. März 2019, S. 4. 51 Siehe Hummer, Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung (Fn. 1). 52 Jom Kippur: Geht Murks wie bei Karfreitag bald wieder los?; kurier.at vom 26. Februar 2019.

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fest, dass es schon heute zu einer Klage eines nicht-jüdischen Arbeitnehmers kommen könnte.53 Man könnte andererseits Jom Kippur aber als sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung ansehen, da seine Verankerung im Generalkollektivvertrag (1953), in enger zeitlicher Folge auf das Ende des Nationalsozialismus und die Gräuel der Shoa, als Akt der Förderung des jüdischen Lebens in Österreich gedeutet werden könnte. Einer eventuellen Entscheidung des EuGH kann in dieser Frage mit Interesse entgegengesehen werden. Konsequenzen des „Karfreitag“-Urteils des EuGH für den ursprünglichen Kläger, Markus Achatzi Über all diesen Fragen und Problemen wird aber das Schicksal der von Markus Achatzi ursprünglich eingebrachten Klage gegen seinen Arbeitgeber auf gleichen Erhalt des Feiertagszuschlages in Höhe von 109,09 Euro brutto, zuzüglich Zinsen, für seine am Karfreitag, dem 3. April 2015 geleistete Arbeit, völlig vernachlässigt. Diese wurde zunächst vom Arbeits- und Sozialgericht Wien erstinstanzlich abgewiesen, in der Folge wurde ihr aber vom OLG Wien als Berufungsgericht stattgegeben. Dagegen erhob das beklagte Unternehmen Revision an den OGH und verlangte die Wiederherstellung des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils.54 OGH: Fortsetzung des Verfahrens und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht Im Zuge dieses Revisionsverfahrens legte der OGH zunächst dem EuGH vier Fragen zur Vorabentscheidung vor und setzte das Revisionsverfahren mit Beschluss vom 24. März 2017 bis zur Entscheidung des EuGH darüber aus.55 Nach dem Ergehen des Urteils des EuGH in der Rs. C-193/17, Cresco/Achatzi56 am 22. Jänner 2019 – in dem der Gerichtshof die exklusive Feiertagsregelung am Karfreitag nur für die vier begünstigten Kirchen gem. § 7 Abs. 3 iVm § 9 Abs. 5 ARG als eine Art. 21 GRC widersprechende unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion festgestellt hatte – nahm der OGH aber nicht selbst die Umsetzung dieses Urteils vor, sondern verwies mit Beschluss vom 27. Februar 201957 die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung, nach Verfahrensergänzung, an das Erstgericht (Arbeits- und Sozialgericht Wien) zurück. 53 Karfreitag: Arbeitsrechtler hält Eingriff in KV für unzulässig (Fn. 33); Karfreitag wird Fall für Gerichte, Tiroler Tageszeitung vom 28. Februar 2019, S. 17. 54 Hummer, Konsequenzen des „Karfreitag-Urteils“ des EuGH für die österreichische Rechtsordnung (Fn. 1). 55 OGH, Beschluss vom 24. März 2017, GZ 9 ObA 75/16v. 56 Siehe Fn. 48. 57 9 ObA 11/19m.

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Der Grund dafür war der Umstand, dass sowohl der Generalkollektivvertrag 1953, als auch die allgemeine Treuepflicht (Fremdinteressenwahrungspflicht) des Arbeitnehmers – die diesen dazu verpflichtet, auf betriebliche Interessen des Arbeitgebers entsprechend Rücksicht zu nehmen – es verlangen, dass sich ein Arbeitnehmer hinsichtlich seiner Religion sowie seines Wunsches, am Karfreitag nicht zu arbeiten, gegenüber seinem Arbeitgeber artikulieren muss. Daraus folgt, dass vom Arbeitnehmer eine „Vorinformation“ des Arbeitgebers verlangt werden kann, damit er die betrieblichen Notwendigkeiten danach entsprechend ausrichten kann. Demnach steht dem Kläger, Markus Achatzi, ein Anspruch auf Feiertagsentgelt – für die von ihm am Karfreitag, dem 3. April 2015, geleistete Arbeit – nur dann zu, wenn er zuvor von seinem Arbeitgeber eine entsprechende Freistellung gefordert hat, dieser aber seinem Ersuchen nicht nachgekommen ist. In diesem Zusammenhang stellt der OGH unmissverständlich fest: „Da die Relevanz dieses Umstands bisher von den Vorinstanzen und den Parteien nicht beachtet wurde, wurde dazu bislang kein Vorbringen erstattet und es wurden dazu auch keine Feststellungen getroffen. Die Gerichte dürfen die Parteien nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen, die diese nicht beachtet haben und auf die sie vom Gericht nicht aufmerksam gemacht wurden (…) Da auch der OGH die Parteien nicht mit einer bisher von keiner Seite vorgebrachten Rechtsansicht überraschen darf, ist eine Erörterung und allfällige Ergänzung des Beweisverfahrens zu dieser Frage in erster Instanz erforderlich. Der Revision der Beklagten war daher Folge zu geben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen“. Im Klartext bedeutet das, dass nunmehr das Arbeits- und Sozialgericht Wien zu prüfen hat, ob Herr Achatzi seinen Arbeitgeber, nämlich die Detektei Cresco Investigation GmbH, entsprechend vorab von seinem Wunsch informiert hat, sich für den Karfreitag, dem 3. April 2015, freizunehmen bzw. im Falle eines Arbeitseinsatzes an diesem Tag – ebenso wie seine evangelischen Arbeitskollegen – ein zusätzliches Feiertagsentgelt beanspruchen zu wollen. Sollte das aber nicht der Fall gewesen sein – und die wenigen, bisher bekannt gewordenen Details dieses Streitfalls deuten eher darauf hin – dann würde derjenige, der diese komplexe Rechtsfrage überhaupt erst ausgelöst hat, um seine Forderung in Höhe von 109,09 Euro umfallen. Der OGH errichtet hier – in Konkretisierung der „allgemeinen Treuepflicht“ eines Arbeitnehmers – post festum eine beinahe unübersteigbare Hürde für den Kläger, Herrn Markus Achatzi, der eigentlich nur besoldungsmäßig mit seinen evangelischen Arbeitskollegen „gleichbehandelt“ werden wollte. Dass er dafür aber seinen Arbeitgeber ex ante entsprechend zu informieren gehabt hätte, könnte Herrn Achatzi damals nicht bekannt gewesen sein. Wichtiger als diese konkrete Einzelfallentscheidung ist aber der dadurch herbeigeführte Effekt einer Barriere für „Nachahmungstäter“, die damit

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nicht rückwirkend ein Feiertagsentgelt für geleistete Arbeit am Karfreitag einklagen können, soferne sie darum nicht angesucht haben. Dementsprechend stellt der Rechtsanwalt von Markus Achatzi, Alois Obereder, auch fest, dass der OGH mit seinem Beschluss eine “hohe Hürde“ für weitere Ansprüche aufgestellt hat.58 Fazit Mit dem völlig überraschenden Wechsel vom „halben Feiertag“ am Karfreitag ab 14.00 Uhr zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl – allerdings zulasten des bestehenden Urlaubskontingents – hat die Bundesregierung in aller Eile, und ohne entsprechende Konsultationen mit den betroffenen Interessenvertretungen, eine paradigmatische Kehrtwendung vollzogen, die generell aber auf Ablehnung stößt. Nur in einigen wenigen Äußerungen wird Verständnis für die „neue Karfreitagsregelung“ bekundet, die dort als „gelungener Abbau religiöser Privilegien, ungerechtfertigte Bevorzugung überwindet und weltanschaulich neutral ist“. Konsequenter Weise wird von diesem Autor als nächster Schritt vorgeschlagen, „die jetzt im Konkordat normierten Feiertage abzubauen“.59 In Österreich basieren immerhin acht von 13 gesetzlichen Feiertagen auf dem Konkordat zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl (1933/1957). Auch der Präsident der Industriellenvereinigung (IV), Georg Kapsch, tritt für die Abschaffung aller gesetzlichen Feiertage und deren Umwandlung in Urlaubstage ein.60 Wie viele freie Arbeitstage die Arbeitnehmer jährlich haben sollen – entweder 25, 30 oder 35 Tage – könne man ja ausverhandeln. Diese „persönliche Meinung“ des Präsidenten der IV stieß in der Folge aber auf breite Ablehnung bei den Regierungs- und Oppositionsparteien, sowie auch der IV selbst, die sich zur Klarstellung veranlasst sah, dass diese Ansicht keinesfalls die offizielle Position der IV darstelle.61 In diesem Zusammenhang sei nur angemerkt, dass die Abschaffung von Kirchenprivilegien in Österreich – trotz einer stetig sinkenden Anzahl von Gläubigen – kein mehrheitsfähiges Thema ist, wie die geringe Unterstützung des 2013 von Niko Alm mitinitiierten Volksbegehren „Initiative gegen Kirchenprivilegien“ aufzeigt, das mit knapp 57.000 Unterzeichnern als das erfolgloseste in die Geschichte der Zweiten Republik einging.62 58 Schnauder, A. Harter Kampf um 109 Euro, Der Standard vom 12. März 2019, S. 16. 59 Alm, N. Religiös-identitäre Feiertagspolitik, Der Standard vom 5. März 2019, S. 27. 60 Feiertagsdebatte: Regierung hält IV-Boss für „realitätsfremd“, Kurier vom 10. März 2019, S. 7. 61 Gegner bezeichnen Forderung nach Abschaffung der Feiertage als „absurd“, Kurier vom 11. März 2019, S. 13; „Absurd“ und „realitätsfremd“, Die Presse vom 11. März 2019, S. 2. 62 Baumgartner-Pötz, C. „Politik versucht Immunisierung über Religion“, Österreich Nr. 62, vom 3. März 2019, S. 25.

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In Konkretisierung der mehrfach angesprochen Rechts- bzw. Verfassungswidrigkeit der neuen gesetzlichen Regelung haben eine Reihe von betroffenen Religionsgemeinschaften und Interessensvertretungen beschlossen, gegen die „neue Karfreitagsregelung“ gerichtlich vorzugehen. So hat der evangelische Kärntner Anwalt Michael Sommer bereits angekündigt, eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof einzureichen.63 Auch die evangelischen Superintendenten von Wien und Kärnten, Matthias Geist und Manfred Sauer, kündigen Klagen an.64 Laut Gisela Malekpour, der niederösterreichischen Superintendentin, steht ebenfalls eine Klage der Evangelischen Kirche gegen das neue Gesetz im Raum, deren Einbringung auf der Synode am 9. März beschlossen werden sollte.65 Der Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Ulrich Körtner, plädiert ebenfalls für die Beschreitung des Rechtsweges – und zwar mit folgenden Worten: „Die Entscheidung der Regierung hinzunehmen, wäre für die Zukunft des Protestantismus, aber auch für ganz Österreich, ein verheerendes Signal“.66 Der Präsident des ÖGB, Wolfgang Katzian, wiederum kündigte an, in den nächsten Tagen ein Gutachten in Auftrag geben zu wollen. „Gebe es eine Chance, den Prozess zu gewinnen, dann werden wir ihn führen“.67 In diesem Zusammenhang hat der Vorstand des ÖGB am 6. März einstimmig – also auch mit den Stimmen der Christgewerkschafter – beschlossen, ein entsprechendes Gutachten in Auftrag zu geben. Beauftragt damit wurde zunächst der Arbeitsrechtler Martin Risak von der Universität Wien, dem in der Folge eine deutsche Europarechtlerin an die Seite gestellt werden soll, deren Name aber noch nicht bekannt gegeben wurde.68 Ist somit die gesetzliche Umsetzung der „neuen Karfreitagsregelung“ noch lange nicht in „trockenen Tüchern“, so sieht die Situation des „Auslösers“ dieser ganzen Misere, nämlich des Klägers Markus Achatzi, bereits jetzt mehr als deplorabel aus. Nach Ansicht des OGH muss er nämlich glaubhaft nachweisen, seinen Arbeitgeber, die Detektei Cresco Investigation GmbH, vorab darauf hingewiesen zu haben, dass er sich für die von ihm am Karfreitag, dem 3. April 2015, erbrachte Arbeitsleistung, neben seinen normalen Bezügen auch ein zusätzliches Feiertagsentgelt, erwarte. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Voraviso getätigt zu haben, erscheint aller63 Evangelische: „Blankes Entsetzen“ über „96-Prozent“-Sager von Kurz (Fn. 19); Bei den Protestanten rumort es, Salzburger Nachrichten vom 1. März 2019, S. 2; Evangelische über Kanzler Kurz entsetzt, Die Presse vom 1. März 2019, S. 6. 64 Oswald/Szigetvari, Auch neue Karfreitagsregel wird wohl Fall für die Gerichte (Fn. 12). 65 Evangelische: „Blankes Entsetzen“ über „96-Prozent“-Sager von Kurz (Fn. 19). 66 Körtner, U. Karfreitag: Die Lösung ist ein Hohn, Die Presse vom 1. März 2019, S. 26. 67 ÖGB prüft Klage gegen Karfreitagsregelung, Wiener Zeitung vom 2./3. März 2019, S. 12. 68 Karfreitagsregelung: ÖGB-Vorstand gibt Gutachten in Auftrag (Fn. 42).

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dings gering, sodass Herr Achatzi unter Umständen um seine Forderung von 109,09 Euro umfallen könnte. Anstelle einer „Ergreiferprämie“ blieben ihm dann nur mehr die Gerichtkosten übrig. Quelle: EU-Infothek vom 18. März 2019, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 22) PS: Vgl. dazu zuletzt das Bundesgesetz, mit dem das Arbeitsruhegesetz, das Bäckereiarbeiter/innengesetz 1996, das Feiertagsruhegesetz 1957, das Landarbeitsgesetz 1984 und das Land- und Forstarbeiter-Dienstrechtsgesetz geändert wurden (BGBl. I 2019/22). Vgl. dazu Artikel Nr. 21, vorstehend auf S. 265 ff.

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Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn?

23. Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn? Diente der „Weisenrat“ für Österreich (2000) tatsächlich als Modell für den „Weisenrat“ der EVP für Ungarn (2019)? Aufgrund der neuerlichen politischen Provokationen Viktor Orbáns beschloss der Vorstand der Europäischen Volkspartei (EVP) am 20. März 2019 die Suspendierung der Mitgliedschaft der rechtskonservativen ungarischen Regierungspartei FIDESZ („Magyar Polgári Szövetség“, MPSZ) in der christdemokratischen Parteienfamilie der EVP für die nächsten sechs Monate. Gleichzeitig setzte er ein dreiköpfiges Evaluierungskomitee („Evaluation Committee“) zur Überprüfung der Umsetzung der drei vom Spitzenkandidaten der EVP, Manfred Weber, geforderten Bedingungen für die Wiederherstellung einer ordentlichen Mitgliedschaft der Fidesz in der EVP, ein. Diesem „Weisenkomitee“ gehört unter anderem auch der ehemalige österreichische Bundeskanzler, Wolfgang Schüssel, an, dem ein ebensolcher dreiköpfiger „Weisenrat“ im Jahr 2000 den Ausstieg aus den „Sanktionen der 14“ gegen Österreich ermöglicht hatte. Es lag daher nahe, dass in EVP-Kreisen in diesem Zusammenhang von einem „österreichischen Modell“1 bzw. einer in doppeltem Sinne „österreichischen Lösung“2 gesprochen wurde. Inwiefern diese Gleichsetzung tatsächlich gerechtfertigt war oder eher nur vordergründig behauptet wurde, soll nachstehend untersucht werden. Da zwischenzeitlich bereits knapp 20 Jahre vergangen sind, muss zunächst noch einmal die Situation in Österreich im Jahre 2000 rekapituliert werden, als BK Wolfgang Schüssel eine Koalition mit der „Haider-FPÖ“ eingehen wollte, die allerdings von den anderen EU-Mitgliedstaaten als rassistisch und fremdenfeindlich eingestuft und dementsprechend auch sanktioniert wurde. Erst nach über sieben Monaten wurden die Sanktionen gegen Österreich aufgrund des Berichtes der „Drei Weisen“ aufgehoben.3 In der Folge muss ebenso ein kurzer Blick auf die xenophoben und rechtsstaatlich bedenklichen Aktivitäten der Regierungen Orban I, II und III in Ungarn sowie die Versuche zu deren Sanktionierung durch die Europäische Kommission bzw. das Europäische Parlament im Allgemeinen sowie die EVP im Speziellen geworfen werden. Erst dann kann begründet 1 EVP beschließt Suspendierung der ungarischen Fidesz-Partei, derstandard.at, vom 20. 3. 2019; https://derstandard.at/2000099905956/EVP-beschloss-Suspendierungvon-ungarischer... 2 „Österreichische Lösung“. EVP spielt bei FIDESZ-Problem auf Zeit; https://orf.at/ stories/3115901/ 3 Sie dazu Hummer, W. Die „Maßnahmen“ der 14 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung. Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht. Chronologie, Kommentar, Dokumentation, in: Hummer, W. – Pelinka, A. Österreich unter „EU-Quarantäne“ (2002), S. 49 ff.

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festgestellt werden, ob die Sanktionierung Österreichs (2000) tatsächlich für die Ungarns (2019) „Modell“ gestanden hat bzw. inwieweit die dabei jeweils eingesetzten „Weisenräte“ vergleichbar bzw. sogar präjudiziell sind. Die „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) In der neueren europäischen diplomatischen Staatengeschichte hat es keinen auch nur annähernd vergleichbaren Fall wie den politischen Boykott der österreichischen Bundesregierung durch die 14 anderen Mitgliedstaaten der EU („Sanktionen der 14“) – der vom Februar bis zum September 2000 angedauert hat – gegeben. Die österreichische Regierung wurde damit über sieben Monate in einer Weise diplomatisch boykottiert und marginalisiert, wie dies unter befreundeten Nationen noch niemals der Fall war. Die Sanktionen hatten zu einer schweren Imageschädigung Österreichs – nicht nur im Rahmen der EU, sondern auch außerhalb derselben – geführt, von der es sich in der Folge auch nur langsam erholen sollte.4 Die sich im Gefolge der Nationalratswahl vom 3. Oktober 1999 – in der die FPÖ (26,9%) mit 415 Stimmen Überhang vor der ÖVP (26,9%) erstmals zweitstärkste Partei wurde – abzeichnende Regierungsbeteiligung der FPÖ führte in einer Reihe von Mitgliedsstaaten der EU zu zunehmender Besorgnis, was diese sowohl Bundespräsident Thomas Klestil, als auch Bundeskanzler Viktor Klima und Außenminister Wolfgang Schüssel, mitteilten. Bevorzugter Anlass dazu war die Holocaust-Konferenz, die am 26. Jänner 2000 in Stockholm stattfand. Am 14. Oktober 1999 beauftragte Bundespräsident Klestil Bundeskanzler Klima, mit allen im Nationalrat vertretenen Parteien „Sondierungsgespräche“ über Inhalte eines zukünftigen Regierungsprogramms aufzunehmen. Nachdem diese Versuche Klimas am 26. Jänner 2000 gescheitert waren, hatten aber – ohne dazu von Bundespräsident Klestil ermächtigt worden zu sein – ÖVP und FPÖ umgehend eigenständig Koalitionsverhandlungen aufgenommen, die sie innerhalb einer Woche, nämlich am 1. Februar 2000, abschließen konnten. Am Tag zuvor, dh am 31. Jänner 2000, platzte aber eine „diplomatische Bombe“: In einer wahrhaftigen „Nacht- und Nebel-Aktion“ einigten sich die Staats- und Regierungschefs der vierzehn EU-Mitgliedstaaten im (bloßen) Telefonrundspruch bzw. per E-Mail oder Fax-Kontakt darauf – im Falle einer Regierungsbeteiligung der FPÖ – gegen die österreichische Bundesregierung folgende Maßnahmen zu ergreifen:

4 Vgl. Hummer, W. Behinderung der Mitwirkung Österreichs an der Willensbildung in der EU. Die „Maßnahmen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung und ihre Konsequenzen, in: Hummer, W. – Obwexer, W. 10 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs – Bilanz und Ausblick (2006), S. 139 ff.

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– Die Regierungen der Vierzehn werden mit der österreichischen Bundesregierung keine offiziellen bilateralen Kontakte auf politischer Ebene mehr unterhalten; – Österreichischen Kandidaten wird bei der Bewerbung um Posten in Internationalen Organisationen keine Unterstützung mehr gewährt und – Österreichische Botschafter in den EU-Hauptstädten werden nur noch auf technischer Ebene empfangen.5 Wenige Tage später, nämlich am 3. Februar 2000, nahm das Europäische Parlament mit überwältigender Mehrheit – 406 Ja-, 53 Nein-Stimmen und 60 Enthaltungen – eine Entschließung zu dem Ergebnis der Parlamentswahlen in Österreich und dem Vorschlag zur Bildung einer Koalitionsregierung zwischen der ÖVP und der FPÖ6 an, in der es die Auffassung vertrat, dass die Regierungsbeteiligung der FPÖ die extreme Rechte in Europa legitimiert. Als es in der Folge am 4. Februar 2000 zur Angelobung der ÖVP-FPÖ – Bundesregierung durch Bundespräsident Klestil gekommen war, setzten die „Vierzehn“ die angedrohten Sanktionen in Kraft, obwohl am Tag zuvor – auf Veranlassung von Bundespräsident Klestil – die beiden Parteivorsitzenden Schüssel und Haider in ihr Regierungsübereinkommen als Präambel eine eigene (demokratiepolitische) Deklaration „Verantwortung für Österreich – Zukunft im Herzen Europas“7 aufgenommen hatten und Haider sogar seinen Rücktritt als Parteiobmann der FPÖ ankündigte, den er wenige Wochen später auch vollzog und das Amt an Susanne Riess-Passer übergab. Den „Sanktionen der Vierzehn“ schlossen sich Norwegen, die Tschechische Republik, die USA (beriefen ihre Botschafterin zur regelmäßigen Berichterstattung nach Washington ein), Costa Rica, Kanada, Argentinien (berief seinen Botschafter zur Berichterstattung ein und löste im MERCOSUR ein kollektives „Monitoring“ Österreichs aus8) und Israel (berief seinen Botschafter ab). Nicht hatten sich den Sanktionen angeschlossen die Schweiz, das Fürstentum Liechtenstein, die Slowakei, Slowenien und Ungarn. Was die Rechtsnatur der „Sanktionen der 14“ betrifft, so waren sie ein „Mischakt“ im Rahmen der internationalen Courtoisie – das sind Akte der „comitas gentium“ iSd „Völkersitte“ – der zwar von der damaligen portugiesischen „Präsidentschaft“ auf amtlichem Kanzleipapier des Kabinetts des portugiesischen Ministerpräsidenten ausgedruckt war und auch so zirkuliert wurde,9 aber keinen Rechtsakt des portugiesischen Ratsvorsitzes dar5 6 7 8 9

Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 7 und Dok. 8. ABl. 2000, C 309, S. 87 f. Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 5. Hummer, Die „Maßnahmen“ der 14 Mitgliedstaaten der EU (Fn. 3), S. 94 ff. „Statement from the Portuguese Presidency of the European Union on behalf of XIV Member States“; Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 8.

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stellte. Es handelte sich vielmehr um eine Erklärung des EU-Mitgliedstaates Portugal, in der dieser eine mit dreizehn anderen EU-Mitgliedstaaten akkordierte gemeinsame Vorgangsweise wiedergibt. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich dabei nicht um ein der „Präsidentschaft“, und damit der EU, zurechenbares Instrument handelte, stellt der Umstand dar, dass die diplomatische Note, mittels derer die „Sanktionen der Vierzehn“ notifiziert wurden, nicht den Ständigen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten, sondern den bilateral akkreditierten Botschaftern der Mitgliedstaaten in Lissabon zugestellt wurden. Was die geistige Urheberschaft für die „Sanktionen der 14“ betrifft, so reklamierte der damalige französische Europaminister, Pierre Moscovici,10 diese für sich, indem er behauptete, dass ihn Premierminister Lionel Jospin auf dem gemeinsamen Flug zur Holocaust-Konferenz nach Stockholm beauftragt habe, zu prüfen, wie Frankreich auf eine mögliche Koalition zwischen der konservativen ÖVP und der rechtsextremen FPÖ regieren könnte. Bereits am 29. Jänner 2000 legte Moscovici Premier Jospin „Elemente einer Antwort“ vor, die im Ergreifen von bilateralen diplomatischen Sanktionen gegen Österreich bestand, da seines Erachtens das Sanktionsverfahren des Art.  7 EUV mangels „Schwere“ des Verstoßes nicht ergriffen werden könne.11 Jospin entschloss sich sofort für diese Vorgangsweise und „erst danach seien die anderen Europäer an Bord gekommen“.12 Im belgischen Außenministerium zeigte man sich über diese Version des Zustandekommens der Sanktionen gegen Österreich mehr als erstaunt, und reklamierte seinerseits die „Urheberschaft“ der Sanktionen für sich, „da es doch allgemein bekannt sei, dass Außenminister Louis Michel der erste war, der sich gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich ausgesprochen hat“.13 Letztere Behauptung wird durch eine Pressemitteilung der Präsidentschaftskanzlei vom 9. Februar 2000 belegt, in der von einem Telefonat des portugiesischen Premiers Guterres mit Bundespräsident Klestil berichtet wird, in dem Ersterer Letzteren „über die von der belgischen Regierung schriftlich verlangte gemeinsame Reaktion der 14 EU-Staaten“ informierte. Der „Weisenbericht“ und die Aufhebung der Sanktionen Die Hauptschwäche der Vorgangsweise der „Vierzehn“ lag zum einen in der Art des Zustandekommens und zum anderen in der Stoßrichtung der Sanktionen: so wurden diese politisch überhastet und ohne gründliche rechtliche 10 Pierre Moscovici ist aktuell Mitglied der Europäischen Kommission und in ihr für Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten, Steuern und Zoll zuständig. 11 Moscovici, P. L’Europe, une puissance dans la mondialisation (2001), S. 141 ff. 12 Vgl. Szyszkowitz, T. Österreich – Europa. „Ich bin der Vater der Sanktionen“, Format 49/01, S. 44. 13 Szyszkowitz, Österreich – Europa (Fn. 12), S. 45.

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Prüfung konzipiert und waren auch allein auf die Verhinderung einer ÖVPFPÖ-Koalitionsregierung hin ausgerichtet. Dementsprechend enthielten sie auch kein wie immer geartetes „Ausstiegsszenario“ für den Fall des tatsächlichen Zustandekommens einer solchen Bundesregierung. Eine zukünftige ÖVP-FPÖ-Regierung stand daher vor der Situation, auch nicht durch dauerhaftes „Wohlverhalten“ eine Zurücknahme der Sanktionen herbeiführen zu können, sondern hätte als einzigen Ausweg bloß ihre eigene Demission zur Verfügung gehabt – aus der Sicht einer demokratisch gewählten Regierung zweifellos eine groteske „ultra petitio“. Genau dieser Fall trat aber in der Folge ein. Zu einer ersten Entspannung in der politisch aufgeladenen Atmosphäre der Sanktionen kam es aber dann, als die am 6. April 2000 vom Vorstand der Europäischen Volkspartei (EVP) eingesetzte Beobachtungskommission, bestehend aus den drei Mitgliedern des EP, Wim van Velzen, Gerardo Galeote Quecedo und Hartmut Nassauer – die sog. „Drei Weisen“ der EVP – in ihrem Bericht über die politische Situation in Österreich vom 5. Juni 2000 zur Erkenntnis kam, „dass es in den ersten 120 Tagen des Mandats der neuen österreichischen Regierung (…) keine Beeinträchtigung des österreichischen demokratischen Systems gegeben hat…“. In der Folge kam die EVP-Beobachtungskommission zu dem Schluss, „dass die ÖVP ab jetzt wieder vollständig an allen EVP-Gremien teilnehmen soll“.14 Dementsprechend fasste auch der EVP-Vorstand am 6. Juni 2000 den Beschluss, die ÖVP wieder zu allen Parteigremien zuzulassen, aus denen sie am 6. April 2000 freiwillig ausgeschieden war.15 Am 29. Juni 2000 legte der portugiesische Premierminister Guterres im Namen der „Vierzehn“ ein „Ausstiegsszenario“ vor, das darin bestand, den Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Luzius Wildhaber, zu ersuchen, drei Persönlichkeiten zu ernennen, „die auf der Grundlage einer gründlichen Prüfung einen Bericht über folgende Punkte erstellen sollten: – Die Haltung der österreichischen Regierung gegenüber den gemeinsamen europäischen Werten, im Besonderen hinsichtlich der Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und Einwanderern; – Die Entwicklung und politische Natur der FPÖ“.16 Nachdem er die – von den „Vierzehn“ an sich nicht vorgesehene – Zustimmung von BK Schüssel eingeholt hatte, ernannte Präsident Wildhaber am 12. Juli 2000 die sog. „Drei Weisen“, nämlich den ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari, den Direktor am Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Menschenrechtskom14 Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 68. 15 Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 69. 16 Die Presse vom 30. Juni 2000, S. 10.

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mission, Jochen Abromeit Frowein, und den ehemaligen spanischen Außenminister, ehemaligen GS des Europarates und ehemaligen Kommissar, Marcelino Oreja, und ersuchte diese, ihren Bericht so bald wie möglich vorzulegen. In der Folge ersuchten die „Drei Weisen“ am 25. Juli 2000 die seit 1997 in Wien lokalisierte „Europäische Stelle für Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC), ihnen eine einschlägige Informationssammlung zusammenzustellen, was diese am 2. August 2000 auch tat, sodass die „Drei Weisen“ bereits am 8. September 2000 den sog. „Weisenbericht“17 der nunmehrigen französischen „EU-Präsidentschaft“ vorlegen konnten. Darin stellten sie zunächst fest, dass es nicht Teil ihres Mandates gewesen sei, sich zur Rechtmäßigkeit der von den XIV EUMitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen zu äußern, attestierten danach aber der österreichischen Bundesregierung, dass sie für die gemeinsamen europäischen Werte eintritt und dass die Rechtslage in Österreich in den Bereichen Minderheitenschutz, Flüchtlings- und Immigrationspolitik durchaus dem in anderen EU-Mitgliedstaaten angewendeten Maßstab entspricht. Zum anderen waren die „Drei Weisen“ aber auch der Meinung, dass es Gründe gibt, die Beschreibung der FPÖ als eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen auch heute noch als zutreffend anzusehen. In ihren Empfehlungen – die sie ebenfalls nur auf eine Anregung Wildhabers in ihren Bericht aufgenommen hatten – stellten die „Drei Weisen“ fest, dass die von den XIV Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen kon­ traproduktiv wirken würden, wenn sie fortbestünden, und dass sie daher beendet werden sollten. Vor allem Frankreich zeigte sich über die Tatsache nicht erfreut, dass die „Drei Weisen“ – denen nach seiner Ansicht lediglich ein beschränktes „Expertisenmandat“ übertragen worden sei – als politische „Schlussfolgerung“ eigenmächtig die Aufhebung der Sanktionen empfohlen hatten. Auf Druck Dänemarks lenkte Frankreich aber schließlich ein und veröffentlichte am 12. September 2000 ein Kommuniqué,18 in dem es feststellte, dass die „Vierzehn“ ua zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen sind: – Die österreichische Regierung hat ihre Verpflichtungen gegenüber den gemeinsamen europäischen Werten nicht verletzt; – Die Maßnahmen der EU-14 waren nützlich. Sie können nun aufgehoben werden; – Es ist angebracht, im Rahmen der EU Überlegungen anzustellen darüber, wie man in ähnlichen Situationen vorgehen, vorbeugen und Beurteilungen abgeben soll“.

17 Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 88. 18 Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 89.

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Damit hoben die „Vierzehn“ – nach insgesamt sieben Monaten und zehn Tagen19 – ihre Sanktionen gegen die österreichische Bundesregierung wieder auf, kamen aber gleichzeitig überein, das „monitoring“ gegenüber der FPÖ kollektiv beizubehalten. Im Gegensatz dazu soll nunmehr die Situation in Ungarn unter den Kabinetten Orbán I, II und III und die gegen deren rechtsstaatlichen Verfehlungen seitens der EU ergriffenen Maßnahmen kurz dargestellt werden. Die Auswüchse des „illiberalen“ Staates Ungarn unter Viktor Orbán und deren Sanktionierung Sowohl die Regierung Orbán I (1998 bis 2002) als auch die Regierung Orbán II (2010 bis 2014) setzte eine Reihe legistischer Maßnahmen, die sowohl aus demokratiepolitischen als auch rechtsstaatlichen Gründen weit über das hinausgingen, was bisher im gesicherten Verfassungsbogen der EU auf der Basis der gemeinsamen Werte des Art. 2 EUV noch als tolerabel angesehen werden konnte.20 Der „Novellierungs-Eifer“ der Regierung Orbán II, der Ungarn von den Altlasten der sozialistischen Vorgängerregierung unter Ferenc Gyurcsány befreien sollte, ging dabei so weit, dass diese in nur einem Jahr seit ihrem Amtsantritt im April 2010 von der ungarischen Nationalversammlung insgesamt 320 Gesetze und am 18. April 2011 sogar eine neue Verfassung („Grundgesetz Ungarns“) verabschieden ließ, in der über 30 sogenannte „Kardinal-Gesetze“ („Cardinal Laws“) vorgesehen waren, mittels derer mit Zweidrittelmehrheit eine Reihe von Materien außerhalb der Verfassung geregelt werden konnten. Dazu kamen noch, seit Ende 2009 – und zwar unter dem Deckmantel der Bekämpfung der „Zigeunerkriminalität“ – eine Reihe fremdenfeindlicher und xenophober Übergriffe von Angehörigen der Ungarischen Garde und anderer rechtsradikaler Gruppen – wie Vederö, Betyarsereg, Szebb Jövöert und Jobbik – gegen Angehörige von Minderheiten, vor allem gegen Roma. In diesem Zusammenhang kam es zu einer Reihe von Verletzungen tragender Grundwerte der EU (Art. 2 EUV),21 die in Summe ohne Zweifel eine „systemische Verletzung“ der Rechtsstaatlichkeit iSv Art. 7 EUV darstellten. Trotzdem kam es vorerst aber nicht zur Einleitung des an sich für solche Vorgänge konzipierten Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV bzw auch nicht zur Aktivierung des neuen „EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaats­ 19 Für eine detaillierte chronologische Zusammenstellung der „Sanktionen der 14“ siehe Hummer-Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), S. 113 ff. 20 Vgl. Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen, EU-Infothek vom 12. Mai 2017. 21 Vgl. Hummer, W. Die gemeinsame Wertebasis in der EU. Vertikales und horizontales „Kongruenz- und Homogenitätsgebot“, in: J. Pichler (Hrsg.), Rechtswertestiftung und Rechtswertebewahrung in Europa (2015), S. 65 ff.

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prinzips“22 (sog. „Vor Artikel 7-Verfahren“), sondern die Kommission begnügte sich mit der Einleitung einzelner Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gegen Ungarn.23 Im Gegensatz zur Untätigkeit der Kommission wurde in diesem Zusammenhang aber das Europäische Parlament aktiv, das, nach einer Reihe einschlägiger Entschließungen – zB zum Mediengesetz in Ungarn,24 zu der überarbeiteten ungarischen Verfassung,25 zu den politischen Entwicklungen in Ungarn in letzter Zeit26 und über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn27 – am 10. Juni 2015 eine von den Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken eingebrachte geharnischte „Entschließung zur Lage in Ungarn“ verabschiedete,28 in der es ua feststellte, dass in den Vorgängen in Ungarn eine sich anbahnende „systemische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit“ in Ungarn gesehen werden könnte“ (Punkt 10). Dementsprechend forderte es die Kommission ultimativ auf, die „erste Phase des „EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ einzuleiten und folglich unverzüglich einen umfassenden Überwachungsprozess zur Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn in Gang zu setzen und dabei der Frage nachzugehen, ob möglicherweise eine schwerwiegende Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte, auf die sich die Union gründet, vorliegt“ (Punkt 11). Trotz dieser unmissverständlichen Aufforderung durch das Europäische Parlament wendete die Kommission dieses rechtsstaatliche „Vor Artikel 7-Verfahren“ aber gegen Ungarn nicht an, und zwar auch dann nicht, nachdem sie dieses Verfahren Mitte Jänner 2016 erstmals gegen Polen zur Anwendung gebracht hatte.29 Im Rahmen der Regierung Orbán III (2014 – 2018) kam es zu einer Reihe weiterer gravider Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips, die vor allem die von George Soros finanzierte private „Central European University“ (CEU) sowie die vom Ausland finanzierten INGOs/NROs betrafen. Besonders bedenklich war aber die von Orbán Anfang April 2017 initiierte Volksbefragung „Stoppt Brüssel“, im Rahmen derer das ungarische Volk per 22 KOM(2014) 158 endg. vom 11. März 2014; vgl. dazu Hummer, W. Neuer Frühwarnmechanismus bei Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in der EU, EU-Infothek vom 8. April 2014. 23 Vgl. Hummer, W. Ungarn erneut am Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wird Ungarn dieses Mal zum Anlassfall des neu konzipierten „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren?, EuR 5/2015, S. 625 ff. 24 ABl. 2012, C 199 E, S. 154 ff. 25 ABl. 2013, C 33 E, S. 17 ff. 26 P7_TA(2012)0053. 27 P7_TA(2013)0315; vgl. dazu Hummer, W. Ungarn erneut am Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (Fn. 23), S. 633. 28 2015/2700(RSP). 29 Vgl. Hummer, W. Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Einleitung der zweiten Stufe des neuen „EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, EU-Infothek vom 2. August 2016.

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Brief zur Beantwortung von sechs Suggestivfragen aufgerufen wurde, die eine Reihe unrichtiger Beschuldigungen und falscher Tatsachenbehauptungen zulasten der EU enthielten.30 Aber auch in diesen Fällen weigerte sich die Kommission, das rechtsstaatssichernde „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahren, geschweige denn das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV, einzuleiten, und zwar mit der mehr als fragwürdigen Begründung, dass sich Ungarn stets dialogbereit gezeigt und einige der gerügten Verletzungen auch wieder zurückgenommen hätte. Nachdem Viktor Orbán in sechs Debatten im Europäischen Parlament immer wieder seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte – er konnte dabei stets auf die Unterstützung der EVP-Fraktion vertrauen – musste er sich in der Debatte am 26. April 2017 nicht nur die bisher schwersten Vorwürfe anhören, sondern auch zur Kenntnis nehmen, dass die Parteifamilie der EVP die Eskapaden seiner Fidesz nicht mehr bedingungslos zu decken bereit ist.31 Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber, wies in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die vorerwähnten sechs Suggestivfragen im Rahmen der Volksbefragung „Stoppt Brüssel“ darauf hin, dass „Orban’s questionnaire was seeding anti-EU-sentiment. The questions isn’t about collecting opinions, but stirring up dissident against Europe“. Und der Abgeordnete der GRÜNEN im EP, Phillippe Lamberts, legte noch ein Schäuflein nach und warnte ganz offen „that the risk, Orban poses, as he constantly streches the EU’s red lines, is greater than that of the far-right politicians“.32 Trotz all dieser Bedenken zögerte die Kommission mit einer Einleitung des Verfahrens zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit gegen Ungarn.33 Im Gegensatz dazu leitete sie aber gegen Polen – das sich in einer absolut vergleichbaren Lage mit Ungarn befand – am 13. Jänner 2016 die erste Stufe und am 27. Juli 2016 die zweite Stufe des „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahrens ein. Da sich Polen aber uneinsichtig und nicht kooperationsbereit zeigte, ging die Kommission am 20. Dezember 2017 zur dritten Stufe dieses Verfahrens über und unterbreitete dem Rat einen Vorschlag zur Annahme eines Beschlusses gem. Art.  7 Abs.  1 EUV, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung des Rechtsstaatsprinzips durch Polen besteht.34 30 Vgl. Hummer, W. Neue Rechtsstaatsprobleme in Ungarn, Europäische Rundschau 2/2017, S. 100. 31 Vgl. Zalan, E. EPP Group frustrated with Orbán; https://euobserver.com/politi cal/137708 32 Zalan, E. Orban set to face down EU-threats, https://euobserver.com/politi cal/137675 33 Vgl. Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen. Misst die Europäische Kommission dabei mit zweierlei Maß?, EU-Infothek vom 16. Mai 2017. 34 Vgl. Hummer, W. Nutzlose „rote Karte“ der Kommission gegen Polen?, EU-Infothek vom 8. Jänner 2018.

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Im Gegensatz zum zögerlichen Vorgehen der Kommission gegen Ungarn verabschiedete das Europäische Parlament am 17. Mai 2017 erneut eine „Entschließung zur Lage in Ungarn“,35 in der es die Auffassung vertrat, „dass angesichts der aktuellen Situation in Ungarn die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte besteht und daher das Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 EUV eingeleitet werden muss“ (Punkt 9). In der Folge sprach sich das Europäische Parlament in seiner Abstimmung über die Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art.  7 Abs.  1 EUV gegen Ungarn am 12. September 2018 – auf der Basis eines Berichts der Abg. Judith Sargentini (Grüne/EFA, NL) – mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen (448 Pro-, 197 Kontra-Stimmen, bei 48 Enthaltungen) für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn aus.36 Damit wurde, mit einer einjährigen Verzögerung, der sanktionspolitische „Gleichstand“ Ungarns mit Polen erreicht. Die (zeitliche) Suspendierung der Fidesz im Rahmen der EVP (2019) Parallel zur Initiierung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV wurde im Rahmen der EVP aber auch der Ausschluss bzw die Suspendierung der ungarischen Regierungspartei Fidesz aus dieser größten Parteienfamilie im Europäischen Parlament diskutiert. Nachdem dreizehn Mitgliedsparteien der EVP (von insgesamt 51) aus neun Mitgliedstaaten der EU, vorrangig aus Nordeuropa und der Benelux,37 einen Antrag auf Ausschluss der Fidesz gestellt hatten, musste der Vorstand der EVP tätig werden, da gemäß der EVPStatuten die Aussetzung der Mitgliedschaft und der Ausschluss eines Mitglieds nur vom Vorstand beschlossen werden kann: „Dieser muss seine Gründe nicht mitteilen. Ein Antrag auf Ausschluss eines Mitglieds kann nur vom Präsidium oder von sieben ordentlichen oder assoziierten Mitgliedsparteien aus fünf verschiedenen Ländern gestellt werden. Das Präsidium kann die betroffene Partei anhören“.38 Vor der entsprechenden Sitzung des erweiterten Vorstandes der EVP hatte der Fraktionschef der EVP, Manfred Weber, der Fidesz folgende drei Bedingungen gestellt: – Einstellung der Plakatkampagne gegen Jean-Claude Juncker und George Soros; – Entschuldigung gegenüber der EVP und

35 2017/2656(RSP); P8_TA(2017)0216; B8_0295/2017. 36 A8-0250/2018. 37 Vgl. Bayer, L. European conservatives’ Orbán crisis: State of play; https://www.politi co.eu/article/fidesz-epp-european-peoples-party-viktor-orban-what-happens-next/ 38 Czarnowska, M. Rauswurf oder nicht?, Wiener Zeitung vom 20. März 2019, S. 4.

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– Rechtssicherheit für den Verbleib der Zentraleuropäischen Universität (CEU) in Budapest. Zudem müsse die CEU wieder amerikanische Diplome in Budapest ausstellen können.39 Weber schlug auch vor, die Fidesz nicht sofort aus der EVP auszuschließen, da damit der EVP ja elf Mandate für die Wahl des Europäischen Parlaments Ende Mai 2019 verloren gingen, sondern deren Mitgliedschaft „auf sechs Monate einzufrieren“ und deren Stimmrecht in dieser Phase zu suspendieren.40 Am 20. März 2019 kam es zur entscheidenden Sitzung des EVP-Vorstandes, auf der man sich nach stundenlangen und heftigen Diskussionen mit 190 zu 3 Stimmen auf folgenden Kompromiss einigte. Die Fidesz wird aus der EVP nicht ausgeschlossen, sondern ihre Mitgliedschaft nur suspendiert, und zwar auf sechs Monate. Auf Wunsch der Ungarn wurde auch eine Formulierung aufgenommen, wonach EVP und Fidesz die Aussetzung der Mitgliedschaft „gemeinsam“ vorschlagen.41 Joseph Daul, der Präsident der EVP, erklärte nach der Sitzung, die EVP müsse ein „Leuchtturm der Werte“ bleiben, bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, akademischer Freiheit und Minderheitenrechten könne es keine Kompromisse geben. Außerdem sei die Anti-EU-Rhetorik Orbáns inakzeptabel.42 Ein dreiköpfiger „Weisenrat“ soll in dieser Phase in Ungarn die Beachtung der „Wissenschaftsfreiheit“ und, ganz allgemein, den genauen EUKurs der Regierung Orbán überprüfen und danach entscheiden, ob und wann die mitgliedschaftlichen Recht der Fidesz in der EVP wieder in Kraft gesetzt werden können. Die Einsetzung eines „Weisenrates“ für Ungarn Die erste personelle Zusammensetzung des „Weisenrates“ sollte zunächst folgendermaßen lauten: BK Sebastian Kurz, CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und Ministerpräsident Markus Söder (CSU).43 Diese drei Persönlichkeiten sollten die Situation in Ungarn untersuchen und da39 Die CEU war im Dezember 2018 unter dem Druck der ungarischen Regierung nach 26-jähriger Tätigkeit in Budapest nach Wien umgezogen, wo ihr die Gemeinde Wien das Otto Wagner-Areal in Steinhof (1140 Wien, Penzing) als Uni-Campus zur Verfügung stellte; vgl. Mayrhofer, M. CEU: Otto-Wagner-Spital wird neuer Uni-Campus, stadt-wien.at. 40 Weber wollte Orbán zähmen, der aber blieb kämpferisch, Der Standard vom 21. März 2019, S. 3. 41 EVP legt Beziehungen zu Orban-Partei auf Eis; https://www.oe24.at/welt/EVPlegt-Beziehungen-zu-Orban-Partei-auf-Eis/372703162 42 Orbán setzt Mitgliedschaft in EVP freiwillig aus und will Urteil des „Weisenrats“ abwarten; https:/wwwdirekt.unzensuriert.at/content/0029254-Orban-setzt-Mitgliedschaft-EVP-f… 43 Medien: „Weisenrat“ soll Bericht zu Ungarn erstellen; https:www.tt.com/ticker/ 15424128/medien-weisenrat-soll-bericht-zu-ungarn-erstellen

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nach einen Bericht vorlegen, der als Basis für die Entscheidung über den Verbleib der Fidesz in der EVP dienen werde.44 Zwischenzeitlich sollte der nach Budapest gereiste EVP-Spitzenkandidat, Manfred Weber, versuchen, auf Orbán einzuwirken, um – wie dies bereits schon früher öfter geschah – von diesem entsprechende Zugeständnisse zu erhalten. In der Folge wurde aber eine andere Zusammensetzung des „Weisenrates“ vorgeschlagen, die wie folgt lautete: der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der frühere belgische Ratspräsident Herman van Rompuy und der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, der Deutsche Hans-Gert Pöttering (CDU). Orbán seinerseits befürwortete das Konzept eines „Weisenrates“ mit den Worten: „Was gut für Österreich ist, ist auch gut für uns“45 und setzte zugleich ein dreiköpfiges Gremium, bestehend aus Fidesz-Politikern, ein, das mit dem „Weisenrat“ verhandeln werde.46 Gleichzeitig erklärte er, dass Fidesz aus freien Stücken die Mitarbeit in allen EVP-Gremien ruhen lasse, solange der von der EVP eingesetzte „Weisenrat“ die Lage in Ungarn überprüfe.47 Der „Weisenrat“ soll, ohne zeitliche Begrenzung – wohl frühestens im Herbst, aber auf jeden Fall nach der Direktwahl zum Europäischen Parlament Ende Mai 2019 – entscheiden, wann die Fidesz wieder in die EVP aufgenommen werden soll. Fazit Die im Jahre 2000 gegen Österreich ergriffenen Sanktionsmaßnahmen unterscheiden sich grundlegend von denen, die 2019 gegen Ungarn im Allgemeinen und gegen die Fidesz im Speziellen in Gang gesetzt wurden. Der Grund für die „Maßnahmen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung – die weder völkerrechtlicher, noch europarechtlicher Natur sondern vielmehr im Bereich der Courtoisie angesiedelt waren – war die Regierungsbeteiligung der als fremdenfeindlich und rassistisch eingestuften FPÖ, die sich aber während ihrer gesamten Regierungsbeteiligung keinen xenophoben „Ausrutscher“ leistete. Nach der Aufhebung der Sanktionen durch den „Weisenbericht“ fanden es aber die Initiatoren der Sanktionen, Pierre Moscovici und Louis Michel, nicht der Mühe wert, den Österreich 44 „Weisenrat“ soll für EVP angeblich Ungarn-Bericht erstellen; https://orf-stories/ 3114857/ 45 Orban installiert „Gegen-Weisenrat“; https://orf.at/stories/3115901/ 46 Vgl. Kirchweger, K. Orban lässt sich von EU nicht unterkriegen: Trotz „Weisenrat“ bleibt Ungarn bei seiner Linie; https://www.wochenblick.at/trotz-weisenrat-bleibtungarn-bei-seiner-linie/; Suspendierte Fides-Partei will CSU-Politiker Weber weiter unterstützen; http://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orban-suspendiertefidesz-partei-will-ma... 47 EVP beschließt Suspendierung der ungarischen Fidesz-Partei (Fn. 1), op. cit.

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durch die Sanktionen zugefügten enormen immateriellen Schaden durch eine entsprechende „Genugtuung“, zB in Form einer Entschuldigung, zumindest ansatzweise auszugleichen. Der, während seines offiziellen WienBesuchs am 25./26. Mai 2001, ebenfalls auf eine Entschuldigung hin angesprochene deutsche Bundeskanzler, Gerhard Schröder, erklärte – unter Bezug auf die Sanktionen – dezidiert: „Ich sehe sie nicht als Fehler“, und Außenminister Joschka Fischer erklärte sogar, „dass er diesbezüglich einen Teufel tun werde“ (sic).48 Im Gegensatz dazu sprach sich das Europäische Parlament, und nicht die Europäische Kommission, wegen der andauernden Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips in Ungarn am 12. September 2018 – mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen – für die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn aus, womit es ganz offiziell den europarechtlich vorgesehenen Sanktionsmechanismus für „systemische“ Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips aktivierte. Die einzige „Gemeinsamkeit“ beider Sanktionen ergibt sich damit aus dem Umstand, dass es aufgrund der österreichischen Erfahrung mit den „Sanktionen der Vierzehn“ durch den Vertrag von Nizza (2001) zur Einführung des sog. „Frühwarnsystems“ in Art.  7 Abs.  1 EUV gekommen ist,49 dessen Einleitung gegen Ungarn, wie eben erwähnt, vom Europäischen Parlament am 12. September 2018 beschlossen wurde.50 Was hingegen die Suspendierung der Mitgliedschaft der Fidesz in der EVP betrifft, so hat dieser Vorgang ebenso keine unmittelbare Parallele in Bezug auf den „Weisenbericht“ für Österreich. Lediglich der in diesem Zusammenhang von der EVP eingesetzte tripartite „Weisenrat“ erinnert entfernt an die vom Präsidenten des EGMR eingesetzten „Drei Weisen“, deren Bericht die Beendigung der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung ermöglichte, für die ursprünglich kein Ausstiegsszenario vorgesehen war. Der gravierendste Unterschied ist aber der, dass es sich damals um eine Mahnung an eine künftige Regierung Österreichs, und nicht wie in Ungarn um ein Regime gehandelt hat, das in den letzten acht Jahren die verfassungsmäßigen Grundlagen der liberalen Demokratie und den Rechtsstaat massiv aus den Angeln gehoben hat. Die von Orbán bewusste Instrumentalisierung und Gleichsetzung der beiden „Weisenräte“ – um damit wohl auch Assoziationen zum „positiven“ Ausgang im Falle des „Weisenberichts“ für Österreich auszulösen – ist offensichtlich und wird von Kennern der Situation auch als solche erkannt. So wies der Abg. Othmar Karas jeden Vergleich des „Weisenrats“ der EVP mit 48 Hummer, Die „Maßnahmen“ der 14 Mitgliedstaaten der EU (Fn. 3), S. 106 ff. 49 Hummer/Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 3), Dok. 90, Dok. 91 und Dok. 92. 50 Siehe Fn. 36; vgl. Das Ende der „EU-Sanktionen“ gegen Österreich – Präjudiz für ein neues Sanktionsverfahren?, in: The European Legal Forum 2-2000/01, S. 77 ff.

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Gab es ein „Modell Österreich“ für die Sanktionen gegen Ungarn?

jenem, der im Rahmen der EU-Sanktionen gegen Österreich im Jahr 2000 eingesetzt worden war, entschieden zurück.51 Für Paul Lendvai wiederum handelt es sich dabei sogar um einen „mutwilligen“ Vergleich mit Österreich und dem damaligen BK Wolfgang Schüssel. Er verweist dabei auf die von Orbán erfundene Bezeichnung „österreichisches Drehbuch“, wobei „der von Orbán und seinem Apparat an den Haaren herbeigezogene Vergleich zwischen Österreich anno 2000 und Ungarn 2019 mehr ist als eine zynische und moralisch unzulässige Manipulation.“52 Auch die konkrete personelle Ausgestaltung des EVP-Weisenrates begegnet gewissen Bedenken. Wenngleich mit Wolfgang Schüssel, als einem der drei EVP-„Weisen“, eine Person nominiert wurde, die, als unmittelbar Betroffener, über das Zustandekommen des Rates der „Drei Weisen“ und deren Bericht über Österreich besonders gut informiert ist, könnte es an dessen „Objektivität“ in der Beurteilung der rechtsstaatlichen Verstöße des „illiberalen“ Staates Ungarn mangeln. Wolfgang Schüssel ist nämlich seinem „DuFreund“ Viktor Orbán freundschaftlich seit der Zeit verbunden, als dieser den „Sanktionen der 14“ gegenüber eine reservierte Haltung eingenommen und in der Folge auch im Jahr 2006 Wien einen offiziellen Besuch abgestattet hat. Schüssel revanchierte sich dafür mit lobenden Worten für Viktor Orbán auf der von der Fidesz-MPSZ-Partei am 31. Mai 2012 in Budapest organisierten Konferenz „Nationale Werte im Fokus“ sowie in einem damit zusammenhängenden Interview im ungarischen Fernsehen. Im Gegenzug kam Orbán 2015 zur Feier von Schüssels 70. Geburtstag nach Wien. Bereits vor seiner Nominierung als Mitglied des „Weisenrates“ der EVP hatte Schüssel auch erklärt, „dass er von einem Ausschluss der Fidesz wenig hält“.53 Inwieweit diese personelle Nähe Wolfgang Schüssels zu Viktor Orbán diesem ein objektives Urteil über die mannigfachen Verletzungen des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte in Ungarn durch die drei Kabinette Orbáns möglich macht, sei dahingestellt. Es scheint damit aber einmal mehr eine Situation herbeigeführt worden zu sein, deren Rahmenbedingungen Orbán begünstigen und es ihm uU ermöglichen werden, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Am Ende dieses Jahres wird man mehr darüber wissen, ob ihm dies tatsächlich gelungen ist. Quelle: EU-Infothek vom 8. April 2019, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 23) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 9, vorstehend auf S. 136 ff. 51 EVP-„Weisenrat“ soll Bericht zu Ungarn erstellen, vom 12. März 2019; https:// www.msn.com/de-at/nachrichten/other/evp-weisenrat-soll-bericht-zu-ungarn-er... 52 Lendvai, P. Ungarn ist nicht Österreich, Der Standard vom 26. März 2019, S. 27. 53 Mayer, T. EVP suspendierte Fidesz, das Problem Orbán bleibt; derStandard.at vom 20. März 2019; https://derstandard.at/2000099911049/Europaeischen-Volksparteisuspendiert-Fidesz-...

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Der facettenreiche „Fall Julian Assange“

24.  Der facettenreiche „Fall Julian Assange“ Offene Fragen nach dem Verweis des „Whistleblowers“ aus der ecuadorianischen Botschaft in London und seiner Verhaftung Nach einer Verweildauer von beinahe sieben Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London drangen am 11. April 2019 Beamte der Metropolitan Police in das Botschaftsgebäude ein und verhafteten Julian Assange, den Gründer von WikiLeaks, der sich heftig dagegen wehrte und von einer rechtswidrigen Aktion sprach. Die Festnahme erfolgte aufgrund einer Anordnung eines britischen Gerichts aus dem Jahr 2012 wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen. Assange war damals in die ecuadorianische Botschaft geflohen, um einer Auslieferung an Schweden wegen Vergewaltigungsvorwürfen bzw. einer Überstellung an die USA wegen Geheimnisverrats zu entgehen. Der Anwalt Assanges argumentierte vor dem Westminster Magistrates’ Court, dass sich Assange damals den Behörden deshalb entziehen musste, da ihn nach seiner Auslieferung an die USA kein fairer Prozess erwartet hätte. Am 2. Mai 2019 soll es nun vor demselben Gericht zu einer Verhandlung über das Auslieferungsbegehren der USA kommen,1 dem allerdings unterschiedliche Vorwürfe zugrunde liegen. Während die amerikanische Staatsanwältin Tracy Doherty-McCormick mit Schreiben vom 7. März 2018 noch davon ausging, dass die Ermittlungen gegen Assange wegen „unerlaubten Erhalts und der Verbreitung geheimer Informationen“ – wobei das Strafausmaß wegen „Spionage“ bis hin zur Todesstrafe reicht – geführt werden müssten, weist die vor kurzem veröffentlichte Anklageschrift des nunmehr zuständigen amerikanischen Staatsanwalts nur mehr auf eine „Verschwörung zum Eindringen in Computer“ hin, worauf eine vergleichsweise geringere Strafdrohung, nämlich von lediglich fünf Jahren, steht.2 Assange soll nämlich im Jahr 2010 „in verschwörerischer Absicht“ dem IT-Spezialisten und US-Soldaten Bradley Manning dabei geholfen haben, an bestimmte Informationen des Pentagon in Verbindung mit dem Secret Internet Protocol Network (SIPRINet) zu kommen.3 Juristen vermuten in diesem Zusammenhang, dass die US-Behörden mit dem geringeren Strafvorwurf vermeiden wollen, dass die britische Justiz einer Auslieferung Assanges an die USA widerspricht und die erweiterten Vorwürfe erst in einem späteren Verhand1 Assange: Schuldspruch in Großbritannien, Anklage in USA; https://www.msn.com/ de-at/nachrichten/other/assange-schuldspruch-in-gro%c3%9fbr...; 2 US-Vorwurf gegen Assange offenbar größer als bekannt, Süddeutsche Zeitung vom 16. April 2019. 3 Manning wurde dafür zu 35 Jahren Haft verurteilt, kam jedoch bereits am 17. Mai 2017 wieder frei, da Präsident Barack Obama die Haftstrafe gnadenhalber verkürzt hatte; Schweden stellt Ermittlungen gegen Assange ein; Spiegel online vom 19. Mai 2017.

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lungsstadium präsentieren will. Das britische Recht verbietet nämlich die Auslieferung eines Verdächtigen, wenn ihm im beantragenden Land die Todesstrafe droht.4 Die nunmehr vorliegende Anklageschrift wirft viele Fragen auf. Geht es wirklich allein um die darin erhobenen Vorwürfe oder sind sie nur Vorboten späterer „Ergänzungen“? Die grundlegende Frage ist aber die, in welchem Maße war das Vorgehen von Julian Assange von der Pressefreiheit gedeckt? Wird hier nicht legitimer investigativer Journalismus kriminalisiert? Wo liegen denn eigentlich die strafrechtlichen Grenzen von „Whistleblowing“? Fragen über Fragen, denen nachstehend in aller Kürze nachgegangen werden soll, wobei aber immer im Auge behalten werden muss, dass neben diesen Kernfragen eine Reihe weiterer, vor allem völkerrechtlicher, Probleme involviert sind, die in den bisherigen Kommentaren nicht immer korrekt wiedergegeben werden. Der „Fall Assange“ Julian Paul Assange, geboren 1971 in Townsville/Queensland, ist ein australischer investigativer Journalist, der 2006 die Enthüllungsplattform WikiLeaks gegründet und über diese geheim gehaltene Dokumente öffentlich zugänglich gemacht hat. Dabei handelte es sich vor allem um interne Dokumente US-amerikanischer Behörden bzw. der US-Armee, unter anderem über die humanitären Verstöße in Zusammenhang mit den in Afghanistan und im Irak geführten kriegerischen Handlungen. Vor allem seine Zusammenarbeit mit der US-Soldatin Chelsea Manning – die Transsexuelle nannte sich damals noch Bradley Manning – der er beim Versuch geholfen haben soll, ein spezielles Passwort für den Zugang zu Rechnern des US-Verteidigungsministeriums zu „knacken“, wurde in diesem Zusammenhang beanstandet. Manning konnte nämlich in der Folge der Enthüllungsplattform Wikileaks in den Jahren 2010 und 2011 insgesamt 720.000 geheime Regierungsdokumente zuspielen, die anschließend alle veröffentlicht wurden. Dementsprechend bereitete die US-Regierung bereits im Dezember 2010 eine „geheime Anklage“ („sealed indictment“) vor einer nicht öffentlich tagenden Grand Jury auf der Grundlage des Spionagegesetzes von 1917 vor,5 die allerdings nicht beendet wurde, sodass zu diesem Zeitpunkt auch kein internationaler Haftbefehl bzw Auslieferungsantrag beantragt werden konnte. Erst am 20. April 2017 teilte der amerikanische Justizminister Jeff Sessions mit, dass die Festnahme Assanges sowie die Bekämpfung der von ihm veröffentlichten Staatsgeheimnisse unter der neuen Regierung Trump 4 US-Vorwurf gegen Assange offenbar größer als bekannt, Süddeutsche Zeitung vom 16. April 2019; https://www.msn.com/de-at/nachrichten/politik/us-vorwurf-gegenassange-offenbar-g... 5 Vgl. Hastings, M. WikiLeaks Stratfor Emails: A Secret Indicment Against Julian Assange?, Rolling Stone, 28 February 2012.

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Priorität bekommen habe und daher an der Erstellung einer Anklageschrift gearbeitet werde. Neben diesem US-amerikanischen Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats lief seit Ende August 2010 gegen Assange aber auch in Schweden ein Ermittlungsverfahren, und zwar wegen sexueller Vergehen an zwei Schwedinnen, die gegen Assange Vergewaltigungsvorwürfe erhoben hatten. Während des laufenden Verfahrens konnte Assange aber von Schweden nach Großbritannien ausreisen und sich damit der Verfolgung entziehen. Am 18. November 2010 beantragte die schwedische Staatsanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl gegen Assange wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung, worauf sich Assange am 7. Dezember 2010 in London der Polizei stellte und in Untersuchungshaft genommen wurde. Assange wurde zunächst gegen eine Kaution von 200.000 britischen Pfund sowie weiteren 40.000 Pfund, die durch zwei Bürgen aufgebracht wurden – bei gleichzeitiger Verpflichtung zum Tragen einer elektronischen Fußfessel – freigelassen, wogegen aber die britische Staatsanwaltschaft Berufung einlegte. In der Folge entschieden sowohl der Londoner Magistrates‘ Court, als auch der High Court, dass Assange an Schweden ausgeliefert werden dürfe. Dagegen erhob Assange Revision beim Supreme Court, die von diesem zwar formell für zulässig erklärt, in der Folge aber meritorisch verworfen wurde. Damit hätte Assange ab dem 28. Juni 2012 innerhalb von zehn Tagen von Großbritannien an Schweden ausgeliefert werden können.6 Um dieser Auslieferung zu entgehen, flüchtete sich Assange am 19. Juni 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London – im Stadtteil Knightsbridge gelegen – und bat um „politisches Asyl“. Dies geschah, ohne dass Assange zuvor die diplomatische bzw konsularische Protektion seines Heimatstaates Australien in Anspruch genommen hatte, da er befürchtete, von seinem Heimatstaat nicht die notwenige Unterstützung zu erhalten.7 Nachdem die Botschafterin Ecuadors in London, Ana Albán Mora, zu diesbezüglichen Konsultationen nach Quito einberufen worden war, teilte der Außenminister Ecuador’s, Ricardo Patiño, am 16. August 2012 auf einer Pressekonferenz in Quito mit, dass Assange „Asyl in Ecuador“ gewährt werde. Der britische Außenminister, William Hague, erklärte daraufhin, dass Großbritannien das Prinzip des „diplomatischen Asyls“ nicht anerkenne und dementsprechend Assange sofort verhaftet werde, sobald er die ecuadorianische Botschaft verlassen würde. Was ist in diesem Zusammenhang eigentlich mit dem „politischen“ bzw. „diplomatischen“ Asyl gemeint? In diesem Zusammenhang muss ein kurzer Blick auf die Voraussetzungen für eine völkerrechtskonforme Asylgewährung geworfen und ein immer 6 Julien Assange, Wikipedia, S. 3; https://de.wikipedia.org/wiki/Julian_Assange 7 Vgl. dazu nachstehend auf S. 322.

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wieder auftretendes Missverständnis aufgeklärt werden. Asyl kann von einem Staat immer nur auf seinem eigenen Staatsgebiet gewährt werden, nicht aber in einer seiner diplomatischen Vertretungen, die ja in der territorialen Souveränität des Empfangsstaates stehen. Was ein Staat allerdings gewähren kann, ist ein humanitäres Bleiberecht in einer seiner Botschaften, das dadurch vor dem Zugriff des Empfangsstaates abgesichert ist, dass Art.  22 Abs. 1 der Wiener Diplomatenrechtskonvention (1961)8 bestimmt, dass die Botschaftsgebäude unverletzlich sind und daher nur mit Zustimmung des Botschafters betreten werden dürfen. Sobald die aus humanitären Gründen hospitalisierte Person das Botschaftsgelände aber verlässt, verliert sie diesen Schutz und unterliegt wieder der hoheitlichen öffentlichen Gewalt des Empfangsstaats. Die einzige Möglichkeit, diese Konsequenz zu vermeiden, besteht darin, dass der Empfangsstaat dieser Person „freies Geleit“ gewährt, sodass sie unbehelligt von der Botschaft zu dem Ort ihrer Ausreise fahren kann. Der spektakulärste Fall eines solchen humanitären Bleiberechts in einer Botschaft, samt „freien Geleits“, war wohl der des ungarischen Kardinals Jószef Mindszenty, der – nach seiner Befreiung aus einer achtjährigen kommunistischen Gefangenschaft im Gefolge des Ungarn-Aufstandes 1956 – in die US-amerikanische Botschaft in Budapest flüchten konnte, in der er 15 Jahre lang verblieb, und – nachdem ihm Ungarn, vor allem auf Druck der USA, „freies Geleit“ zugesichert hatte – erst am 28. September 1971 nach Österreich ausreisen konnte.9 Das Schicksal des „humanitären Bleiberechts“ Assanges Im Dezember 2015 einigten sich Ecuador und Schweden darauf, dass Assange in der Londoner Botschaft in Bezug (nur) auf die Vergewaltigungsvorwürfe vernommen werden dürfe. Die Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung und Nötigung waren bereits im August 2015 verjährt und wurden daher von der schwedischen Staatsanwaltschaft fallen gelassen. Das Verfahren wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung wurde in der Folge im Mai 2017 eingestellt. Am 5. Februar 2016 wurde der Bericht der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen veröffentlicht, wonach die Konfinierung von Assange in der ecuadorianischen Botschaft illegal und damit menschenrechtswidrig sei,10 und daher die Regierungen Großbritanniens und Schwedens aufgefordert werden, diesen Umstand sobald als möglich zu beenden. Die beiden Regierungen wiesen diese Aussagen des Berichts aber entschieden zurück. 8 BGBl. 1966/66. 9 Vgl. Last, A. Fifteen years hold up in an embassy, BBC World Service, 6 September 2012. 10 Vgl. Borchers, D. BBC: UN-Experten halten Assanges Status für menschenrechtswidrig, heise online vom 4. Februar 2016.

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Am 12. Dezember 2017 verlieh Ecuador Assange die Staatsbürgerschaft, entzog diesem im März 2018 aber den Zugang zum Internet, da er wiederholt gegen die Auflage verstoßen habe, keine Nachrichten über WikiLeaks zu verbreiten, die als Einmischung in die inneren Angelegenheiten dritter Staaten qualifiziert werden könnten. Am 11. April 2019 platzte aber die Bombe. Der ecuadorianische Präsident Lenín Moreno kündigte das „humanitäre Aufenthaltsrecht“ von Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London auf, entzog ihm gleichzeitig – ohne dafür allerdings ein formelles Verfahren eingeleitet zu haben – die ecuadorianische Staatsbürgerschaft und ließ ihn, auf Anforderung des ecuadorianischen Botschafters, in der Botschaft selbst durch Beamte der Metropolitan Police festnehmen. Als Haftgrund wurde dabei angeführt, dass Assange gegen Kautionsauflagen verstoßen habe, da er zu einem früheren Gerichtstermin bei einem englischen Gericht im Gefolge eines schwedischen Auslieferungsbegehrens nicht erschienen war.11 Assange muss in diesem Zusammenhang mit einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten rechnen. Bei einer darauffolgenden Visite in Washington rechtfertigte Präsident Moreno in einem Interview mit der BBC seine Vorgangsweise mit folgenden Argumenten: Assange habe Ecuador als „völlig unwichtiges Land“ bezeichnet sowie das Botschafts- und Wachpersonal attackiert. Ganz allgemein sei das aggressive und respektlose Verhalten Assanges in der Botschaft für deren Angehörige immer unerträglicher geworden. Außerdem habe er eigene Überwachungskameras in der Botschaft installiert und Privatphotos des Präsidenten veröffentlicht. Des Weiteren habe er die Wände des Botschaftsgebäudes mit Fäkalien beschmiert, in der Botschaft Fußball gespielt und sei auf einem Skateboard in Unterhosen gefahren.12 Schon 2014 hatte der ecuadorianische Botschafter Juan Falconi Puig einberichtet, wie sehr die unorthodoxen Freizeitaktivitäten Assanges den Botschaftsbetrieb stören.13 Inwieferne diese Aktivitäten Assanges unter Umständen klaustrophobischen Anwandlungen nach einer immerhin fast sieben Jahre andauernden Verweildauer von insgesamt 2.487 Tagen in ganz engen Räumlichkeiten – von knapp 15m2 14 – geschuldet waren, wurde dabei aber nicht untersucht. Ganz allgemein bezeichnete Moreno Assange als „Informatikterrorist“,15 der in der ecuadorianischen Botschaft ein „Zentrum der Spionage“ betrieben habe, wobei er wohl auf die Rolle der Enthüllungsplattform WikiLeaks im US-amerikanischen Wahlkampf 2016 anspielte, die den privaten E-Mail11 Vgl. Siebenjähriges Botschafts-Asyl endete abrupt: Julian Assange verhaftet, OÖNachrichten vom 12. April 2019, S. 5. 12 Vieregge, T. Warum Ecuador Assange satthatte, Die Presse vom 13. April 2019, S. 7. 13 Vieregge, Warum Ecuador Assange satthatte (Fn. 12). 14 Vgl. Vieregge, T. Die Gefangenschaft des Julian Assange, Die Presse vom 12. April 2019, S. 5. 15 Vgl. Eder, B. Ecuadors Präsident kritisiert Julian Assange, Der Standard vom 18. April 2019, S. 5.

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Verkehr der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton – der offensichtlich vom russischen Geheimdienst GRU „gehackt“ worden war – offenlegte,16 und damit womöglich Donald Trump zum Sieg verholfen hat. Geht man dieser „vordergründigen“ Vorgangsweise aber näher auf den Grund, dann eröffnen sich die wahren Dimensionen dieser mehr als komplexen Frage. Der hauptsächliche Grund dafür, dass Assange das humanitäre Bleiberecht aufgekündigt und er zur Verhaftung freigegeben wurde, lag im Wechsel der Präsidentschaft Ecuadors von Rafael Correa (2007–2017) im Mai 2017 zu Lenín Moreno (Vizepräsident von 2007–2013). Während Correa noch einen strikten antiamerikanischen Kurs verfolgte, ist Moreno bemüht, mit den USA wieder freundschaftliche Beziehungen herzustellen. Correa bezeichnete Moreno in diesem Zusammenhang als „den größten Verräter in der Geschichte Ecuadors“, der das Asyl Assanges aufgehoben und ihn damit den USA ans Messer geliefert habe – und zwar deswegen, da Assange Moreno mittels der sog. „Ina-Papers“17 Korruption vorgeworfen habe.18 Moreno wiederum betrachtete Assange von Beginn an als eine Altlast aus der Zeit von Correa, die einen eklatanten Hindernisgrund für die Verbesserung der Beziehungen zu den USA darstellte. Ende 2017 startete Ecuador eine diplomatische Initiative zur Lösung dieses Problems. In diesem Zusammenhang bat die ecuadorianische Außenministerin María Fernanda Espinosa, Großbritannien Assange „freies Geleit“ zu geben, damit er ungehindert ausreisen könne. Großbritannien beharrte aber darauf, dass er sich der britischen Justiz stellen müsse.19 Kritik an der Vorgangsweise Moreno’s wurde von mehreren Seiten geäußert. So schrieb die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, auf Facebook: „Die Hand der „Demokratie“ erwürgt die Freiheit“ und der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter und „Whistleblower“ Edward Snowden sprach von einem „traurigen Tag für die Pressefreiheit“. Italiens Regierungspartei „Fünf Sterne“ bezeichnete die Festnahme von Assange als „äußerst gravide Verletzung des internationalen Rechts“, ohne dafür allerdings nähere Angaben zu machen. Peter Pilz von der „Liste Jetzt“ 16 Ecuadors Präsident wirft Assange Spionage vor, Wiener Zeitung vom 16. April 2019, S. 5. 17 Im März 2012 gründete der Bruder von Präsident Lenín Moreno, Edwin Moreno, in der ehemaligen britischen Kolonie Belize ein „Scheinunternehmen“ („empresa fantasma“) mit dem Namen „INA Investment Corp“, um damit Geldwäsche zu betreiben; INA INVESTMENT CORP – La empresa offshore que la familia presidencial utilizó para lavar dinero; http://inapapers.org/ina.html 18 Niederndorfer, F. – Sulzbacher, M. UNO fordert fairen Prozess für Julian Assange, Der Standard vom 13./14. April 2019, S. 13. 19 Marti, W. J. Dass die Verhaftung von Julian Assange möglich wurde, hat viel mit dem Machtwechsel in Ecuador zu tun, NZZ vom 12. April 2019.

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forderte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit dem Standard sogar die österreichische Bundesregierung auf, Assange Asyl zu gewähren und begründete dies damit, dass Jemand, der „Kriegsverbrechen aufdeckt, nicht an die Kriegsverbrecher ausgeliefert werden darf“.20 Lediglich Hillary Clinton sprach sich – wegen der Veröffentlichung ihrer privaten E-Mails während der Präsidentschaftskampagne 2016 – für eine Strafverfolgung von Assange in den USA aus. Die US-Anklage bezieht sich aber nicht darauf, da unter anderem nicht festgestellt werden konnte, dass Assange von den entsprechenden Aktivitäten des russischen Geheimdienstes gewusst hat. Diesbezüglich könnte der nunmehr vorliegende Report des Sonderermittlers Robert Muller allerdings nähere Hinweise bringen. Nach der Verhaftung von Assange reagierte die internationale CyberCommunity violent. Bereits in der ersten Woche danach wurde Ecuador zum Ziel von 40 Mio. Cyberattacken, die sich ua gegen die Webseiten des Präsidentenamts, mehrerer Ministerien, der Zentralbank und einiger Universitäten richteten.21 Drohende Strafverfahren gegen Assange Nach der Verhaftung von Assange am 11. April 2019 durch die britische Justiz stellte die USA umgehend ein Auslieferungsansuchen an Großbritannien und auch Schweden erwog eine neuerliche Antragstellung, nachdem es sein Auslieferungsansuchen im Jahre 2017 wegen Aussichtslosigkeit zurückgezogen hatte.22 Dabei geht es grundsätzlich um die heikle und komplexe Frage, ob Assange ein Journalist und seine Enthüllungsplattform WikiLeaks ein Medienprodukt ist. Kann es sein, dass „Whistleblower“ an sich zu kriminalisieren sind, die EU aber gleichzeitig eine eigene Richtlinie zum Schutz spezieller Enthüller ausarbeitet?23 Muss also zwischen „guten“ und „bösen“ „Whistleblowern“ differenziert werden?

20 Niederndorfer/Sulzbacher, UNO fordert fairen Prozess für Julian Assange (Fn. 18). 21 Angriffe auf Ecuador als Revanche?, Tiroler Nachrichten vom 17. April 2019, S. 13. 22 „Dunkler Tag für Pressefreiheit“, Die Presse vom 12. April 2019, S. 5; Die schwedische Staatsanwaltschaft drängte darauf, die Untersuchung von Assange wieder aufzunehmen, EUObserver vom 12. April 2019. 23 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden [COM(2018) 218 final, vom 23. April 2018]; das Europäische Parlament stimmte am 16. April 2019 mit 591 gegen 29 Stimmen (bei 33 Enthaltungen) für die Verabschiedung dieser Richtlinie. Bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht geht es um öffentliches Auftragswesen, Finanzdienstleistungen, Geldwäsche, Produkt- und Verkehrssicherheit, nukleare Sicherheit, öffentliche Gesundheit sowie Verbraucher- und Datenschutz; vgl. Schutz für Aufdecker in Europa, Tiroler Nachrichten vom 17. April 2019, S.13; Barbist, J. – Kröll, R. Rückendeckung für Whistleblower, Der Standard vom 15. April 2019, S. 12.

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Die nunmehr in den USA veröffentlichte Anklage gegen Assange geht dieser Frage bewusst aus dem Weg und klagt Assange nicht wegen der Pu­ blikation von Staatsgeheimnissen und Spionage an – worauf als Höchststrafe ja die Todesstrafe stehen würde – sondern versucht ihn wegen seiner Mithilfe am „Knacken“ von Computern des Pentagon durch Chelsea Manning zu belangen, wofür als Höchststrafe lediglich fünf Jahre drohen.24 Damit unterläuft das amerikanische Justizministerium aber nicht nur geschickt den Versuch, die Anklage als Rache der USA gegen einen unliebsamen „Whistleblower“ darzustellen, sondern erfüllt auch die zentrale Bedingung Großbritanniens, Assange an keinen Staat auszuliefern, in dem ihm die Todesstrafe droht. Julian Assange – „Whistleblower“ und/oder Verbrecher? Die juristische Aufarbeitung dieses höchst komplexen Falles wirft eine Reihe von Fragen auf, wobei es im Grunde längst nicht nur um WikiLeaks und Julian Assange, sondern um den generellen Umgang mit geheimen Informationen und deren Enthüllung geht. Der Umgang mit Enthüllern, auch mit unbeliebten, steht zur Diskussion.25 Die New York Times brachte es auf den Punkt: „Hacking ist nicht Teil des normalen journalistischen Handwerks“. Das hatte das britische Justizsystem schon 2014 in einem ganz anderen Zusammenhang klargemacht. Damals ging es um die Recherche-Methoden des Murdoch-Sonntagsblattes „News of the World“, ein veritabler Skandal, der mit einer Gefängnisstrafe für den damaligen Chefredakteur Andy Coulson endete.26 Auf der anderen Seite hatte sich das Rechtsmagazin der Universität Harvard, „Law and Policy Review“, dieser Frage bereits nach der Welle der WikiLeaks-Veröffentlichungen von 2011 angenommen und war dabei zu dem Schluss gekommen, dass die Rede- und Pressefreiheit in den USA „für alle gilt, ob Journalist oder Hacker“.27 Sollte neben dem vorliegenden US-amerikanischen Auslieferungsantrag auch die schwedische Regierung zeitgerecht einen solchen Antrag stellen, dann muss der britische Innenminister Sajid Javid entscheiden, welcher von beiden Vorrang hat. Bereits zuvor hatte dieser die Festnahme von Assange mit den Worten begrüßt: „Niemand steht über dem Gesetz“.28 Was in die24 Department of Justice, U.S. Attorney’s Office, Eastern District of Virginia, Thursday, April 11, 2019, WikiLeaks Founder Charged in Computer Hacking Conspiracy, S. 1; vgl. Winkler, P. Genugtuung über Assanges Verhaftung. In den USA glaubt nur noch eine Minderheit, der Staat wolle sich an einem Whistleblower rächen, NZZ vom 15. April 2019, S. 4. 25 Vgl. Escher, M. Nicht nur Assange ist im Visier, Der Standard vom 13./14. 2019, S. 48; Horchert, J. Es geht um mehr als nur Assange, Spiegel online vom 12. April 2019. 26 Winkler, Genugtuung über Assanges Verhaftung (Fn. 24). 27 Riecher, S. Was WikiLeaks-Guru Julian Assange in den USA blüht, Die Presse vom 13. April 2019, S. 7. 28 Beamte zerrten Julian Assange…, Kronen-Zeitung vom 12. April 2019, S. 14.

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sem Zusammenhang die öffentliche Meinung in Großbritannien betrifft, so ist diese hinsichtlich der Auslieferung von Assange gespalten. Im britischen Unterhaus wies der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn darauf hin, dass Assange Beweise für Gräueltaten der US-Armee im Irak und in Afghanistan offengelegt habe und dass die britische Regierung sich daher gegen seine Auslieferung stellen sollte.29 Die Labour-Politikerin Diane Abott wiederum erinnerte an den Fall der britischen Hacker Gary McKinnon und Lauri Love. Mc Kinnon hatte Anfang der 2000-er Jahre Militärcomputer der USA gehackt. Der Prozess um seine Auslieferung zog sich jahrelang hin und als das positive Urteil kam, stoppte 2012 die damalige britische Innenministerin – dies war Theresa May (sic) – seine Auslieferung an die USA aus humanitären Gründen. McKinnon, bei dem im Laufe des Prozesses das „Asperger-Syndrom“ – eine Variante des Autismus – diagnostiziert wurde, stünde unter Suizid-Gefahr, wenn er in einem fremden Land inhaftiert werden würde. Auch der britisch-finnische Hacker Lauri Love wurde 2013 von den USA angeklagt, Militärcomputer gehackt zu haben. Bei ihm wurde ebenfalls das „Asperger-Syndrom“ festgestellt. Da sich sein psychischer Zustand in den USA verschlechtern würde, entschied der High Court in London schließlich gegen seine Auslieferung.30 Im Gegensatz dazu forderten 70 Abgeordnete des britischen Unterhauses, dass Julian Assange nach Schweden ausgeliefert werden soll – sollte die dortige Regierung einen Auslieferungsantrag stellen.31 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der geringe Rückhalt den Assange in seinem Heimatstaat Australien genießt. So schloss Australiens Premierminister Scott Morrison eine Einmischung seiner Regierung in den Fall Julian Assange mit den Worten aus, dass das „Sache der USA“ sei und „nichts mit uns zu tun habe“. Assange erhalte keine Sonderbehandlung, ihm werde nur die übliche konsularische Protektion gewährt. „Wenn Australier ins Ausland reisen und mit dem Gesetz in Konflikt geraten, müssen sie sich dem Justizsystem des jeweiligen Landes stellen. Es spielt keine Rolle, welches Verbrechen sie angeblich begangen haben“. Australiens Außenministerin Marise Payne wiederum erklärte, dass der Auslieferungsprozess zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien stattfinde. Ihr Land sei aber „völlig gegen“ die Todesstrafe. Großbritannien habe sich von den USA aber die Zusicherung eingeholt, dass Assange im Falle einer Auslieferung dort nicht die Todesstrafe drohe.32 Obwohl juristisch korrekt, erweckt diese Reaktion des Regierungschefs und der Außenministerin doch den Eindruck, 29 Sorge um Assange wegen drohendem Prozess in den USA, Der Standard, vom 13./14. April 2019, S. 1. 30 Assange-Festnahme wohl Auftakt für jahrelanges Tauziehen, Wiener Zeitung vom 13./14. April 2019, S. 7. 31 Abgeordnete: Assange nach Schweden ausliefern, Kurier vom 14. April 2019, S. 11. 32 Australiens Premier: Keine Sonderbehandlung für Assange; https://www.nzz.ch/international/assange-hat-in-ecuador-seinen-sponsor-verloren-ld.1474554

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als wenn sich Assange mit seinen WikiLeaks-Enthüllungen auch in seinem Heimatland mehr als unbeliebt gemacht hat. Es bestehen aber auch noch anderweitige Bedenken. So ist vor kurzem in Ecuador ein „sehr enger“ Mitarbeiter von Assange festgenommen worden, als dieser nach Japan reisen wollte. Darauf angesprochen, machte die ecuadorianische Innenministerin, María Paula Romo, am 11. April 2019 zwar keine näheren Angaben zur Identität der Person, erklärte aber kryptisch, „dass es in Ecuador einen Plan der Destabilisierung gibt, der mit geopolitischen Interessen zu tun hat. Wir haben Beweise für eine Beziehung des nun Festgenommenen zu Ricardo Patiño, der Außenminister war, als Julian Assange das Asyl gewährt worden war“.33 Was Assange mit diesen „Destabilisierungsplänen“ zu tun haben könnte, ließ sie aber ebenfalls offen. Fazit Aufgrund der fehlerhaften Einstufung des Aufenthalts von Assange in der ecuadorianischen Botschaft als völkerrechtliches „Asyl“, warf Geoffrey Robertson, einer der britischen Anwälte Assanges, Ecuador Zuwiderhandlung gegen das Völkerrecht vor. „Man kann nicht Asyl gewähren und es später wieder zurückziehen“, erklärte er gegenüber der BBC.34 Da es sich dabei aber, wie vorstehend bereits erwähnt, eben nicht um einen völkerrechtlichen Akt der „Asylgewährung“, sondern lediglich um einen im freien Ermessen Ecuadors stehenden „humanitären Aufenthalt“ in der Botschaft gehandelt hat, der an sich jederzeit wieder zurückgenommen werden konnte, hat Ecuador mit der Beendigung desselben auch keinen Bruch des Völkerrechts begangen. Da das Eindringen der britischen Polizei in das Botschaftsgebäude auf ausdrücklichen Wunsch des ecuadorianischen Botschafters geschah, wurde dessen Unverletzlichkeit gem. Art.  22 Abs.  1 Wiener Diplomatenrechtskonvention (1961) auch nicht verletzt. Wurde damit aber Assange „rechtmäßig“ den britischen Behörden übergeben, so stellt sich in der Folge die Frage, wie Großbritannien mit dem US-amerikanischen Auslieferungsansuchen umzugehen hat. Da dieses nur auf einer amerikanischen Anklage wegen „Verschwörung zum Eindringen in Computer“ beruht, die mit einem maximalen Strafrahmen von fünf Jahren bedroht ist, würde damit die Selbstbindung Großbritanniens, Assange nicht in ein Land auszuliefern, in dem ihm die Todesstrafe drohen würde, durchaus beachtet werden. Sollte aber, nach der erfolgten Auslieferung Assanges an die USA, die amerikanische Staatsanwaltschaft aus irgendeinem wichtigen Grund weiter ermitteln und die Anklage auf Geheimnisverrat und Spionage ausdehnen, würde im Falle einer Verurteilung Assanges diesem entweder lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe drohen. 33 Haefliger, M. M. Wikileaks-Gründer Assange droht die Auslieferung in die USA, NZZ vom 12. April 2019. 34 Haefliger, Wikileaks-Gründer Assange droht die Auslieferung in die USA (Fn. 33).

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So wurde die ehemaligen WikiLeaks-Informantin Chelsea Manning, die mit Assange eng kooperiert hatte, am 8. März 2019 – nachdem sie durch einen Erlass des früheren US-Präsidenten Barack Obama am 17. Mai 2017, nach ihrer Verurteilung wegen Spionage zu 35 Jahren Haft, begnadigt worden war35 – wieder in Beugehaft genommen, um zur Aussage gegen Assange vor einem Geschworenengericht angehalten zu werden.36 Da zum einen eine Ausweitung der Anklage nicht auszuschließen ist und Assange zum anderen dagegen juristisch ankämpfen würde – so wie er es bereits bei früheren Vorwürfen gegen sich vor schwedischen Gerichten getan hatte37 – ist mit einem jahrelangen Verfahren vor US-amerikanischen Gerichten zu rechnen. Da Assange aber ebenso bereits die Auslieferung von Großbritannien an die USA bekämpfen würde, ist in Summe mit einer langjährigen Verfahrensdauer zu rechnen, die meritorisch allerdings auch zu einer „cooling off“-Situation führen könnte. So unangenehm diese weitere Ungewissheit über sein persönliches Schicksal für Julian Assange auch sein mag, so wichtig könnte die lange Zeitdauer für deren Behebung aber für die europäische Öffentlichkeit sein. Sie würde ihr nämlich Gelegenheit geben, sich mit dem noch weitgehend unbekannten Profil eines „Whistleblowers“ näher auseinanderzusetzen und dessen Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen: Versucht ein „Whistleblower“ ein legitimes Anliegen durchzusetzen, oder handelt es sich bei ihm um einen Verräter? Diese Abwägung setzt aber eine gesicherte Grundkenntnis des neuen Phänomens eines „Aufdeckers“ von bisher geheimen Informationen voraus, wozu diese Glosse einen kleinen Beitrag beisteuern möchte. Nachtrag Abschließend soll, zum Vergleich der Situation der beiden weltweit wohl bekanntesten „Whistleblower“, noch ein kurzer Blick auf einen mit Julian Assange immer wieder verglichenen „Whistleblower“ geworfen werden, nämlich auf Edward Snowden. Dieser hat, als früherer technischer Mitarbeiter der US-Geheimdienste CIA, NSA und DIA, streng geheime Unterlagen über nachrichtendienstliche Überwachungs- und Spionagepraktiken der USA an die Dokumentarfilmerin Laura Poitras und den Guardian-Journalisten Glenn Greenwald weitergegeben, der diese im Juni 2013 ohne Quellenangabe veröffentlichte. Nachdem Snowden am 9. Juni 2013 in Hongkong in einem Video-Interview mit dem Guardian seine Identität offengelegt hatte, erwirkte das FBI wenige Tage danach mit einer Strafanzeige – ua wegen Spionage – einen Haftbefehl gegen ihn. Snowden konnte aber Hongkong 35 Siehe Fn. 3. 36 Chelsea Manning bleibt in Haft, Kleine Zeitung vom 23. April 2019. 37 Umstrittener Wikileaks-Gründer: Auslieferung, Haft, Todesstrafe? Das droht Assange nach seiner Festnahme, FOCUS Online vom 12. April 2019.

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Der facettenreiche „Fall Julian Assange“

noch zeitgerecht verlassen und nach Russland ausreisen. Da ihm aber dort die Einreise verwehrt wurde, hielt er sich anschließend einige Zeit im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo auf, womit er juristisch als (noch) nicht in die Russländische Föderation eingereist galt. Nachdem Snowden in mehr als 25 Ländern ergebnislos Asyl beantragt hatte, gewährte ihm schließlich Russland Anfang August 2013 Asyl, das im August 2014 in eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis umgewandelt und in der Folge auch entsprechend verlängert wurde. Im Jänner 2017 wurde bekannt, dass Snowdens Aufenthaltsgenehmigung vom russischen Außenministerium um weitere drei Jahre, dh bis 2020, verlängert wurde.38 Im Gegensatz zu Julian Assange, der sich in eine fremde Botschaft flüchten musste und dort nur ein „humanitäres Bleiberecht“ konzediert bekam, hält sich damit Edward Snowden legal (auf russischem Boden) auf – allerdings inkognito und an einem unbekannten Ort. Quelle: EU-Infothek vom 26. April 2019, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 24) PS: Was den Schutz von „Whistleblowern“ in der EU betrifft, so ist die aktuelle Rechtsgrundlage die Richtlinie (EU) 2019/1937 des EP und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden,39 die am 16. Dezember 2019 in Kraft getreten ist. Die EU-Mitgliedstaaten haben bis zum 17. Dezember 2021 Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Vorschriften betreffend juristische Personen mit 50 bis 249 Arbeitnehmern müssen allerdings erst bis 17. Dezember 2023 umgesetzt werden. Die Richtlinie verpflichtet alle Unternehmen des privaten Sektors – ab einer Mindestzahl von 50 Mitarbeitern - sowie juristische Personen des öffentlichen Sektors (wie zB auch Bund, Land und Gemeinden) und Unternehmen, die im Eigentum oder unter Kontrolle von Letzteren stehen, zur Einrichtung von Hinweisgeber-Systemen in Form von Meldekanälen, mittels derer gewisse Verletzungen von EU-Recht (zB in den Bereichen Umweltschutz, Datenschutz, Verbraucherschutz, öffentliches Auftragswesen, Kartellrecht uam.) und – je nach nationaler Umsetzung – allenfalls nationaler Vorschriften, angezeigt werden können. Für die technische Ausgestaltung dieser internen Meldekanäle kommen etwa ein Beschwerde-Briefkasten, eine Telefon-Hotline oder ein Ombudsmann in Frage. Werden keine Maßnahmen ergriffen, sollen externe Meldekanäle (zB bei Behörden) Abhilfe schaffen. Ziel dieser Richtlinie ist es, Hinweisgeber auf unternehmens- oder behördeninterne Missstände weder zivil-, straf- oder verwaltungsrechtlich haftbar zu machen, noch in Bezug auf ihre Beschäftigung – zB in Form von Versetzung oder Kündigung, Gehaltsminderung uam – schlechter zu stellen. 38 Edward Snowden, Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Snowden 39 ABl. 2019, L 305, S. 17 ff.; siehe dazu den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates on Markets in Crypto-assets, and amending Directive (EU) 2019/1937 (COM(2020) 593 final vom 24. September 2020); vgl. auch Art. 17 der Richtlinie (EU) 2019/1152 des EP und des Rates vom 20. Juni 2019 (ABl. 2019, L 186, S. 105 ff.)

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25. Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs der EU Die Europäische Kommission muss ihre Methode zur Berechnung von Pauschalbeträgen und Zwangsgeld anpassen Einführung Die Auswirkungen des „Brexit“ sind grosso modo erfasst und bekannt, in welche unglaublichen Details des Unionsrechts der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU aber ebenfalls hineinwirkt, soll nachstehend anhand der Methode der Berechnung finanzieller Sanktionen bei Nichtbefolgung einer Verurteilung in einem Vertragsverletzungsverfahren aufgezeigt werden. Die Nichtbefolgung eines verurteilenden Erkenntnisses des Gerichtshofs durch einen Mitgliedstaat stellt einen besonderen Fall einer Vertragsverletzung gem. Art. 258 AEUV dar und wird dementsprechend auch nach einem speziellen Verfahren sanktioniert. Bei einer neuerlichen Verurteilung in einem solchen „zweiten Vertragsverletzungsverfahren“ kann der Gerichtshof gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV finanzielle Sanktionen (Pauschalbeträge oder Zwangsgelder) verhängen, deren Berechnung nach feststehenden Kriterien zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang hat die Kommission bei der Erstellung ihres Sanktionsvorschlags – zusätzlich zur Schwere des Verstoßes und seiner Dauer – immer sowohl die wirtschaftliche Lage des betroffenen Mitgliedstaates als auch dessen institutionelles Gewicht berücksichtigt. Dabei stellte sie bis jetzt stets auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des betroffenen Mitgliedstaates sowie auf die diesem im Rat zugeteilten gewichteten Stimmrechte ab. In einem kürzlich ergangenen Urteil wies der Gerichtshof allerdings darauf hin, dass das bisherige System der Stimmengewichtung im Rat vor zwei Jahren durch das der „doppelten Mehrheit“ ersetzt wurde, ein Verfahren, das aber aufgrund seiner Ausgestaltung nicht mehr direkt auf den Mechanismus zur Berechnung der finanziellen Sanktionen übertragbar ist und damit das alte System der gewichteten Stimmen für diese Zwecke auch nicht wirklich ersetzen kann.1 Dementsprechend musste nun die Kommission ein anderes Kriterium, als das der gewichteten Stimmen im Rat, für die Berücksichtigung des „in­ stitutionellen Gewichts“ des betroffenen Mitgliedstaates heranziehen, das sie in der Anzahl der zugewiesenen Abgeordneten-Sitze im Europäischen Parlament für jeden einzelnen Mitgliedstaat gefunden zu haben glaubte. Dabei ist sie der Ansicht, dass mit dieser ihrer Berechnungsmethode keine un1 EuGH, Rs. C-93/17, Europäische Kommission/Hellenische Republik, Urteil vom 14. November 2018 (ECLI:EU:C:2018:903).

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gerechtfertigten Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verursacht werden und die dabei entstehenden Beträge auch so weit wie möglich den Beträgen nach der bisherigen Berechnungsmethode entsprechen. Dass dabei allerdings auch der „Brexit“ eine entscheidende Rolle spielen wird, liegt auf der Hand. Bevor auf diese komplexe Fragestellung näher eingegangen werden kann, muss aber ein kurzer Blick auf die bisherige Ausgestaltung des Sanktionsverfahrens bei Nichtbefolgung von Vertragsverletzungsurteilen des EuGH geworfen werden.2 Formen der Ausgestaltung des Sanktionsverfahrens bei ­Nichtbefolgung von Urteilen Mit Ausnahme von Art. 88 Abs. 3 EGKS-Vertrag (1951)3 sahen die beiden anderen Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften (EWG, EAG) (1957) kein wie immer geartetes Sanktionsverfahren bei Nichtbefolgung eines verurteilenden Erkenntnisses des Gerichtshofs (EuGH) wegen einer Vertragsverletzung vor. Ein solches wurde erstmals durch den Vertrag von Maastricht (1992) eingeführt und führte nach einer genau 45-jährigen Tätigkeit des EuGH im Jahre 1997 zu dessen erster einschlägiger Befassung in der Rechtssache Kommission/Deutschland.4 Drei Jahre später kam es im Jahr 2000 erstmals zu einer Verurteilung eines Mitgliedstaates (Griechenland) zur Zahlung eines Zwangsgeldes in Höhe von täglich 20.000 Euro5 und wiederum fünf Jahre später verhängte der EuGH im Jahr 2005 gegen Frankreich zum ersten mal auch einen Pauschalbetrag in Höhe von 20 Mio Euro6. Obwohl die einschlägige Bestimmung des Art. 228 Abs. 2 EGV in diesem Zusammenhang expressis verbis lediglich die Verhängung eines Pauschalbetrages „oder“ eines Zwangsgeldes vorsah, kumulierte der EuGH in dieser Rechtssache erstmals beide finanziellen Sanktionen, da sie zum einen unterschiedliche Zwecke verfolgen – dem (einmaligen) Pauschalbetrag wohnt ein punitiver Charakter inne, während das (täglich fällige) Zwangs2 Siehe dazu allgemein Hummer, W. Finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedstaaten bei Nichterfüllung von EuGH-Urteilen, in: Hummer, W. (Hrsg.), Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten (2010), S. 553 ff. 3 Bis zum Auslaufen des EGKS-Vertrages am 23. Juli 2002 wurde dieses Sanktionsverfahren allerdings nie angewendet. 4 EuGH, Rs. C-121/97, Kommission/Deutschland, am 23. September 1997 aus dem Register des EuGH gestrichen. 5 EuGH, Rs. C-387/97, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, S. I-5047 (ECLI:EU:C:2000:356). 6 EuGH, Rs. C-304/02, Kommission/Frankreich, Slg. 2005, S. I-6262 (ECLI:EU:C:2005:444); vgl. Hummer, W. Teure Nichtbefolgung von Urteilen des EuGH, Wiener Zeitung vom 6. September 2006, S. 11.

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geld als Beugemitttel zu sehen ist, das den säumigen Mitgliedstaat zwingen soll, dem „zweiten“ Vertragsverletzungsurteil des EuGH so rasch als möglich nachzukommen – und zum anderen sinnvoller Weise auch gemeinsam eingesetzt werden sollten, um eine effektive Befolgung des verurteilenden Erkenntnisses sicherzustellen. Seit diesem Judikat kumuliert der EuGH regelmäßig beide finanziellen Sanktionen – iSe „konjunktiven“ („und-oder“) und nicht „disjunktiven“ („entweder-oder“) „oder“-Begriffs – und verhängt nunmehr stets sowohl einen Pauschalbetrag, wie auch ein Zwangsgeld. Durch den Vertrag von Lissabon (2007) wurde nun das in Art. 228 Abs. 2 EGV vorgesehene Sanktionsverfahren in dessen Nachfolgebestimmung, dem Artikel 260 Abs. 2 AEUV, dahingehend verschärft, dass das vorprozedurale Verfahren bis zur Klagserhebung durch die Kommission verkürzt wird, da die „mit Gründen versehene Stellungnahme“ der Kommission entfällt. Der allgemeine Ansatz der Kommission für die Berechnung der von ihr vorgeschlagenen finanziellen Sanktionen blieb aber im Grunde gleich. Bisherige Methode der Kommission zur Berechnung finanzieller Sanktionen 1996 hatte die Kommission eine erste Mitteilung über die Anwendung von Art. 228 Abs. 2 EGV veröffentlicht,7 der 1997 eine zweite Mitteilung8 folgte, in der vor allem die Methode der Berechnung des Zwangsgeldes behandelt wurde. 2001 legte die Kommission in einem internen Beschluss den zur Berechnung des Zwangsgeldes zu verwendenden Koeffizienten für die Dauer des Verstoßes fest.9 In ihrer Mitteilung vom 12. Dezember 2005 zur Anwendung von Art. 228 EGV10 konsolidierte die Kommission die von ihr für die drei einschlägigen Kriterien – Schwere des Verstoßes, Dauer des Verstoßes und erforderliche Abschreckungswirkung – festgesetzten Bedingungen und kündigte an, dass sie diese für alle Entscheidungen zur Anrufung des Gerichtshofes, die sie nach dem 1. Januar 2006 gem. Art. 228 EGV treffen werde, anwenden wird. In der Folge hätte normalerweise 2009 eine erste Anpassung der Parameter der Berechnungsmethoden vorgenommen werden sollen. Angesichts der außerordentlich instabilen Wirtschaftslage wurde allerdings davon abgesehen und die Anpassung erfolgte erst 2010.11 Die nächste Aktualisierung der makroökonomischen Daten zur Berechnung der Pauschalbeträge und Zwangsgelder, die die Kommission dem Gerichtshof bei Vertragsverletzungsverfahren vorschlägt, erfolgte erst wieder im August 2015, und damit bereits nach der Umwandlung des Art. 228 EGV in den Art. 260 AEUV im 7 ABl. 1996, C 242, S. 6 ff. 8 ABl. 1997, C 63, S. 2 ff. 9 Dok. PV(2001) 1517/2 vom 2. April 2001. 10 SEK(2005) 1658. 11 SEK(2010)923/3.

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Gefolge des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon. In dieser Mitteilung12 wurde einmal mehr der Faktor „n“ – dieser berücksichtigt die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaates (BIP) und seine Stimmenzahl im Rat – angepasst, und zB für Österreich mit 4,22 festgesetzt. Die bisher letzte Mitteilung der Kommission, die noch auf der alten Berechnung des Faktors „n“ beruht,13 setzt diesen für Österreich nunmehr mit 4,08 fest. Aktuelle Methode der Kommission zur Berechnung finanzieller Sanktionen Was die bisherige Berechnungsmethode für Pauschalbeträge und Tagessätze für das Zwangsgeld betrifft, kam es vor kurzem zu einem Paradigmenwechsel. Wie der Gerichtshof in seinem vorerwähnten Urteil in der Rs. C-93/1714 feststellte, ist hinsichtlich der Berechnung des Faktors „n“ – was das Kriterium der Stimmengewichtung des betroffenen Mitgliedsstaates im Rat betrifft – klarzustellen, dass nach Art. 3 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen15 am 1. November 2014 ein neues Verfahren der qualifizierten Mehrheit – nämlich das der sog. „doppelte Mehrheit“ – in Kraft getreten ist. Nach Art. 3 Abs. 2 des Protokolls (Nr. 36) konnten die Mitgliedstaaten bis zum 31. März 2017 noch eine Beschlussfassung auf der Grundlage der alten Regelung der qualifizierten Mehrheit beantragen. Ab dem 1. April 2017 wurde aber das System der „gewichteten“ Stimmen durch das der „doppelten Mehrheit“ ersetzt, wonach die qualifizierte Mehrheit erst dann erreicht ist, wenn sie mindestens 55 Prozent bzw. – wenn der Vorschlag nicht von der Kommission oder vom Hohen Vertreter der Union für die GASP stammt – 72 Prozent der Mitglieder des Rates umfasst, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU ausmachen. Diese komplexen Vorgaben können aber nicht in eine einfache Gewichtung umgerechnet und in gleicher Weise wie das bisherige System verwendet werden. Dementsprechend apodiktisch stellt der Gerichtshof in diesem Zusammenhang in seinem Urteil auch fest: „Angesichts der Modalitäten des neuen Systems der doppelten Mehrheit und der Unterschiede, die es zum alten System der gewichteten Stimmen aufweist, ist das neue System der doppelten Mehrheit nicht direkt auf den Mechanismus zur Berechnung der Sanktion übertragbar und kann somit das alte System der gewichteten Stimmen für diese Zwecke nicht wirklich ersetzen. Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 140 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liefert das neue System der 12 C(2015) 5511 final vom 5. August 2015. 13 C(2018) 5851 final vom 18. September 2018. 14 EuGH, Rs. C-93/17, Europäische Kommission/Hellenische Republik (Fn. 1), Rdnr. 136 ff. 15 ABl. 2016, C 202, S. 321 ff.

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doppelten Mehrheit keine zufriedenstellenden Kriterien für die angemessene Feststellung der Zahlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten“.16 Der Gerichtshof stellt folglich – hinsichtlich der Berechnung des Faktors „n“ – nicht mehr auf das Kriterium der Anzahl der Stimmen, über die der betreffende Staat im Rat verfügt ab, sondern stützt sich vorwiegend auf das BIP dieses Mitgliedstaates. Da die Kommission aber unbedingt – als „abschreckenden“ Faktor – auch das „institutionelle Gewicht“ eines betroffenen Mitgliedstaates berücksichtigen möchte, musste sie diesbezüglich ein anderes Kriterium he­ ranziehen und berücksichtigt nunmehr die Anzahl der Sitze, die jedem Mitgliedstaat im Europäischen Parlament zugewiesen werden.17 Ein weiterer Grund dafür, das „institutionelle Gewicht“ eines Mitgliedstaates in die Berechnung des Faktors „n“ einfließen zu lassen, ist der Umstand, dass die Berechnung auf der Grundlage des BIP alleine die Spanne des Faktors „n“ zwischen den Mitgliedstaaten deutlich erhöhen würde. Die Differenz zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Faktor „n“ liegt derzeit bei 55, sie würde sich aber auf 312 erhöhen, wenn lediglich das BIP herangezogen werden würde.18 Durch die Berücksichtigung der Anzahl der Sitze im Europäischen Parlament bei der Berechnung des Faktors „n“ würde sichergestellt werden, dass sich die Differenz zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin innerhalb einer vernünftigen Spanne bewegt. Was den Referenzwert für den Faktor „n“ betrifft, so hat die Kommission bisher den Faktor „n“ für Luxemburg herangezogen, eine Berechnung, die aus einer Zeit stammt, in der Luxemburg das Land mit dem niedrigsten Gesamt-BIP unter den Mitgliedstaaten war. Die Kommission ist nunmehr der Ansicht, dass ein Referenzwert verwendet werden soll, der die heutige wirtschaftliche und politische Realität besser abbildet, und wird daher den Referenzwert für den Faktor „n“ dergestalt bestimmen, dass sie den Durchschnittswert beider Faktoren, nämlich des BIP und der Zahl der Abgeordneten-Sitze im Europäischen Parlament, heranzieht.19 16 EuGH, Rs. C-93/17, Europäische Kommission/Hellenische Republik (Fn. 1), Rdnr. 139 f. 17 Für die laufende Wahlperiode siehe dazu Art. 3 des Beschlusses 2013/312/EU des Europäischen Rates vom 28. Juni 2013 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (ABl. 2013, L 181, S. 57) und Art. 3 des Beschlusses (EU) 2018/937 des Europäischen Rates vom 28. Juni 2018 für die nächste Wahlperiode, die am 2. Juli 2019 beginnt (ABl. 2018, L 165 I, S. 1 ff.). 18 Mitteilung der Kommission C(2019) 1396 final vom 20. Februar 2019, S. 2 (ABl. 2019, C 70, S. 1 ff). 19 Der Durchschnittswert wird wie folgt berechnet: Der Faktor „n“ ist ein geometrisches Mittel und wird als Quadratwurzel des Produkts aus den Faktoren berechnet, die auf dem BIP der Mitgliedstaaten sowie auf der Anzahl ihrer Sitze im Europäischen Parlament beruhen; Mitteilung der Kommission C(2019) 1396 final (Fn. 18), S. 3.

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Werden diese Faktoren aber ohne Anpassungskoeffizienten verwendet, so liegt der Referenzwert für den Faktor „n“ erheblich unter dem derzeitigen Wert. Es bedarf daher einer Anpassung, damit die von der Kommission vorgeschlagenen Beträge weiterhin verhältnismäßig und ausreichend abschreckend sind. Mit einem Anpassungsfaktor von 4,5 würden sich die Beträge dem derzeitigen Niveau annähern, ohne dass ein Mitgliedstaat mit einer Erhöhung konfrontiert wäre. Die jeweiligen einheitlichen Grundbeträge für die Berechnung des Tagessatzes für das Zwangsgeld und der Pauschalbeträge werden daher wie folgt angepasst:20 – Einheitlicher Grundbetrag des Tagessatzes für das Zwangsgeld: 690 € x 4,5 = 3.105 € – Einheitlicher Grundbetrag des Pauschalbetrags: 230 € x 4,4 = 1.035 €. Nach derselben Logik wird auch der aktuelle Referenzmindestpauschalbetrag von 571.000 € mit dem neuen Faktor „n“ multipliziert, um den Mindestpauschalbetrag für jeden Mitgliedstaat zu berechnen. Um sicherzustellen, dass die vorgeschlagenen Beträge verhältnismäßig und ausreichend abschreckend sind, wird der Betrag auch mit dem Anpassungsfaktor wie folgt multipliziert: 571.000 € x 4,5 = 2,569.500 €. Der sich daraus ergebende Faktor „n“ je Mitgliedstaat ist in Anhang I und der sich daraus ergebende Mindestpauschalbetrag in Anhang II der Mitteilung der Kommission C(2019) 1396 final21 enthalten. Die Kommission wird die angepasste Methode ab dem Tag der Veröffentlichung ihrer Mitteilung C(2019) 1396 final im Amtsblatt, dh am 25. Februar 2019, anwenden. Obwohl die nach der angepassten Methode berechneten Beträge im Vergleich zur derzeitigen Situation niedriger sein könnten, entsprechen sie eher der Praxis des Gerichtshofs, der generell niedrigere Geldbußen als die von der Kommission ihm vorgeschlagenen Beträge vorsieht.22 Was die Konsequenzen des Ausscheidens des Vereinigten Königreichs aus der EU betrifft, so wird die Kommission – sobald der Austritt rechtswirksam wird, und unabhängig davon, ob das Austrittsabkommen23 in Kraft tritt oder nicht24 – die entsprechenden Durchschnittswerte neu berechnen und die in den Anhängen I und II enthaltenen Zahlen entsprechend anpassen müssen. 20 Mitteilung der Kommission C(2019) 1396 final (Fn. 18), S. 3. 21 Mitteilung der Kommission C(2019) 1396 final (Fn. 18), S. 7 f. 22 Vgl. Vertragsverletzungen: Kommission passt ihre Methode zur Berechnung finanzieller Sanktionen an; https://ec.europa.eu/germany/news/20190220-vertragsverletzungen_de 23 Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (COM(2018) 833 final) (ABl. 2019, CI 66, S. 1 ff.). 24 Siehe dazu Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU, vorstehend auf S. 24.

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Fazit Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass der Kommission der vom Gerichtshof festgestellte Wechsel vom System der „gewichteten“ Stimmen im Rat zum System der „doppelten Mehrheit“ zum 1. April 2017 nicht aufgefallen sei, muss ergänzend darauf hingewiesen werden, dass dies zwar schon der Fall gewesen ist, die Kommission aber der Meinung war, dass zum Zeitpunkt der Klageerhebung – dh am 22. Februar 2017 – in der gegenständlichen Rs. C-93/17 das alte System der „Stimmengewichtung“ noch nicht ausgelaufen gewesen sei – was ja tatsächlich erst am 1. April 2017 der Fall gewesen ist (sic) – sodass der Faktor, der sich aus dem alten System der Stimmengewichtung ergibt, nach wie vor eine für die Berechnung der Sanktionen zweckmäßige Bezugsbasis gewesen sei25, eine Ansicht, der der Gerichtshof allerdings nicht gefolgt ist. Er stellte vielmehr fest, dass hinsichtlich der Dauer des Verstoßes auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Gerichtshof den Sachverhalt würdigt, und nicht auf den Zeitpunkt, zu dem er von der Kommission angerufen worden ist.26 Ob sich der Gerichtshof mit der neuen Berechnungsmethode der Kommission für Pauschalbeträge und Tagessätze für das Zwangsgeld „anfreunden“ wird, bleibt abzuwarten – er ist ja in seinem Urteil bei der Berechnung des Faktors „n“ lediglich von der Berücksichtigung des BIP des betroffenen Mitgliedstaates ausgegangen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich auch unter Berücksichtigung der neuen Berechnungsmethode der Kommission an der Höhe der finanziellen Sanktionierung verurteilter, aber säumiger Mitgliedstaaten grundsätzlich nichts geändert hat und diese nach wie vor eine „abschreckende“ Wirkung entfaltet. Die vom Gerichtshof nunmehr regelmäßig vorgenommene Kumulierung des Pauschalbetrages mit den Tagessätzen des Zwangsgeldes erreicht tatsächlich finanzielle Dimensionen, die für einen Mitgliedstaat „schmerzhaft“ sein können. Quelle: Austrian Law Journal (ALJ) 2019, S. 54 – 60 (Artikel Nr. 25)

25 EuGH, Rs. C-93/17, Europäische Kommission/Hellenische Republik (Fn. 1), Rdnr. 100. 26 EuGH, Rs. C-93/17, Europäische Kommission/Hellenische Republik (Fn. 1), Rdnr. 130, unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 31. Mai 2018 in der Rs. C-251/17, Kommission/Italien, Rdnr. 78 (ECLI:EU:C:2018:358).

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26. Vom „Monster at the Berlaymont“ zum Delegationsleiter der Europäischen Kommission in Österreich Aufstieg und Fall des „mächtigsten Beamten Europas“, Martin Selmayr Mit der Designierung von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission ging die Karriere von Martin Selmayr, dem Generalsekretär der Europäischen Kommission, zu Ende – eine Karriere, wie sie nicht schillernder hätte konstruiert werden können. Selmayr, ein deutscher Jurist, avancierte innerhalb von nur 15 Jahren vom Sprecher eines Kommissionsmitglieds zum Generalsekretär der Europäischen Kommission, und wurde damit zum „mächtigsten Beamten Europas“,1 dem über 33.000 Kommissionsbeamte unterstanden. Dieser „kometenhafte“ Aufstieg sowie dessen Begleitumstände, verbunden mit dem kompromisslosen Führungsstil Selmayr’s, trugen diesem den wenig schmeichelhaften Ruf eines „Monsters“ ein, dessen Vorgangsweise als „abgehoben, manipulativ, diktierend statt debattierend, knallhart, mobbend, tyrannisierend, rücksichtslos“2 uam bezeichnet wurde. Demgegenüber wurde auf das unerhört komplexe Verwaltungsgefüge der Europäischen Kommission hingewiesen, dessen effektive Administrierung eben eine „harte Hand“ benötige. Freund und Feind attestierten Martin Selmayr aber unisono hohe Intellektualität, Zielstrebigkeit, überragende Management-Qualitäten, ein hervorragendes politisches Urteilsvermögen, Gespür für das Machtgefüge, Durchsetzungsvermögen etc. Im persönlichen Umgang wird Selmayr als stets höflich, verbindlich und geradezu als charmant beschrieben. Als Jemand, der Martin Selmayr bereits Ende der 1990er Jahre persönlich kennengelernt, in der Folge dessen Karriere genau verfolgt und zuletzt auch kurz dokumentiert hat,3 ist es mir ein Bedürfnis, nachstehend die Rahmenbedingungen für dessen abrupten Wechsel vom Posten des Generalsekretärs der Europäischen Kommission zum Leiter der Delegation derselben in Österreich näher darzustellen und aufzuhellen, da dazu aktuell eine Reihe von unterschiedlichen Kommentaren vorliegen.

1 Herszenshorn, D. M. Europas mächtigster Beamter, Die WELT vom 24. November 2016. 2 Herszenshorn, D. M. „Monster“ at the Berlaymont; https://www.politico.eu/article/ monster-at-the-berlaymont-martin-selmayr-european-c…; von der Burchhard, H. Martin Selmayr: „Monster of the Berlaymont“ or committed European?; https:// www.politico.eu/article/martin-selmayr-monster-of-the-be... 3 Vgl. Hummer, W. Umgestaltung der administrativen Führungsebene der Europäischen Kommission. Der bisherige Kabinettschef von Jean-Claude Juncker, Martin Selmayr, wird als Generalsekretär der Europäischen Kommission der „mächtigste Beamte“ Europas, EU-Infothek vom 2. März 2018, S. 1 ff.

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Persönliches Profil und bisherige Tätigkeit von Martin Selmayr Das Besondere am Curriculum des 1970 in Bonn geborenen Martin Selmayr ist dessen Vielseitigkeit. Er absolvierte zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften, und zwar an der Universität Genf, dem King’s College in London, der Universität München und an der Universität Passau, wo er 2001 mit einer Dissertation zum Thema „Die Vergemeinschaftung der Währung“ summa cum laude promovierte, eine in Deutschland extrem selten vergebene Auszeichnung. Danach widmete er sich dem Studium des anglo-amerikanischen Rechts an der University of California und absolvierte in der Folge eine Reihe einschlägiger beruflicher Tätigkeiten in der Privatwirtschaft (Bertelsmann AG uam) sowie an der Europäischen Zentralbank und beim Internationalen Währungsfonds. Nach bestandenem Auswahlverfahren für Juristen trat Selmayr am 1. November 2004 in die Dienste der Europäischen Kommission ein, wo er im Kabinett der Kommissarin Viviane Reding zunächst Sprecher für die Angelegenheiten ihres Ressorts, nämlich für Informationsgesellschaft und Medien, wurde. Ab 2005 war er dann auch Sprecher für den Juristischen Dienst der Europäischen Kommission und wurde 2010 zum Kabinettschef der nunmehrigen Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft und Vizepräsidentin der Kommission, Viviane Reding, ernannt. 2014 wurde Selmayr Hauptberater der Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen (GD ECOFIN) sowie EU-Direktor bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Als sich 2014 abzeichnete, dass sich die Chancen von Vizepräsidentin Viviane Reding, Spitzenkandidatin bei der Europawahl 2014 zu werden, drastisch verringerten, wechselte Selmayr in das Team von Jean-Claude Juncker. Um dessen Wahlkampf als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission bei der Europawahl 2014 zu organisieren, ließ sich Selmayr beurlauben und wurde nach dem Sieg Junckers gegen Martin Schulz Leiter des Übergangs­ teams von Jean-Claude Juncker. Nach dem Amtsantritt von Jean-Claude Juncker als Präsident der Europäischen Kommission am 1. November 2014 wurde Selmayr dann dessen Kabinettschef, der an allen wichtigen Verhandlungen und Entscheidungen der Kommission führend beteiligt war und dementsprechend auch als „starker Mann hinter Juncker“4 bezeichnet wurde. Die Ernennung Selmayrs zum Generalsekretär der Europäischen Kommission Nachdem der bisherige Generalsekretär der Europäischen Kommission, der Niederländer Alexander Italianer, Präsident Juncker im Jänner 2018 mitgeteilt hatte, dass er gedenke, mit 1. März in den Ruhestand zu treten, ent4 Kafsack, H. Der starke Mann hinter Juncker, FAZ.net vom 10. September 2014.

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schied sich dieser dazu, seinen bisherigen Kabinettschef, Martin Selmayr, für diese Position vorzuschlagen. Selmayr wurde in der Folge, gleichsam in einem Eilverfahren, am 21. Februar 2018 – mit Wirkung vom 1. März 2018 – zum neuen, und damit siebten, Generalsekretär der Europäischen Kommission ernannt, als seine Stellvertreterin wurde die Dänin Pia AhrenkildeHansen bestellt. Die „eilige“ Bestellung Selmayrs stieß sowohl im Europäischen Parlament im allgemeinen,5 als auch bei einigen Abgeordneten desselben (zB Ingeborg Gräßle, Sven Giegold, Bart Staes, Dennis de Jong) im speziellen auf Kritik. Auch die EU-Ombudsfrau, Emily O‘Reilly, ging in ihrem Untersuchungsbericht, der am 11. Februar 2019 veröffentlicht wurde,6 von einer nicht korrekten Bestellung Selmayrs aus, da dabei vier grundlegende Verfahrensvorschriften verletzt wurden. Des weiteren sprachen auch einige Journalisten, wie zB der Brüsseler Korrespondent der französischen Zeitung „Liberation“, Jean Quatremer, von einem irregulären Ernennungsverfahren7 und Tim King sprach sogar von einem „act of such chicanery and skulduggery that it stains the record of the entire Commission“.8 Auf der anderen Seite fühlte sich ein höherer Kommissionsbeamter wiederum dazu bemüßigt, ein eigenes „Empfehlungsschreiben“ für Martin Selmayr zu verfassen, in dem er ihn in höchsten Tönen lobte.9 In der einschlägigen Literatur wurde dazu auch eine eigene Zusammenstellung der wichtigsten Pro- und Kontraargumente in Bezug auf die „Eilbestellung“ Selmayrs veranstaltet.10 Selmayr als Architekt des „Spitzenkandidatensystems“ und dessen Konsequenzen Als Berater für die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament während des sog. „Verfassungs-Konvents“ 2002/200311 machte Martin Selmayr – gemeinsam mit Jean-Claude Juncker 5 Siehe European Parliament resolution on Integrity policy of the Commission, in particular the appointment of the Secretary-General of the European Commission (PE619.347v02-00). 6 Recommendation of the European Ombudsman in joint cases 488/2018/KR and 514/2018/KR on the European Commission’s appointment of a new Secretary-General; https://www.ombudsman.europa.eu/en/recommendation/en/102651 7 Quatremer, J. Martin Selmayr et les comploteurs de la Commission, Liberation, 25 février 2018. 8 King, T. Why Martin Selmayr had to go; https://www.politico.eu/article/why-mar tin-selmayr-had-to-go/ 9 Siehe Winneker, C. Wanted: New job for Martin Selmayr; https://www.politico.eu/ article/wanted-new-job-for-martin-selmayr/ 10 Siehe von der Burchard, Martin Selmayr: „Monster of the Berlaymont“ or committed European? (Fn. 2), S. 3. 11 Vgl. dazu Hummer, W. Der „Verfassungs-Konvent“: Ausgangslage, Zusammensetzung, Arbeitsweise, Ergebnisse, in: Hummer, W. – Obwexer, W. (Hrsg.), Der Vertrag für eine Verfassung für Europa (2007), S. 3 ff.

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und dem EVP-Abgeordneten Elmar Brok – den Vorschlag, das Ergebnis der jeweiligen Wahlen zum Europäischen Parlament als richtungsweisend für die Wahl des neuen Präsidenten der Europäischen Kommission anzusehen, eine Überlegung, die später in Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV ihren Niederschlag finden und als „Spitzenkandidaten-System“ benannt werden sollte. Niemals hätte sich Selmayr dabei gedacht, dass ausgerechnet dieses Spitzenkandidaten-System einmal seinen „Absturz“ einleiten könnte – und trotzdem war dies, zumindest zu einem Großteil, der Fall. Sollte nämlich ein Deutscher als Spitzenkandidat gewählt und in der Folge vom Europäischen Parlament auch zum Präsidenten der Europäischen Kommission bestellt werden, dann würde sich sofort die Frage stellen, ob nicht die Kombination eines deutschen Kommissionspräsidenten und eines deutschen Generalsekretärs der Kommission eine zu große Machtfülle in „deutschen Händen“ ergeben würde. Genau diese Fallkonstellation trat hypothetisch bereits mit der Wahl des Deutschen Manfred Weber zum Spitzenkandidaten ein, wurde in der Folge in praxi aber deswegen nicht schlagend, da dieser im Europäischen Rat – dem Organ, das dem Europäischen Parlament den Kandidaten für den Präsidenten der Kommission zur Wahl vorschlägt, und nach dessen Zustimmung, diesen auch ernennt (Art.  17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV) – keine Mehrheit fand. Im Gegensatz dazu fand nach langem „Feilschen“ die deutsche Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, im Europäischen Rat die Mehrheit als Kandidatin für die Präsidentschaft der Kommission, was aber genau dieselbe Problematik für Martin Selmayr darstellte. Wenngleich die GO der Europäischen Kommission keine explizite Unvereinbarkeit zwischen dem Präsidenten der Europäischen Kommission und deren Generalsekretär aus Gründen derselben Nationalität vorsieht, ist es ein „ungeschriebenes Gesetz“ in der EU, dass der jeweilige Präsident der Kommission und deren Generalsekretär, nicht über die gleiche Nationalität verfügen sollen, um damit einer zu großen Machtfülle vorzubeugen. Damit endet mit der Ernennung von Ursula von der Leyen als Präsidentin der Europäischen Kommission aber der kometenhafte Aufstieg Martin Selmayr’s zum Generalsekretär derselben, eine Position, die Selmayr lediglich 17 Monate innehaben sollte. Der „Verzicht“ Selmayrs auf das Amt des Generalsekretärs der Europäischen Kommission Nachdem er es in einem Interview mit der Zeitschrift POLITICO zunächst noch als „absurd“ ausgeschlossen hatte, aus seiner bisherigen Position auszuscheiden und unter Umständen die Vertretung der Europäischen Kommission in einem ihrer 28 Mitgliedstaaten12 oder sogar die der EU in einem 12 Neben diesen Vertretungen unterhält die Kommission noch Regionalbüros in Barcelona, Belfast, Bonn, Breslau, Cardiff, Edinburgh, Marseille, Mailand und München.

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Drittstaat zu übernehmen,13 musste Selmayr in der Folge die Realität zur Kenntnis nehmen und seinen Ausstieg aus dem Amt des Generalsekretärs in Erwägung ziehen. Nach einem Gespräch mit der designierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, anlässlich ihres Treffens mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg Anfang Juli 2019, erklärte Selmayr: „I told her that this issue would come up, and that she’d have to respond, regardless of me…The most important thing now is that you win this vote“.14 Dementsprechend erklärte Ursula von der Leyen auch am 15. Juli 2019, dass Selmayr seine Position als Generalsekretär der Kommission verlassen werde, sollte sie zur Präsidentin der Kommission ernannt werden. Damit versuchte sie auch eine Reihe von Parlamentariern zufriedenzustellen, die – wie vorstehend bereits erwähnt – gegen die Bestellung von Selmayr zum Generalsekretär der Kommission opponiert hatten.15 Auf die Frage, wer denn seines Erachtens ihn ersetzen werde, erklärte Selmayr, dass es wohl ein Franzose sein werde, den er auf weiteres Befragen mit Olivier Guersent, den aktuellen Generaldirektor der Kommission für Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion, persönlich benannte. In einem Interview mit Playbook über die Frage, was denn seine aktuellen Pläne wären, erklärte Selmayr, dass er nach einem längeren Urlaub die Kommissionsvertretung in Wien übernehmen werde. Auch habe er „fünfzehn Jahre am 12. und 13. Stock des Berlaymont hart genug gearbeitet“, sodass es jetzt Zeit sei, um sich eine Auszeit zu gönnen.16 Die Ernennung von Martin Selmayr zum Sonderberater und ­Delegationsleiter Am 24. Juli 2019 beschloss die Europäische Kommission, ihren bisherigen Generalsekretär, Martin Selmayr, mit Wirkung vom 1. August 2019 zum Sonderberater im Generalsekretariat und zum 1. November 2019 zum neuen Leiter ihrer Vertretung in Österreich zu ernennen. Was erstere Ernennung betrifft, so soll Selmayr Präsident Juncker als Sonderberater bis zum 31. Oktober 2019 weiterhin in zentralen strategischen Fragen unterstützend zur Seite stehen. Laut Kommissionssprecherin Mina Andreeva würdigten 13 „I am an official of the European Commission. Why should I change from Brussels to somewhere else? Then to go to London? Come on, this is a bit absurd“; Martin Selmayr. The lame duck, POLITICO 28 Class of 2019, S. 5; https://www.politico. eu/list/politico-28-class-of-2019-the-rankin... 14 Eder, F. Exclusive: Martin Selmayr to leave powerful Commission post „next week“, S. 2; https://www.politico.eu/article/Martin-selmayr-to-leave-powerful... 15 De la Baume, M. – Eder, F. – Herszenhorn, D. M. Von der Leyen hints at Selmayr exit if she becomes Commission president; https://www.politico.eu/article/von-derleyen-hints-at-selmayr-exi... 16 Eder, F. Martin Selmayr’s new job: The EU’s man in Vienna; https://www.politico. eu/article/martin-selmayrs-new-job-the-eus...

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sowohl Präsident Juncker, als auch das gesamte Kollegium bei dieser Gelegenheit Selmayrs herausragende Fähigkeiten und Leistungen. Besonders hervorgehoben wurden dabei sein effizientes Management der Kommission Juncker, zunächst als Kabinettschef des Präsidenten und später als Generalsekretär, sowie sein Einsatz für die Gemeinschaftsmethode und seine vorbildliche Arbeitseinstellung.17 Was die Weiterführung der Tätigkeit des Generalsekretariats betrifft, so wurde unter einem, gem. Art. 26 der Geschäftsordnung (GO) der Europäischen Kommission,18 die Lettin Ilze Juhansone – die seit 2015 stellvertretende Generalsekretärin war – als Generalsekretärin ad interim bestellt und mit dem reibungslosen Übergang von der „Juncker-Kommission“ zu der „Von der Leyen-Kommission“ betraut. Dabei wird sie von den beiden derzeitigen Stellvertretern, Herrn Pascal Leardini und Frau Céline Gauer, unterstützt. Was wiederum die Betrauung von Martin Selmayr mit der Leitung der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich betrifft, so löste diese ein umfassendes Revirement aus, das in aller Kürze administriert werden musste. Seit Amtsantritt der Kommission Juncker werden die Leiter der Vertretungen der Europäischen Kommission vom Präsidenten ernannt und als seine politischen Vertreter in die jeweiligen Mitgliedstaaten entsandt. Selmayr musste daher in aller Eile Präsident Juncker eine komplizierte Personalrochade vorschlagen, die zu einer Reihe von Neubesetzungen führte, deren Positionen aber nicht zeitgerecht ausgeschrieben wurden. Der komplizierte Positionswechsel stellt sich folgendermaßen dar. Die Neubesetzung der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich Die bisherige Vertretung der Europäischen Kommission in Wien hatte seit September 2015 der deutsche Diplomat Jörg Wojahn inne, der nunmehr am 24. Juli 2019 zum neuen Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin ernannt wurde und sein neues Amt am 1. September 2019 antreten wird. Wojahn tritt dort die Nachfolge von Richard Kühnel an, einem Österreicher, der 2004 – über das Kabinett der ehemaligen EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner – in die Dienste der Europäischen Kommission getreten war und von 2008 bis 2014 die Kommissionsvertretung in Wien geleitet hatte. Danach wechselte Kühnel nach Berlin und übernahm die dortige Vertretung der Europäischen Kommission. Im Zuge der Ersetzung durch Jörg Wojahn als Kommissionsvertreter in Berlin wurde Richard Kühnel mit Wirkung vom 1. September 2019 zum Leiter der Direktion „Repräsentation und Kommunikation in den Mitgliedstaaten“ in der Generaldirektion „Kommunikation“ der Europäischen 17 https://ec.europa.eu/germany/news/20190724-selmayr_de 18 ABl. 2010, L 55, S. 60 ff.

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Kommission bestellt,19 die ua für die Vertretungen der Kommission in den einzelnen Landeshauptstädten zuständig ist. Durch die Betrauung von Richard Kühnel mit dieser neuen Funktion tritt nun der außergewöhnliche Fall ein, dass dieser damit zum Dienstvorgesetzten von Martin Selmayr wird, der bisher sein oberster Dienstherr war (!).20 Schlussbetrachtungen Lässt man die Karriere von Martin Selmayr Revue passieren, dann erkennt man, dass das öffentliche Dienstrecht internationaler Organisationen um einiges „elastischer“ ausgestaltet ist, als das in nationalen Verwaltungen der Fall ist. Trotzdem darf man daraus weder ein allgemeines rechtsstaatliches Defizit folgern, noch das Verhalten Martin Selmayrs in irgendeiner Form „kriminalisieren“. Es handelt sich bei ihm um einen überaus qualifizierten dreisprachigen Europarechtler, der als „perfekter Netzwerker“21 alle dienstrechtlichen Möglichkeiten bis zum Exzess ausgeschöpft hat, um seinem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker die mehr als komplexen Agenden für dessen Beschlussfassung entsprechend aufzubereiten. Bedenkt man die Größe des Personalapparats der Europäischen Kommission, der über 33.000 Personen verfügt, dann erkennt man sofort, welche administrativen und gestalterischen Möglichkeiten dabei zur Disposition stehen und bestmöglich eingesetzt werden sollen. Der Vergleich mit der eher homogenen personellen Ausstattung nationaler Ministerien zeigt dabei auf, wie unterschiedlich eigentlich die tatsächliche Willensbildung innerhalb der Europäischen Union im Vergleich zu der im Rahmen ihrer Mitgliedstaaten vor sich geht. Dazu kommt noch die besondere Beschwer, mit 24 Amtssprachen arbeiten zu müssen, die nicht immer ganz konsistent miteinander abgeglichen sind, und damit große Interpretationsprobleme auslösen. Alles in allem verlangt die überaus komplexe Entscheidungsfindung und -durchsetzung in der Europäischen Union auf der politischen Ebene vor allem aber auch eine effektive Beherrschung des Personalapparates der Europäischen Kommission, wie sie Martin Selmayr in einer bisher noch nicht gekannten Weise verwirklicht hat. Ihm daraus aber „einen Strick zu drehen“ und ihn als „Monster“ zu bezeichnen, ist nicht sachgerecht. Er hat lediglich die oftmals mehr als schwierigen Entscheidungen der Juncker-Kommission 19 Dieses Direktorat gehört mit vier Abteilungen in Brüssel, die sich mit Strategie, politischer Berichterstattung, Bürgerdialogen und Netzwerken befassen, sowie 28 Vertretungen und 9 Regionalvertretungen in allen Mitgliedstaaten zu den größten innerhalb der Kommission; Richard Kühnel wechselt nach Brüssel: Jörg Wojahn wird neuer Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland; https://ec.europa. eu/germany/news/20190724-neuer-vertreter-kommission-deutschland_de 20 Vgl. Mayer, T. Kurioses EU-Postenkarussell um höchsten Kommissionsbeamten, Der Standard vom 27./28. Juli 2019, S. 9. 21 Mayer, T. Junckers „Monster“ geht nach Wien, Der Standard vom 25. Juli 2019, S. 28.

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mit harter Hand aufbereitet, und dann auch durchgezogen. Die Erfahrungen mit der Personalführung des nächsten Generalsekretärs der Europäischen Kommission werden zeigen, ob es auch mit gelinderen Mitteln ebenso effizient gegangen wäre. Abschließend soll nur darauf hingewiesen werden, dass der von ihm selbst gewollte „Rückzug“ auf den vergleichsweise „bescheidenen“ Posten eines Leiters der Kommissions-Vertretung in Österreich – die mit 22 Mitarbeitern ausgestattet ist – zwar ein größeres „Erholungspotential“, als seine bisherige Tätigkeit, mit sich bringt, zugleich aber der Europäischen Union die singuläre Möglichkeit benimmt, die außerordentliche Erfahrung Martin Selmayrs an einer anderen, wichtigeren Stelle, sinnvoll einzusetzen. So wäre, in Zeiten wie diesen, Selmayr zB als Ständiger Vertreter der EU in London bestens platziert, um die anstehenden Probleme eines unter Umständen bevorstehenden „no deal-Brexit“ besser aufzubereiten und umzusetzen, als dies bisher der Fall war.22 Quelle: EU-Infothek vom 9. August 2019, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 26)

22 Wohlweislich hat Martin Selmayr diesen Wechsel aber bereits zuvor ausgeschlossen; siehe dazu seine Aussage in Fn. 13.

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27. Wirtschaftliche Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Integrationszonen Die Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA Der vor kurzem erfolgte Abschluss der Handelsverhandlungen über die Errichtung einer Freihandelszone zwischen dem MERCOSUR und der Europäischen Union (EU) wurde in Europa zwar mit Interesse zur Kenntnis genommen, zugleich aber auch – vor allem wegen deren befürchteten Auswirkungen auf die Brandrodungen im tropischen Regenwald des AmazonasBeckens und der „Überschwemmung“ der europäischen Märkte mit lateinamerikanischen Agrarprodukten – von Teilen der organisierten Zivilgesellschaft heftig kritisiert, sodass ein definitiver Abschluss dieser Freihandelszone im Zuge der notwendigen Ratifikationsverfahren als gefährdet erscheint. Im Gegensatz dazu wurde aber dem beinahe gleichzeitig ausverhandelten Freihandelsabkommen zwischen dem MERCOSUR und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) kaum Beachtung geschenkt, wenngleich auch dieses aus denselben Gründen kritisiert werden könnte. Offensichtlich wurde dieses Problem ob seiner Größe in diesem Zusammenhang aber als „quantité négligeable“ angesehen und daher auch nicht weiter kommentiert. Aus diesem Grunde soll nachstehend eine kurze Gegenüberstellung beider Freihandelsabkommen vorgenommen werden, um deren tatsächlicher Bedeutung gerecht zu werden. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um mehr als bloße Freihandelsabkommen, die an sich nur den Warenverkehr liberalisieren, sondern es sind eher Wirtschaftsintegrationsinstrumente, die sich mit der Regulierung bzw. Abschaffung einer Reihe weiterer Handelsbeschränkungen beschäftigen.1 Für das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU liegen bereits eine Reihe einschlägiger Kommentare vor, während zum Abkommen MERCOSUR-EFTA im Moment lediglich einige wenige Hinweise existieren. Dementsprechend werden zum einen in Bezug auf das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU bisher wenig berücksichtigte Charakteristika des MERCOSUR dargestellt, hinsichtlich des Abkommen MERCOSUR-EFTA zum anderen aber eine Reihe von Punkten aufgegriffen, die in der gegenwärtigen Debatte bisher vernachlässigt worden sind. Vor allem soll diese Gegenüberstellung aber dazu dienen, die mannigfachen Missverständnisse und Fehleinschätzungen der beiden Handelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA zu korrigieren und damit zu einer sachlichen Debatte Anlass zu geben. Es wäre schade, wenn 1 Vgl. Nagy, C. I. Freihandelsabkommen, regionale Wirtschaftsintegrationen und die neue Epoche des Welthandels, ZfRV 3/2019, S. 100 ff.

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diese beiden ambitioniert konzipierten Abkommen aufgrund von Fehleinschätzungen zu Fall gebracht würden. Der MERCOSUR als politisch und wirtschaftlich dominantes ­Integrationsgebilde in Lateinamerika Beinahe gleichzeitig mit Europa beginnt auch in Lateinamerika die Ausbildung regionaler Präferenzzonen, wobei sich interessanterweise die lateinamerikanische Integration konzeptuell nicht am Modell der europäischen Freihandelszonen und Zollunionen orientierte, sondern einen eigenständigen Weg einschlug.2 So wurde, gleichzeitig mit der EFTA, bereits im Jahre 1960 sowohl die „Lateinamerikanische Freihandelsassoziation“ (ALALC/ LAFTA), als auch der „Zentralamerikanische Gemeinsame Markt“ (MCCA/ CACM) gegründet, denen in der Folge eine Reihe weiterer regionaler sowie subregionaler3 Präferenzzonen folgten,4 von denen der MERCOSUR zweifellos als die dominanteste angesehen werden kann.5 Der MERCOSUR (Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) wurde am 26. März 1991 durch den Vertrag von Asunción zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, mit Sitz in Montevideo, gegründet. Zug um Zug assoziierten sich in der Folge eine Reihe von Staaten an den MERCOSUR, nämlich Chile (1996), Bolivien (1997), Peru (2003), Kolumbien (2004), Ecuador (2004), Guyana (2015) und Surinam (2015). Die institutionelle Struktur des MERCOSUR wurde durch das „Protocolo de Ouro Preto“ vom 17. Dezember 1994 komplettiert und näher ausgestaltet. Politisch versucht der intergouvernemental ausgestaltete MERCOSUR die demokratischen Prozesse in seinen Mitgliedstaaten zu stärken, um damit Rückfälle in frühere autokratische und diktatorische Regime zu verhindern. 2 Vgl. Hummer, W. Integration in Lateinamerika und in der Karibik. Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen, in: Verfassung und Recht in Übersee 1/2005, S. 6 ff. 3 Der Begriff „subregional“ ist in diesem Zusammenhang nicht, wie in Lateinamerika allerdings üblich, geographisch zu verstehen, sondern bezeichnet die Ausbildung von Zollunionen einiger Mitgliedstaaten von Freihandelszonen, die sich untereinander enger integrieren, zugleich aber in der Freihandelszone selbst verbleiben wollen. Klassisches Beispiel dafür ist die Ausbildung des Pacto Andino (1969) bzw. seines Nachfolgers, der Comunidad Andina (1996), innerhalb der ALALC (1960) bzw. der ALADI (1980). Durch diese Doppelmitgliedschaft von Staaten in einer Freihandelszone, zugleich aber auch in einer Zollunion, werden komplexe GATT-rechtliche Probleme aufgeworfen; vgl. dazu Hummer, W. Integration. Rechtsfragen der wirtschaftlichen Integration in Lateinamerika und der Karibik, in: Drekonja-Kornat, G. (Hrsg.), Lateinamerikanistik. Der österreichische Weg (2005), S. 109 ff. 4 Siehe dazu eine erste geschlossene Zusammenstellung aller regionalen und subregionalen Präferenzzonen in Lateinamerika bei Hummer, W. Integration in Lateinamerika und in der Karibik (Fn. 2), S. 39 ff. 5 Vgl. dazu Rozemberg, R. – Campos, R. – Gayá, R. – Makuc, A. – Svarzman, G. Informe MERCOSUR: hacia un cambio necesario, Juni 2019.

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Zu diesem Zweck unterzeichneten die Präsidenten der vier Mitgliedstaaten eine Reihe von Deklarationen über die Verpflichtung zur Demokratie, und zwar am 26./27. Juni 1992 in Las Leñas/Argentinien und am 25. Juni 1996 in San Luis/Argentinien, wobei sich letzterer die beiden assoziierten Staaten Bolivien und Chile anschlossen. Dabei wurde auch das Instrument eines „Politischen Dialogs“6 eingeführt, dem dieselbe Funktion wie dem „Vor Artikel 7 EUV-Verfahren“7 in der EU – ein „Verfahren zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ – zukommt, das bereits gegen Polen (2017) und Ungarn (2018) im Vorfeld drohender Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit ansatzweise zum Einsatz gekommen ist.8 Auf der Basis dieser präsidentiellen Deklarationen kam es in der Folge am 24. Juli 1998 zur Unterzeichnung des „Protokolls von Ushuaia über die Verpflichtung zur Demokratie im MERCOSUR, in Bolivien und Chile“ („cláusula democrática“) (Protokoll von Ushuaia I), das gem. seinem Art. 8 einen integrierenden Bestandteil des Vertrags von Asunción (1991) darstellt und in dem sich die Mitgliedstaaten des MERCOSUR zur Wahrung der Demokratie verpflichten. Am 20. Dezember 2011 wurden durch das „Protokoll von Ushuaia II“ die Sanktionen bei einem Bruch der „cláusula democrática“ wesentlich verschärft und den unbotmäßigen Staaten auch eine Suspendierung ihrer Mitgliedschaftsrechte bzw. sogar der Ausschluss aus dem MERCOSUR angedroht.9 Erstere Sanktion wurde zunächst 1999 und danach 2012 gegen Paraguay angewendet, am 13. Juli 2013 aber wieder aufgehoben. Was Venezuela betraf, so unterzeichnete es zwar am 4. Juli 2006 den Beitrittsvertrag zum MERCOSUR, ratifizierte diesen aber erst sechs Jahre später, nämlich am 31. Juli 2012. Am 5. August 2017 wurden – aufgrund zwischenzeitlich eingetretener innen- und außenpolitischer Probleme unter Präsident Nicolas Maduro10 – die Mitgliedschaftsrechte von Venezuela auf unbestimmte Zeit

6 Hummer, W. El „Diálogo Político“ y el „Compromiso Democrático“ en las zonas de integración económica en América Latina. ¿Copia fiel de la experiencia europea o concepto genuino?, in: Libro en homenaje a Ernesto J. Rey Caro (2002), S. 1263 ff. 7 KOM(2014) 158 endg.; vgl. Hummer, W. Neuer Frühwarnmechanismus bei Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in der EU, EU-Infothek vom 8. April 2014. 8 Hummer, W. Rechtsstaatlichkeitsprobleme in Ungarn und Polen (Teil 1), EU-Infothek vom 12. Mai 2017; (Teil 2) EU-Infothek vom 16. Mai 2017; vgl. dazu die Artikel Nr. 9 und Nr. 23, vorstehend auf S. 136 ff und S. 300 ff. 9 Vgl. Hummer, W. Demokratiesicherungsklauseln in regionalen Präferenzzonen. Europäische versus lateinamerikanische Praxis, in: JRP 3/2001, S. 185 ff.; Hummer, El „diálogo político“ y el „compromiso democrático“ en las zonas de integración económica en América Latina (Fn. 6), S. 1241 ff. 10 Vgl. Hummer, W. Verblüffende Parallelität der Sanktionen gegen Polen in der EU und gegen Venezuela im MERCOSUR. Die Sanktionen wegen der Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsgebots in der Europäischen Union (EU) und im „Gemeinsamen Markt des Südens“ (MERCOSUR), EU-Infothek vom 28. August 2017, S. 1 ff.

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suspendiert.11 Am 2. Dezember 2016 kam es dann zum Ausschluss Venezuelas aus dem MERCOSUR, was von diesem als Staatsstreich („golpe de Estado“) bezeichnet wurde. Wie ernst die MERCOSUR-Staaten dieses „Demokratie-Gebot“ nahmen, geht sehr anschaulich aus dem Umstand hervor, dass sie es sogar gegen Drittstaaten zum Einsatz brachten, und zwar ausgerechnet gegen Österreich. Da dieser Umstand in der österreichischen Öffentlichkeit nahezu völlig unbemerkt geblieben ist, soll auf ihn nachstehend kurz verwiesen werden.12 Als Reaktion auf die „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich13, die wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ am 4. Februar 2000 von 14 EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich verhängt wurden,14 berief der argentinische Staatspräsident Fernando de la Rúa15 den argentinischen Botschafter in Wien, Juan Carlos Kreckler, am 17. Februar 2000 zur Berichterstattung nach Buenos Aires ein. Darüber hinaus kam es auch zur Zurückstufung der diplomatischen Beziehungen mit Österreich auf ein strikt „technisches Niveau“, dh auf gewöhnliche, technische Arbeitsbeziehungen unterhalb der diplomatisch-politischen Ebene, was vom argentinischen Außenminister Adalberto Rodríguez Giavarini am 11. Februar 2000 in einem formellen Kommuniqué verlautbart wurde16. Präsident De la Rúa verschob am 11. Februar 2000 auch den Zeitpunkt der Überreichung der Beglaubigungsurkunde durch den neuernannten österreichischen Botschafter in Argentinien, Yury Standenat17, und ließ verlauten, dass es nicht so bald zur Wiederbesetzung des Postens des argentinischen Botschafters in Wien kommen werde18. 11 Hummer, Verblüffende Parallelität der Sanktionen gegen Polen in der EU und gegen Venezuela im MERCOSUR (Fn. 10), S. 1 ff. 12 Vgl. Hummer, W. Behinderung der Mitwirkung Österreichs an der Willensbildung in der EU – Die „Maßnahmen der EU-14“ gegen die österreichische Bundesregierung und ihre Konsequenzen, in: Hummer, W. – Obwexer, W. (Hrsg.), 10 Jahre EUMitgliedschaft Österreichs – Bilanz und Ausblick (2006), S. 139 ff. 13 Hummer, W. Die „Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung – Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht, in: Hummer, W. – Pelinka, A. Österreich unter „EU-Quarantäne“. Die „Sanktionen der 14“ gegen die österreichische Bundesregierung aus politikwissenschaftlicher und juristischer Sicht – Chronologie, Kommentar, Dokumentation (2002), S. 50 ff. 14 Text in: Hummer/Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 13), S. 185. 15 Argentinien befand sich damals im Vorsitz des MERCOSUR. 16 „Coincidimos expresamente con la posición europea de seguimiento y alerta (sobre Austria) y en el mantenimiento de los contactos diplomáticos bilaterales a nivel estrictamente técnico“; Confirman que llamaron a Kreckler, in: La Nación vom 15. Februar 2000; vgl. auch Gerschenson, A. El Gobierno enfrió las relaciones con Austria por Haider, in: Clarín vom 12. Februar 2000. 17 Gerschenson (Fn. 16): „La dilación del encuentro en lenguaje diplomático sólo puede leerse como un mensaje hacia el gobierno de Viena integrado por neonazis“ (sic). 18 Rodríguez Giavarini, Ratificaron la política hacia Austria, in: Clarín vom 24. Februar 2000.

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Diese Vorgänge veranlassten die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu der Feststellung: „So aber hat Argentinien mit diesem Handstreich nicht nur die Reaktion der Europäer, sondern auch die der Vereinigten Staaten auf das „Phänomen Haider“ übertrumpft und steht in der Schärfe seiner Sanktionen gegen Österreich nur gerade hinter jenen Israels zurück“.19 Dass Österreich eine solche demokratiepolitische Abmahnung ausgerechnet von einem Mitgliedstaat des MERCOSUR entgegennehmen musste, ist mehr als außergewöhnlich, wurde aber nicht weiter publik und von der damaligen Bundesregierung unter BK Wolfgang Schüssel einfach totgeschwiegen. Wirtschaftlich strebt der MERCOSUR gem. dem Art.  1 des Vertrages von Asunción als Endziel die Schaffung eines „Gemeinsamen Marktes“ (Mercado Común) bis zum 31. Dezember 1994 an, konnte aber bis heute nicht einmal die Integrationsstufe einer geschlossenen Zollunion iSv Art. XXIV Abs. 8 lit. a) GATT erreichen und stellt nach wie vor bloß eine Freihandelszone iSv Art. XXIV Abs. 8 lit. b) GATT dar. Mit seinen 260 Mio Konsumenten ist der MERCOSUR aber die weitaus größte Freihandelszone in Lateinamerika und mit seinem jährlichen BIP von 2,2 Billionen Euro auch weltweit der fünftgrößte Wirtschaftsraum außerhalb der EU. Während sich die Beziehungen zu den USA, vor allem im Hinblick auf die Ausgestaltung einer beide Amerikas umfassenden gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA/FTAA (Área de Libre Comercio de las Américas/Free Trade Area of the Americas) mit 34 nord- und südamerikanischen sowie karibischen Staaten (ohne Kuba)20 zusehends verschlechterten, kamen sich der MERCOSUR und die Europäische Gemeinschaft (EG) wirtschaftspolitisch immer näher, was Mitte Dezember 1995 auch zur Unterzeichnung eines Rahmenabkommens mit der EG geführt hat. Vom Interregionalen Rahmenabkommen EG-MERCOSUR (1995) zum Handelsabkommen EU-MERCOSUR als Teil des Assoziations­ abkommens (2019) Die Basis für die Beziehungen der EG bzw der späteren EU mit dem MERCOSUR legte das Interregionale Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Mercado Común del Sur und seinen Teilnehmerstaaten andererseits vom 15. Dezember 1995,21 das mit 1. Juli 1999 in Kraft trat.22 19 Profilierung dank Haider, NZZ vom 6. 3. 2000. 20 Die Satzung der ALCA/FTAA wurde am 11. Dezember 1994 auf Initiative der Regierung Clinton auf der IV. Panamerikanischen Gipfelkonferenz unterzeichnet; BID/INTAL (eds), Integración Latinoamericana, No. 206, diciembre de 1994, p. 53 ff. 21 ABl 1996, L 69, S. 4 ff. 22 Beschluss 1999/279/EG des Rates vom 22. März 1999, ABl 1999, L 112, S. 65 ff.

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Ziel dieses Rahmenabkommens war es – neben den bereits von der EG mit Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien abgeschlossenen bilateralen Abkommen – die bestehenden Beziehungen zwischen der EG und dem MERCOSUR zu stärken, um eine interregionale Assoziation vorzubereiten (Art. 2 Abs. 1). Inhaltlich deckte das Abkommen Handels- und Wirtschaftsfragen sowie die Zusammenarbeit in anderen Bereichen von beiderseitigem Interesse ab. Ebenso wurde ein regelmäßiger politischer Dialog und eine Intensivierung der diplomatischen Beziehungen vereinbart. Auf der Basis dieses Rahmenabkommens verhandelte die EU seit 1999 – dh seit zwanzig Jahren (!) – allerdings mit zeitweiligen Unterbrechungen, mit den Mitgliedstaaten des MERCOSUR ein Abkommen zur Errichtung einer Freihandelszone, das neben seinem Handelsteil auch einen politisch/kooperativen Teil enthalten sollte. Im Handelsteil ging es um die Verbesserung des gegenseitigen Marktzuganges für Waren, Dienstleistungen, öffentliches Beschaffungswesen, Abbau von nicht-tarifären Handelshemmnissen, Regelung sanitärer und phytosanitärer Maßnahmen, Schutz geistigen Eigentums, nachhaltige Entwicklung etc, wobei der Investitionsschutz im Verhandlungsmandat aus dem Jahr 1999 deswegen nicht enthalten war, da die Zuständigkeit der EU für den Bereich ausländischer Direktinvestitionen ja erst durch den Vertrag von Lissabon (2007) in Art. 207 Abs. 1 AEUV verankert wurde. Was den politisch/kooperativen Teil betraf, so ging es dabei um die Einrichtung eines politischen Dialogs sowie die Zusammenarbeit in wichtigen Bereichen, wie zB digitale Wirtschaft, Forschung und Bildung, unternehmerische und soziale Verantwortung, aber auch um Migration, Menschenrechte, einschließlich der Rechte indigener Völker, Umweltschutz, Schutz des tropischen Regenwaldes, Meeres- und Fischereipolitik, Bekämpfung des Terrorismus, Geldwäsche, Cyberkriminalität etc. Am 28. Juni 2019 konnte schließlich eine politische Einigung über den Abkommenstext („agreement in principle“) zwischen der EU und den MERCOSUR-Ländern erzielt werden. Auf der Basis dieser Vereinbarung werden die Vertragsparteien nun den Text einer juristischen Überprüfung („legal scrubbing“) unterziehen, um dann den endgültigen Wortlaut der Übereinkunft zu erstellen. Danach wird der Text in alle 24 Amtssprachen der EU übersetzt und – als sog. „gemischtes Abkommen“ – den Mitgliedstaaten sowie dem Europäischen Parlament gem. Art.  218 Abs.  6 lit. a) i) AEUV zur Genehmigung als Assoziationsabkommen (Art.  217 AEUV) vorgelegt. Handelsverflechtungen MERCOSUR-EU Der vom MERCOSUR und der EU gebildete Präferenzraum ist mit seinen insgesamt 780 Mio Verbrauchern zur Zeit die weltweit größte Freihandels-

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zone. Formell wurde diese allerdings bereits wenige Wochen nach ihrer Ausarbeitung durch das „African Continental Free Trade Agreement“ (AfCFTA) „enttrohnt“, das eine Freihandelszone für über eine Milliarde Afrikaner errichten will. 54 der 55 Länder Afrikas – lediglich Eritrea nimmt daran nicht teil – beteiligen sich an diesem Präferenzgebilde, in dem 90% der Zölle im intrazonalen Warenverkehr beseitigt werden sollen. Da aber der innerafrikanische Handel nur 16% des gesamten afrikanischen Außenhandels beträgt, werden sich die Integrationsgewinne in Grenzen halten, obwohl Schätzungen belegen, dass AfCFTA den intrazonalen Handel in nur drei oder vier Jahren um 50% erhöhen wird.23 Der derzeitige bilaterale Handel der EU mit dem MERCOSUR beläuft sich auf 88 Mrd Euro pro Jahr für Waren und 34 Mrd Euro für Dienstleistungen. Die EU exportiert nach dem MERCOSUR Waren im Wert von 45 Mrd Euro pro Jahr und importiert MERCOSUR-Produkte im Wert von nahezu 43 Mrd Euro. An Dienstleistungen exportiert die EU mehr als doppelt so viel, als sie importiert, nämlich 23 Mrd Euro an Dienstleistungen, die EU-Unternehmen für Kunden im MERCOSUR erbringen, gegenüber 11 Mrd Euro an Dienstleistungen, die von MERCOSUR-Unternehmen für EU-Kunden erbracht werden. Der MERCOSUR beherbergt 60.500 EUUnternehmen und ist auch Ziel für Investitionen von in der EU domestizierten Unternehmen in Höhe von 381 Mrd Euro. Umgekehrt betragen die Investitionen des MERCOSUR in der EU im Jahr 2017 52 Mrd. Euro.24 Für den MERCOSUR ist die EU bereits heute der wichtigste Handels- und Investmentpartner. Die Erlöse aus den Exporten der EU-Mitgliedstaaten in den MERCOSUR sichern in der EU insgesamt 855.000 Arbeitsplätze.25 Für Deutschland ist der MERCOSUR zehntgrößter Handelspartner außerhalb der EU. Über 12.500 deutsche Unternehmen exportieren ihre Produkte in die vier Mitgliedstaaten des MERCOSUR, über 70 % davon sind kleine und mittlere Betriebe (KMU), wodurch 244.000 Arbeitsplätze gesichert werden. Der Wert der deutschen Exporte in die vier MERCOSURMitgliedstaaten belief sich 2018 auf 15,4 Mrd. Euro.26 Was Österreich betrifft, so ist der MERCOSUR der 13.-größte Handelspartner außerhalb der EU. Der Wert der österreichischen Importe aus dem MERCOSUR beträgt 512 Mio. Euro, der Wert der Exporte in den MERCOSUR beläuft sich auf 1 Mrd. (2018). Was hingegen die Beteiligung von Unternehmen am Warenhandel betrifft, so exportieren 1.110 österreichische 23 Aussage von Augustin Fosu/Universität Ghana im Interview mit Andreas Sator, in: „Gibt nun einen viel größeren Markt in Afrika“, Der Standard, vom 2. August 2019, S. 17; vgl. Brocza, S. Freihandel allein wird’s in Afrika nicht richten, Wiener Zeitung vom 6. September 201, S. 12. 24 European Commission, EU-MERCOSUR Association Agreement, June 2019, S. 1. 25 Austria; https://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/eu-mercosur-associatio... 26 EU und Mercosur-Staaten einigen sich auf Handelsabkommen, EU-Nachrichten Nr. 13/2019 vom 11. Juli 2019, S. 4.

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Unternehmen in die Mitgliedstaaten des MERCOSUR, von denen 67% kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) sind.27 Diese MERCOSUR-Exporte österreichischer KMUs sichern insgesamt 32.000 Arbeitsplätze in Österreich. Rund 250 brasilianische Firmen stehen ganz oder zumindest teilweise im Eigentum österreichischer Unternehmen. Eigene Niederlassungen haben rund 30 österreichische Firmen in Argentinien, zwei in Paraguay, und vier in Uruguay.28 Liberalisierungseffekte der Freihandelszone MERCOSUR-EU Die MERCOSUR-Staaten erheben derzeit auf Produkte aus der EU hohe, fast prohibitive, Zölle, wie zB auf Autos in der Höhe von 35%, auf Autoteile von 14 bis 18%, auf Maschinen zwischen 14 und 20%, auf Chemikalien bis zu 18%, auf Arzneimittel bis zu 14%, auf Kleidung und Schuhe 35% und auf gewirkte Stoffe 26%. Im Agrar- und Lebensmittelbereich betragen die Zölle der MERCOSUR-Staaten derzeit unter anderem 20% auf Schokolade und Süßwaren aus der EU, 27% auf Wein, auf Spirituosen 20 bis 35%, auf Champagner 20 bis 35%, auf Erfrischungsgetränke 20 bis 35% und 28% auf Milch und -erzeugnisse. Künftig sollen die Zölle für 91% der EU-Waren und für 92% der MERCOSUR-Einfuhren in die EU schrittweise beseitigt werden. Damit würden Zölle im Wert von über 4 Mrd. Euro pro Jahr wegfallen.29 Mit dieser Liberalisierungsquote von über 90% erfüllt das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU problemlos das Erfordernis der Liberalisierung für „annähernd den gesamten intrazonalen Handel“ iSv Art.  XXIV Abs.  8 lit. b) GATT und stellt somit eine Freihandelszone dar, die von der Meistbegünstigungsverpflichtung des Art. I GATT ex lege befreit ist. Neben den Zollsenkungen ist aber als weiteres Liberalisierungselement die Vereinfachung der Zoll- und Konformitätsverfahren hinsichtlich technischer Vorschriften und Normen zu erwähnen. Dazu kommen Erleichterungen für die Erbringung von Dienstleistungen durch EU-Unternehmen sowie auch für die gewerbliche Niederlassung derselben. Ebenso wird EUUnternehmen ermöglicht, sich – gleichberechtigt mit MERCOSUR-Unternehmen – an öffentlichen Ausschreibungen zu beteiligen, was deswegen besonders wichtig ist, da die MERCOSUR-Staaten ja keine Vertragspartner des „Multilateralen Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen“ (GPA) (1994) sind.

27 EU und Mercosur-Staaten einigen sich auf Handelsabkommen (Fn. 26), S. 4; https:// ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/eu-mercosur-association-agreement/eu-mercosurin-your-town/austria_en.htm 28 Das Assoziierungsabkommen der EU mit dem Mercosur, WKO – Wir schauen auf Österreich, o. J., S. 4. 29 EU und Mercosur-Staaten einigen sich auf Handelsabkommen (Fn. 26), S. 4.

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Zusätzlich dazu verpflichten sich die MERCOSUR-Staaten, den Markenschutz und die Ursprungsbezeichnungen sowie geographische Angaben, wie zB Parmaschinken, Tiroler Speck, Münchner Bier uam, von 357 hochwertigen europäischen Lebensmittel anzuerkennen und diese Produkte vor Fälschungen zu schützen. Noch nie wurden in einem Handelsabkommen so viele geographische Ursprungsbezeichnungen von Produkten erfasst und geschützt. Zur Unterstützung vor allem von KMUs wurde durch das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU eine eigene Online-Plattform eingerichtet, auf der Informationen über Marktanforderungen und Zollvergünstigungen einfach zu finden sind.30 Wahrung der strengen EU-Standards für Lebensmittelsicherheit und Beitrag zu nachhaltiger Produktion Für den Handel mit Lebensmitteln gelten im Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU dieselben strengen Lebensmittelsicherheitsstandards, wie unter den EU-Mitgliedstaaten selbst, ebenso wie auch das sog. Vorsorgeprinzip, gemäß dessen es den Vertragspartnern zusteht, Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen zu ergreifen. Was die Einhaltung der Zielsetzung betrifft, dass nämlich der Handel nicht auf Kosten der Umwelt oder der Arbeitsbedingungen stattfinden, sondern vielmehr die nachhaltige Entwicklung fördern soll, so verpflichten sich die EU und der MERCOSUR dazu, vor allem das Pariser Klimaschutzübereinkommen (2015) effektiv umzusetzen, wozu unter anderem auch die Bekämpfung der Entwaldung gehört. Diesbezüglich hat Brasilien zugesagt, die illegale Abholzung des brasilianischen Regenwaldes zu stoppen und bis 2030 eine Fläche von 12 Mio. Hektar wieder aufzuforsten. Des Weiteren verpflichtete sich Brasilien dazu, seine Netto-Treibhausgasemissionen bis 2025 – gegenüber dem Stand von 2005 – um 37% zu verringern. Demgegenüber steht die Zusage der EU, ihre eigenen Emissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 40% zu senken.31 Widerstände erinnern an CETA und TTIP Bedauerlicherweise werden die wirtschaftspolitischen Vorteile einer zukünftigen Freihandelszone MERCOSUR-EU nicht entsprechend gewürdigt, sondern es überwiegt, wie bereits erwähnt, die Kritik an dieser, die sich vor allem auf deren negativen Einfluss auf die Umwelt im Amazonas-Becken sowie die Furcht vor einer „Überschwemmung“ der europäischen 30 Europäische Kommission (Hrsg.), Assoziierungsabkommen EU-MERCOSUR, Juni 2019, S. 2. 31 Europäische Kommission (Hrsg.), Assoziierungsabkommen EU-MERCOSUR (Fn. 30), S. 3 f.

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Märkte mit brasilianischem „Billigfleisch“, Soja, Zucker, Reis und Honig bezieht. Der für Agrarangelegenheiten zuständige Kommissar, Phil Hogan, erkannte dieses Problem und kündigte nicht nur eine finanzielle Unterstützung der Landwirte in der EU an, sondern setzte vor allem auf ein ausgeklügeltes System von Import-Quoten. Diesbezüglich dürfen die MERCOSUR-Staaten künftig 99.000 t Rindfleisch pro Jahr zu einem Zoll von 7,5% in die EU ausführen. Aktuell liegt der Zoll für Rindfleisch bei 40 bis 45%. Die Rindfleischimportquote von 99.000 t entspricht dabei gerade einmal 1,25% des Rindfleischkonsums in Europa. Hinzu kommt, dass auch 180.000 t Geflügel zollfrei in die EU importiert werden dürfen.32 Die aktuelle Negativ-Kampagne erinnert frappant an den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP), von denen ersteres allerdings inzwischen ratifiziert wurde. So wichtig eine kritische Würdigung eines zukünftigen Handelsabkommens zwischen den größten Märkten Europas und Lateinamerikas auch ist, so darf dabei nicht allein auf den negativen Effekt der Freihandelszone MERCOSUR-EU auf die Brandrodungen des tropischen Regenwaldes im Amazonas-Becken und seinen benachbarten Gebieten abgestellt, sondern es müssen auch die positiven Effekte derselben entsprechend berücksichtigt und „gegengerechnet“ werden.33 Freihandelsabkommen MERCOSUR-EFTA Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit verhandelten neben der EU aber auch die vier Mitgliedstaaten der EFTA (Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz) ein Freihandelsabkommen mit den vier Mitgliedstaaten der südamerikanischen Integrationszone des MERCOSUR (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay). Der Grund dafür, dass neben der EU auch die EFTA mit dem MERCOSUR ein regionales Präferenzabkommen anstrebte, war einfach der, dass mit einem Inkrafttreten des seit über 20 Jahren verhandelten Freihandelsabkommens EU-MERCOSUR die Unternehmen der EFTA-Mitgliedstaaten auf den Märkten der MERCOSUR-Staaten gegenüber den konkurrierenden Unternehmen aus der EU wirtschaftlich ins Hintertreffen gerieten, da diese ja über das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU dort eine Präferenzbehandlung genießen würden. Wenngleich die konkreten Verhandlungen des MERCOSUR mit der EU bzw. mit den Mitgliedstaaten der EFTA zu verschiedenen Zeiten aufgenommen wurden und auch durchaus unterschiedlich verliefen, kamen beide beinahe gleichzeitig im Sommer 2019 zu einem positiven Abschluss. Nachdem 32 Szigetvari, A. Aufstand gegen den Freihandelspakt, Der Standard vom 26. August 2019, S. 9. 33 Vgl. dazu vorstehend auf S. 346 ff.

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das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU vorstehend bereits exemplarisch dargestellt werden konnte, soll nachstehend näher auf das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EFTA und seine wirtschaftspolitischen Auswirkungen eingegangen werden. Der Beginn und die Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen der EFTA und dem MERCOSUR Nachdem Ende Juni 1999 die Verhandlungen zwischen dem MERCOSUR und der EU über ein regionales Präferenzabkommen konkret begonnen hatten, sahen sich die Mitgliedstaaten der EFTA, wie vorstehend bereits erwähnt, ebenfalls genötigt, mit den vier Mitgliedstaaten des MERCOSUR diesbezüglich in Kontakt zu treten. Dementsprechend unterzeichneten sie am 12. bzw. 15. Dezember 2000 eine „Gemeinsame Erklärung über gegenseitige Kooperation im Bereich von Handel und Investitionen (samt Aktionsplan),34 mittels derer sich die beiden Parteien verpflichteten, gemäß dem anliegenden Aktionsplan besondere Präferenzbeziehungen zur gegenseitigen Förderung von Handel und Investitionen auszuarbeiten, wozu sie auf der institutionellen Ebene auch ein „Gemeinsames Komitee“ einsetzten. Da man sich dabei aber sinnvoller Weise mit den im Rahmen der Verhandlungen zwischen dem MERCOSUR und der EU – die allerdings zehn Jahre lang unterbrochen waren – erzielten Ergebnissen abstimmen wollte, kam es erst im März 2015 dazu, dass ein „exploratory dialogue“ bezüglich der zukünftigen Ausgestaltung der gegenseitigen Handelsbeziehungen gestartet wurde, der im Jänner 2017 im Rahmen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos abgeschlossen werden konnte. Im Rahmen dieses WEF unterzeichnete der schweizerische Bundesrat Johann Schneider-Ammann, als Vertreter der EFTA-Staaten, eine gemeinsame Erklärung, die als definitiver Startschuss für die konkreten Verhandlungen zwischen den EFTA- und den MERCOSUR-Staaten angesehen werden kann. Als besonders förderlich dafür erwiesen sich die gleichzeitigen Machtwechsel in Argentinien und Brasilien, da sowohl Cristina Fernández de Kirchner, die in Argentinien von Mauricio Macri abgelöst wurde, als auch Dilma Rousseff, die in Brasilien ihres Amtes enthoben und von Michel Temer bzw. Michelle Bachelet ersetzt wurde, als ausgesprochene Gegnerinnen von Freihandelsabkommen gegolten hatten.35 34 EFTA, Declaration on Trade and Investment Co-operation and Action Plan between the EFTA-States and the MERCOSUR Member States, Geneva, 12 December 2000, Florianópolis, 15 December 2000. 35 Vgl. Mellado, N. B. El MERCOSUR en la reconfiguración del regionalismo sudamericano, in: Mellado, N. B. – Cienfuegos Mateo, M. (eds), ¿Integración o desintegración? Tendencias en el regionalismo sudamericano (2018), S. 158 f.; Gajate, R. M. El MERCOSUR y su deconstrucción en el contexto del cambio de paradigma de la integración regional (2019), S. 214.

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Auf diese erste Kontaktnahme folgten dann konkrete Handelsverhandlungen, deren erste Runde im Juni 2017 in Buenos Aires stattfand. Im Juli 2018 tauschten die Vertragsparteien ihre Offerten hinsichtlich der Erleichterung des jeweiligen Marktzuganges aus und konnten in der Folge ihre Verhandlungen zwischen dem 11. und 14. Juni 2019 in Genf erfolgreich abschließen. In dieser 9. Verhandlungsrunde, die vom Argentinier Victorio Carpintieri,36 für die Mitgliedstaaten des MERCOSUR, und dem Norweger Jan Farberg,37 für die EFTA-Gruppe, geleitet wurde, wurden die letzten noch offenen Fragen im Bereich des Warenverkehrs, der Dienstleistungen, der Investitionen, des geistigen Eigentums, der öffentlichen Aufträge, des Wettbewerbs, der nachhaltigen Entwicklung sowie der Streitbeilegung geklärt, sodass die beiden Delegationen zur Überzeugung kamen, dass der definitive Abschluss des Abkommens in Kürze bevorstehe.38 Im weiteren Verlauf der Verhandlungen einigten sich die Mitgliedstaaten des MERCOSUR und die der EFTA dann auch bereits am 23. August 2019 in Buenos Aires auf den definitiven Text eines umfassenden Freihandelsabkommens.39 Dabei standen die EFTA-Staaten, vor allem aber die Schweiz, unter Zugzwang, hatten die MERCOSUR-Staaten mit der EU, wie vorstehend erwähnt, doch bereits am 28. Juni 2019 ein ähnliches Freihandelsabkommen unterzeichnen können. Ganz in diesem Sinne äußerte sich auch Stefan Brupbacher, Direktor des Verbandes der Schweizer Maschinen-, Elektround Metallindustrie (Swissmem), der in diesem Zusammenhang ausführte: „Wir hätten uns gewünscht, dass die Schweiz noch vor der EU ein Abkommen (mit dem MERCOSUR) abschliesst“.40 Größe und Beschaffenheit des EFTA-MERCOSUR – Marktes Der Umfang des gesamten Handels zwischen der EFTA und dem MERCOSUR betrug 2018 ca. 7 Mrd. €. Der Warenhandel im Umfang von 5,8 Mrd. € setzt sich dabei aus den EFTA-Exporten in Höhe von 3,7 Mrd. € und den MERCOSUR-Importen von 2,1 Mrd. € zusammen. Im EFTA-MERCOSUR – Markt stehen sich dabei aber zwei ungleiche Partner gegenüber. Die vier Mitgliedstaaten der EFTA verfügen über 13,6 Mio. Einwohner und ein 36 Victorio Carpintieri ist „Subsecretario del MERCOSUR y Negociaciones Económicas Internacionales“ im argentinischen Außenministerium. 37 Jan Farberg ist Generaldirektor im norwegischen Ministerium für Handel, Industrie und Fischfang. 38 Negociaciones entre el MERCOSUR y la EFTA se acercan a etapa final; https:// cancilleria.gob.ar/es/actualidad/noticias/negociaciones-entre-el-mercosur-y-la-eftase-acercan-etapa-final 39 República Argentina/Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto (Hrsg.), Acuerdo Mercosur – EFTA, Agosto 2019. 40 Zitiert bei Vonplon, D. Schweiz und Mercosur stehen vor Einigung, NZZ vom 23. August 2019, S. 27.

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BIP von 1,2 Billionen $ insgesamt, bzw. 82.000 $ BIP/per capita. Die EFTAStaaten sind weltweit der achtgrößte Investor und importieren Güter und Dienstleistungen im Wert von 529 Mrd. $. Im Dienstleistungshandel liegen die EFTA-Staaten weltweit an fünfter und im Warenhandel an neunter ­Stelle. Im Gegensatz dazu, verfügen die vier MERCOSUR-Staaten über mehr als 260 Mio. Einwohner und ein BIP von ca. 2,4 Billionen $, was rund 75% des gesamten BIP Lateinamerikas entspricht. Der MERCOSUR ist damit der fünftgrößte Wirtschaftsraum außerhalb der EU. Was den Außenhandel betrifft, so beträgt der Wert der Exporte des MERCOSUR ca. 200 Mrd. $, und der der Importe etwa 130 Mrd. $. Liberalisierungspotential der Freihandelszone MERCOSUR-EFTA Was den Warenhandel betrifft, so wären mehr als 98% der MERCOSURExporte durch die vorgesehene Präferenzbehandlung begünstigt. Diese würde vor allem Rindfleisch, Geflügel, Wein, Mais, Honig, Kernobst, pflanzliche Öle und typische Regionalprodukte betreffen. Was wiederum die Industriegüter betrifft, so würden die EFTA-Staaten 100% davon unmittelbar liberalisieren, während das Liberalisierungsangebot der MERCOSUR-Staaten lediglich 91,6% beträgt und auf unterschiedliche „Liberalisierungs-Körbe“ aufgeteilt ist. Die MERCOSUR-Staaten verfügen in sensiblen Bereichen über lange Liberalisierungsfristen, die bis zu 15 Jahre betragen können. Mehr als 35% der aus der EFTA in den MERCOSUR importierten industriellen Produkte werden dabei in Etappen liberalisiert, wobei die Fristen in den einzelnen „Körben“ mehr als zehn Jahre dauern können.41 Für die EFTA-Staaten wäre das Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR aber deswegen von großer Bedeutung, da die beiden größten Mitgliedstaaten des MERCOSUR, nämlich Brasilien und Argentinien, ihre Industrien teilweise mit prohibitiv hohen Zöllen, abschotten, wozu noch enorme bürokratische Verzollungsverfahren hinzukommen. So betragen die Zölle auf den Import von EFTA-Industrieprodukten zB im Falle von Pharmazeutischen Produkten bis zu 14%, bei Maschinen von 14 bis 20%, bei chemischen Produkten bis zu 18%, bei Fischen bis zu 10%, bei Textilien bis zu 35% und bei Autoteilen von 14 bis 18%.42 Economiesuisse bezifferte in diesem Zusammenhang allein die Zolleinsparungen für die Schweiz auf über 180 Mio. Franken pro Jahr. Wie vorstehend bereits erwähnt, drängen die MERCOSUR-Staaten im Gegenzug für ihre Zollsenkungen auf eine Ausweitung ihrer bisherigen Kontingente für Agrarprodukte. Orientiert man sich dabei an den Kontin41 República Argentina/Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto (Hrsg.), Acuerdo Mercosur – EFTA (Fn. 39), S. 4. 42 EFTA-MERCOSUR Free Trade Agreement. Conclusion in substance of the EFTAMERCOSUR Free Trade Negotiations, Note by the EFTA Secretariat, S. 2.

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genten des vorerwähnten Freihandelsabkommens MERCOSUR-EU, wären das im Falle von Rindfleisch jährlich zwischen 1.500 und 2.000 Tonnen aus den MERCOSUR-Staaten, eine Menge, die diese aber bereits heute allein in die Schweiz exportieren, sodass diesbezüglich an sich keine großen Einwände seitens der Agrarindustrie zu erwarten wären. Landwirtschaftskommissar Phil Hogan wies auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die Märkte für landwirtschaftliche Produkte nur mit „sorgsam gemanagten Quoten“ geöffnet wurden.43 Trotzdem wurde von Seiten der Agrarverbände bereits Widerstand angekündigt, ebenso wie auch seitens der organisierten Zivilgesellschaft hinsichtlich der aus deren Sicht auch durch das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EFTA geradezu „induzierten“ Brandrodung des tropischen Regenwalds im Amazonas-Becken durch brasilianische Siedler und Großunternehmen. Handel und nachhaltige Entwicklung Bei all dieser Kritik wird geflissentlich übersehen, dass das MERCOSUREFTA – Abkommen ein eigenes Kapitel über „Handel und nachhaltige Entwicklung“ enthält, das zwar großteils auf den bisherigen einschlägigen EFTA-Standards, die in früheren Handelsabkommen verwendet wurden, fußt, aber zusätzliche Elemente, die bisher noch nicht zum Einsatz gekommen sind, enthält. So erkennen die Vertragsparteien an, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie der Umweltschutz engstens zusammenspielen und damit auch interdependent sind. Dementsprechend enthält das MERCOSUR-EFTA – Abkommen ua die Verpflichtung zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Wälder sowie zur Wiederaufforstung im Falle von Rodungen und Brandlegungen. In einem eigenen Artikel über Handel und Klimawandel verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, sowohl die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) (1992), als auch das Pariser KlimaschutzÜbereinkommen (2015), effektiv zu beachten und zu implementieren. Erstmals wurde auch ein spezieller Artikel über Handel und nachhaltige Landwirtschaft sowie auch über Ernährungssysteme in das Vertragswerk aufgenommen, in dem sich die Vertragsparteien verpflichten, in einen gegenseitigen Dialog einzutreten, um beiden Vorgaben entsprechend gerecht zu werden. Institutionelle Bestimmungen und Streitbeilegung An Institutionen ist im Freihandelsabkommen MERCOSUR-EFTA lediglich ein „Gemeinsamer Ausschuss“ vorgesehen, der aus je einem Vertreter der acht Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist und der für die ordnungsge43 https://web.de/magazine/wirtschaft/eu-baut-mercosur-staatenbund-weltweit-groess te-f...

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mäße Verwaltung des Abkommens sowie dessen weitere Entwicklung verantwortlich ist. Der „Gemeinsame Ausschuss“ tritt normalerweise alle zwei Jahre zusammen und kann bei dieser Gelegenheit auch die Anhänge des Abkommens inhaltlich weiter ausgestalten. Was die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Auslegung und Anwendung des Abkommens betrifft, so enthält ein eigener Anhang desselben nicht nur die Einsetzung eines Schiedsgerichts, sondern zugleich auch dessen Verfahrensordnung, die durch den „Gemeinsamen Ausschuss“ noch weiter ausgestaltet werden kann. Sollte ein Streitfall nicht auf amikale Art im Rahmen des Konsultationsmechanismus beigelegt werden können, dann kann die klagende Partei die Einsetzung eines „DreierSchiedsgerichts“ zur Entscheidung über die anstehende Streitfrage beantragen. Das Schiedsverfahren ist öffentlich und der Schiedsspruch ist anschließend auch zu veröffentlichen. Während der gesamten Dauer des Konsultationsmechanismus oder des Schiedsverfahrens können die Streitparteien aber einvernehmlich auf die nicht-streitigen Verfahren der Vermittlung, der „Guten Dienste“ und der Mediation überwechseln, um damit unter Umständen eine freundschaftliche Lösung des Streitfalls herbeiführen zu können. Offene Fragen und Kritikpunkte An offenen Fragen im Rahmen des Freihandelsabkommens sei zunächst auf die Gewährleistung von Rechten des geistigen Eigentums, wie zB Patentschutz sowie Schutz von Geschäftsgeheimnissen, verwiesen, die für die innovativen Schweizer Betriebe von vitaler Bedeutung sind, in den MERCOSUR-Staaten aber keine vorrangige Priorität genießen. Ebenso wird von Nichtregierungsorganisationen (NROs/INGOs) kritisiert, dass im Abkommen keine Sanktionen für die Nichteinhaltung von Menschenrechten, Umwelt- und Sozialstandards enthalten sind, womit vor allem die seit 2017 in der Schweizer Verfassung – seit der Abstimmung für Ernährungssicherheit 2017 – verankerte Verpflichtung, dass Handelsverträge der Schweiz zur Nachhaltigkeit beitragen müssen, verletzt werde. Auf diesen Vorwurf entgegnete der Schweizer Wirtschaftsminister, Guy Parmelin, dass es im Freihandelsabkommen, wie vorstehend bereits erwähnt, ein eigenes Kapitel zur Nachhaltigkeit gebe, das sich auch auf die Bewirtschaftung von Wäldern beziehe, deren Einhaltung mit einem eigenen Monitoring überwacht werde, wobei Verstöße im Gemeinsamen Ausschuss diskutiert würden. Sanktionen zur Durchsetzung dieser Bestimmungen enthalte der Vertrag aber nicht. Der Schweizer Bauernverband wiederum kritisierte, „dass die EFTA-Staaten grössere Zugeständnisse an Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay machten, als die EU in ihrem Vertrag vom Juni“.44 44 Bühler, S. Mercosur-Vertrag: Parmelins Erfolg kommt zur Unzeit, NZZ vom 24. August 2019.

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Fazit Obwohl die beiden Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA, die über viele Jahre hindurch45 penibel verhandelt wurden, Ergebnisse gezeigt haben, die sich durchaus sehen lassen können,46 werden sie von der aktuellen Klimadebatte völlig überschattet, wobei die EU- und EFTA-Mitgliedstaaten der beiden Abkommen gleichsam „kausal“ für die Brandrodungen im Amazonas-Regenwald verantwortlich gemacht werden. Das brasilianische „Nationale Institut für Weltraumforschung“ (Inpe) gab in diesem Zusammenhang bekannt, dass es von Beginn des Jahres 2019 an bis zum 21. August desselben Jahres insgesamt 74.155 Waldbrände gezählt habe. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies einer Steigerung von 84% und stellt den höchsten gemessenen Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2013 dar.47 Dabei wurden in den ersten acht Monaten dieses Jahres bereits 6.404 km2 Regenwald zerstört. Da im gleichen Zeitraum des Vorjahres lediglich 3.367 km2 zerstört wurden, entspricht dies einem Anstieg um 92%. Die Experten des INPE gehen davon aus, dass bis zum Jahresende 2019 insgesamt 10.000 km2 Regenwald Brandrodungen zum Opfer fallen werden. Das Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU aber pauschal für diese Brandstiftungen verantwortlich zu machen, geht an der Realität vorbei. Der wahre Grund für die zunehmenden Brandrodungen ist vielmehr der Umstand, dass die brasilianische Agrarlobby mehr landwirtschaftliche Nutzfläche fordert und Präsident Jair Bolsonaro, der dieser vor allem seinen Wahlsieg im Herbst 2018 zu verdanken hat, diese Forderung massiv unterstützt. Dabei lässt sich Bolsonaro von den Ermahnungen sowohl der G-20 in Osaka (Juni 2019), als auch der G-7 in Biarritz (August 2019) nicht beeindrucken und weist immer wieder darauf hin, dass allein Brasilien souverän über seine Naturschätze verfügen könne. Brasilien lasse sich einen „Ökokolonialismus“ einfach nicht bieten.48 Aus diesem Grunde lehnte er auch die von den G-7-Staaten angebotene Soforthilfe in Höhe von 20 Mio. US-$ für die Löschung der Brände ab. Im Übrigen seien die Waldbrände von Nichtregierungsorganisationen (NROs/NGOs) aus Rache dafür angezettelt worden, 45 Seit 2000 trafen sich die beiden Verhandlungskomitees MERCOSUR-EU zu insgesamt 39 formellen Sitzungen; Ministerio de Relaciones Exteriores de la República Oriental del Uruguay/Dirección General para Asuntos de Integración y MERCOSUR (ed.), Acuerdo de Asociación MERCOSUR – Unión Europea: Síntesis del Acuerdo, o. J., S. 1. 46 Vgl. zB Wimmer, A. Mercosur: Hui oder pfui?, Die Presse vom 3. September 2019, S. 26. 47 Anliker, N. – Rittmeyer, B. – Kolly, M.-J. – Hess, D. – Speicher, C., Brasilianische Bundespolizei ermittelt wegen „Tag des Feuers“, 44.000 Soldaten kämpfen gegen die Waldbrände – die neuesten Entwicklungen im Amazonasgebiet, NZZ vom 26. August 2019. 48 Fink, A. Bolsonaro und die Brandstifter, Die Presse vom 25. August 2019, S. 7.

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dass ihnen die Mittel gekürzt wurden. Was die Bekämpfung der Brände betrifft, so habe er ohnehin bereits 44.000 Soldaten in die sechs Gliedstaaten Rondônia, Roraima, Pará, Tocantins, Acre und Mato Grosso zur Brandbekämpfung abgestellt.49 In der Zwischenzeit griffen aber die sieben Länder des Amazonas-Beckens – Brasilien, Kolumbien, Peru, Ecuador, Bolivien, Suriname und Guyana – zur Selbsthilfe und schlossen am 6. September 2019, im kolumbianischen Leticia einen „Pakt zum Schutz von Amazonien“ („Pacto de Leticia por la Amazonía“) ab, in dem sie sich verpflichten, ein Kooperationsnetzwerk aufzubauen, über das unter anderem Wetterdaten sowie Informationen über illegale Abholzungen ausgetauscht werden sollen, womit die Bekämpfung der illegalen Brandrodungen erleichtert werden soll. Trotz alledem ist in einigen EU-Staaten, wie zB in Frankreich, Belgien, Irland, Polen, Deutschland und Finnland, aber auch in Österreich, der zivilgesellschaftliche Widerstand dermaßen dominant, dass die parlamentarischen Genehmigungen für eine Ratifikation des Freihandelsabkommens MERCOSUR-EU in diesen EU-Mitgliedstaaten zweifelhaft erscheinen. Es bedarf daher einer umfassenden Aufklärung über die in diesem Abkommen durchaus enthaltenen Bestimmungen zum Schutz des tropischen Regenwaldes und gegen die „Überschwemmung“ der europäischen Märkte durch landwirtschaftliche Produkte aus den MERCOSUR-Staaten, auf die vorstehend kurz hingewiesen wurde, damit es in der Folge zu einer sachgerechten inhaltlichen Diskussion über die Vor- und Nachteile der beiden Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR kommen kann. Erst dann kann ein gültiges Urteil über diese beiden Abkommen gefällt werden. Quelle: EU-Infothek vom 16. September 2019, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 27) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 28, nachstehend auf S. 358 ff.

49 Vgl. Anliker, N. Militär kämpft gegen Feuer in Brasilien, NZZ vom 27. August 2019, S. 3.

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Österreichs Veto gegen den Abschluss des Abkommens MERCOSUR-EU

28. Österreichs Veto gegen den Abschluss des Abkommens MERCOSUR-EU und seine Implikationen Politische und rechtliche Konsequenzen bindender Stellungnahmen des Nationalrates Überraschendes Veto Österreichs Wie der Verfasser in seinem Artikel zum Thema „Wirtschaftliche Kooperation zwischen lateinamerikanischen und europäischen Integrationszonen. Die Freihandelsabkommen MERCOSUR-EU und MERCOSUR-EFTA“1 bereits vermutet hatte, hat sich Österreich nur zwei Tage (!) nach dessen Erscheinen tatsächlich als erster Mitgliedstaat der EU dazu entschlossen, gegen das Abkommen MERCOSUR-EU im Rahmen der EU zu stimmen und es vor allem nicht zu ratifizieren. Der formale Grund dafür waren zwei mit großer Mehrheit im EU-Unterausschuss des Nationalrates angenommene Stellungnahmen,2 die die Bundesregierung dazu verpflichteten, auf europäischer Ebene alle Maßnahmen zu ergreifen, um einen Abschluss des MERCOSUR-EU – Abkommens zu verhindern. Die Entscheidung der österreichischen Parlamentarier kam überraschend, da Österreich weder zu den Ländern, die an einem solchen Abkommen besonders interessiert sind, noch zu denen, die massiv dagegen sind – wie zum Beispiel Frankreich, oder Irland – gehört.3 Der Grund dafür lag einfach in den aktuellen innenpolitischen Gegebenheiten. Im Gefolge der „Ibiza-Affäre“ kam es am 27. Mai 2019 gemäß Art. 74 Abs. 1 B-VG zum ersten erfolgreichen (destruktiven) Misstrauensvotum in der Geschichte der 2. Republik gegen die Regierung Kurz – zuvor hatte es bereits 157 erfolglose Misstrauensvoten (!) gegeben – und danach, nämlich am 3. Juni 2019, zur Angelobung einer „einstweiligen“ Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, die erklärte, „nur verwalten, aber nicht gestalten“ zu wollen. Gleichzeitig wurden die Koalitionsverpflichtungen außer Kraft gesetzt, sodass sich nach dem „freien Spiel der Kräfte“ spontane Mehrheiten bilden konnten, was letztlich auch zu dem überraschenden Veto Österreichs gegen das Abkommen MERCOSUR-EU geführt hat. Verantwortlich dafür war vor allem der Umstand, dass die nächste Nationalratswahl für den 29. Oktober 2019 angesetzt war, und die Parteien, wie so oft in Vorwahlzeiten, populistischen Forderungen nachgeben wollten, wozu eben auch der Schutz des tropischen Regenwaldes im Amazonas-Becken gehörte, den sie durch einen Abschluss des MERCOSUR-EU – Abkommens als gefährdet ansahen. 1 Siehe Artikel Nr. 27, vorstehend auf S. 341 ff. 2 Siehe dazu nachstehend auf S. 362 ff. 3 Aussage des brasilianischen Politologen Carlo Barbieri von der Beratungsfirma Oxford Group gegenüber Sputnik Brasil; https://de.sputniknews.com/politik/2019092 4325770762-oesterreich-mercosur-ablehn...

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Festzuhalten gilt in diesem Zusammenhang aber zunächst der außergewöhnliche Umstand, dass das Veto nicht durch die „einstweilige Bundesregierung“ Österreichs selbst beschlossen, sondern dieser durch den Nationalrat vorgegeben wurde, in dem – nach dem Misstrauensvotum gegen die Regierung von Sebastian Kurz und der Ernennung der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein – das „freie Spiel der Kräfte“ herrschte. Bevor auf diese singuläre Vorgangsweise einer „Ministerbindung“ durch den Nationalrat aber eingegangen werden kann, muss zunächst ein Blick auf einige einschlägige Vorfragen zur Struktur des „Abkommens über die strategische Assoziation MERCOSUR-EU“4 geworfen werden. Struktur des Assoziationsabkommens MERCOSUR-EU Vorfragenmäßig ist dazu zunächst folgendes festzustellen. Über das Assoziationsabkommen MERCOSUR-EU konnte nach einem 20-jährigen Verhandlungsmarathon im Rahmen des G20-Gipfeltreffens in Osaka am 28. Juni 2019 politische Einigung erzielt und ein provisorischer Text („agreement in principle“)5 festgeschrieben werden, der allerdings juristisch noch präzisiert werden muss. Das Abkommen besteht aus drei unterschiedlichen „Pfeilern“, nämlich einem Handelsabkommen, einem Kooperationsabkommen und einem Abkommen über einen Politischen Dialog. Für den Abschluss aller drei Abkommen sind im Rahmen der EU, da es sich kompetenzmäßig um unterschiedliche Materien handelt, zum einen die EU selbst, zum anderen aber ihre Mitgliedstaaten zuständig. Für den Abschluss des Handelsabkommens, für das die EU gem. Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV ausschließlich zuständig ist, verlangt Art. 207 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit Art. 16 Abs. 4 EUV – im Gegensatz zu einer Reihe von Kommentatoren, die alle von einer verpflichtenden Einstimmigkeit im Rat der EU sprechen6 – lediglich eine „qualifizierte Mehrheit“ von mindestens 55% der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, die zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der EU repräsentieren müssen.

4 Acuerdo de asociación estratégica MERCOSUR-UE; https://www.cancillería.gob. ar/es/acuerdo-mercosur-ue 5 New EU-Mercosur trade agreement – The agreement in principle, Brussels, 1 July 2019; https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2019/june/tradoc_157964.pdf 6 Vgl. zB Österreich kippt EU-Mercosur-Abkommen (https://www.msn.com/de-at/ nachrichten/other/parlaments-ausschuss-gibt-veto-gegen-...); Österreich wird EUMercosur-Abkommen wohl kippen (https://www.gmx.at/magazine/politik/oester reich-eu-mercosur-abkommen-kippen-340...); Österreich will umstrittenes Freihandelsabkommen stoppen, ZEIT ONLINE vom 19. September 2019; Umstrittenes Mercosur-Abkommen gekippt (https://www.salzburg24.at/news/oesterreich/oes terreich-kippt-eu-mercosur-abkomme...)

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Der zweite „Pfeiler“ des Kooperationsabkommens steht hingegen nicht in der alleinigen Zuständigkeit der EU, sondern stellt vor allem einen Fall „geteilter Zuständigkeit“ iSv Art. 4 AEUV dar, der ein „gemischtes Abkommen“ konstituiert und daher auch die Ratifikation durch die einzelnen Mitgliedstaaten der EU, neben dieser selbst, bedingt. Der dritte „Pfeiler“ des Abkommens über einen politischen Dialog wiederum fällt inhaltlich, soweit er außenpolitische Bezüge aufweist, in den Bereich der an sich intergouvernementalen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in der EU, verbleibt aber ansonsten in der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit. Da das Abkommen MERCOSUR-EU aber ein Assoziationsabkommen iSv Art. 217 AEUV darstellt, wird dieses gemäß Art. 218 Abs. 8 AEUV vom Rat – nach Zustimmung des Europäischen Parlaments gemäß Abs. 6 lit. a) – mit qualifizierter Mehrheit für die EU abgeschlossen. Da es sich dabei aber, wie vorstehend festgestellt, um ein „gemischtes Abkommen“ handelt, haben dabei auch noch alle nationalen Parlamente die Ratifikation durch die Staatsoberhäupter aller Mitgliedstaaten der EU zu genehmigen. Worauf bezieht sich eigentlich das Veto Österreichs? Damit stellt sich zunächst die Frage, gegen welchen “Pfeiler“ sich eigentlich der Widerstand Österreichs formell richtet, und danach diejenige, wie sich Österreich im Rat zu verhalten hat, da es dabei ja nicht um die Verhinderung von Einstimmigkeit, sondern um die Erreichung der Sperrminorität geht. So wie die Formulierungen der beiden nachstehend erwähnten negativen Stellungnahmen des Nationalrates nahelegen, sind die Mitglieder der Bundesregierung verpflichtet, bei allen Abstimmungen „auf europäischer Ebene“ gegen den Abschluss des MERCOSUR-Handelsabkommens zu stimmen. Da sie dabei aber auch aufgefordert werden, „alle (diesbezüglichen) Maßnahmen zu ergreifen“, sind sie eigentlich auch verpflichtet, dafür so weit als möglich zu sorgen, dass unter Umständen die Sperrminorität erreicht werden kann. Auf der anderen Seite muss das MERCOSUR-EU – Abkommen, als „gemischtes Abkommen“, auch von allen EU-Mitgliedstaaten parlamentarisch genehmigt und anschließend ratifiziert werden, sodass in diesem Fall der Ball wieder beim österreichischen Nationalrat liegt, da durch das Veto desselben von Mitte September 2019 ja nur die Mitglieder der aktuellen, aber bloß „geschäftsführenden“, Bundesregierung verpflichtet wurden, die in absehbarer Zeit ja durch eine neue, voll funktionsfähige, Bundesregierung ersetzt werden. Damit entsteht aber eine mehr als außergewöhnliche „Selbstbindungsverpflichtung“ des österreichischen Nationalrates, der nunmehr selbst gebunden ist, die Zustimmung Österreichs zum Abschluss des MERCOSUR-EU – Assoziationsabkommens zu verweigern. Eine mehr als groteske Situation, der anschließend näher nachgegangen werden muss.

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Breite Mehrheit im „EU-Unterausschuss des Nationalrates“ auf Ablehnung Am Mittwoch, dem 18. September 2019, kam es im Schoß des „Ständigen Unterausschusses in Angelegenheiten der EU“ des Nationalrates zu einer lebhaften Debatte über die Annahme oder Verwerfung des Freihandelsabkommens MERCOSUR-EU, bei der sich eine klare Mehrheit gegen den bisher vorliegenden Vertragstext aussprach. Damit wendeten sich die Abgeordneten an sich aber nur gegen den Abschluss des Handelsabkommens, das heißt, gegen den vorerwähnten „ersten Pfeiler“ des Assoziationsabkommens. So führte der Abgeordnete der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Georg Strasser, an, dass das Abkommen aus der Sicht der Landwirtschaft sehr enttäuschend sei, da diese sich einer Konkurrenz mit Billigprodukten aus Übersee gegenübersehe, die noch dazu einen schweren „CO2-Rucksack“ mit sich trügen. Sie müssten daher mit „CO2-Steuern“ belegt, anstatt verbilligt werden. Der Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ), Jörg Leichtfried schloss sich diesen Bedenken an und fügte noch ungelöste Probleme wie Umwelt- und Klimaschutz, Sozial- und Arbeitsstandards sowie die Gültigkeit des Vorsorgeprinzips uam hinzu. Auch verwies er auf die begründeten Bedenken von Vertretern der organisierten Zivilgesellschaft (NGOs) gegen das Abkommen. Diese Bedenken teilte auch Bruno Rossmann von der Fraktion JETZT, die sich dem Antrag der SPÖ angeschlossen hatte, und verwies vor allem auf die negativen Auswirkungen auf die Brandrodungen des Regenwaldes im Amazonas-Becken. Der Abgeordnete der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Maximilian Linder, wiederum sprach vor allem die Situation der Berglandwirtschaft an, deren Betriebe noch mehr um das Überleben kämpfen müssten, als dies bisher der Fall war. Die FPÖ brachte daher einen eigenen Antrag ein, der die Bundesregierung aufforderte, gegen das MERCOSUR-EU – Abkommen zu stimmen. Lediglich Das Neue Österreich (NEOS) stimmte gegen eine völlige Ablehnung des Abkommens. Insgesamt wurden dabei vier Anträge zur Formulierung einer Stellungnahme über die österreichische Position zu dieser Frage eingebracht. Die SPÖ und die Fraktion JETZT (Liste Pilz) setzten sich dabei mit ihrem gemeinsamen Vorschlag durch, wonach die Bundesregierung zu einem eindeutigen Veto Österreichs gegen das Abkommen in allen EU-Gremien aufgefordert wird. Auch die FPÖ sprach sich strikt gegen das Abkommen aus und forderte von der Bundesregierung, dieses auf der EU-Ebene zu blockieren. Beide Anträge auf die Formulierung einer Stellungnahme erhielten schließlich – mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ, FPÖ und JETZT – die überwiegende Zustimmung der Ausschussmehrheit. Die Zustimmung der ÖVP war in diesem Zusammenhang aber mehr als überraschend, hatte diese doch während der gesamten Ausschusssitzung

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noch gegen den SPÖ-Antrag argumentiert.7 Offensichtlich erfolgte dieser „Schwenk“ unter Berücksichtigung des zukünftigen Wahlverhaltens der österreichischen Öffentlichkeit bei den bevorstehenden Nationalratswahlen am 29. September dieses Jahres. Der anhaltende Widerstand der ÖVP hat aber gezeigt, dass deren Zustimmung zum Veto nur der bevorstehenden Nationalratswahl geschuldet ist. Ein Aufschnüren dieser Ablehnung in der nächsten Legislaturperiode auf Initiative der ÖVP ist daher nicht ausgeschlossen“.8 Wie vorstehend erwähnt, gingen lediglich die NEOS bei diesen beiden Anträgen nicht mit, sondern ihr Abgeordneter Nikolaus Scherak sprach sich für Nachverhandlungen aus, da es aus seiner Sicht nur so möglich wäre, explizite Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen gegen die festgelegten Produktions- und Umweltstandards zu schaffen. Die NEOS blieben aber mit diesem Antrag in der Minderheit. Ebenso in der Minderheit blieb eine Stellungnahme der ÖVP, wonach die Bundesregierung das Abkommen „in seiner derzeitigen Form“ abzulehnen hätte. SPÖ, FPÖ und JETZT kritisierten in diesem Zusammenhang, dass diese Formulierung eine Hintertür offenlassen würde, um dem Abkommen doch noch zustimmen zu können, sobald es in seiner endgültigen Form vorliegt. Der ÖVP gehe es dabei lediglich um eine, dem Wahlkampf geschuldete, taktische Maßnahme. Die beiden negativen Stellungnahmen Auf der Basis der beiden vorerwähnten Anträge von SPÖ und JETZT, sowie von der FPÖ, wurden von der ÖVP, SPÖ, FPÖ und JETZT bezüglich des Handelsteils des geplanten Assoziationsabkommens MERCOSUR-EU am 18. September 2019 übereinstimmend folgende zwei Stellungnahmen verabschiedet, die nachstehend wie folgt wörtlich wiedergegeben werden sollen: „Die zuständigen Mitglieder der Bundesregierung werden aufgefordert, auf Europäischer Ebene alle Maßnahmen zu ergreifen, um einen Abschluss des Mercosur-Abkommens zu verhindern“. „Die Bundesregierung, insbesondere die zuständige Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, wird aufgefordert sicher zu stellen, dass Österreich in den EU-Gremien gegen den Abschluss des Handelsabkommens mit den Mercosur-Staaten auftritt. Dies ist bei allen Abstimmungen dementsprechend mit einer Ablehnung des Abkommens zum Ausdruck zu bringen. Der/die allfällige österreichische Vertreter/in im zuständigen EU-Gremium ist entsprechend anzuweisen“.9 7 Österreich blockiert EU-Freihandelsabkommen mit Südamerika, WELT vom 19. September 2019. 8 Breites Nein der Parteien zu Handelspakt, Tiroler Tageszeitung vom 19. September 2019, S. 22. 9 1 und 2/SEU XXVI.GP, Stellungnahme des Ständigen EU-Unterausschusses gem. Art. 23e B-VG vom 18. September 2019 betreffend WK 8483/2019 INIT EU-Mer-

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Wenngleich diese beiden Stellungnahmen textlich auch unterschiedlich formuliert sind, so fordern sie von der Bundesregierung unmissverständlich die gleiche Vorgangsweise gegenüber dem Handelsteil des MERCOSUREU – Abkommen ein. Mit diesen beiden Stellungnahmen verpflichtet der Nationalrat gem. Art. 23e Abs. 3 B-VG den jeweils zuständigen Bundesminister nämlich dazu, „bei Verhandlungen und Abstimmungen in der EU nur aus zwingenden integrations- und außenpolitischen Gründen“ davon abzuweichen. Beabsichtigt der zuständige Bundesminister, von den Stellungnahmen des Nationalrates tatsächlich abzuweichen, so hat er den Nationalrat neuerlich zu befassen. Mit dieser Bestimmung ist zunächst sichergestellt, dass ein Mitglied der Bundesregierung eine Stellungnahme des Nationalrates zu einem (solchen) Vorhaben grundsätzlich zu befolgen hat, unter ganz speziellen Umständen aber davon abweichen kann. In diesem Sinne stellte der Sprecher der österreichischen Bundesregierung, Alexander Winterstein, auch fest, dass sich die Bundesregierung an diese Bindung, das MERCOSUR-Abkommen auf EUEbene abzulehnen, halten werde. Es ist allerdings mehr als unwahrscheinlich, dass die aktuelle „einstweilige Bundesregierung“ von BK Brigitte Bierlein überhaupt in die Lage kommen wird, das geforderte Veto einzulegen. Da es zum MERCOSUR-EU – Handelsabkommen gegenwärtig ja erst eine politische Einigung auf den Vertragstext an sich gibt, dessen endgültige Ausarbeitung und Übersetzung in alle 24 Amtssprachen der EU aber noch aussteht, wird nicht damit gerechnet, dass dies vor Mitte 2020 der Fall sein wird. Erst dann kann es zur Abstimmung im Rat der EU kommen, bei der der zuständige österreichische Minister dann sein Veto einzulegen hätte. Was aber in der Folge den Abschluss des Assoziationsabkommens selbst betrifft, so müssen diesem – da es sich dabei um ein sogenanntes „gemischtes Abkommen“ handelt – neben dem Europäischen Parlament auch alle Parlamente der EU-Mitgliedstaaten zustimmen, um die anschließenden Ratifikationen zu ermöglichen. Ein definitiver Abschluss des Assoziationsabkommens wäre daher, nach Einschätzung der Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, Elisabeth Udolf-Strobl, allenfalls bis Ende 2020 möglich,10 ebenso wie auch ein Beschluss über eine vorläufige Anwendung des Handelsteils desselben. Bis dahin wird es aber in Österreich, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht nur einen neu zusammengesetzten Nationalrat sondern auch eine neue Bundesregierung geben, die die bisherige „einstweilige Buncosur: Consolidated texts of the trade part of the EU-Mercosur Association Agreement (071896/EU XXVI.GP). 10 SPÖ, FPÖ und JETZT setzen sich im EU-Unterausschuss mit Forderung nach Veto gegen Mercosur-Abkommen durch; Parlamentskorrespondenz Nr. 905 vom 18. 9. 2019, S. 1; Österreich blockiert Mercosur, Der Standard vom 20. September 2019, S. 18; vgl. Finke, B. – Hagelüken, A. Brennende Zweifel, Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2019, S. 19.

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desregierung“ ablöst. Dabei stellt sich aber das Problem, ob die beiden Stellungnahmen des Nationalrates vom 18. September 2019 für die neue Bundesregierung überhaupt bindend sind, oder nicht. Der Leiter des Wiener Instituts für Parlamentarismus und Demokratiefragen, Werner Zögernitz, sieht diese Frage durchaus als strittig an,11 da es dazu unterschiedliche Ansätze gebe. Juristisch gilt es diesbezüglich zu beurteilen, ob bzw. inwieweit das Diskontinuitätsprinzip iSd Art. 28 Abs. 4 B-VG betreffend Gesetzgebungsperioden in diesem Fall anzuwenden ist oder nicht. Unbestritten ist aber, dass ein neu gewählter Nationalrat einen anderen, dh unter Umständen, gegensätzlichen Beschluss, fassen kann. Politisch wäre aber auch ein zukünftiger Minister gut beraten, den Beschluss umzusetzen, da diesem im Falle einer Verweigerung als Konsequenz unter Umständen ein Misstrauensvotum drohe. Da für den Abschluss des MERCOSUR-Assoziationsabkommens ja auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments (EP) benötigt wird, stellt sich in diesem Zusammenhang die weitere Frage, ob auch die österreichischen Abgeordneten zum EP bei der Abstimmung über die Genehmigung des MERCOSUR-Abkommens im EP an die negativen Stellungnahmen des österreichischen Nationalrates gebunden sind. Sowohl im Hinblick auf deren freies Mandat, als auch die Stoßrichtung der beiden Stellungnahmen, die sich grundsätzlich an die Mitglieder der Bundesregierung richten, im Rat dagegen zu votieren, ist dies aber wohl zu verneinen. Reaktionen auf den Beschluss des Nationalrates Gegen den Beschluss des Nationalrates sprachen sich sowohl die Industriellenvereinigung (IV), als auch die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) und der ÖVP-Wirtschaftsbund aus, wobei der Generalsekretär der IV, Christoph Neumayer, von einer „populistischen Panikmache“ sprach, „mit der wir weder das Klima oder den Regenwald retten, noch Arbeitsplätze sichern“.12 Darüber hinaus enthalte das Abkommen MERCOSUR-EU eine klare Verpflichtung zum Pariser Abkommen über den Klimaschutz (2015), zur Aufforstung des Regenwaldes und zum Vorgehen gegen illegale Brand­ rodungen.13 Im Gegensatz dazu begrüßten sowohl die Arbeiterkammer (AK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB), als auch der Bauernbund sowie eine Reihe von Umweltschutzorganisationen (Greenpeace etc.) und 11 Siehe die Agenturmeldung APA0218 vom 19. September 2019; https://iwww.parla ment.gv.at/pd/apa/apadok/A19/0919_APA0218.html; Symbolisches Mercosur-Veto, Wiener Zeitung vom 20. September 2019, S. 6; Mercosur-Veto mit unklaren Folgen (https://orf.at/stories/3137784/). 12 Böhm, W. Nationalrat fixiert Veto gegen EU-Mercosur-Abkommen, DiePresse.com, vom 18. September 2019. 13 Siehe dazu Artikel Nr. 27, vorstehend auf S. 349.

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kirchliche Einrichtungen die ablehnenden Stellungnahmen des Nationalrates.14 Österreich als „Vorreiter“ in der Ablehnungsfront Obwohl sich auf dem G7-Gipfel in Biarritz, Ende August 2019, vor allem Frankreich15 gegen das Abkommen in der derzeitigen Fassung aussprach, und sich dieser Ablehnung in der Folge auch Irland, Finnland, Luxemburg, Polen und die Slowakei anschlossen, muss die österreichische Initiative kritisch hinterfragt werden. Zum einen konnte die überwältigende Zustimmung zu den beiden Stellungnahmen des EU-Unterausschusses im Nationalrat, wie vorstehend bereits erwähnt, nur dadurch zustande kommen, dass diese nicht auf einer Regierungsvorlage fußten, sondern dem „freien Spiel der Kräfte“ im aktuellen Nationalrat entsprangen, und zum anderen war sie auch der Dynamik von Vorwahlzeiten geschuldet, wo es naturgemäß des Öfteren zu abrupten Positionswechseln kommt. Eine solche Bindung der Bundesregierung bzw. einzelner ihrer Minister durch eine initiative Stellungnahme des Nationalrates gem. Art. 23e Abs. 3 B-VG ist in Österreich äußerst selten. Im Ergebnis hat sich Österreich damit aber dermaßen exponiert, dass es wohl als „Auslöser“ der zu erwartenden Ablehnungsfront gegen das Assoziierungsabkommen angesehen und zitiert werden wird,16 was insbesondere in seinen Beziehungen zu den vier MERCOSUR-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, nachteilige Folgen haben wird. Dabei hat gerade die Europäische Kommission neuerdings darauf hingewiesen, dass die EU und die Region Lateinamerika und Karibik (LAK) in den letzten Jahrzehnten ein beispielloses Maß an Integration erreicht haben. So hat die EU mit 27 der 33 LAK-Länder Assoziierungs-, Freihandels-, Kooperations- oder sonstige politische Ankommen geschlossen. Zu den wichtigsten Abkommen zählen dabei die Assoziationsabkommen mit Mexiko, Chile und Zentralamerika, das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit dem Karibischen Forum (CARIFORUM) und die Freihandelsabkommen mit Kolumbien, Peru und Ekuador. Dementsprechend sind die Volkswirtschaften der EU und der LAK-Region eng miteinander verflochten. Die EU 14 Vgl. dazu London School of Economics and Political Science (LSE), Sustainability Impact Assessment in Support of the Association Agreement Negotiations between the European Union and Mercosur, Draft Interim Report, 03 October 2019. 15 So erklärte die Regierungssprecherin Frankreichs, Sibeth Ndiaye im Juli 2019, „dass Frankreich derzeit nicht bereit ist, das Abkommen zu ratifizieren“; siehe APA-Meldung APA0218 (Fn. 11). 16 Löwy, M. Keine Weltoffenheit ohne Welthandel, Der Standard vom 20. September 2019, S. 31 spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die grundsätzliche Ablehnung des Abkommens „Österreich europapolitisch ins Abseits und in das Lager der Nörgler und Verhinderer führt“.

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ist der drittgrößte Handelspartner der LAK-Region: der Warenhandel betrug 2018 225,4 Mrd. Euro und der Dienstleistungshandel erreichte einen Wert von fast 102 Mrd. Euro. Die EU war 2017 mit ihren ausländischen Direktinvestitionen in Höhe von 784,6 Mrd. Euro der wichtigste Investor in der LAK-Region. Umgekehrt verzeichneten die ausländischen Direktinvestitionen der LAK-Region in der EU in den letzten Jahren einen starken Anstieg und erreichten 2017 einen Umfang von 273 Mrd. Euro, womit sie über denen von China (176,1 Mrd. Euro), Indien (76,7 Mrd. Euro) und Russland (216,1 Mrd. Euro) liegen. Die EU ist auch der größte Geber von Entwicklungshilfe zugunsten der LAK-Region in Form von Zuschüssen für bilaterale und regionale Programme zwischen 2014 und 2020 in der Höhe von 3,6 Mrd. Euro und hat in den vergangenen 20 Jahren mehr als 1,2 Mrd. Euro an humanitärer Hilfe bereitgestellt.17 Wie intensiv die Vorgänge in Österreich dabei in Lateinamerika verfolgt werden, lässt sich exemplarisch an dem Umstand feststellen, dass bereits am Tag der Beschlussfassung der gegenständlichen Stellungnahmen im EU-Unterausschuss des österreichischen Nationalrates spanischsprachige Artikel darüber erschienen sind und über internationale Agenturen verbreitet wurden.18 Unter diesen Voraussetzungen wäre Österreich gut beraten gewesen, nicht initiativ zu werden, sondern vielmehr darauf zu warten, wie sich die Frage des Abschlusses des Handelsabkommens mit dem MERCOSUR im Schoß der Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten entwickelt. Der Nationalrat nützte aber das „freie Spiel der Kräfte“ aus, um – ohne auf eine entsprechende Regierungsvorlage zu warten – seinerseits die „einstweilige Bundesregierung“ zu verpflichten, gegen den Abschluss des MERCOSUREU – Handelsabkommens im Rat der EU zu stimmen. Dabei kann Österreich alleine diesen Abschluss aber gar nicht verhindern, da für dessen Zustandekommen, wie vorstehend bereits erwähnt, ja keine Einstimmigkeit, sondern lediglich eine „qualifizierte Mehrheit“ vorgesehen ist. Wozu dann aber der ganze Aufwand…? Quelle: EU-Infothek vom 21. Oktober 2019, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 28) PS: Vgl. dazu Artikel Nr. 27, vorstehend auf S. 341 ff.

17 Europäische Kommission, Die Europäische Union, Lateinamerika und die Karibik: Bündelung der Kräfte für eine gemeinsame Zukunft, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat (JOIN(2019) 6 final vom 16. April 2019), S. 1 f. 18 Siehe zum Beispiel: El Parlamento austríaco veta el tratado comercial entre la UE y Mercosur, eldiario.es, vom 18. September 2019.

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Warum misst Österreich bei benachbarten Atomkraftwerken mit zweierlei Maß?

29. Warum misst Österreich bei benachbarten Atomkraftwerken mit zweierlei Maß? Gegen grenznahe AKW in den MOEL geht Österreich rigide vor, gegen die Laufzeitverlängerung der alten AKW der Schweiz aber nicht Die Schweiz und Österreich: Zwei dauernd neutrale Kleinstaaten, die bisher über freundschaftliche Nachbarschaftsbeziehungen miteinander verbunden waren und zwischen denen bis vor kurzem kaum Meinungsverschiedenheiten bestanden. Mit der Ankündigung der Schweiz, die Laufzeit ihrer veralteten Atomkraftwerke (AKW) um mehrere Jahre zu verlängern, lebt aber nunmehr eine alte Rivalität wieder auf, die mit der Diskussion um den Bau eines grenznahen Schweizer AKW Anfang der 1970-er Jahre begonnen hatte. Da dieser beinahe 50 Jahre alte Streitfall in der österreichischen Öffentlichkeit nicht mehr sehr präsent sein dürfte, sei nachstehend kurz auf ihn verwiesen. Der erste AKW-Streit zwischen Österreich und der Schweiz Damals ersuchte die Vorarlberger Landesregierung die beiden Völkerrechtler Albrecht Randelzhofer und Bruno Simma, für sie ein entsprechendes Gutachten über die Zulässigkeit des Baues eines grenznahen AKW zu erstellen, das diese in der Folge auch vorlegten und dessen grundlegende Überlegungen im Jahr 1973 publizierten. Dabei gingen die beiden Autoren noch davon aus, dass ein grenznahes Atomkraftwerk deswegen nicht errichtet werden dürfe, weil es die nicht ausschließbare Gefahr des Eintritts schwerster Schäden auf dem Gebiet des Nachbarstaates beinhaltet.1 In der Folge stellten auch zwei weitere Autoren in einem 1979 publizierten Artikel fest, dass bei grenznahen AKW davon ausgegangen werden müsse, „dass die auch beim ordnungsgemäßen Betrieb auftretenden Beeinträchtigungen grundsätzlich über dem völkergewohnheitsrechtlich konkretisierten Maß der „Unerheblichkeit“ und „Unüblichkeit“ liegen“, und dementsprechend – im Falle einer nicht vorhandenen völkervertragsrechtlichen Regelung – unzulässig sind.2 Bruno Simma rückte von dieser Rechtsansicht der Unzulässigkeit der Errichtung grenznaher Atomkraftwerke in einem späteren Gutachten, das 1 Randelzhofer, A. – Simma, B. Das Kernkraftwerk an der Grenze: Eine „ultra hazardous activity“ im Schnittpunkt von internationalem Nachbarrecht und Umweltschutz, in: Blumenwitz/Randelzhofer (Hrsg.), FS Berber zum 75. Geburtstag (1973), S. 389 ff. (416 f.); vgl. Hummer, W. Temelin: Das Kernkraftwerk an der Grenze, ZöR 4/2008, S. 1 ff. 2 Fröhler, L. – Zehetner, F. Rechtsschutzprobleme bei grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen (1979), Bd. 1, S. 137; vgl. auch Kerschner, F. Abwehrklagen gegen grenznahe Atomkraftwerke, RdU 2003, S. 73 ff.

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er 1987 ebenfalls für die Vorarlberger Landesregierung erstellte, aber wieder ab und stellte fest, dass seiner rechtsdogmatischen Qualifikation zwischenzeitlich weder die Lehre gefolgt sei, noch sich eine entsprechende Staatenpraxis herausgebildet habe. Es fehle daher sowohl an einer entsprechenden Rechtsüberzeugung („opinio iuris“), als auch an einer einschlägigen Staatenpraxis („consuetudo“), sodass es zu keiner völkergewohnheitsrechtlichen Verankerung eines Errichtungsverbotes für grenznahe Kernkraftwerke gekommen sei.3 Wenngleich auch völkerrechtlich kein Errichtungsverbot grenznaher AKW besteht, so werden die Haftungsfolgen im Falle einer Betriebsstörung und des damit verbundenen Austritts von Radioaktivität aus einem solchen – als „ultra hazardous activity“ – nicht nach der (subjektiven) Verschuldenssondern nach der (objektiven) Gefährdungs- oder Erfolgshaftung bewertet. Für solche besonders gefährlichen Aktivitäten ist hinsichtlich des Auslösers für die Haftung daher keine subjektive Tatseite – das heißt ein Verschulden – nachzuweisen, sondern es genügt dafür allein schon der Nachweis einer Gefährdung bzw. des eingetretenen schädigenden Erfolges. Diese, zunächst akademische Debatte, an die sich in der Folge eine politische Auseinandersetzung zwischen beiden Nachbarstaaten anschloss, war der erste Konflikt über die Errichtung und den Betrieb grenznaher AKW zwischen Österreich und der Schweiz, dem in der Folge interessanterweise aber kein weiterer mehr folgen sollte. Auch jetzt, da die österreichische Bundesregierung schon längst über die Laufzeitverlängerung der veralteten Schweizer AKW und die Suche nach einem atomaren Endlager unterrichtet sein dürfte, regt sich kein offizieller Widerstand. Da die österreichische Öffentlichkeit darüber auch nicht unterrichtet wurde, fanden bisher keine Proteste der organisierten Zivilgesellschaft statt. Es bedarf daher dringend einer entsprechenden Information und Aufklärung über diese Vorgänge in der benachbarten Schweiz. Die Situation in Österreich

Wie Österreich zu einem atomkraftfreien Land wurde Wie neuerdings durch eine einschlägige Publikation belegt, regte sich in Österreich bereits in den 1960er-Jahren Kritik an der friedlichen Nutzung der Kernenergie, wobei der Grund dafür mehr als merkwürdig erscheint. Der Widerstand ging damals nämlich vom rechten Rand des politischen Spektrums aus, wie der Physiker und Wissenschaftshistoriker Christian Forstner 3 Simma, B. – Handl, G. Die völkerrechtliche Beurteilung grenzüberschreitender Auswirkungen von Kernkraftwerken (1987), S. 65; Simma, B. – Handl, G. Grenzüberschreitende Auswirkungen von Kernkraftanlagen und Völkerrecht, ÖZöRVR (1988), S. 1 ff.

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in seiner grundlegenden Studie4 feststellt: „In Österreich waren es in der frühen Phase des Protests vor allem konservative Gegner der Kernenergie, deren Kritik deutliche Bezüge zur NS-Rassenhygiene aufwies. Diese Kritiker waren besorgt, dass durch die Kernenergie das Erbgut der österreichischen Bevölkerung geschädigt werden könnte“. Eine zentrale Rolle in dieser frühen Anti-Atomkraft-Bewegung spielten der „Bund für Volksgesundheit“ – unter Führung der beiden Wiener Brüder Richard und Walther Soyka – sowie der „Weltbund zum Schutz des Lebens“, der 1960 vom Schriftsteller Günther Schwab, zusammen mit einer Reihe von Natur- und Tierschützern, gegründet wurde. Walther Soyka war in der NS-Zeit Mitglied der SS, Günther Schwab wiederum Mitglied der NSDAP und der SA.5 Erst Mitte der 1970er-Jahre verbreiterte sich der politische Widerstand gegen die Atomkraft, wobei vor allem Studentenverbände, die an den jeweiligen Universitäten eigene Arbeitsgruppen bildeten und Aufklärungsarbeit leisteten, führend waren. Der Widerstand griff in der Folge aber auch auf andere Bevölkerungsgruppen über und verhinderte letztlich den Einstieg Österreichs in die Risikotechnologie der Errichtung von AKW zur Stromerzeugung. Zunächst erhielt Österreich aber im Rahmen des US-amerikanischen Programms „Atoms for Peace“ zwei Forschungsreaktoren zur Verfügung gestellt: einer davon wurde im Prater aufgestellt und ist, als Teil des Atominstituts der Technischen Universität (TU) Wien, nach wie vor in Betrieb. Der andere Reaktor wurde zwischen 1958 und 1960, zusammen mit einem Zwischenlager für geringwertige radioaktive Abfälle, im Atomforschungszentrum in Seibersdorf errichtet, im Jahr 2004 allerdings wieder stillgelegt. 1971 begann man dann mit dem Bau des Kernkraftwerks Zwentendorf, das 1978 seinen Betrieb aufnehmen sollte. Seine Errichtungskosten betrugen ca. 1 Mrd. Euro und es hätte bei einer Leistung von 730 Megawatt insgesamt 1,8 Mio. Haushalte mit elektrischer Energie versorgen können. Da zwischenzeitlich der Widerstand gegen ein AKW Zwentendorf aber wieder stark zugenommen hatte, wollte sich die Regierung Kreisky für die Inbetriebnahme des AKW eine basisdemokratische Legitimation besorgen und ordnete daher die Abhaltung einer Volksabstimmung an, an deren positiven Ausgang sie nicht im Geringsten zweifelte. Zur allgemeinen Überraschung ging die in der Folge am 5. November 1978 abgehaltene Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des bereits vollkommen fertig errichteten AKW Zwentendorf – allerdings mit der äußerst knappen Mehrheit von 50,47% – negativ aus, sodass das AKW nicht in Betrieb genommen werden konnte. 4 Forstner, C. Kernphysik, Forschungsreaktoren und Atomenergie. Transnationale Wissensströme und das Scheitern einer Innovation in Österreich (2019). 5 Vgl. Griesser, D. Wie Österreichs Nein zur Atomkraft entstand, Der Standard vom 7. August 2019, S. 12.

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Dieser Umstand verleitete einen Kommentator zu der launigen Bemerkung, dass das AKW Zwentendorf damit weltweit das einzige Modell eines AKW im Maßstab 1:1 darstellt.6 Durch die negative Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf verwandelte sich Österreich basisdemokratisch in ein kernkraftfreies Land7 und sicherte diesen Status in der Folge auch durch einige einschlägige (Verfassungs-)Gesetze ab. Zum einen erließ es noch im selben Jahr 1978 das Atomsperrgesetz8, und zum anderen erging 1999 das Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich9, durch das die Errichtung oder Inbetriebnahme von AKW verboten und der Gesetzgeber verpflichtet wurde, Schadensersatzregelungen für nukleare Unfälle zu schaffen, was in der Folge durch den Erlass des Atomhaftungsgesetzes10 im selben Jahr auch erfolgte. Daneben schloss Österreich auch noch bilaterale Abkommen mit den drei Nachbarstaaten Tschechien,11 Slowakei12 und Slowenien13 über die nukleare Sicherheit und den Strahlenschutz ab. Die dabei aber mit der Tschechischen Republik gemachten Erfahrungen im Hinblick auf die Umsetzung des „Melker Protokolls“ vom 12. Dezember 2000 zeigten symptomatisch auf, wie wenig sich ein betroffener Nachbarstaat gegen den unbedingten Errichtungs- bzw. Verlängerungswillen der Betriebsdauer eines grenznahen AKW durchsetzen kann. Während Österreich diese Übereinkunft als bindendes Regierungsübereinkommen gem. Art.  66 Abs.  2 B-VG qualifizierte, sah die Tschechei darin lediglich ein „gentlemen’s agreement“.14

6 2005 kaufte der niederösterreichische Energieversorger EVN den 50-prozentigen Anteil des Verbunds um 2,5 Mio. Euro und wurde damit zum alleinigen Eigentümer von Zwentendorf. Seit 2009 liefern Solarmodule auf den Dächern und Fassaden des AKW Zwentendorf sowie auf dem 24 Hektar großen Areal Strom für etwa 200 Haushalte pro Jahr; Tempfer, P. Gesammelt gegen Atomkraft, Wiener Zeitung vom 5. November 2019, S. 6. 7 Österreich ist damit einer der 14 EU-Mitgliedstaaten in denen kein AKW in Betrieb ist, während in den restlichen 14 Mitgliedstaaten 126 Atomreaktoren betrieben werden. Zum Vergleich: Weltweit sind 447 Reaktoren in 31 Ländern in Betrieb. 8 BGBl. Nr. 676/1978. 9 BGBl. I 149/1999. 10 BGBl. I 170/1999. Mit dem Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes Anfang 1999 tritt das Bundesgesetz vom 29. April 1964 über die Haftung für nukleare Schäden (Atomhaftpflichtgesetz) (BGBl. Nr. 117/1964 idF BGBl. I Nr. 140/1997), außer Kraft. Es ist aber auf Schäden, die vor diesem Zeitpunkt verursacht worden sind, weiter anzuwenden (Art. 31 Atomhaftungsgesetz). 11 BGBl. 565/1990. 12 BGBl. 1046/1994. 13 BGBl. III 176/1998. 14 Vgl. Hummer, W. Hinkley Point C – Der Kampf Österreichs gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken, ÖGfE Policy Brief, 36‘2015, S. 1 ff.

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Der Widerstand Österreichs gegen grenznahe Atomkraftwerke Das atomkraftfreie Österreich ist von 14 grenznahen (zwischen 35 und 180 km gelegenen) Atomkraftwerken – Beznau, Leibstadt, Gösgen, Mühleberg (Schweiz), Philippsburg, Neckarwestheim, Grundremmingen, Isar (BRD), Temelin, Dukovany (Tschechien), Bohunice, Mochovce (Slowakei), Paks (Ungarn) und Krško (Slowenien) – umgeben und dementsprechend auch an deren störungsfreiem Betrieb vital interessiert. Es scheut daher nicht davor zurück, juristisch sowohl gegen deren Inbetriebnahme als auch deren Laufzeitverlängerung vorzugehen, wenn es der Ansicht ist, dass es sich dabei um technisch nicht dem letzten Stand der Technik entsprechende Anlagen handelt.15 Interessanterweise betrifft diese Vorgangsweise aber nur AKW in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL), nicht aber in der Schweiz. Nachdem es bereits vor dem Gerichtshof (EuGH) gegen die staatliche Beihilferegelung für das tschechische Atomkraftwerk Temelin geklagt hatte,16 ging Österreich am 6. Juli 2015 vor dem Gericht (EuG) mit ähnlichen Argumenten gegen das britische AKW Hinkley Point vor,17 und wiederholte diese Vorgangsweise am 22. Februar 2018 gegenüber dem ungarischen AKW Paks II.18 Nachdem die Klage Österreichs gegen die staatliche Subventionierung des AKW Hinkley Point am 12. Juli 2018 vom Gericht ua mit der Begründung abgewiesen worden war, „dass die Atomkraft ein übergeordnetes, „gemeinsames Interesse“ innerhalb der EU sei“,19 legte Österreich dagegen am 21. September 2018 vor dem EuGH Berufung ein,20 die vom EuGH aber mit Urteil vom 22. September 2020 (ECLI:EU:C:2020:742) zurückgewiesen wurde. In der Folge sprachen sich die österreichischen Parteien für ein gemeinsames Vorgehen gegen den Ausbau der grenznahen AKW in Krško, Temelin und Dukovany aus und forderten auch eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung für das AKW Mochovce, das bereits Anfang 2020 in Betrieb gehen 15 Hummer, W. Österreichs konsistentes Verhalten gegenüber der Nuklearenergie, EU-Infothek vom 20. März 2017, S. 1 ff. 16 EuGH, Rs. C-343/04, Land Oberösterreich/ČEZ, Slg. 2006, S. I-4557 ff. (ECLI:EU:C:2006:330); vgl. dazu Hummer, Temelin: Das Kernkraftwerk an der Grenze (Fn. 1), S. 1 ff. 17 EuG, Rs. T-356/15, Österreich/Kommission (ABl. 2015, C 337, S. 14 f.) (ECLI:EU:T:2018:439); vgl. Hummer, W. Hinkley Point C – Der Kampf Österreichs gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken (Fn. 14), S. 1 ff.; Hummer, W. Windenergie vor Atomkraft, SN vom 9. März 2015, S. 11. 18 EuG, Rs. T-101/18, Österreich/Kommission (ABl. 2018, C 152, S. 40 f.); vgl. Hummer, W. Österreichs permanenter Kampf gegen (grenznahe) Atomkraftwerke. Nach Hinkley Point C geht Österreich nunmehr auch gegen das ungarische AKW Paks II vor, EU-Infothek vom 6. Februar 2018, S. 1 ff. 19 EuG, Rs. T-356/15, Österreich/Kommission (Fn. 17). 20 EuGH, Rs. C-594/18 P, Österreich/Kommission (ABl. 2018, C 427, S. 22).

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soll,21 aber noch eine Reihe von Sicherheitsmängel aufweist.22 Vor allem die tschechischen AKW Temelin und Dukovany stellen für Österreich eine reale Bedrohung dar, liegen diese doch nur 35 km (Dukovany) bzw. 60 km (Temelin) von der Staatsgrenze entfernt. Christine Beschaner von der Wiener Plattform „Atomkraftfrei“ bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Dukovany „vielleicht Europas gefährlichstes AKW sei, und bei den Stresstests extrem schlecht abgeschnitten habe“.23 Neuerdings trafen sich am 4. November 2019 die Landesenergiereferenten aller österreichischen Bundesländer, unter dem Vorsitz von Niederösterreichs Landeshauptfrau-Stellvertreter Stephan Pernkopf, im stillgelegten AKW Zwentendorf, um über die tschechischen Ausbaupläne der AKW Temelin und Dukovany zu diskutieren. Dabei erklärte die ebenfalls anwesende Umweltministerin Maria Patek, dass bis 2030 der gesamte Strombedarf Österreichs aus erneuerbarer Energie gedeckt werden soll. Im Moment liege man bundesweit bei 75%.24 Ob das allerdings ohne den Einsatz von Atomenergie bewerkstelligt werden kann, ist fraglich, da noch immer 26% des Stroms, der aus EU-Mitgliedstaaten bezogen wird, aus AKW stammen. In Temelin läuft im Oktober 2020 die Betriebsgenehmigung für den Reaktorblock 1 aus, und im Jahr 2022 diejenige für Block 2. Geplant ist in diesem Zusammenhang, die Reaktoren bis mindestens 2060 am Netz zu belassen – und weitere Reaktoren zu bauen. Der Laufzeitverlängerung des AKW Temelin muss aber, gemäß einem Gutachten der Vorständin des Instituts für Umweltrecht der Johannes Kepler-Universität Linz, Erika Wagner, unbedingt eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) vorangehen. Für diese Rechtsansicht stützt sie sich auf das Urteil des EuGH vom 29. Juli 2019 hinsichtlich der beiden belgischen AKW Doel 1 und Doel 225, in dem der Gerichtshof zunächst zwar der Laufzeitverlängerung der beiden AKW zugestimmt, zugleich aber betont hat, dass diesbezüglich unbedingt eine zwingende grenzüberschreitende UVP nach der UVP-Richtlinie26 nötig sei, da die beiden AKW Doel 1 und Doel 2 in der Nähe der belgisch-niederländischen Grenze liegen. In diesem Sinne sei auch 21 SPÖ für gemeinsames Vorgehen gegen Ausbau grenznaher AKWs, vom 4. September 2019; https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190904_OTS0171/spoefuer-gemeinsa...; ÖVP will Parteienallianz gegen AKW-Ausbau Krsko und Dukovany, vom 4. September 2019; https://www.msn.com/de-at/nachrichten/other/%c3% b6vp-will-parteienallianz-gegen-... 22 Vgl. Lutteri, A. Türme der Zweifel, News 15/2019, S. 30 ff. 23 Zitiert nach Tempfer, Gesammelt gegen Atomkraft (Fn. 6), loc. cit. 24 Tempfer, Gesammelt gegen Atomkraft (Fn. 6), loc. cit. 25 EuGH, Rs. C-411/17, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen/Conseil des ministres (ECLI:EU:C:2019:622). 26 Richtlinie 2011/92/EU des EP und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S.1 ff.).

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die Habitat-Richtline27 auszulegen. Diese konsistente Judikatur des EuGH trifft allerdings nur auf Problemfälle grenznaher AKW in Mitgliedstaaten der EU zu, findet aber keine Anwendung gegenüber solcher im EFTA-Staat Schweiz. Von der vorstehend erwähnten Auseinandersetzung über den Bau eines grenznahen Schweizer AKW in den 1970er-Jahren abgesehen,28 waren die gegenseitigen Beziehungen zwischen Österreich und der Schweiz hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie mehr oder weniger konfliktfrei. Die ordnungsgemäß gewarteten und sich im Rahmen ihrer ursprünglich zugewiesenen Laufzeit befindlichen Schweizer Kernkraftwerke waren nicht Gegenstand österreichischer Bedenken, was sich aber mit deren geplanter Laufzeitverlängerung – auf zumindest die nächsten zehn Jahre – ändern könnte. Um das dabei entstehende Konfliktpotential entsprechend würdigen zu können, soll nachstehend eine kurze Einführung in die Situation der Nutzung der Kernenergie in der Schweiz gegeben werden. Vorab ist dabei aber festzuhalten, dass die Schweiz fünf AKW errichtet hat, ohne sich zuvor mit den Nachbarstaaten Österreich und Deutschland entsprechend abgestimmt bzw. gemeinsam nach einer Lösung für die Entsorgung bzw. Endlagerung des durch diese produzierten atomaren Mülls gesucht zu haben.29 Die Situation in der Schweiz

Grenznahe Kernkraftwerke in der Schweiz Die Schweiz betreibt fünf Kernkraftwerke in relativer Grenznähe zu Österreich, nämlich in Leibstadt (110 km entfernt), Beznau 1 und 2 (110 km), Gösgen (130 km) und Mühleberg (180 km). Das AKW Beznau-1, ein Druckwasserreaktor von Westinghouse (WH 2LP) mit 365 Megawatt Leistung, ist seit 17. Juli 1969 in Betrieb und ist damit mit 50 Jahren der älteste aktive Kernreaktor der Welt. Er liegt in der Gemeinde Döttingen (AG) auf einer künstlichen Insel im Fluss Aare. Der Anteil seines outputs an der Stromproduktion der Schweiz liegt bei 4,5%. Das AKW Beznau-2, ist baugleich mit Beznau-1, verfügt über dieselbe Leistung und ist seit 23. Oktober 1971 in Betrieb. Es liegt unmittelbar neben dem AKW Beznau-1. Der Anteil an der Stromproduktion der Schweiz liegt bei 4,2%. Das AKW Mühleberg, ein Siedewasserreaktor von General Electric (BWR-4) mit 373 Megawatt Leistung, ist seit 1. Juli 1971 in Betrieb. Es liegt 2 km nördlich von Mühleberg (BE) an der Aare, unterhalb des Wohlensees 27 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992, L 206, S. 7 ff. idF der Richtlinie 2013/17/EU (ABl. 2013, L 158, S. 193 ff.). 28 Siehe dazu vorstehend auf S. 367 f. 29 https://www.energiestiftung.ch/atomenergie-atommuell.html

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und 14 km westlich von Bern. Der Anteil an der Stromproduktion der Schweiz liegt bei 4,3%. Anfang März 2016 teilte die Betreibergesellschaft des AKW Mühleberg mit, dass dessen definitive Abschaltung für den 20. Dezember 2019 vorgesehen ist.30 Damit ist das AKW Mühleberg das erste Schweizer AKW, das noch in diesem Jahr vom Netz genommen werden wird.31 Es befindet sich zu diesem Zeitpunkt in seinem 46. Betriebsjahr und ist damit eines der ältesten AKW der Welt. Das AKW Gösgen, ein Druckwasserreaktor von Siemens (PWR 3 Loop) mit 1.010 Megawatt Leistung, ist seit 2. Februar 1979 in Betrieb. Es liegt in der Gemeinde Däniken (SO), an der Aare. Der Anteil an der Stromproduktion der Schweiz liegt bei 9,4%. Das AKW Leibstadt, ein Siedewasserreaktor von General Electric (BWR-6) mit 1.220 Megawatt Leistung, ist seit 24. Mai 1984 in Betrieb und ist damit mit 35 Betriebsjahren das jüngste der fünf Schweizer AKW.32 Es liegt in der Gemeinde Leibstadt (AG), am Rhein, nahe der Aare-Mündung. Der Anteil an der Stromproduktion der Schweiz liegt bei 14,1%.33 Zusammen betrug der Anteil der fünf AKW an der Stromproduktion der Schweiz im Jahre 2018 36,1%. Sie produzieren jährlich rund 25 Mrd. Kilowattstunden Strom, was weit mehr als dem Verbrauch sämtlicher Schweizer Haushalte entspricht. Neben dem Anteil der AKW setzt sich die Schweizer Stromproduktion, die von den vier großen Stromversorgern Axpo, Alpiq, BKW und Repower verteilt wird, wie folgt zusammen: 30,4% aus Speicherkraftwerken, 25% aus Laufwasserkraftwerken, 4% aus diversen anderen Kraftwerken, 2,8% aus konventionell-thermischen nicht erneuerbaren Kraftwerken und 1,7% aus konventionell-thermisch erneuerbaren Kraftwerken.34

Geplante, aber nicht verwirklichte, AKW in der Schweiz In der Schweiz wurden eine Reihe weiterer AKW geplant, wobei es sich um folgende acht Projekte handelte: Graben (Siedewasserreaktor), Inwil (Siedewasserreaktor), Kaiseraugst (Siedewasserreaktor), Rüthi (Druckwasserreaktor), Verbois (Hochtemperaturreaktor), Niederamt (wohl Druckwasserre30 Definitives Aus für AKW Mühleberg Ende 2019, https://www.srf.ch/news/schweiz/ definitives-aus-fuer-akw-muehleberg-ende-2019. 31 Vgl. dazu auch nachstehend auf S. 377. 32 Pilch, G. Schlummernde Gefahr an den Außengrenzen, Kleine Zeitung vom 10. April 2019, S. 4. 33 Die Schweizer Atomkraftwerke im Überblick, https://www.srf.ch/news/schweiz/ die-schweizer-atomkraftwerke-im-ueberblick... 34 Banholzer, S. – Iten, T. Strommix 2018. Umweltbelastung aus der Stromproduktion der vier größten Schweizer Stromversorger 2018, SES Zürich, 17. Juli 2019, S. 19/24.

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aktor), Beznau 3 (wohl Druckwasserreaktor) und Mühleberg 2 (wohl Druckwasserreaktor).35 Die Verwirklichung dieser Projekte konnte in der Folge aber wegen massiver Proteste der Zivilgesellschaft nicht erfolgen. Die Atomgegner konnten im Gefolge des Störfalles von Harrisburg/Three Mile Island 1979, vor allem aber der Tschernobyl-Katastrophe 1986, die Schweizer Öffentlichkeit davon überzeugen, dass von einer Errichtung dieser AKW, deren Planung zum Teil bereits weit fortgeschritten war, Abstand genommen werden sollte. Dementsprechend hoch waren auch die Verluste der Betreiber dieser Projekte, die von der öffentlichen Hand aber nicht entsprechend entschädigt wurden. So hatte zB der Errichter des AKW von Kaiseraugst, die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG, bis zur Einstellung des Projekts Ende 1987 bereits rund 1,335 Mrd. Schweizer Franken – davon 1,1 Mrd. für Baukosten sowie 136 Mio. für Kernbrennstoff und 100 Mio. für nichteinbezahltes Aktienkapital – investiert, erhielt von der öffentlichen Hand aber nur 350 Mio. Franken Entschädigung.36 Auch der Errichter des AKW von Graben hatte in das Projekt bereits über eine Mrd. Schweizer Franken investiert, wurde nach dem endgültigen Verzicht auf den Weiterbau aber ebenfalls nur mit 227 Mio. Franken entschädigt.37

Kernenergiepolitische Debatte in der Schweiz Erstmals wies der Bundesrat 1963 in seinem Geschäftsbericht darauf hin, dass ernsthaft zu prüfen ist, ob nicht auf die Zwischenstufe von konventionell-thermischen Kraftwerken verzichtet und dafür unmittelbar auf den Bau von Atomkraftwerken zugesteuert werden sollte, wobei Wasser- und Atomenergie in ein rationales System der gegenseitigen Ergänzung einzubauen wären.38 Die Kernenergie war in ihren Anfängen politisch noch völlig unumstritten, eine umfangreichere Opposition dagegen entwickelte sich erst in den 1970er-Jahren. Die Motive dafür waren sowohl Sicherheitsgründe als auch die nicht gelöste Endlager-Problematik. Die Kontroverse um die „friedliche Nutzung“ der Kernenergie kam in der Schweiz Anfang der 1970er- Jahre auf. Mit gewaltfreien Blockaden und Geländebesetzungen gegen den Bau des geplanten AKW in Kaiseraugst konnte die schweizerische Anti-Atombewegung dabei im Jahr 1975 ihren ersten Erfolg feiern, der 1988 schließlich dazu führte, dass nicht nur die Plä35 Liste der Kernreaktoren in der Schweiz, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ Kernreaktoren_in_der_Schweiz 36 Kernkraftwerk Kaiseraugst, https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Kaiser augst 37 Graben (Schweiz), https://atomkraftwerkeplag.wikia.org/de/wiki/Graben_(Schweiz) 38 Schweizer Energiepolitik, Wikipedia; https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizer_ Energiepolitik

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ne für die Errichtung des AKW in Kaiseraugst, sondern auch die für ein weiteres in Graben, zu den Akten gelegt wurden. Da es immer wieder technische Störfälle in den einzelnen AKW gab, die von Global 2000 minutiös dokumentiert und der Schweizer Öffentlichkeit auch bekanntgegeben wurden, hielt die Kontroverse um die „friedliche Nutzung“ der Kernenergie aber an.39 Vor der nuklearen Katastrophe von Fukushima, die sich im März 2011 ereignete, war die Mehrheit der Schweizer gegen einen Ausstieg aus der Atomkraft, sodass auch die erste Volksabstimmung am 18. Februar 1979 negativ ausging. Ebenso wurde am 18. Mai 2003 die Volksinitiative „MoratoriumPlus“ mit 58,4% und die Initiative „Strom ohne Atom“ mit 66,3% abgelehnt. Seit dem 25. Mai 2011, zweieinhalb Monate nach der Katastrophe von Fukushima, strebte der Bundesrat aber einen langfristigen Atomausstieg an, wozu keine neuen AKW errichtet, und die bestehenden am Ende ihrer Laufzeit vom Netz genommen werden sollten. Der Nationalrat nahm am 8. Juni 2011 zustimmende Motionen an und der Ständerat folgte ihm im September 2011.40 Laut diesem Parlamentsentscheid wird der Bau neuer AKW verboten, bestehende Kernkraftwerke dürfen aber solange in Betrieb bleiben, als sie vom „Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat“ (ENSI) als sicher eingestuft werden. Große Hoffnung setzten die Atomgegner in der Folge aber auf die eidgenössische Volksinitiative „Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegsinitiative)“, die von der Grünen Partei der Schweiz und anderen Organisationen eingereicht wurde und die den Ausstieg der Schweiz aus der Atomenergie bis zum Jahr 2029 vorsah. Sie kam am 27. November 2016 zur Abstimmung, wurde aber von Bundesrat und Parlament abgelehnt, wobei der Nationalrat die Initiative mit 134 zu 59 Stimmen, bei zwei Enthaltungen, und der Ständerat mit 32 zu 13 Stimmen, ohne Enthaltung, verwarf. Dabei waren vor allem folgende Argumente ausschlaggebend: die Laufzeitbeschränkung auf 45 Jahre sei rein willkürlich und habe nichts mit dem tatsächlichen Zustand der Schweizer AKW zu tun. Durch den Atomausstieg würde innerhalb von 13 Jahren auch gut ein Drittel der Stromproduktion wegfallen, was in dieser kurzen Zeit nicht entsprechend kompensiert werden könnte. Die dadurch absehbare Versorgungsknappheit würde dazu führen, dass die Schweiz mehr Strom aus dem Ausland importieren müsste, und die Schadensersatzforderungen, die der Bund zu zahlen hätte, wären „Geld aus den Taschen der Bürger“.41 39 Vgl. Global 2000, Atomkraft in der Schweiz; https://www.global2000.at/atomkraftder-schweiz 40 http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/staenderat_sagt_ja_zum_atomaus stieg_1.12707617.html 41 Atomausstiegsinitiative, wikipedia.

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Am 21. Mai 2017 wurde schließlich in einer Volksabstimmung über das Energiegesetz (EnG) ein Bewilligungsverbot für die Errichtung neuer Kernkraftwerke im Rahmen der Energiestrategie 2050 von 58,2% der Abstimmenden angenommen.42

Neubau oder Verlängerung der Betriebsdauer der Schweizer AKW? Im Gegensatz zum Beschluss der deutschen Bundesregierung des Jahres 2011, sukzessive aus der Kernenergie zur Erzeugung elektrischer Energie ganz auszusteigen und alle sieben Reaktoren bis 2022 abzuschalten,43 hat sich damit in der Schweiz die Überlegung durchgesetzt, zwar keine neuen AKW mehr zu errichten, statt dessen aber die Lebensdauer der bestehenden Anlagen zu verlängern. In den bisherigen Energieperspektiven des Bundes war vorgesehen, dass die Kernkraftwerke in der Schweiz grundsätzlich 50 Jahre lang betrieben werden können, was als Enddatum für die Nutzung der Atomkraft in der Schweiz das Jahr 2034 ergeben würde, wenn nämlich das jüngste AKW, Leibstadt, seine 50-jährige Betriebsdauer hinter sich gebracht hat.44 Bei einer angenommenen Betriebsdauer von 50 Jahren müsste 2019 als erstes das AKW Beznau-1 abgeschaltet werden, aus Wirtschaftlichkeitsgründen hat aber auch der Betreiber BKW Energie beschlossen, sein Werk Mühleberg ebenfalls Ende 2019 freiwillig abzuschalten. Im Zuge der gegenwärtigen Revidierung der Energieperspektiven wird nunmehr aber auch mit einer möglichen Betriebsdauer der Atomkraftwerke von 60 Jahren gerechnet, was dementsprechend ein Auslaufdatum erst im Jahr 2044 ergeben würde. „Die Realität hat die bisher unterlegten 50 Jahre überholt“, merkt dazu Marianne Zünd, die Sprecherin des Bundesamts für Energie, trocken an, betont aber zugleich, dass es sich bei den 60 Jahren um ein Szenario, und nicht um eine Prognose oder Planung handle.45

Überprüfung für eine Laufzeitverlängerung der AKW Im Gegensatz zu anderen Staaten mit AKW, die den einzelnen Kernkraftwerken spezielle Laufzeiten vorgeben, dürfen in der Schweiz AKW so lange betrieben werden, solange das ENSI deren Betrieb als sicher einstuft. Diesbezüglich hat das ENSI sein Regelwerk zu den Auslegungsanforderungen für Kernkraftwerke 2019 aktualisiert. Dementsprechend enthält die Richtli42 Vorlage Nr. 612, BBl 2017 4865. 43 Bundesregierung beschließt Ausstieg aus der Kernkraft bis 2022; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung; https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/ bundesregierung-beschliesst-ausstieg-aus-der-kernkraft-bis-2022-457246 44 http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/die_schweiz_baut_keine_Atom kraftwerke_mehr_1.10699185.html 45 Zitiert bei Stalder, H. Warum der Bund die Kernkraftwerke länger laufen lassen will, NZZ vom 2. Oktober 2019

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nie ENSI-G02/d Anforderungen an in Betrieb stehende Kernkraftwerke, die Richtlinie ENSI-B12/d thematisiert hingegen den Notfallschutz. Zur Verdeutlichung seiner Aufsichtsstrategie über die fünf AKW – sowohl nach außen gegenüber einer interessierten Öffentlichkeit, als auch nach innen gegenüber den eigenen Mitarbeitern – hat das ENSI im Oktober 2019 einen Bericht zur Aufsichtspraxis („Integrierte Aufsicht“) (ENSI-AN-8526) vorgelegt. Dabei stellte das ENSI fest, dass die Überprüfungen allesamt keine gravierenden technischen Mängel bei den fünf AKW ergaben. Im Einzelnen stellte sich die Situation folgendermaßen dar:46 Dem AKW Leibstadt wurde attestiert, dass es sich im Beurteilungszeitraum 2006 bis 2015 sicherheitstechnisch auf einem guten Niveau befand und mit der erforderlichen Sorgfalt betrieben wurde. Es wurde aber auch Verbesserungsbedarf an einigen Brennelementen festgestellt. Eine Fehlfunktion eines Messwertumformers führte zu falschen Messwerten in einem Kanal der Frischdampfdruckmessung und damit zu zwei Reaktorschnellabschaltungen am 24. April und 12. Mai 2019. Was hingegen die Protokollfälschungen bezüglich der Funktionsprüfung mobiler Strahlenmessgeräte sowie von Prüfprotokollen durch einen Mitarbeiter betreffen, so hat das ENSI Strafanzeige erstattet. Am 6. August 2019 führte eine elektrische Störung mit Verlust der 220-kV-Netzanbindung zu einer automatischen Reaktorschnellabschaltung im AKW Beznau-1 und zu einem Lastabwurf auf Eigenbedarf im AKW Beznau-2. Der Schutz von Mensch und Umwelt war aber zu jeder Zeit gewährleistet. Dem AKW Beznau-2 wiederum erteilte der ENSI die Erlaubnis, nach dem Abschluss der Jahresrevision, den Reaktor am 20. September 2019 wieder in Betrieb zu nehmen. Am 15. März 2019 konnte im AKW Gösgen bei einem Test ein Regelventil in einem Strang des Not- und Nachtkühlsystems nicht geöffnet werden. Am 13. Mai 2019 wiederum wurde festgestellt, dass im Ringraum insgesamt 101 Druckmessumformer im Einsatz waren, die nicht auf ihre Eignung für Störfallbedingungen geprüft waren. Sie wurden im Revisionsstillstand 2019 gegen geprüfte Umformer umgetauscht.

Alterungsmanagement in Kernkraftwerken Neben der Aufsichtspflicht des ENSI bestehen aber weitere Sicherungsmittel bezüglich des Altersmanagements der Schweizer AKW. So nehmen die fünf Schweizer AKW und das ENSI seit 2017 an einem internationalen Überprüfungsprozess der „European Nuclear Safety Regulators Group“ (ENSREG) der Europäischen Kommission teil. Ziel des sog. „Topical-Peer46 Kernkraftwerke in der Schweiz, https://www.ensi.ch/de/themen/kernkraftwerkeschweiz/

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Reviews“ ist es, das Alterungsmanagement in den europäischen AKW zu überprüfen und zu verbessern. In diesem Zusammenhang hat das ENSI am 11. Oktober 2019 den Schweizer Aktionsplan zur weiteren Verbesserung der Alterungsüberwachung in Schweizer Kernkraftwerken bei der ­ENSREG eingereicht. Grundlage für den Aktionsplan bildete die Selbstbewertung im Schweizer Länderbericht sowie der Abschlussbericht der ENSREG, der im Mai 2018 erstellt worden war.47 Unter Berücksichtigung der identifizierten Verbesserungsmaßnahmen hat das ENSI Ende 2018 und 2019 Schwerpunktinspektionen in allen Schweizer AKW durchgeführt, um den aktuellen Stand der bestehenden Alterungsüberwachungsprogramme nochmals zu überprüfen.

Entsorgungs- und Endlagerprobleme des Schweizer Atommülls Von 1969 bis 1982 praktizierte die Schweiz die „Verklappung“ auf See, dh sie versenkte insgesamt 5.321 Tonnen schwach und mittelstark radioaktiven Abfall, verpackt in Metallfässer und eingegossen in Beton oder Bitumen, im Nordatlantik. Die größte Lieferung der 23 Sendungen umfasste mehr als tausend Fässer. Sie bediente sich dabei drei „dumping sites“, die 700 bis 800 km vor der französischen und der spanischen Küste lagen und in denen der Schweizer Atommüll in 3.600 bis 4.750 Metern Tiefe deponiert wurde. Insgesamt sind diesbezüglich 7.420 Fässer mit einer Radioaktivität von 4.419,3 Terabecquerel im Atlantik versenkt worden. Auf der weltweiten Rangliste, die auch absichtlich versenkte oder verlorene atombetriebene Schiffe und U-Boote umfasst, liegt die Schweiz mit einem Anteil von 5,2 % damit auf Platz drei, hinter der UdSSR/Russland (44,8%) und Großbritannien (41,4%).48 Die Abfälle stammten aus dem Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR), das in Würenlingen die Reaktoren Saphir und Diorit betreibt, sowie aus dem Schweizerischen Institut für Nuklearforschung (SIN) in Villingen und aus dem 1969 explodierten Versuchsreaktor von Lucens. In den 1970-er Jahren kamen dazu Abfälle aus dem Betrieb der AKW Beznau und Mühleberg hinzu. Insgesamt stammten 43% davon aus dem EIR, 40% aus dem AKW-Betrieb und 17% aus Medizin, Forschung und Industrie. In den frühen 1980-er Jahren begannen diesbezüglich die Proteste von Umweltschutzorganisationen, vor allem von Greenpeace, deren Aktivisten die „Verklappung“ massiv bekämpften und schließlich zu deren Abbruch führten. 1983 wird im Rahmen der London Convention on the Prevention of Marine Pollution by Dumping of Wastes and Other Matter (1972) ein 47 Alterungsmanagement in Kernkraftwerken: Schweizer Aktionsplan bei Europäischer Kommission eingereicht; https://www.ensi.ch/de/2019/10/11/alterungsmana gement-in-kernkraftwerken-schwei... 48 Stalder, H. Wie die Schweiz über Jahre radioaktives Material im Meer entsorgte, NZZ vom 11. November 2019.

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freiwilliges Moratorium beschlossen und die Schweiz unterließ danach vorerst weitere „Verklappungen“. In der Folge erklärte der Energieminister, Adolf Ogi, dass er sich die Option der „Verklappung“ für schwach und mittelstark radioaktiven Abfall weiterhin offenhalten wolle. Erst 1992 ließ der Bundesrat diese Option definitiv fallen. Am 20. Februar 1994 trat in der Folge das in der Londoner Konvention vorgesehene Verbot für die Verklappung von festen atomaren Abfällen in Kraft.49 Was die Zwischenlagerung des radioaktiven Atommülls betrifft, so wird dieser, neben einigen kleineren Lagern neben den einzelnen AKW, seit Juni 2001 im zentralen oberirdischen Zwischenlager (Zwilag) in Würenlingen im Kanton Aargau, wenige km nördlich von Brugg, deponiert. Daneben besteht noch ein Zwischenlager in Beznau, 1 km nördlich vom Zwilag auf der Beznauinsel. Der Plasmaschmelzofen für den Atommüll im Zwilag hatte allerdings eine lange Anlaufzeit, bis er, nach diversen Nachrüstungen und Tests, im März 2004 ordnungsgemäß in Betrieb gehen konnte.50 Als Abgeltung für das Zwilag erhalten die vier Nachbargemeinden von Würenlingen jährlich 1,9 Mio. Franken, und zwar 25 Jahre lang. Was die Problematik eines Endlagers für hochaktiven radioaktiven Abfall51 betrifft, so legte der Bundesrat im November 2018 die Gebiete für die entsprechenden Standortprüfungen wie folgt fest: Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung der radioaktiven Abfälle (Nagra) hat sowohl die Oberflächenstandorte in Weiach und Stadel bzw. Bülach in Nördlich Lägern, als auch die Gebiete Jura Ost im Aargau (Villigen) und das Gebiet Zürich-Nordost (Marthalen oder Rheinau bzw. Trüllikon) als mögliche Deponiestandorte zu prüfen und im Jänner 2019 mit den entsprechenden Sondierbohrungen zu beginnen.52 Bisher wurden diese Standorte mit seismischen 3-D-Messungen erkundet, nunmehr treibt aber die Nagra Sondierbohrungen in den Opalinuston hinein, eine lediglich etwa 100 Meter dicke Schicht, die als Wirtsgestein für die Tiefenlager dienen soll. Das verschwiegene Problem ist dabei die Tatsache, dass die Schweizer Opalinustonschichten im internationalen Vergleich extrem dünn sind. Dazu wird von Seiten der Atomgegner überaus kritisch angemerkt: „Diesen, für Sicherheitsfragen so wichtigen, internationalen 49 Ospar Commission, Historic Dumping of Low-Level Radioactive Waste in the North-East Atlantic; https://www.ospar.org//site/assets/files/1173/factsheet_histo ric_dumping_final.pdf 50 Würenlingen & Atomrisiko: PSI, Atommüll, Plasmaofen, Zwischenlager (Zwilag), Atomfabrik, Paul Scherrer-Institut; https://www.mitwelt.org/print.php?id=116 51 Nach dem Rückbau der Schweizer AKW werden insgesamt ca. 100.000 m3 radioaktiver Abfall vorhanden sein, was etwa dem Volumen der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs entspricht; vgl. Boos, S. Ein netter Hort für strahlenden Müll, WOZ Nr. 26/2011 vom 30. Juni 2011. 52 Stalder, H. Die Suche nach einem Tiefenlager für den Atommüll in der Schweiz geht in die heisse Phase, NZZ vom 22. November 2018.

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Vergleich scheut die Schweizer Atomlobby und die NAGRA wie der Teufel das Weihwasser. Geschickt haben die Durchsetzungsstrategen des Atomlagers diese zentrale Sicherheitsfrage bisher aus der (veröffentlichten) Diskussion herausgehalten“.53 Gestützt auf die Ergebnisse der Sondierungsbohrungen, soll die Nagra bis 2024 ein oder zwei Rahmenbewilligungsgesuche einreichen, die in der Folge vom Bundesrat genehmigt und dem Parlament unterbreitet werden sollen. Mit einem definitiven Bescheid kann diesbezüglich allerdings erst um ca. 2030 gerechnet werden, der dann dem fakultativen Referendum unterliegt. Damit könnte das Lager für schwach und mittelaktive Abfälle 2050 und jenes für hochaktive Abfälle ab 2060 in Betrieb gehen. Sollte das Endlager für hochaktive atomare Abfälle, wie die geologischen Untersuchungen nahelegen, im Weinland, nämlich in Benken, geplant werden, dann müsste im Grunde aber auch die benachbarte Bundesrepublik Deutschland eingebunden werden, damit es nicht zu einem „Gorleben der Schweiz“ kommt. In einer Reihe von Resolutionen verlangt daher die deutsche Bevölkerung des Hochrheingebiets, „in gleichem Umfang wie die Schweizer Bevölkerung“ an der Entscheidungsfindung zu einem geplanten Endlager in Grenznähe beteiligt zu werden.54

Kosten der Stilllegung und Entsorgung Was die Stilllegung der Schweizer AKW und die Entsorgung des atomaren Abfalls betrifft, so wird diese durch die „Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung“ (SEFV) vom 7. Dezember 200755 geregelt, die 2019 revidiert und so angepasst werden soll, dass das Verursacherprinzip eingehalten wird und damit die Steuerzahler nicht Gefahr laufen, dereinst die Entsorgungskosten tragen zu müssen. Es muss dabei vor allem darauf geachtet werden, dass das System zur Sicherstellung der Mittel für Stilllegung und Entsorgung keinen ökonomischen Druck für längere Laufzeiten der AKW erzeugt.56 In der Vernehmlassungsantwort der SES auf die Revision der SEFV wird dazu in concreto festgestellt: „Bei Laufzeiten von unter 50 Jahren oder langen temporären Ausserbetriebnahmen müssen fehlende Beitragsjahre von den Entsorgungspflichtigen ohne Einnahmen alimentiert werden. Dadurch wird ökonomisch Druck aufgebaut, die Atomkraftwerke länger, im Minimum 50 Jahre zu betreiben, was dem Primat der Sicherheit 53 Mayer, A. Atommüll aus Würenlingen wo hin? Unsicherheit für eine Million Jahre; https://www.mitwelt.org/print.php?id=116 54 Heer, C. Atomlager: Widerstand in Deutschland gegen Standort Benken – Alles schläft, der Nachbar wacht; die andere seite, November 2000, S. 6 f. 55 AS 2008 241. 56 Epprecht, N. Stellungnahme zur Revision SEFV, vom 31. Januar 2019; https://www. energiestiftung.ch/stellungnahme/stellungnahme-zur-revision-sefv.html

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zuwiderläuft“.57 Damit ist aber unter Umständen auch bereits einer weiteren Laufzeitverlängerung der Schweizer AKW das Wort geredet. Fazit Es ist bemerkenswert, dass zwei dauernd neutrale Kleinstaaten, die sich noch dazu in Nachbarschaftslage befinden, eine völlig unterschiedliche Politik in Bezug auf die Nutzung der Kernkraft zur Stromerzeugung verfolgen. Im Völkerrechtsverständnis der 1950er-Jahren galten für (dauernd) neutrale Staaten noch strikte Autarkiebestimmungen, aufgrund derer neu­ trale Staaten – zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit – alles zu veranlassen hatten, um nicht durch einen dominanten Außenhandelspartner (auch) in eine politische Abhängigkeit zu geraten. Dementsprechend musste ein dauernd neutraler Staat seine Importe dergestalt diversifizieren, dass er nicht von einem einzigen Zulieferer abhängig war, und damit von diesem politisch „erpressbar“ wurde. Für Österreich traf dies hinsichtlich seiner Energieimporte (Öl, Gas, Kohle etc.) zu, bezüglich derer es in der Nachkriegszeit zu über 80% von den kommunistischen Staaten des Ostblocks (UdSSR, Polen) abhängig war. Erst im Zuge seiner Mitgliedschaft in der EFTA (1960) und seiner Annäherung an die EWG58 im Gefolge der beiden Freihandelsabkommen 197259 konnte es seinen Energiebezug sukzessive umstellen und damit diversifizieren. In der Folge wurde das strikte Autarkieprinzip für dauernd neutrale Staaten in der Staatenpraxis aber grundlegend revidiert. Im Gegensatz zu Österreich vertrat die Schweiz schon immer eine viel stärkere Autarkiepolitik, die es ihr ermöglichen sollte, völlig unabhängig von den jeweiligen Außenhandelspartnern, ihre eigene Politik zu gestalten. Dies traf auch auf ihre Energiepolitik zu, im Rahmen derer sie – neben dem Ausbau der Wasserkraft – verstärkt auf den Ausbau der Kernenergie setzte. Dementsprechend errichtete die Schweiz ab den späteren 1960-er Jahren eine Reihe von AKW, die nunmehr an das Ende ihrer ursprünglich vorgesehenen Laufzeit gekommen sind. Da sie den Umstieg auf alternative Energieformen nicht zeitgerecht vorgenommen hat, muss die Schweiz nunmehr eine Verlängerung der Betriebsdauer ihrer AKW vornehmen, ohne dafür allerdings den Nachbarstaat Österreich in die anstehenden UVP-Prüfungen 57 Schweizerische Energie-Stiftung (SES), Revision der Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung (SEFV). Vernehmlassungsantwort, vom 31. Januar 2019, S. 9. 58 Vgl. Hummer, W. – Schweitzer, M. Österreich und die EWG. Neutralitätsrechtliche Beurteilung der Möglichkeiten der Dynamisierung des Verhältnisses zur EWG (1987). 59 Vgl. Hummer, W. Reichweite und Grenzen unmittelbarer Anwendbarkeit der Freihandelsabkommen, in: Koppensteiner, H.-G. (Hrsg.), Rechtsfragen der Freihandelsabkommen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit den EFTA-Staaten (1987), S. 43 ff.

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einbezogen zu haben. Dasselbe trifft im Grunde auch auf die Auswahl des Endlagers für den schweizerischen hochradioaktiven Abfall zu, wenngleich der dafür wohl in Aussicht genommene Standort Benken, wie vorstehend erwähnt, grenznachbarschaftlich die Bundesrepublik noch stärker belastet, als Österreich. Interessanterweise ist bis jetzt sowohl zur Laufzeitverlängerung der Schweizer AKW, als auch zur Suche eines Endlagers für den hochradioaktiven Abfall derselben, noch keine regierungsamtliche Äußerung Österreichs ergangen. Quelle: EU-Infothek vom 19. November 2019, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 29) PS: An Neuerungen wären in diesem Zusammenhang vor allem folgende zu erwähnen: die Schweizer Kernkraftwerke Beznau und Gösgen sind womöglich ungenügend vor einem sehr seltenen, extremen Hochwasser geschützt. Das AKW Beznau steht auf einer zum Teil künstlich aufgeschütteten Insel und das AKW Gösgen ist ebenfalls nahe an der Aare errichtet, wobei aber die Gefahr weniger vom Wasser, sondern vielmehr von der Bodenbeschaffenheit ausgeht. Dazu wurde im Februar 2021 die Studie „Grundlagen Extremhochwasser Aare-Rhein“ (Exar) veröffentlicht.60 Das ungarische AKW Paks wiederum steht direkt auf einer tektonischen Bruchlinie.61 Was hingegen die zweite AKW-Anlage im slowenischen Krško betrifft, so spezifizierte der slowenische Infrastrukturminister Jernej Vrtovec deren technische Ausstattung wie folgt: Es handelt sich dabei um eine Einheit von 1,1 GW mit einer geschätzten Produktion von 9.000 GW Elektrizität pro Jahr und einer Laufzeit von 60 Jahren. Laut Errichtergesellschaft Gen Energija wird die Planungsdauer im besten Fall fünf Jahre dauern, an die sich weitere fünf Jahre Bauzeit anschließen werden. Das bisherige AKW Krško I wurde 1983, mit einer Laufzeit bis 2023 errichtet. Eine Laufzeitverlängerung von weiteren 20 Jahren wurde beantragt.62

60 Schenkel, L. Die Kernkraftwerke Beznau und Gösgen sind womöglich ungenügend vor einem sehr seltenen, extremen Hochwasser geschützt; nzz.ch vom 19. Juli 2021; vgl. Eisenring, C. Ist der Verzicht auf Atomenergie zeitgemäss?, NZZ vom 26. Juli 2021, S. 20 f.; Müller, G. V. Die Kernkraft ist noch nicht am Ende, NZZ vom 26. Juli 2021, S. 21. 61 Krb, V. Falls sich die Erde plötzlich auftut, Kurier vom 27. Juni 2021, S. 28. 62 Maček, S. First green light for new Slovenian nuclear power station unit, EURACTIV.com, vom 20. Juli 2021.

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Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU

30. Die komplexe Neubesetzung wichtiger Ämter in der EU – verbunden mit einem Blick zurück auf die „Sanktionen der Vierzehn“ Im Zuge der gegenwärtigen personellen Neubesetzung wichtiger Organe der EU haben sich eine Reihe interessanter Fragen ergeben, auf die nachstehend in aller Kürze eingegangen werden soll. Vor allem ist dabei auf die sehr komplexen Auswahl- und Bestellungsvorgänge einzugehen, die noch dazu mehrfach unterbrochen, neu konfiguriert und in der Folge wieder aufgenommen werden mussten. Die Nominierungsverfahren des Präsidenten des Europäischen Rates, der Präsidentin der Europäischen Kommission, des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Präsidentin der Europäischen Zentralbank verliefen nicht immer konfliktfrei, unter anderem auch deswegen, da man dabei vom ursprünglich vereinbarten „Spitzenkandidaten-System“ im Gefolge der Direktwahl des Europäischen Parlaments abwich, und damit die dadurch bereits denominierte Person wieder fallen ließ. Dies betraf den mit großer Mehrheit aus den Wahlen zum Europäischen Parlament hervorgegangenen Spitzenkandidaten der EVP, Manfred Weber, der damit für die Position des Kommissionspräsidenten vorgesehen gewesen wäre, auf Druck des französischen Ministerpräsidenten Macron aber schließlich durch Ursula von der Leyen ersetzt wurde, die aber nicht als Spitzenkandidatin aufgestellt worden war.1 Dieses Virement hatte in der Folge eine Reihe von Umbesetzungen zur Folge. Zuletzt soll noch kurz ein Blick auf den Vater und Mentor des neuen Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, geworfen werden, der zu den wichtigsten Befürwortern der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung im Jahr 2000 gehörte. Die Funktion des Europäischen Rates im Nominierungsprozess der einzelnen Organwalter Die Hauptlast der Nominierung der neuen Führungsspitzen oblag dabei dem Europäischen Rat, der nicht nur seinen eigenen Präsidenten, sondern auch den der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank sowie auch den Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik zu wählen hatte. Neben den Anforderungen der jeweils einschlägigen Bestellungsartikel im EUV hatte der Europäische Rat dabei auch noch die Erklärung Nr. 6 zu Artikel 15 Absätze 5 und 6, Artikel 17 Absätze 6 und 7 und Artikel 18 EUV2 zu beachten, die bestimmt: „Bei der Auswahl der Personen, die das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, des Präsi1 Vgl. Die Nomination von Ursula von der Leyen zeigt, wo die Macht in der EU wirklich liegt, nzz.ch vom 4. Juli 2019. 2 ABl. 2016, C 202, S. 338.

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denten der Europäischen Kommission und des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik ausüben sollen, ist gebührend zu berücksichtigen, dass die geographische und demographische Vielfalt der Union und ihrer Mitgliedstaaten angemessen geachtet werden muss“. Dazu kommen noch weitere allgemeinere Bestimmungen in den Gründungsverträgen der EU, nach denen ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter gewährleistet sein muss. In diesem Zusammenhang hatte der Europäische Rat bereits am 2. Juli 2019 nicht nur seinen eigenen Präsidenten gewählt, sondern auch eine Kandidatin für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission, des Weiteren einen Kandidaten für das Amt des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik und eine Kandidatin für das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank vorgeschlagen. Nachstehend sollen die weiteren Bestellungsvorgänge für diese Organwalter samt ihren jeweiligen Rechtsgrundlagen konkret aufgelistet werden. Präsident des Europäischen Rates Gemäß Art. 15 Abs. 2 EUV setzt sich der Europäische Rat aus den Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Europäischen Kommission zusammen. Der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik nimmt an seinen Arbeiten teil. Gemäß Art. 15 Abs. 5 EUV wählt der Europäische Rat seinen Präsidenten mit qualifizierter Mehrheit. Der Präsident übt sein Amt zweieinhalb Jahre aus; diese Amtszeit kann einmal verlängert werden. Der bisherige Präsident des Europäischen Rates, der Pole Donald Tusk, trat seine erste Amtszeit am 1. Dezember 2014 an und wurde 2017 wiedergewählt. Der bisherige belgische Ministerpräsident Charles Michel wurde am 2. Juli 2019 für die Zeit vom 1. Dezember 2019 bis zum 31. Mai 2022 zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt, wobei der Europäische Rat auch den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der dem Euro-Raum angehörenden neunzehn Mitgliedstaaten begrüßte, Charles Michel für dieselbe Amtszeit zum Präsidenten des „Euro-Gipfels“3 zu ernennen. Der neue Präsident des Europäischen Rates hat sein Amt am 1. Dezember 2019 angetreten.

3 Beim „Euro-Gipfel“, der mindestens zweimal jährlich stattfinden soll, kommen die Staats- und Regierungschefs der dem Euro-Währungsgebiet angehörenden neunzehn Mitgliedstaaten, der Präsident des Euro-Gipfels und der Präsident der Europäischen Kommission zusammen, um strategische Leitlinien zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets vorzugeben. Für die Organisation der Tagungen des EuroGipfels wurden am 14. März 2013 spezifische Regeln angenommen (siehe Generalsekretariat des Rates (Hrsg.), Regeln für die Organisation der Arbeiten des Euro-Gipfels, März 2013).

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Präsident der Europäischen Kommission Gemäß Art. 17 Abs. 7 EUV ist das Verfahren zur Ernennung des Präsidenten der Europäischen Kommission für die nächsten fünf Jahre wie folgt festgelegt: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet“. Des Weiteren ist in der Erklärung Nr. 11 zu Artikel 17 Absätze 6 und 7 EUV4 festgehalten, dass „das Europäische Parlament und der Europäische Rat im Einklang mit den Verträgen gemeinsam für den reibungslosen Ablauf des Prozesses, der zur Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission führt, verantwortlich sind. Vertreter des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates werden daher vor dem Beschluss des Europäischen Rates die erforderlichen Konsultationen in dem Rahmen durchführen, der als am besten geeignet erachtet wird“. Am 2. Juli 2019 nahm der Europäische Rat den Beschluss an, die deutsche Staatsangehörige Ursula von der Leyen dem Europäischen Parlament als Kandidatin für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission vorzuschlagen. Die vorgeschlagene Kandidatin wurde in der Folge am 16. Juli 2019 vom Europäischen Parlament auch dazu gewählt. Am 10. September 2019 hat der Rat, im Einvernehmen mit der designierten Präsidentin Ursula von der Leyen, die Liste der Persönlichkeiten angenommen, die er als Mitglieder der Europäischen Kommission bis zum 31. Oktober 2024 vorschlägt. Diese Persönlichkeiten waren auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten ausgewählt worden. Am 25. November 2019 nahm der Rat, im Einvernehmen mit der designierten Präsidentin Ursula von der Leyen, eine neue Liste derjenigen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Europäischen Kommission bis zum 31. Oktober 2024 vorgeschlagen hat. Am 27. November 2019 stimmte das Europäische Parlament der Ernennung der Kommission Ursula von der Leyens zu. Auf der Grundlage dieser Zustimmung wird nun die Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV).

4 ABl. 2016, C 202, S. 342.

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Hoher Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik Gemäß Art. 18 Abs. 1 EUV ernennt der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des Präsidenten der Europäischen Kommission den Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik. Der Europäische Rat kann die Amtszeit desselben nach dem gleichen Verfahren beenden. Der für fünf Jahre ernannte Hohe Vertreter ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission (Art.  18 Abs.  4 EUV) und führt den Vorsitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ (Art. 18 Abs. 3 EUV). Bei der Erfüllung seines Auftrags stützt sich der Hohe Vertreter auf den „Europäischen Auswärtigen Dienst“ (EAD) (Art.  27 Abs.  3 EUV). Am 2. Juli 2019 benannte der Europäische Rat den bisherigen spanischen Außenminister, Josep Borrell Fontelles, als Kandidat für das Amt des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und am 26. Juli 2019 stimmte die gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dessen Ernennung zu. In der Folge ernannte der Europäische Rat Josep Borrell Fontelles am 6. August 2019 zum Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Am 27. November 2019 wiederum stimmte das Europäische Parlament der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen als Kollegium zu – und zwar mit Josep Borrell Fontelles als Hohem Vertreter und Vizepräsidenten der Europäischen Kommission. Präsident der Europäischen Zentralbank Gemäß Art. 283 Abs. 2 AEUV ernennt der Europäische Rat, auf Empfehlung des Rates, mit qualifizierter Mehrheit den Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) für einen Zeitraum von acht Jahren. Er konsultiert hierbei das Europäische Parlament und den Rat der EZB, der aus den sechs Mitgliedern des Direktoriums der EZB sowie den Präsidenten der Zentralbanken der neunzehn Mitgliedstaaten des Euro-Raumes besteht. Am 2. Juli 2019 drückte der Europäische Rat seine Präferenz für Christine Lagarde als Kandidatin für das Amt des Präsidenten der EZB aus. Im Anschluss daran gab der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ am 9. Juli 2019 eine diesbezügliche förmliche Empfehlung ab und am 25. Juli 2019 übermittelten die EZB sowie am 17. September 2019 auch das Europäische Parlament ihre positiven Stellungnahmen. Dementsprechend konnte der Europäische Rat Christine Lagarde am 18. Oktober 2019 für eine nicht verlängerbare Amtszeit von acht Jahren zur Präsidentin der EZB ernennen. Sie trat ihr Amt am 1. November 2019 an. Schlussbemerkungen Die vorstehende Zusammenstellung der einzelnen Ernennungs- bzw. Bestellungsvorgänge von vier wichtigen Organwaltern zeigt die enorme Kom-

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plexität des Zusammenwirkens unterschiedlicher Organe im Verbandsrecht der EU, das eben nicht gewaltenteilend organisiert ist, wie dies des Öfteren fälschlich dargestellt wird, sondern vielmehr auf einer funktionellen Zuordnung der einzelnen Verbandsgewalten in der EU auf die dafür jeweils am besten geeigneten und kompetentiell dafür am effektivsten ausgestatteten Organe basiert.5 Insoferne kommt es dabei zu gegenseitigen Verflechtungen und Durchdringungen, wie sie im gewaltenteilend organisierten Staatsrecht der Mitgliedstaaten strukturell nicht möglich sind. Aus österreichischer Sicht ist dabei bemerkenswert, dass die überaus wichtige Position des Präsidenten des Europäischen Rates vom bisherigen belgischen Ministerpräsidenten, Charles Michel, dem Sohn von Belgiens früherem Vize-Premier und Außenminister in den Regierungen Verhofstadt I und II, Louis Michel, eingenommen wird. Ohne auch nur im Geringsten eine „Sippenhaftung“ konstruieren zu wollen, muss an dieser Stelle aber doch angemerkt werden, dass Louis Michel einer der führenden Protagonisten in der Verhängung der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen die österreichische Bundesregierung im Jahr 2000 war und dabei, als dessen langjähriger politischer Mentor, wohl oder übel auch seinen Sohn mit beeinflusst hat. Seine Aussage, „dass es unmoralisch sei, in Österreich – unter einer Koalitionsregierung mit Beteiligung der xenophoben FPÖ – seinen Schiurlaub zu verbringen“, ist nach wie vor unvergessen.6 Da diese größte außenpolitische Demütigung, die Österreich in den letzten Jahrzehnten erlitten hat, bereits fast zwanzig Jahre zurückliegt und offensichtlich bereits völlig vergessen zu sein scheint, soll kurz auf sie eingegangen werden, um damit einmal mehr aufzuzeigen, unter welchen Voraussetzungen damals gegen Österreich vorgegangen wurde und wie Österreich darauf reagierte.7 Die heute gegen Polen und Ungarn laufenden Sanktionsverfahren sind damit juristisch nicht zu vergleichen, wenngleich das dabei zum Einsatz gekommene „Frühwarnsystem“ des Art.  7 Abs.  1 EUV erst durch das verfehlte Präjudiz der „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich eingerichtet wurde.8 Auch insoferne lohnt sich ein kurzer Rückblick auf die damalige Situation.

5 Schweitzer, M. – Hummer, W. – Obwexer, W. Europarecht. Das Recht der Europäischen Union (2007), S. 178 f. 6 Vgl. Hummer, W. Späte Genugtuung Frankreichs, Wiener Zeitung vom 30. April 2008, S. 11. 7 Vgl. Hummer, W. Die „Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung – Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht, in: Hummer, W. – Pelinka, A. Österreich unter „EU-Quarantäne“ (2002), S. 50 ff. 8 Vgl. Hummer, W. Erstmals versucht das Europäische Parlament das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn einzuleiten, EU-Infothek vom 23. Mai 2017, S. 1 ff.

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Annex: Die „Sanktionen der Vierzehn“9 Die Regierungsbeteiligung der FPÖ an der Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel wurde von den 14 anderen EU-Mitgliedstaaten als außerhalb der europäischen Werteplattform – niedergelegt in exArt. 6 Abs. 1 EUV, jetzt Art. 2 EUV – stehend angesehen und dementsprechend sanktioniert. Die am 31. Jänner 2000 von der portugiesischen Ratspräsidentschaft angekündigten und am 4. Februar 2000 verhängten „Sank­ tionen der Vierzehn“ umfassten folgende drei Maßnahmen: (a) Mit Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung durften keine offiziellen bilateralen Kontakte auf politischer Ebene unterhalten werden; (b) österreichischen Bewerbern um Posten in Internationalen Organisationen durfte keine Unterstützung gewährt und (c) österreichische Botschafter durften in ihren jeweiligen Empfangsstaaten nur noch auf technischer Ebene empfangen werden.10 Ganz allgemein weigerten sich die Regierungen der 14 Mitgliedstaaten, mit Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung ein „business as usual“ zu pflegen, was sogar so weit ging, dass bei offiziellen Sitzungen des Rates der EU ein Teil der Ratsmitglieder den Sitzungsraum verließ, nachdem ihn ein österreichisches Regierungsmitglied betreten hatte. Die „Sanktionen der Vierzehn“ waren unüberlegt und ohne Ausstiegsszenario konzipiert worden und wurden vor allem auf bloßen Verdacht hin – dass nämlich die ÖVP-FPÖ Koalitionsregierung xenophobe und fremdenfeindliche Aktionen setzen werde – verhängt. Um aus der Situation wieder einigermaßen ohne größeren Gesichtsverlust herauszukommen, wurden vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) drei „Weise“ – bestehend aus dem Finnen Martti Ahtisaari, dem Deutschen Jochen Frowein und dem Spanier Marcelino Oreja – ernannt, die die Haltung der österreichischen Regierung zu den gemeinsamen europäischen Werten zu beurteilen und das politische Programm der FPÖ zu überprüfen hatten. Der am 8. September 2000 vorgelegte „Bericht der drei Weisen“ kam zu einem entlastenden Ergebnis, worauf die französische Präsidentschaft – nach einer Dauer der Sanktionen von sieben Monaten und zehn Tagen (sic) – am 12. September 2000 die „Sanktionen der Vierzehn“ mit sofortiger Wirkung und bedingungslos wieder aufhob, nicht ohne dabei aber wörtlich auf Folgendes hingewiesen zu haben: „Die Natur der FPÖ und ihre ungewisse Entwicklung geben Anlass zu ernsthafter Besorgnis. Die EU-14 sind der Meinung, dass eine besondere Wachsamkeit gegenüber dieser Partei und ihrem Einfluss auf die Regierung ausgeübt werden müsse. Sie sind übereingekommen, diese Wachsamkeit gemeinsam zu praktizieren“. Im Klartext bedeutete das, dass die FPÖ während ihrer Regierungsbeteili9 Vgl. dazu die Artikel Nr. 23 und Nr. 27, vorstehend auf den S. 300 ff. und S. 344 f. 10 Hummer/Pelinka, Österreich unter „EU-Quarantäne“ (Fn. 7), S. 185.

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gung auch nach Aufhebung der Sanktionen nach wie vor unter dem kollektiven „Monitoring“ der 14 EU-Mitgliedstaaten stand.11 Auch nach der Beendigung der Sanktionen verharrten die 14 EU-Mitgliedstaaten längere Zeit in einer Trotzreaktion und waren nicht bereit, ihre Vorgangsweise zu überdenken, geschweige denn, sich bei Österreich wegen dieser vorschnellen „Verurteilung auf Verdacht“ zu entschuldigen und damit Genugtuung zu leisten. Österreich wiederum wehrte sich weder rechtlich noch politisch gegen die Verhängung der Sanktionen und litt in der Folge noch jahrelang an dem damit verbundenen enormen Imageschaden. Quelle: EU-Infothek vom 3. Dezember 2019, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 30)

11 Vgl. Hummer, W. Späte Genugtuung Frankreichs, Wiener Zeitung vom 30. April 2008, S. 11.

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Die nordische Zusammenarbeit und ihre Relevanz für die europäische Integration

31. Die nordische Zusammenarbeit und ihre Relevanz für die europäische Integration Der „Nordische Rat“, der „Nordische Ministerrat“ und der „Westnordische Rat“ im Vergleich Die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten in einer Reihe von Tätigkeitsbereichen sowie deren Relevanz für die einzelnen europäischen Integrationsbemühungen – wie zB denen im Rahmen der EU, der EFTA und des EWR – ist weitgehend unbekannt. Dieser Umstand verblüfft deswegen, da die nordische Zusammenarbeit – als weltweit älteste regionale Partnerschaft1 – nicht nur älter ist als die wirtschaftliche Integration im Rahmen der drei Europäischen Gemeinschaften EGKS (1951), EWG (1957) und EAG (1957)2, sondern auch grundlegende Bedeutung für die Angleichung und Abstimmung der Tätigkeiten der nordischen Staaten in diesen Integrationszonen hat. Aus diesem Grunde soll nachstehend versucht werden, die institutionellen und materiellen Strukturen der nordischen Kooperation kurz darzustellen.3 Institutionell findet die offizielle nordische Zusammenarbeit grundsätzlich in zwei internationalen Foren statt, nämlich dem „Nordischen Rat“ und dem „Nordischen Ministerrat“, wobei dem „Nordischen Rat“ die interparlamentarische und dem „Nordischen Ministerrat“ die intergouvernementale Kooperation obliegt. Daneben besteht mit dem „Westnordischen Rat“ ein weiteres interparlamentarisches Kooperationsforum zwischen drei (west)nordischen Staaten. Materiell fußt die nordische Zusammenarbeit im Wesentlichen auf den Vorgaben des „Helsinki-Vertrags“ vom März 1962. Der „Nordische Rat“ Die aktuelle nordische Zusammenarbeit zwischen den Königreichen Dänemark, Norwegen und Schweden sowie den Republiken Finnland und Island und den autonomen Selbstverwaltungsgebieten der Ålandinseln (innerhalb Finnlands) und der Färöer und Grönland (innerhalb Dänemarks), lässt sich bis in das 19. Jhdt. zurückverfolgen.4 1 Formal Nordic co-operation; https://www.norden.org/en/information/formal-nor dic-co-operation 2 Vgl. Turner, B. – Nordquist, G. The Other European Community. Integration and Cooperation in Nordic Europe (1982). 3 Vgl. dazu Berg, A. Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat. Organe für die Zusammenarbeit der nordischen Staaten. Eine Darstellung aus rechtlicher Sicht (1988); Wetterberg, G. The United Nordic Federation (2010); Nergelius, J. – Jarass, L. Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat, in: Hatje, A. – Müller-Graff, P.-C. (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht (2014), S. 1149 ff. 4 Vgl. Putensen, D. Nordische Zusammenarbeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kattinger, D. – Putensen, D. – Wernicke, H. (Hrsg.), „Huru thet war talet j kalmarn“:

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Anfang der 1950er Jahre kam es dann zur ersten Institutionalisierung der Kooperationsprozesse durch die Gründung eigener internationaler Organisationen, als nämlich 1952 der „Nordische Rat“ von Dänemark, Island, Norwegen und Schweden gegründet wurde, dem Finnland 1955 beitrat. Neben diesen fünf Mitgliedstaaten bestehen drei Assoziierte Mitglieder, nämlich die Ålandinseln (seit 1970), die Färöer (seit 1970) und Grönland (seit 1984). 1991 kamen drei Beobachter, nämlich die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen hinzu, und 2016 erhielt Schleswig-Holstein, ein deutsches Bundesland, ebenfalls einen Beobachterstatus im „Nordischen Rat“. Die Satzung des „Nordischen Rates“ wurde in der Folge in den Vertrag über die Kooperation zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden vom 23. März 1962, den sog. „Helsinki-Vertrag“ (HV)5, aufgenommen (Art. 44 bis 59 HV) und durch die Geschäftsordnung des Art. 59 HV näher präzisiert. Die nordische Zusammenarbeit wird gemäß den Art. 2 bis 37 HV in folgende sieben Tätigkeitsfelder aufdifferenziert: rechtliche, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie die Kooperation im Verkehrsund Fernmeldewesen, im Umweltschutz und in sonstigen Angelegenheiten. Gem. Art.  40 HV werden diese Aufgaben durch den „Nordischen Rat“ wahrgenommen, allerdings nur in Form nicht-bindender Handlungsformen. So kann er Meinungen äußern, Empfehlungen abgeben, Stellungnahmen aussprechen und seine Standpunkte darlegen, wofür lediglich eine einfache Mehrheit erforderlich ist. Seine diesbezügliche Arbeit wird in fünf Fachausschüssen koordiniert (Kultur/Bildung/Ausbildung, Sozialwesen, Bürger- und Verbraucherrechte, Umwelt/natürliche Ressourcen sowie Unternehmen/Industrie). Organisatorisch setzt sich der „Nordische Rat“ aus 87 gewählten Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen, deren Amtszeit ein Jahr beträgt und die – so wie das Europäische Parlament – Fraktionen ausgebildet haben. Derzeit ist der „Nordische Rat“ in folgende fünf Fraktionen unterteilt: Konservative, Mitte, Sozialdemokraten, linkssozialistische Grüne und nordische Freiheit.6 Darüber hinaus können die nationalen Regierungen der fünf nordischen Staaten sowie der drei Selbstverwaltungsgebiete eine beliebige Anzahl von Regierungsvertretern in den „Nordischen Rat“ entsenden, die aber nicht stimmberechtigt sind. Union und Zusammenarbeit in der Nordischen Geschichte. 600 Jahre Kalmarer Union (1397–1997) (1997), S. 388 ff. 5 Der Treaty of Co-operation between Denmark, Finland, Iceland, Norway and Sweden (Helsinki Treaty) trat am 1. Juli 1962 in Kraft und wurde in der Folge mehrfach novelliert und erweitert (1971, 1974, 1983, 1985, 1991, 1993 und 1995); Nordic Council of Ministers and Nordic Council (ed.), The Helsinki Treaty (2018). 6 Nergelius/Jarass, Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat (Fn. 3), S. 1153.

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Der „Nordische Rat“ umfasst drei Organe, nämlich die Plenarversammlung, das Präsidium sowie die Ständigen Ausschüsse. Der Sitz der Organe befindet sich in Kopenhagen.7 Der „Nordische Ministerrat“ Neben dem „Nordischen Rat“ wurde am 13. Februar 1971 der „Nordische Ministerrat“ durch eine Novellierung des „Helsinki-Vertrages“ in Form einer weiteren internationalen Organisation gegründet (Art. 60 bis 67 HV). Trotz naturgemäß enger Verflechtungen zwischen beiden Institutionen ist der „Nordische Ministerrat“ eine eigenständige Organisation im Verhältnis zum „Nordischen Rat“. Der „Nordische Ministerrat“ setzt sich aus den nationalen Regierungen der fünf Mitgliedstaaten Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, einschließlich deren autonomen Selbstverwaltungsgebieten der Ålandinseln, Färöer und Grönland8 zusammen. Im Gegensatz zum „Nordischen Rat“, der wie vorstehend erwähnt, nur politische Impulse setzen und unverbindliche Empfehlungen erlassen kann, kann der „Nordische Ministerrat“ bindende Entscheidungen fällen. Organisatorisch sind die Ministerpräsidenten der Mitgliedstaaten zuständig für die Gesamtkoordination des „Nordischen Ministerrates“. Dabei werden sie von ihren jeweiligen Ministern für Zusammenarbeit sowie einem Regierungsbeamten des nationalen Ausschusses für nordische Zusammenarbeit unterstützt (Art. 61 Abs. 2 HV). Sie tagen einmal im Jahr und zusätzlich zu besonderen Gelegenheiten, wie beispielsweise vor Treffen des Europäischen Rates der EU. In der Praxis delegieren die Ministerpräsidenten ihre Verantwortung an den Ausschuss der Minister für Zusammenarbeit, der fünf bis sechs Mal im Jahr tagt. Die Ministerpräsidenten ernennen ein Präsidium, das die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Regierungen koordiniert und entsprechende Maßnahmen initiiert. Die Präsidentschaft des „Nordischen Ministerrates“ rotiert unter den Mitgliedstaaten im Jahresrhythmus, wobei der präsidierende Mitgliedstaat nie zugleich das Präsidium des „Nordischen Rates“ stellen darf.9 Der „Nordische Ministerrat“ tagt in elf Formationen – womit er in seiner Struktur derjenigen des Rates der EU gem. Art. 16 Abs. 6 EUV nahe7 Vgl. Anderson, S. V. The Nordic Council. A Study of Scandinavian Regionalism (1967). 8 Durch das „Åland-Dokument“, das am 5. September 2007 in Mariehamn von den Ministern für nordische Kooperation unterzeichnet wurde, wurde den Ålandinseln, den Färöer und Grönland ein größerer Mitwirkungsspielraum in der nordischen Kooperation eingeräumt; vgl. About the Nordic Council of Ministers; https://www. norden.org/en/information/about-nordic-council-ministers 9 Nergelius/Jarass, Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat (Fn. 3), S. 1155.

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kommt – und trifft sich zweimal pro Jahr. Die bindenden Beschlüsse des „Nordischen Ministerrates“ können nur mit Einstimmigkeit gefasst werden, sodass jeder Regierung ein Vetorecht zusteht. Ausgenommen von der Einstimmigkeit sind aber Beschlüsse, die gemäß den einzelstaatlichen Verfassungen die Genehmigung des Parlaments voraussetzen. Diese sind solange nicht bindend, solange nicht die erforderliche parlamentarische Genehmigung eingeholt wurde. Der „Nordische Ministerrat“ wird von Ausschüssen aus Regierungsbeamten und einem Sekretariat unterstützt, dessen Sitz sich ebenfalls in Kopenhagen befindet. Am 19. Juni 2019 einigten sich die Minister für nordische Zusammenarbeit auf eine neue Vision für den „Nordischen Ministerrat“, die in der Folge am 20. August 2019 von den Premierministern einstimmig verabschiedet wurde. Demgemäß soll die nordische Region der nachhaltigste und inte­ grierteste Raum der Welt werden. Um diese Vision zu verwirklichen, wird der „Nordische Ministerrat“ in den nächsten vier Jahren drei Schwerpunkte setzen, nämlich eine grüne, eine wettbewerbsfähige und eine sozial nachhaltige nordische Region auszubilden. Der Herbst 2019 soll dafür genützt werden, um diese Vision in den nordischen Ländern, im „Nordischen Rat“, in der Zivilgesellschaft und in der Geschäftswelt in der gesamten nordischen Region aktiv zu unterstützen.10 Das Verhältnis des „Nordischen Rates“ zum „Nordischen Ministerrat“ Der „Nordische Ministerrat“ legt dem „Nordischen Rat“ jedes Jahr einen Bericht über die nordische Zusammenarbeit sowie Pläne für zukünftige Kooperationsmöglichkeiten vor. Ergänzend dazu legt der Ministerpräsident des Staates, der im „Nordischen Ministerrat“ die Präsidentschaft innehat, dem „Nordischen Rat“ einen Bericht über die Grundzüge der Zusammenarbeit in nordischen, europäischen und internationalen Angelegenheiten vor. In diesem Zusammenhang sind die Mitglieder des „Nordischen Rates“ befugt, zu jedem Bericht über die nordische Zusammenarbeit Fragen an den „Nordischen Ministerrat“ zu richten. Bereiche der Zusammenarbeit zwischen dem „Nordischen Rat“ und dem „Nordischen Ministerrat“ Die Tätigkeitsfelder der nordischen Zusammenarbeit lassen sich gem. der Art. 2 bis 37 HV in folgende sieben Bereiche aufdifferenzieren: Rechtliche Zusammenarbeit, kulturelle Zusammenarbeit, soziale Zusammenarbeit, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Zusammenarbeit im Umweltschutz, Zusammenarbeit im Verkehrs- und Fernmeldewesen sowie Zusammenarbeit in 10 Vgl. Gestrin, M. Die nordische Region soll die nachhaltigste und integrierteste der Welt werden, vom 16. September 2019; https://euobserver.com/stakeholders/145956

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sonstigen Angelegenheiten. Nachstehend sollen die wichtigsten Kooperationsbereiche kurz angesprochen werden. Im Bereich der rechtlichen Zusammenarbeit (Art. 2 bis 7 HV) ist, parallel zum Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit iSv Art. 18 AEUV in der EU, eine Gleichstellung aller Bürger der nordischen Staaten untereinander einzurichten (Art. 2 HV). Daneben soll aber auch die Privatrechtsvereinheitlichung intensiviert (Art. 4 HV), das materielle Strafrecht angeglichen, die grenzüberschreitende Verfolgung von Straftaten vereinfacht (Art. 5 HV) und die grenzüberschreitende Vollstreckung von Urteilen ermöglicht werden (Art. 7 HV). Hier sind Parallelen zur – allerdings binnenmarktbezogenen – Privatrechtsangleichung sowie der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen in der EU ersichtlich (Art. 81, 82 ff., 114 ff. AEUV), doch liegen diesen Harmonisierungsvorstellungen im Unterschied zum Unionsrecht nicht die verklammernden konzeptionellen Zielsetzungen eines Binnenmarktes (Art.  3 Abs.  3 EUV, Art.  26 Abs.  2 AEUV) und eines allgemeinen Freizügigkeitsraumes im Rahmen von Sicherheit und Recht (Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV) zugrunde.11 Dieser „Mangel“ wird aber im Verhältnis der nordischen Staaten – die einerseits Mitglieder der EU (Dänemark, Finnland und Schweden) und andererseits Mitglieder der EFTA (Island, Norwegen) sind – untereinander, als Teilbereich des einheitlichen „Europäischen Wirtschaftsraums“ (EWR),12 durch das verpflichtende „Homogenitätsprinzip“ im EWR kompensiert. Im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Art.  18 bis 25 HV) sollen gemeinsame Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten sowie Harmonisierungen in den Bereichen von Investitionen und grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehrsaktivitäten ausgearbeitet bzw. herbeigeführt werden. Daneben sollen bestehende Handelsbarrieren beseitigt und ein abgestimmtes Vorgehen innerhalb des internationalen Handelsrechts angestrebt werden. Auch hier ist das vorerwähnte „Homogenitätsprinzip“ im EWR für die nordischen Staaten zu beachten. Wichtigste Errungenschaft ist in diesem Zusammenhang die Errichtung der „Nordic Investment Bank“, die bereits 1975 durch die fünf nordischen Staaten erfolgte und der 2005 die drei baltischen Staaten beitraten.13 Im Bereich der Zusammenarbeit im Verkehrs- und Fernmeldewesen (Art.  26 bis 29 HV) soll vor allem die Freizügigkeit zwischen den nordischen Staaten gefördert werden. So wurden bereits 1952 die Passkontrollen zwischen den nordischen Staaten abgeschafft und in der Folge wurde 1958 11 Nergelius/Jarass, Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat (Fn. 3), S. 1157. 12 Hummer, W. K.III. Sonderbeziehung EG-EFTA, in: Dauses, M. Handbuch des EUWirtschaftsrechts, Bd. 2 (1998), S. 1 ff.; Hummer, W. – Pribas, S. Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR). Die Sonderbeziehung EG/EU – EFTA bis zum „Brexit“, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 51. Ergänzungslieferung, Oktober 2020, K.III. 13 Nordic Investment Bank, Constituent Documents. Grunddokument, o. J., S. 3.

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die „Nordic Passport Union“ gegründet. Mit der Errichtung des „Schengen-Systems“ in der EU im Jahre 1985/199014 wurde aber zwischen dem EU-Mitgliedstaat Schweden und den EFTA- und EWR-Staaten Norwegen und Island wieder eine strikt zu kontrollierende Schengen-Außengrenze geschaffen, die diese beiden Staaten in der Folge dazu veranlasste, sich an das „Schengen-System“ zu assoziieren, was 2001 dann auch geschah.15 Im Bereich der Zusammenarbeit in sonstigen Angelegenheiten (Art. 33 bis 37 HV) geht es vor allem darum, das Auftreten der nordischen Staaten in anderen internationalen Organisationen besser aufeinander abzustimmen und diese gegebenenfalls auch auf ein einheitliches Vorgehen in diesen auszurichten. Auch soll die diplomatische Protektion der nordischen Staaten, ähnlich wie in Art. 23 AEUV vorgesehen, auch auf Staatsangehörige anderer nordischer Staaten ausgedehnt, und die Entwicklungshilfe und die Öffentlichkeitsarbeit außerhalb der nordischen Staaten untereinander besser koordiniert werden. Was die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betrifft, so scheiterte der Versuch der Errichtung einer „Skandinavischen Verteidigungsunion“ zum einen an den Beitritten Dänemarks, Islands und Norwegens zur NATO 1949, zum anderen an Schwedens Neutralitätspolitik sowie auch an Finnlands speziellen Beziehungen zu Russland.16 Ansätze einer militärischen Kooperation ergaben sich erstmals mit der Errichtung des „Nordic Batallion“ im Rahmen der beiden UN-Friedensmissionen in der Ehemaligen Jugos­lawischen Republik Mazedonien (UNPREDEP) sowie in Bosnien und Herzegowina (UNMIBH), die in der Folge durch die „Nordic Battle Group“ im Rahmen der EU-Eingreiftruppe fortgeführt werden. Erwähnenswert sind des Weiteren die Beziehungen der nordischen zu den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die 1991 zur gegenseitigen Eröffnung diplomatischer Vertretungsbehörden geführt haben. Auch der Beitritt der baltischen Staaten zur EU im Jahre 2004 wurde von den nordischen Staaten sehr gefördert. Im Übrigen sind nordische und baltische Staaten gemeinsam Mitglieder im Ostseerat. 2008 wurden erstmals Richtlinien für die nordisch-baltische Zusammenarbeit zwischen 2009 und 2013 erlassen,17 die in der Folge auch verlängert wurden. Auch mit der Russländischen Föderation und Weißrussland werden seitens der nordischen Staaten koordinierte Beziehungen unterhalten, wozu eigene Informationsbüros eingerichtet und einschlägige Richtlinien erlassen wurden.

14 Vgl. Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen Besitzstand (ABl. 2008, L 115, S. 290 ff.). 15 Beschluss 2000/777/EG des Rates vom 1. Dezember 2000 (ABl. 2000, L 309, S. 24 ff.). 16 Vgl. Wetterberg, G. The United Nordic Federation (Fn. 3), S. 73. 17 Nergelius/Jarass, Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat (Fn. 3), S. 1160.

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Der „Westnordische Rat“ Der „Westnordische Rat“ wurde am 24. Dezember 1985 als „Westnordischer Rat der parlamentarischen Zusammenarbeit“18 gegründet und 1997 in „Westnordischer Rat“ umbenannt. Er ist ein wirtschaftliches, politisches und kulturelles Kooperationsforum der Parlamente von Grönland, Island und den Färöer, die jeweils sechs Vertreter zu den einzelnen Ratstreffen entsenden. Der „Westnordische Rat“ besteht unabhängig vom „Nordischen Rat“, obwohl seine drei Mitglieder in dieser internationalen Organisation ebenfalls vertreten sind. Organisatorisch wird der „Westnordische Rat“ von einem dreiköpfigen Präsidium geleitet, dessen Vorsitz im jährlichen Turnus zwischen den Mitgliedsländern wechselt. Die täglichen Geschäfte werden von einem, auf vier Jahre bestellten, Generalsekretär besorgt. Die Hauptversammlung, die jedes Jahr im August tagt, ist als Themenkonferenz konzipiert. Die Ziele des „Westnordischen Rates“ bestehen vorrangig in der Förderung westnordischer Interessen und deren effektiver Durchsetzung im „Nordischen Rat“. Dazu kommen noch weitere Zielsetzungen, wie zB die Bewahrung der natürlichen Ressourcen im Nordatlantik uam. Verhältnis der nordischen zur europäischen Integration Den nordischen Staaten kommt durchaus eine Vorreiterrolle im Rahmen der europäischen Integration zu, haben sie doch bereits vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowohl einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, als auch eine Passunion ausgebildet,19 zwei weitreichende Integrationsschritte, die aber von den Gründungsvätern der Europäischen Gemeinschaften, wenn überhaupt, nicht als unmittelbar nachzuahmende Initiativen zur Kenntnis genommen wurden. Durch die (Mit)Begründung der EFTA im Jahre 1960 durch Dänemark, Norwegen und Schweden sowie die assoziierte Mitgliedschaft Finnlands (1961) und den weiteren Beitritt Island (1970) begann sich der Impetus der nordischen Integration merklich zu verlangsamen. Durch den Beitritt Dänemarks zur EWG (1973) und die beiden Beitritte Finnlands und Schwedens zur EU (1995) wurde die nordische Integration weiter geschwächt, ein Effekt, der sich durch die (Mit)Gründung des einheitlichen Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) durch die beiden nordischen Staaten Norwegen und Island im Jahre 1994 noch verstärkte. Durch die harmonisierende Funktion des Homogenitätspostulates im EWR sind die beiden nordischen EWR-Staaten Norwegen und Island stark binnenmarktzentriert, was Island in der Folge auch dazu veranlasst hat, am 17. Juli 2009 einen Beitritts18 https://www.vestnordisk.is/vestnordiskrad/charter-og-rekommandationer/ 19 Vgl. Cameron, D. Nordic Co-operation, in: Wolfrum, R. (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2008), Rdnr. 25.

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antrag zur EU zu stellen, den es aber am 12. März 2015 wieder zurückzog.20 Dazu kam die Errichtung des „Schengen-Raumes“ durch die Schengener Abkommen (1985/1990), an dem sich in der Folge alle nordischen Staaten beteiligten, wodurch die Nordische Passunion an Bedeutung verlor. Obwohl die nordischen Staaten mit dem „Nordischen Rat“ und dem „Nordischen Ministerrat“ zwei ideale Instrumente für die Koordinierung ihres Vorgehens in den Organen sowohl der EU, als auch im EWR hätten, geschieht dies derzeit nur selten,21 was vor allem darin seine Erklärung findet, dass sich der Schwerpunkt der nordischen Zusammenarbeit gegenwärtig von der wirtschaftlichen auf die kulturelle Ebene iSd Betonung der skandinavischen Identität zu verlagern beginnt.22 Dementsprechend kam es auch nicht zur Verwirklichung der bereits im Herbst 2015 ventilierten Anregung, dass der „Nordische Rat“ und der „Nordische Ministerrat“ ein gemeinsames Büro in Brüssel einrichten sollten. Ein Kompromissvorschlag sah in der Folge vor, anstelle eines ständigen Büros die befristete Entsendung einer Liaison-Person nach Brüssel ins Auge zu fassen. Aber auch diese Initiative scheiterte, da zum einen die nordischen Regierungen in ihren Vorstellungen bezüglich der Funktion und Zukunft der EU teils weit auseinander lagen und zum anderen auch eine gewisse Skepsis vorherrschte, den „Nordischen Ministerrat“ mit mehr Rechten und Kompetenzen ausstatten zu müssen, damit sich unter seiner Ägide eine effektive Kooperation mit der EU verwirklichen ließe.23 Fazit Aufgrund der Ähnlichkeit in Kultur, Sprache und in den sozialen Strukturen hat die nordische Zusammenarbeit – ohne aber über umfassende Beschlusskompetenzen zu verfügen – zu einer sehr einheitlichen Entwicklung der nordischen Gesellschaften beigetragen. Durch diese „soft power“ ist die nordische Region zur zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht worden, obwohl in ihr lediglich 26 Mio. Menschen leben. Das Gesamtbudget für die Nordische Zusammenarbeit im Jahr 2020 beträgt 130 Mio. Euro, von denen fast 20% für kulturelle Belange ausgegeben werden. Wie vorstehend bereits erwähnt, einigten sich die Ministerpräsidenten im Schoß des „Nordischen Ministerrates“ am 20. August 2019 in Reykjavik 20 Vgl. Hummer, W. Die formelle Zurückziehung der Schweizer Beitrittsgesuche zu den Europäischen Gemeinschaften – notwendig oder überflüssig?, in: Ziegerhofer, A. – Ferz, S. – Polaschek, M. (Hrsg.), Zukunft Europa? FS für J. W. Pichler (2017), S. 215 ff. 21 Jochem, S. Die politischen Systeme Skandinaviens (2012), S. 213, 220. 22 Vgl. Nergelius/Jarass, Der Nordische Rat und der Nordische Ministerrat (Fn. 3), S. 1161. 23 Vgl. Opitz, C. – Etzold, T. Auf der Suche nach neuer Relevanz, SWP-Aktuell 2, Januar 2018, S. 7.

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auf eine neue, gemeinsame Vision, um die nordische Region bis 2030 zur nachhaltigsten und integriertesten der ganzen Welt zu machen.24 Island, das 2020 die rotierende Jahrespräsidentschaft des „Nordischen Rates“ von Schweden übernimmt, hat damit die ehrenvolle, aber schwierige Aufgabe, mit der Umsetzung dieser Vision in praxi zu beginnen. Quelle: EU-Infothek vom 2. Januar 2020, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 31) PS: Ende April 2021 nahm der Nordische Rat im Rahmen eines online „kickoff-meeting“ formelle Beziehungen mit dem Europäischen Parlament auf und vereinbarte in diesem Zusammenhang, jährlich ein formelles Meeting mit diesem abzuhalten. Ganz allgemein soll die Kooperation der interparlamentarischen Zusammenarbeit folgen, die das Europäische Parlament bereits mit Island, Norwegen und dem „Westnordischen Rat“ pflegt. Der Nordische Rat ist dabei durch seinen Präsidenten Bertel Haarder, die Vizepräsidentin Annette Lind und die beiden EU-Berichterstatter Oddny˙ Hardardóttir und Linda Modig, vertreten.25 Bereits im September 2017 hatte der Nordische Rat eine Vertretung in Brüssel eröffnet, um mit den Einrichtungen der EU enger kooperieren zu können.26

24 Kirk, L. Wie soft power die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt aufbaute, vom 28.  Oktober 2019; https://euobserver.com/nordic/146415; Gestrin, Die nordische Region soll die nachhaltigste und integrierteste der Welt werden (Fn. 10). 25 https://www.norden.org/en/news/nordic-council-enters-formal-relations-europeanparl... 26 Nordic Council (ed.), International Strategy of the Nordic Council 2018–2022, S. 3.

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32. Erstmals verhängt die Europäische Union Sanktionen wegen Cyber-Angriffen Einführung Am 30. Juli 2020 verhängte der Rat der EU erstmals restriktive Maßnahmen gegen sechs physische Personen – vier Russen und zwei Chinesen – sowie gegen drei chinesische, nordkoreanische und russische Unternehmen, die für eine Reihe von verschiedenen Cyber-Attacken verantwortlich, oder zumindest an diesen nachgewiesenermassen beteiligt, waren. Diese bestanden unter anderem in unbefugten Zugriffen auf wirtschaftlich sensible Daten von Internationalen Organisationen bzw. multinationalen Unternehmen, die sich vor allem gegen die „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ („Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons“, OPCW) mit Sitz in Den Haag in den Niederlanden richteten und in der fachkundigen Öffentlichkeit als „WannaCry“, „NotPetya“ oder „EternalPetya“ und „Operation Cloud Hopper“ bekannt sind. Obwohl diese Cyber-Angriffe nicht unmittelbar gegen die EU oder deren Mitgliedstaaten gerichtet waren, konnten sie deswegen seitens der EU sanktioniert werden, da diese Mitte Mai 2019 eine Verordnung über restriktive Maßnahmen gegen Cyberangriffe, die die Union oder ihre Mitgliedstaaten bedrohen, erlassen hatte. Diese Verordnung gehörte zu den Maßnahmen, die im Rahmen der EU für eine gemeinsame diplomatische Reaktion auf böswilliger Cyber-Aktivitäten – im Sinn des bereits im Juni 2017 konzipierten „gemeinsamen Instrumentenkasten“ („Cyber Diplomacy Toolbox“) – vorgesehen waren. Das Interessante an diesem ersten Einsatz der Cyber-Sanktionen ist der Umstand, dass es eigentlich einigermaßen lange gedauert hat, bis diese zum Einsatz gekommen sind. Seit nunmehr beinahe zehn Jahren bemüht sich die EU, Maßnahmen zur Bekämpfung der Cyberkriminalität zu ergreifen, nachdem bereits 2012 bekannt wurde, dass jeden Tag weltweit schätzungsweise 1 Mio. Menschen Opfer von Cyberstraftaten werden und sich der dadurch entstandene finanzielle Schaden auf weltweit rund 388 Mrd. US-$ jährlich beläuft.1 Für die genaue Nachvollziehbarkeit dieser extrem komplexen Vorgänge und deren vertieftes Verständnis soll zunächst ein Blick auf die tatsächliche Lage der Gefährdungen im Cyber-Raum geworfen und danach die ersten Maßnahmen der EU zur Erhöhung der Cybersicherheit dargestellt werden. In der Folge soll dann die Umsetzung dieser operativen und strategischen Bemühungen durch konkrete Rechtsakte veranschaulicht werden, wobei – ganz bewusst in chronologischer Folge – auf die jeweiligen Rechtsakte detailliert verwiesen wird. Erst dann ergibt sich nämlich ein genaues Bild, wie 1 EU-Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität und zum Verbraucherschutz beim elektronischen Geschäftsverkehr, IP/12/317, S. 1.

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die EU, im Rahmen ihrer begrenzten Kompetenzen, überhaupt in der Lage war, auf die jeweiligen Herausforderungen im Cyber-Raum entsprechend zu reagieren. Verwundbarkeit des Cyber-Raumes Mit der weltweiten Nutzung von Netz- und Informationssystemen sowie elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste und der damit verbundenen Probleme ergab sich auch für die EU die Notwendigkeit, an der Schaffung einer kohärenten internationalen Cyber-Raumpolitik maßgeblich mitzuwirken. Nach Ansicht der EU sollten dabei die gleichen Normen, Grundsätze und Werte, für die die EU außerhalb des Internets („offline“) eintritt – wie zB Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit uam – auch innerhalb desselben („online“) im Cyber-Raum gelten und dort auch entsprechend geschützt werden. In den vergangenen Jahrzehnten wurden zum einen die enormen Vorteile der Digitalisierung, zum anderen aber auch die Anfälligkeiten des digitalen Umfeldes gegenüber böswilligen bzw. strafbaren Handlungen immer deutlicher. Die Bedrohungen können dabei auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden: sie können kriminell oder politisch motiviert sein, und es kann sich auch um terroristische oder staatlich unterstützte Anschläge, Naturkatastrophen oder unbeabsichtigte Fehler handeln. Dabei muss zwischen Cybercrime im engeren Sinn – das sind kriminelle Handlungen, bei denen Angriffe auf Daten oder Computersysteme unter Ausnutzung der Informations- und Kommunikationstechnik begangen werden – und Cybercrime im weiteren Sinn – bei dem es sich um Straftaten handelt, bei denen die Informations- und Kommunikationstechnik als Mittel zur Planung, Vorbereitung und Ausführung von herkömmlichen Kriminaldelikten, wie etwa Betrugsdelikten – eingesetzt wird. Es wird dabei immer deutlicher, dass für die notwendige Cybersicherheit entsprechende Vorgaben in Bezug auf Transparenz, Verantwortlichkeit und Sicherheit notwendig sind. Neben der nationalstaatlichen und völkerrechtlichen Ebene ist in diesem Zusammenhang auch die EU aufgefordert, unionsrechtlich für „Cybersicherheit“ zu sorgen und „Cyberkriminalität“ zu sanktionieren. Die ENISA als prototypisches Element des Wandels im Cyber-Raum Als Reaktion auf die Schlussfolgerung des Europäischen Rates auf seiner Tagung vom 23./24. März 2001, dass der Rat, in Zusammenarbeit mit der Kommission, eine umfassende Strategie für die Sicherheit elektronischer Netze, einschließlich praktischer Durchführungsmaßnahmen, entwickeln soll, legte die Kommission am 6. Juni 2001 eine Mitteilung über „Sicherheit der Netze und Informationen: Vorschlag für einen europäischen Politikan­

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satz“2 vor. In der Folge erließen das Europäische Parlament und der Rat am 7. März 2002 die Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmen­ richtlinie)3, gemäß derer die nationalstaatlichen Regulierungsbehörden unter anderem sowohl untereinander als auch mit der Kommission zusammenarbeiten sollen, um die Integrität und Sicherheit der öffentlichen Kommunikationsnetze zu gewährleisten. Dazu bedurfte es aber zunächst der Schaffung eines Fachzentrums auf europäischer Ebene, das Orientierungshilfe, Beratung und auf Anfrage auch Unterstützung anbieten, und das vom Europäischen Parlament, der Kommission oder von den in den einzelnen Mitgliedstaaten benannten zuständigen Stellen in Anspruch genommen werden kann. Dementsprechend wurde durch die, auf Art. 95 EGV4 gestützte, Verordnung (EG) Nr. 460/2004 vom 10. März 20045 auch die „Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit“ (ENISA) (ENISA I) eingerichtet und gem. ihrem Art. 27 auf fünf Jahre terminisiert. Durch zwei weitere Verordnungen6 wurde das Mandat der Agentur dann bis zum 13. September 2013 verlängert. In der Folge wurde die, nunmehr bereits auf Art. 114 AEUV gestützte, Verordnung über die Errichtung der (ENISA I) durch die weiterführende Verordnung (EU) Nr. 526/2013 vom 21. Mai 2013 über die Agentur der EU für Netz- und Informationssicherheit (ENISA)7 (ENISA II) aufgehoben, die besser auf die sich dramatisch geänderten Umständen für die Gewährleistung einer hohen und effektiven Netz- und Informationssicherheit reagieren sollte. Der zeitliche Geltungsbereich der als Rechtsnachfolgerin der (ENISA I) errichteten (ENISA II) wurde gem. Art. 36 auf weitere sieben Jahre, dh bis zum 19. Juni 2020 erstreckt. Der außerordentlichen Dynamik im Cyber-Raum geschuldet, wurde auch die, ebenfalls auf Art. 114 AEUV gestützte, Verordnung zur Errichtung von ENISA (II), in der Folge durch die weitere Verordnung (EU) 2019/881 vom 17. April 20198 über die ENISA und über die Zertifizierung der Cybersicherheit von Informations- und Kommunikationstechnik ­(ENISA III), aber wieder aufgehoben. Diese (ENISA III)-Verordnung trat am 27. Juni 2019 in Kraft und richtete ein zusätzliches System für die Zertifizierung der Cybersicherheit von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ein. Unberührt bleiben von dieser Verordnung die Zu2 KOM(2001) 298 endg. 3 ABl. 2002, L 108, S. 33 ff. 4 Jetzt Art.  114 AEUV; diese Bestimmung regelt die Rechtsangleichung im Binnenmarkt. 5 ABl. 2004, L 77, S. 1 ff. 6 VO (EG) Nr. 1007/2008 (ABl. 2008, L 293, S. 1) und VO (EG) Nr. 580/2011 (ABl. 2011, L 165, S. 3). 7 ABl. 2013, L 165, S. 41 ff. 8 ABl. 2019, L 151, S. 15 ff.

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ständigkeiten der Mitgliedstaaten für Tätigkeiten mit Bezug auf die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die nationale Sicherheit und das staatliche Handeln im strafrechtlichen Bereich. Gem. ihrem Art. 68 Abs. 4 wird die (ENISA III) nunmehr auf unbegrenzte Zeit errichtet. Weitere Maßnahmen der EU zur Erhöhung der Cybersicherheit Nachstehend sollen, in aller Kürze, die wichtigsten strategischen Maßnahmen der EU zur Erhöhung der Cybersicherheit aufgelistet werden – und zwar, zur leichteren Nachverfolgbarkeit, mit genauer Angabe ihres Erlasses. So legte die Kommission am 19. Mai 2010 eine Mitteilung über eine „Digitale Agenda für Europa“9 vor, die sich mit Fragen der Cyberkriminalität, der Computersicherheit, der Sicherheit im Internet und des Datenschutzes befasste, die für das Vertrauen der Nutzer des Internet und deren Schutz von grundlegender Bedeutung sind. Am 22. November 2010 nahm die Kommission eine „EU-Strategie der inneren Sicherheit“ an10, in der sie ihre Absicht, ein „Europäisches Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität und zum Verbraucherschutz beim elektronischen Geschäftsverkehr“ zu schaffen, ankündigte11, das dann am 11. Januar 2013 im Schoß des Europäischen Polizeiamtes (Europol) in Den Haag, unter der Leitung von Troels Oerting, tatsächlich eingerichtet wurde.12 In der Folge arbeiteten die Kommission und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik am 7. Februar 2013 die „Cybersicherheitsstrategie der EU – ein offener, sicherer und geschützter Cyberraum“13 aus, in der folgende fünf strategische Prioritäten festgelegt wurden: – Widerstandsfähigkeit gegenüber Cyberangriffen, – drastische Eindämmung der Cyberkriminalität, – Entwicklung einer Cyberverteidigungspolitik und von Cyberverteidigungskapazitäten im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU, – Entwicklung der industriellen und technischen Ressourcen für die Cybersicherheit und – Entwicklung einer einheitlichen Cyberraum-Strategie der EU auf internationaler Ebene und Förderung der Grundwerte der EU. Am 7. Mai 2014 legte die Kommission ihre Vorschläge zur „InternetPolitik und Internet-Governance – Europas Rolle bei der Mitgestaltung der Zukunft der Internet-Governance“14 vor, und am 11. Februar 2015 erließ 9 KOM(2010) 245 endg. 10 IP/10/1535; MEMO/10/598. 11 IP/12/317. 12 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_13_13 13 COM JOIN (2013) 1 final, S. 5 ff. 14 COM(2014) 72 final/2.

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der Rat (Allgemeine Angelegenheiten) schließlich „Schlussfolgerungen zur Cyberdiplomatie“15, die die Ausbildung einer gemeinsamen Cyber-Strategie anregten. Dabei stimmte der Rat zu, einen Rahmen für eine gemeinsame diplomatische Reaktion der EU auf böswillige Cyberaktivitäten zu entwickeln, wozu er am 19. Juni 2017 auch die „Toolbox für Cyberdiplomatie“ („Cyber Diplomacy Toolbox“)16 einrichtete, einen „gemeinsamen Instrumentenkasten“, aus dem die entsprechenden Sanktionen gegen die jeweiligen Cyberattacken entnommen werden sollten. Diese Sanktionen müssten allerdings in einem angemessenen Verhältnis zu Umfang, Dauer, Intensität, Komplexität und Auswirkungen der Cyberaktivitäten stehen.17 Am 16. April 2018 nahm der Rat in der Folge Schlussfolgerungen zu böswilligen Cyberaktivitäten an und äußerte sich dabei besorgt über die Zunahme der Aktivitäten krimineller Akteure. Am 28. Juni 2018 und am 18. Oktober 2018 forderte auch der Europäische Rat die Intensivierung der Arbeiten zur Verbesserung der Fähigkeiten, auf Cyber-Angriffe zu reagieren und diese entsprechend abzuwehren. Am 12. April 2019 wiederum gab der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Namen der EU eine Erklärung ab, in der er die Notwendigkeit betonte, die auf Regeln basierende Ordnung im Cyberspace zu respektieren, die Akteure im Netz aufforderte, keine böswilligen Cyberaktivitäten – einschließlich des Diebstahls von geistigem Eigentum – mehr durchzuführen und alle Partner dazu aufforderte, die internationale Zusammenarbeit zu intensivieren, um die Sicherheit und Stabilität im Cyberspace zu stärken.18 Unter Bezugnahme auf „Coronavirus-bedingte“ böswillige Cyberaktivitäten, die vor allem kritische Infrastrukturen betreffen, emittierte der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, am 30. April 2020 eine weitere Erklärung im Namen der EU über die „Gewährleistung der Cybersicherheit in Zeiten von Coronavirus“.19 Seit Beginn der Pandemie wurden bedeutende Phishing- und Malware-Verteilungskampagnen, Scan-Aktivitäten und DDoS-Angriffe (Distributed Denial-of-Ser15 Rat Dok 6122/15. 16 Rat Dok 9916/17 vom 7. Juni 2017, Annex S. 3 ff.; vgl. WK 2569/2017 INIT. 17 Cyber-Angriffe: Die EU ist bereit, mit einer Reihe von Maßnahmen, einschließlich Sanktionen, zu reagieren, Pressemitteilung des Rates der EU vom 19. Juni 2017; ­https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2017/06/19/cyber-diplo macy-toolbox/ 18 Cyber-Angriffe: Der Rat kann jetzt Sanktionen verhängen, Rat Pressemitteilung vom 17. Mai 2019; https://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2019/ 05/17/cyber-attacks-council-is-now-able-to-impose-sanctions/ 19 Erklärung des Hohen Vertreters Josep Borrell im Namen der EU zu böswilligen Cyberaktivitäten, die die Coronavirus-Pandemie ausnutzen; https://www.consili um.europa.eu/en/press/press-releases/2020/04/30/declaration-by-the-high-repre sentative-josep-borrell-on-behalf-of-the-europe…

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vice) festgestellt, von denen einige kritische Infrastrukturen betreffen, die für die Bewältigung dieser Krise unerlässlich sind. Zur Veranschaulichung der Dimension der Cyber-Attacken sei in diesem Zusammenhang nur auf das österreichische Beispiel verwiesen: So wurden 2019 österreichweit 28.439 Cybercrime-Delikte angezeigt, während es 2018 noch 19.627 waren, was eine Zunahme um gut 45 Prozent bedeutet.20 Konkrete Rechtsakte zur Verhängung von Sanktionen Unter Berücksichtigung all dieser strategischen und operativen Vorgaben nahm der Rat am 17. Mai 2019 den auf Art. 29 EUV gestützten „Beschluss (GASP) 2019/797 über restriktive Maßnahmen gegen Cyberangriffe, die die Union oder ihre Mitgliedstaaten bedrohen“21, an, in dem festgestellt wird, dass gezielte restriktive Maßnahmen gegen Cyber-Angriffe mit erheblichen Auswirkungen, die eine externe Bedrohung für die Union oder ihre Mitgliedstaaten darstellen, zu den Maßnahmen gehören, die im Rahmen der Union für eine gemeinsame diplomatische Reaktion auf böswillige CyberAktivitäten iSd vorerwähnten „Toolbox für Cyberdiplomatie“ enthalten sind. Restriktive Maßnahmen können auch als Reaktion auf Cyber-Angriffe mit erheblichen Auswirkungen auf Drittstaaten oder Internationale Organisationen angewendet werden, sofern dies zur Erreichung der in Art. 21 EUV festgelegten gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Ziele (GASP) als notwendig erachtet wird. Der Beschluss (GASP) 2019/797 galt bis zum 18. Mai 2020, konnte aber gem. seinem Art. 10 bis zum 18. Mai 2021 verlängert werden, was durch den Beschluss (GASP) 2020/651 des Rates vom 14. Mai 202022 auch geschah. Der Beschluss (GASP) 2019/797 wurde in der Folge durch den auf der Basis von Art.  29 EUV fußenden Beschluss (GASP) 2020/1127 des Rates vom 30. Juli 2020 zur Änderung des Beschlusses (GASP) 2019/79723 hinsichtlich seines Anhangs geändert, womit auf den versuchten Cyberangriff zur Untergrabung der Integrität der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) sowie auf die öffentlich als „WannaCry“, „NotPetya“ bzw. „EternalPetya“ und „Operation Cloud Hopper“ bekannten CyberAngriffe reagiert werden sollte. In diesem Zusammenhang werden sechs natürliche Personen und drei Körperschaften in die Liste der natürlichen und juristischen Personen aufgenommen, die restriktiven Maßnahmen unterliegen, „um zu verhindern, zu entmutigen, abzuschrecken und auf anhaltendes und zunehmendes böswilliges Verhalten im Cyberspace zu reagieren“. Dementsprechend wurde der Anhang zum Beschluss (GASP) 2019/797 nunmehr wie folgt geändert (Art. 1): 20 21 22 23

Empl, J. Auf Angriffsszenarien vorbereiten, SN vom 8. August 2020, S. 14. ABl. 2019, L 129 I, S. 13 ff. ABl. 2020, L 153, S. 4. ABl. 2020, L 246, S. 12 ff.

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Anhang Die folgenden Personen und Organisationen bzw. Einrichtungen werden in die Liste der natürlichen und juristischen Personen, Organisationen und Einrichtungen im Anhang des Beschlusses (GASP) 2019/79724 aufgenommen:

Natürliche Personen 1. GAO Qiang: Chinese, beteiligt an der „Operation Cloud Hopper“, die auf das „Hacken“ von Informationssystemen von Multinationalen Unternehmen auf sechs Kontinenten – darunter Unternehmen in der EU – abzielte, und dabei unerlaubten Zugriff auf wirtschaftlich sensible Daten erlangte, was zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führte. Die „Operation Cloud Hopper“ wurde von dem öffentlich als „APT10“ („Advanced Persistent Threat 10“) bezeichneten Täter – auch bekannt als „Red Apollo“, „CVNX“, „Stone Panda“, „MenuPass“ und „Potassium“ – durchgeführt. Gao Qiang kann aber nicht nur mit APT10 in Verbindung gebracht werden, sondern auch mit dem Unternehmen Huaying Haitai, das für die Unterstützung der „Operation Cloud Hopper“ zuständig ist. Ebenso verfügt er über persönliche Kontakte zu Zhang Shilong. 2. ZHANG Shilong: Chinese, ebenfalls an der „Operation Cloud Hopper“ beteiligt und dementsprechend auch sowohl mit Huaying Haitai, als auch mit Gao Qiang, in Verbindung. Zhang Shilong kann auch mit APT10 in Verbindung gebracht werden, und zwar über die Schadsoftware, die er im Zusammenhang mit den Cyberangriffen von APT10 entwickelt und getestet hat. 3. MININ Alexey Valeryevich: Russe, als für „human intelligence“ zuständiger Mitarbeiter der Hauptdirektion des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation (GU/GRU), gehörte Alexey Minin einem Team von vier Beamten des russischen Militärgeheimdienstes an, die im April 2018 versuchten, sich unbefugt Zugang zum WiFi-Netz der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) in Den Haag zu verschaffen. Der niederländische militärische Nachrichten- und Sicherheitsdienst (Militaire Inlichtingen- en Veiligheidsdienst, MIVD) wehrte aber diese versuchte Cyberattacke ab und bewahrte damit die OPCW vor schwerem Schaden. 4. MORENETS Aleksei Sergeyvich: Russe, ebenfalls am versuchten CyberAngriff auf das WiFi-Netzwerk der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) in Den Haag im April 2018 beteiligt. 5. SEREBRIAKOV Evgenii Mikhaylovich: Russe, ebenfalls am versuchten Cyber-Angriff auf das WiFi-Netzwerk der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) in Den Haag im April 2018 beteiligt. 24 ABl. 2020, L 246, S. 12 ff.

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6. SOTNIKOV Mikhaylovich: Russe, ebenfalls am versuchten Cyber-Angriff auf das WiFi-Netzwerk der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) in Den Haag im April 2018 beteiligt.

Juristische Personen, Organisationen und Körperschaften 1. Tianjin Huaying Haitai: Chinesisches Unternehmen, leistete finanzielle, technische oder materielle Unterstützung für die Durchführung der „Operation Cloud Hopper“. Huaying Haitai kann daher mit APT10 verknüpft werden und beschäftigte darüber hinaus Gao Qiang und Zhang Shilong. 2. Chosun Expo: Nordkoreanisches Unternehmen, leistete finanzielle, technische oder materielle Unterstützung von Cyber-Angriffen, wie „WannaCry“, die vom öffentlich als „APT38“ (Advanced Persistent ­Threat 38“) oder als „Lazarus Group“ bekannten Täter durchgeführt wurden. Ebenso führte es Cyber-Angriffe gegen die polnische Finanzaufsichtsbehörde und Sony Pictures Entertainment durch. Daneben ist es für Cyber-Diebstähle von Daten der Bangladesh Bank und versuchter Cyber-Diebstähle von Daten der Vietnam Tien Phong Bank verantwortlich. 3. Hauptzentrum für Spezialtechnologien (GTsST) der Hauptdirektion des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation (GU/GRU): Russisches Unternehmen, führte ua Cyber-Angriffe gegen das ukrainische Stromnetz in den Wintermonaten 2015 und 2016 durch, die zu einer Abschaltung von Teilen des Netzes führten. Ebenso richtete es auch im Juni 2017 weitere Cyber-Attacken gegen eine Reihe von Unternehmen, die als „NotPetya“ oder „EternalPetya“ bekannt wurden. Die CyberAngriffe „NotPetya“ oder „EternalPetya“ machten Daten in einer Reihe von Unternehmen nicht nur in der EU, sondern in ganz Europa bzw. sogar weltweit unzugänglich, indem sie auf Computer mit Ransomware abzielten und den Zugriff auf Daten blockierten. Die Planung dafür ging von dem öffentlich als „Sandworm“ bekannten Täter – auch bekannt als „Sandworm Team“, „BlackEnergy Group“, „Voodoo Bear“, „Quedagh“, „Olympic Destroyer“ und „Telebots“ – aus. Parallel dazu erließ der Rat am 17. Mai 2019 die Verordnung (EU) 2019/796 über restriktive Maßnahmen gegen Cyberangriffe, die die Union oder ihre Mitgliedstaaten bedrohen“25. Diese, auf Art. 215 AEUV gestützte, Verordnung, gilt für Cyber-Angriffe mit erheblicher Auswirkung, einschließlich versuchter Cyber-Angriffe mit potenziell erheblichen Auswirkungen, die eine externe Bedrohung für die Union oder ihre Mitgliedstaaten darstellen (Art. 1).

25 ABl. 2019, L 129 I, S. 1 ff.

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Auch diese Verordnung wurde in der Folge durch die Durchführungsverordnung (EU) 2020/1125 des Rates vom 30. Juli 202026, dahingehend ergänzt, dass in sie ein identer Anhang – wie derjenige zum vorstehenden Beschluss (GASP) 2019/797 – aufgenommen wurde. Die restriktiven Maßnahmen bestehen in diesem Zusammenhang in einem Reiseverbot sowie dem Einfrieren von Vermögenswerten für natürliche Personen sowie für Unternehmen oder Einrichtungen. Darüber hinaus ist es Personen und Organisationen in der EU untersagt, den aufgeführten Personen bzw. Organisationen oder Körperschaften direkt oder indirekt Mittel zur Verfügung zu stellen.27 Die Sanktionen sind Optionen aus der vorerwähnten „Toolbox“, auf die sich die Mitgliedstaaten bereits im Juni 2017 verständigt hatten. Eine Motivation für die Verhängung der Sanktionen zum jetzigen Zeitpunkt scheint die drastische Zunahme cyber-krimineller Aktivitäten im Zuge der Corona-Pandemie zu sein, die sich unter anderem gegen das Gesundheitswesen sowie andere kritische Infrastrukturen richten.28 Am 30. April 2020 hatte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, in einer Erklärung, die er im Namen der EU abgab, bekräftigt, dass Versuche, „die Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen zu beeinträchtigen“, nicht hingenommen werden können.29 Schlussbetrachtungen Der erstmalige Einsatz des neuen Sanktionsregimes der EU gegen Cyberangriffe richtet sich spektakulär gegen die weltweit wichtigsten staatlichen Akteure in dieser Materie, nämlich den russischen Militärgeheimdienst GRU sowie den chinesischen Staatssicherheitsdienst. Konkret sind von den angedrohten Maßnahmen – wie Einfrieren von in der EU belegenen Vermögen, oder Einreiseverbote – physisch vier russische GU/GRU-Agenten und zwei Chinesen, denen ein Naheverhältnis zum Staatssicherheitsdienst nachgesagt wird, betroffen.30 Sowohl die russischen, als auch die chinesischen Aktivisten sind bereits durch frühere Cyber-Attacken bekannt. So wurden die vier Russen im Jahr 26 ABl. 2020, L 246, S. 4 ff. 27 Die EU verhängt die ersten Sanktionen gegen Cyber-Angriffe, Pressemitteilung des Rates vom 30. Juli 2020. 28 Vgl. Roos, U. EU sanktioniert erstmals russische und chinesische Cyberkriminelle; https://www.heise.de/news/EU-sanktioniert-erstmals-russische-und-chinesischeCyber... 29 Erklärung des Hohen Vertreters Josep Borrell im Namen der EU zu böswilligen Cyberaktivitäten, die die Coronavirus-Pandemie ausnutzen, Pressemitteilung des Rates vom 30. April 2020. 30 Vgl. Rettman, A. Erster Einsatz neuer EU-Sanktionen gegen Russland, China-Hacker, EUOBSERVER vom 31. Juli 2020; https://euobserver.com/foreign/149086?utm_ source=euobs&utm_medium=email

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2000 dabei ertappt, wie sie versuchten, die Labors der OPCW in Den Haag zu „hacken“, in denen unter anderem der Ursprung des russischen Nervengifts Nowitschok untersucht wurde, mit dem andere GU/GRU-Agenten zwei Jahre zuvor, nämlich am 4. März 2018, in Salisbury einen Mordanschlag auf Sergei Skripal und dessen Tochter Julija verübt hatten.31 Die beiden chinesischen Spione sowie ihr Unternehmen Tianjin Huaying Haitai wiederum hatten von spätestens 2006 bis 2018 mindesten 45 westliche Technologiefirmen bestohlen. Im Übrigen seien sie bereits von den USA sanktioniert worden.32 Was hingegen die Sanktionierung juristischer Personen betrifft, so sind davon eine chinesische Scheinfirma und ein staatliches nordkoreanisches Unternehmen erfasst, das unter anderem auch hinter dem Datendiebstahl beim Filmstudio Sony Pictures steht. Bei diesen Sanktionen ist aber grundsätzlich festzuhalten, dass die EU expressis verbis nicht die Regierungen Russlands, Chinas und Nordkoreas beschuldigt, wenngleich die sanktionierten Personen als „Staatsbeamte“ und die Scheinfirmen als „staatsnah“ eingestuft werden müssen. Die Reaktionen von Russland und China auf diese Sanktionen der EU erfolgten prompt und unmissverständlich: Das russische Außenministerium betrachtete die Sanktionen als „unfreundlichen Akt“, der nicht unbeantwortet bleiben dürfe, und drohte mit Maßnahmen, die, wie immer in der Diplomatie, „spiegelbildlich“ sein würden. Die chinesische Regierung wiederum zeigte sich „tief besorgt“ über die Sanktionen der EU, und der Sprecher des Außenministeriums, Wang Wenbin, erklärte am 31. Juli 2020 vor der Presse, dass Peking die Entwicklung genau verfolgen werde. Zum einen sei die Nachverfolgung von Cyber-Attacken hoch komplex und heikel, und zum anderen habe die EU selbst erklärt, dass die Sanktionen nicht auf ein bestimmtes Land abzielen würden. China hoffe, dass die EU „nicht zu strafenden oder konfrontativen Maßnahmen“ greifen werde, und im Übrigen sei China selbst eines der Opfer von Cyber-Angriffen.33 Am 13. Juli 2020 kündigte die im Vorsitz befindliche deutsche Bundesregierung an, dass seitens der EU gegen russische Hacker, die für den Cyberangriff auf den deutschen Bundestag im Jahr 2015 verantwortlich waren, Sanktionen verhängt werden sollten. Dabei wurden rund 16 Gigabyte an Daten, Dokumenten und E-Mails aus dem Bundestagsnetz gestohlen, da­ runter auch Tausende von E-Mails aus dem Büro von Bundeskanzlerin An31 Rüesch, A. Chemiewaffen-Organisation bestätigt Einsatz von Nowitschok, NZZ vom 12. April 2018; https://www.nzz.ch/international/salisbury-opwc-bestaetigteinsatz-von-nowitschok-ld... 32 Vgl. Grimm, O. EU-Cybersanktionen als Warnung an Russland und China, Die Presse vom 1. August 2020, S. 11. 33 EU-Sanktionen gegen Hacker: Russland plant Gegenmaßnahmen, China „tief besorgt“; https://www.heise.de/news/EU-Sanktionen-gegen-Hacker-Russland-plantGegenmass...

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gela Merkel. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann wäre es nicht nur der zweite Sanktionsfall der EU an sich, sondern auch der erste, der sich direkt gegen Russland richten würde.34 Quelle: EU-Infothek vom 12. August 2020, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 32)

34 Berlin will erstmals EU-Cyber-Sanktionen gegen Russland anwenden, EUOBSERVER, vom 13. 7. 2020; https://euobserver.com/tickers/148923.

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„Petro“ und „Petro oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen

33. „Petro“ und „Petro oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen Erfolgreiches Experiment oder gescheiterter Versuch? Einführung Erstmals in der Wirtschaftsgeschichte überhaupt führt ein Land eine eigene Kryptowährung ein, koppelt diese virtuelle Währung an die bestehende Landeswährung und schafft damit eine noch nie dagewesene Parallelwährung. Da sich dieses währungspolitische Novum in einem lateinamerikanischen Land ereignet, von dem kaum Informationen nach Europa dringen, ist diese außerordentliche Situation in den europäischen Medien (noch) nicht entsprechend dargestellt und vertieft worden. Auch die Europäische Union (EU) wäre gut beraten, dieses „Jahrhundert-Experiment“1 genau zu verfolgen, nachdem sie bereits – ausgelöst durch die von Facebook 2019 initiierte Einführung der Kryptowährung „LIBRA“ – begonnen hat, die Natur und die möglichen Auswirkungen virtueller Währungen auf den Binnenmarkt zu untersuchen.2 Mit der gegenständlichen Darstellung wird erstmals in einem österreichischen Medium versucht, diesen singulären Vorgang in aller Kürze darzustellen und zu kommentieren. Es handelt sich dabei um den Versuch des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, die finanzielle Misere seines Landes durch die Begebung zweier Kryptowährungen, nämlich des „PETRO“ und des „PETRO oro“ – zu beheben. Wenngleich dieses Experiment der erstmaligen Einführung einer virtuellen Währung durch die Regierung eines Staates nach gegenwärtigem Informationsstand mehr oder weniger als gescheitert anzusehen ist, verdient dessen Darstellung aufgrund seiner Vorbildwirkung größte Beachtung, noch dazu, wo dabei eine Reihe bisher unbekannter Rechtsfragen aufgetreten sind, die noch einer dogmatisch zufriedenstellenden Lösung harren. Die mit der gegenständlichen Problematik verbundenen komplexen Fragestellungen können aus Platzgründen nachstehend nur angedeutet, nicht aber entsprechend vertieft werden. Die Konsequenzen der Einführung einer Kryptowährung als virtuelle Währung eines Landes sind nicht nur äußerst vielschichtig, sondern in praxi überhaupt erst am Beispiel des „PETRO“ 1 Zschäpitz, H. Mit dem Krypto-Trick wagt Venezuela ein Jahrhundert-Experiment, Die Welt, vom 20. August 2018; https://www.welt.de/wirtschaft/article181238842/ Venezuela-Nicolas-Maduro-koppelt... 2 Vgl. dazu Steinschaden, J. Libra: Facebooks Kryptowährung gerät ins Visier der ­Europäischen Kommission, vom 21. August 2019; https://www.trendingtopics.at/ libra-facebooks-kryptowaehrung-geraet-ins-visier-der-e...; EU-Kommission schaut Facebook-Währung Libra näher an, heise online, vom 22. August 2019; https:// www.heise.de/newsticker/meldung/EU-Kommission-schaut-Facebook-Waehru...

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„Petro“ und „Petro oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen

und „PETRO oro“ virulent geworden. Es gilt daher, zunächst die Gründe und die Art der Einführung dieser beiden Kryptowährungen durch die venezolanische Regierung aufzuzeigen, um diese danach mit der noch eher spärlichen Literatur über virtuelle Währungen zu kontrastieren. Dabei wird vor allem darauf zu achten sein, festzustellen, inwieweit sich die venezolanische Regierung, bewusst oder unbewusst, vom bisherigen Erkenntnisstand der Konstruktion und des Einsatzes von Kryptowährungen entfernt und eine spezielle Vorgangsweise gewählt hat. Danach soll diese und ihre Spezifika näher dargestellt und die Gründe für deren voraussichtliches Scheitern aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang ist allerdings festzustellen, dass zum einen die erste Fassung des von der venezolanischen Regierung am 30. Jänner 2018 herausgegebenen „Weißbuchs“ zur Einführung des „PETRO“3 mehr als unscharf abgefasst ist,4 und zum anderen die dazu ergangenen Kommentare naturgemäß ebenso unpräzise sind. Ebenso verhält es sich mit der von der Regierung Venezuelas und der Nationalen Behörde für Kryptowährungen und damit verbundener Aktivitäten („Superintendencia Nacional de Criptoactivos y Actividades Conexas, SUNACRIP) in der Folge herausgegebenen weiteren Fassung des „Weißbuches“5, die ebenfalls nicht vertieft auf die damit verbundenen währungsrechtlichen Probleme eingeht. In den lateinamerikanischen Publikationen kommt diesbezüglich noch der Umstand hinzu, dass diese in der Regel von einem stark politisierenden Ansatz ausgehen und dementsprechend auch die mangelnde Legalität und Legitimität von Präsident Nicolás Maduro, dem „Erfinder“ des „PETRO“ und des „PETRO oro“, in ihre Aussagen mit einbeziehen, was deren dogmatische Qualität beeinträchtigt. Auf der anderen Seite wiederum verfügen die wenigen europäischen Kommentatoren nicht immer über die notwendigen Detailkenntnisse, um die wahren Hintergründe dieser historisch ersten Begebung einer durch Bodenschätze und sonstige Wertsachen besicherten Kryptowährung durch einen souveränen Staat exakt nachvollziehen zu können. Aus diesem Grund wird nachstehend der „Spagat“ versucht – auch unter Berücksichtigung der wenigen einschlägigen Publikationen europäischer und lateinamerikanischer Provenienz – eine beiden Ansätzen gerecht werdende Darstellung und Würdigung der Begebung und Wirkung der beiden venezolanischen Kryptowährungen „PETRO“ und „PETRO oro“ zu geben. 3 PETRO – Papel Blanco, Versión Beta 0.9, 30 de enero de 2018; https://albaciudad. org/2018/01/descarga-white-paper-criptomoneda-petro-venezuela/; vgl. Decreto 3.355 vom 9. April 2018, Gaceta Oficial 6.371 und 6.373. 4 Vgl. Rob, E. Kryptowährung Petro: Alle Fakten auf einen Blick (2018), vom 24. November 2018, S. 2; https://blockchain-hero.com/kryptowaehrung-petro/ 5 Whitepaper (Libro Blanco) del Petro (PTR). Hacia la Revolución Digital Económica, 1 de octubre de 2018.

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Idee und Funktion des „PETRO“ In seiner wöchentlichen TV-Sendung „Los Domingos con Maduro“ vom 3. Dezember 2017 kündigte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro Moros völlig überraschend die Einführung einer Kryptowährung mit dem Namen „PETRO“ (PTR)6 – eine Kurzform für das Wort Erdöl („petróleo“) – an.7 Damit sollte die weltweit erste staatliche Kryptowährung geschaffen werden.8 Die Idee der Lancierung einer landeseigenen virtuellen Währung geht, laut vorerwähntem „Weißbuch“ zur Einführung des PETRO, an sich auf den 2013 verstorbenen Vorgänger von Nicolás Maduro, Hugo Chavez, zurück,9 der die Einführung einer durch die venezolanischen Bodenschätze besicherten eigenen Währung gefordert hatte, um der Dominanz des amerikanischen Dollars zu entgehen. Auch die Ideen der bolivarianischen Revolution in Venezuela trugen das ihre dazu bei, und veranlassten Präsident Maduro, eine „souveräne“ digitale Währung einzuführen, die auch zu einer „Demokratisierung“ der Wirtschaft auf weltweiter Ebene führen sollte.10 Mit dem PETRO will die venezolanische Regierung, parallel zur Landeswährung, dem Bolívar, eine, vor allem an den Wert des Öls gebundene, digitale Währung schaffen, die sich unabhängig vom US-Dollar entwickeln soll. Mit dieser Kryptowährung strebt die venezolanische Regierung, laut dem gleichzeitig veröffentlichten „Weißbuch“ zur Einführung des PETRO, ein breites Funktionsspektrum an, nämlich: a) einen Vermögenswert zum Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie Fiat-Geld zu schaffen, b) eine digitale Plattform für die Ausgabe von und den Handel mit stabilen Krypto-Ressourcen, die vor allem durch Rohmineralien abgesichert sind, zu errichten, c) ein Speichermedium für Ersparnisse zu gestalten, sowie d) ein Investitionsinstrument bereitzustellen. Befürworter versprechen sich hiervon, die Vorteile der BlockchainTechnologie – darunter ist eine rasche und sichere Übertragung von Werten, ohne die notwendige Einbeziehung einer dritten Instanz, zu verstehen – mit den Vorzügen von Bar- und Buchgeld, insbesondere Wertstabilität, Vertrau6 http://www.elpetro.gob.ve/; ¿Como funciona la criptomoneda en Venezuela?, https:// www.twlwsurtv.net/telesuragenda/Criptomoneda-en-Venezuela-20171204-0037... 7 Kryptowährung soll Venezuelas Wirtschaft retten, SPIEGEL Online vom 4. Dezember 2017, S. 1. 8 Lediglich Estland und Dubai verfolgen ähnliche Pläne einer amtlichen Kryptowährung; García Marco, D. 6 claves para entender el petro, la criptomoneda lanzada por el gobierno de Venezuela, vom 21. Februar 2018; https://www.bbc.com/mundo/ noticias-america-latina-43136611 9 Vgl. Horch, P. Venezuela: Mit Petro kommt die erste staatliche Kryptowährung, ICO startet am 20.2.; https://www.btc-echo.de/venezuela-mit-petro-kommt-dieerste-staatliche-kryptowaehr... 10 Whitepaper (Libro Blanco) del Petro (PTR) (Fn. 5), S. 2.

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en und allgemeine Akzeptanz, kombinieren zu können. Es würde sich dabei – allerdings untypisch für Kryptowährungen – um Zentralbankgeld handeln, das von Privatperson zu Privatperson in Echtzeit übertragbar wäre. Neben diesen monetären Überlegungen verbindet die venezolanische Regierung mit der Auflage des Petro aber auch eine Reihe (außen)politischer Effekte, vor allem der Umgehung der US-amerikanischen Sanktionen. Venezuela will mit dem Petro ein alternatives virtuelles Zahlungsmittel und -system schaffen, das von den USA nicht kontrolliert und sanktioniert werden kann. Es obliegt der vorerwähnten Nationalen Behörde für Kryptowährungen und damit verbundener Aktivitäten (SUNACRIP), für den jeweiligen Wechselkurs des PETRO, im Rahmen der außenhandelspolitischen Verflechtungen bei Verkaufs- und Ankaufsgeschäften, entsprechend „intelligente“ Verträge auszuarbeiten. Auf der Website des Schatzamtes für Kryptowährungen (Tesorería de Criptoactivos de Venezuela, S.A, TCV)11 figurieren diesbezüglich die jeweiligen Wechselkurse für den Ankauf von PETROs – zahlbar in der Landeswährung Bolívar – in jeder anderen internationalen Währung oder auch Kryptowährung. Die Lancierung des „PETRO“ und „PETRO oro“ Der Vorverkauf (Initial Coin Offering, ICO) für den „PETRO“ lief, laut Aussage von Vizepräsident Tareck El Aissami, vom 20. Februar bis zum 19.  März 2018 über die offizielle Homepage der venezolanischen Regierung.12 Die erste Auszahlung erfolgte auf der Ethereum-Plattform als Standard-ERC20-Token,13 wobei der Preis des „PETRO“ mit dem eines Barrel Rohöl (159 l), in Höhe von 60 US-$, festgelegt wurde. Auf diesen 38,4% Pre-Sale der insgesamt ausgegebenen 100 Mio. PETRO-Münzen, folgte ein 44% Public Sale, während 17,6% der Münzen im Besitz der im Dezember 2017 gegründeten venezolanischen Aufsichtsbehörde über Kryptowährungen und damit verbundener Aktivitäten (SUNACRIP) verblieben.14 Mit seinen 100 Mio. Münzen zu jeweils 60 US-$ käme der „PETRO“ auf einen gesamten Börsenwert von 6 Mrd. US-$ und würde damit, gleichsam 11 Decreto 3.355 del 9 de April de 2018, Gaceta Oficial 6.371 und 6.373. 12 Castillo, T. Todo lo que sabemos sobre el Petro, la recién nacida criptomoneda de Venezuela, vom 2. August 2018, S. 3 (https://www.genbeta.com/actualidad/todo-loque-sabemos-sobre-el-petro-la-recien-na...); Horch, Venezuela: Mit Petro kommt die erste staatliche Kryptowährung (Fn. 9); El Petro de Venezuela: todo sobre la criptomoneda venezolana; https://www.genbeta.com/actualidad/todo-lo-que-sabe mos-sobre-el-petro-la-recien-na... 13 Whitepaper (Libro Blanco) del Petro (PTR). (Fn. 5), S. 14, siehe dazu aber nachstehend bei Fn. 31. 14 Ernst, R. Kryptowährung Petro: Alle Fakten auf einen Blick (2018), blockchain-hero, vom 24. November 2018, S. 2; https://blockchain-hero.com/kryptowaehrungpetro/

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„aus dem Stand“, in die Top Ten der Kryptowährungen15 einziehen.16 Mit seinen potentiell 20 Mio. Nutzern allein in Venezuela würde der PETRO – Stand Juli 2017 – einen fünf Mal so großen Markt abdecken, wie den des gesamten weltweiten Marktes an Kryptowährungen.17 Zugleich soll der „PETRO“ aber durch einen Teil der riesigen Erdölreserven Venezuelas finanziell abgesichert werden. Venezuela ist mit seinen offiziell angegebenen Erdölreserven in der Höhe von 301 Mrd. Barrel – noch vor Saudi-Arabien, mit 266 Mrd. Barrel18 – das Land mit den weltweit größten Erdölvorkommen.19 Konkret wurden in diesem Zusammenhang davon 5,3 Mrd. Barrel Öl, die im Einzugsbereich der Stadt Atapirire (in deren Umkreis von 380 km) im Boden (Feld Ayacucho I) lagern sollen,20 als Sicherheit für den Petro ausgewiesen. Zusätzlich zum Erdöl sollen, laut Präsident Maduro, aber auch andere Rohstoffe, wie Gold, Diamanten und Metalle, als Sicherheiten fungieren. Gemäß dem Decreto 3.19621 soll dabei die Aufteilung zwischen diesen Besicherungen wie folgt vorgenommen werden: Öl (50%), Gold (20%), Eisen (20%) und Diamanten (10%). Venezuela ist aber auch das Land mit der aktuell weltweit größten Geldentwertung. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bezifferte die venezolanische Inflationsrate, die 2016 bei 250% lag, für 2017 auf über 700% und für 2018 sogar auf 2.350%.22 Damit leidet die Landeswährung Venezuelas, der Bolívar Fuerte, an einer chronischen Hyperinflation und wurde 15 Auf der Website CoinMarketCap werden 2.381 Kryptowährungen aufgelistet, die gegenwärtig handelbar sind und zusammen eine Marktkapitalisierung von 191 Mrd. $ aufweisen; vgl. Grundlehner, W. Auf dem Friedhof der Kryptowährungen; https:// www.nzz.ch/finanzen/auf-dem-friedhof-der-krypto-waeh... 16 Venezuela startet Kryptowährung Petro, SPIEGEL Online vom 20. Februar 2018, S.  3; DZ BANK (Hrsg.), Vom Bargeld über Buchgeld hin zu Kryptowährungen?, vom 26. Februar 2018, S. 10. 17 Petro – Papel Blanco (Fn. 3), S. 12. 18 Petro – Papel Blanco (Fn. 3), S. 10. 19 Das Unternehmen BP hingegen schätzt die Ölreserven Venezuelas auf 303 Mrd. Barrel, was 17,9% aller weltweiten Erdölvorkommen entsprechen würde; https://www. welt.de/themen/bp/ 20 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte, vom 31. August 2018, S. 3; https://elpais.com/economia/2018/08/31/actuali dad/1535712066_201394.html; Ellsworth, B. Special Report: In Venezuela, new ­cryptocurrency is nowhere to be found, August 30, 2018; https://www.reuters.com/ article/us-cryptocurrency-venezuela-specialrepor-idUSKCN... 21 Veröffentlicht in der Gaceta Oficial 6.346 vom 8. Dezember 2017. 22 Fuster, T. Bitcoin ist in Venezuela zur wichtigsten Parallelwährung aufgestiegen, NZZ vom 10. Juli 2017, S. 2f.; https://www.nzz.ch/wirtschaft/kryptowaehrungennotwehr-gegen-den-staat-ld.1305160; vgl. dazu die weitaus höheren Raten bei Horch, P. Bitcoin: Warum die Kryptowährung in Venezuela mehr wert ist, btc-echo vom 2. Juli 2019, S. 2; Venezuelas Bitcoin: Kryptowährung Petro ein Rohrkrepierer?; https://www.dw.com/de/venezuelas-bitcoin-kryptow%C3%A4hrung-petro-einrohrkre...

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deswegen am 20. August 2018 auch durch den Bolívar Soberano ersetzt, der an den PETRO gebunden ist.23 Da der US-Dollar nach der letzten Abwertung des Bolívar 2018 rund 60 Bolívares Soberanos kostete und der vordringlich ölgedeckte PETRO mit einem Wert von rund 60 US-$ gestartet ist, kostete ein PETRO damit 3.600 Bolívares Soberanos. Aufgrund dieser Hyperinflation ist in Venezuela die Anziehungskraft digitaler Währungen entsprechend groß. Längst ist die (weitere) Kryptowährung Bitcoin zur bisher wichtigsten Parallelwährung geworden, die ohne Notenbank funktioniert, sodass der Staat auch nicht anordnen kann, mehr Bitcoins auszugeben und diese Kryptowährung damit zu inflationieren. Im Übrigen ist die maximale Bitcoin-Menge mit 21 Mio. Einheiten begrenzt und damit grundsätzlich deflationär angelegt. PETRO oro Kurz nach dem Launch des „PETRO“ gab Präsident Maduro bekannt, dass er Ende Februar 2018 die Begebung einer mit Gold abgesicherten Variante des „PETRO“, mit dem Namen „PETRO oro“, plane.24 Der „PETRO oro“ soll aus einem kleinen Goldbarren von 10 Gramm bestehen, der in einem eigenen Kuvert aufbewahrt wird. Daneben wird es aber auch größere Einheiten von 20 und 50 Gramm, bis zu einem Kilogramm Gold davon geben.25 Die Art der Begebung des „PETRO oro“ soll in derselben Form erfolgen, wie dies für den (einfachen) „PETRO“ vorgesehen ist. Was die Verfügbarkeit des PETRO betrifft, so ordnete Maduro – über einen bloßen Tweet auf der offiziellen Website des venezolanischen Finanzministeriums – am 3. Juli 2019 ausdrücklich an, dass in allen Niederlassungen der venezolanischen Zentralbank eigene Schalter für Geschäfte mit dem „PETRO“ eröffnet werden sollen.26 Reaktionen auf die Lancierung des „PETRO“ Die Einführung des „Petro“ wurde in der Folge von der „Nationalversammlung“ (Asamblea Nacional, AN), die gem. der Verfassung Venezuelas 23 Tschäpitz, H. Mit dem Krypto-Trick wagt Venezuela ein Jahrhundert-Experiment, Die Welt vom 20. August 2018; https://www.welt.de/wirtschaft/article181238842/ Venezuela-Nicolas-Maduro-koppelt... 24 Petro Oro – Nueva Criptomoneda en Venezuela; https://www.petromoneda.net/ petro-oro/; Venezuela will kommende Woche weitere Kryptowährung ausgeben, Der Standard vom 22. Februar 2018; Kilic, K. Was ihr über Venezuelas Kryptowährung Petro wissen müsst; https://www.gq-magazin.de/auto-technik/article/was-ihrueber-venezuelas-kryptowae... 25 https://www.petromoneda.net/petro-oro/ 26 https://www.lecriptovalute.org/2018/03/28/petro-criptovaluta-venezuela-quotazi one-v...

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von 1999 über das Budgetrecht verfügt, mehrfach als illegal erklärt.27 Die frei gewählte Nationalversammlung, in der die von Juan Guaidó angeführte Opposition eine Zwei-Drittel-Mehrheit besitzt, wurde von Maduro aber völlig entmachtet und durch die „Verfassungsgebende Versammlung“ (Asamblea Nacional Constituyente, ANC) ersetzt, die von diesem am 1.  Mai 2017, ohne Beteiligung der Opposition, durch präsidentielles Dekret28 eingesetzt wurde29. Die „Verfassungsgebende Versammlung“ stimmte am 4. April 2018 der Einführung des Petro zu.30 Dabei bediente sich die venezolanische Regierung nunmehr der Plattform NEM (XEM), eines dezentralisierten Netzes von „blockchains“, das von einer gemeinnützigen Organisation, mit Sitz in Singapur, betrieben wird.31 Wie vorstehend erwähnt, sollte – einer früheren Version des „Weißbuchs“ zur Einführung des PETRO zufolge – die Begebung des „PETRO“ aber über die Schaffung des Token ERC20 auf der Plattform Ethereum erfolgen.32 Planung und Programmierung des „PETRO“ Die Planung und Programmierung des „PETRO“ ist weder im vorstehend erwähnten „Weißbuch“ zu dessen Einführung, noch in anderen einschlägigen Unterlagen dokumentiert. Dementsprechend wird in einschlägigen Kommentaren unter anderem auch festgestellt, „dass das Entwicklerteam weiterhin unbekannt bleibt“33. In Wahrheit war dafür aber der junge venezolanische Programmierer Gabriel Jiménez zuständig, der zunächst dem 27 AN declaró nula la emisión del Petro y todas sus obligaciones; https://www.asamb leanacional.gob.ve/noticias/_an-declaro-nula-la-emision-del-petro-y-todas-sus-obli gaciones 28 Decreto Presidencial No. 2.830; Gaceta Oficial No. 6.295 del 3 de mayo de 2017. 29 Die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, erklärte am 2. August 2017, im Namen der 28 Mitgliedstaaten, dass diese die Einsetzung der „Verfassungsgebenden Versammlung“ durch Präsident Maduro nicht anerkennen; Los 28 países de la UE no reconocen la Constituyente, El Mundo del 3 de agosto de 2017. 30 ANC de Venezuela aprueba decreto comercial sobre el Petro, telesurtv.net, vom 4.  April 2018; https://www.telesurtv.net/news/ANC-de-Venezuela-aprueba-decre to-comercial-sobre-el-Petro-20180404-0044.html 31 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte (Fn. 20). 32 Lanzamiento del Petro, Venezuela se convierte en el primer país que acepta plenamente las Criptomonedas, vom 22. Februar 2018; https://criptomonedas.org/lanza miento-del-petro-venezuela-se-convierte-en-el-primer-...; Castillo, T. Todo lo que sabemos sobre el Petro, la recién nacida criptomoneda de Venezuela, vom 2. August 2018, S. 5; siehe vorstehend bei Fn. 13. 33 Horch, P. Venezuela: Mit Petro kommt die erste staatliche Kryptowährung (Fn. 9); Kilic, K. Was ihr über Venezuelas Kryptowährung Petro wissen müsst; https://www. gq-magazin.de/auto-technik/article/was-ihr-ueber venezuelas-kryptowae...

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Maduro-Regime kritisch gegenüberstand, zuletzt aber dem auf ihn ausgeübten Druck nicht mehr standhalten konnte und sich zur Ausarbeitung einer Kryptowährung bereit erklärte. Seinen Einsatz rechtfertigte er schließlich mit dem Argument, dass der „PETRO“ sich für das repressive MaduroRegime als „Trojanisches Pferd“ erweisen könnte, das dessen Legitimität unterminieren würde.34 Im Zusammenhang mit der Einführung des PETRO informierte Präsident Maduro die venezolanische Öffentlichkeit, dass sich im Rahmen des „Plan Chamba Juvenil“35 insgesamt 860.811 junge Menschen als „Miner“, also Schürfer, gemeldet hätten, die ihre Computer zur Verfügung stellen wollen, um die Kryptowährung PETRO zu schaffen.36 Der PETRO als untypische Kryptowährung Die nicht dokumentierte und im Grunde klandestin verlaufene Schürfung des PETRO rief naturgemäß eine Reihe von Kritikern auf den Plan. Zum einen weisen diese auf den untypischen Charakter des „PETRO“ als Kryptowährung hin, da eine solche begrifflich ja die Nichtbeteiligung des Staates am Zustandekommen und an der Kontrolle virtueller Währungen voraussetzt, was gerade im Falle des „PETRO“ nicht der Fall ist, der ja durch die venezolanische Regierung begeben und reguliert wird.37 Ebenso wenig geht es an, die Landeswährung Bolívar an den „PETRO“ zu koppeln, dessen „Schöpfung“ an sich ja an den Erfolg privater „Schürfer“ dieser virtuellen Währung geknüpft ist, und nicht von einer zentralen Stelle begeben werden darf. Durch die Koppelung des PETRO an den Bolívar Soberano als Parallelwährung lässt sich diesem auch ein entsprechender Wechselkurs zuordnen, was für eine virtuelle Währung ebenfalls völlig systemwidrig wäre.38 Auch die Besicherung des Wertes eines „PETRO“, unter anderem durch ein Barrel Rohöl, ist für virtuelle Währungen völlig untypisch. Noch dazu, wo dieses Öl noch nicht gefördert ist und man, laut Aussage des ehemaligen venezolanischen Erdölministers, Rafael Ramírez, an die 20 Mrd. $ für die Einrichtung der Infrastruktur zur Förderung des Erdöls in der vorerwähn34 Popper, N. – Herrero, A. V. The Coder and the Dictator, The New York Times, vom 20. März 2020. 35 Plan Chamba Juvenil integrará a jóvenes en la producción del Petro; https://www. petromoneda.net/chamba-juvenil-petro 36 Busch, A. Warum Venezuela eine Kryptowährung bastelt, NZZ Online vom 5. Februar 2018; https://www.nzz.ch/wirtschaft/venezuela-bastelt-eine-kryptowaehrungld.1354220 37 García Marco, D. 6 claves para entender el petro, la criptomoneda lanzada por el gobierno de Venezuela, vom 21. Februar 2018; https://www.bbc.com/mundo/noti cias-america-latina-43136611 38 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte (Fn. 20).

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ten Lagerstätte Atapirire benötigen würde, ein Betrag, den das staatliche Erdölunternehmen PDVSA keinesfalls aufbringen könnte.39 Im Gegensatz zu einer nationalen „Fiat-Währung“, die von einem zen­ tralen Emittenten (Nationalbank) ausgegeben und reglementiert wird, gibt es bei einer digitalen Kryptowährung weder eine emittierende Bank noch eine zentrale Zahlungsverkehrsaufsicht. Die wohl bekannteste Kryptowährung ist der Bitcoin, den es seit 2009 gibt und bei dem es sich um ein auf der Blockchain-Technologie40 beruhendes elektronisches Zahlungssystem handelt, das auf einer dezentralen Verwaltung und Speicherung in einem Netzwerk basiert. Ganz allgemein unterscheiden sich Krypto Coins, wie Bitcoin,41 in organisatorischer Hinsicht von offiziellen Währungen dadurch, dass sie keine verantwortliche Ausgabeinstanz, keine Deckung oder sonstige Form der Wertanbindung, keine Barauszahlungs-Option, sowie keine flexible Angebotsmenge aufweisen. An die Stelle von Banken, Behörden, Gesetzen und Aufsicht tritt im Bitcoin-System stattdessen ein technisches Regelwerk, das wie eine Art Automat die Spielregeln sowie bestimmte Anreize vorgibt, nach denen freiwillige Nutzer durch ihre Aktivität gemeinsam Bitcoin innerhalb vorgegebener Schranken produzieren, verwalten und untereinander austauschen können.42 Mangels einer ausgebenden Stelle stellen virtuelle Währungen, wie Bitcoin, daher weder elektronisches E-Geld iSd E-Geldgesetzes43, noch Zahlungsmittel iSd Bankwesengesetzes44, geschweige denn Zahlungsinstrumente iSd österreichischen Zahlungsdienstegesetzes45, dar.46 Die Frage, was denn genau virtuelle Währungen, wie zB Bitcoins, aus regulatorischer Sicht sind, hat bereits deutsche Gerichte beschäftigt. So hatte das Berliner Kammergericht im Rahmen eines Strafverfahrens zu ent39 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte (Fn. 20). 40 Siehe dazu Piska, C. – Völkel, O. (Hrsg.), Blockchain rules (2019). 41 Bitcoin ist die bekannteste Kryptowährung, daneben gibt es aber Hunderte weitere digitale Währungen, denen zum Großteil aber nur eine sehr kurze Funktionsdauer beschieden war. So sind auf der Website deadcoins.com aktuell 1.928 digitale Währungen aufgelistet, die zwischenzeitlich wieder „aufgegeben“ wurden. Die drei erfolgreichsten Kryptowährungen, nach Bitcoin, sind dabei Ethereum, Tether und XRP; vgl. Grundlehner, W. Auf dem Friedhof der Kryptowährungen (Fn. 15). 42 Weber, B., Krypto Coins und das Geldsystem: Bedrohung, Inspiration oder Themenverfehlung?, in: Kirchmayr-Schliesselberger, S. – Klas, W. – Miernicki, M. – Rinderle-Ma, S. – Weilinger, A. (Hrsg.), Kryptowährungen. Krypto-Assets, ICOs und Blockchain. Recht – Technik – Wirtschaft (2019), S. 69 f. 43 öBGBl. I 2010/107 idgF. 44 öBGBl. 1993/532 idgF. 45 öBGBl. I 2018/17 idgF. 46 Abpurg, C. – Weratschnig, T. Kryptowährungen und Geldwäsche, in: KirchmayrSchliesselberger/Klas/Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger (Hrsg.), Kryptowährungen (Fn. 42), S. 446.

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scheiden, ob im Rahmen des Betriebs einer Internet-Plattform, über die Bitcoins gehandelt wurden, erlaubnispflichtige Bankgeschäfte betrieben oder Finanzdienstleistungen erbracht wurden. Diese Frage setzte aber wiederum voraus, ob man Bitcoins als „Rechnungseinheit“ iSd deutschen Kreditwesengesetzes oder aber als „E-Geld“ iSd deutschen Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes ansieht. In diesem Zusammenhang verneinte das Kammergericht in seinem Urteil vom 25. September 201847 in Bezug auf Bitcoin sowohl dessen Charakter als „Rechnungseinheit“, als auch den von „E-Geld“. Da Bitcoins keine Finanzinstrumente iSd Kreditwesengesetzes, insbesondere keine Rechnungseinheiten, seien, ist der Handel mit Bitcoins nicht strafbar.48 Diese Ansicht des Kammergerichts steht allerdings diametral in Widerspruch zur Verwaltungspraxis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die Bitcoins als „Finanzinstrument“ in der Form von „Rechnungseinheiten“ gem. § 1 Abs. 11 Satz 1 des Kreditwesengesetzes qualifiziert.49 Der Rechtsansicht des BaFin schloss sich auch einer der Rezensenten des gegenständlichen Urteils des Kammergerichts an, da seiner Ansicht nach, Kryptowährungen durchaus als „Rechnungseinheiten“, und damit als „Finanzinstrumente“ im aufsichtsrechtlichen Sinne, angesehen werden können. Bitcoins sind heute eine weitverbreitete Komplementärwährung, die – genau so, wie das bei Devisen der Fall ist – in gesetzliche Zahlungsmittel umgetauscht und währungsähnlich eingesetzt werden können.50 Der Petro als bloße Schimäre? Lässt man die vorstehenden Bemerkungen Revue passieren, kommt nolens volens der Verdacht auf, dass es sich bei der Einführung des PETRO um ein bewusstes Manöver Maduros gehandelt habe, um von den rechtswidrigen Manipulationen anlässlich seiner Wiederwahl am 20. Mai 2018 sowie der nachfolgenden Behandlung seines Kontrahenten Juan Guaidó abzulenken. In einer intensiven Untersuchung, die insgesamt vier Monate dauerte, versuchte Reuters nachzuweisen, dass es sich beim „Petro“ um eine bloße Schimäre handelt, die von der Regierung Venezuelas nur deswegen „erfunden“ wurde, um von der desaströsen Situation der Landeswährung Bolívar abzulenken. Im Gegensatz zur offiziellen Erklärung der Regierung Maduro, dass der bisherige Verkauf von PETRO‘s 3,3 Mrd. Dollar eingebracht habe, 47 Az 161 Ss 28/18 (35/18). 48 https://www.online-und-recht.de/urteile/Handel-mit-Bitcoin-ist-nicht-strafbar-dabitco... 49 Vgl. Jung, M. – Hock, M. Bitcoin-Urteil. Niederlage für Bafin – aber kein Sieg für Krypto-Fans (https://www.faz.net/aktuell/finanzen/digital-bezahlen/bitcoin-han del-ist-nicht-strafbar...); „Bitcoin-Urteil“: Handel mit Bitcoin ist nicht strafbar!, paytechlaw.com 50 Vgl. Rauer, N. Bitcoins sind weder Rechnungseinheit noch E-Geld; https://www.lto. de/recht/hintergruende/h/kg-161ss2818-bitcoins-rechtliche-einordnun...

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die für die notwendigen Importe dringend benötigt wurden, hätten die Nachforschungen ergeben, dass der Petro an keinem einzigen Ort Venezuelas, an dem Währungen gehandelt werden, aufgeschienen ist,51 obwohl Maduro am 26. April 2018 angekündigt hatte, dass 16 offizielle Wechselstuben eingerichtet worden seien.52 Ebenso wenig wurde der PETRO als Zahlungsmittel in irgendeiner geschäftlichen Transaktion angeboten und auch akzeptiert.53 Lediglich in einem einzigen Geschäft, dem PETROShop, das am 23. Juni 2019 eröffnet wurde, konnte man mit Petros zahlen, wenngleich am ersten Tag kein einziger der vorhandenen 108 Artikel verkauft werden konnte.54 Auch konnte Reuters die Aufsichtsbehörde über Kryptowährungen und damit verbundener Aktivitäten (SUNACRIP), die im venezolanischen Finanzministerium lokalisiert sein sollte, dort nicht auffinden.55 Garrick Hileman, Chef der Untersuchungskommission des auf Kryptowährungen spezialisierten Unternehmens Blockchain sprach in diesem Zusammenhang davon, dass die Einführung des PETRO für ihn ein „Mysterium“ sei.56 Tom Robinson, Chef der Blockchain Elliptic wiederum spricht vom PETRO „als einen Witz“ bzw. eine „Täuschung“.57 Im Gegensatz dazu kursieren im Netz aktuelle Wechselkurse des ­PETRO, die, wie folgt, ausgestaltet sind. So betrug der Wert des PETRO zB am 31. Jänner 2019 196.957,46 Bolívares Soberanos und der aktuelle Wert in US-$ 59,70.58 Zum 11. Juni 2020 wiederum soll der Wert des Petro 4,370.561,70 Bolívares, 53,38 Euros bzw. 59,04 US-$59 betragen haben. Zu 51 Tom Robinson, chief data officer and co-founder of Elliptic, a London-based blockchain data company: „We have found no evidence that anyone has been issued a petro, nor of it being actively traded on any exchange“, zitiert bei Ellsworth, Special Report (Fn. 20), S. 6. 52 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte (Fn. 20). 53 Gozzer, S. Crisis en Venezuela: qué fue del petro, la criptomoneda con la que el gobierno de Nicolás Maduro quería evadir las sanciones económicas, BBC News Mundo vom 24. Juli 2019; https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina49045096 54 Gozzer, S. Crisis en Venezuela: qué fue del petro, la criptomoneda con la que el gobierno de Nicolás Maduro quería evadir las sanciones económicas, BBC News Mundo vom 24. Juli 2019, S. 5. 55 Vgl. Economía, Petro, la criptomoneda de Venezuela que no se encuentra en ninguna parte (Fn. 20). 56 Zitiert bei Gozzer, S. Crisis en Venezuela: qué fue del petro, la criptomoneda con la que el gobierno de Nicolás Maduro quería evadir las sanciones económicas, BBC News Mundo vom 24. Juli 2019, S. 3. 57 Zitiert bei Gozzer, S. Crisis en Venezuela (Fn. 54), S. 3. 58 Hoy subió el precio de el Petro a 196 mil Bolívares Soberanos, 31 de enero de 2019; https://www.petromoneda.net/aumento-valor-dicom-dolar-el-petro 59 Damit entsprach der Wechselkurs des Petro zum US-$ fast genau dem des Wertes eines Fasses Öl, mit 59,42 US-$.

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anderen Währungen hätte der Kurs 1 Petro = 408,65 Yuan und 3.763,63 Rubel gelautet.60 Gerichtliche Aufklärung auf einer Nebenfront? Obwohl alle weiteren Versuche zur Aufklärung der mehr als merkwürdigen Einführung des PETRO mehr oder weniger versandet sind, könnten sich auf einer Nebenfront unter Umständen damit zusammenhängende interessante Fragen ergeben. Da Venezuela seine Goldbestände – diese betrugen, nach einem günstigen Swap-Geschäft mit der Deutschen Bank61, Ende 2018 insgesamt 31 Tonnen im Wert von 1,3 Mrd. US-$62 – großteils in der Bank of England hinterlegt hat, wollte es diese nunmehr repatriieren, um – laut regierungsamtlicher Stellungnahme – nach deren Verkauf, den Erlös dem „United Nations Development Programme“ (UNDP) zur Corona-Bekämpfung in Venezuela zur Verfügung zu stellen. Zum einen wurde diese Verwendungszusage der venezolanischen Regierung als völlig unglaubwürdig angesehen und zum anderen weigerte sich die Bank of England, die Goldbestände freizugeben. Der Grund dafür war der Umstand, dass die britische Regierung, gemeinsam mit weltweit weiteren 60 Regierungen, die venezolanische Regierung unter Nicolás Maduro, nach dessen Wahlmanipulationen anlässlich seiner Wiederwahl zum Präsidenten Venezuelas im Mai 2018, nicht mehr als legitime Regierung anerkannte. Nachdem der venezolanische Finanzminister Simón Zerpa und der Präsident der Nationalbank, Calixto Ortega, Ende 2018 erfolglos in London interveniert hatten, brachte die venezolanische Nationalbank am 14. Mai 2020 vor dem Londoner High Court eine Klage gegen die Bank of England auf Herausgabe des Goldbestandes in Höhe von 930 Mio. Euro ein63 und ließ sich dabei von der Kanzlei Tim Lord QC and Zaiwalla & Co vertreten, die 2019 bereits eine ähnliche Causa zugunsten der iranischen Bank Mellat gewonnen hatte.64 Laut Aussage eines Vertreters der Anwaltskanzlei lehnt die Bank of England die Forderung deswegen ab, da 60 Valor del Petro Hoy, vom 11. Juni 2020; https://www.petromoneda.net/precio-delpetro-hoy 61 Armas, M. – Pons, C. Venezuela gold holdings in Bank of England soar on Deutsche deal: sources; https://uk.reuters.com/article/us-venezuela-gold/venezuela-goldholdings-in-bank-of-e... 62 Vgl. Goldbestände Venezuelas in der Bank of England gestiegen, vom 21. Januar 2019; https://www.weghv.de/de/news-grosshandel/85-gold/1570/-goldbestaendevenezuelas-... 63 Venezuela files legal claim with Bank of England over gold, BBC News vom 20. Mai 2020; https://www.bbc.com/news/world-latin-america-52733299 64 Vgl. Croft, J. – Long, G. Venezuela sues Bank of England over refusal to release gold, Financial Times vom 21. Mai 2020; https://www.ft.com/content/b03977ed-4f694e55-a3b6-77a8befdd5f3

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„Petro“ und „Petro oro“ als weltweit erste staatliche Kryptowährungen

sie „die Autorität des gegenwärtigen Managements der „Banco Central de Venezuela“ und der venezolanischen Regierung nicht anerkennt“.65 Schlussbetrachtung Lässt man die vorstehenden Bemerkungen Revue passieren, entstehen mehr als berechtigte Zweifel an der Seriosität der Herausgabe der Kryptowährung „PETRO“ durch Nicolás Maduro. Nach einer gewaltigen Abwertung der bisherigen Landeswährung, des Bolívar Fuerte – im Zuge von dessen Ersetzung durch den Bolívar Soberano – koppelt Maduro den Bolívar Soberano an die von ihm selbst begebene Kryptowährung, nämlich den ­„PETRO“, und schafft damit eine bis dahin noch nie dagewesene Parallelwährung zwischen einem „Fiat“-Geld und einer virtuellen Währung. Der „PETRO“ wird damit zur offiziellen Recheneinheit des Landes. Ob dieses „radikale historische Experiment, das aus Not und absoluter Verzweiflung heraus geboren ist“,66 tatsächlich in der Lage sein wird, seine selbstgesetzten Wunschvorstellungen auch nur teilweise zu erfüllen, muss – aufgrund der bestehenden Faktenlage – bezweifelt werden. Quelle: EU-Infothek vom 20. August 2020, S. 1 – 6 (Artikel Nr. 33) PS: PETRO war zwar der erste Versuch der Einführung einer Kryptowährung in Venezuela, scheiterte aber. Anfang Juni 2021 erklärte Nayib Bukele, der Präsident von El Salvador, seine Absicht, den Bitcoin als offizielles Zahlungsmittel - neben dem US-$, der seit 2001 die offizielle Landeswährung darstellt - einzuführen. Informell konnte man bereits seit Monaten im kleinen pazifischen Fischerdorf El Zonte mit Bitcoin zahlen, das damit als Experimentierfeld fungierte.67 Am 9. Juni wurde im im salvadorianischen Kongress in einem Eilverfahren ein Gesetz verabschiedet, das die verbindliche Einführung von Bitcoin als zweite Landeswährung ab 7. September 2021 vorsieht. In einem Land, in dem 24% der Bevölkerung kein Bankkonto haben, wäre die Einführung von Bitcoin auch für die günstige Überweisung von Rimessen von Bedeutung.68 Alleine die 1,5 Mio. Salvadorianer, die in den USA leben und arbeiten, überwiesen 2020 fast sechs Mrd. US-$ an ihre Familien in El Salvador, was 20% des BIP entsprach.69 Bereits 2016 hatte die Zentralbank (MAS) des Stadtstaates Singapur mit dem Projekt Ubin den Singapur-$ tokenisiert und als staatliche digitale Währung für den Interbanken-Zahlungsverkehr getestet. Es ist aber noch offen, wann Singapur den digitalen Singapur-$ für den Retail-Gebrauch einsetzen wird.70 65 Greger, M. Bank of England verweigert Venezuela Zugriff auf Goldreserven zur Bekämpfung von Covid-19-Pandemie; https://amerika21.de/2020/05/240174/bankengland-goldreserven-venezuela 66 Zschäpitz, Mit dem Krypto-Trick wagt Venezuela ein Jahrhundert-Experiment (Fn. 1), S. 1. 67 Vgl. Weiss, S. Der Bitcoin-Zocker, IPG Journal vom 2. August 2021. 68 Pirker, A. M. Ein Cola für 0,00001 Bitcoin, Der Standard vom 30. Juli 2021, S. 13. 69 Cyrus de la Rubia, Kleines Land, großes Experiment, manager magazin vom 24. Juni 2021. 70 Rist, M. Singapur buhlt um die Krypto-Szene, NZZ vom 19. August 2021, S. 16.

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

34. „Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des „Gerichtshofs der Europäischen Union“ Einleitung Sowohl durch den „Brexit“, als auch durch eine Reihe der zur Bekämpfung der „Corona-Pandemie“ ergriffenen Maßnahmen kam es zu einigen Umgestaltungen in der Zusammensetzung und Funktionsweise des Gerichtshofs der Europäischen Union, wobei die gegenständlichen Änderungen nicht nur einigermaßen komplex sind, sondern teilweise auch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen geführt haben. Da es bisher aber noch zu keiner zusammenfassenden Aufbereitung dieser Änderungen gekommen ist, soll nachstehend darüber ein kurzer Überblick gegeben werden. Zunächst muss eine kurze Darstellung der bisherigen Ausgestaltung der Judikative in der EU gegeben werden, um die jeweiligen Neuerungen besser nachvollziehen zu können. Danach wird auf die streitverfangenen „Brexit“bedingten Änderungen in der Zusammensetzung des Gerichtshofs eingegangen. Zur genauen Nachverfolgung dieses „Streit-Clusters“ wird dessen Aufbau und Struktur bewusst nach den jeweiligen Rechtsansichten der streitverfangenen Parteien – Gerichtshof, Gericht, Generalanwältin – vorgenommen. Dabei geht es vor allem um eine kritische Analyse der Qualifikation der Stellung und Funktion von Generalanwälten im Vergleich zu den Richtern am Gerichtshof und am Gericht. Den Ausklang bildet die Darstellung der „Corona“-bedingten und sonstigen Änderungen verfahrensrechtlicher Natur, die vom Gerichtshof der Europäischen Union getätigt und erwartungsgemäß positiv aufgenommen wurden. I. Organisation der Judikative in der EU A. Der „Gerichtshof der Europäischen Union“ Der „Gerichtshof der Europäischen Union“, mit Sitz in Luxemburg, umfasst aktuell den Gerichtshof (vormals EuGH) und das Gericht (EuG) (vormals Gericht erster Instanz).1 Dieser bloß zweigliedrige Aufbau ist dem Wegfall der Fachgerichte geschuldet, von denen allerdings lediglich das Gericht für den öffentlichen Dienst (GöD) eingerichtet worden war. Das am 2. Dezember 2005 konstituierte GöD2 wurde am 1. September 2016 wieder aufgelöst und dessen Personal und laufende Rechtssachen auf das EuG übertragen.3 1 Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EUV. 2 ABl. 2005, L 352, S. 1; eingerichtet durch Beschluss 2004/752/EG, Euratom des Rates vom 2. November 2004 (ABl. 2004, L 333, S. 7). 3 Verordnung (EU, Euratom) 2016 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 (ABl. 2016, L 200, S. 137).

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

a.  Der „Gerichtshof“ Der Gerichtshof besteht aus je einem Richter pro Mitgliedstaat.4 Die Richter des Gerichtshofs werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen – und nach Anhörung eines Ausschusses, der die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber zu überprüfen hat5 – für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt.6 Als Voraussetzung für die Ernennung beim Gerichtshof müssen die Bewerber in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristinnen bzw. Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sein.7 Die Rechtsschutzgewährung durch den Gerichtshof beruht dabei nicht auf einer allumfassenden Generalklausel, sondern auf einer Summe von genau aufgeführten Einzelzuständigkeiten. Diese Zuständigkeiten lassen sich in „verfassungsrechtliche“ (das sind solche zwischen Mitgliedstaaten und Unionsorganen), „verwaltungsrechtliche“ (das sind solche zwischen Unionsorganen und Individuen, dh natürlichen bzw. juristischen Personen sowie Unionsbediensteten), Rechtsmittel- (gegen Entscheidungen des EuG) und sonstige Verfahren (Vorabentscheidungsverfahren, Amtshaftungsverfahren, Verfahren sui generis) einteilen. Der Gerichtshof tagt in Kammern mit drei oder fünf Richtern oder als Große Kammer mit 15 Richtern, in seltenen Fällen als Plenum der derzeit 27 Richter8. Die Zuweisung der Rechtssachen an die jeweiligen Kammern erfolgt in der Praxis, aus Zweckmäßigkeitsgründen, durch den Präsidenten des Gerichtshofs.

b.  Die „Generalanwälte“ Nur dem Gerichtshof sind Generalanwälte (GA) beigegeben, die zwar nicht dem Spruchkörper des Gerichtshofs selbst, wohl aber diesem als Institution angehören. Ihre Ernennung erfolgt, wie die der Richter des Gerichtshofs, durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen. Ihre Zahl wurde am 25. Juni 2013 durch Beschluss 2013/336/EU des Rates von acht auf elf erhöht.9 Dabei kommt je ein GA aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich sowie aus Polen,10 die restlichen fünf GA sind in ein Rotationssystem eingebunden. Die GA wäh4 5 6 7 8 9 10

Art. 19 Abs. 2 AEUV. Art. 255 AEUV. Art. 19 Abs. 2 UAbs. 3 EUV iVm Art. 253 Abs. 1 AEUV. Art. 253 Abs. 1 AEUV. Art. 251 AEUV iVm Art. 16 Satzung des Gerichtshofs (siehe Fn. 37). ABl. 2013, L 179, S. 92. Gemäß der Erklärung (Nr. 38) zu Art. 252 AEUV zur Zahl der GA des Gerichtshofs in der Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon (ABl. 2012, C 326, S. 352) stellt auch Polen einen ständigen GA und nimmt dementsprechend nicht länger am Rotationssystem – von nunmehr fünf – eines Teils der GA teil.

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len aus ihrer Mitte den Ersten GA für die Dauer von drei Jahren, zur Zeit ist dies Herr Maciej Szpunar.11 Die GA haben öffentlich, und in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit, begründete Schlussanträge zu den beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen abzugeben, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs deren Mitwirkung erforderlich ist.12 Die Schlussanträge geben die individuelle Rechtsauffassung des jeweiligen GA wieder und sind für den Gerichtshof nicht verbindlich. In seiner Spruchpraxis folgt der Gerichtshof allerdings in drei Viertel aller Fälle der Rechtsansicht des GA. Im Gegensatz zu den Urteilen des Gerichtshofs, die strikt fallspezifisch und nie „überschießend“ begründet sind13, sind die Schlussanträge der GA umfassender konzipiert und daher rechtsdogmatisch des Öfteren „ergiebiger“.

c.  Das „Gericht“ Zur Entlastung des Gerichtshofes wurde im September 1989 das Gericht (EuG) eingerichtet, das für Entscheidungen im ersten Rechtszug grundsätzlich über Nichtigkeits-14, Untätigkeits-15, Schadensersatz-16, Beamten-17 und Schiedsklagen18 zuständig ist19. Im Gegensatz zum Gerichtshof besteht das EuG – allerdings erst seit dem 1. September 2019 – aus je zwei Richtern pro Mitgliedstaat.20 Somit sind – nach dem Ausscheiden des UK aus der EU am 31. Januar 2020 – am EuG 54 Richterstellen vorhanden, von denen gegenwärtig aber nur 50 besetzt sind. Um für ein Amt beim Gericht ernannt zu werden, müssen die Bewerber (bloß) über die Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten verfügen21. Für die Rechtsstellung der Richter am EuG gelten grundsätzlich die gleichen Voraussetzungen wie für die Richter am Gerichtshof. Obwohl

11 Art. 14 Abs. 1 VerfO des Gerichtshofs (ABl. 2019, L 316, S. 2). 12 Art. 252 Abs. 2 AEUV iVm Art. 20 Abs. 4 und 5, sowie Art. 23a Abs. 2 Satzung des Gerichtshofs (Fn. 37). 13 Eine diesbezügliche Ausnahme macht zB das Judikat des Gerichtshofs in der Rs. C-64/16, Juízes Portugueses/Tribunal de Contas, Urteil vom 27. Februar 2018 (ECLI:EU:C:2018:117), in dem der EuGH seine Rechtsstaatsgrundsätze – in der Form von obiter dicta – über den konkreten Anlassfall hinaus und vorgreifend, aufbereitet hat. 14 Art. 263 AEUV. 15 Art. 265 AEUV. 16 Art. 268 AEUV. 17 Art. 270 AEUV. 18 Art. 262 AEUV. 19 Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. 20 Art. 48 lit c) Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der EU (Fn. 37). 21 Art. 254 Abs. 2 AEUV.

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

dem EuG keine GA zugeordnet sind, kann aber ein Richter desselben zum GA bestellt werden.22

d.  Exkurs: Die „Europäische Staatsanwaltschaft“ Der Komplettheit halber soll noch die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ (EUStA)23 kurz erwähnt werden, die allerdings in keinem institutionalisierten Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Union steht. Gem. Art. 86 AEUV durch die Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 201724 eingerichtet, ist die EUStA für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Personen zuständig, die Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU – zB Betrug (über 10.000 €), Korruption oder grenzüberschreitender MWSt-Betrug von mehr als 10 Mio. € – begangen haben.25 Sie arbeitet dabei eng mit der „Agentur der Union für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (Eurojust), dem „Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung“ (OLAF) sowie dem „Europäischen Polizeiamt“ (Europol) zusammen.26 Die EUStA besteht aus zwei Ebenen: der zentralen und der dezentralen, nationalen, Ebene: Die zentrale Ebene, mit Sitz in Luxemburg, besteht aus dem „Europäischen Generalstaatsanwalt“,27 22 „Europäischen Staatsanwäl­ ten“28 (einer je teilnehmendem Mitgliedstaat), von denen vier als Stellvertretende Europäische Generalstaatsanwälte fungieren, einem Verwaltungsdirektor und entsprechendem Fachpersonal.29 Die dezentrale Ebene wiederum besteht aus den in den Mitgliedstaaten ansässigen – je zwei – „Delegierten Europäischen Staatsanwälten“.

22 23 24 25

Art. 49 Satzung des Gerichtshofs (Fn. 37), Art. 19 VerfO des EuG. Vgl. dazu Artikel Nr. 14, vorstehend auf S. 194 ff. ABl. 2017, L 283, S. 1 ff. Richtlinie (EU) 2017/1371 des EP und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29 ff.); vgl dazu Artikel Nr. 14, vorstehend auf S. 194 ff. 26 Vgl. Hummer, W. Die Einrichtung der „Europäischen Staatsanwaltschaft“ als bisher letzter Fall einer „verstärkten Zusammenarbeit“ in der EU, ZfRV 1/2018, S. 4 ff. 27 Am 16. Oktober 2019 haben das Europäische Parlament und der Rat die Rumänin Laura Codruta Kövesi zur ersten Europäischen Generalstaatsanwältin ernannt; vgl. dazu Hummer, W. „Europäischer Generalstaatsanwalt“ gesucht, EU-Infothek vom 26. November 2018, S. 1 ff. 28 Mit Beschluss vom 27. Juli 2020 hat der Rat die Europäischen Staatsanwälte für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt; Rat der EU, Pressemitteilung vom 27. Juli 2020. 29 Mit der Vereidigung der Europäischen Generalstaatsanwältin und der Europäischen Staatsanwälte vor dem Gerichtshof der EU nahm die EUStA am 28. September 2020 offiziell ihre Tätigkeit auf; Gerichtshof der EU, Pressemitteilung Nr. 118/20.

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

II. „Brexit“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung des Gerichtshofes und des Gerichts A. Rechtsansicht der EU-Mitgliedstaaten Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union (EU) zum 31. Januar 2020 um 24 Uhr endete nach Ansicht der Mitgliedstaaten der EU sowohl die Amtszeit der zu diesem Zeitpunkt amtierenden zwei britischen Richter am Gerichtshof und am EuG30 als auch die der vom UK vorgeschlagenen Generalanwältin (GA) Eleanor Sharpston. Sie bezogen sich dabei auf die Bestimmung des Art. 50 Abs. 3 EUV, gemäß derer „die Verträge auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens (…) keine Anwendung mehr finden“. Dementsprechend enden „die laufenden Mandate der im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft des UK in der EU benannten, ernannten oder gewählten Mitglieder der Organe (…) am Tag des Austritts“31, dh am 31. Januar 2020. Damit verringerte sich nach Ansicht der Mitgliedstaaten mit sofortiger Wirkung die Zahl der Richter des Gerichtshofs und des Gerichts, die für den Gerichtshof auf einen Richter pro Mitgliedstaat und für das Gericht auf zwei Richter pro Mitgliedstaat festgesetzt ist. Gemäß der „Erklärung der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu den Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs auf die Generalanwälte des Gerichtshofs der Europäischen Union“, vom 29. Januar 2020,32 hat der „Brexit“ hingegen keine Auswirkungen auf die Zahl der GA des Gerichtshofs, die durch den vorerwähnten Beschluss des Rates 2013/336/EU mit elf festgesetzt ist.33 Dabei gingen die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten in ihrer Erklärung davon aus, dass die „Dauerplanstelle des GA, die dem Vereinigten Königreich durch die Erklärung Nr. 38 zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon zugewiesen wurde“, nunmehr in das Rotationssystem der Mitgliedstaaten für die Ernennung der GA zu integrieren ist, das daher künftig sechs, statt bisher fünf, GA umfassen wird.34 Konkret bedeutete das aber, dass der bisher traditionell vom UK vorgeschlagene GA – im gegenständlichen Fall ist dies die britische Staatsangehörige Eleanor Sharpston – damit aus ihrem Amt ausscheiden und rotativ durch einen anderen GA ersetzt werden muss, für dessen Ernennung nunmehr in protokollarischer Reihenfolge die „Hellenische Republik“ vorgesehen ist. 30 Das sind Christopher Vajda (Gerichtshof) und Jan Forrester (EuG). 31 Rats-Dok. XT 21018/20, S. 1. 32 Rats-Dok. XT 21018/20, S. 1. 33 Beschluss 2013/336/EU des Rates vom 25. Juni 2013 zur Erhöhung der Zahl der Generalanwälte des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. 2013, L 179, S. 92). 34 Rats-Dok. XT 21018/20, S. 2.

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

Ganz in diesem Sinn richtete der Präsident des Gerichtshofs, Koen Lenaerts, am 31. Januar 2020 ein Schreiben an den Rat der EU, in dem er von einer Vakanz in der Besetzung der Stelle der GA Sharpston ab 1. Februar 2020 ausging und die Mitgliedstaaten auffordert, diesen Posten ehebaldigst nachzubesetzen.35 Die Amtszeit des von Griechenland vorgeschlagenen GA für die frei gewordene Stelle eines GA endet zum Zeitpunkt der nächsten teilweisen Neubesetzung der Mitglieder des Gerichtshofs, dh am 6. Oktober 2021. Die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten kam des Weiteren überein, dass Griechenland die Verlängerung dieser Amtszeit für sechs Jahre, dh vom 7. Oktober 2021 bis zum 6. Oktober 2027, vorschlagen wird. Nachdem Griechenland Herrn Athanasios Rantos, den bisherigen Präsidenten des „Staatsrats“ – das ist der oberste griechische Verwaltungsgerichtshof – für die frei gewordene Stelle eines GA vorgeschlagen hatte, wurde dieser in der Folge gem. Art. 4 des Beschlusses (EU) 2020/1251 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 2. September 2020 zur Ernennung von drei Richtern und eines Generalanwalts beim Gerichtshof36 für die verbleibende Amtszeit der vom UK vorgeschlagenen GA, dh vom 7. September 2020 bis zum 6. Oktober 2021, zum GA ernannt, womit gem. Art. 5 Abs. 3 iVm Art. 8 der Satzung des Gerichtshofs der EU37 die Amtszeit der vom UK nominierten britischen GA, Eleanor Sharpston, als beendet anzusehen war. 38 B.  Rechtsansicht der GA Eleanor Sharpston Damit ergab sich aber ein grundlegendes juristisches Problem, das eine Reihe komplexer Fragen aufwirft. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob durch die Ernennung von GA Athanasios Rantos nicht die Amtszeit von GA Sharpston rechtswidrig um rund ein Jahr – dh vom 6. Oktober 2021 auf den 7. September 2020 – verkürzt wurde. Eleanor Sharpston wurde am 11. Januar 2006, nachdem sie vom UK von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten als GA vorgeschlagen wurde, auf sechs Jahre ernannt. Nach einem neuerlichen Vorschlag des UK wurde sie durch Beschluss (EU, Euratom) 2015/578 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 1. April 201539 erneut für die Periode vom 7. Oktober 2015 bis zum 6. Oktober 2021 als GA bestellt. 35 Vgl. Rozenberg, J. British QC begins legal action against EU, The Critic Magazine, 30 April 2020, S. 2. 36 ABl. 2020, L 292, S. 2. 37 Protokoll (Nr. 3) über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. 2012, C 326, S. 210 ff. idF ABl. 2019, L 111, S. 1). 38 Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 10/20 vom 31. Januar 2020. 39 ABl. 2015, L 96, S. 1.

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Bei der Ernennung von GA Rantos gingen die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, wie vorstehend erwähnt, offensichtlich von der Rechtsansicht aus, dass mit dem Brexit alle vom Vereinigten Königreich vorgenommenen Nominierungen obsolet geworden sind. Gemäß dieser Ansicht kam es faktisch zu einer Gleichsetzung von britischen Richtern, die mit dem „Brexit“ automatisch ihren Posten verloren, und der vom UK traditionell nominierten Generalanwältin, sodass deren Mandat „ad personam“ ebenfalls kaduk wurde, obwohl die Position des GA, die sie bisher bekleidet hatte, nicht in Wegfall kam, sondern weiterbestand. Im Gegensatz zum Mandat der vom UK nominierten Richter, deren Funktion „brexitbedingt“ automatisch unterging, war der Posten von GA Sharpston rechtlich aber nicht direkt mit dem UK verbunden, sodass er, nach deren Ansicht, auch nicht automatisch untergegangen war. Die Zahl der GA war stets niedriger als die der Mitgliedstaaten, sodass die Parallele zur Stellung von Richtern – „No Member State, no judge“40 – nicht zutraf. Die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten hatten offensichtlich Art. 50 Abs. 3 EUV falsch interpretiert.41 Dementsprechend brachte GA Sharpston beim Gericht zwei Klagen ein, und zwar am 7. April 2020 eine auf teilweise Nichtigerklärung der Erklärung der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zu den Auswirkungen des Austritts des Vereinigten Königreichs auf die Generalanwälte des Gerichtshofes42 sowie am 9. April 2020 eine weitere auf teilweise Nichtigerklärung der Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 31. Jänner 2020, ihren Posten als Generalanwältin für vakant zu erklären und das Verfahren zur Ernennung eines Nachfolgers einzuleiten.43 Auf das Schicksal dieser Klage wird nachstehend noch eingegangen. Im Wissen um die personalpolitisch „heikle“ Situation hatte GA Sharpston in diesem Zusammenhang auch um eine vertrauliche Behandlung ihrer Anträge ersucht, ein Ansinnen, das allerdings durch die Indiskretion einer Brüsseler Tageszeitung vom 29. April 2020 zunichte gemacht wurde. Ebenso scheiterte sie mit zwei Versuchen, die angespannte Situation gütlich zu bereinigen, was sie zu einer Zurücknahme ihrer gerichtlichen Eingaben veranlasst hätte. Zum einen schlug sie diesbezüglich Ende Juni 2020 in einem Schreiben an die 27 Mitgliedstaaten, das sie über deren Ständige Vertreter in Brüssel zirkulierte, vor, den Beginn der Amtszeit von Herrn Rantos auf den 6. Oktober 2021 – das wäre das formelle Ende ihrer Amtszeit – zu verlegen. 40 Vgl. Halberstam, D. Could there be a Rule of Law Problem at the EU Court of Justice?, Verfassungsblog, vom 23. Februar 2020. 41 Vgl. Rozenberg, J. QC challenges attempt to throw her off EU court, A Lawyer Writes, vom 5. September 2020 42 Rs. T-180/20, JE/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (ABl. 2020, C 201, S. 35 f.). 43 EuG, Rs. T-184/20, JE/Gerichtshof der Europäischen Union (ABl. 2020, C 201, S. 36).

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Nachdem sie auf dieses „Offert“ keine Antwort bekommen hatte, machte sie im Juli 2020 einen weiteren Vorschlag, der darin bestand, die gerichtsförmige Austragung des Streitfalls zu sistieren und diesen diskret durch Mediation lösen zu lassen.44 C.  Antrag auf „Einstweilige Verfügung“ Dementsprechend beantragte GA Sharpston gem. Art. 278 und 279 AEUV bzw. Art. 157 Abs. 2 der VerfO des EuG am 4. September 2020 beim EuG gegen den vorerwähnten Beschluss (EU) 2020/1251 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten eine Einstweilige Verfügung, in der sie behauptete, dass dieser auf einer unrichtigen Interpretation von Art. 50 Abs. 3 EUV beruhe und auch einen ungerechtfertigten Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit darstelle. Anders als die Ämter britischer Richter beim Gerichtshof und beim EuG sei das Amt des GA rechtlich nicht an einen bestimmten Mitgliedstaat gebunden, sodass ein diesbezüglicher Vergleich zwischen Richtern und Generalanwälten unstatthaft sei. D.  Beschluss des EuG-Kammerpräsidenten Anthony M. Collins Der gem. Art. 157 Abs. 4 iVm Art. 12 der VerfO des EuG mit einem Eilantrag betraute Präsident der Dritten Kammer des EuG, Anthony M. Collins, gab dem Antrag von GA Sharpston mit Beschluss vom 4. September 2020 in der Rs. T-550/20 R45 statt, wobei er ua Folgendes als Begründung anführte: Die Ernennung von GA Rantos fußt offensichtlich auf der Überlegung, dass durch den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU einer der elf GA-Posten vakant geworden ist, was eben durch die Ernennung von GA Rantos kompensiert werden sollte. Aus der Sicht von GA Sharpston führt die Bestellung von GA Rantos aber gerade dazu, dass ihre Amtszeit als GA mit 7. September 2020 als beendet anzusehen ist, womit diese rechtswidrig um ein Jahr verkürzt wurde, da sie regulär ja bis zum 6. Oktober 2021 laufen würde. Dementsprechend fußt der Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Bestellung von GA Rantos auf einer rechtsirrigen Interpretation von Art. 50 Abs. 3 EUV, der allerdings durch den EuGH bis jetzt noch nicht verbindlich ausgelegt wurde. Diese Überlegungen erforderten nach Ansicht von Richter Collins eine detaillierte und gut begründete juristische Argumentation, bevor es zu einer definitiven Verhängung einer einstweiligen Verfügung kommen kann. Ferner könne sich eine umstrittene Konstellation von Amtsträgern im EuGH negativ auf die Geltung seiner Entscheidungen auswirken. Im Sinne der 44 Vgl. Rozenberg, J. A British lawyer is fighting her dismissal in a Kafkaesque postBrexit judicial quagmire, The Critic Magazine, September 2020, S. 2 f. 45 General Court of the European Union, Order of the Judge Hearing Application for Interim Measures, 4 September 2020.

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„Brexit“- und „Corona“-bedingte Änderungen in der Zusammensetzung

Rechtsstaatlichkeit in der EU gelte es daher, dies unter allen Umständen zu vermeiden. Dementsprechend suspendierte Richter Collins die Bestellung von GA Rantos durch den Beschluss (EU) 2020/1251 der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten46 bis zu dem Zeitpunkt, zu dem eine definitive Entscheidung über die gegenständliche einstweilige Verfügung ergangen ist und räumte den Mitgliedstaaten gem. Art. 157 Abs. 1 der VerfO des EuG die Möglichkeit ein, bis zum 11. September 2020 dazu Stellung zu nehmen. E. Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs, Rosario Silva de Lapuerta Gegen den Suspendierungsbeschluss von Richter Collins vom 4. September brachten sowohl der Rat der EU47, als auch die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten,48 bereits einen Tag später (sic), nämlich am 5. September 2020, gestützt auf Art. 57 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eine Berufung an den Gerichtshof ein, über die bereits wenige Tage später, nämlich am 10. September 2020, entschieden wurde. Ohne dass GA Eleanor Sharpston davon verständigt bzw. angehört wurde, fasste die damit betraute Vizepräsidentin des Gerichtshofs, Rosario Silva de Lapuerta, in beiden Rechtssachen den Beschluss,49 die Suspendierungsentscheidung von Richter Anthony M. Collins in der Rs. T-550/20 R beiseite zu lassen und den Antrag von GA Sharpston auf Erlass einer einstweiligen Verfügung in seiner Gesamtheit zurückzuweisen. Dabei berücksichtigte sie aber nicht, dass zum einen der Suspendierungsbeschluss von Richter Collins nicht endgültig war und zum anderen, dass den Mitgliedstaaten, wie vorstehend erwähnt, ja bis zum 11. September 2020 die Möglichkeit eingeräumt wurde, dagegen Einwendungen vorzubringen. Sie begründete diese Entscheidung vor allem damit, dass Richter Collins insofern ein Fehler unterlaufen ist, als er den angefochtenen Rechtsakt der Ernennung von GA Rantos durch die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten rechtsirrig qualifiziert hat. Es handelte sich dabei nämlich nicht um einen Rechtsakt des Rates, sondern um einen solchen, der von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf der Basis von Art.  253 Abs.  1 AEUV vorgenommen wurde. Als solcher ist dieser aber vor dem Gerichtshof nicht anfechtbar. Rechtsakte, die von Vertretern der Mitgliedstaaten der EU nicht in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Rates, sondern bloß als Vertreter ihrer jeweiligen Regierungen – und damit in Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft – gefasst werden, können gem. Art. 263 AEUV nicht mit einer Nichtigkeitsklage vor 46 47 48 49

Vgl. Fn. 36. Rs. C-423/20 P(R). Rs. C-424/20 P(R). Order of the Vice-President of the Court, 10 September 2020, in Case C-423/20 P(R) und Case C-424/20 P(R).

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den Gerichten der EU angefochten werden.50 Genau dies ist aber gegenständlich der Fall, da sowohl die Richter, als auch die GA des Gerichtshofs gem. Art. 253 Abs. 1 AEUV „von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen“ ernannt werden. Die vorerwähnte zweite Klage von Frau Sharpston vom 9. April 2020 richtete sich gegen den Brief des Präsidenten des Gerichtshofs, in dem dieser ihren Posten für vakant erklärte und die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten aufforderte, die Ernennung eines Nachfolgers auf die freiwerdende Stelle vorzunehmen. Das EuG wies diese Klage durch Beschluss vom 6. Oktober 2020 ebenfalls als unzulässig zurück. Tauglicher Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 AEUV kann nämlich nur eine Maßnahme sein, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, die die Interessen des Klägers durch eine qualifizierte Änderung seiner Rechtsstellung beeinträchtigen. Der Brief des Präsidenten sei hingegen nur eine Information und Aufforderung gewesen, der allein die Rechtsstellung von Frau Sharpston nicht ändern konnte. F.  Rechtliche Würdigung Die beiden Beschlüsse von Vizepräsidentin Silva de Lapuerta, nämlich auf Aufhebung der Suspendierungsentscheidung von Richter Collins und der daraus resultierenden Rechtsfolge der Beendigung der Amtszeit von GA Sharpston sowie deren Ersetzung durch GA Rantos, werfen eine Reihe von Rechtsfragen auf, die hier nur angedeutet werden können: Zum einen könnten sie die primärrechtliche Vorgabe des Art. 253 AEUV, der als Amtszeit für die ernannten GA eine 6-Jahres – Periode vorsieht, die nicht nachträglich durch die Vertreter der Mitgliedstaaten verkürzt werden kann, verletzen. Lediglich für den Fall einer Vakanz erlaubt Art. 253 AEUV die Nachbesetzung der Stelle eines GA, nicht aber, dass dadurch ein GA seines Amtes enthoben und durch einen anderen ersetzt wird. Eine solche Amtsenthebung könnte gem. Art. 6 iVm Art. 8 der Satzung des Gerichtshofs nur durch einstimmigen Beschluss der Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs erfolgen. Zum anderen könnte durch die Nichtverständigung von GA Sharpston vom Antrag auf einstweilige Anordnung durch die Vizepräsidentin Silva de Lapuerta Art. 160 Abs. 5 VerfO des Gerichtshofs verletzt worden sein, während – im Gegensatz dazu – Richter Collins den beklagten Parteien sehr wohl eine siebentägige Frist für die Einbringung ihrer schriftlichen Anträge eingeräumt und damit deren Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gem. Art. 47 EU Grundrechte-Charta gewahrt hat. Auf der anderen Seite ist gem. 50 EuGH, Rs. C-181/91 und C-248/91, Parlament/Rat und Kommission, Urteil vom 30. Juni 1993 (ECLI:EU:C:1993:271), Paragraph 12; vgl. Pache, E. Art. 263 AEUV, Rdnr. 18 in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Handkommentar, 2. Aufl. (2018), S. 1075.

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Art.  160 Abs.  7 VerfO des Gerichtshofs die Annahme eines solchen Beschlusses durch den Präsidenten des Gerichtshofs ohne weitere Anhörung der Gegenpartei an sich zulässig. Des Weiteren ist der fragliche Beschluss von Vizepräsidentin de Lapuerta rein verfahrensrechtlicher Natur, da durch ihn die offenkundige Unzulässigkeit – nach Art. 263 AEUV – der Klage gegen einen Akt der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, sowie, damit zusammenhängend, der Wegfall einer der Voraussetzungen für die einstweilige Verfügung festgestellt werden soll. Ganz allgemein hatte Vizepräsidentin de Lapuerta mit ihren Beschlüssen und der Sanktionierung der Bestellung von GA Rantos im Grunde aber eine meritorische und endgültige Sachentscheidung getroffen, obwohl sie an sich ja nur über die Rechtmäßigkeit einer einstweiligen Verfügung in Form einer Suspendierung – von Richter Collins – zu urteilen hatte.51 Sollte dies aber tatsächlich einen Rechtsirrtum darstellen, so könnte dies ironischerweise nur durch den Gerichtshof festgestellt werden… Somit aller unionsrechtlichen Berufungsmöglichkeiten beraubt, bleibt GA Sharpston lediglich die Erhebung einer Beschwerde an den „Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ (EGMR), mit Sitz in Straßburg, übrig. Dabei stellt sich aber, noch vor der Frage nach dem exakten Klagsziel, das grundsätzliche Problem der Zulässigkeit der Klage, das mit der Frage, wer denn eigentlich Beschwerdegegner ist, verbunden ist. Die EU, als Anstellungsbehörde scheidet dazu aus. Obwohl sie gem. Art. 6 Abs. 2 EUV der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beitreten müsste, ist dies bisher noch nicht geschehen. Es kam lediglich zu einer Einfügung von Abs. 2 in den Art. 59 EMRK, der den Beitritt der EU zur EMRK erlaubt.52 Sharpston müsste daher gegen diejenigen Mitgliedstaaten Beschwerde erheben, deren Vertreter – als Gruppe der Regierungen der Mitgliedstaaten – ihre Absetzung bestimmt haben, da nur diese Mitglieder der EMRK sind. Darüber hinaus wäre der Ausgang einer solchen Beschwerde aber mehr als fraglich. Wie das Verfahren Baka versus Hungary53 gezeigt hat, ist der 51 Vgl. Kochenov, D. – Butler, G. It’s Urgent III, Verfassungsblog, Friday 11 September 2020 (https://verfassungsblog.de/its-urgent-iii/); Rozenberg, J. EU court rules against British QC, A Lawyer Writes, September 10, 2020 (https://rozenberg.subs tack.com/p/eu-court-rules-against-british-qc). 52 Vgl. Hummer, W. Strukturdivergenzen zwischen dem Grundrechtsschutz in der EU und nach der EMRK – unter besonderer Berücksichtigung des zukünftigen Beitritts der EU zur EMRK, in: Grundrechtsschutz, Minderheitenschutz, Datenschutz – Weichenstellungen für Europa, 9. Rechtsschutztag des BM.I, Schriftenreihe BM.I, Bd. 14 (2012), S. 23 ff. 53 EGMR, Urteil vom 23. Juni 2016, Baka v Hungary, No. 20261/12; vgl. Kosar, D. – Sipulová, K. The Strasbourg Court Meets Abusive Constitutionalism: Baka v. Hungary and the Rule of Law, Hague J Rule Law, Published online: 02 November 2017.

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EGMR nicht in der Lage, eine Wiederherstellung des früheren Zustands in dem Sinn zu judizieren, als dass eine „restitutio in integrum“ von Frau Sharpston in ihre bisherige Funktion als GA zu erwarten wäre.54 Selbst nach einem erfolgreich verlaufenen Verfahren erhält ein Beschwerdeführer allenfalls einen Schadensersatzbetrag zugesprochen, jedoch niemals Primärrechtsschutz. In aller Härte und Konsequenz wird diesbezüglich festgestellt: „As parties that instigated these events, the Member States must hang their head in shame. Separately, the Court of Justice has failed to protect one of its own members. A tragic drama that, as custom, culminates in a tragedy“.55 G.  „Perpetuatio fori“ Was hingegen die Weiterführung bereits eingeleiteter oder die Einleitung neuer Verfahren betrifft, so sieht das Austrittsabkommen des Vereinigten Königreichs aus der EU und aus Euratom vom 12. November 201956 vor, dass der Gerichtshof der Europäischen Union für die Entscheidung in allen Verfahren zuständig bleibt, die vor dem auf den 31. Dezember 2020 festgesetzten Ende der Übergangszeit entweder vom Vereinigten Königreich selbst (aktiv), oder gegen dieses (passiv) eingeleitet werden. Des Weiteren bleibt der Gerichtshof für die Vorabentscheidung über die ihm vor dem Ende der Übergangszeit, dh vor dem 31. Dezember 2020, von den Gerichten des Vereinigten Königreichs vorgelegten Vorabscheidungsersuchen gem. Art. 267 AEUV, zuständig. III. „Corona“-bedingte und sonstige Änderungen verfahrensrechtlicher Natur A. Telearbeit Zum Schutz seiner Mitarbeiter und als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Corona-Virus hat der Gerichtshof beschlossen, ab dem 16. März 2020 generell Telearbeit einzuführen. Damit sind ab diesem Zeitpunkt aber auch die Räumlichkeiten des Gerichtshofs für Besucher und Mitarbeiter nicht zugänglich, mit Ausnahme von Personen, die wichtige Aufgaben zu erfüllen haben. Als Sofortmaßnahme mussten in Anbetracht der in Luxemburg geltenden Ausgangsbeschränkungen zunächst die für die Zeit vom 16. März bis zum 30. April bzw. bis zum 15. Mai angesetzten mündlichen Verhandlungen sowohl des Gerichtshofs, als auch des Gerichts, verschoben werden, wobei die Kanzleien der 54 Vgl. Kochenov/Butler, It’s Urgent III (Fn. 51), S. 8. 55 Kochenov/Butler, It’s Urgent III (Fn. 51), S. 8. 56 ABl. 2019, CI 384, S. 1 ff.; das Austrittsabkommen des UK aus der EU trat am 1. Februar 2020 in Kraft.

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beiden Gerichte Kontakt zu den Parteienvertretern aufgenommen und diese von den Verschiebungen verständigt haben. Diese Informationen sind auch auf der Website des Gerichtshofs gespiegelt. Um sicherzustellen, dass seine Rechtssprechungstätigkeit in einem Kontext genereller Telearbeit aufrechterhalten bleiben kann, hat der Gerichtshof eine Reihe von technischen Anpassungen vorgenommen, um die Kontinuität der Rechtspflege in der EU zu gewährleisten. So wurde vor allem die Ausstattung des Personals mit IT-Hardware zur Ermöglichung von Telearbeit ab Anfang Februar 2020 beschleunigt. Unter Beachtung der einschlägigen Verfahrensregeln hat der Gerichtshof der Europäischen Union eine Reihe von Anpassungen vorgenommen, um eine Unterbrechung der Arbeiten der jeweiligen Rechtssachen zu vermeiden, wie zB Beschlussfassungen im schriftlichen Verfahren, Stellung schriftlicher Fragen an die Parteien, Umgestaltung der Vorgehensweise bei der Verkündung von Urteilen, und der Verlesung von Schlussanträgen, Erleichterungen bei der Eröffnung eines Kontos für e-Curia,57 um auf elektronischem Weg Verfahrensschriftstücke einzureichen und Zustellungen entgegenzunehmen. Beide Gerichte haben beschlossen, besonders dringliche Rechtssachen – wie zB Eilverfahren, beschleunigte Verfahren und Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorrangig zu bearbeiten und die Urteilsverkündigungen sowie die Verlesungen der Schlussanträge vom Präsidenten des Gerichtshofs bzw. des Gerichts sowie einem Generalanwalt gebündelt vorzunehmen. Diese Urteile und Schlussanträge wurden mittels Telearbeit anhand der üblichen Standards des Gerichtshofs und des Gerichts übersetzt, verbreitet, veröffentlicht und mitgeteilt.58 Daneben läuft aber die Bearbeitung der übrigen Rechtssachen weiter. Unter Berücksichtigung der von den luxemburgischen Behörden getroffenen Gesundheitsmaßnahmen und der vorgesehenen Lockerungen änderte sich dieser Arbeitsmodus des Gerichtshofes und des Gerichts ab dem 25. Mai, wobei aber an der generellen Telearbeit grundsätzlich festgehalten wird. Damit konnten in der Zeit vom 25. Mai bis zum 15. Juli 2020 wieder mündliche Verhandlungen durchgeführt werden, sofern die Rahmenbedingungen dies gestatten. Die Wiederaufnahme wird aber an Hygienevorschriften und Maßnahmen der sozialen Distanzierung geknüpft, die es ermöglichen, den Gesundheitsschutz aller Beteiligten zu gewährleisten.

57 Vgl. Hummer, W. Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“ – Allein zulässige elektronische Übermittlung von Prozessakten ab Anfang Dezember 2018, EU-Infothek vom 24. Oktober 2018, S. 1 ff.; vgl. dazu auch Fn. 64 bis 67, nachstehend auf S. 438. 58 Gerichtshof der EU, Pressemitteilung Nr. 46/20, vom 3. April 2020.

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B.  Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs Des Weiteren änderte der Gerichtshof am 1. Dezember 201959 seine vom 25. September 2012 stammende Verfahrensordnung (VerfO)60, um vor allem bestimmten Änderungen an den Vorschriften über die Zustellung und die Veröffentlichung von Verfahrensschriftstücken entsprechend Rechnung zu tragen. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Änderung der Verfahrenssprache in Vorabentscheidungsverfahren. In diesen Verfahren ist an sich die Sprache des vorlegenden Gerichts die jeweilige Verfahrenssprache. Den Vertragsstaaten des EWR-Abkommens (Liechtenstein, Norwegen, Island), die nicht EU-Mitgliedstaaten sind, sowie der EFTAÜberwachungsbehörde,61 ist es aber gestattet, sich statt der Verfahrenssprache einer anderen der in Art. 36 VerfO Gerichtshof genannten Sprachen zu bedienen, wenn sie sich an einem Vorabentscheidungsverfahren beteiligen, oder einem beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreit als Streithelfer beitreten (Art. 38 Abs. 5 VerfO Gerichtshof). C.  Praktische Hinweise für die Parteien In der Folge hat der Gerichtshof auch eine neue Fassung seiner Praktischen Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof62 angenommen, die Bevollmächtigte und Anwälte für bestimmte aktuelle Entwicklungen, die insbesondere den Schutz personenbezogener Daten und die Behandlung von Rechtsmitteln betreffen, sensibilisieren sollen. Was das schriftliche Verfahren betrifft, so wurden vor allem folgende Vorkehrungen getroffen: Um einer bereits vorgenommenen Anonymisierung nicht jede praktische Wirksamkeit zu nehmen, werden die Vertreter der Parteien aufgefordert, in ihren Schriftsätzen oder schriftlichen Erklärungen uneingeschränkt die Anonymität zu wahren, die bereits im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vom vorlegenden nationalen Gericht oder vom Gerichtshof, bzw im Falle eines Rechtsmittelverfahrens, vom Gericht (EuG) gewährt wurde. Was wiederum die Rechtsmittel gegen Entscheidungen des EuG betrifft, so weisen die neuen Praktischen Anweisungen vor allem auf die Verpflichtung hin, dass mit der Rechtsmittelschrift ein Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels dann eingereicht werden muss,

59 ABl. 2019, L 316/103 ff. 60 ABl. 2012, L 265, S. 1 ff., zuletzt geändert am 9. April 2019 (ABl. 2019, L 111, S. 73). 61 Vgl. dazu grundlegend Hummer, W. – Pribas, S. Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR). Die Sonderbeziehung EG/EU – EFTA bis zum Brexit, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 51. Ergänzungslieferung Oktober 2020. 62 ABl. 2020, L 42 I, S. 1 ff.

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wenn das Rechtsmittel eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufwirft.63 Des Weiteren heben die Praktischen Anweisungen einmal mehr hervor, dass alle formalen Eingaben für die Verfahrensschriftstücke eingehalten werden und konsequent über die Anwendung von e-Curia übermittelt werden müssen. Um vor allem deren Übersetzung durch den Gerichtshof zu erleichtern, werden die Parteien allerdings gebeten, zusätzlich zum Versand über e-Curia, per E-Mail eine editierbare Fassung der Schriftsätze an die Adresse [email protected] zu übermitteln.64 Die elektronische Verfahrensabwicklung (e-Curia) wurde im September 2011 sowohl für den EuGH,65 als auch für das EuG66 erstmals eingerichtet, zwischenzeitlich aber neu ausgestaltet. Für den Gerichtshof gilt diesbezüglich der Beschluss des Gerichtshofs vom 16. Oktober 2018 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia67 und für das EuG der korrespondierende Beschluss des Gerichts vom 11. Juli 201868. Was das mündliche Verfahren betrifft, so erläutert der Gerichtshof im Detail, nach welchen Kriterien eine mündliche Verhandlung anberaumt wird und welche Vorkehrungen unter Umständen von den Bevollmächtigten und Anwälten davor zu treffen sind. Auch werden weitere Klarstellungen bezüglich der Sprache, in der die mündlichen Ausführungen gemacht werden müssen, angegeben. IV. Fazit Lässt man die vorstehenden Ausführungen Revue passieren, so kann man feststellen, dass den durch den „Brexit“ und die „Corona-Krise“ geänderten Anforderungen an die Verfahrensmodalitäten am Gerichtshof im Großen und Ganzen entsprechend Rechnung getragen wurde. Was hingegen die Behandlung der Konsequenzen des „Brexit“ auf die Rechtsstellung der vom UK nominierten GA Eleanor Sharpston betrifft, so liegen diesbezüglich diametral entgegengesetzte Rechtsansichten vor. Man könnte in diesem Zusammenhang auch noch diskutieren, ob es rechtsstaatlich überhaupt gerechtfertigt ist, dass die Entscheidungen der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten de lege lata nicht anfechtbar 63 Art. 58a des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. 2019, L 111, S. 3) (Fn. 37). 64 Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 19/20, vom 2. März 2020, S. 1. 65 ABl. 2011, C 289, S. 7 ff. 66 ABl. 2011, C 289, S. 9 ff.; vgl. dazu Artikel 12, vorstehend auf S. 182 ff. 67 ABl. 2018, L 293, S. 36 ff. 68 ABl. 2018, L 240, S. 72 ff.; vgl. Hummer, Einreichen und Zustellung von Verfahrensschriftstücken beim Gericht der EU (EuG) nur mehr mittels „e-Curia“ (Fn. 57).

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sind, was aber grundsätzlich geändert werden müsste. Was bedeutet es überhaupt, dass die Richter und GA von der Exekutive ernannt werden und von dieser auch wieder abberufen werden können, ohne dass es ein Rechtsmittel – weder gegen die Ernennung, noch gegen die Abberufung – gibt? Ist dadurch die Unabhängigkeit der Judikative auf der Ebene der EU überhaupt entsprechend gewahrt? Fragen über Fragen, die – im Gefolge des „Brexit“ – zwar nur aus Anlass der Abberufung einer GA aus ihrer bisher innegehabten Position aufgeworfen werden, aber zu ganz grundlegenden Erörterungen Anlass geben. Quelle: EU-Infothek vom 20. Oktober 2020, S. 1 – 7 (Artikel Nr. 34) PS: Siehe dazu die Beschlüsse des Gerichtshofs in den Rechtssachen C-684/20 P, Sharpston/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (ECLI:EU:C:2021:486) und C-685/20 P, Sharpston/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (ECLI:EU:C:2021:485) vom 16. Juni 202169. Vgl. dazu Artikel Nr. 30, vorstehend auf S. 384 ff.

69 Gerichtshof der Europäischen Union, Presseerklärung no 104/21.

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35. Ist der Erwerb „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ EU-konform? Die Europäische Kommission ist anderer Meinung Warum ist der „Verkauf“ von Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsberechtigungen aus verfassungsrechtlicher, völkerrechtlicher und europarechtlicher Sicht unterschiedlich zu beurteilen? Einführung Nachdem sie jahrelang zwar den Mißbrauch kritisiert, letztlich aber auch geduldet hatte, gab die Europäische Kommission mit der Einleitung zweier Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern und Malta im Oktober 2020 nunmehr zu erkennen, dass sie offensichtlich Ernst machen und den Verkauf von Pässen („Goldene Pässe“) und Visa („Goldene Visa“) durch diese beiden EU-Mitgliedstaaten sanktionieren und unterbinden will. Damit trifft sie aber nur die Spitze des Eisbergs, da diese Praxis in Wahrheit von einer Reihe anderer EU-Mitgliedstaaten ebenfalls geübt wird, die bereits seit Langem diese Praktiken anwenden, ohne dass sie dafür aber bisher gerügt wurden. Als einer der Ersten, der diese Frage aufgegriffen hat, hat sich der Autor des gegenständlichen Beitrags bereits im Jahr 20121 damit befasst, zu untersuchen, ob diese Vorgangsweise zulässig bzw rechtmäßig ist, und ob diesbezüglich zwischen dem Staatsrecht, dem Völkerrecht und dem Europarecht zu differenzieren ist. Dabei standen am Anfang die aktuell gerügten gewinn­ orientierten Praktiken der beiden inkriminierten Mitgliedstaaten Zypern und Malta zugunsten wohlhabender ausländischer Investoren gar nicht im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern vielmehr die von Bulgarien und Rumänien, die, nicht nur aus ökonomischen, sondern vor allem auch aus historischen und politischen Überlegungen, vor allem Staatsangehörigen von Nachbarstaaten erleichterte Einbürgerungen gewährten. Dass die dabei eingebürgerten Moldawier, aber auch Albaner, Mazedonier und Ukrainer, damit zugleich Unionsbürger mit allen angestammten Rechten wurden, wurde zunächst nicht releviert und dementsprechend von der Kommission auch nicht unmittelbar verfolgt und entsprechend sanktioniert. Erst später wurden die Risken des Verkaufs von Staatsbürgerschaften („Goldene Pässe“) und Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen („Goldene Visa“) zugunsten von vermögenden Investoren aus Drittstaaten erkannt 1 Hummer, W. Einbürgerung in den Mitgliedstaaten der EU, EU-Infothek vom 27. November 2012 (zugleich in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 2 (2014), S. 403 ff.); Hummer, W. Ist der Verkauf von Staatsbürgerschaften an Drittstaater durch EU-Mitgliedstaaten zulässig?, EU-Infothek vom 3. Dezember 2012 (zugleich in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 2 (2014), S. 709 ff.).

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und kritisch beurteilt, da diese sowohl das „genuine link“ – Kriterium des Völkerrechts, als auch die europarechtlichen Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit und der Integrität des Status der Unionsbürgerschaft massiv verletzten. Aus Platzgründen kann die nachstehende Untersuchung diese komplexen Probleme allerdings nicht in ihrer Gesamtheit anführen, sondern nur versuchen, diese so kompakt als möglich darzustellen. Ausgangslage des Problems Dass Staaten aus einer Reihe von Gründen bereit sind, die ihnen (völkerrechtlich) vorgegebene „Nahebeziehung“ bei der (staatsrechtlichen) Einbürgerung von Drittstaatern nicht nur zu vernachlässigen, sondern sogar bewusst zu unterlaufen, ist ein Faktum. Dass sie dabei aber zugleich auch unionsrechtliche Pflichten verletzen, wird einem erst dann bewusst, wenn man sich vor Augen hält, dass mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft eines EUMitgliedsstaates automatisch auch die Unionsbürgerschaft in der EU, mit all ihren Vorrechten, erworben wird. Insoferne hängen Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft sehr eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Diese Überlegung wird aber von den Mitgliedstaaten der EU, die gegen Geldleistungen oder Investitionen im Inland Pässe und Visa an Drittstaater vergeben, die keine wie immer geartete Nahebeziehung zu ihnen haben, bewußt mißachtet. Nachstehend sollen die wichtigsten von ihnen kurz aufgelistet werden. Bulgarien In Bulgarien wird der Verkauf von Pässen seit 2005 ermöglicht, wobei eine Gesamtinvestition in Höhe von 1 Mio. Euro für ein beschleunigtes Einbürgerungsverfahren nach der bestehenden Staatsbürgerschaftsregelung für Investoren erforderlich ist. Nach einer Reihe früherer Vorfälle kam es im Jahr 2016 in Bulgarien zu einem veritablen Pass-Skandal. Rund 40.000 Staatsbürgerschaften sollen in den letzten fünf Jahren an Mazedonier und Albaner verkauft worden sein. Aufgedeckt wurde der Verkauf dieser „Goldenen Pässe“ bereits 2014, und zwar durch die damalige Direktorin im Staatsbürgerschaftsrat, Katya Mateva, die Alarm schlug, als sie bemerkte, dass gegen Schmiergeldzahlungen falsche Herkunfsbescheinigungen an Albaner und Mazedonier ausgestellt wurden, die gar keine bulgarischen Vorfahren hatten. Sie wurde daraufhin im August 2016 vom damaligen Justizminister, Tsetska Tsacheva, fristlos aus dem Staatsdienst entlassen.2 Nach ihrer Entlassung nahm die Zahl der verkauften „Goldenen Pässe“ exponentiell zu.

2 Bulgarien verkauft EU-Pässe: Union ist machtlos!; https://www.krone.at/1848379.

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Ende 2020 bestätigte der Oberste Verwaltungsgerichtshof (SAC) Bulgariens die Rechtswidrigkeit ihrer Entlasssung.3 Rumänien Noch größere Ausmaße nimmt der Pass-Skandal in Rumänien ein, das allein 2011 und 2012 rund 152.000 Ausländer, zumeist aus der Nachbarrepublik Moldau stammend, eingebürgert hat.4 Der rumänische Staatspräsident Traian Basescu erklärte in diesem Zusammenhang, dass er insgesamt 700.000 bis 800.000 moldawische Anträge auf eine rumänische Staatsbürgerschaft erwarte. Moldau ist ein Kleinstaat mit etwa 3,5 bis 4 Mio. Einwohnern. Rumänien vergab zwischen 1991 und 2012 im Rahmen des sog. „vereinfachten Verfahrens“ an 335.000 Ausländer seine Staatsbürgerschaft, vor allem an Moldauer und Ukrainer. Während das Interesse an rumänischen Pässen in den ersten 15 Jahren eher gering war, änderte sich dies schlagartig mit dem Beitritt Rumäniens zur EU im Jahre 2007. Gemäß einem Gesetz aus dem Jahr 1991 können in Rumänien Antragsteller mit einem Privatvermögen ab einer Mio. Euro, oder international bekannte Persönlichkeiten, die rumänische Staatsbürgerschaft erhalten. Aber auch Personen, deren Vorfahren bis in die dritte Generation hinein einmal einen rumänischen Pass besessen haben – dies ist bei den meisten Moldauern der Fall, da ihr Land und weite Teile des heutigen Rumäniens ja zwischen 1918 und 1940 in einem Staat beheimatet waren – genießen diese Vergünstigung. Was nunmehr die beiden inkriminierten Mittelmeerstaaten Malta und Zypern betrifft, so stellt sich die Situation in diesen folgendermassen dar. Malta Malta, eine kleine Mittelmeerinsel mit 316 km2 und knapp 450.000 Einwohnern, trat am 1. Mai 2004 der EU bei. Im November desselben Jahres verabschiedete das maltesische Parlament eine Zusatzbestimmung zum maltesischen Staatsbürgerschafts-Gesetz, das sog. „Individual Investor Programme“ (IIP), das, nach Aussage von Ministerpräsidenten Joseph Muscat, die Möglichkeit eröffnen sollte, dass finanziell situierte Drittstaater von außerhalb der EU – vor allem aus Russland und China – die Möglichkeit erhalten, um 650.000 Euro die Staatsbürgerschaft von Malta zu erwerben, und zwar ohne irgend ein Wohnsitz- oder Aufenthaltserfordernis in Malta. Dieser Betrag ist an einen unabhängig verwalteten „Nationalen Entwicklungsfonds“ 3 Whistleblower’s dismissal illegal, Bulgarian court rules; https://www.euractiv.com/ section/politics/short_news/whistleblowers-dismissal-illega...; 4 Lutz, M. – Schiltz, C. B. Rumänien wird zum Einfallstor in die EU, Die WELT vom 9. Januar 2014; https://www.welt.de/123677197.

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abzuführen. Daneben ist eine Investition in Höhe von 150.000 Euro zu tätigen und ein Nachweis über Eigentum an einer Immobilie in Malta oder über die Anmietung einer solchen, zu erbringen. Für die Familienangehörigen eines solchen „high value individual“, nämlich die Ehefrau und die minderjährigen Kinder, wären noch zusätzlich 25.000 Euro je Person zu zahlen. Großjährige und unverheiratete Kinder zwischen 18 und 25 Jahren sowie unterhaltsberechtigte Eltern können sich, parallel dazu, die maltesische Staatsbürgerschaft um je 50.000 Euro „erkaufen“. Dazu kommen noch namhafte Gebühren für eine besonders strenge Sicherheitsüberprüfung (sog. „due diligence“), die als die rigideste aller Pass­programme weltweit gilt.5 Das mit der Implementierung des IIP betraute Unternehmen Henley & Partners, mit Sitz auf der britischen Kanalinsel Jersey, berechnete in diesem Zusammenhang im Jahr 2012, dass für die kommenden Jahre von jährlich 200 bis 300 Bewerbungen auszugehen ist, eine Vermutung, deren Höhe zwischenzeitlich aber mehrfach übertroffen wurde. Malta nahm im Jahr 2014 zwar das formelle Erfordernis eines Wohnsitznachweises in seine aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen auf, sah in praxi diese Anforderung aber als erfüllt an, wenn der Antragsteller eine Aufenthaltsgenehmigung für den Aufenthalt in Malta erhält, selbst wenn er dort keinen Wohnsitz unterhält, sondern gegebenenfalls Nachweise über Spenden an gemeinnützige Einrichtungen in Malta, eine Mitgliedschaft in einem örtlichen Sportverein uam., vorlegt. Trotz des entlarvenden Berichts des TV-Senders Al Jazeera („The Cyprus Papers“) von Mitte Oktober 2020, der eine Fülle von Mißständen dokumentierte, hat Malta angekündigt, sein bisheriges Investitionsmodell für Pässe beibehalten zu wollen. Man sei der „Gold Standard – das sicherste Passprogramm der Welt“.6 Besondere Aufmerksamkeit erhielt der maltesische Passhandel aber durch die Ermordung der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia – die zu korrupten Geschäften der maltesischen Regierung recherchiert hatte – am 16. Oktober 2017 durch eine Autobombe, wobei deren Berichterstattung immer wieder um das maltesische Passverkaufsprogramm kreiste.7 Die ZEIT berichtete ausführlich darüber, wie zentral dieses Programm für den Sumpf aus Korruption und Geldwäsche in Malta ist.8

5 Hummer, Ist der Verkauf von Staatsbürgerschaften an Drittstaater durch EU-Mitgliedstaaten zulässig? (Fn. 1), S. 709 f. 6 Edelhoff, J. Goldene Pässe: EU-Verfahren gegen Zypern, vom 20. 10. 2020 7 Vgl. Kitzler, J.-C. Die Männer hinter dem Mord an Daphne, Weltzeit Archiv vom 24. Februar 2020; https://www.deutschlandfunkkultur.de/korruption-in-malta-diemaenner-hinter-dem-mord-an-daphne.979.de.html?dram:article_id=470982 8 Der Passhandel und der Mord von Malta, Das Erste.ndr vom 19. 4. 2018.

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Zypern Was hingegen Zypern betrifft, so bietet dieses mit seinem Programm „Staatsbürgerschaft durch Investititon“ (Citizenship by investment) einen ähnlichen Anreiz zum Erwerb seiner Staatsbürgerschaft. 2011 führte Zypern ein „Citizenship-by-Investment-Programme“ ein, das ausländischen Investoren für den Fall einer Investition in Zypern, in Höhe von mindestens 2 Mio. Euro, den automatischen Erwerb der zypriotischen Staatsbürgerschaft sichert. Drei Monate nach erfolgter Investition bekommt der Investor seinen zypriotischen Pass ausgehändigt. Die Verleihung der zypriotischen Staatsbürgerschaft zieht keine Verpflichtung nach sich, in Zypern selbst Wohnsitz zu nehmen.9 Das Programm wurde in der Folge mehrfach modifiziert. So verkündete der zypriotische Präsident Nicos Anastasiades am 24. Mai 2013 den Beschluß seiner Regierung, dass Zypern allen Ausländern, die mindestens 3 Mio. Euro durch die Zeichnung zypriotischer Staatsanleihen im Zuge der „bail-out“-Übereinkunft zur Behebung der Finanzkrise10 verloren hatten, den Erwerb der zypriotischen Staatsbürgerschaft anbiete. Am 25. Juli 2019 verabschiedete das zypriotische Parlament wiederum eine Verschärfung dahingehend, dass eine einmal vergebene Staatsbürgerschaft – ua für jene „high risk“-Personen, die ein schweres Verbrechen begangen haben, von Interpol gesucht oder von Sanktionen betroffen sind, die in den letzten zehn Jahren seit Erhalt des zypriotischen Passes verhängt wurden – wieder zurückgenommen werden kann.11 Für die Regierung in Nikosia waren die „Goldenen Pässe“ ein lohnendes Geschäft. In den vergangenen sieben Jahren sollen rund 7.000 Personen aus über 70 Staaten, mehrheitlich Russen und Chinesen, die zypriotische Staatsbürgerschaft erhalten haben.12 Seit 2013 nahm Zypern auf diese Weise rund 8,25 Mrd. Euro ein.13 Nach dem Erscheinen des vorstehend erwähnten kritischen Berichts des TV-Senders Al Jazeera kündigte Zypern an, die umstrittene Praxis zu beenden. Im Gegenzug verwies der Sprecher der Europäischen Kommission 9 Bensch, K. Zwielichtiger Handel mit EU-Pässen, tagesschau.de vom 10. 10. 2018; vgl. auch Edelhoff, J. – Salewski, C. Die Passhändler, Das Erste, ndr vom 23. 11.2017. 10 Vgl. dazu Hummer, W. Von der amerikanischen „Subprime-Crisis (2007) zum permanenten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (2013 ff.), in: Hummer, W. (Hrsg.), Die Finanzkrise aus internationaler und österreichischer Sicht – Vom Rettungspaket für Griechenland zum permanenten Rettungsschirm für den Euro-Raum (2011), S. 162 ff. 11 Al Jazeera Investigative Unit, Exclusive: Cyprus sold passports to criminals and fugitives, vom 23. 8. 2020; The Cyprus Papers; https://interactive.aljazeera.com/ aje/2020/cyprus-papers/index.html 12 Fragwürdige Geschäfte mit „goldenen Pässen“: EU nimmt Zypern ins Visier, rnd vom 29. 9. 2020. 13 Blauer Ozean, goldene Pässe, Wiener Zeitung vom 12. November 2020, S. 6.

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aber darauf, dass die Regelung ja bis zum 1. November 2020 gelte und bisherige Anträge auch danach noch bearbeitet würden. Zudem gebe es Forderungen in Zypern, auf die Passverleihung nicht zu verzichten, sondern nur ein alternatives System dazu einzuführen. Neuerdings entdecken auch die Briten ihre einstige Kolonie als Refugium: sie beantragen zypriotische Pässe, um ihre vom “hard Brexit” bedrohte EU-Freizügigkeit zu retten. Montenegro In Montenegro, einem offiziellen EU-Beitrittskandidaten seit dem 17. Dezember 2010, wurde am 22. November 201814 von der Regierung unter Ministerpräsident Duško Marković ebenfalls eine erleichterte Staatsbürgerschaftsregelung für Investoren angenommen, mit deren Umsetzung bereits im Januar 2019 begonnen wurde. Ob sich Montenegro damit eine gute Ausgangsposition für die weiteren Beitrittsverhandlungen geschaffen hat, bleibt allerdings abzuwarten. „Goldene Visa“ als Vorstufe zur Staatsbürgerschaft Weitere 20 EU-Mitgliedstaaten locken Investoren mit vereinfachten Aufenthaltsgenehmigungen („Goldene Visa“), die in vielen Fällen die Vorstufe für eine spätere Staatsbürgerschaft sind.15 So hat zB Portugal mit seinem „Goldene Visa-Programm“ mehr als 20.000 langfristige Visa – vor allem an Personen aus den ehemaligen Kolonien, wie Angola und Brasilien – verkauft, die nach fünf Jahren automatisch zu Staatsbürgerschaften geführt haben.16 Ungarn wiederum bot seit 2012 jedem Drittstaater im Gegenzug gegen den Ankauf von speziellen Staatsanleihen in Höhe von 300.000 Euro eine Aufenthaltsgenehmigung an, warb aber zugleich um eine Wohnsitznahme in Ungarn – in Form eines „investor residency bond program“.17 2018 wurde dieses Programm aber wieder beendet.18 Griechenland wiede­ rum bietet seit sieben Jahren erleichterte Aufenthaltsgenehmigungen an. Man muss 250.000 Euro in Immobilien investieren, dann gibt es das „Goldene Visum“ dazu – also keinen Pass und keine Staatsbürgerschaft – und zwar in Form einer Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre. Bisher haben an 14 Die Regierung von Montenegro nahm am 22. November 2018 die „Decision on the criteria, method and procedure for selection of persons who may acquire montenegrin citizenship by admission for the purpose of implementation of special investment programs of special importance for the business and economic interests of Montenegro“ an. 15 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/19/526. 16 EU leitet Verfahren gegen Zypern und Malta ein, ZEIT ONLINE vom 20. 10. 2020. 17 Crisis cash in: Hungary offers citizenship for investment, RT News vom 31. 10. 2012. 18 Vgl. Martini, M. Hungary’s controversial Golden Visa scheme: ins and outs, vom 29. März 2018; https://voices.transparency.org/hungarys-controversial-golden-visascheme-ins-and-o...

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die 8.000 Personen ein solches „Goldenes Visum“ bekommen, drei Viertel von Ihnen sind Chinesen, es sind aber auch viele Türken dabei. Für den griechischen Immobilienmarkt ist das Programm eine Goldgrube: mehr als 2 Mrd. Euro sind ins Land geflossen und haben dazu beigetragen, Griechenland aus der schweren Wirtschaftskrise zu retten. Die griechische Regierung sieht deswegen keinen Grund, das Programm einzuschränken, da sie ja nicht gleich eine Staatsbürgerschaft verkauft. Um diese zu erhalten, müssen die Bewerber ja mindestens sieben Jahre lang in Griechenland gelebt haben.19 Ganz allgemein muss in diesem Zusammenhang aber angemerkt werden, dass ein „Goldenes Visum“ an sich nur zum Aufenthalt im Staatsgebiet des ausstellenden Staates, nicht aber außerhalb desselben, berechtigt. Der Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels (aus einem Schengen-Staat) kann sich aber auch innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen bis zu 90 Tage frei im Schengen-Raum bewegen, der gegenwärtig 26 Staaten umfasst. Staatsrechtliche, völkerrechtliche und europarechtliche Aspekte der Staatsbürgerschaft Staatsrechtlich steht es grundsätzlich jedem souveränen Staat frei, über die Vergabe seiner Staatsbürgerschaft allein zu disponieren bzw. den Erwerb derselben durch Drittstaater entsprechend seinen Vorstellungen zu konditionieren. So lautet zB § 10 Abs. 6 des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes (StBG) 198520 (Verfassungsbestimmung) hinsichtlich einer erleichterten Verleihung der Staatsbürgerschaft an Drittstaater „im Interesse der Republik“ wie folgt: „Die Voraussetzungen des Absatzes 1 Ziff. 121 und 722 sowie des Absatzes 323 entfallen, wenn die Bundesregierung bestätigt, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft wegen der vom Fremden bereits erbrachten und von ihm noch zu erwartenden außerordentlichen Leistungen im besonderen Interesse der Republik liegt“. Das „besondere Interesse der Republik“ muss dabei durch einen einstimmigen Beschluss der österreichischen Bundesregierung dokumentiert werden, wie dies zB im Fall der Operndiva Anna Netrebko, des Milliardärs Frank Stronach und des russischen Oligarchen Oleg Deripaska der Fall war.24 Österreich hat dabei aber

19 Klein, B. – Buttkereit, C. – Bormann, T. Wie die EU gegen „Goldene Pässe“ vorgeht, Deutschlandfunk vom 12. November 2020. 20 BGBl. 311/1985 idF BGBl. I 96/2019. 21 Mindestens zehnjähriger (bei besonders gut integrierten Fremden gem. § 11a Abs. 6 StBG auf mindestens sechs Jahre verkürzt) rechtmäßiger und ununterbrochener Aufenthalt in Österreich, davon mindestens fünfjährige Niederlassung im Land. 22 Hinreichend gesicherter Lebensunterhalt. 23 Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband. 24 Hummer, Ist der Verkauf von Staatsbürgerschaften an Drittstaater durch EU-Mitgliedstaaten zulässig? (Fn. 1), S. 713.

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die völkerrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben zu beachten, die sich, wie folgt, darstellen. Völkerrechtlich wird grundsätzlich ein effektives soziales Naheverhältnis (sog. „genuine link“) zwischen dem Staat und seinen Staatsbürgern gefordert, so wie dies der Internationale Gerichtshof (IGH) 1955 in seinem „leading case“ Nottebohm25 festgestellt hatte. Dieses Kriterium macht vor allem, wie im Falle Nottebohm, beim diplomatischen Schutzrecht sowie bei Doppelstaatern Sinn, da hier ein besonderes Treueverhältnis zum Heimatstaat zum Ausdruck kommen soll. Unionsrechtlich ist zunächst festzustellen, dass gem. Art.  9 EUV und Art. 20 AEUV ein Unionsbürger derjenige ist, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht. Da in diesen beiden Artikeln die Begriffe „Staatsangehörigkeit“ und „Staatsbürgerschaft“ gleichzeitig verwendet werden, ist zunächst zwischen ihnen zu unterscheiden. Staatsbürgerschaft („citizenship“), als staats- bzw. verfassungsrechtlicher Begriff, kennzeichnet in diesem Zusammenhang die sich aus der Staatsangehörigkeit ergebenden Rechte und Pflichten einer natürlichen Person in dem Staat, dem sie angehört. Die Staatsangehörigkeit („nationality“), als völkerrechtlicher Begriff, bezeichnet hingegen das „rechtliche Band zwischen einer Person und einem Staat“.26 Die Staatsbürgerschaft ist also gleichsam das rechtliche Substrat, das aus der Staatsangehörigkeit einer physischen oder juristischen Person folgt. Die Innehabung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU ist also begrifflich Voraussetzung für den damit automatisch verbundenen Erwerb der Unionsbürgerschaft in der EU. Die EU-Mitgliedstaaten haben untereinander die jeweiligen Verleihungen der Staatsangehörigkeit durch die anderen Mitgliedstaaten zu beachten und dürfen diese nicht durch zusätzliche Voraussetzungen beschränken.27 Verliert ein Unionsbürger hingegen seine nationale Staatsbürgerschaft in einem EU-Mitgliedstaat – zB durch die freiwillige Annahme einer Staatsbürgerschaft eines Drittstaates oder durch die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung28 – dann geht an sich zugleich auch seine Unionsbürgerschaft verloren. Die Unionsbürgerschaft ist mit folgenden spezifischen Rechten verbunden: Recht auf Aufenthalt und Mobilität in der EU, Kommunalwahlrecht, Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP), Recht auf 25 IGH, Liechtenstein v. Guatemala, Urteil vom 6. April 1955, ICJ Reports 1955, S. 4 ff. 26 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (SEV Nr. 166), vom 6. November 1997, Art. 2. 27 EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239 ff. (ECLI:EU:C:1992:295). 28 Vgl. EuGH, Rs. C-135/08, Rottmann/Freistaat Bayern, Slg. 2010, I-1449 ff. (ECLI:EU:C:2010:104); vgl. Hummer/Vedder/Lorenzmeier, Europarecht in Fällen, 7. Aufl. (2020), S. 455 ff.

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diplomatischen und konsularischen Schutz, Petitionsrecht beim EP, Beschwerderecht beim Bürgerbeauftragten des EP und Recht auf Gebrauch der eigenen Sprache im Amtsverkehr mit den Organen der EU29, sowie das Recht auf Zugang zum Binnenmarkt zwecks Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Damit kommt jeder Drittstaater, der sich die Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaates erkauft, (automatisch) in den Genuss dieser unionsbürgerschaftlichen Rechte. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsbürgerschaft zwar in die Zuständigkeit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten fallen, diese jedoch von dieser Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts Gebrauch machen müssen. Die Mitgliedstaaten müssen daher alle Vorschriften berücksichtigen, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind, einschließlich des Völkerrechts, das vorschreibt, dass zwischen dem betreffenden Staat und der Person, der die Staatsbürgerschaft verliehen wird, eine „tatsächliche Verbindung“ besteht. Reaktion der Kommission Auf der Basis der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Januar 2014 zum Verkauf der Unionsbürgerschaft30 und ihres Berichts über die Unionsbürgerschaft 201731, legte die Kommission erstmals am 23. Januar 2019 einen umfassenden Bericht über Staatsbürgerschaftsregelungen und Aufenthaltsregelungen für Investoren in der Europäischen Union32 vor, in dem sie die bestehenden Praktiken und bestimmte Risken aufzeigt, die solche Systeme für die EU in sich bergen, insbesondere in Bezug auf Sicherheit33, Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Korruption. Im Bereich der „Goldenen Pässe“ nennt sie namentlich Bulgarien, Zypern und Malta, in denen weder eine Verpflichtung zum physischen Wohnsitz für die Personen, noch ein Erfordernis anderer echter Verbindungen mit dem Land vor der Erlangung der Staatsbürgerschaft, besteht. 29 Vgl. dazu die Bestimmungen des Art.  20 Abs.  2 sowie der Art.  21 bis 24 AEUV; Hummer, Einbürgerung in den Mitgliedstaaten der EU (Fn. 1), S. 404. 30 P7_TA(2014)0038; 2013/2995(RSP). 31 COM(2017)030 final; Kommission, Bericht über die Unionsbürgerschaft 2017 (2017), S. 15. 32 COM(2019)12 final. 33 In einem Schengen-Raum mit kontrollfreien Binnengrenzen ist es besonders wichtig, sicherzustellen, dass die Sicherheitskontrollen lückenlos angewendet werden, beispielsweise durch zentralisierte Informationssysteme, wie das Schengener Informationssystem (SIS), das Visa-Informationssystem (VIS), das Fingerabdruck-Identifizierungssystem (Eurodac), das neue Einreise-/Ausreisesystem (EES) sowie das Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS). Die Mitgliedstaten müssen dafür sorgen, dass die Regelungen für Investoren keine Umgehung dieser Sicherheitskontrollen ermöglichen; vgl. Europäische Kommission – Factsheet, MEMO/19/527, S. 3.

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Was hingegen die „Goldenen Visa“ betrifft, so weist die Kommission darauf hin, dass die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen für Investoren weiterhin in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt. Allerdings müssen dabei einige, in speziellen Richtlinien34 niedergelegte, europarechtliche Vorgaben für die Einreise bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen (zB Studenten, Forscher, Saisonarbeitnehmer, unternehmensintern versetzte Arbeitnehmer) beachtet werden. Im Bereich der „Goldenen Visa“ verweist die Kommission insbesondere auf folgende Problembereiche: fehlende Sicherheitskontrollen und Anforderungen eines physischen Wohnsitzes sowie mangelnde Transparenz der Regelungen. Im April 2020 richtete die Kommission ein weiteres Schreiben an die betroffenen Mitgliedstaaten, in dem sie ihre Bedenken darlegte und um weitere Informationen zu den inkriminierten Regelungen bat.35 Reaktion des Europäischen Parlaments In seiner „Entschließung zu einer umfassenden Politik der Union zur Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung – der Aktionsplan der Kommission und andere aktuelle Entwicklungen“ vom 10. Juli 202036 wiederholte das Europäische Parlament seine früheren Forderungen an die Mitgliedstaaten37, alle für Investoren geltenden erleichterten Staatsbürgerschaftsregelungen („citizenship by investment“ (CBI)) oder Aufenthaltsregelungen („residency by investment“ (RBI)) so bald wie möglich auslaufen zu lassen.38 Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern und Malta Am 20. Oktober 2020 leitete die Kommission schließlich gem. Art 258 AEUV zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern und Malta ein, in34 Siehe zB Richtlinie über die Familienzusammenführung (2003/86(EG); Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige (2003/109/EG); Richtlinie über die Blaue Karte EU für hochqualifizierte Arbeitskräfte (2009/50/EG); Richtlinie über Saisonarbeitnehmer (2014/36/EU); Richtlinie über unternehmensinterne Transfers (2014/66/EU); Richtlinie über Forschungs- und Studienaktivitäten, Praktika, Freiwilligendienste, Schüleraustauschprogramme oder Bildungsvorhaben und Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit (EU(2016/801) uam; vgl. COM(2019)12 final, S. 9. 35 „Goldene Pässe“: Kommission leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern und Malta ein, vom 20. Oktober 2020; https://ec.europa.eu/germany/news/20201020goldene-paesse_de 36 P9_TA(2020)0204; 2020/2686(RSP)). 37 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. März 2019 zu Finanzkriminalität, Steuerhinterziehung und Steuervermeidung (2018/2121(INI)), Punkt 182 ff. (195); P8_TA(2019)0240. 38 Punkt 31.

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dem sie an diese beiden Länder Mahnschreiben richtete und sie aufforderte, ihre Systeme der Vergabe von Staatsbürgerschaften gegen Zusicherung hoher Investitionen im Land näher darzustellen und zu begründen. Dafür wurden sowohl der zypriotischen, als auch der maltesischen Regierung, zwei Monate Zeit gegeben. Sollten deren Antworten aber nicht zufriedenstellend sein, kann die Kommission gem. Art. 258 Abs. 1 AEUV eine „mit Gründen versehene Stellungnahme“ an die beiden Staaten richten. Kommen diese beiden Staaten der Stellungnahme innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission den Gerichtshof mit einer Vertragsverletzungsklage anrufen (Art. 258 Abs. 2 AEUV). Die Kommission richtete ein weiteres Schreiben an Bulgarien, um ihre Bedenken hinsichtlich einer von diesem Mitgliedstaat gehandhabten Staatsbürgerschaftsregelung für Investoren zum Ausdruck zu bringen und um die Übermittlung weiterer Einzelheiten zu ersuchen. Die bulgarische Regierung hat nun einen Monat Zeit, um die Bedenken der Kommission zu zerstreuen.39 Zuvor war es im Jahr 2019 bereits zu einem Austausch von zwei Dutzend Briefen zwischen der Kommission und Bulgarien, Malta und Zypern gekommen, wobei sich vor allem Malta und Zypern für die Beantwortung entsprechend Zeit ließen: so benötigte Malta insgesamt 67 Tage um auf das erste Schreiben der Kommission zu antworten, während Zypern dafür immerhin noch 42 Tage verstreichen ließ.40 Der Grund dafür, warum die Kommission erst jetzt formell eingeschritten ist, ist laut Markus Ferber, CSU-Abgeordneter im Europäischen Parlament, offensichtlich der Umstand, dass es unter den 27 Mitgliedstaaten der EU ganz unterschiedliche Staatsbürgerschaftsrechte gibt, sodass der modus vivendi zwischen den Mitgliedstaaten lautete: „Keiner tut dem anderen weh“. Die gemeinschaftliche Verantwortung sei von der Juncker-Kommission vor allem deswegen nie aufgegriffen worden, da man es sich mit den jeweiligen Mitgliedstaaten nicht verscherzen wollte. Außerdem hatten die Regierungschefs in Malta und Zypern gerade Wahlen gewonnen und befanden sich daher innenpolitisch in einer starken Position. Für Jean-Claude Juncker, der ja früher einmal selbst Ministerpräsident von Luxemburg war, war das Thema Staatsbürgerschaftsrecht sehr stark an die Nation geknüpft, während die jetzige Kommission, unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen, verstärkt Augenmerk auf die europäische Relevanz desselben legt. So wies die Kommissionspräsidentin in ihrer Rede zur Lage der Union vom 16. September 2020 darauf hin, dass „Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit nicht toleriert werden können“. Als Beispiel dafür führ39 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/20/1925. 40 Nielsen, N. „Golden Passports“: Malta takes 67 days to respond to EU, EU-OBSERVER vom 24. November 2020; https://euobserver.com/justice/150162?utm_ source=euobs&utm_medium=email

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te sie ausdrücklich den Verkauf „Goldener Pässe“ an, denn: „Europäische Werte stünden nicht zum Verkauf“. Gemäß Sven Giegold, aus der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament, gab es auch ganz klare parteipolitische Gründe dafür, dass die Kommission so lange nicht gehandelt hat. Darüber hinaus hatte Juncker auch deswegen lange schützend seine Hand über Malta gehalten, da man dessen Stimme bei wichtigen Abstimmungen im Rat immer wieder benötigt habe.41 In ihren Aufforderungsschreiben verweist die Kommission auf ihre Auffassung, dass die Gewährung der Staatsbürgerschaft – und damit zugleich auch der Unionsbürgerschaft – gegen eine im Voraus festgelegte Zahlung oder Investition, und ohne eine echte Verbindung zu den betreffenden Mitgliedstaaten iSe „genuine link“, nicht mit dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit vereinbar ist und auch die Integrität des Status der Unionsbürgerschaft gem. Art.  20 AEUV untergräbt. Die Auswirkungen der Staatsbürgerschaftsregelungen für Investoren sind nämlich weder auf die Mitgliedstaaten beschränkt, die sie handhaben, noch sind sie gegenüber den anderen Mitgliedstaaten und der EU selbst, neutral. Die Regelungen untergraben daher eindeutig den Wesensgehalt der Unionsbürgerschaft. Fazit Der gegenständliche Problembereich der „Goldenen Pässe“ und der „Goldenen Visa“ zeigt eindrücklich die enge Verflechtung staatsrechtlicher, völkerrechtlicher und unionsrechtlicher Elemente auf, die die auswärtigen Beziehungen der Mitgliedstaaten der EU determinieren. Die Komplexität wird aber noch dadurch erhöht, dass sich die einzelnen Mitgliedstaaten untereinander abzustimmen haben, was bis jetzt noch nicht entsprechend geschehen ist. Den souveränitätsorientierten Staaten muss endlich der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit „in Fleisch und Blut“ übergehen, damit sich der notwendige Ausgleich zwischen den exponierten nationalstaatlichen Positionen einstellt. Wie die einschlägigen Reaktionen von Ungarn und Polen auf die Harmonisierungsbemühungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit aber zeigen, sind selbst die gegen diese bereits eingeleiteten Art.  7 EUV-Sanktionsverfahren42 nicht in der Lage, diesen Effekt herbeizuführen. Die EU muss sich

41 Vgl. Klein/Buttkereit/Bormann, Wie die EU gegen „Goldene Pässe“ vorgeht (Fn. 19), S. 8. 42 Vgl. Hummer, W. Nach Polen steht nun auch Ungarn am rechtstaatlichen Pranger, EU-Infothek vom 2. Oktober 2018, S. 1 ff.

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hüten, in ein System „konzentrischer Kreise“43 zu verfallen, in dem nur mehr im selben Kreis gleichartige Wertvorstellungen herrschen. Dass man die Dinge aber durchaus auch anders sehen kann, belegt der Gastkommentar von Carl Baudenbacher, der eben in der NZZ erschienen ist.44 Für ihn handelt es sich dabei um einen fragwürdigen Aktionismus der EU-Kommission: „Zwei mediterrane Kleinstaaten herauszupicken und an den Pranger zu stellen, ist mit dem Gebot der Konsistenz und den immer wieder zitierten „europäischen Werten“ nicht vereinbar“. Die 27 EU-Mitgliedstaaten haben von 2017 bis 2019 rund 2 Mio. Staatsbürgerschaften vergeben. Die Fälle zypriotischer Staatsbürgerschaft gegen Investition betreffen davon lediglich rund 0,0125% des Gesamttotals. Quelle: EU-Infothek vom 4. Dezember 2020, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 35)

43 Vgl. Hummer, W. Ein Europa „mehrerer Geschwindigkeiten“. Annäherung an ein unbestimmtes integrationspolitisches Konzept, Coudenhove-Kalergi PaneuropaBewegung, Europäischer Brief vom 5. April 2017. 44 Baudenbacher, C. „Goldene Pässe“ – fragwürdiger Aktionismus der EU-Kommis­ sion, NZZ vom 4. Dezember 2020, S. 14.

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Die Ablehnung der Schweizer Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung“

36. Die Ablehnung der Schweizer Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“ Konsequenzen für die Beziehungen Schweiz-EU im Allgemeinen und für das „Institutionelle Rahmenabkommen“ im Speziellen Einleitung I. Der „Bilaterale Weg“ 1. Die „Begrenzungsinitiative“ (2020) 2. Die „Masseneinwanderungsinitiative“ (2014) 3. Bedeutet die Ablehnung der Begrenzungsinitiative zugleich eine Zustimmung zum „bilateralen Weg“ sowie zum „Institutionellen Rahmenabkommen“? 4. Die „Bilateralen I und II“ 5. Von den „Bilateralen I und II“ zum „Institutionellen Rahmenabkommen“ 6. Das „Institutionellen Rahmenabkommen“ 6.1. Ausarbeitung 6.2. Inhaltliche Ausgestaltung 6.3. Wechsel der Chefunterhändler 7.  Mögliche Dynamisierung des „Institutionellen Rahmenabkommens“ 7.1. Die Strategie des Bundesrates für die weiteren Gespräche mit der EU 7.2. Das zentrale Problem: die „Souveränitätsfragen“ II. Das Scheitern des „Bilateralen Weges“ 1. Volkswirtschaftliche Auswirkungen 2. Bestehen vergleichbare integrationspolitische Alternativen für die Schweiz? III. Fazit Einleitung Die Schweiz ist in einem Maße „überfremdet“ – eine „helvetische Wortschöpfung“1 – wie kaum ein anderer Staat in Europa. Mehr als ein Viertel der 8,6 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner sind Ausländer. Kein Nachbarstaat „beherbergt“ so viele Migranten wie die Schweiz: Österreich lediglich 16%, Deutschland 12%, Italien 8% und Frankreich 7%2. In den letzten 13 Jahren sind mehr als 1 Mio. Menschen, oder jährlich zusätzlich fast 75.000, in die Schweiz zugezogen – und zwar nach Abzug jener, die 1 Maiolino, Diskurse über das Fremde, Kurzbericht im Auftrag der EKM, Juni 2020, 6 f. 2 Urmersbach, Ausländeranteil in den EU-Staaten 2019; https://de.statista.com/statis tik/daten/studie/73995/umfrage/auslaenderanteil-an-der-be...

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wieder auswanderten – und jedes Jahr kommen im Durchschnitt nochmals 50.000 Unionsbürger aus der EU dazu. Insgesamt leben in der Schweiz rund 1,4 Mio. EU-Bürger, während andererseits 450.000 Schweizer ihren Wohnsitz in der EU haben. Vom gesamten Arbeitsmarktvolumen von 5,1 Mio. Personen sind 24% – das sind mehr als 1.24 Mio. Personen – Unionsbürger, von denen 320.000 Pendler aus benachbarten EU-Mitgliedstaaten sind.3 Insgesamt betrug die Nettozuwanderung im ersten Quartal 2020 18.386 Personen, von denen 12.167 aus den EU- und EFTA-Staaten kamen.4 „Machen wir so weiter wie bisher, dann ist eine 10 Millionen Schweiz schon bald Realität“.5 Zur Steuerung bzw. Verhinderung einer solchen „Überfremdung“ wurden in der Schweiz seit dem Erfolg der SVP unter Christoph Blocher bei den Wahlen im Oktober 1999, bei denen die SVP wählerstärkste Partei wurde, eine Reihe von basisdemokratischen Initiativen zur Begrenzung der Zuwanderung gesetzt.6 Zuletzt warnte Blocher vor einem Nein zu der von seiner SVP lancierten „Begrenzungsinitiative“, „da dann ein Zuwanderungs-Chaos drohe“.7 Unter dieser Prämisse sollen nachstehend die Konsequenzen der Abstimmung über die „Begrenzungsinitiative“ im Hinblick auf die Beziehungen der Schweiz zur EU im Allgemeinen bzw. zum „Institutionellen Rahmenabkommen“ im Speziellen, in aller Kürze dargestellt werden. I.  Der „Bilaterale Weg“ Die Schweiz verfolgt den sog. „bilateralen Weg“ mit der EG/EU seit der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) durch Volk und Stände am 6. Dezember 1992.8 Seitdem haben die Schweiz und die EU über 120 bilaterale Abkommen abgeschlossen9, und damit ein singuläres Geflecht produziert, das den Bundesrat zu der Bemerkung veranlasst hat, dass „die EU mit der Schweiz Beziehungen unterhält, wie mit keinem ande3 Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland (Hrsg.), Schweizer Referendum: Präsidentin von der Leyen begrüßt klares Votum für Personenfreizügigkeit mit der EU, vom 28. September 2020; https://ec.europa.eu/germany/news/20200928schweizer-referendum_de; Europäische Kommission, STATEMENT/20/1755. 4 Komitee der Begrenzungsinitiative, Ja zur massvollen Zuwanderung, Argumentarium. 5 Komitee der Begrenzungsinitiative, Ja zur massvollen Zuwanderung, Kurzargumentarium, 2. 6 Vgl. Hummer, Die formelle Zurückziehung der Schweizer Beitrittsgesuche zu den Europäischen Gemeinschaften – notwendig oder überflüssig?, in: Ziegerhofer/Ferz/ Polaschek (Hrsg.), Zukunft Europa? FS Johannes W. Pichler zum 70. Geburtstag (2017), 221 ff. 7 https://www.fm1today.ch/schweiz/christoph-blocher-zur-begrenzungsinitiativeabwei... 8 Vgl. dazu nachstehend auf S. 471. 9 Vgl. dazu nachstehend auf S. 458 f.

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ren Staat“10. Dieses enge Geflecht bilateraler Abkommen mit selektivem Zutritt zum Binnenmarkt der EU unterscheidet sich grundlegend vom multilateralen Assoziationsverhältnis des EWR, der für die drei EWR-/EFTA Staaten Liechtenstein, Norwegen und Island, „binnenmarktähnliche Verhältnisse“ herbeigeführt hat.11 Aus der Sicht des Schweizer Elektorats stellte der EWR aber eine Vorstufe für einen späteren Beitritt zur EG dar, den es daher Ende 1992, wenngleich auch nur äußerst knapp, ablehnte. Nach Einschätzung des Bundesrates ist dieser bilaterale Weg „gegenwärtig das am besten geeignete Instrument zur Wahrung der Interessen der Schweiz in Europa und gegenüber der EU“.12 Begründet wird diese Aussage mit dem Hinweis, dass die EU mit Abstand der wichtigste Wirtschafts- und Handelspartner der Schweiz ist. So gehen heute rund 51% aller Schweizer Exporte in die EU und knapp 69% aller Schweizer Importe stammen aus dem EU-Raum. Auf der Basis der bilateralen Verträge findet täglich ein Warenaustausch im Umfang von 1 Mrd. Schweizer Franken statt und jeden dritten Franken verdient die Schweiz im Rahmen ihrer Beziehungen zur EU.13 Durch die von der SVP lancierte „Begrenzungsinitiative“ stand nun das Schicksal des „bilateralen Weges“ zur Disposition, da deren Annahme die unmittelbare Verwerfung desselben zur Folge gehabt hätte. 1.  Die „Begrenzungsinitiative“ (2020) Erst einmal wurde ein ganzer Urnengang in der Geschichte der Schweiz abgesagt, nämlich im Jahr 1951, als im Land die Maul- und Klauenseuche wütete und das Wählen in mehreren Kantonen verhinderte. Nun war erneut eine Pandemie dafür verantwortlich, dass der für den 17. Mai 2020 anberaumten Abstimmungstermin über die Begrenzungsinitiative nicht eingehalten werden konnte und auf Ende September 2020 verlegt werden musste. Dadurch kam es aber zu einer Zusammenlegung mehrerer thematisch unterschiedlicher Initiativen, die letztlich zur zeitgleichen Abstimmung über folgende fünf nationale Vorlagen führten: Neben der Begrenzungsinitiative kam es auch noch zur Abstimmung über eine Änderung des Jagdgesetzes, die Anschaffung neuer Kampfjets, den Kinderabzug und den Vaterschaftsurlaub. 10 Bericht des Bundesrates über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik (10.086) vom 17. September 2010, 7265, Pkt. 1.3.3.1. 11 Hummer, W. – Pribas, S. Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR) – Die Sonderbeziehung EG/EU – EFTA bis zum Brexit, in: Dauses/Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, K. III., 51. Ergänzungslieferung, Oktober 2020, 9 f. 12 EDA/DEA, Institutionelles Abkommen, November 2020, 1. 13 EDA/DEA, Institutionelles Abkommen Schweiz-EU: Das Wichtigste in Kürze, vom 7. Dezember 2018, 1.

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Obwohl diese Initiativen mit der Begrenzungsinitiative inhaltlich an sich nichts zu tun hatten, führten sie doch – durch ihre thematische Breite und die zeitlich parallele Abstimmung – zu einer hohen Stimmbeteiligung von fast 60% der Schweizerinnen und Schweizer, wie dies seit der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative im Februar 201614 nicht mehr der Fall war.15 Damit kommt aber dem Abstimmungsergebnis der „Begrenzungsinitiative“ eine sehr hohe Repräsentativität zu. Am 27. September 2020 hatte nun das Schweizer Volk über die von der SVP und der AUNS eingereichte Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“ abzustimmen, wobei es um eine Änderung der Art. 121b (Zuwanderung ohne Personenfreizügigkeit) und Art. 197 Ziff. 121 (Übergangsbestimmungen zu Art. 121b) der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) ging. Damit strebte die Begrenzungsinitiative eine Verpflichtung des Bundesrates zur Aushandlung der Beendigung des Freizügigkeitsabkommens im Schoß der „Bilateralen I“16 an. Sollte dies nicht binnen eines Jahres gelingen, dann hätte die Schweiz das Abkommen zu kündigen. Da die sieben Abkommen im Rahmen der „Bilateralen I“ aber durch eine „Guillotine-Klausel“17 miteinander verbunden sind, würde die (alleinige) Aufkündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens durch die Schweiz automatisch auch die anderen sechs bilateralen Abkommen in Wegfall bringen. In einschlägigen Kommentaren wird dazu plakativ angemerkt: „Dies käme einer Art „Schwexit“ gleich.18 Diese enormen wirtschaftspolitischen Konsequenzen einer Bejahung der Begrenzungsinitiative waren dem Schweizer Elektorat offensichtlich geläufig und führten daher zu einer massiven Verwerfung derselben, die sich in concreto folgendermaßen darstellte: Bei einer Stimmbeteiligung von 59,5% erhielt die Begrenzungsinitiative lediglich eine Zustimmung von 38,3% der Wählerschaft, während sie von 61,7% derselben verworfen wurde. Auch das Stände-Mehr wurde nicht erreicht, da lediglich vier Kantone – Appenzell Innerrhoden (54,3% Ja-Stimmen), Schwyz (53,4%), Tessin (53,1%) und Glarus (50,5%) – mehrheitlich mit Ja stimmten.19 In diesem Zusammenhang zeigt die am 12. November 2020 veröffentlichte Voto-Studie20, welche Bevölkerungsgruppen bei diesem Urnengang 14 Vgl. Fn. 25. 15 Monn, Die Schweiz hat gewählt: Die Eidgenossen bekennen sich klar zur EU – und zu zwei Wochen „Papizeit“, nzz.ch vom 27. September 2020; https://wwwnzz.ch/ international/grosser-wahlsonntag-in-der-schweiz-die-begrenzung... 16 Siehe dazu nachstehend auf S. 458 f. 17 Siehe dazu nachstehend auf S. 459. 18 Monn, Die Schweiz hat gewählt (Fn. 15), 2. 19 Ein schwieriges Unterfangen, Zürcher Unterländer vom 28. September 2020,17. 20 Milic/Feller/Kübler, VOTO-Studie zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 27. September 2020, 69 Seiten.

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am stärksten vertreten waren. Obwohl die ältere Generation wie üblich häufiger abgestimmt hat, als die jüngere, lag auch die Stimmbeteiligung bei den 18- bis 29-Jährigen bei außergewöhnlich hohen 45%. Was die politische Ausrichtung derer, die abgestimmt haben, betrifft, so zeigt sich, dass das linke Lager seine Anhängerschaft besser mobilisieren konnte als das rechte und die Mitte. Im Parteienvergleich fällt vor allem die mit 54% eher schwache Beteiligung der SVP-Sympathisanten auf. Die Autoren der Studie konstatieren abschließend, dass das SVP-Begehren die Gegnerschaft stärker mobilisiert habe, als die Befürworter.21 2.  Die „Masseneinwanderungsinitiative“ (2014) Die „Begrenzungsinitiative“ wurde von der SVP aber nicht aus heiterem Himmel ausgelobt, sondern sie stellte für die SVP die logische und notwendige Fortführung der „Masseneinwanderungsinitiative“ (MEI) (Art.  121a, 197 Ziff. 9 BV)22 dar, mit der die SVP vor nunmehr sechseinhalb Jahren, nämlich am 9. Februar 2014, einen unerwarteten Erfolg (50,3% Volks-Mehr und Stände-Mehr von 12½:8½) feiern konnte. Dementsprechend wurde die Begrenzungsinitiative gewissermaßen als „Durchsetzungsinitiative“ zur MEI23 lanciert, traf aber auf eine andere Ausgangslage und ein zwischenzeitlich geändertes politisches Umfeld, sodass ihre Verwerfung nachvollziehbar erscheint. Die SVP hätte sich die Niederlage in der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative aber leicht ersparen können, wenn sie bloß aus ihren Fehlern in der unmittelbaren Vergangenheit gelernt hätte. Nach der von ihr erfolgreich lancierten Volksinitiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“24, die am 28. November 2010 mit einer Mehrheit von 52,9% der Abstimmenden angenommen wurde, glaubte sie, nun noch viel weiter gehendere Forderungen stellen zu können und regte die Volksinitiative „Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative)“25 an, die am 28. Februar 2016 vom Volk aber mit 58,9% Nein-Stimmen massiv verworfen wurde. Die für die „sinngemäße“ Umsetzung der Ausschaffungsinitiative seitens der SVP zusätzlich geforderten Verschärfungen wurden vom Schweizer Volk als „Zwängerei“26 be21 Vgl. Sieber, Voto-Studie: Frauen, Jüngere und gut Gebildete sagten mehrheitlich Nein zu neuen Kampfjets, NZZ vom 12. November 2020. 22 BBl 2014 4117. 23 Vgl. Plozza, Schwieriges Umfeld für die Begrenzungsinitiative, srf.ch vom 16. September 2020; https://www.srf.ch/news/abstimmung-27-september-2020/begrenzungsinitiative/angst... 24 Vgl. Schweizer „Ausschaffungsinitiative“. Bewegung kommt ins rechte Idyll, taz vom 29. November 2010. 25 Vgl. Umsetzung der Ausschaffungsinitiative mit Härtefallklausel, humanrights.ch. 26 Dorer, Selber schuld, Blick vom 28. September 2020, 3.

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urteilt und demgemäß abgelehnt. Ebenso hätte die SVP erkennen müssen, dass das hauchdünne positive Abstimmungsresultat der MEI (50,3%) für das noch viel drastischere Anliegen der Begrenzungsinitiative keinesfalls tragfähig genug sein würde. 3. Bedeutet die Ablehnung der „Begrenzungsinitiative“ zugleich eine Zustimmung zum „bilateralen Weg“ sowie zum „Institutionellen Rahmenabkommen“? Die zentrale Frage, die sich nach der Verwerfung der Begrenzungsinitiative stellt, ist die, ob damit zugleich auch eine Zustimmung zum „bilateralen Weg“ sowie zum Institutionellen Rahmenabkommen (InstA)27 ausgedrückt worden ist, oder nicht. Während einige Stimmen diese Schlussfolgerung verneinen,28 wird diese von der Mehrheit der einschlägigen Kommentare aber grundsätzlich bejaht.29 Dabei ist aber zu beachten, dass aus heutiger Sicht die Ablehnung der Begrenzungsinitiative, und damit das Bekenntnis zum bilateralen Weg, nur ein Ja zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU ausdrückt. Eine stärkere politische Anbindung an die EU ist hingegen damit nicht intendiert. 4.  Die „Bilateralen I und II“ Nach der negativen Volksabstimmung über den Beitritt zum EWR am 6. Dezember 199230, ersuchte die Schweiz die EU um Gespräche, die nach zähen Verhandlungen am 21. Juni 1999 in die Unterzeichnung eines Pakets von sieben bilateralen Verträgen („Bilaterale I“)31 zu folgenden Themen mündeten: – Personenfreizügigkeit32, – Abbau technischer Handelshemmnisse33, – reziproker Zugang zu öffentlichen Aufträgen34, – Handel mit landwirtschaftlichen Produkten35, 27 Vgl. dazu nachstehend auf S. 461 ff. 28 ZB Ambühl/Scherer, Eine Ablehnung der Begrenzungsinitiative würde keine Zustimmung zum Entwurf des Rahmenabkommens mit der EU bedeuten, NZZ vom 29. Juni 2020, 5; https://www.nzz.ch/meinung/warum-das-rahmenabkommen-diepersonenfreizuegigke... 29 Vgl. zB Vereinigung Die Schweiz in Europa, Das institutionelle Rahmenabkommen Schweiz-EU. Erste Stellungnahme vom 9. 2. 2019, 2. 30 Vgl. dazu nachstehend auf S. 471. 31 ABl. 2002, L 114, 6 ff. Die Bilateralen I wurden vom Volk mit 67,2% Ja-Stimmen gutgeheissen. 32 SR 0.142.112.681. 33 SR 0.946.526.81. 34 SR 0.172.052.68. 35 SR 0.916.026.81.

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– Forschung36, – Luftverkehr37 und – Landverkehr.38 Die Bilateralen I wurden am 21. Mai 2000 einer Volksabstimmung unterzogen, wobei sie mit 67,2 Prozent Ja-Stimmen akzeptiert, und am 1. Juni 2002 in Kraft gesetzt wurden. Um ein „Rosinenpicken“ der Schweiz zu verhindern, sind diese sieben Abkommen durch die sog. „Guillotine-Klausel“ (Art.  25 Abs.  4 Personenfreizügigkeits-Abkommen) verbunden, aufgrund derer die Kündigung eines einzigen Abkommens durch die Schweiz, alle anderen sechs automatisch in Wegfall bringen würde. Die Bilateralen I wurden am 26. Oktober 2004 durch die Unterzeichnung eines Pakets weiterer neun Abkommen („Bilaterale II“)39 ergänzt, die sich auf folgende Materien beziehen: – Schengen40/Dublin41, – automatischer Informationsaustausch42, – Betrugsbekämpfung43, – landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte44, – Kreatives Europa (MEDIA)45, – Umwelt46, – Statistik47, – Ruhegehälter pensionierter EU-Beamter48 und – Bildung, Berufsbildung, Jugend49. 5. Von den „Bilateralen I und II“ zum „Institutionellen Rahmenabkommen“ Nach dem Abschluss der Bilateralen II kam es (nur noch) punktuell zu weiteren Abkommen und Memoranda of Understanding, die folgende Materien betrafen: Kohäsionspolitik, Zoll, Schutz von Ursprungsbezeichnungen/geografischen Angaben für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel, Wettbewerb, Steuerprivilegien, automatischer Informationsaustausch über Fi36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

SR 0.424.11. SR 0.748.127.192.68. SR 0.740.72. BBl. 2004, 5965 ff. Das Volk stimmte den Bilateralen II mit 54,6% zu. SR 0.360.268.1; SR 0.360.268.11. SR 0.142.392.68. SR 0.641.926.81. SR 0.351.926.81. SR 0.632.401.23. SR 0.784.405.226.8. SR 0.814.092.681. SR 0.431.026.81. SR 0.672.926.81 ex SR 0.402.268.1.

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nanzkonten, Teilnahme der Schweiz an Europäischen Agenturen, Einrichtungen und Programmen (Europol, Eurojust, Europäische Verteidigungsagentur (EVA), Satellitennavigationsprogramme Galileo und EGNOS, Horizon 2020, EASO 2014, REACH, Eurodac), Polizeizusammenarbeit (Vertrag von Prüm), Emissionshandel uam.50 Damit umfasst – über die zentralen insgesamt sechzehn Abkommen der „Bilateralen I und II“ hinaus – das Beziehungsgeflecht der zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossenen Übereinkünfte aktuell über 120 bilaterale Verträge.51 Der damit institutionalisierte „bilaterale Weg“ hat zu einem kaum mehr überschaubaren Geflecht von bilateralen Abkommen, die mit einer Unzahl von „Gemischten Ausschüssen“ zu deren Bewirtschaftung ausgestattet sind, geführt, die unbedingt unter ein gemeinsames institutionelles Dach gebracht werden sollten. Interessanter Weise wurde diese Idee ursprünglich von der Schweiz ventiliert52 und tauchte erstmals am 18. März 2002 in einem Bericht der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats unter dem Stichwort „Assoziation“ auf, wobei damit eine institutionelle Lösung gemeint war, die es erlauben würde, alle bilateralen Abkommen unter dem Dach eines einzigen Rahmenabkommens zu bündeln. Im Juni 2008 beschloss das Parlament, allerdings gegen den Willen des Bundesrates, in die anstehende Legislaturplanung folgende Forderung zu integrieren: Der Bundesrat soll „Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen aufnehmen“. Im Dezember 2008 griff die EU diese Idee auf und erwähnt in ihren Schlussfolgerungen zu den Beziehungen mit der Schweiz erstmals die Wünschbarkeit eines Rahmenabkommens, junktimierte dieses aber sofort mit dem Abschluss neuer Abkommen für den Marktzugang. Der weitere Fortgang der Verhandlungen, die sich in der Folge über zwölf Jahre erstreckten, verdient besondere Beachtung, zeigt er doch die besondere Komplexität derselben anschaulich auf.53

50 Vgl. Oesch, Schweiz – Europäische Union. Grundlagen. Bilaterale Abkommen. Autonomer Nachvollzug (2020), 24 f. 51 Vgl. EDA/DEA, Liste der Abkommen Schweiz – Europäische Union, in Kraft am 1. August 2020 (https://www.eda.admin.ch/dam/dea/de/documents/publikationen_ dea/accords-liste_de.pdf); www.admin.ch/opc/de/european-union/internationalagreements/index.html 52 Vgl. Höltschi/Gafafer, Was Sie über das Rahmenabkommen mit der EU wissen müssen, vom 15. Juli 2020, 5; https://www.nzz/schweiz/schweiz-eu-was-sie-ueber-dasrahmenabkommen-wissen...; vgl. Medienmitteilung des Bundesrates vom 18. Dezember 2013; https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteil ungen.msg-id-51490.htm; Notter, Institutionelles Rahmenabkommen – ein europapolitischer Zwischenruf, EuZ 1/2019, 5. 53 Siehe dazu Briner/Kleck/Altermatt, Die Schweiz, die EU und das Rahmenabkommen – eine unendliche Geschichte: Das müssen Sie darüber wissen, Aargauer Zeitung vom 11. November 2020, 2.

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6.  Das „Institutionelle Rahmenabkommen“

6.1. Ausarbeitung Am 9. Februar 2014 legte die EU, nach dem für sie nachteiligen JA des Schweizer Stimmvolks zur vorerwähnten Masseneinwanderungsinitiative (MEI),54 alle Verhandlungen mit der Schweiz über bilaterale Abkommen auf Eis. Überraschender Weise wurden aber bereits wenige Monate später, nämlich am 22. Mai 2014, offizielle Verhandlungen über ein Institutionelles Rahmenabkommen (InstA) aufgenommen, die im Dezember 2016 von der EU allerdings wieder abgebrochen wurden, nachdem das Schweizer Parlament die MEI mit einem Arbeitslosenvorrang innerstaatlich umgesetzt hatte – womit es aber seiner Ansicht nach das Freizügigkeitsabkommen der Bilateralen I nicht verletzt habe. Erst am 6. April 2017 verkündete Bundespräsidentin Doris Leuthard, nach einem Treffen mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Deblockade aller laufenden Dossiers und formulierte das Ziel, das InstA bis Jahresende 2017 abzuschließen. Offensichtlich war man zur Überzeugung gelangt, dass der „bilaterale Weg“ ohne eine institutionelle Lösung längerfristig keine Zukunft haben dürfte.55 Am 18. Dezember 2017 erkannte die EU die Schweizer Börsenregulierung nur noch für ein einziges Jahr als gleichwertig an und begründete diese zeitliche Begrenzung der Börsenäquivalenz gem. Art.  23 der VO über „Märkte für Finanzinstrumente“ (MIFIR)56 mit einem aktuell nicht genügend substantiellen Fortschritt bei der Ausarbeitung des InstA. Am 31. Januar 2018 wechselte der Bundesrat den Chefunterhändler aus, und ersetzte Pascale Baeriswyl durch Roberto Balzaretti. In der Folge akzeptierte der Bundesrat am 2. März 2018 im Bereich der Streitbeilegung ein Schiedsgericht, womit einer der schwierigsten Verhandlungspunkte (vordergründig) als gelöst erschien. Die anschließenden Verhandlungen gestalteten sich außerordentlich komplex, wobei sich Kommissionspräsident Juncker sehr intensiv daran beteiligte. Er investierte „mehr Zeit in die Verhandlungen, als in Gesprächen mit jedem anderen Drittland. Juncker sprach 23 Mal persönlich mit vier Schweizer Präsidenten und es fanden 32 technische Verhandlungsrunden statt“.57 Anlässlich des Treffens von Bundesrat Ignazio Cassis mit EU-Kommissar Johannes Hahn am 23. November 2018 in Zürich, erklärte die EU den vorliegenden Vertragsentwurf für endgültig 54 Vgl. dazu Heselhaus/Hänni, Rechtsgutachten zur Frage der Vereinbarkeit der Zuwanderungsinitiative mit dem Freizügigkeitsabkommen, vom 5. 10. 2011. 55 Gafafer, Bern braucht in der Europapolitik einen Plan, NZZ vom 31. Oktober 2020, 13. 56 VO (EU) Nr. 600/2014 des EP und des Rates vom 15. Mai 2014, ABl. 2014, L 173, 84 ff. 57 Juncker pocht auf Abschluss des neuen Rahmenabkommens zwischen der EU und der Schweiz, vom 12. Juni 2019; https://ec.europa.eu/germany/news/20190612rahmenabkommen-eu-schweiz_de

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und die Verhandlungen für beendet. Am 7. Dezember 2018 konnte schließlich ein Verhandlungsergebnis über die inhaltliche Ausgestaltung des Institutionellen Abkommens58 erreicht werden, das vom Bundesrat aber weder paraphiert noch signiert, sondern lediglich „zur Kenntnis genommen“ und bis zum April 2019 in eine innenpolitische Konsultation geschickt wurde. Am 7. Juni 2019 gab der Bundesrat auf der Basis dieser Konsultationen seine „insgesamt positive Einschätzung“ des Entwurfs des InstA bekannt, verlangte gleichzeitig aber in einem Schreiben an Kommissionspräsident Juncker eine nähere Abklärung und Präzisierung folgender drei Materien: Staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Unionsbürger-Richtlinie59. Juncker erklärte sich dazu zwar grundsätzlich bereit, die Kommission stellte aber bereits auf ihrer Sitzung vom 18. Juni 2019 einen „Mangel an Fortschritten“ seitens der Schweiz fest und ließ die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Schweizerischen Börsenregulierung („Börsenäquivalenz“) mit jener der EU mit Ende Juni 2019 einseitig auslaufen. In der Folge wird am 1. Dezember 2019 die deutsche Staatsangehörige Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin ernannt, die aber, anders als ihr Vorgänger Juncker, dem Dossier Schweiz zunächst nur wenig Aufmerksamkeit widmet.

6.2.  Inhaltliche Ausgestaltung Inhaltlich unterfallen dem Entwurf des InstA – wie von der Schweiz gefordert – nur die fünf bestehenden Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit60, Landverkehr61, Luftverkehr62, Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA)63 und Landwirtschaft64) sowie künftige Marktzugangsabkommen (zB Stromabkommen), nicht aber das FHA (1972)65 sowie das Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen. Das InstA ist inhaltlich in folgende Elemente gegliedert: – Haupttext mit 22 Artikel; – Annex X (gehört zu Art. 8B Abs. 6 und betrifft staatliche Beihilfen Luftverkehr); 58 „Abkommen zur Erleichterung der bilateralen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft in den Bereichen des Binnenmarkts, an denen die Schweiz teilnimmt“ (https://www.eda.admin.ch/dam/dea/ de/documents/abkommen/Accord-inst-Projet-de-texte_de.pdf); vgl. dazu die Erläuterungen zum Institutionellen Abkommen Schweiz-EU, vom 16. Januar 2019 ­(https://www.eda.admin.ch/dam/dea/de/documents/abkommen/InstA-Erlaeute rungen_de.pdf). 59 Vgl. dazu nachstehend auf S. 466 f. 60 SR 0.142.112.681. 61 SR 0.740.72. 62 SR 0.748.127.192.68. 63 SR 0.946.526.81. 64 SR 0.916.026.81. 65 ABl. 1972, L 300, 189 ff.

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– Protokoll 1: Bestimmungen zur Berücksichtigung der Besonderheiten des Schweizer Arbeitsmarktes; – Protokoll 2: Ausnahmen vom Prinzip der dynamischen Rechtsentwicklung; – Protokoll 3: Funktionsweise des Schiedsgerichts. Des Weiteren gehören zum Verhandlungspaket folgende Textentwürfe: – 3 Gemeinsame Erklärungen über Handelsverträge, Kohäsion und den Anhang X; – Beschlussentwurf des Gemischten Ausschusses des FHA (1972). Kernbestand des InstA sind die folgenden vier institutionellen Mechanismen Rechtsentwicklung, Auslegung, Überwachung und Streitbeilegung66: Rechtsentwicklung (Art.  5 iVm Art.  12–14 InstA): Da die Marktzugangsabkommen Schweiz-EU regelmäßig an die Entwicklung des Unionsrechts angepasst werden müssen, verpflichten sich die Schweiz und die EU, relevante EU-Rechtsentwicklungen in die Abkommen zu übernehmen. Dabei kann die Schweiz aber über jede Anpassung einzeln, und in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, beschließen, sodass eine automatische Rechtsübernahme ausgeschlossen ist. Ist die Schweiz zu einer Übernahme nicht bereit, kann die EU das Streitbeilegungsverfahren einleiten. Auslegung (Art. 4 InstA): Die Schweiz und die EU legen die bilateralen Abkommen eigenständig – aber möglichst einheitlich – nach völkerrechtlichen Grundsätzen aus. Das übernommene Unionsrecht wird dabei in Übereinstimmung mit der Judikatur des Gerichtshofs (EuGH) ausgelegt. Überwachung (Art. 6 und 7 InstA): Gemäß dem „Zwei-Pfeiler-Modell“ sind die Schweiz und die EU selbständig für die korrekte Anwendung der Abkommen in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verantwortlich. Sollten Probleme auftreten, dann werden diese in den zuständigen „Gemischten Ausschüssen“ diskutiert und zu lösen versucht. Streitbeilegung (Art. 10 InstA und Prot. 3): Sollte ein Streitfall auftreten, dann kann jede Partei den zuständigen „Gemischten Ausschuss“ damit befassen. Gelangt dieser innerhalb von drei Monaten zu keiner Lösung, dann kann jede Partei die Einsetzung eines aus drei oder fünf Personen zusammengesetzten Schiedsgerichts beantragen. Geht es dabei um eine entscheidungsrelevante Frage der Auslegung bzw. Anwendung von Unionsrecht, dann hat das Schiedsgericht den Gerichtshof (EuGH) zu befassen, und in der Folge den Streit, gestützt auf die Auslegung des EuGH, zu entscheiden. Der Schiedsspruch ist für die beiden Parteien bindend, wird er aber von einer Partei nicht, oder nicht korrekt, umgesetzt, dann kann die 66 Erläuterungen zum Institutionellen Abkommen Schweiz-EU (Fn. 58), 6 ff. (https:// www.eda.admin.ch/dam/dea/de/documents/abkommen/InstA-Erlaeuterungen_ de.pdf).

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andere Partei Ausgleichsmaßnahmen ergreifen, die allerdings verhältnismäßig sein müssen. Sollte dies aber nicht der Fall sein, dann kann die davon betroffene Partei die Verhältnismäßigkeitsprüfung einem weiteren Schiedsgericht unterbreiten. Bei diesen vier institutionellen Mechanismen hat die Schweiz die angestrebten Ziele durchaus erreicht,67 nicht bzw. nur teilweise aufgenommen wurden hingegen verschiedene Ausnahmeforderungen der Schweiz im Bereich der Personenfreizügigkeit (Unionsbürger-Richtlinie, flankierende Maßnahmen, Koordination der Sozialversicherungen uam). Da darüber hinaus noch eine Reihe weiterer offener Fragen im Schnittpunkt zwischen Völkerrecht und Europarecht in Bezug auf das InstA existieren68, hätte eine Beendigung des aktuellen Verhandlungsprozesses negative Konsequenzen, wie dies die EU bereits erklärt hat. Die abgebrochenen Verhandlungen in den sektoriellen Dossiers wie Strom, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie die Nicht-Anerkennung der Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung gem. Art. 23 MIFIR sollen hier nur exemplarisch erwähnt werden.

6.3.  Wechsel der Chefunterhändler Die Komplexität der Ausarbeitung des InstA lässt sich unter anderem auch am oftmaligen Wechsel der Chefunterhändler auf beiden Seiten ersehen. Nachdem der bisherige Europa-Staatssekretär, Roberto Balzaretti, seinen Posten räumen musste – er hatte öffentlich den von ihm ausgehandelten Entwurf des InstA zu einem Zeitpunkt noch intensiv angepriesen und verteidigt, als sich der Bundesrat bereits in eine innenpolitische Konsultation „geflüchtet“ hatte69 – ernannte der Bundesrat am 14. Oktober 2020 (aus einem Pool von sieben BewerberInnen) die Bündnerin Livia Leu zur neuen Chefunterhändlerin für das InstA. Wie heikel das Dossier war, geht daraus hervor, dass Balzaretti bereits der vierte Chefunterhändler war, der seinen Posten zur Verfügung stellen musste. 67 Vgl. die Aussage von Aussenminister Cassis: „Das ausgehandelte Rahmenabkommen entspricht zu 80 Prozent dem, was sich die Schweiz gewünscht hat“, zitiert in: De Carli/Vögeli, Das Rahmenabkommen erklärt. Worüber streiten eigentlich die Schweiz und die EU?; https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2019/rahmenabkommenerklaert/ 68 Vgl. Breitenmoser/Hirsbrunner, Der Entwurf für ein Institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU: offene Fragen im Schnittpunkt zwischen Europa- und Völkerrecht, in: Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht 2019/2020 (2020), 511 ff.; vgl. auch den eben erschienenen Beitrag von Epiney, Die dynamische Rechtsübernahme im Entwurf des Institutionellen Abkommens, EuZ 1/2021, 4 ff. 69 Gafafer, Bern braucht in der Europapolitik einen Plan (Fn. 55); „Wir wollen auch klären, was passiert, wenn kein Abkommen zustande kommt“, Interview mit AM Ignazio Cassis in der NZZ vom 19. Oktober 2020, 19.

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Ab Januar 2021 werden im Aussendepartement (EDA) die Politische Direktion und die Direktion für europäische Angelegenheiten in einem Staatssekretariat zusammengeführt, das von Livia Leu geleitet wird. Damit wird sie als Staatssekretärin, hinter Aussenminister Ignazio Cassis, die Nummer zwei im EDA. Von der Ausbildung her ist Livia Leu Juristin mit Anwaltspatent, die auf eine längere diplomatische Karriere zurückblickt, die ihren Höhepunkt als Botschafterin im Iran hatte, der auch literarischen Niederschlag gefunden hat.70 Erfahrung in wirtschaftspolitischen Fragen sammelte sie als Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). In dieser Funktion hatte sie regelmäßig Austausch mit den wichtigen EU-Staaten Deutschland und Frankreich, über eine direkte Erfahrung mit der EU-Zentrale in Brüssel verfügt sie aber nicht.71 Aber auch auf der Seite der EU kommt es zu einem Wechsel des Chefunterhändlers für das Schweiz-Dossier. Der bisherige Chefunterhändler Stefano Sannino, der erst im Februar 2020 den Schweden Christian Leffler ablöste, wird mit 1. Januar 2021 neuer Generalsekretär des Auswärtigen Dienstes der EU (EAD), den bisher die deutsche Diplomatin Helga Schmid geleitet hatte, die zur OSZE überwechselte. Damit ist vorerst unklar, wen die erst Mitte Oktober 2020 eingesetzte Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu als Gegenüber bei der EU erhält. Dadurch ist aber das rasche Fortschreiten der Gespräche über ein InstA erneut in Frage gestellt.72 7. Mögliche Dynamisierung des „Institutionellen Rahmenabkommens“

7.1. Die Strategie des Bundesrates für die weiteren Gespräche mit der EU In der Schweiz wollte der Bundesrat erst die Abstimmung über die „Begrenzungsinitiative“ abwarten, bevor er sich über die weitere Vorgangsweise beim InstA festlegt. Da diese, wie vorstehend erwähnt73 – Corona-bedingt – aber vom Mai 2020 auf den September 2020 verschoben wurde, verzögerte sich auch die innenpolitische Konzertierung der widerstreitenden politischen Interessen in der Schweiz. Dabei war allerdings eindeutig klar, dass es bei den 70 Girsberger, Livia Leu – Unsere Botschafterin in Iran (2013). 71 Vgl. Forster, Als ehemalige Botschafterin im Iran kennt Livia Leu schwierige Missionen – jetzt soll sie als Chefunterhändlerin in Brüssel das Rahmenabkommen retten, NZZ vom 14. Oktober 2020; https:/www.nzz.ch/schweiz/rahmenabkommen-livialeu-kennt-schwierige-missionen-…; Forster, Eine respektierte Diplomatin, NZZ vom 16. Oktober 2020, 21. 72 Vgl. Schmutz, Die EU sucht schon wieder einen neuen Chefunterhändler für das Schweiz-Dossier, NZZ vom 7. Dezember 2020. 73 Siehe dazu vorstehend auf S. 455.

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von der Schweiz geforderten drei Präzisierungen74 ausdrücklich nicht um Nachverhandlungen, sondern nur um die Klarstellung offener Fragen, bei denen der Text des InstA einen Interpretationsspielraum zulässt, geht. Am 27. September 2020 lehnte, wie vorstehend bereits ausgeführt, das Stimmvolk die „Begrenzungsinitiative“ ab, die auf die Beendigung der Personenfreizügigkeit hin abzielte, womit das InstA erneut in den Mittelpunkt des Interesses gelangte. Am 11. November 2020 legte der Bundesrat, durch seinen Sprecher André Simonazzi, schließlich seine Strategie für die weiteren Gespräche mit der EU über die inhaltliche Ausgestaltung des InstA fest. Dabei blieb er seinem bisherigen Kurs treu, nämlich die Grundregeln des InstA, und damit auch den Einbezug des Gerichtshofs (vormals EuGH) bei der Streitbeilegung zu akzeptieren, gleichzeitig aber alles daranzusetzen, sensible Bereiche auszunehmen. Dabei geht es darum, für möglichst alle heiklen Fragen eine entsprechende „Immunisierung“ zu finden, die in der Gewährung dauerhafter Ausnahmeregelungen bestehen sollte, die von der EU verbindlich garantiert werden müssten. Dabei klang aber diesbezüglich eindeutig durch, dass dem Bundesrat reine „Präzisierungen“ oder „Klärungen“ seitens der EU nicht genügen würden, sondern substantielle Nachverhandlungen verlangt werden.75 Obwohl die Schweiz neues EU-Recht in den Bereichen übernehmen müsste, die unter das InstA fallen – das sind Freizügigkeit, Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft und technische Handelshemmnisse – besteht dafür kein Automatismus, sondern die Schweiz kann sich weiterhin „querlegen“. In diesem Fall kommt der Streitbeilegungsmechanismus zum Zug, bei dem das gemeinsame Schiedsgericht entscheidet, zumeist wohl unter Einbezug des Gerichtshofs (EuGH), soweit es sich um die Auslegung von Unionsrecht handelt. Sollte die Schweiz dabei unterliegen und die Rechtsübernahme trotzdem weiterhin verweigern, darf die EU gleichwertige „Ausgleichsmaßnahmen“ setzen, deren Angemessenheit wiederum vom Schiedsgericht – nunmehr allerdings ohne Einbezug des EuGH – überprüft werden kann. In diesem Punkt ist der Entwurf des Rahmenvertrages – im Vergleich zum Schengen-Abkommen – daher ein eindeutiger Fortschritt. Was die nähere Konkretisierung des InstA betrifft, so hat der Bundesrat der EU im Juni 2019 mitgeteilt, dass er nur noch über die folgenden drei sensiblen Materien verhandeln möchte, nämlich (a) Staatliche Beihilfen, (b) Lohnschutz und (c) die Übernahme der Unionsbürger-Richtlinie: Ad (a) Bei den Beihilfen hat der Bundesrat der EU bereits 2019 präzise mitgeteilt, dass aus seiner Sicht eine einzige Passage im InstA gestrichen werden muss, nämlich die Bestimmung, dass Verwaltungsbehörden politische Entscheide rückgängig machen können, wenn sie darin unerlaubte Beihilfen sehen. Eine solche Regelung ist für die Kantone ein „Horrorszena74 Siehe dazu vorstehend auf S. 462. 75 Bundesrat spricht über Rahmenvertrag, NZZ vom 30. 11. 2020, 19.

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rio“, bei dem sie unter anderem ihre Beteiligungen an Energiekonzernen sowie ihren Spielraum bei der Firmenbesteuerung, etwa im Fall von Steuer­ erleichterungen bei Ansiedelungen, gefährdet sehen. Bisher kommen die Beihilferegelungen ja nur in der Luftfahrt direkt zur Anwendung. Ad (b) Im Falle des Lohnschutzes enthält der Entwurf des InstA bereits erste Immunisierungen. So konzediert die EU der Schweiz drei Maßnahmen zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen, die ein EU-Mitgliedstaat nicht ergreifen dürfte, wobei aber diese Auflagen weniger weit als der heutige Lohnschutz gehen. Der Bundesrat könnte nun von der EU verlangen, dass der gesamte Status quo in Sachen Lohnschutz im fraglichen Protokoll verankert, und damit gegen den InstA immunisiert wird. Ein weiterer Ausbau des Lohnschutzes, wie ihn die Gewerkschaften und ein Teil der Arbeitgeber fordern, wäre politisch aber eher nicht durchsetzbar.76 Ad (c) Was wiederum die Unionsbürger-Richtlinie betrifft, so müsste die Schweiz, aus der Sicht der EU, diese „in integrum“ übernehmen, was zu einer namhaften Ausweitung der Personenfreizügigkeit führen, vor allem aber den Zugang arbeitsloser Unionsbürger zur Sozialhilfe wesentlich vereinfachen, und die Ausschaffungen erschweren würde. Auch müsste die Schweiz das Daueraufenthaltsrecht rascher und großzügiger vergeben. Dies deutet aber darauf hin, dass die Schweiz im Moment nicht bereit ist, diese Richtlinie „tel-quel“ zu übernehmen. Das bedeutet aber nicht, dass die Schweiz künftige Weiterentwicklungen der Freizügigkeit im Schoß der EU nicht übernehmen müsste.

7.2.  Das zentrale Problem: die „Souveränitätsfragen“ Eine zentrale Weichenstellung in den Gesprächen über die zukünftige Ausgestaltung des InstA bilden aber die sog. „Souveränitätsfragen“, wie etwa die Nichtunterwerfung unter die „fremden Richter“ des EuGH, oder die Ausgestaltung der neuen Guillotine-Klausel. Was erstere Bedenken betrifft, so wird zum einen vorgebracht, „dass dann, wenn ein Schiedsgericht unter wesentlichem Einfluss eines anderen Gerichts steht, dieses kein Schiedsgericht mehr ist“. Auf die Bemerkung, dass das Bundesgericht sich schon jetzt freiwillig an der Judikatur des EuGH orientiert, wird festgestellt, dass „es ein riesiger Unterschied ist, ob man der Rechtsprechung des EuGH wenn möglich folgt, oder diese zwingend übernehmen muss“.77 Des Weiteren wird festgehalten, dass „der vorliegende Entwurf (des InstA) dem EuGH eine Dominanz gibt, die für die Schweiz nicht erträglich wäre“.78 76 Schäfer, Wie der Bundesrat den Rahmenvertrag mit der EU retten will, NZZ vom 9. November 2020, 21. 77 Aussage des Walliser CVP-Ständerat Beat Rieder, zitiert nach Schäfer, Wie weiter mit Europa?, NZZ vom 3. November 2020, 18. 78 Bemerkung des Ständerats Pirmin Bischof, zitiert nach Schäfer, Wie weiter mit Europa? (Fn. 77), 18.

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Dementsprechend wird gegenwärtig fieberhaft nach einem Mechanismus der Streitschlichtung gesucht, der die völkerrechtlichen Grundsätze der Gleichheit und Souveränität der Vertragspartner nicht in Frage stellt. Diesbezüglich wurde eben ein origineller Vorschlag zur Stärkung des Schiedsgerichts im InstA vorgestellt79, der folgendermaßen ausgestaltet ist: Bisher liegt es am „Gemischten Ausschuss“, bilaterale Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU über das InstA, oder die von ihm erfassten Marktzugangsabkommen, beizulegen. Gelingt dies nicht, so können die Vertragsparteien ein Schiedsgericht anrufen. Geht es dabei (auch) um die Auslegung von Unionsrecht, so hat das Schiedsgericht die Angelegenheit dem EuGH vorzulegen, der diesbezüglich verbindlich entscheidet. Um diese Bindungswirkung auszuschalten, könnte die Streitschlichtung aber folgendermaßen modifiziert werden: Falls im Gemischten Ausschuss keine Einigung erzielt werden kann, könnte dieser die Streitfrage, in einem Vorverfahren, einem Schiedsgericht vorlegen, das – bei Einstimmigkeit – abschließend entscheidet. Aus Gründen der Effizienz könnte dieses auch aus nur zwei Richtern der beiden Streitparteien zusammengesetzt sein. Zu unterscheiden wären dabei folgende zwei Konstellationen: Geht es um die Auslegung von Vertragsrecht, das nicht auf Unionsrecht beruht, so kann das Zweierschiedsgericht bei Einigkeit abschließend entscheiden. Bei Uneinigkeit legt es dem Gemischten Ausschuss die beiden unterschiedlichen Rechtsmeinungen vor. Erst bei einer andauernden Blockade im Gemischten Ausschuss entscheidet das angestammte Dreierschiedsgericht. Dieses entscheidet nunmehr abschließend, soweit es um die Auslegung des InstA selbst geht, und dies vom Zweierschiedsgericht vorab festgestellt wurde. Damit würde sich die Frage nach der Befassung des EuGH von vorneherein nicht stellen. Diese Konstellation würde unter anderem für Streitigkeiten über die Anwendbarkeit des InstA auf das FHA (1972) sowie auf die Unionsbürger-Richtlinie oder solche im Zusammenhang mit der Guillotine-Klausel der Bilateralen I gelten. Handelt es sich hingegen um die Auslegung von Vertragsrecht, das auf Unionsrecht beruht, so kommt dem Zweierschiedsgericht zunächst die Aufgabe zu, dessen Inhalt so präzise als möglich festzustellen. Sollten sich in diesem Vorverfahren die beiden Schiedsrichter bereits einig sein, könnten sie ein bindendes Schiedsurteil fällen. Anderenfalls legen sie ihre unterschiedlichen Rechtsansichten in einem Gutachten wiederum dem Gemischten Ausschuss vor, der dieses in der Folge als Grundlage für seine erneute Entscheidungsfindung behandelt. Lediglich für den Fall einer andauernden Blockade muss der Streitfall einem (neuen) Dreier-Schiedsgericht vorgelegt werden,

79 Breitenmoser/Weyeneth, InstA: Stärkung des Schiedsgerichts, NZZ vom 11. November 2020, 14; Breitenmoser/Hirsbrunner, Der Entwurf für ein InstA zwischen der Schweiz und der EU (Fn. 68), 536 f.

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das diesen entweder definitiv entscheidet, oder dem EuGH zur Auslegung vorlegt. Es wäre aber auch in diesem Fall in erster Linie Sache des Gemischten Ausschusses und des Schiedsgerichts, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Gelingt dies nicht, so könnte die klagende Partei entsprechende Ausgleichsmaßnahmen treffen, wobei es der anderen Partei dann freistünde, die Recht- und Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen vom Dreier-Schiedsgericht überprüfen zu lassen. Dieses neue Vorverfahren würde den völkerrechtlichen Charakter des Schiedsverfahrens stärken, und zwar auch deswegen, da wohl die meisten Streitfragen rund um das InstA als solches bereits durch das Zweierschiedsgericht im Vorverfahren geklärt werden könnten. Und selbst bei Fragen zum einschlägigen Unionsrecht dürften sich die beiden Schiedsrichter in aller Regel auf eine einheitliche Auslegung einigen. Damit würde aber der Vorwurf, dass sich die Schweiz einem „fremden Gericht“ unterwerfen müsse, entkräftet werden. II.  Das Scheitern des „Bilateralen Weges“ 1.  Volkswirtschaftliche Auswirkungen Was die volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines Wegfalls (allein) der „Bilateralen I“ betrifft, so wurden diese von zwei unabhängigen Forschungsinstituten (BAK Basel80 und Ecoplan81) im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) analysiert, die den kumulierten volkswirtschaftlichen Wert der sieben bilateralen Abkommen auf eine Periode von 18 Jahren (2018–2035) simulieren. Daraus ergibt sich ein mittlerer jährlicher Nutzen der „Bilateralen I“ von rund 24 Mrd. Schweizer Franken, der sich, aufdifferenziert nach den jeweiligen Abkommen, folgendermaßen darstellt: die Personenfreizügigkeit würde dazu knapp 14 Mrd. Franken, der Luftverkehr 7  Mrd. Franken, der Abbau technischer Handelshemmnisse fast 2 Mrd. Franken, der Landverkehr rund 500 Mio. Franken und die Landwirtschaft 100 Mio. Franken beitragen.82 Laut diesen Schätzungen würde das BIP der Schweiz im Jahr 2035 um 4,9% (Ecoplan, ohne Berücksichtigung des Forschungsabkommens), bzw. 7,1% (BAK Basel) tiefer als im Szenario mit den Bilateralen I liegen. Kumuliert über die Jahre 2018 bis 2035 entspricht dies einer Einbuße des Schwei80 BAK Basel, Die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Bilateralen I auf die schweizerische Volkswirtschaft (2015). 81 Ecoplan, Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I; ­https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaft liche_Z... 82 Economiesuisse, Der Wert des institutionellen Abkommens, Dossierpolitik # 04/2019, 5 ff.

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zer BIP von 460 bis 630 Mrd. Schweizerfranken oder ungefähr dem gesamten Jahreseinkommen der Schweizer Volkswirtschaft (2017). Das BIP per capita würde 2035 um 1,5% (Ecoplan), bzw. 3,9% (BAK Basel) tiefer als im Szenario mit den Bilateralen I liegen.83 Noch stärker wäre die Ostschweiz betroffen: Bis 2040 könnte das BIP bei einem Wegfall der Bilateralen I um 7,4% fallen, wobei der Thurgau besonders stark betroffen wäre.84 Eine weitere Studie85 belegt in diesem Zusammenhang die Wachstumserhöhung des BIP nach dem Inkrafttreten der Bilateralen I im Jahr 2002 wie folgt: das Einkommen per capita der Bevölkerung ist in diesem Zeitraum von knapp 20 Jahren in der Größenordnung von 4.400 Schweizer Franken gestiegen. Der Wegfall der Bilateralen würde aber auch noch weitere Einbußen bringen, wie zB den Verlust an Rechts- und Investitionssicherheit sowie die Minderung der Standortattraktivität. Ganz allgemein würde aber der Wert des „bilateralen Weges“ schleichend erodieren, da auch Abkommen, die nicht den Marktzugang betreffen, nicht erneuert werden könnten, wie zB das Forschungsabkommen sowie das Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen. Ersteres generiert immerhin einen Wert von über 2 Mrd. Schweizer Franken und der Nutzen von Letzterem wird auf 1 Mrd. Franken/Jahr geschätzt.86 Was das Schengen/Dublin-Abkommen betrifft, so würde das BIP der Schweiz ohne dieses Abkommen bis zum Jahr 2030 um fast 4% geringer ausfallen.87 Des Weiteren könnten auch die laufenden Verhandlungen in folgenden Bereichen beeinträchtigt werden: Kabotage-Rechte im Luftverkehr, Beteiligung an der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA), Beteiligung am öffentlich regulierten Dienst (PRS), an der Agentur des Europäischen Globalen Navigationssatellitensystems (GSA), sowie an MEDIA bzw. Kulturelles Europa.88 2. Bestehen vergleichbare integrationspolitische Alternativen für die Schweiz? Sollten die Verhandlungen über einen definitiven Abschluss des InstA – und damit auch des „bilateralen Weges“ im weiteren Sinn – scheitern, blieben der 83 Ecoplan, Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I (Fn. 81). 84 BAK (Hrsg.), Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer Kündigung der Bilateralen I auf die Ostschweiz, März 2020, 3; vgl. Schöchli, Welchen Wert die EU-Verträge für die Schweiz haben, NZZ vom 11. August 2020. 85 Minsch/Schnell/Elbel, Das Wachstum der Schweiz ist besser als sein Ruf (2016); ­https://www.economiesuisse.ch/de/publikationen/das-wachstum-der-schweiz-istbesser-als-sein-ruf 86 Economiesuisse, Der Wert des institutionellen Abkommens (Fn. 82), 8. 87 Ecoplan, Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Schengen-Assoziierung der Schweiz (2017). 88 Erläuterungen zum Institutionellen Abkommen Schweiz-EU (Fn. 58), 4.

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Schweiz noch eine Reihe weiterer denkmöglicher Alternativen, mit denen sich der Autor dieses Beitrages bereits vor Jahren auseinandergesetzt hat,89 die aber nunmehr wieder relevant werden. Dabei ist zunächst festzustellen, dass der „bilaterale Weg“ bereits den Plan B darstellt, nachdem die Schweiz den EWR-Beitritt am 6. Dezember 1992 abgelehnt hatte. Alternative Beziehungsmodelle Schweiz – EU müssen gegenüber dem „bilateralen Weg“ anhand von einheitlichen Kriterien – wie optimaler Zugang zum Binnenmarkt, Bewahrung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, souveräne Bestimmung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit – bewertet werden und lassen sich in folgende integrationsrechtliche Kategorien einteilen90: EU-Mitgliedschaft: Diese Option ist zur Zeit innenpolitisch völlig chancenlos und braucht daher auch nicht näher dargestellt zu werden. Als kleine Nebenbemerkung sei nur erwähnt, dass die Schweiz das von ihr am 26. Mai 1992 hinterlegte Beitrittsgesuch zur EWG, nach dem negativen EWR-Referendum vom 6. Dezember 1992, zwar sistiert, aber erst nach 24 Jahren (sic), nämlich am 27. Juli 2016, formell zurückgezogen hat91; EWR-Mitgliedschaft: Was einen möglichen Beitritt zum EWR betrifft, so steht dieser gem. Art. 128 Abs. 1 EWRA jedem EFTA-Staat (und damit auch der Schweiz) offen, die dafür aber ihr „EWR-Trauma“ des negativen Referendums vom 6. Dezember 1992 – das bei einer Beteiligung von 78,73% lediglich 49,7% Ja-Stimmen erbrachte92 – überwinden müsste. Die Mitgliedschaft im EWR wurde dabei mehrheitlich als antizipierter EU-Beitritt angesehen, der abgelehnt werden müsse. In den mehr als 25 Jahren seines Bestehens hat der EWR aber problemlos funktioniert und die Sinnhaftigkeit seiner eigenständigen Existenz nachdrücklich belegt.93 In diesem Sinn rät einer der besten Kenner der Situation, der ehemalige Präsident des EFTA-GH im EWR, Carl Baudenbacher, der Schweiz, „einen zweiten EWR-Anlauf zu wagen“94 und weist 89 Hummer, Integrationspolitische Alternativen der Schweiz, EuZ 6/2012, 128 ff.; Hummer, Die Schweiz am integrationspolitischen Scheideweg – Neuer Bilateralismus, Rahmenabkommen, EWR II oder EU-Beitritt?, in: Schwind/Hoyer/Ofner (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Zeitschrift für Rechtsvergleichung (ZfRV) (2013), 71 ff. 90 Vgl. Economiesuisse, Institutionelles Abkommen Schweiz-EU: Eine Chance für das bilaterale Verhältnis, Dossierpolitik # 07/19, vom 19. 2. 2019, 13 ff. 91 Vgl. Hummer, Die formelle Zurückziehung der Schweizer Beitrittsgesuche zu den Europäischen Gemeinschaften – notwendig oder überflüssig? (Fn. 6), 226. 92 Vgl. Strahm, Vom EWR-Nein zur Akzeptanz der Bilateralen – Ein Erfahrungsbericht, in: Notter/Weber/Heinemann/Baumgartner (Hrsg.), Europäische Idee und Integration – mittendrin und nicht dabei?, Liber amicorum für Andreas Kellerhals (2018), 189. 93 Vgl. Hummer/Priebas, Der einheitliche „Europäische Wirtschaftsraum“ (EWR) (Fn. 11). 94 Baudenbacher, Rechtsprechung: Rechtssicherheit als Standortfaktor, in: Gentinetta/ Kohler (Hrsg.), Souveränität im Härtetest. Selbstbestimmung unter neuen Vorzeichen, Avenir Suisse 2010, 272 f.

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auf die kritischen Worte hin, die der EuGH in der letzten Zeit zum helvetischen Bilateralismus gefunden hat.95 Auch kam eine Untersuchung der ETH zu dem Schluss, dass Bern das Unionsrecht in vergleichbarem Ausmaß wie die EWR-Staaten anpasst. „Es ist eine der helvetischen Lebenslügen, dass der Bund in den betroffenen Bereichen souverän legiferiert“.96 Nach Economiesuisse ist diese Option aber „innenpolitisch zur Zeit nicht Erfolg versprechend“97. Zollunion (ZU): Da Industrieprodukte mit Ursprung im Gebiet der beiden Vertragsparteien aufgrund des Freihandelsabkommens (1972) bereits heute zollfrei gehandelt werden, könnte eine Zollunion die Zölle höchstens im Bereich landwirtschaftlicher Produkte reduzieren, was innenpolitisch aber nur schwer durchsetzbar wäre. Die Schweiz müsste auch alle Freihandelsabkommen der EU mit Drittstaaten – zur Zeit weit über 70 – gegen sich gelten lassen, und zwar ohne Garantie, dass sie dafür auch Gegenrecht erhielte. Umfassendes Freihandelsabkommen (FHA): Dieses ginge von Marktzugangserleichterungen aus, die ohne Übernahme von Unionsrecht und ohne vertraglich vereinbarte Äquivalenz von Vorschriften realisierbar sind, was aber einen massiven Verlust des Marktzugangs im Vergleich zum „bilateralen Weg“ bedeuten würde. Diesem „autonomen Nachvollzug“ stünde keine Gleichbehandlung der Schweizer Produzenten durch die EU gegenüber, wie dies bei den bilateralen Marktzugangsabkommen der Fall ist. Ein umfassendes FHA würde daher gegenüber dem „bilateralen Weg“ „weder bei der Souveränität noch bei der Rechtssicherheit zu einer Verbesserung führen“.98 Der Bundesrat prüfte diese Frage bereits einmal, nämlich im Juni 2015 in der Antwort auf einen Vorstoß der damaligen Ständerätin Karin Keller-Sutter – „Freihandelsabkommen mit der EU statt bilaterale Abkommen“ – und kam dabei zu einem eindeutigen Schluss: Die Schweiz müsste erhebliche Nachteile in Kauf nehmen, um lediglich pro forma etwas an Souveränität zu gewinnen.99 Fazit Abschließend kann daher festgestellt werden, dass keines der vorstehenden Beteiligungsmodelle der Schweiz eine gleichwertige Alternative zum „bilateralen Weg“ – auf der Basis des InstA – bieten kann. Die Schweiz wäre da95 Vgl. die Urteile des Gerichtshofs in den Rs. C-351/08, Grimme (ECLI:EU:C:2009:697) (Rn. 29) und Rs. C-541/08, Fokus Invest (ECLI:EU:C:2010:74) (Rn. 28 f.) sowie Rs. C-70/09, Hengartner und Gasser/Vorarlberger Landesregierung (ECLI:EU:C:2010:430) (Rn. 41 f.). 96 Gafafer, Bern braucht in der Europapolitik einen Plan (Fn. 55). 97 Economiesuisse, Institutionelles Abkommen Schweiz-EU (Fn. 90), 14. 98 Economiesuisse, Institutionelles Abkommen Schweiz-EU (Fn. 90), 15. 99 Gafafer, Bern braucht in der Europapolitik einen Plan (Fn. 55).

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her gut beraten, umgehend Kontakt mit der Europäischen Kommission aufzunehmen und mit dieser in ein Gespräch über die drei für sie im Bereich des InstA noch offenen Fragen, nämlich der Staatlichen Beihilfen, des Lohnschutzes und der Unionsbürger-Richtlinie, einzutreten. Wenngleich die Kommission den Text des InstA bereits als endgültig bezeichnet und Nachverhandlungen ausgeschlossen hat, könnte die Schweiz über den „Umweg“ der zulässigen Klarstellung offener Fragen100 unter Umständen doch noch eine Kontaktnahme mit der Kommission erreichen. Die erfolgreiche Übereinkunft mit dem Vereinigten Königreich über ein Handels- und Kooperationsabkommen vom 24. Dezember 2020101 könnte die Kommission, die bisher rein „Brexit-fixiert“ war, nunmehr gesprächsbereiter gemacht haben. Allerdings dürfte der vorstehend erwähnte Wechsel der Chefunterhändler102 diesbezüglich eher bremsend, als beschleunigend, wirken. Sollte es tatsächlich in absehbarer Zeit zu einer Neuaufnahme der Verhandlungen über das InstA kommen, so müsste sich die Schweiz zunächst von einigen ihrer bisher zum Teil vertretenen atavistischen Urängste gegenüber „fremden Richtern“, Souveränitätseinbussen uam befreien, die in der von Außenstehenden nicht mehr nachvollziehbaren Kampagne der AUNS, ASIN und ASNI, des Komitees „Nein zum schleichenden EU-Beitritt“ sowie der Zürcher „Die Weltwoche“ in Feststellungen gipfeln, wie zB dieser: „Das von der EU diktierte und vom Bundesrat kopfnickend in Empfang genommene Rahmenabkommen (…) wird uns zu einer politischen und wirtschaftlichen Marionette deklassieren“.103 Aber auch die Bemerkungen des Chefredaktors der Zürcher „Die Weltwoche“, Roger Köppel, in seinem Vorwort zur kommentierten Fassung des „Institutionellen Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU“ machen sprachlos, wenn dieser anmerkt: „Die grösste Aufgabe unserer Generation ist der EU-Rahmenvertrag, der die Schweiz zu einem Untertanengebiet der EU machen würde (…) die EU fordert – seit bald zehn Jahren – die Schweiz möge sich gefälligst dem europäischen Recht samt europäischen Richtern unterstellen. Das Instrument dieser Unterwerfung ist der Rahmenvertrag, den uns die EU mit wachsendem Druck aufnötigen will (…) Der Rahmenvertrag ist Ausdruck des erklärten EU-Willens, das politische „Unding“ Schweiz zu beseitigen, die „störrischen Schweizer“ zu beherrschen…“. Als österreichischer Völker- und Europarechtler, der die außergewöhnliche Situation der Schweiz stets mit großem Verständnis und Wohlwollen verfolgt hat, sind Äußerungen, wie diese, einfach nicht nachvollziehbar. Die Schweiz sollte sich vielmehr überlegen, ob es – aus Sicht der EU – nicht 100 Vgl. dazu vorstehend auf S. 466. 101 COM(2020) 857 final, Annex 1, vom 25. 12. 2020; ABl. 2020, L 444, 14 ff. 102 Vgl. dazu vorstehend auf S. 464 f. 103 Gartenmann, 6. 12. 1992: EWR/6. 12. 2020: InstA; https://auns.ch/insta-virus-hal ten-wir-abstand/

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mehr als verständlich erscheint, nach knapp 20 Jahren und dem Abschluss von über 120 bilateralen Abkommen (mit je einem „Gemischten Ausschuß“ zu deren Administrierung) eine gewisse Verminderung des dadurch verursachten gewaltigen Verwaltungsaufwands durch ein einziges Rahmenabkommen anzustreben. Quelle: Zeitschrift für Europarecht (EUZ) 2/2021, S. 42 – 56 (Artikel Nr. 36) PS: Am 26. Mai 2021 brach der Schweizer Bundesrat die Verhandlungen über das Institutionelle Rahmenabkommen mit der EU einseitig ab und wies darauf hin, dass die Schweiz als viertgrößter Handelspartner der EU und (weltweit) zweitgrößter Investor in der EU, sich von der EU mehr Entgegenkommen erwartet hätte.104 Die Schweiz erklärte sich aber bereit, die zugesagte Kohäsionsmilliarde zu zahlen,105 deren Liquidierung bisher vom Schweizer Parlament deswegen blockiert wurde, da die Kommission der Schweizer Börse die Gleichwertigkeit („Äquivalenz“) mit der EU-Konkurrenz abgesprochen hatte. Damit könnte sich die Schweiz aber wieder dem Neunten Rahmenforschungsprogramm der EU, mit Namen „Horizon Europe“ – das mit 96 Mrd. € über die nächsten sieben Jahre gefördert wird – annähern, wobei für eine vollständige und gleichberechtigte Teilnahme rechtstechnisch allerdings eine Assoziierung, in Form des Abschlusses eines Abkommens zwischen der EU und der Schweiz, notwendig wäre. Da diese Verträge noch nicht unterzeichnet sind, erlaubt die EU 18  Ländern auf vorläufiger Basis an den nun gestarteten Ausschreibungen von „Horizon Europe“ teilzunehmen, wozu etwa das UK, Albanien, Island, Marokko, Norwegen und die Türkei, nicht aber die Schweiz gehören. Vorab hat das Schweizer Parlament für die Teilnahme an „Horizon Europe“ bereits 6,15 Mrd. Franken bewilligt.106 Lukas Mandl, Berichterstatter des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments über die Beziehungen der EU mit der Schweiz, unterstützte in seinem „Schweiz-Bericht“ hingegen eine volle Teilnahme der Schweiz am Programm „Horizon Europe“.107

104 Vgl. Schmutz, C. G. Warum ist die EU so stur?, NZZ vom 17. Juni 2021, S. 23. 105 Gafafer, T. Der Bundesrat will die zweite Kohäsionsmilliarde deblockieren, doch die EU fordert von der Schweiz regelmässige Beiträge, nzz.ch vom 11. Juni 2021. 106 Schmutz, C. G. EU-Forschungsprogramm startet ohne die Schweiz, NZZ vom 25. Juni 2021, S. 22; Schmutz, C. G. Berlin greift Bern im Kampf um die Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen unter die Arme, nzz.ch vom 30. April 2021. 107 Schäfer, F. Glück für die Schweiz? Ein freundlich gesinnter Österreicher kümmert sich nun im Auftrag des EU-Parlaments um die lädierte Beziehung, nzz.ch vom 22. Juli 2021.

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Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun?

37.  Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun? Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU verliert auch der Finanzplatz London seinen „EU-Pass“ und damit der LIBOR seine Bedeutung Einführung Ende Dezember 2020 schied das Vereinigte Königreich aus der EU und deren Binnenmarkt aus und verlor damit auch alle Vergünstigungen im Finanzdienstleistungs-Sektor. Für die britischen Banken und sonstigen Finanzdienstleister bedeutet das, dass sie den sogenannten „EU-Pass“ verloren haben, der es ihnen bisher erlaubt hat, ihre Dienste uneingeschränkt allen Kunden in der EU anzubieten. Ein wichtiges Instrument dafür war der LIBOR-Referenzwert, der am Finanzplatz London, als führendes Kriterium für die kurzfristige Zinsfestsetzung der Banken untereinander, festgelegt wird. Mit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU verlieren die Londoner Banken dieses „Privileg“ der Festlegung des weltweit führenden Referenzzinssatzes, sodass ehebaldigst nach einem Ersatz dafür gesucht werden muss, um Störungen der Finanzmärkte in der EU zu vermeiden. Obwohl bereits eine Reihe von Ersatz-Referenzwerten vorgeschlagen wurden, hat sich bis jetzt aber noch keiner davon definitiv durchgesetzt. Daher soll jetzt die Europäische Kommission, durch eine Änderung der „EU-Benchmark-Verordnung“, dazu ermächtigt werden, einen Ersatz für den LIBOR zu bestimmen. Die Zeit drängt aber… Finanzplatz London: Geburtsstätte des LIBOR Die britische Finanzbranche ist ein Gigant und erwirtschaftet pro Jahr mehr als 130 Mrd. £, was etwa 7% des BIP entspricht. Der Sektor zählt über eine Mio. Angestellte, wozu noch eine weitere Million in verwandten Dienstleistungen, wie Accounting und spezielle Rechtsberatung, hinzukommt. Mit dem Rest der Welt, und besonders der EU, hat das Vereinigte Königreich ein Handelsbilanzdefizit, nicht aber im Bereich der Finanzdienstleistungen, bei denen es 2018 einen Überschuss von 44 Mrd. Mrd. £ erzielte. Die Banken der Londoner City, des weltgrößten Finanzplatzes, hielten im Jahr 2018 Vermögenswerte in Höhe von rund 8.000 Mrd. £ in ihrem Portfolio, wovon etwa 20% auf europäische Klienten, oder auf Euro lautend, entfielen. Das wären in Summe 1.600 Mrd. £. Der Großteil des 735.000 Mrd. Euro umfassenden europäischen Derivatehandels wird in London effektuiert, wobei 90% aller auf Euro lautenden Zins-Swaps dort abgewickelt werden. Gem. Berechnungen der Wirtschaftsprüfer von EY werden – für den Fall der Nicht-Gewährung der

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Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun?

„Äquivalenz“ durch die EU1 – mindestens 1.200 Mrd. £ über den Ärmelkanal verschoben werden.2 Entstehung und Ausformung des LIBOR Der riesige Finanzplatz-Cluster der „Londoner City“ begünstigt naturgemäß die Herausbildung eines Referenzzinssatzes, an dem sich die Kreditzinsen der jeweiligen Großbanken orientieren konnten. Lange Zeit waren nämlich die von den nationalen Zentralbanken einseitig festgelegten Leitzinsen der einzige Referenzzins, der sich am jeweiligen Diskont- bzw. Lombardsatz orientierte, und demgemäß durchaus unterschiedlich ausfiel. Um das Wachstum von Bankgeschäften bzw. Finanztransaktionen der in London domizilierten Großbanken durch einen einheitlichen Referenzzins zu beschleunigen, begann man Ende 1984, unter der Federführung der British Bankers Association (BBA), für das britische Pfund (£) und einige weitere Währungen, eine erste offizielle Zinssatz-Fixierung vorzunehmen, die am 10. Jänner 1986 mit dem Fixing der „London Interbank Offered Rate“ (LIBOR) – des „Londoner Interbanken-Angebotszinses“ – ihr vorläufiges Ende fand. In der Folge wurde das Fixing auf insgesamt 10 Währungen ausgedehnt.3 Rein technisch wird der LIBOR, als Zinssatz, den Londoner Banken für Interbankengeschäfte als Richtschnur verwenden, täglich festgelegt. Um 11.00 Uhr wird er durch 12 ausgewählte Banken der BBA festgestellt und gilt dann als Referenzzinssatz für alle Geld-, Devisen- und Wertpapiertransfers. Vereinfacht gesagt, beruht der LIBOR damit auf der Einschätzung einiger weniger Banken über den Zinssatz, zu dem sie Kredite an andere Banken anbieten oder annehmen. Die Umfrage zur Ermittlung des LIBOR ist vertraulich, sodass das Problem, im Vergleich zur Preisbildung in der normalen Wirtschaft, in der mangelnden Transparenz besteht. Ob die von den jeweiligen Banken eingemeldeten Daten stimmen oder nicht, ist nur schwer nachzuprüfen.4 Der LIBOR-Skandal und seine Überwindung Im Juni 2012 wurde bekannt, dass es Absprachen unter den – den LIBORZinssatz festlegenden – Banken gegeben haben soll, wie zB zwischen der 1 Vgl. dazu nachstehend auf S. 482. 2 Vgl. Triebe, B. Brexit, Banken und die City: Wer für das Schlimmste plante, lag richtig, NZZ vom 3. Dezember 2020; Triebe, B. Das Machtgleichgewicht ist in der Schwebe, NZZ vom 4. Dezember 2020, S. 8. 3 Britisches Pfund, Euro, US-$, australischer Dollar, kanadischer Dollar, neuseeländischer Dollar, Schweizer Franken, dänische Krone, schwedische Krone und Yen. 4 Vgl. Krupp, C. LIBOR-Manipulation: Analyse möglicher Auswirkungen und Empfehlungen für den sich daraus ergebenden Handlungsbedarf (2014).

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Was hat der „Brexit“ mit dem LIBOR zu tun?

Royal Bank of Scotland und Barclays. So soll der LIBOR nicht nach operativ nachvollziehbaren, neutralen Gründen festgelegt worden sein, sondern in einer solchen Form, dass die Banken ihre Verluste zum Teil verschleiern konnten und damit liquider dastanden, als sie es wirklich waren. Dadurch verschlimmerte sich aber die Lage für Zinssätze vieler anderer Finanzprodukte – wie Darlehen und Hypotheken – die durch den LIBOR festgelegt wurden.5 In der Folge weitete sich der LIBOR-Skandal auf eine Reihe weiterer Großbanken aus, sodass der London Stock Exchange die Zuständigkeit für die Festsetzung des LIBOR entzogen und auf die New Yorker Börse NYSE Euronext übertragen wurde. Im Juli 2013 wiederum wurde die ICE Benchmark Administration (IBA) für die Verwaltung des LIBOR eingesetzt,6 die dafür die Intercontinental Exchange Benchmark Administration Ltd. (ICE) gründete, an die Ende Jänner 2014 von der BBA die Funktion des Administrators übergeben wurde.7 Die britische Aufsichtsbehörde über den LIBOR, die Financial Conduct Authority (FCA), kündigte in der Folge im Juli 2017 an, den LIBOR mit Ablauf des Jahres 2021 durch andere Referenzzinssätze zu ersetzen, da dieser unter erheblichen Schwächen leidet; vor allem gibt es für bestimmte ungesicherte Interbanken-Kredite keinen funktionierenden Markt, sodass der LIBOR diesen auch nicht abbilden kann.8 Aktuell wird der ICE-LIBOR für fünf Währungen (US-$, Euro, Pfund Sterling, Yen und Schweizer Franken) täglich von 11 bis 18 Großbanken ermittelt, die ab 11.00 Uhr ihre Zinssätze einmelden, zu denen sie sich untereinander am Londoner Interbankenmarkt Blankokredite in handelsüblicher Größe, samt Gewinnmarge, zur Verfügung stellen würden. Danach kalkuliert die Nachrichtenagentur Thomson Reuters das arithmetische Mittel der eingemeldeten Zinssätze und veröffentlicht dieses nach 11.45 Uhr.9 Insgesamt sind derzeit weltweit Finanzprodukte im Wert von mehr als 500 Billionen US-$ auf der Basis des LIBOR im Umlauf.10 Der EURIBOR 5 Leitner, D. Was ist LIBOR?; https://neuwal.com/2012/08/16/was-ist-libor/ 6 Die ICE Benchmark Administration. Ein Überblick; https://www.theice.com/iba 7 Vgl. Taylor, J. – Scholl, P. When Worlds Collide: Brexit, the EU Benchmarks Regulation sand LIBOR Discontinuance, Mayer/Brown, February 04, 2019. 8 Frischemeyer, A. LIBOR – Eine Benchmark auf dem Prüfstand und kautelarjuristische Konsequenzen, Zeitschrift für Wirtschaft- und Bankrecht, Nr. 31 (2018), S. 1441 ff.; https://de.wikipedia.org/wiki/London_Interbank_Offered_Rate 9 LIBOR, Information about the London InterBank Offered Rate; http://www.glo bal-rates.com/interest-rates/libor/libor-information.aspx 10 http://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/geld/Gezinkte-Karten-manipuliertes-Rou lette/story/21356497?dossier_id=1526; laut Lindyuk, Y. – Bali, G. S. Im Fokus: Ablösung des LIBOR und die Auswirkungen auf konzerninterne Finanztransaktionen, pwc Deutschland vom 28. August 2020, soll dieser Betrag über 200 Billionen US-$ betragen; gemäß Schmid, C. Der LIBOR wird Ende 2021 eingestellt: Auswirkungen auf Verrechnungspreise, Taxgate, vom 13. Mai 2019, beträgt die Summe 370 Billionen US-$; Mächler, A. – Zimmermann, M. Abschied vom Libor als Referenzzins: Besser

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wiederum liegt Finanzprodukten mit einem Volumen von 180 Billionen Euro zugrunde.11 EURIBOR Neben dem LIBOR besteht noch ein weiterer einschlägiger Referenzzinssatz, nämlich der EURIBOR (Euro Interbank Offered Rate), der am 1. Jänner 1999 zu einem Zeitpunkt eingeführt wurde, als der Euro erstmals als Buchgeld eingesetzt wurde. Er fußt auf dem Anfang 1998 errichteten „EURIBOR-Code of Conduct“,12 löst den zuvor maßgebenden AIBOR-Zinssatz (Amsterdam Interbank Offered Rate) sowie nationale Referenzzinssätze ab und sollte eine Alternative zum LIBOR bieten. Der EURIBOR ist der Zinssatz, den europäische Banken untereinander beim Handel mit unbesicherten, auf Euro lautenden Krediten, erheben. Täglich melden zur Zeit 19 sog. „Panel-Banken“, darunter zwei deutsche Banken, um 10.00 Uhr ihre Angebotssätze für Ein- bis Zwölfmonatsgelder dem neuseeländischen Unternehmen Global Rate Set Systems13 ein, das daraus den EURIBOR berechnet. Daneben gibt es für diese Kredite aber auch einen Overnight-Zinssatz, der von Europäischen Banken als EONIA (Euro Overnight Index Average) bezeichnet wird.14 Ebenso wie der LIBOR wurde aber auch der EURIBOR manipuliert, was im Oktober 2011 erstmals bekannt wurde. Die „EU-Benchmark-Verordnung“ Aktuell wurde das Ende des EURIBOR bereits 2016 eingeläutet, da die „EU-Benchmark-Verordnung“ in ihrer ursprünglichen Fassung 201615, die seit Jänner 2018 angewendet wird, besagt, dass der Referenzzins bis Ende 2019 auf Transaktionsdaten, und nicht auf Einschätzungen von Banken, basieren muss. Da Referenzwerte Interessenkonflikten unterliegen können, ist es notwendig, die Genauigkeit, Robustheit und Integrität derselben sowie auch des Verfahrens zu deren Bestimmung, sicherzustellen. Die EUBenchmark-Verordnung (2016)16 wird durch eine Reihe von Richtlinien früher als später, NZZ vom 1. März 2020, wiederum gehen von über 300 Billionen US-$ aus. 11 Die unklare Nachfolge von Libor und Euribor, DerTreasurer, Aufmacher vom 30. November 2017, S. 2. 12 Schwirz, S. Der Euro, internationale Verträge und Finanzderivate (1999), S. 202. 13 http://www.globalrateset.com 14 Vgl. dazu nachstehend auf S. 480. 15 VO (EU) 2016/1011 des EP und des Rates vom 8. Juni 2016 über Indizes, die bei Finanzinstrumenten und Finanzkontrakten als Referenzwert oder zur Messung der Wertentwicklung eines Investmentfonds verwendet werden, und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2014/17/EU sowie der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 (ABl. 2016, L 171, S. 1 ff.). 16 Geändert durch VO (EU) 2019/2089 des EP und des Rates vom 27. November 2019 (ABl. 2019, L 317/17 ff.).

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flankiert, die die Ausgestaltung der Referenzwerte näher spezifizieren, wie zB solche, die für die Preisbildung eines börsennotierten Finanzinstruments17 oder die von Emittenten18 bzw. von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW)19 verwendet werden. Eine flankierende Verordnung20 enthält wiederum Bestimmungen, die die Manipulation von Referenzwerten, die für Energiegroßhandelsprojekte verwendet werden, untersagen. Am 24. Juli 2020 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine weitere Verordnung zur Ergänzung der „EU-Benchmark-Verord­ nung“21 vor, mit der Maßnahmen gegen Risiken im Zusammenhang mit der LIBOR-Einstellung ergriffen werden sollen. In der „EU-Benchmark-Verordnung“ (2016) werden der Aufsicht für bestimmte Referenzwerte Befugnisse zur Verhinderung der plötzlichen Einstellung derselben übertragen, nicht aber zugleich verfügt, was im Falle einer etwaigen Einstellung eines kritischen Referenzwertes, zur Verhinderung eines rechtsfreien Raums, gelten soll.22 Aber gerade in diesem Fall sind die Banken in der EU bei ihrer eigenen Kreditaufnahme, bei der Kreditvergabe an Unternehmen und bei Hypotheken für Wohnimmobilien, besonders stark vom LIBOR abhängig.23 In der Folge kam es am 30. November 2020 zu einer Übereinkunft zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat über den vorerwähnten Kommissionsvorschlag vom 24. Juli 2020, gemäß derer die Kommission ermächtigt wird, einen umfassenden Ersatz-Referenzwert zu bestimmen, der einen Unterbruch in der Ausgestaltung der Finanzmärkte in der EU verhindern soll. EU-Unternehmen dürfen Referenzwerte, die von einem Drittstaat erstellt werden, bis Ende 2023 benützen, und die Kommission wird diesbezüglich bis zum 15. Juni 2023 ermächtigt, durch einen delegierten Rechtsakt gem. Art. 290 AEUV, die Frist um maximal zwei Jahre bis zum 31. Dezember 2025 zu erstrecken24. Die für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und Kapitalmarktunion zuständige Kommissarin Mairead McGuinness, erklärte in diesem Zusammenhang: „I welcome today’s swift agreement on financial benchmarks, which means that we will now not be faced with a legal vacuum when LIBOR disappears“.25 17 18 19 20 21 22

RL 2014/65/EU des EP und des Rates (ABl. 2014, L 173, S. 379). RL 2003/71/EG des EP und des Rates (ABl. 2003, L 345, S. 64). RL 2009/65/EG des EP und des Rates (ABl. 2009, L 302, S. 32). VO (EU) Nr. 1227/2011 des EP und des Rates (ABl. 2011, L 356, S. 1). COM(2020) 337 final. Financial stability: Commission addresses risk of Libor cessation; https://ec.europa. eu/commission/presscorner/detail/en/ip_20_1376 23 IP/20/1376. 24 Parliament and Council strike a deal on the orderly termination of benchmarks, ­European Parliament/Press Releases vom 30. November 2020, S. 1. 25 STATEMENT/20/2270.

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Wer sind die Nachfolger von LIBOR und EURIBOR? Auch wenn das Ende von LIBOR und EURIBOR mit dem Jahreswechsel 2021/22 feststeht, so sind die Nachfolgelösungen weit weniger offensichtlich. Für das Pfund Sterling sind mit dem SONIA (Sterling Overnight Index Average) und für den US-$, mit dem 2018 eingeführten SOFR (Secured Overnight Financing Rate),26 zwar kurzfriste Alternativen für den LIBOR Overnight gefunden worden, doch eine Lösung für längere Laufzeiten gibt es noch nicht. Dazu kommen noch der SARON (Swiss Average Rate Overnigt) und der TONAR (Tokyo Overnight Average Rate)27. Von diesen Übernachtzinssätzen ausgehend, müssen die Marktteilnehmer zunächst eine Terminkurve für längere Laufzeiten entwickeln. Auch in der Euro-Zone ist man noch nicht weiter. Im März 2017 ist ein Vorstoß des Europäischen Geldmarktinstituts (EMMI) gescheitert, das Erhebungsverfahren des EURIBOR auf ein rein transaktionsbasiertes Modell umzustellen. Das Handelsvolumen zwischen den Banken am Geldmarkt ist zu gering und reicht offenbar nicht aus, um den Referenzzins auf diesem Weg zu berechnen. EMMI prüft nun ein Hybridmodell, bei dem Transaktionsdaten verwendet werden, bei Bedarf aber auch andere Quellen herangezogen werden können.28 Im September 2017 hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Vorschlag veröffentlicht, bis 2020 einen eigenen Geldmarktzins zu veröffentlichen, der als Ergänzung zum vorerwähnten EONIA (European Overnight Index Average) gedacht ist. Parallel dazu arbeitet das EMMI nämlich auch an einer Reform des EONIA. Nach längeren Diskussionen wurde der Referenzzinssatz EONIA aber durch den neuen Zinssatz ESTER (Euro ShortTerm Rate) ersetzt, der sich gegen die beiden anderen Kandidaten GC Pooling Deferred, der von der Deutsche-Börse-Tochter Stoxx produziert wird, und Repo Funds Rate, aus der britischen Nex-Gruppe stammend, durchsetzte.29 Der ESTER wird von der EZB bereits ab Oktober 2019 veröffentlicht30.

26 Bahl, M. LIBOR Ende: Druck und Unzufriedenheit wachsen, vom 4. März 2020, S. 1 zitiert ein Schreiben vom 26. Februar 2020 , in dem eine Gruppe amerikanischer Banken den SOFR für gänzlich ungeeignet hält, den LIBOR zu ersetzen; vgl. auch Uhlig, A. Eine Gnadenfrist für den Referenzzinssatz Libor, NZZ vom 8. Dezember 2020, S.11. 27 Vgl. LIBOR’s end. How financial firms can prepare for new reference rates, pwc february 2019, S. 3. 28 Kögler, A. Die unklare Nachfolge von Libor und Euribor, DerTreasurer vom 7. Dezember 2017. 29 Kögler, A. EZB-Referenzzins Ester ersetzt Eonia, DerTreasurer vom 13. September 2018. 30 Kögler, A. Was CFOs über die Euribor-Reform wissen müssen, FINANCE Magazin, vom 17. April 2019.

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Insgesamt gestalteten sich die Vorarbeiten zur Abschaffung des LIBOR mehr als „holprig“.31 Wie der Branchenverband International Swaps and Derivates Association (ISDA) am 23. September 2020 ankündigte, will er erst Mitte bis Ende Januar 2021 seine neue, überarbeitete Dokumentation zur Libor-Abschaffung veröffentlichen. Diese soll unter anderem auch Hinweise darüber enthalten, welche alternativen Zinssätze und Mechanismen weltweit bei bestehenden Kontrakten herangezogen werden sollen, wenn der LIBOR verschwindet. Besondere Probleme wirft die Ablösung des LIBOR aber für konzerninterne Darlehensverträge auf, da alle neuen Verträge unter Berücksichtigung der bevorstehenden Änderungen konzipiert werden müssen. Bestehende Darlehensverträge, die auf dem LIBOR basieren und ein Fälligkeitsdatum nach dem 31. Dezember 2021 aufweisen, müssen angepasst werden, da diese üblicherweise keine Ausweichklausel enthalten, die eine dauerhafte Ablösung des LIBOR vorsieht. Viele Experten sind daher der Auffassung, dass solche Altdarlehensverträge, ohne entsprechende Anpassungen, Ende 2021 nicht mehr rechtlich durchsetzbar sein werden. Die fehlende rechtliche Durchsetzbarkeit eines Vertrages kann aus der Verrechnungspreisperspektive aber als Anlass für eine sog. „Umcharakterisierung“ (Delineation) einer Transaktion führen, wobei von der zuständigen Steuerbehörde unter Umständen die Position eingenommen werden kann, dass die Ablösung des ­LIBOR zu einem Neuabschluss des betroffenen Darlehensvertrages, unter Anwendung aktualisierter Bedingungen wie Zinssatz, Fälligkeit und Vorauszahlung, hätte führen müssen.32 Der LIBOR hat aber auch grundlegende Auswirkungen auf die Verrechnungspreissysteme multinationaler Unternehmen, die, auf der Grundlage des LIBOR, Intercompany-Finanzierungsvereinbarungen getroffen haben. Auch hier sollte rechtzeitig reagiert und ein Übergangsszenario erstellt werden, das die Auswirkungen der Einstellung des LIBOR abfedern kann.33 Wenngleich es wohl bewusst als publizistische Übertreibung angesehen werden muss, wenn festgestellt wird, dass „the operational challenges of shifting to a new benchmark were more complex and concerning than those created by the UK’s exit from the European Union“34, oder bemerkt wird:

31 Reuters Staff, Weg zur Libor-Abschaffung bleibt holprig, Reuters Wirtschaftsnachrichten vom 23. September 2020. 32 Lindyuk/Bali, Im Fokus: Ablösung des LIBOR und die Auswirkungen auf konzerninterne Finanztransaktionen (Fn. 10), S. 3. 33 Schmid, Der LIBOR wird Ende 2021 eingestellt: Auswirkungen auf Verrechnungspreise (Fn. 10), S. 1. 34 Zitiert von Bailey, A. Bigger than Brexit: Libor replacement creates new headaches; https://www.fnlondon.com/articles/bigger-than-brexit-libor-replacement-createshead...

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„IBOR-Transition – „Tausendmal so groß wie der Brexit“35, so ist doch die Schaffung eines universellen Referenzzinssatzes oder von fünf regionalen Referenzzinssätzen eine Sisyphusarbeit von enormem Ausmaß. Ganz allgemein ist aber festzustellen, dass sich die Befugnis der Kommission zur Bestimmung eines rechtlich fixierten LIBOR-Nachfolgers nur auf Verträge erstreckt, die von beaufsichtigten Unternehmen, wie Banken, Wertpapierfirmen oder Vermögensverwaltern geschlossen wurden, da nur diese Verträge unter die vorerwähnte „EU-Benchmark-Verordnung“ fallen.36 Bei nicht von beaufsichtigten Unternehmen geschlossenen Verträgen kann dieser Ersatzzins nicht genutzt werden.37 Fazit Die vorstehende Kurzdarstellung der Bestimmung und Administrierung des LIBOR als weltweit anerkannter Referenzzinssatz für Interbankengeschäfte belegt dessen enorme Komplexität und Varianz. Noch komplexer stellt sich aber die Suche nach einem geeigneten Ersatz für den LIBOR dar, der ja mit Ende 2021 abgeschafft wird. Dazu kommt aber noch der Umstand, dass der Finanzplatz London, auf dem ja der LIBOR konfiguriert wird, durch den „Brexit“ mit Ende des Jahres 2020 seinen „EU-Pass“, und damit einen Großteil seiner Bedeutung, verlieren wird. Für diesen Umstand ist im vorläufig bis Ende Februar 2021 anzuwendenden38 „Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits“39, das das zukünftige wirtschaftspolitische Verhältnis zwischen der EU und dem UK reglementiert, keine wie immer geartete Vorsorge getroffen worden. Obwohl das Abkommen keine Erleichterungen für die Finanzbranche beinhält, wird sich die EU nach dessen definitivem Zustandekommen aber viel leichter tun, die britische Finanzregulierung als gleichwertig anzuerkennen und dementsprechend „Äquivalenz“ zu gewähren. Damit dürfen britische 35 Wingenbach, S. – Haage, K. IBOR-Transition – „Tausendmal so groß wie der Brexit; https://www.management-circle.de/blog/ibor-transition/ 36 Vgl. Scholl, P. – Chapman, C. – Duffee, D. K. Proposal for a Governmental IBOR Transition in the European Union; https://www.eyeonibor.com/2020/09/proposalfor-a-governmental-ibor-transition-in-t... 37 Coronakrise: Wie die Kapitalmarktunion die wirtschaftliche Erholung Europas fördern kann, Europäische Kommission – Fragen und Antworten, vom 24. Juli 2020 (Quanda/20/1377), S. 6 f. 38 Vgl. die Mitteilung über die vorläufige Anwendung des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. 2021, L 1, S. 1 ff.). 39 ABl. 2020, L 444, S. 14 ff.; vgl. Teil I: Der „BREXIT“ und seine Auswirkungen auf die EU, vorstehend auf S. 23 ff.

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Finanzdienstleistungsunternehmen aus dem UK heraus, ihre Dienste den EU-Klienten anbieten, dh sie hätten gleichwertige Zugangsbedingungen zum entsprechenden Sektor des Binnenmarkts.40 Unter diesem Aspekt versucht auch der von der britischen Regierung am 21. Oktober 2020 eingebrachte Gesetzesvorschlag einer „UK Financial Services Bill 2020-21“ den Finanzplatz London und dessen Finanzdienstleistungen so weit als möglich zu stärken41 und diesen gem. den „Basel III“Standards auszubauen. Damit sollen die Auswirkungen des „Brexit“ auf den Finanzplatz der „Londoner City“ weitgehend abgefedert42, es vor allem aber der Kommission erleichtert werden, sich für eine „Äquivalenz“-Entscheidung auszusprechen. Quelle: EU-Infothek vom 11. Januar 2021, S. 1 – 6 (Artikel Nr. 37) PS: Zur Verdeutlichung der Größenverhältnisse des Einsatzes von LIBOR in einem europäischen Staat sei nur auf ein kürzlich ergangenes Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 19. Januar 2021 (II. Zivilkammer GNr. LB200029-O/U) verwiesen, bei dem es um die von Hauskäufern geschuldeten Zinsen im Zusammenhang mit LIBOR-Hypotheken geht. Schweiz-weit dürften mehr als 200.000 private Haushalte und Unternehmen LIBOR-Kredite abgeschlossen haben, die potenziell von diesem Urteil betroffen sind.43

40 Vgl. Triebe, Brexit, Banken und die City: Wer für das Schlimmste plante, lag richtig (Fn. 2). 41 Vgl. Blaber, L. – Kafcas, J.- Poland, H. UK Financial Services Bill: Amendments to the Benchmarks Regulation to support LIBOR Transition; https://www.jdsupra. com/legalnews/uk-financial-services-bill-amendments-96417/ 42 Brexit, LIBOR and financial crime update: What does the new Financial Services Bill mean for UK market participants; https://momentagroup.com/insight/brexit-liborand-financial-crime-update-what-does-... 43 Vgl. Schäfer, M. Ein Urteil mit Sprengkraft, NZZ vom 28. April 2021, S. 18.

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38.  Von LIBRA zu DIEM Versuche der Europäischen Kommission, auf die mögliche Einführung dieser „Krypto“-Währung zu reagieren 1. Einführung Nachdem Jahrhunderte lang das Währungssystem souveräner Staaten durch Geldsysteme in Form staatlicher „Fiat-Währungen“ geprägt war, wurde – im Kontext von „Blockchain“-Systemen – Anfang der 1990er Jahre das Konzept einer virtuellen, digitalen Währung (sog. „Krypto-Währung“) entwickelt. In der Folge wurde, im Zuge der Überwindung der Finanzkrise 2008, im Jahr 2009 mit der Krypto-Währung Bitcoin erstmals ein Krypto Coin geschaffen, in dessen Nachfolge pro Jahr hunderte andere Krypto Coin-Projekte entstanden sind, die es immer wahrscheinlicher machen, dass in absehbarer Zeit Zentralbank-Systeme durch ein neues, voll dezentralisiertes System auf der Basis einer „Blockchain“ und der damit verbundenen „Distributed Ledger Technology“ (DLT) abgelöst werden könnten. Der Wert aller derzeit bekannten digitalen Währungen – mittlerweile sind es über 8.2001 – beträgt aktuell mehr als 871 Mrd. $, wobei der Bitcoin mit 631 Mrd. $ den Löwenanteil stellt.2 Die Nummer zwei, Ether von Ethereum, wiederum verfügt über einen aktuellen Marktwert von 94 Mrd. $. Allein schon aufgrund dieser Größenordnung der gegenständlichen Krypto-Werte empfiehlt sich eine rasche und umfassende Reglementierung derselben. Bisher ist dies aber nur in einigen wenigen Staaten sowie in der EU ansatzweise der Fall. Zu den Herausforderungen in der EU zählen, neben dem Verbraucherschutz, vor allem die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. Dementsprechend überarbeiten die EU-Institutionen aktuell auch die 5. Geldwäsche-Richtlinie, um erstmalig virtuelle Währungen einzubeziehen. Die Regulierung virtueller Währungen steht aber auch auf der Tagesordnung der Finanzminister und Notenbankchefs der G20-Staaten. Erstmals wurde die breite Öffentlichkeit auf das Phänomen virtueller Währungen dadurch aufmerksam, dass Mark Zuckerberg Mitte Juni 2019 die Einführung eines Blockchain-basierten Zahlungssystems namens Libra durch das von ihm geleitete soziale Netzwerk Facebook ankündigte. Dieser 1 coinmarketcap.com, Jänner 2021; Blumenstein, T. Was ist eigentlich Bitcoin? Diese Technik steckt dahinter, t-online.de vom 23. Jänner 2021; Grundlehner, W. Auf dem Friedhof der Kryptowährungen, nnz.ch vom 27. Dezember 2019 (https://www.nzz. ch/finanzen/auf-dem-friedhof-der-krypto-waeh...) verweist in diesem Zusammenhang auf die Website deadcoins.com, gemäß derer aktuell 1.928 digitale Währungen aufgelistet sind, die zwischenzeitlich aber wieder „aufgegeben“ wurden. 2 Stand der Kurs von Bitcoin Anfang 2019 noch bei etwas mehr als 8.000 $, so betrug er Ende 2020 bereits mehr als 40.000 $. Bitcoin ist aber sehr volatil und weist große Schwankungsbreiten auf; vgl. Nestler, F. So kann man in Digitalwährungen investieren, faz.net vom 10. Februar 2021.

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Ankündigung folgte aber keine weitere Aufklärung, sodass die enormen Auswirkungen, die die Einführung einer Krypto-Währung auf bestehende „Fiat“-Geld- und Zahlungssysteme verursachen würde, nicht näher bekannt wurden. Trotzdem regte sich sehr bald bei den (Noten)Banken und Regulierungseinrichtungen massiver Widerstand gegen die Einführung von Libra, sodass sich die „Libra Association“ veranlasst sah, nicht nur ihre ambitionierten Pläne zu redimensionieren, sondern Libra auch in Diem umzubenennen. Nach einer gerafften Darstellung dieser Vorgänge soll anschließend untersucht werden, wie die Europäische Kommission auf diese außerordentlich komplexen Herausforderungen, die die Einführung einer solchen virtuellen Währung auf das Zahlungssystem innerhalb und außerhalb des „EuroRaumes“ mit sich bringen würde, bisher reagiert hat. Zuvor muss aber noch ein einführender Blick auf die Rechtsnatur und Funktion virtueller Währungen geworfen werden. 2.  „Krypto-Währungen“ und ihre Einordnung Im Gegensatz zu einer nationalen „Fiat-Währung“3, die von einem zentralen Emittenten (Nationalbank) ausgegeben und reglementiert wird, gibt es bei einer digitalen Krypto-Währung weder eine emittierende Bank noch eine zentrale Zahlungsverkehrsaufsicht. Damit unterscheiden sich virtuelle „Krypto Coins“, wie zB Bitcoin, in organisatorischer Hinsicht von offiziellen Währungen dadurch, dass sie keine verantwortliche Ausgabeinstanz, keine Deckung oder sonstige Form der Wertanbindung, keine Barauszahlungs-Option, sowie keine flexible Angebotsmenge aufweisen. An die Stelle von Banken, Behörden, Gesetzen und Aufsicht tritt im Bitcoin-System stattdessen ein technisches Regelwerk – nämlich ein auf der BlockchainTechnologie4 beruhendes elektronisches Zahlungssystem – das die „Spielregeln“ sowie bestimmte Anreize vorgibt, nach denen freiwillige Nutzer durch ihre Aktivität gemeinsam Bitcoin innerhalb vorgegebener Schranken produzieren, verwalten und untereinander austauschen können.5 In Österreich ist eine „virtuelle Währung“ erstmals in § 2 Ziff. 21 des Finanzmarkt-Geldwäschegesetzes6, das in Umsetzung der 5. GeldwäscheRichtlinie der EU7 ergangen ist, wie folgt definiert worden: „Virtuelle Wäh3 Abgeleitet aus dem Lateinischen für „Es werde Geld“. 4 Siehe dazu Piska, C. – Völkel, O. (Hrsg.), Blockchain rules (2019); Anderl, A. (Hrsg.), # Blockchain in der Rechtspraxis (2020). 5 Weber, B., Krypto Coins und das Geldsystem: Bedrohung, Inspiration oder Themenverfehlung?, in: Kirchmayr-Schliesselberger/Klas/Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger (Hrsg.), Kryptowährungen (2019), S. 69 f. 6 BGBl. I Nr. 118/2016 idgF. 7 Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018… (ABl. 2018, L 156, S. 43 ff.).

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rungen: eine digitale Darstellung eines Werts, die von keiner Zentralbank oder öffentlichen Stelle emittiert wurde oder garantiert wird und nicht zwangsläufig an eine gesetzlich festgelegte Währung angebunden ist und die nicht den gesetzlichen Status einer Währung oder von Geld besitzt, aber von natürlichen oder juristischen Personen als Tauschmittel akzeptiert wird und die auf elektronischem Wege übertragen, gespeichert und gehandelt werden kann“.8 In Österreich konnte erstmals ab dem 1. September 2020 an der Wiener Börse mit virtuellen bzw. Krypto-Währungen gehandelt werden. Über den Schweizer Anbieter von börsennotierten Produkten (ETP), 21Shares, können Anleger am Handelsplatz Wien in virtuellen Währungen, wie Bitcoin und Ether, investieren. Eine digitale Wallet wird dafür nicht benötig.9 Was wiederum „Dienstleister in Bezug auf virtuelle Währungen“ betrifft, so bestimmt § 2 Ziff. 22 des Finanzmarkt-Geldwäschegesetzes, dass darunter alle Dienstleister, die eine oder mehrere der folgenden Dienste erbringen, zu verstehen sind: a) „Wallet-Provider“ (Verwahrer oder Anbieter von elektronischen Geldbörsen): Dienste zur Sicherung privater kryptographischer Schlüssel, um virtuelle Währungen im Namen eines Kunden zu halten, zu speichern und zu übertragen; b) „Umtausch-Plattformen“ (elektronische Wechselstuben): Dienste für den Tausch von virtuellen Währungen in Bargeld („Fiat-Geld“) und umgekehrt; c) „Handelsplattformen“: Dienste für den Tausch einer oder mehrerer virtueller Währungen untereinander; d) Übertragung von virtuellen Währungen; e) Zurverfügungstellung von Finanzdienstleistungen für die Ausgabe und den Verkauf von virtuellen Währungen. Zur Prävention der Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung unterliegen diese „Dienstleister in Bezug auf virtuelle Währungen“, wie jetzt schon Kredit- und Finanzinstitute, seit dem 10. Jänner 2020 – einer gebührenpflichtigen Registrierungspflicht bei der österreichischen Finanzmarktaufsicht (FMA). Nicht registrierte Anbieter dürfen ihre Dienstleistung in Österreich nicht mehr anbieten, für ein Unterlassen der Registrierung ist eine Geldstrafe von bis zu 200.000 Euro vorgesehen. Aus österreichischer Sicht stellen virtuelle Währungen, wie zB Bitcoin, weder elektronisches E-Geld iSd E-Geldgesetzes10, noch Zahlungsmittel iSd 8 Eine idente Formulierung findet sich auch in Art.  2 lit. d) der Richtlinie (EU) 2019/713 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln… (ABl. 2019, L 123, S. 24). 9 Kryptowährung, Wiener Zeitung, vom 2. September 2020, S. 9. 10 BGBl. I 2010/107 idgF.

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Bankwesengesetzes11, geschweige denn Zahlungsinstrumente iSd Zahlungsdienstegesetzes12, dar.13 Dass dies in anderen Rechtsordnungen durchaus anders gesehen bzw. in diesen auch unterschiedlich bewertet wird, belegt ein rezentes Judikat eines deutschen Gerichts über die Frage, was denn genau Bitcoins aus regulatorischer Sicht sind. So hatte das Berliner Kammergericht im Rahmen eines Strafverfahrens zu entscheiden, ob im Rahmen des Betriebs einer InternetPlattform, über die Bitcoins gehandelt wurden, erlaubnispflichtige Bankgeschäfte betrieben oder Finanzdienstleistungen erbracht wurden. Diese Frage setzte aber wiederum voraus, ob man Bitcoins als Rechnungseinheit iSd deutschen Kreditwesengesetzes oder aber als „E-Geld“ iSd Zahlungsdiens­ teaufsichtsgesetzes ansieht. In diesem Zusammenhang verneinte das Kammergericht in seinem Urteil vom 25. September 201814 in Bezug auf Bitcoin sowohl dessen Charakter als Rechnungseinheit, als auch den von „E-Geld“. Da Bitcoins damit keine Finanzinstrumente iSd Kreditwesengesetzes, insbesondere keine Rechnungseinheiten, seien, ist der Handel mit Bitcoins nicht strafbar.15 Diese Ansicht des Berliner Kammergerichts steht diametral in Widerspruch zur Verwaltungspraxis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die Bitcoins als Finanzinstrument in der Form von Rechnungseinheiten gem. § 1 Abs. 11 Satz 1 Kreditwesengesetz qualifiziert.16 Der Rechtsansicht des BaFin schloss sich auch einer der Rezensenten des gegenständlichen Urteils an, da Krypto-Währungen durchaus als Rechnungseinheiten, und damit als Finanzinstrumente im aufsichtsrechtlichen Sinne, angesehen werden können. Bitcoins sind heute eine weitverbreitete Komplementärwährung, die – genau so, wie das bei Devisen der Fall ist – in gesetzliche Zahlungsmittel umgetauscht und währungsähnlich eingesetzt werden können.17 In der Folge soll anhand der von Facebook geplanten Einführung einer virtuellen Währung, namens Libra, kurz dargestellt werden, welche Reflexe 11 BGBl. 1993/532 idgF. 12 BGBl. I 2018/17 idgF. 13 Abpurg, C. – Weratschnig, T. Kryptowährungen und Geldwäsche, in: KirchmayrSchliesselberger/Klas/ Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger, Kryptowährungen (Fn. 5), S. 446. 14 Az 161 Ss 28/18 (35/18). 15 https://www.online-und-recht.de/urteile/Handel-mit-Bitcoin-ist-nicht-strafbar-dabitco... 16 Vgl. Jung, M. – Hock, M. Bitcoin-Urteil. Niederlage für Bafin – aber kein Sieg für Krypto-Fans (https://www.faz.net/aktuell/finanzen/digital-bezahlen/bitcoin-han del-ist-nicht-strafbar...); „Bitcoin-Urteil“: Handel mit Bitcoin ist nicht strafbar!, paytechlaw.com 17 Vgl. Rauer, N. Bitcoins sind weder Rechnungseinheit noch E-Geld; https://www.lto. de/recht/hintergruende/h/kg-161ss2818-bitcoins-rechtliche-einordnun...

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Krypto-Währungen auf den währungs- und finanzrechtlichen Sektor, der bisher von „Fiat-Währungen“ dominiert wird, ausüben könnten. 3. Libra

3.1. Die Ankündigung von Facebook, eine Krypto-Währung, ­namens „Libra“, begeben zu wollen Mitte Juni 2019 gab der Gründer von Facebook, Mark Zuckerberg, bekannt, im Laufe des ersten Halbjahres 2020 eine digitale „Weltwährung“, namens Libra,18 herausgeben und sich dabei auf die massive Reichweite des eigenen Internetkonzerns Facebook sowie deren Messenger-Dienste (WhatsApp, Instagram und Facebook Messenger) stützen zu wollen. Zunächst herrschte diesbezüglich in der interessierten Öffentlichkeit allgemeine Ratlosigkeit vor. Da keine weiteren Informationen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung dieser virtuellen Währung sowie der Zweckhaftigkeit ihrer Begebung verfügbar waren, entstanden spontan eine Reihe von „Verschwörungstheorien“ um die Frage, was denn Facebook damit eigentlich vorhaben könnte. Auf nähere Anfragen hin erklärte Mark Zuckerberg in der Folge, dass er mit dieser Krypto-Währung vor allem den 2,5 Mrd. Nutzern von Facebook, von denen ein Großteil in Entwicklungsländern beheimatet ist und über kein eigenes Bankkonto verfügt, die Möglichkeit eröffnen wolle, kostengünstige, dh spesenfreie, finanzielle Transaktionen durchzuführen. Konkret bezog er sich dabei vor allem auf die Kapitalheimsendungen von im Ausland tätigen Gastarbeitern an ihre Familien, die in der Heimat zurückgeblieben waren, in Form der sogenannten „Rimessen“. Bedenkt man, dass laut einem Bericht der BIZ, Migranten für ihre Rimessen an ihre Familien gegenwärtig im Durchschnitt 6,8% des Betrages für die Transaktion bezahlen müssen,19 ergibt sich schon allein daraus die Relevanz einer Abschaffung der Überweisungskosten. Ganz allgemein gibt es weltweit 200 Mio. Migranten, die für ihre insgesamt 800 Mio. Familienangehörigen in den Entwicklungsländern allein im Jahr 2019 insgesamt 554 Mrd. US-$ an Rimessen nach Hause übersendet haben, was einem Betrag entspricht, der drei Mal so hoch ist, wie die gesamte offizielle Entwicklungshilfe und der auch das Gesamtniveau der ausländischen Direktinvestitionen in der Dritten Welt übersteigt (sic).20 Allein die Rimessen von ca. 30 Mio. La18 In Anlehnung an das lateinische Wort für „frei“. 19 Fischer, P. A. Facebooks Libra schreckt die Zentralbanken auf – sie wollen nun die Zahlungssysteme verbessern und prüfen die Herausgabe von digitalem Zentralbankgeld, nnz.ch vom 1. März 2020; https://www.nzz.ch/wirtschaft/facebooks-libraschreckt-die-zentralbanken-auf-sie-wollen-nun-die-zahlungssysteme-verbessernund-pruefen-die-h... 20 Secretary General of the UN, Message on the International Day of Family Remittances, 16 June 2020 (UNIS/SGSM/1025, 15 June 2020).

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teinamerikanern, die überwiegend in den USA beschäftigt waren, überstiegen zB bereits im Jahr 2007 mit 66,5 Mrd. US-$ den Gesamtbetrag an Entwicklungshilfe (10 Mrd. US-$) und Netto-Direktinvestitionen (55 Mrd. US-$), der der Region Lateinamerika zugutekam.21 Dazu kommt aber noch die allgemeine Überlegung, dass 1,7 Mrd. Erwachsene weltweit vom Finanzsystem ausgeschlossen sind, sodass für diese Personengruppe die Sinnhaftigkeit der Einführung einer digitalen Währung sofort ersichtlich ist. Da aber zwei Drittel dieser Personen zumindest ein Smartphone mit Internetzugang besitzen,22 drängte sich für Zuckerberg die Gelegenheit geradezu auf, auf der Basis des Internets, mit der Krypto-Währung Libra, einen offenen und unmittelbaren Zahlungsverkehr, auch für diese Personengruppe, zu ermöglichen. Kaum waren aber diese näheren Umstände bekannt, regte sich enormer Widerstand, und zwar nicht nur aus dem Bereich der Banken und Finanzdienstleister, sondern auch aus dem der organisierten Zivilgesellschaft und den NGOs, nahmen diese doch an, dass bei einem privaten Anbieter einer Währung die notwendige Objektivität und Seriosität, vor allem im Bereich des Datenschutzes, nicht gegeben sei. So wurde vermutet, dass eine KryptoWährung, die vom Internetriesen Facebook betrieben wird, eine Vermengung von „social media“-Daten mit persönlichen Finanzdaten in geradezu „notwendiger Weise“ impliziert. Der erforderliche Datenschutz wäre in einer solchen Interessenkonstellation keinesfalls gewährleistet. Dazu kämen noch weitere Bedenken in Richtung Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Steuerhinterziehung. Dementsprechend veröffentlichten eine Reihe von Datenschutzbehörden einen umfassenden Fragenkatalog zur Ausgestaltung des „Facebook Coin“.23 Ganz allgemein ist in diesem Zusammenhang aber auch noch der gigantische Energiebedarf für das „mining“ und den Austausch von KryptoWährungen zu erwähnen, der allein für Bitcoin im Gigawattbereich liegt. Das ist so viel Energie, wie kleinere Länder, wie zB Österreich oder die Schweiz, insgesamt für ihre Wirtschaft benötigen.24 Mit seiner potentiellen Nutzerbasis von 2,5 Mrd. Nutzern unterscheidet sich Facebook von einem durchschnittlichen FinTech-Unternehmen ganz grundsätzlich. Eine Währung oder ein Zahlungsdienst, die bzw. der von 21 Hummer, W. Die Europäische Union und Lateinamerika, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 1 (2010), S. 338. 22 Demirgüç-Kunt, A. – Klapper, L. – Singer, D. – Ansar, S. – Hess, J. Financial Inclusion and the Fintech Revolution, World Bank Group (2018); The Global Findex Database 2017: Measuring Financial Inclusion and the Fintech Revolution, World Bank Group (2018). 23 Umfassender Fragenkatalog: Datenschutzbeauftragte weltweit besorgt um Facebooks Libra, finanzen.ch vom 14. August 2019. 24 Interview-Aussage von Rudolf Bayer in: Kröll, M. Von Bäumen und Ketten, eco. nova Nr. 02/März 2020, S. 46.

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mehr als einem Viertel der Weltbevölkerung (sic) unmittelbar genutzt werden könnte, benötigt unbedingt einen strikten regulatorischen Rahmen, wie dieser bei nationalen „Fiat-Währungen“ ja durch die jeweiligen Zentralbanken gegeben ist. Dass dieser in der bisher einzigen Form einer staatlich begebenen Krypto-Währung, nämlich des 2018 eingeführten venezolanischen „Petro“25, nicht adäquat ausgebildet werden konnte, bestätigt eindrucksvoll die Notwendigkeit, aber auch Komplexität dieser Forderung.

3.2. „Libra“, die erste von einer privaten Unternehmensgruppe begebene, Krypto-Währung Libra, als neue digitale Währung, besteht aus folgenden drei Teilen, die gemeinsam ein inklusiveres Finanzsystem schaffen sollen: – Sie basiert auf einer sicheren, skalierbaren und zuverlässigen „Blockchain“, – Sie wird durch eine Währungsreserve gestützt, die Libra intrinsischen Wert verleihen soll; sie ist damit eine „Stable-Coin“ und unterliegt nicht den enormen Schwankungen, denen virtuelle Währungen, wie zB Bitcoin, ansonsten unterliegen; – Sie wird durch die unabhängige „Libra Association“ gesteuert.

3.2.1. Libra als „Blockchain“ Unter einer „Blockchain“ versteht man eine Technologie, mit der sich geschäftliche Transaktionen, wie zB Bestellungsvorgänge, dokumentieren lassen. Sie funktioniert so ähnlich wie ein Kassenbuch in der analogen Welt: Alle Transaktionen, die in einem bestimmten Zeitraum stattfinden, werden in einer eigenen Datei, dem sogenannten „Block“, gespeichert, der an sich aber nur für eine begrenzte Anzahl von Transaktionen bestimmt ist. Kommt eine weitere Transaktion hinzu, greift das System auf alle bisher erzeugten Datenblöcke, die es dann, per Verschlüsselungstechnik, miteinander verbindet. Dabei entsteht eine stets wachsende Kette von Datenblöcken, die sog. „Blockchain“.26 Als technologisches Rückgrat des Zahlungssystems basiert Libra auf einer „Blockchain“, die auf Open Source-Software beruht. Damit kann Jeder darauf aufbauen und Milliarden Menschen können sie für ihre Finanzgeschäfte nutzen. Man kann sie sich als offenes, interoperables Zahlungssystem vorstellen, mit dem physische und juristische Personen in die Lage versetzt werden, Libra Coins zu besitzen und in ihrem Alltag damit zu bezah25 Hummer, W. „Petro“ und „Petro oro“ als weltweit erste staatliche Krypto-Währungen. Erfolgreiches Experiment oder gescheiterter Versuch?, EU-Infothek, vom 20. August 2020, S. 1 ff.; siehe dazu Artikel Nr. 33, vorstehend auf S. 411 ff. 26 Vgl. allgemein Piska/Völkel, Blockchain rules und Anderl, # Blockchain in der Rechtspraxis (Fn. 4).

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len. Bei der Entwicklung der Libra-Blockchain, die auf der Basis einer eigenen Programmiersprache namens „Move“ entstanden ist, wurde von Anfang an auf Skalierbarkeit, Sicherheit, Effizienz bei der Speicherung und Datenrate sowie künftige Adaptierbarkeit gesetzt.27

3.2.2. Libra als „Stable-Coin“ Wie aus den ersten Andeutungen von Zuckerberg hervorging, ist das LibraNetzwerk als weltweit zugängliches, kostengünstiges Zahlungssystem konzipiert, und zwar als Ergänzung, und nicht als Ersatz, der jeweiligen Inlandswährung. Dabei soll es sich bei Libra um eine virtuelle Währung in Form einer Cyber-Devise handeln, die allerdings – im Gegensatz zu sonstigen Krypto-Währungen – an einen Währungskorb (Dollar (50%), Euro (18%), Yen (14%), Pfund (11%) und Singapur-Dollar (7%))28 gebunden und damit in ihrem Wert weniger schwankungsanfällig sein soll.29 Als sog. „Stable-Coin“ würde Libra damit durch eine Reserve aus Bankeinlagen (in Höhe von ca. 20%) und sehr kurzfristigen Staatsanleihen derselben Währung (in Höhe von mindestens 80%) gestützt werden, und damit nicht den enormen Wertschwankungen sonstiger Krypto-Währungen, wie zB Bitcoin, unterliegen. Zum Schutz der Verbraucher soll die Reserve zudem über einen „Kapitalpuffer“ – zur Abfederung von Verlusten aufgrund von Kredit-, Markt- und Betriebsrisken des Libra-Zahlungssystems – in ausreichender Höhe verfügen.30 Jeder Besitzer von Libra könnte damit in hohem Maße sicher sein, dass er seine digitale Währung zu einem gegebenen Wechselkurs in ein lokales Zahlungsmittel umtauschen könnte.31 Da Libra, wie vorstehend erwähnt, zunächst nicht an eine einzige Währung, sondern an einen Währungskorb, gekoppelt werden soll, kann Libra nicht immer in denselben Betrag einer bestimmten lokalen Währung umgetauscht werden. Die Bestandteile der Reserve werden jedoch so ausgewählt werden, dass die Volatilität so weit als

27 Libra White Paper, vom 1. September 2020, S. 7. 28 Geht Facebooks Internetwährung Libra schon im Januar an den Start?, https://www. finanzen.net/nachricht/devisen/in-abgespeckter-version-geht-facebooks-i... 29 Die Libra Association würde es in diesem Zusammenhang begrüßen, wenn eine Gruppe von Regulierungsbehörden und Zentralbanken oder der IWF, unter Leitung der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA), die Zusammensetzung des Währungskorbes überwachen und kontrollieren würde. 30 Vgl. Catalini, C. – Gratry, O. – Hou, M. – Parasuraman, S. – Wernerfelt, N. Die Libra-Reserve, o. J. 31 Laut Urteil des Gerichtshofes der EU in der Rs. C-264/14, Skatteverket/Hedqvist, vom 22. Oktober 2015 (ECLI:EU:C:2015:718) ist der Umtausch konventioneller Währungen in Einheiten der virtuellen Währung „Bitcoin“ von der Mehrwertsteuer iSd Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1 ff.) befreit.

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möglich minimiert wird. Von der Besicherung der Libra durch einen Währungskorb wurde zwischenzeitlich aber abgegangen.

3.2.3.  Die „Libra Association“ Libra wurde bei Facebook entwickelt, wobei es unter anderem darum ging, wie Facebook Libra in seine bestehenden Dienste, wie die Chat-App WhatsApp und Messenger, einbinden wolle. Die Apps der Facebook-Familie werden monatlich von rund 2,5 Mrd. Menschen und 90 Mio. kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) weltweit genutzt. Facebook kündigte diesbezüglich nur an, dass in diese beiden Chatdienste nur das hauseigene digitale Libra-Portemonnaie „Calibra“ direkt integrierbar sein soll. Facebook selbst kann aber nicht auf die Daten von Calibra zugreifen. Die sozialen Daten und die des Zahlungsverkehrs-Netzwerkes werden also nicht vermischt, womit kritischen Äußerungen Rechnung getragen wurde. Nunmehr soll aber Libra von der „Libra Association“ verwaltet werden, innerhalb derer Facebook nur eines der 21 Mitglieder ist, ohne dabei irgendwelche Sonderrechte zu besitzen. Die administrative Verwaltung der Libra liegt damit in Händen der „Libra Association“ und deren hundertprozentigem Tochterunternehmen „Libra Networks“. Während aber die Libra Association, als nicht gewinnorientierte, unabhängige, gemeinnützige Mitgliederorganisation, die Verwaltung der Libra-Reserve überwachen und die Bereitstellung von Diensten im Libra-Zahlungssystem regelkonform ermöglichen soll, ist das Libra Networks unmittelbar mit dem Betrieb des Libra-Zahlungssystems, der Prägung und Vernichtung von Libra Coins sowie der Verwaltung der Reserve betraut. Nur Libra Networks ist berechtigt, Libra Single-Currency-StableCoins zu prägen und zu vernichten. Beide Organisationen haben ihren Sitz in Genf. Der Grund für deren Lokalisierung in der Schweiz ist die dominante Rolle derselben als Finanzplatz, ihre historische Rolle als Sitzstaat wichtiger Internationaler Organisationen und, nicht zuletzt, deren völkerrechtlicher Status einer dauernden Neutralität. Auch hat der Schweizer Calibra-Chef David Markus früher in Genf gelebt und dabei die Internationalität und Reputation dieses Standorts kennen und schätzen gelernt. Zur Zeit der Ankündigung des Libra-Projekts Mitte Juni 2019 umfasste dieses 28 Gründungsmitglieder – Zahlungsverkehrs-, Technologie-, Telekommunikations-, Blockchain-, Risikokapital- und gemeinnützige Unternehmen – kurz danach traten aber das Online Auktionshaus eBay, die Online-Bezahldienste Stripe und Paypal, die beiden Kreditkartenanbieter Mastercard und Visa, sowie Vodafone, ohne Angabe von Gründen, aus dem Projekt wieder aus. Die verbliebenen Gründungsmitglieder der Libra Association verabschiedeten am 14. Oktober 2019 eine eigene Charta und ernannten zugleich

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fünf Mitglieder des Vorstandes, darunter David Marcus von Facebook32 sowie Vertreter des Zahlungsunternehmens PayU, der Risikokapitalgesellschaft Andreessen Horowitz, der Blockchain-Firma Xapo Holdings sowie der gemeinnützigen Organisation Kiva Microfunds. In der Folge wurden Vodafone und die Mitfahrdienste Uber und Lyft weitere Mitglieder der Libra Association, die nunmehr 27 Mitglieder umfasst, aber auf 100 Mitglieder ausgeweitet werden soll.33 4. Die Behandlung von Libra durch die Eidgenössische ­Finanzmarktaufsicht (FINMA) Durch die Radizierung der Libra Association in Genf ist die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) die zuständige Behörde, um über die Zulassung von Libra als Zahlungssystem zu befinden. Aufgrund der Komplexität der Sachlage versuchte die Libra Association zunächst in einem ersten „Weißbuch“ ihre Einstufung als Zahlungsdienst zu begründen, musste diese aber kurz danach in einem weiteren „Whitepaper“ wieder modifizieren.

4.1.  Das erste „Weißbuch“ der Libra Association Das erste Whitepaper der Libra Association wurde am 18. Juni 2019 veröffentlicht und kündigte die Schöpfung eines offenen und innovativen Zahlungssystems mit einer finanziellen Infrastruktur an, das für eine globale Verwendung vorgesehen ist und Milliarden von Menschen neue Bezahlund Überweisungschancen eröffnen soll. Damit würde Libra vor allem mit Zahlungsdiensten wie Western Union oder Moneygram konkurrieren, die für internationale Überweisungen hohe Gebühren verlangen. Dabei wurde vor allem untersucht, wie sich die Blockchain-Technologie am besten mit anerkannten regulatorischen Rahmenbedingungen verbinden lässt, damit sich das Libra-Zahlungssystem nahtlos in lokale geldpolitische Vorgaben einfügt und vorhandene Währungen ergänzen kann. Als Ziel sollte es neue Funktionalitäten, eine drastische Kostenreduzierung und finanzielle Gleichberechtigung ermöglichen.34 Im September 2019 kündigte die Libra Association an, einen Antrag auf Bewilligung von Libra als Zahlungsmittel bei der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) stellen zu wollen.35 32 David Marcus kann als Mastermind hinter dem Projekt Libra angesehen werden; vgl. Leisinger, C. David Marcus über Libra: „Wenn wir den Zahlungsverkehr nicht revolutionieren, machen es andere“, NZZ vom 20. September 2019. 33 Facebook bringt Digitalwährung Libra auf den Weg; https://www.krone.at/2023245 34 Erstes Whitepaper – Begleitbrief, S. 1. 35 EU-Kommission plant strenge Regulierung von Cyberdevisen wie Libra, vom 25. August 2020; https://www.cash.ch/news/politik/diskussionspapier-eu-kommission-plant-strenge-reg...

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4.2.  Das zweite „Weißbuch“ der Libra Association Am 16. April 2020 wurde von der Libra Association ein neues Whitepaper als eigenständiges Update zu den bisherigen Plänen vorgelegt und um weiteres technisches Begleitmaterial ergänzt. Unter den vorgenommenen Modifikationen sind folgende vier grundlegenden Änderungen erwähnenswert, die als Reaktion auf regulatorische Bedenken aus dem Kreis der Vertreter von „Fiat“-Währungen, vorgenommen wurden: a) Angebot von Single-Currency-Stable-Coins neben der Multi-Currency-Coin. Obwohl das Libra-Zahlungssystem als Ergänzung und nicht als Konkurrenz zu den bestehenden „Fiat-Währungen“ konzipiert wurde, gehörte es zu den Hauptbedenken der Kritiker, anzunehmen, dass die Multi-Currency Libra Coin sich dann zum Störfaktor für die Währungs- und Finanzpolitik von Staaten entwickeln könnte, wenn das Netzwerk eine signifikante Größe erreichen, und damit zB in den USA ein großes Zahlungsvolumen abgewickelt werden würde. Es soll daher das Libra-Netzwerk durch zusätzliche Single-Currency-Stable-Coins erweitert werden, die vollständig durch die Reserve gestützt werden, die aus Bankeinlagen und sehr kurzfristigen Staatsanleihen derselben Währung besteht. b) Höhere Sicherheit des Libra-Zahlungssystems durch ein solides Compliance-Framework zur Einhaltung der Bestimmungen; c) Verzicht auf den künftigen Wechsel zu einem genehmigungsfreien System, unter Beibehaltung der wesentlichen ökonomischen Eigenschaften von Libra; d) Integration starker Schutzmechanismen in das Konzept der LibraReserve.

4.3. Ansuchen der Libra Association an die FINMA um Verleihung des Status eines Zahlungssystems an Libra Auf der Basis dieses zweiten „White-Paper“ ersuchte die Libra Association die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA), dem Libra-Zahlungssystem eine Bewilligung als Zahlungssystem gemäß Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG) zu konzedieren. Das am 17. April 2020 vorgelegte Gesuch unterscheidet sich deutlich vom ursprünglich eingereichten Projekt einer Bindung der Libra an einen Währungskorb, vor allem mit Blick da­ rauf, dass das Libra-Zahlungssystem neben einem „Stable Coin“, der mit mehreren Währungen unterlegt sein wird, auch mehrere „Stable Coins“ umfassen soll, die nur mit einer einzelnen Währung unterlegt werden sollen. Wichtigster „Stable Coin“ ist diesbezüglich natürlich derjenige, der mit US-$ hinterlegt ist. Die FINMA kündigte an, das Gesuch eingehend analysieren zu wollen, wobei sie besonders berücksichtigen werde, ob nationale und internationale

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Standards zu Zahlungssystemen und auch zu einer strikteren Geldwäschereibekämpfung eingehalten würden. Des Weiteren mache die geplante internationale Reichweite des Projekts ein international koordiniertes Vorgehen unverzichtbar, sodass sie in engem Kontakt mit der Schweizerischen Nationalbank und mehr als 20 Aufsichtsbehörden und Nationalbanken weltweit stehe. Da die Schweizer Lizenz für Zahlungssysteme zusätzliche Risken eines Projekts, auch bankähnliche Risken, gleich abdecken kann, wie bei einer Banklizenz – was im Ausland des Öfteren anders geregelt ist – ist die internationale Abstimmung besonders wichtig. Wie die neue Präsidentin des Verwaltungsrats der FINMA, Marlene Amstad, ausführte, sind rund 80 % der einschlägigen Bestimmungen bereits durch Parlament und Bundesrat vorgegeben, wobei bezüglich „Stable Coins“ keine zusätzliche Regulierung notwendig ist. Geldwäschereivorschriften, Kundenschutz, Systemstabilität und Cybersecurity sind im Bestehenden im Wesentlichen schon abgedeckt.36 5.  Von „Libra“ zu „Diem“

5.1.  Motive und Effekte der Umbenennung Aufgrund des anhaltenden Widerstandes von Notenbanken und Regulierungseinrichtungen reduzierte die Libra Association ihre ursprüngliche Intention, Libra zu einer unabhängigen digitalen Weltwährung zu machen, redimensionierte ihre Pläne und benannte Libra um. Am 1. Dezember 2020 verkündete der Vorstandsvorsitzende der „Libra-Association“, Stuart Levey, dass die von Facebook unterstützte Krypto-Währung „Libra“ ab sofort unter einem neuen Namen, nämlich „Diem“, firmieren soll37, um damit vor allem ihre Unabhängigkeit von Facebook zu betonen. Die Umbenennung sei auch Teil eines Umbaues zu einer einfacheren Struktur. Der Akkusativ von „Dies“, dem lateinischen Wort für „Tag“, wurde deshalb gewählt, da er im berühmtem Spruch „Carpe Diem“ verwendet wird.38 Bei der Umbenennung von Libra in „Diem“ wurde unverständlicher Weise aber nicht berücksichtigt, dass ein in London domiziliertes Fin TechStartup mit dem Namen „DIEM“ bereits existiert. Dieses hat bereits angekündigt, entweder gegen Facebook oder gegen die „Diem Association“ eine Unterlassungsklage einzureichen39. Ebenso unbeachtet blieb der Umstand, 36 Fischer, P. – Biswas, C. „Wir befinden uns an einer Zeitenwende“, sagt die neue Präsidentin der Schweizerischen Finanzmarktaufsicht, nzz.ch vom 9. Februar 2021. 37 Diem statt Libra – Facebooks Kryptowährung mit neuem Namen; https://www. finanzen.net/nachricht/devisen/unabhaengigkeit-diem-statt-libra-faceboo... 38 Vgl. Libra wird Diem: Neuer Name soll Unabhängigkeit von Facebook zeigen, o. J. 39 Libra Association heißt ab sofort Diem Association – es wurde allerdings etwas Wichtiges übersehen; https://blockchain-hero.com/libra-association-heisst-ab-so fort-diem-association-es-wu...

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dass bereits 2004 in Zürich die „Diem Client Partner AG“ als unabhängige Vermögensverwaltung gegründet wurde, die zwischenzeitlich zu den großen, international tätigen Vermögensverwaltern der Schweiz zählt und Mitglied der Allianz Schweizer Vermögensverwalter (ASV) ist.40 Damit muss aber die Umbenennung von Libra in Diem mehr als unglücklich bezeichnet werden. Anstatt einer generischen Währung setzt Diem nunmehr auf 1 zu 1 durch klassische „Fiat-Währungen“ gedeckte digitale Stable-Coins. Aus dem geplanten Währungskorb, der die neue Krypto-Währung Libra als „Stable Coin“ besichern sollte, sollen nun mehrere Einzelwährungen werden, wie zB Diem-US-$, Diem-EUR, Diem-GBP usw. Der Diem-US-$, als an den US-$ gebundener „Stable Coin“, soll 2021 begeben werden, weitere StableCoins in Euro und britischem Pfund könnten folgen. Bei Diem soll die Reserve, die die digitale Währung mit Dollar deckt und damit sicherstellt, dass sie jederzeit zurückgetauscht werden kann, aus Cash und US-Treasuries mit maximal 90 Tagen Laufzeit bestehen; längerfristig strebt man allerdings eine Deckung direkt mit digitalem Zentralbankgeld an. Um Marktrisken abzusichern, soll Diem, wie eine Bank, regulierte Eigenkapitalpuffer vorhalten.41 Dazu hat aber die Schweizer Finanzmarktaufsicht FINMA noch kein grünes Licht gegeben. Facebook Inc. gehört ebenfalls der „Diem Association“, die insgesamt 27 Mitglieder zählt – darunter Coinbase, Lyft, Xapo, Spotify, Novi, PayU, Uber, Kiva42 – an, hat aber in dieser keine hervorgehobene Rechtsstellung. Die Mitgliedschaft im „Diem Association Council“ wird durch eine Zahlung von 10 Mio. US-$ erworben und verleiht gleichwertige Stimmrechte. Alle Entscheidungen werden dabei mit Zweidrittel-Mehrheit gefasst. Was die Kritik an Diem betrifft, so wird gerügt, dass die „Diem Association“ Betreiberin, ausführende Organisation und Kontrollinstanz in einem ist. In ihr sind auch hauptsächlich große Unternehmen aus den USA vertreten. Des Weiteren ist für deren Nutzung eine Identifikation per Ausweis nötig, was bei den anderen Krypto-Währungen nicht der Fall ist. Wer DiemCoins besitzt, geht auch ein Wechselkursrisiko ein, da diese immer von der hinterlegten Reserve und den darin enthaltenen nationalen Währungen abhängig sind. Das Wechselkursrisiko ist umso größer, je geringer die Gewichtung der Heimatwährung des Libra-Inhabers ist, uam.43 Zuletzt muss aber noch erwähnt werden, dass dann, wenn die Diem Association von der FINMA die Genehmigung für den Betrieb als Zahlungs40 Wer ist Diem Client Partner?, o. J. 41 Fischer, A. Facebooks Libra heisst jetzt Diem und will, überwacht durch die Finma, sicherer sein als Bitcoin, nzz.ch vom 11. Februar 2021; https://www.nzz.ch/wirt schaft/facebooks-libra-heisst-diem-und-will-2021-finma-regul... 42 Diem Coin – (ehemals Facebook Libra), S. 3; https://www.blockchaincenter.net/ diem/ 43 Vgl. Diem Coin – (ehemals Facebook Libra) (Fn. 42).

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dienst erhält, sich die bisherige unionsrechtliche Einstufung der Libra verändern würde. Es würde dann das Unionsrecht nicht mehr Anwendung finden, „da es keine Limits für „Internet-Produkte“, die woanders zugelassen sind, gäbe“44. Erhält Diem die Zulassung durch die Eidgenössische ­FINMA, ist dessen Verbreitung wohl nicht mehr zu stoppen.

5.2.  Von „Calibra“ zu „Novi“ Zu einer weiteren Umbenennung kam es in Bezug auf die „digitale Geldbörse“ (Wallet) von Facebook für die Krypto-Währung Libra. Am 26. Mai 2020 gab Facebook bekannt, dass das ursprüngliche Wallet „Calibra“, das deswegen gegründet wurde, um die Trennung zwischen sozialen und finanziellen Daten im Rahmen von Facebook zu gewährleisten, in „Novi“ umbenannt werden soll.45 „Novi“ setzt sich aus den beiden lateinischen Wörtern „novus“ und „via“ zusammen, die gemeinsam als ein „neuer Weg“ übersetzt werden können. Für die Entwicklung von Novi ist Facebook verantwortlich.46 Als offizieller Grund für die Umbenennung wurde angegeben, dass der Name „Calibra“ dem der Krypto-Währung „Libra“ zu ähnlich gewesen sein soll.47 Es lässt sich allerdings vermuten, dass Facebook das Branding verändern wollte, um das Projekt vor den Regulatoren in einem besseren Licht darzustellen.48 6. Die Regulierung von Krypto-Währungen durch die Europäische Kommission

6.1. Kritische Untersuchung von Libra durch die Europäische ­Kommission Aufgrund der Neuartigkeit der durch die Einführung von Libra bzw. Diem hervorgerufenen Probleme war die Europäische Kommission mit einer Fülle von Rechtsfragen befasst, von denen schwerpunktmäßig lediglich die beiden Problembereiche des Wettbewerbsrechts und des Datenschutzes kurz erwähnt werden sollen. Im Bereich des Wettbewerbs drängte sich die Vermutung auf, dass unter Umständen Facebook und die in der Libra Association zusammengeschlossenen Unternehmen durch das Bezahlsystem Libra auf unfaire Weise Mitbewerber ausschließen könnten. Dementsprechend untersucht die Europäi44 Facebook: Durchbruch bei Kryptowährung „Libra“ und neuem Namen „Diem“, o. J. 45 https://www.heise.de/news/Novi-statt-Calibra-Facebook-benennt-seine-LibraGeldboerse-um-4765573.html 46 Große Pläne: Facebook setzt auf Novi und Ex-Libra Diem in 2021, finanzen.at vom 17. Jänner 2021. 47 Digitalwährung Libra heißt jetzt Diem, heise online vom 1. 12. 2020, S. 2; https:// www.heise.de/news/Digitalwaehrung-Libra-heisst-jetzt-Diem-4976925.html?vi... 48 https://coin-ratgeber.de/facebook-coin-libra-kaufen/

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sche Kommission auch „potentiell wettbewerbswidriges Verhalten“ im Zuge der Einführung der Digitalwährung Libra.49 Diesbezüglich versendete die Kartellaufsicht innerhalb der Europäischen Kommission Anfang August 2019 Fragebögen an die Mitglieder der Libra Association,50 um herauszufinden, ob überhaupt, und wenn ja, inwieweit Facebooks Krypto-Währung Libra gegen das Wettbewerbsrecht der EU verstoßen könnte.51 Neben der Kartellaufsicht beschäftigt sich aber auch die Abteilung für Finanzdienstleistungen der Kommission mit den möglichen Auswirkungen von Libra im Zahlungsdienstleistungsbereich.52 Untersucht wird von der Kommission aber auch der Umstand, dass Facebook Wallets für Libra in seine Apps WhatsApp, Instagram und Messenger einbauen will und damit auf einen Schlag zweieinhalb Milliarden potentielle Nutzer hätte. Facebook verweist in diesem Zusammenhang lakonisch darauf, dass auch andere Firmen Wallets anbieten könnten. Im Bereich des Datenschutzes geht die Europäische Kommission ua auch der Frage nach, was denn mit den Nutzerdaten alles passieren kann. So könnten potentiell Nutzerdaten und Finanzdaten von Facebook-Nutzern zusammengeführt werden, was dem Datenschutz diametral zuwiderlaufen würde. Wenngleich Facebook immer wieder betont hat, dass es bei der Einführung von Libra nicht um Daten gehe, stellt sich diese Frage doch naturgemäß. Wer nämlich die Krypto-Währung Libra in WhatsApp oder Messenger verwenden möchte, muss sich dort, wie vorstehend erwähnt, mit einem Ausweis vorab identifizieren.53 Um sich weiter abzusichern, warnte Facebook – laut einer Meldung des US-amerikanischen Senders CNBC – seine Aktionäre bzw. potentielle Investoren ganz allgemein mit dem Hinweis darauf, dass es unter Umständen möglich sei, dass das digitale Geld niemals in Umlauf kommen könnte. Dementsprechend führte Facebook die Krypto-Währung Libra in seinem, Ende Juli 2019 veröffentlichten, Quartalsbericht – für das zweite Quartal 2019 – unter der Rubrik „Risikofaktoren“. Man könne nicht garantieren, dass Libra oder damit verbundene Produkte oder Dienste rechtzeitig, oder

49 EU hat Bedenken bei Libra – Bitcoin-Kurs fällt, faz.net vom 21. August 2019; https:// www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/eu-hat-bedenken-bei-libra bitcoin-k... 50 https://europa.eu/european-union/topics/competition_de 51 Verstößt der Libra-Coin gegen das Wettbewerbsrecht? Europäische Kommission ermittelt!; https://kryptoszene.de/verstoesst-der-libra-coin-gegen-das-wettbewerbs recht-europaei... 52 Boddy, M. Europäische Kommission untersucht Monopolbildung durch Facebook Libra; https://de.cointelegraph.com/news/the-european-commission-concernedabout-libras-... 53 Vgl. Steinschaden, J. Libra: Facebooks Kryptowährung gerät ins Visier der Europäischen Kommission, vom 21. August 2019, S. 1; https://www.trendingtopics.at/librafacebooks-kryptowaehrung-geraet-ins-visier-der-e...

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überhaupt, verfügbar sein werden.54 Gegenüber CNBC betonte ein Sprecher von Faceboook am 29. Juli 2019, dass man bis zum möglichen Start der Krypto-Währung permanent und offen mit allen besorgten Parteien kommunizieren möchte, um alle Bedenken vor dem Start noch zeitgerecht ausräumen zu können.55

6.2.  Versuch der einheitlichen Regulierung digitaler Zahlungsmittel Ohne auf Libra speziell abzustellen, versuchte die Europäische Kommission einen einheitlichen Regulierungsrahmen für digitale Zahlungsmittel zu entwickeln und rief in diesem Zusammenhang Anfang Februar 2018 die EU-Blockchain-Beobachtungsstelle respektive das Blockchain-Forum ins Leben.56 Ziel der Beobachtungsstelle und des Forums ist es, auf wichtige Entwicklungen der Blockchain-Technologie aufmerksam zu machen, europäische Akteure zu fördern und das europäische Zusammenwirken mit den verschiedenen an Blockchain-Aktivitäten beteiligten Interessenträgern zu verstärken. In der Folge erteilte die Europäische Kommission im Rahmen ihres FinTech-Aktionsplans vom März 201857 sowohl der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) als auch der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) das Mandat, zu bewerten, inwieweit der bestehende EU-Regulierungsrahmen für Finanzdienstleistungen auf Kryptowerte Anwendung finden kann bzw. inwieweit er dafür überhaupt geeignet ist. In deren im Januar 2019 veröffentlichten Empfehlungen58 wird da­ rauf hingewiesen, dass die unionsrechtlichen Vorschriften im Finanzdienstleistungsbereich – mit Ausnahme der Vorschriften zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung59 – auf die meisten Kryptowerte keine Anwendung finden, sodass diese unter anderem nicht den Bestimmungen zum Verbraucher- und Anlegerschutz sowie zur Marktintegrität 54 Zmudzinski, A. Facebook Quartalsbericht: „Libra wird womöglich nie auf dem Markt kommen“, vom 30. Juli 2019. 55 Leistikow, D. Facebook Libra: Antworten auf die wichtigsten Fragen, computerbild, vom 21. August 2019; https://www.computerbild.de/artikel/cb-News-InternetFacebook-Libra-21690203.html 56 Vgl. Europäische Kommission, Europäische Kommission bringt EU-BlockchainBeobachtungsstelle und -Forum auf den Weg, IP/18/521; http://europa.eu/rapid/ press-release_IP-18-521_de.htm 57 COM(2018) 109 final, vom 8. März 2018. 58 ESMA, Empfehlungen zu Emissionen virtueller Währungen und zu Kryptowerten (2019); EBA-Bericht mit Empfehlungen zu Kryptowerten (2019). 59 Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849/ zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung… (ABl. 2018, L 156, S. 43 ff.). Mit dieser sog. 5. „Geldwäsche-RL“ wird der Begriff „virtuelle Währung“ erstmals im Unionsrecht verankert.

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unterliegen. Darüber hinaus hat eine Reihe von Mitgliedstaaten eigene Vorschriften im Zusammenhang mit Kryptowerten erlassen, wodurch es zu einer Fragmentierung des Marktes gekommen ist.60 Um sich einen entsprechenden Überblick zu verschaffen, eröffnete die Europäische Kommission am 19. Dezember 2019 zwei öffentliche Konsultationen, deren Beantwortung bis zum 18. März 2020 erbeten wurde. Die erste Konsultation soll zeigen, ob der bestehende Rechtsrahmen für Krypto-Vermögenswerte überhaupt geeignet ist, da unter diese auch preisstabile Währungseinheiten, sog. „Stable-Coins“, zu subsumieren sind. Mit der zweiten Konsultation ersucht die Europäische Kommission um Rückmeldungen dazu, wie der bestehende Rechtsrahmen verbessert werden kann, um Informations- und Kommunikationstechnologien widerstandsfähiger gegen Cyberangriffe zu machen. In der Folge arbeitete die Europäische Kommission zunächst ein zehnseitiges informelles Arbeitspapier, ein sog. „Non-Paper“, aus, das kurz vor der Sommerpause 2020 an einzelne Experten in den jeweiligen Mitgliedstaaten verteilt und auch den Redaktionen einiger wichtiger Tageszeitungen zugeleitet wurde. Die Europäische Kommission bediente sich dabei bewusst nicht der Gestalt eines „Grünbuchs“, dem, nach einer speziellen Konsultationsperiode der europäischen Öffentlichkeit, ein „Weißbuch“ folgen sollte61, sondern kontaktierte spezielle Experten, die in dieser komplexen Materie von Krypto-Assets über die entsprechenden Spezialkenntnisse verfügen.

6.3. „Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente“ (MIFID II) und „E-Geld-Richtlinie“ (EMD2) Der Ansatz der Europäischen Kommission zur Entwicklung eines soliden Krypto-Asset-Marktes in der EU fußt dabei auf folgenden drei Elementen: a) Zum einen will die Europäische Kommission die bestehenden Regelungen für Finanzinstrumente oder elektronisches Geld – Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MIFID II)62 und E-GeldRichtlinie (EMD2)63 – dergestalt anpassen, dass sie auch auf KryptoVermögenswerte angewendet werden können; b) Zum anderen sollen für den Markt für solche Vermögenswerte, die nicht unter die geltenden EU-rechtlichen Bestimmungen fallen, wie 60 COM(2020) 593 final, S. 2. 61 Vgl. Hummer, W. Die Bunt- oder Farbbücher der EU, in: Hummer, W. Die Europäische Union – das unbekannte Wesen, Bd. 1 (2010), S. 133 f. 62 Richtlinie (EU) 2014/65 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente… (ABl. 2014, L 173, S. 349 ff.); Inkrafttreten der Richtlinie am 2. Juli 2014, Anwendung ab 3. Januar 2018. 63 Richtlinie 2009/110/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E-Geld-Instituten… (ABl. 2009, L 267, S. 7 ff.)

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zB Stable-Coins vom Typ Libra, spezielle Regelungen und ein eigenes „Pass-System“ ausgearbeitet werden. Für globale Krypto-Währungen, wie Facebooks Libra, müssen dabei striktere Vorschriften gelten, die dann von der EBA kontrolliert werden sollen; c) Zuletzt soll auch noch ein eigenes Pilotregime mit einer gewissen regulatorischen Flexibilität für den Handel mit solchen Vermögenswerten eingeführt werden. Dabei will die Europäische Kommission in einem abgegrenzten und gesicherten Bereich testen, wie Finanzgeschäfte mit Digitalwährungen in concreto ablaufen. Für Krypto-Währungen, die mit geltenden „Fiat“-Währungen oder Wertpapieren unterlegt sind, also für Stable-Coins, wie Libra, sieht das Arbeitspapier bereits detailliertere Auflagen vor. So muss das Unternehmen, das diese Währung begibt, seinen Sitz oder eine seiner Niederlassungen in der EU haben. Des Weiteren muss das Unternehmen speziellen Regelungen nachkommen, wie zB solchen zur Vermeidung von Interessenkonflikten, zur Erfüllung bestimmter Kapitalanforderungen, zur Aufbewahrung der Wertpapiere sowie zur eventuell nötigen Abwicklung der Währung.64 Zuletzt sollen die Unternehmen ihren Kunden auch keine Zinsen zahlen dürfen, um sie damit zu längeren Investments anzuregen. Dieses Arbeitspapier der Europäischen Kommission musste in der Folge in eine eigenständige Mitteilung derselben an das Europäische Parlament und den Rat umgestaltet werden, um danach von diesen Organen ordnungsgemäß beschlossen zu werden.

6.4. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine „Verordnung über Märkte für Kryptowerte“ und das neue „Digital Finance Package“ Aktuell können Emittenten von Kryptowerten und Krypto-Dienstleister die Vorteile des Binnenmarkts deswegen nicht in vollem Umfang nützen, da es sowohl an Rechtssicherheit hinsichtlich der regulatorischen Behandlung von Kryptowerten als auch an einem spezifischen und kohärenten Regulierungs- und Aufsichtssystem auf EU-Ebene mangelt. Daher legte die Europäische Kommission am 24. September 2020, gestützt auf Art. 114 AEUV, den schon lange erwarteten Vorschlag für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte65 vor, der als Maßnahmenpaket zur Digitalisierung des Finanzsektors gedacht ist und darauf abzielt, das Innovations- und Wettbewerbspotential des virtuellen Finanzwesens weiter zu erschließen und zu 64 Vgl. Kafsack, H. EU-Kommission will Krypto-Währungen regulieren, FAZ vom 24.  August 2020; faz.net/aktuell/finanzen/eu-kommission-will-krypto-waehrun gen-regulieren-16918892.html 65 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2019/1937; COM(2020) 593 final.

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fördern, gleichzeitig aber auch mögliche Risken zu mindern. Die Rechtsform einer Verordnung wurde deswegen gewählt, um ein einheitliches Regelwerk festzulegen, das im gesamten Binnenmarkt unmittelbar anwendbar ist. Der Verordnungsvorschlag stellt sich dabei als eine Mischung von Kernelementen der EU-Aufsichtsregeln in den Bereichen Bankenaufsicht, Kapitalmarktaufsicht (einschließlich Anlegerschutz), Geldwäscheprävention sowie Daten- und Verbraucherschutz dar. Aus der Finanzmarktaufsicht wiederum werden zudem die Prinzipien der Heimatlandkontrolle und des „EU-Passes“ übernommen. Mit dem Verordnungsvorschlag hat die EU das Potential, zum globalen Standardsetzer auf dem Gebiet der Kryptowerte zu werden. Sobald die Verordnung in Kraft tritt, gelten einheitliche Regeln für crypto-asset service provider und den Umgang mit Krypto-Währungen. Änderungsbedürftig ist allerdings der Umstand, dass der Entwurf bei der Regulierung von Kryptowerten stets an einen Emittenten anknüpft. Dabei wird der derzeit führende Kryptowert „Bitcoin“ gerade nicht durch einen Emittenten in Umlauf gebracht, sondern wurde durch eine unbekannte Verbindung von Programmierern entwickelt und kann grundsätzlich von jeder Person durch „mining“ geschaffen werden.66 Kryptowerte, die auf diese Weise geschaffen und nicht aktiv in der EU vermarktet, sondern aufgrund ihrer Attraktivität von Verbrauchern und Anlegern nachgefragt werden, scheinen derzeit vom gegenständlichen Verordnungsentwurf nicht erfasst zu sein.67 Das gegenständliche Paket („Digital Finance Package“) umfasst eine neue „Strategie für ein digitales Finanzwesen in der EU“68, mittels derer Unternehmen und Verbraucher von den Vorteilen eines digitalen Finanzwesens profitieren können. Des Weiteren umfasst das Maßnahmenpaket einen Vorschlag für eine Pilotregelung für auf der „Distributed-Ledger-Technologie“ (DLT) – dem System der „verteilten Kassenbücher“ – basierende Marktin­ frastrukturen69, einen Vorschlag zur Betriebsstabilität digitaler Systeme im Finanzsektor70 sowie einen Vorschlag zur Präzisierung bzw. Änderung bestimmter einschlägiger EU-Vorschriften im Finanzdienstleistungsbereich71. 66 Für die daraus resultierenden Probleme siehe Müller, J. BIZ-Ökonomen lassen kein gutes Haar an Bitcoin und Co., nzz.ch vom 17. Juni 2018; https://www.nzz.ch/wirtschaft/biz-oekonomen-halten-en-plaedoyer-gegen-bitcoin-un...; Grundlehner, W. Die dunkle Seite des Bitcoin, nzz.ch vom 21. Dezember 2017; https://www.nzz.ch/ finanzen/die-dunkle-seite-des-bitcoin-ld.1341696 67 Vgl. Bundesverband deutscher Banken, Stellungnahme zum „proposal for a regulation on markets in crypto assets“ des Digital Finance Package der Europäischen Kommission, Berlin am 16. Oktober 2002, S. 3 f. 68 COM(2020) 591 final. 69 COM(2020) 594 final. 70 COM(2020) 595 final. 71 COM(2020) 596 final.

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In letzter Zeit kam mit den sog. „Stable-Coins“, wie zB Libra, eine relativ neue Untergruppe von Kryptowerten auf, die die Aufmerksamkeit der Regulierungsbehörden erregte. Wenngleich zur Zeit der Markt für Kryptowerte derzeit keine Bedrohung der Finanzstabilität darstellt, könnte die geplante Einführung „globaler Stable-Coins“ das Potential dazu haben, Systemrelevanz zu erlangen.72 Dementsprechend enthält der gegenständliche Verordnungs-Vorschlag auch Vorkehrungen für die Eindämmung der sich aus „Stable-Coins“ potentiell ergebenden Risken für die Finanzstabilität sowie für eine geordnete Geldpolitik.

6.5. Neue Bestimmungen zu digitalen Inhalten und Dienstleistungen sowie zum Warenkauf Interessante Abgrenzungsprobleme ergeben sich in diesem Zusammenhang mit zwei, Ende Mai 2019 beschlossenen, Richtlinien, nämlich zum einen mit der Richtlinie über digitale Inhalte und Dienstleistungen73 und zum anderen mit der Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs.74 Beide Richtlinien sind bis zum 1. Juli 2021 umzusetzen und ab dem 1. Jänner 2022 anzuwenden. Dabei fällt auf, dass der Begriff der „digitalen Darstellung eines Werts“ in der DIDL-RL nicht als „digitaler Inhalt“, sondern vielmehr als „Zahlungsweise“ betrachtet wird, sodass virtuelle Währungen als „digitale Darstellungen eines Wertes“ damit grundsätzlich unter den Begriff des „Preises“ fallen können. Damit können virtuelle Währungen aber die Funktion eines Zahlungsmittels haben, obwohl dabei kein Bezug zur „Blockchain-Technologie“ hergestellt wird. Trotzdem kann gemutmaßt werden, dass „klassische“ Krypto-Währungen wie Bitcoin oder Ethereum in erster Linie davon erfasst sein sollen.75 Mittlerweile bezieht sich aber auch die Richtlinie zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln76 in ihrem Art. 2 lit. c) und d) auf „virtuelle Währungen“ und digitale Tauschmittel. 72 Vgl. Financial Stability Board (FSB), Adressing the regulatory, supervisory and oversight challenges raised by „global stablecoin“ arrangements. Consultative document, 14 April 2020. 73 Richtlinie (EU) 2019/770 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen (DIDL-RL) (ABl. 2019, L 136, S. 1 ff.). 74 Richtlinie (EU) 2019/771 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs… (ABl. 2019, L 136, S. 28 ff.). 75 Weilinger, A. – Miernicki, M. Kryptowährungen im Zivil- und Verbraucherschutzrecht, in: Kirchmayr-Schliesselberger/Klas/Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger, Kryptowährungen (Fn. 5), S. 115 f. 76 Siehe Fn. 8.

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7. Fazit Die vorstehend geschilderten komplexen Probleme virtueller Währungen sind zum einen erst vor Kurzem entstanden und zeichnen sich zum anderen auch durch ihre Einzigartigkeit aus, zwei Umstände, die es nicht erlauben, sie mit herkömmlichen Mitteln, und vor allem zeitnah, zu bewältigen. Damit stehen die einzelnen Staaten, vor allem aber die Europäische Kommission vor großen Herausforderungen, noch dazu, wo die Europäische Kommission eben dabei ist, eine ehrgeizige Reform des digitalen Raumes vorzuschlagen und dazu sowohl ein „Gesetz über digitale Dienste“77, als auch ein „Gesetz über digitale Märkte“78 entworfen hat. Alle diese Versuche bleiben aber Stückwerk und können wohl nur durch eine systematische Gesamtregelung der Natur und der vielfältigen Funktionen von virtuellen, digitalen Währungen sinnvoll abgelöst werden, ein Vorhaben, das aber aktuell nicht in Sicht ist. Eine intensive öffentliche Debatte über die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Kryptowährungen wäre aber unter Umständen in der Lage, dieses Patt zu überwinden. Quelle: EU-Infothek vom 19. Februar 2021, S. 1 – 10 (Artikel Nr. 38) PS: Zur Veranschaulichung der aktuellen Größe des Kryptomarktes sei nur erwähnt, dass dieser, trotz seines rasanten Wachstums in den vergangenen Jahren, immer noch relativ klein ist. So gab es im September 2020 zwar gut 7.100 Kryptowährungen mit einer Marktkapitalisierung von rund 350 Mrd. US-$. Zum Vergleich dazu betrug der weltweite Devisenhandel zu diesem Zeitpunkt pro Tag (!) aber mehr als 5.000 Mrd. US-$.79 Siehe dazu die Artikel Nr. 39 und Nr. 40, nachstehend auf S. 505 ff. und S. 521 ff.

77 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Binnenmarkt für digitale Dienste (Gesetz über digitale Dienste) und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (COM(2020) 825 final vom 15. Dezember 2020). 78 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor (Gesetz über digitale Märkte) (COM(2020) 842 final vom 15. Dezember 2020). 79 www.coinmarketcap.com

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39. Virtuelle Währungen (sog. „Krypto“-Währungen) und deren Bedeutung für das herkömmliche Geld- und ­Finanzsystem Einführung Nachdem zunächst die Ausbildung der von Facebook lancierten virtuellen Währung LIBRA und deren Umgestaltung in DIEM dargestellt wurde1, soll nunmehr untersucht werden, welche Funktionen sog. „Krypto“-Währungen auf den aktuellen Geld- und Finanzmärkten übernehmen und diese damit unter Umständen beeinträchtigen können. Dabei soll ein Blick auf die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen „Fiat“- und „Krypto“-Währungen geworfen und festgestellt werden, ob „Krypto“-Währungen überhaupt jemals in der Lage sein werden, die Funktion von „Fiat“-Währungen, entweder voll, oder zumindest teilweise, zu übernehmen. Danach soll aufgezeigt werden, wie die Zentralbanken auf diese Herausforderungen virtueller Währungen reagieren bzw. ob diese unter Umständen auch daran denken, eigene digitale Zentralbankwährungen herauszugeben. Zur besseren Einstimmung auf diese komplexen Vorgänge soll eingangs ein kursorischer Blick auf die Entstehungsgeschichte von „Krypto“-Währungen geworfen werden, die erst vor wenigen Jahren begonnen hat. Von „Bit-Gold“ über „Bitcoin“ zu „Ether“ – die Entstehungs­ geschichte von „Krypto“-Währungen Erstmals arbeitete der Informatiker Nick Szabo im Jahr 1998 an einer dezentralisierten digitalen Währung in Verbindung mit einer „Blockchain“ und nannte diese Währung „Bit-Gold“.2 Kurz nachdem die Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 die globale Finanzkrise ausgelöst hatte3, veröffentlichte Satoshi Nakamoto im November 2008 im Internet einen Aufsatz mit dem Titel „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“4 und legte damit die Grundlage für ein elektronisches und dezentralisiertes Geldsystem auf der Basis von „Bitcoin“. Um einer Infla­tion vorzubeugen, wurde die Anzahl von Bitcoins mit 21 Mio. gedeckelt. 1 Hummer, W. Von LIBRA zu DIEM. Versuche der Europäischen Kommission, auf die mögliche Einführung dieser „Krypto“-Währung zu reagieren, EU-Infothek vom 19. Februar 2021; siehe Artikel Nr. 38, vorstehend auf S. 484 ff. 2 Sixt, E. Bitcoins and andere dezentrale Transaktionssysteme. Blockchains als Basis einer Kryptoökonomie (2017), S. 7. 3 Vgl. dazu allgemein Hummer, W. (Hrsg.), Die Finanzkrise aus internationaler und österreichischer Sicht – Vom Rettungspaket für Griechenland zum permanenten Rettungsschirm für den Euro-Raum“ (2011). 4 http://www.bitcoin.org/bitcoin.pdf

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Der Name Nakamoto stellte sich in der Folge allerdings als Pseudonym heraus, das nie schlüssig aufgeklärt werden konnte und zu vielen Spekulationen Anlass gab.5 Neuerdings wird aber mit einer Reihe von guten Argumenten vermutet, dass sich Nick Szabo selbst hinter dem Pseudonym Nakamoto verbirgt.6 Die originelle Idee bei der Erfindung beider virtueller Währungen bestand dabei in der Annahme, dass eine reine „Peer-to-Peer“-Version eines elektronischen Zahlungsverfahrens es ermöglichen würde, dass OnlineZahlungen von einer Partei direkt an eine andere gesendet werden können, ohne dass dabei verpflichtend ein Finanzinstitut mit einbezogen werden müsste. Dabei bilden digitale Signaturen zwar einen Teil der Lösung, aber die Hauptvorteile einer solchen Transaktion gingen dann verloren, wenn weiterhin eine vertrauenswürdige dritte Partei notwendig wäre, um Mehrfachausgaben („Double-Spending“) zu verhindern. Als Lösung für dieses „Double-Spending“ – Problem wird von Nakamoto die Benützung eines „Peer-to-Peer“ – Netzwerkes vorgeschlagen. „Peer-to-Peer“- bzw. „P2P“-Netzwerke sind Netzwerke, bei denen die Teilnehmer direkt miteinander verknüpft sind und die gleichen Rechte innehaben. Das bedeutet, dass die Kommunikation zB nicht über einen Server, sondern direkt von einem PC zum anderen PC erfolgt. Man spricht daher auch von einem dezentralen Netzwerk, da es kein Zentrum hat, über das der Datentransport abgewickelt wird. Ein solches elektronisches Zahlungssystem, das auf einem kryptographischen Nachweis an Stelle von Vertrauen und regulatorischer Aufsicht basiert, ermöglicht es damit zwei bereitwilligen Parteien, finanzielle Transaktionen direkt untereinander durchzuführen, ohne dass eine vertrauenswürdige dritte Partei, wie zB eine (Zentral) Bank, dazu eingeschaltet werden muss. Um den unglaublichen wertmäßigen Aufstieg von Bitcoin zu veranschaulichen, sei eine kleine, aber signifikante Anekdote erwähnt: Der Programmierer Laszlo Hanyecz bot im Jahr 2010 in einem Internetforum 10.000 Bitcoins für denjenigen, der ihm eine Pizza bestellt. Ein Brite ging auf dieses Angebot ein und bestellte für Hanyecz zwei Pizzen, wofür er die ausgemachten 10.000 Bitcoins überwiesen bekam, die damals einen Gegenwert von ca. 30 Euro hatten. Heute ist der Brite Multimillionär: Je nach Kurs entsprechen gegenwärtig 10.000 Bitcoins bis zu 250 Mio. Euro. Ne-

5 So vermutet die GIGA-Redaktion in ihrem Artikel „Bitcoin-Erfinder enttarnt: steckt dieses unbekannte Genie dahinter?“, vom 22. Juni 2016, dass es sich dabei um den Australier Craig Wright handelt. Sie stützt sich dabei auf Berichte der beiden US-Tech-Magazine „Wired“ und „Gizmondo“. 6 Vgl. Förtsch, M. – Kilic, K. 6 Gründe, warum dieser nebulöse Computerwissenschaftler wohl Bitcoin erfunden hat, vom 29. Mai 2018; gq-magazin.de/auto-technik/ article/x-gruende-warum-dieser-nebuloese-computerwissenschaftler-der-bitcoinerfinder-sein-koennte

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benbei erwähnt: Dieser Vorgang war die erste Bitcoin-Transaktion für einen Artikel aus der realen Welt überhaupt!7 Die virtuelle Währung Bitcoin kam erstmals bei einer deutschen Bank in Zahlungseinsatz. Die deutsche Online-Bank Bitbond ist die erste Bank, die die „Krypto“-Währung für internationale Transaktionen verwendet und seit Mai 2018 internationale Zahlungen per Bitcoin ermöglicht.8 Die Überweisungen per Bitcoin, die Bitbond jetzt anbietet, nutzen die „Krypto“Währung dabei als Zwischenschritt: Beim Auftraggeber wird das reguläre „Fiat“-Geld in Bitcoin umgetauscht und diese werden anschließend an die Zieladresse gesendet, wo sie wieder zurückgetauscht werden. Das Echtgeld kann dann entweder behoben, oder von dort aus weiter überwiesen werden. Der Vorgang dauert nur wenige Minuten und geht laut Experten schnell genug, um keiner großen Gefahr durch die große Volatilität von Bitcoin9 ausgeliefert zu sein. Der wichtigste Konkurrent von Bitcoin ist „Ether“, eine 2013 von Vitalik Buterin geschaffene Technologie für die Erzeugung virtueller Währungen, die ebenfalls auf der Blockchain basiert, aber gegenüber jener von Bitcoin leistungsfähiger ist, da sie in der Lage ist, intelligente Verträge („smart contracts“) selbst durchzuführen.10 Bei „smart contracts“ handelt es sich um Programme, die sich bei Eintritt bestimmter Bedingungen selbst ausführen und aufgrund der kryptografischen und dezentralen Ausgestaltung der Blockchain selbstdurchsetzend und manipulationssicher sind.11 Trotz dieses technologischen Vorsprungs von Ether hat sich in der Praxis aber Bitcoin weitgehend durchgesetzt und dominiert den Markt von „Krypto“-Währungen zu ungefähr 60 Prozent. „Digitale“, „virtuelle“ und „Krypto“-Währungen sowie „elektronisches Geld“ („E-Geld“) Im Bereich des Geld- und Finanzwesens gehören „Krypto-Coins“, wie Bitcoin, zu den spektakulärsten Neuerungen des letzten Jahrzehnts. Seit der Schaffung des Bitcoin und der Ausbildung des „Peer-to-Peer“-Netzwerkes ist das Interesse für virtuelle Währungen rasant gestiegen, wobei aber der Aufklärungsstand über dieses neue Phänomen und seiner jeweiligen Ausprägungen in der Öffentlichkeit zu wünschen übrig lässt. 7 Blumenstein, T. Was ist eigentlich Bitcoin? Diese Technik steckt dahinter; www. t-online.de vom 23. Jänner 2021. 8 WIRED Staff, Bitcoin ist erstmals bei einer deutschen Bank im Zahlungseinsatz, vom 16. Mai 2018. 9 Siehe dazu nachstehend auf S. 512. 10 Grundlehner, W. – Schürpf, T. Der Bitcoin knackt erstmals die Marke von 50.000 Dollar – die wichtigsten Antworten, NZZ online vom 16. Februar 2021, S. 8. 11 Vgl. Mauchle, Y. Die regulatorische Antwort auf FinTech: Evolution oder Revolu­ tion? Eine Verortung aktueller Entwicklungen, SZW/RSDA/2017, S. 826.

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Um Bitcoin und ähnliche Systeme allgemein zu bezeichnen, benutzen viele Autoren die Begriffe „Digitalwährung“, „virtuelle Währung“, „Krypto“-Währung und „elektronisches Geld“ nicht ganz trennscharf, sodass sie untereinander als austauschbar erscheinen, was aber nicht der Fall ist. Da virtuelle Währungen kein gesetzliches Zahlungsmittel sind, können sie auch nicht als „Währung“ qualifiziert werden. Die Bezeichnung als „Krypto“-Währung ist also irreführend, hat sich aber in der Praxis durchgesetzt und wird in diesem Beitrag auch so verwendet. So sind „digitale Währungen“ der Oberbegriff für „elektronisches Geld“ (auch „E-Geld“ genannt) und „virtuelle Währungen“: „E-Geld“ ist dabei die digitale Darstellung eines gesetzlichen Zahlungsmittels, das als Guthaben auf einer Chipkarte oder Festplatte elektronisch gespeichert und zum Bezahlen benützt wird. „E-Geld“ ist also eine digitale Darstellung von „Fiat“-Währungen, das für elektronische Transaktionen verwendet wird. Eine einheitliche Definition von „virtuellen Währungen“ existiert derzeit noch nicht, wenngleich in der Vergangenheit eine Reihe von FinanzInstitutionen versucht haben, diese zu definieren. So hat die Europäische Zentralbank (EZB) bereits 2012 eine virtuelle Währung als unreguliertes digitales Geld, das normalerweise von seinen Entwicklern herausgegeben und kontrolliert sowie von einer speziellen virtuellen Gesellschaft genutzt und akzeptiert wird, definiert.12 In der Folge spezifizierte die EZB 2015 ihre Definition und stellte nunmehr fest, dass virtuelle Währungen als digitale Darstellung eines Wertes definiert werden können, der nicht von Zentralbanken, Kreditinstitutionen oder E-Geld-Institutionen herausgegeben wird und unter Umständen als eine Alternative zu Geld genutzt werden kann.13 Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) wiederum definiert virtuelle Währungen als digitale Darstellung eines Wertes, der weder von einer Zentralbank noch von einer öffentlichen Behörde ausgegeben wird und der nicht zwingend mit einer „Fiat“-Währung verknüpft sein muss, aber von natürlichen und juristischen Personen als Zahlungsmittel anerkannt wird und elektronisch übertragen, gespeichert und gehandelt werden kann. In Österreich ist eine virtuelle Währung erstmals in § 2 Ziff. 21 des Finanzmarkt-Geldwäschegesetzes14 wie folgt definiert worden: „Virtuelle Währungen: eine digitale Darstellung eines Wertes, die von keiner Zentralbank oder öffentlichen Stelle emittiert wurde oder garantiert wird und nicht zwangsläufig an eine gesetzlich festgelegte Währung angebunden ist und die nicht den gesetzlichen Status einer Währung oder von Geld besitzt, aber von natürlichen oder juristischen Personen als Tauschmittel akzeptiert wird und 12 ECB (ed.), Virtual Currency Schemes, October 2012, S. 13. 13 ECB (ed.), Virtual Currency Schemes, February 2015, S. 25. 14 BGBl. I Nr. 118/2016.

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die auf elektronischem Wege übertragen, gespeichert und behandelt werden kann“. In der Bundesrepublik Deutschland gilt Bitcoin weder als elektronisches Geld, noch als Sorte (Bargeld in Fremdwährung) oder Devise (Buchgeld in Fremdwährung). Es ist auch kein „E-Geld“ iSd Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes (ZAG)15, da es keinen Emittenten gibt, der es, unter Begründung einer Forderung gegen sich, ausgibt. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) stuft Bitcoin dementsprechend als Finanzinstrument in Form von „Rechnungseinheiten“ gem. § 1 Abs. 11 Satz 1 Nr. 7 Kreditwesengesetz (KWG)16 ein, die an sich mit Devisen vergleichbar sind, aber nicht auf gesetzliche Zahlungsmittel lauten und damit (nur) als „private Zahlungsmittel“ eingestuft werden können. Dass Bitcoins als „Rechnungseinheiten“ der Aufsicht der BaFin unterstehen, wurde vom Kammergericht Berlin mit Urteil vom 25. September 208117 aber verneint. In der Europäischen Union (EU) sind „virtuelle Währungen“ erstmals in Art.  3 Ziff. 18 der 4. Geldwäsche-Richtlinie18 wie folgt definiert worden: „Eine digitale Darstellung eines Werts, die von keiner Zentralbank oder öffentlichen Stelle emittiert wurde oder garantiert wird und nicht zwangsläufig an eine gesetzlich festgelegte Währung angebunden ist und die nicht den gesetzlichen Status einer Währung oder von Geld besitzt, aber von natürlichen oder juristischen Personen als Tauschmittel akzeptiert wird und die auf elektronischem Wege übertragen, gespeichert und gehandelt werden kann“. Unterschied zum und Interaktion mit „Fiat“-Geld Generell wird bei diesen sich mehrheitlich begrifflich deckenden Klassifizierungen virtueller Währungen als Unterscheidungsmerkmal auf die Interaktion mit realem „Fiat-Geld“ bzw. auf die Realwirtschaft zurückgegriffen, so wie dies führend von der EZB geschieht.19 Die Unterscheidung erfolgt demnach anhand der Konvertibilität in reale gesetzliche Zahlungsmittel und der Eignung zum Erwerb von Gütern und Dienstleistungen. Dabei lassen sich grundlegend folgende Formen virtueller Währungen unterscheiden: (a) inkonvertible, (b) unidirektional konvertible und (c) bidirektional konvertible. Ad (a) Inkonvertible virtuelle Währungen haben keine unmittelbare Verknüpfung zur Realwirtschaft, können nicht mit realem Geld erworben, son15 16 17 18

Vom 22. Dezember 2011, erst 2018 in Kraft getreten. dBGBl. I, S. 2776. Az.: 161 Ss 28/18 (35/18); vgl. Hummer, Von LIBRA zu DIEM (Fn. 1), S. 3. Angefügt durch Art. 1 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 (…) (sog. „5. Geldwäsche-RL“) (ABl. 2018, L 156, S. 43 ff.). 19 Vgl. Tolkmitt, V. – Wittrin, R. Virtuelle Währungen und das Finanzsystem, essentials (2020), S. 11 f.

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dern nur im Verlauf von Online-Computerspielen erwirtschaftet werden und dienen ausschließlich dem Erwerb virtueller Güter und Dienstleistungen. Ad (b) Unidirektional konvertible virtuelle Währungen können zwar durch reales Geld erworben werden, eine Rückwechslung in gesetzliche Zahlungsmittel ist jedoch ausgeschlossen. Ad (c) Bidirektional konvertible virtuelle Währungen verfügen über eine beliebige Wechselmöglichkeit in gesetzliche Zahlungsmittel und können daher, wie herkömmliche Währungen, zum Kauf virtueller oder realer Güter und Dienstleistungen verwendet werden. Je nach Funktionsweise werden diese in zentral und dezentral organisierte virtuelle Währungen („Krypto“Währungen, wie zB Bitcoin) untergliedert.20 Im Gegensatz dazu ist „Fiat-Geld“ Kreditgeld, das seinen Wert nicht aus sich heraus, sondern durch amtliche Zuweisung, in der Regel durch gesetzliche Vorschriften, erhält und dementsprechend auch als „Währung“ verwendet wird. Derzeit basieren weltweit alle Volkswirtschaften auf einer „Fiat“-Währung. „Krypto“-Währungen21 unterscheiden sich daher in organisatorischer Hinsicht von offiziellen „Fiat“-Währungen dadurch, dass sie keine verantwortliche Ausgabeinstanz, keine Deckung oder sonstige Form der Wertanbindung, keine Barauszahlungs-Option, sowie keine flexible Angebotsmenge aufweisen. An die Stelle von Banken, Behörden, Gesetzen und Aufsicht tritt bei „Krypto“-Währungen stattdessen ein technisches Regelwerk, das wie eine Art Automat die Spielregeln sowie bestimmte Anreize vorgibt, nach denen freiwillige Nutzer durch ihre Aktivität gemeinsam zB „Bitcoin“ – die älteste „Krypto“-Währung – innerhalb vorgegebener Schranken produzieren und verwalten können.22 Dabei ist aber, wie vorstehend erwähnt, immer zu beachten, dass „Krypto“-Währungen kein „Geld“ iSe gesetzlichen Zahlungsmittels darstellen, wenngleich sie auch in der Lage sind, einige der „Geld“-Funktionen zu erfüllen. So ist es Nutzern gelungen, Bitcoin gegen Güter oder Dienstleistungen zu tauschen, dh mit Bitcoin zu „bezahlen“, womit ein „Nebengeld“ oder „Geldersatz“ entstanden ist. Zur genaueren Darstellung soll

20 Vgl. Grenda, M. Virtuelle Währungen. Funktionsweise, Entstehung und Notwendigkeit der Regulierung, Seminararbeit (2014). 21 Die Begriffe „virtuelle Währung“ und „Krypto“-Währung“ werden scheinbar synonym verwendet, wenngleich in einzelnen Fällen bewusst ein Unterschied gemacht wird. Zu beachten ist allerdings immer, dass es sich bei Bitcoin um keine „Währung“ im exakten Wortsinn handelt; vgl. dazu vorstehend auf S. 508. 22 Weber, B. Krypto Coins und das Geldsystem: Bedrohung, Inspiration oder Themenverfehlung?, in: Kirchmayr-Schliesselberger, S. – Klas, W. – Miernicki, M. – RinderleMa, S. – Weilinger, A. Kryptowährungen. Krypto-Assets, ICOs und Blockchain. Recht – Technik – Wirtschaft (2019), S. 69 f.

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nachstehend aufgezeigt werden, welche „Geld“-Funktionen „Krypto“Währungen, zumindest ansatzweise, erfüllen können. Formen, Funktionen und Eigenschaften von „Geld“ In diesem Zusammenhang ist zwischen Formen, Funktionen und Eigenschaften von „Fiat“-Geld zu unterscheiden. Was die Unterscheidung von Geldformen betrifft, so werden diese anhand von drei Kriterien unterschieden: – zum einen geht es darum, inwieweit eine Zentralbank an der Geldschöpfung beteiligt ist, – zum anderen, ob in den Übertragungsweg intermediär eine dritte Partei – zB eine Geschäftsbank – eingeschaltet ist, oder ob der Geldtransfer direkt von Privatperson zu Privatperson („peer-to-peer“) erfolgt, und – zuletzt darum, wie das Geld nach der Art seiner Existenzform – zB physisch oder elektronisch bzw. digital – bereitgestellt wird. Damit lassen sich grundsätzlich folgende drei Geldformen kategorial unterscheiden: (a) Bargeld, (b) Buchgeld und (c) virtuelles Geld. Was hingegen die drei wesentlichsten Funktionen von Geld betrifft, so bestehen diese zum einen darin, dass Geld (a) ein Tausch- und Zahlungsmittel, (b) eine Recheneinheit und ein Wertmaßstab sowie (c) ein Wertaufbewahrungsmittel ist. Dabei wird die Funktion von Geld als Zahlungsmittel als besonders grundlegend angesehen, wobei die Zulassung als gesetzliches Zahlungsmittel für die Zahlungsfunktion eine wichtige Voraussetzung darstellt. Zu diesen drei wesentlichen Funktionen von Geld kommen noch drei substantielle Eigenschaften von Geld hinzu, nämlich (a) das Vertrauen und die sich daraus ableitende allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung, (b) eine gewisse Wertbeständigkeit sowie (c) eine verlässliche Art und Weise der Zurverfügungstellung und auch Teilbarkeit in kleinere Einheiten. „Geld“-Funktionen von „Krypto“-Währungen? Legt man nun diese Kriterien an „Krypto“-Währungen an, dann erkennt man, dass diese die Funktionen von „Geld“ nur zum Teil erfüllen. So können sie zwar die Funktion als Tausch- und Zahlungsmittel an sich, die Funktionen einer Recheneinheit sowie eines Wertaufbewahrungsmittels aber nicht erfüllen. Der größte Kritikpunkt privater „Krypto“-Währungen ist

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aber das Fehlen eines „intrinsischen Werts“, der es erlauben würde, einen fairen Kurs zu bestimmen, der für die Wertbeständigkeit – als Voraussetzung für die Funktion einer „Krypto“-Währung als Wertaufbewahrungsmittel – entscheidend wäre.23 Erschwerend kommt noch eine enorme Schwankungsbreite digitaler Währungen hinzu, soweit diese nicht wertmäßig an eine „Fiat“-Währung gebunden sind und damit sog. „Stable-Coins“ darstellen. So ist die Volatilität der „Krypto“-Währung Bitcoin geradezu legendär: der, wie vorstehend erwähnt, 2009 erstmals geschöpfte Bitcoin startete zu Jahresbeginn 2020 mit einem Wert um etwa 8.000 $, fiel aber während der ersten CoronaWelle im Frühjahr zunächst auf weniger als 4.000 $. Ende September 2020 stieg der Kurs dann rasant um rund 220% auf mehr als 23.000 $ und betrug an seinem 12. Geburtstag, dem 3. Jänner 2021, bereits 35.000 $.24 Mitte Jänner 2021 wurde Bitcoin auf der Luxemburger Handelsplattform Bitstamp bereits um über 40.000 $ gehandelt25 und am 19. Jänner 2021 notierte der Bitcoin mit 53.054,63 US-$ den bisherigen Höchststand (sic).26 Verantwortlich dafür war zum einen die Ankündigung des Bezahldienstes Paypal, seinen Kunden das Bezahlen mit Bitcoins zu ermöglichen, und zum anderen die durch die Corona-Pandemie verursachte stark steigende Staatsverschuldung und die dadurch ausgelöste Flucht in die Sachwerte. Die besondere Volatilität von „Krypto“-Währungen, vor allem aber von Bitcoin, führt im Falle großer Wertsteigerungen automatisch zur Fragestellung, wie denn solche Gewinne festgestellt, bilanziert und anschließend auch ordnungsgemäß versteuert werden können. Wie ist die Bilanzierung bzw. Versteuerung von Gewinnen aus Geschäften mit „Krypto“-Währungen ausgestaltet?

Bilanzierung Was die Bilanzierung von „Krypto“-Währungen betrifft, so ist zunächst festzuhalten, dass eine abschließend zufriedenstellende Bilanzierungslösung derzeit nicht vorhanden ist. Da die Herstellung von „Krypto“-Währungen technisch und finanziell sehr aufwendig ist, werden heute solche Werteinheiten kaum von Privatpersonen, sondern von Unternehmen geschaffen. „Krypto“-Währungen sind also immaterielle Vermögensgegenstände, die 23 DZ Bank AG (Hrsg.), Vom Bargeld über Buchgeld hin zu Kryptowährungen, 26. Februar 2018, S. 6 f. 24 Grundlehner, W. Der Bitcoin wird zu seinem 12. Geburtstag 35 000 Dollar schwer, NZZ vom 3. Januar 2021. 25 Bitcoin knackt wieder die 40.000-Dollar-Marke, Finanzen.net vom 14. Januar 2021; https://www.finanzen.net/nachricht/devisen/rekord-rally-bitcoin-knackt-wiederdie-40-000-dollar-marke-9696577 26 Finanzen.net, zitiert in: Leban, K. Katerstimmung nach dem Höhenrausch, Wiener Zeitung vom 20./21. Februar 2021, S. 13.

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von rechnungslegungspflichtigen Unternehmen bei deren Anschaffung oder Herstellung zu aktivieren sind. Ob diese im Anlage- oder im Umlaufvermögen anzusetzen sind, ergibt sich im Einzelfall aus deren Funktion im betreffenden Unternehmen. Liegt der Zweck in einer längerfristigen Anlage, sind diese unter dem Anlagevermögen auszuweisen, soll mit den „Krypto“Währungen hingegen gehandelt werden, sind sie dem Umlaufvermögen zuzurechnen.27 Für die Bilanzierung von „Krypto“-Währungen nach den „International Financial Reporting Standards“ (IFRS) wäre de lege ferenda zum Beispiel vorstellbar, „Krypto“-Währungen, die für eine kurzfristige Weiterveräußerung bestimmt sind, um von der Marktpreisentwicklung zu profitieren, zwingend erfolgswirksam zum beizulegenden Zeitwert zu bewerten und – abhängig vom White Paper der jeweiligen „Krypto“-Währung – für langfristige Investments in „Krypto“-Währungen entsprechende Klassifizierungsregeln zu entwickeln, die eine Einordnung entweder zu (fortgeführten) Anschaffungskosten, abzüglich Wertminderungen, oder zum beizulegenden Zeitwert, erlauben.28

Versteuerung Aber auch aus steuerrechtlicher Sicht bereiten Gewinne aus Handelsgeschäften mit virtuellen Währungen große Probleme, da es bis jetzt an einer konkreten legistischen Erfassung derselben fehlt.29 Was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so haben Kryptowerte erstmals im Kreditwesengesetz (KWG)30 Eingang in die Regulierung gefunden, während der deutsche Steuergesetzgeber diesbezüglich jedoch noch abwartet. Wie das Finanzgericht Nürnberg in seinem Beschluss vom 8. April 202031 feststellte, ist die ertragssteuerliche Behandlung der Besteuerung von Kryptowährungen weder gesetzlich geregelt, noch höchstrichterlich zweifelsfrei entschieden, sodass bis heute keine abschließende rechtliche Qualifizierung blockchain-basierter Assets für Zwecke der Ertragsbesteuerung besteht. Die daraus resultierenden steuerstrafrechtlichen Konsequenzen werden offengelassen.32 27 Weilinger, A. Zur Bilanzierung von Kryptowährungen nach dem UGB, in: Kirchmayr-Schliesselberger/Klas/Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger, Kryptowährungen (Fn. 22), S. 169. 28 Steinhauser, E. – Maier, K. Bilanzierung von Kryptowährungen nach IFRS, in: Kirchmayr-Schliesselberger/Klas/Miernicki/Rinderle-Ma/Weilinger, Kryptowährungen (Fn. 22), S. 195. 29 Vgl. Knapp, D. Kryptowährungen und ihre steuerlichen Auswirkungen: inkl. technische, betriebswirtschaftliche und zivilrechtliche Aspekte (2018). 30 Siehe Fn. 16. 31 Az.: 3 V 1239/19; DStR 2020, S. 1243 ff. 32 Wimmer, F. – Sandner, P. – Schmitt, S. – Andres, J. Steuerschätzung: 1,2 Mrd. Euro Steuereinnahmen für das Steuerjahr 2020 durch Kryptowährungen, Frankfurt School Blockchain Center, vom 13. Jänner 2021, S. 2.

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Dabei handelt es sich in diesem Zusammenhang um namhafte Beträge, die der Finanzverwaltung dadurch entgegen, dass diese von den (konservativ) geschätzten deutschen Kryptoanlegern von ca. 650.000 Personen nicht ordnungsgemäß versteuert werden. Auf der Grundlage eines geschätzten deutschen Anteils von ca. 3,5% an der Marktkapitalisierung aller Kryptowährungen von ca. 628 Mrd. Euro (Ende 2020), und der Annahme, dass lediglich 20% der Wertsteigerung realisierte steuerpflichtige Einkünfte darstellen, ergibt dies eine potenzielle Bemessungsgrundlage in Höhe von rund 3,2 Mrd. Euro. Bei einem durchschnittlichen Ertragssteuersatz von 33% würde dies 1,05 Mrd. zusätzliche Steuereinnahmen des Fiskus für das Steuerjahr 2020 bedeuten.33 Eine andere Schätzung geht von einer im Steuerjahr 2020 anfallenden Steuerschuld in Höhe von 1,28 Mrd. Euro aus, was mehr als 2% des veranlagten Einkommensteueraufkommens des Jahres 2019 entsprechen würde.34 Auch in Österreich ist die steuerrechtliche Behandlung von Krypto-Assets nach wie vor nicht eindeutig geregelt, obwohl sich die Finanzverwaltung bereits seit einigen Jahren damit beschäftigt.35 Was die ertragssteuerrechtliche Behandlung von Kryptowährungen betrifft, so hatte die in Österreich geschätzte Zahl der Kryptogeld-Anleger von 180.000 Personen – von denen aber nur 55% aktiv am Handel partizipierten – Ende 2020 im Schnitt Krypto-Werte in Höhe von 32.129 Euro im Portfolio und damit potenziell steuerpflichtige Gewinne in Höhe von 10.836 Euro sowie steuerfreie Gewinne von 7.558 Euro erzielt. Bei einem durchschnittlichen Einkommenssteuersatz von 35 Prozent ergibt sich somit für 2020 ein Steuerbetrag von 375 Mio. Euro für Gewinne aus dem Handel mit Kryptowährungen.36 Für die Bundesrepublik Deutschland beträgt diese Summe gemäß vorstehender Schätzung sogar 1,28 Mrd. Euro.37 Im Gegensatz zu Aktienportfolios bei traditionellen Banken werden diese Gewinne aus dem Handel mit Bitcoin, Ether oder Tether aber nicht automatisiert an die Finanzbehörden gemeldet und abgeführt, sondern müssen von den jeweiligen Krypto-Nutzern selbständig angegeben werden.38 Dafür bestehen allerdings noch keine speziellen steuerrechtlichen Vorschriften. 33 Wimmer/Sandner/Schmitt/Andres, Steuerschätzung (Fn. 32), S. 4. 34 Hochrechnung: 1,2 Mrd. Euro fällige Steuern auf Bitcoin & Co im Jahr 2020 (Deutschland) (2021). 35 Österreichische Finanzverwaltung BMF-Info. Steuerliche Behandlung von Kryptowährungen (virtuelle Währungen) vom 25. Juli 2017. 36 Kryptoboom bewirkt Steueraufkommen. Hochrechnung: 375 Mio. Euro Steuern auf Bitcoin & Co (Österreich), skyrocket, Presseinformation vom 18. Januar 2021. 37 Kryptoboom bewirkt Steueraufkommen. Hochrechnung: 1,2 Mrd. Euro fällige Steuern auf Bitcoin & Co im Jahr 2020 (Deutschland), skyrocket, vom 18. Jänner 2021; Wimmer/Sandner/Schmitt/Andres, Steuerschätzung (Fn. 32). 38 Stottmeyer, M. So viel bringen Krypto-Steuern der Finanz, Die Presse vom 18. Jänner 2021, S. 11.

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Lediglich dann, wenn die Gewinne aus dem Krypto-Handel in eine „Fiat“Währung umgetauscht werden, werden diese für die Finanzbehörden sichtbar. Dabei ist aber festzuhalten, dass Finanzdienstleistungen, die im Umtausch von Bitcoin’s in „Fiat“-Währungen, und vice versa, bestehen, nach Ansicht des Gerichtshofs,39 von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze darstellen. Nutzung von „Krypto“-Coins als Zahlungsmittel? Da „Krypto“-Coins, wie Bitcoin, sich in organisatorischer und funktioneller Hinsicht von offiziellen „Fiat“-Währungen substantiell unterscheiden, stellen sie auch keine neue (private) Geldform dar und ihre Nutzung als Zahlungsmittel bleibt, auch ein Jahrzehnt nach ihrer Erfindung, auf jene Nischen beschränkt, wo behördliche und andere Hürden für die Nutzung offizieller Währungen bestehen. Dies ist zB der Fall bei unerlaubten OnlineGeschäften, Geldwäsche und Kapitalflucht, Handel mit anderen „KryptoCoins“, Überweisungen zwischen Währungsräumen etc., das heisst, überall dort, wo Bedarf nach einem Instrument besteht, um diese Hürden zwischenzeitlich zu umgehen, bevor letztlich wieder in eine offizielle „Fiat“Währung umgewechselt wird.40 Daraus erklärt sich auch die weitgehend fehlende allgemeine Reglementierung virtueller Währungen und dafür die Konzentration auf das Verbot dieser „Umgehungsgeschäfte“, so wie dies auch in der EU der Fall ist, wo man sich in diesem Zusammenhang auf die Sanktionierung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung konzen­ triert.41 Neuerdings wurde der Bitcoin sogar als Lösegeld eingesetzt. Nachdem am 28. November 2020 das Wiener Hausbetreuungsunternehmen Attensam – ein Unternehmen mit rund 100 Mio. Euro Umsatz und 1.500 Beschäftigten – „gehackt“ und alle Daten verschlüsselt wurden, bekam Attensam kurz danach die Nachricht, „dass für ein gewisses Lösegeld wieder alles entschlüsselt wird“.42 In der Folge traf bei Oliver Attensam die Forderung auf Bezahlung von 40 Bitcoins ein, was nach dem damaligen Bitcoin-Kurs von rund 17.000 Euro einer Erpressersumme von etwa 680.000 Euro entsprach. Nachdem sich Attensam weigerte, die Summe von 40 Bitcoins zu zahlen, drohte ihm der Erpresser, das Unternehmen auf die Nichtzahlerliste im Darknet zu setzen. 39 Vgl. Gerichtshof, Rs. C-264/14, Hedgvist, Urteil vom 22. Oktober 2015 (ECLI:EU:C:2015:718). 40 Weber, Krypto Coins und das Geldsystem: Bedrohung, Inspiration oder Themenverfehlung? (Fn. 22), S. 72. 41 Vgl. die sog. „5. Geldwäsche-Richtlinie“ (Fn. 18); vgl. Artikel Nr. 40, Fn. 43, nachstehend auf S. 528. 42 Pleininger, H. Als Lösegeld wurden 40 Bitcoins gefordert, Die Presse vom 26. März 2021, S. F6.

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„Krypto-Börsen“ Bald können die Anleger auch den Handelsplatz kaufen, auf dem sie „Krypto“-Währungen erwerben, da eine „Krypto“-Börse vor dem Gang an die Börse steht. So hat die in San Franzisco lokalisierte Coinbase, Inc., die größte amerikanische „Krypto“-Börse, am 28. Jänner 2021 ihren Börsengang angekündigt, nachdem sie bereits Mitte Dezember 2020 ein Registrierungsgesuch bei der US-Börsenaufsicht SEC eingereicht hatte. Die Website Coinmarketcap.com führt Coinbase in der Rangliste der größten Börsen auf Platz drei – hinter Binance sowie Huobi Global, aber vor Kraken. Coinbase weist rund 43 Mio. Kunden-Konten in über 100 Ländern aus, und das von ihr verwaltete „Krypto“-Vermögen betrug Anfang 2021 rund 20 Mrd. US-$. Im April 2020 lancierte Coinbase für 29 europäische Länder die Coinbase-Card, die von Visa ausgegeben wird und mit der man in der Landeswährung bezahlen und von jedem Bankomaten in den USA auch Geld abheben kann.43 Gemäß der US-Nachrichten-Website Axios, aber auch der ResearchAbteilung des Schweizer ETP-Spezialisten 21Shares, wird Coinbase im Zuge ihres Börsengangs mit einer Bewertung von über 100 Mrd. US-$ rechnen können. Eine Bewertung von Coinbase in dieser Größenordnung würde wohl zu einer Neuvalidierung des gesamten „Krypto“-Bereichs führen, insbesondere auch des Marktführers Binance, der gegenwärtig eine „bereinigte Bewertung“ von lediglich 47 Mrd. US-$ aufweist. Einführung digitaler Zentralbank-Währungen (CBDC)? Einer Erhebung der BIZ zufolge beschäftigten sich bereits Ende 2018 rund 80% aller Notenbanken mehr oder weniger mit digitalem Zentralbankgeld (Central Bank Digital Currency, CBDC), wobei acht große Zentralbanken – die Europäische Zentralbank (EZB), die Schweizerische Nationalbank (SNB), die Bank of England, die Bank of Japan, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die Bank of Canada, die Sveriges Riksbank und der Gouverneursrat der Federal Reserve – eine eigene Arbeitsgruppe gebildet haben, um dieses komplexe Thema vertieft zu diskutieren.44 Im Oktober 2020 legten sie auch einen eigenen Bericht samt einem Executive Paper45 dazu vor. Darin werden gemeinsame Grundprinzipien und Kernmerkmale von CBDC ausgearbeitet. Dabei wird besonderes Augenmerk darauf ver43 Vgl. Grundlehner, W. Ein beliebter Krypto-Handelspaltz geht an die Aktienbörse – und wird richtig teuer, nzz.ch vom 25. Februar 2021. 44 Hirt, O. – Siebelt, F. Notenbanken proben Revolution mit digitaler Währung, S. 4; https://de.reuters.com/article/schweiz-deutschland-zentralbanken-idDEKBN1ZM 0Q4 45 BIZ (ed.), CBDC, Central bank digital currencies: foundational principles and core features. Report no 1 sowie Executive paper, 9 October 2020.

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wendet, dass eine eventuelle Emission von CBDC die Währungs- oder Finanzstabilität nicht beeinträchtigt und dass ein CBDC mit bestehenden Geldformen nicht nur koexistieren, sondern diese auch ergänzen und Innovationen fördern kann.46 Eine Reihe weiterer Zentralbanken arbeiten bereits konkret an der Umsetzung von digitalem Zentralbankgeld. Laut einer rezenten Studie planen weltweit rund ein Fünftel aller Zentralbanken innerhalb der nächsten sechs Jahre eine CBDC für die breite Öffentlichkeit (Retail CBDC) einzuführen.47 Daneben gibt es aber auch Studien, die die Einführung von digitalem Zentralbankgeld kritisch betrachten.48 Am Weitesten fortgeschritten sind diesbezüglich die Pläne auf den Bahamas, wo es seit Oktober 2020 den digitalen „Sand-Dollar“ – als „RetailCBDC“49 – gibt, sowie auf den Marshall Islands, in Schweden und in China. So wollen die Marshall Islands bereits innerhalb der nächsten zwei Jahre eine eigene digitale Währung emittieren und in Schweden wird der Entscheid zur Einführung einer „e-Krone“ schon 2022 erwartet. Die chinesische Notenbank (PBoC), die seit 2014 an der Entwicklung eines digitalen Yuan arbeitet, wiederum hat im April 2020 bereits die Pilotphase ihres CBDC-Projekts „Digital Currency Electronic Payment“ (DCEP) gestartet50 und die Testläufe dazu zuletzt noch deutlich ausgeweitet.51 Das CBDC-Projekt ist aber eher als Kontrolle der einzelnen Zahlungsvorgänge, denn als dezentrale Währung mit anonymisierten Überweisungen konzipiert. An der Entwicklung des digitalen Yuan wirken unter anderem die beiden Internetkonzerne Alibaba und Tencent führend mit.52 Dabei setzt DCEP auf die Technologie „near-field communication“, bei der zwei Smartphones lediglich wenige Zentimeter voneinander entfernt sein müssen, um kontaktlos – dh ohne Zugang zum Internet – Zahlungsvorgänge vornehmen können. Die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking und Umgebung sollen der ganzen Welt die Vorteile eines solchen digitalen Yuan vor Augen führen.

46 Vgl. die Studie in fünf Teilen von Hettler, S. Neue Serie: Digitale Zentralbankwährungen: Nur eine Frage der Zeit; https://innovationsblog.dzbank.de/2010/01/09/ digitale-zentralbankwaehrungen-einfue... 47 Boar, D. – Holden, H. – Wadsworth, A. Impending Arrival – a Sequel to the Survey on Central Bank Digital Currency, BIS Papers 2020, 107. 48 Barontini, C. – Holden, H. Proceeding with caution – a survey on central bank digital currency, BIS Papers No. 101, vom 8. Jänner 2019. 49 Vgl. dazu nachstehend auf S. 519. 50 Vgl. Müller, M. China verabschiedet sich langsam vom Bargeld, nzz.ch vom 28. Jänner 2021. 51 Vgl. Groß, J. – Herz, B. – Schiller, J. Bitcoin, Libra und digitale Zentralbankwährungen – ein Geldsystem der Zukunft?, Wirtschaftsdienst 2020, S. 712. 52 Vgl. Rawlins, C. G. Erste Tests mit dem digitalen Yuan, nzz.ch vom 28. April 2020.

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Die EZB wird im Frühjahr, voraussichtlich im April 2021, darüber entscheiden, inwieweit auf die bisherigen Vorarbeiten zur Lancierung eines CBDC abgestellt wird oder nicht.53 Grundlage dafür sind die am 12. Jänner 2021 eingegangen 8.000 Rückmeldungen auf eine von ihr initiierte Publikumsbefragung, die eine Fülle interessanter Anregungen enthielten und für deren Auswertung am 19. Jänner 2021 von der EZB und der Kommission eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt wurde. Unter den, von einem digitalen Euro zu erbringenden Kriterien figuriert dabei die „privacy of payments“ mit 41% an erster Stelle, gefolgt von „security“ (17%) und „panEuropean reach“ (10%)54. Offen ist dabei aber, wie die hinter dem CBDC stehende Technologie ausgestaltet sein wird, vor allem, ob sich diese einer „Distributed Ledger Technology“ (DLT) in Form einer Blockchain bedient, wie dies in Bezug auf Bitcoin der Fall ist. Was den Zeitraum einer eventuellen Einführung eines digitalen Euro betrifft, so geht die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, von einer fünfjährigen Frist aus55. Neben der notwendigen Reaktion auf Libra/Diem56, gibt es aber weitere Motive für die Zentralbanken, eine digitale Zentralbank-Währung einzuführen, vor allem dann, wenn die Bargeldnutzung signifikant zurückgehen sollte, was gegenwärtig aber genau der Fall ist. Vorreiter ist in diesem Zusammenhang die schwedische Riksbank, die das Projekt „e-krona“ ins Leben gerufen hat, das bereits weit vorangeschritten ist.57 Schließlich ist in Schweden der Anteil von Bargeld bei der Anzahl von Transaktionen von 40% im Jahr 2010 innerhalb von sechs Jahren auf nur noch 15% gesunken58 und betrug 2019 nur noch 6%.59 In der Schweiz wiederum nahm der Anteil von 47,7% (2019) auf 31,7% (2021) rapide ab.60 Auch Russland bereitet seit einigen Jahren die Einführung eines „Krypto-Rubel“ vor, um damit die Wirtschaftssanktionen des Westens zu umgehen. Damit wäre das Land nämlich unabhängig vom sogenannten SWIFTSystem,61 das zwar aus den 1970-er Jahren stammt, aber nach wie vor ein faktisches Monopol über den internationalen Zahlungsverkehr ausübt. 53 Vgl. Rasch, M. Die EZB prüft Einführung eines E-Euro – die Digitalisierung der Währung birgt jedoch Gefahren für Banken und die Privatsphäre, nzz.ch vom 8. Oktober 2020. 54 Vgl. van Hove, L. A digital euro – could it happen?; euobserver, vom 22. Jänner 2021; https://euobserver.com/opinion/150683 55 Radosavljevic, Z. Digital euro’s „moment of truth“ to come in April; https://www. euractiv.com/section/economy-jobs/news/digital-euros-moment-of.truth-... 56 Siehe Artikel Nr. 38, vorstehend auf S. 484 ff. 57 Vgl. Ferber, M. Gedruckte Freiheit unter Beschuss, NZZ vom 5. März 2021, S. 13. 58 DZ Bank AG (Hrsg.), Vom Bargeld über Buchgeld hin zu Kryptowährungen (Fn. 23), S. 8. 59 Cash use in constant decline, Sveriges Riksbank, vom 7. November 2019. 60 Swiss Payment Monitor (2021). 61 Vgl. Hummer, W. Die „SWIFT-Affaire“ – US-Terrorismusbekämpfung versus Datenschutz, in: Archiv des Völkerrechts 3/2011, S. 203 ff.

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Ganz allgemein wäre, im Gegensatz zur enormen Volatilität von „Krypto“-Währungen, der Wert eines ebenfalls auf der Blockchain-Technologie basierenden digitalen Zentralbankgeldes (CBDC) so stabil wie derjenige von Banknoten.62 Dass aber die Einführung eines CBDC vor allem für Geschäftsbanken ein zweischneidiges Schwert darstellt, wird in einem rezenten Diskussionspapier der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg)63 anschaulich he­ rausgearbeitet. Sollte nämlich solches Geld zukünftig einem bereiten Publikum (sog. Retail-CBDC) zur Verfügung stehen, würde der direkte Zugriff des Publikums auf einen digitalen Zentralbanken-Franken das gesamte Bankensystem auf den Kopf stellen. Vor allem in unruhigen Zeiten würden viele Sparer ihre traditionellen Bankeinlagen auflösen und in das sichere Zen­ tralbankgeld flüchten. Es müsste bei der Konzipierung des CBDC daher verhindert werden, dass das Publikum einen direkten und unbeschränkten Zugang zu einem Konto bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB) erhalten würde. Anders würde die Sache bei sogenannten Wholesale-CBDC aussehen, ein digitales Zentralbankgeld, das nur einem beschränkten Nutzerkreis zur Verfügung stünde, nämlich allein den Geschäftsbanken und anderen Teilnehmern des Finanzmarktes.64 Ganz allgemein sind die Einführung von digitalen Währungen und die Lösung von Designfragen von Zahlungsmitteln und -infrastrukturen strategische wirtschafts- sowie staatspolitische Herausforderungen, zu denen sich Behörden und Wirtschaft zielführend positionieren müssen. „Ein informierter Diskurs, wie Digitalwährungen ausgestaltet und eingesetzt werden sollen, ist unerlässlich. Es ist an der Zeit, dass sich die breite Öffentlichkeit mit diesen Themen befasst und die Meinungsbildung vorantreibt“.65 Im Moment ist davon in Österreich allerdings nicht viel zu merken… Schlussbetrachtungen Die Expertenmeinungen zu virtuellen Assets, wie zB zur „Krypto“-Währung Bitcoin, sind geteilt, wobei aber die überwiegende Mehrheit diese kritisch sieht. So erklärt zB die Vorstandsvorsitzende der österreichischen Erste-Bank, Gerda Holzinger-Burgstaller, dass Krypto-Assets extrem spekulativ sind und daher Jeder, der in solche Assets investiert, bereit sein muss, einen Totalverlust in Kauf zu nehmen. Dieses Risiko muss man klar kom-

62 Vgl. Hirt/Siebelt, Notenbanken proben Revolution mit digitaler Währung (Fn. 44). 63 Neue Währungen für die Schweiz?. Die Herausforderungen eines digitalen Frankens und privater Stablecoins für Schweizer Banken, Diskussionspapier der SBVg, Juni 2021. 64 Vgl. Fuster, T. Braucht die Schweiz eine neue Währung? Die Diskussion um digitales Zentralbankgeld gewinnt an Fahrt, NZZ vom 26. Juni 2021, S. 20. 65 Neue Währungen für die Schweiz? (Fn. 63), S. 13.

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munizieren. Laut diverser Studien scheinen speziell bei Bitcoin auch die Hälfte aller Transaktionen keinen legalen Hintergrund zu haben.66 Ein weiterer Grund, Bitcoin und andere virtuelle Währungen kritisch zu sehen, ist der Umstand, dass beim „Schürfen“ (mining) derselben ein großer Energieaufwand im Tera-Watt – Bereich entsteht, der gegenwärtig bei ca. 60 TWh pro Jahr liegt und damit dem Gesamtenergieverbrauch der Schweiz für ein Jahr (!) entspricht.67 Laut einer rezenten Studie des Cambridge Centre for Alternative Finance belaufen sich die Schürfkosten von Bitcoin pro Jahr aber auf das Doppelte, nämlich 121,36 Terawattstunden, womit der Verbrauch demnach höher als jener von Argentinien (121 TWh) oder Norwegen (126,8 TWh) liegt. Zum Vergleich: in Österreich wurden 2020 66,8 TWh verbraucht.68 Aber auch der Kohlendioxid-Ausstoß des Bitcoin-Netzwerkes ist enorm und entsprach laut einer Studie der TU München aus 2018 beim gegebenen Energiemix und der bestehenden Produktionsstruktur ca. 22 bis 23 Megatonnen CO2, was dem Jahresenergieverbrauch der Stadt Hamburg entsprechen würde.69 Quelle: EU-Infothek vom 29. März 2021, S. 1 – 9 (Artikel Nr. 39) PS: Nachdem der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB), als oberstes geldpolitisches Gremium der Eurozone, im Oktober 2020 seinen Bericht über einen digitalen Euro veröffentlicht hatte70, startete er am 14. Juli 2021 das „Projekt zum digitalen Euro“.71 Dieser soll die Wettbewerbsfähigkeit des Euro und des Euro-Raumes sowohl gegenüber anderen Währungsräumen – deren Notenbanken ebenfalls bereits intensiv an digitalem Zentralbankgeld arbeiten – als auch gegenüber privaten Initiativen, wie den Kryptowährungen Bitcoin oder DIEM, stärken. Es geht also um die „fiskalpolitische Souveränität“ des Euroraumes. Die Vorbereitungen für eine mögliche Einführung des digitalen Euros als CBDC zerfallen dabei in eine zwei Jahre dauernde Untersuchungsphase, an die sich eine drei Jahre dauernde Testphase anschließen soll. Damit könnte der digitale Euro aber erst frühestens im Jahr 2026 – dh 24 Jahre nach seiner Einführung – geschaffen werden, ein Schritt, der nach Ansicht vieler Experten, aber zu spät kommen würde, um damit dessen angestrebte Vorherrschaft entsprechend abzusichern. Vgl. dazu Artikel Nr. 38, vorstehend auf S. 484 ff. 66 Unterhuber, W. – Kleedorfer, R. „Extrem spekulativ und nicht nachhaltig“, Kurier vom 26. März 2021, S. 10. 67 Tolkmitt/Wittrin, Virtuelle Währungen und das Finanzsystem (Fn. 19), S. 40. 68 Bitcoin verbraucht mehr Strom als ganz Argentinien, Kurier vom 21. Februar 2021, S. 9. 69 Tolkmitt/Wittrin, Virtuelle Währungen und das Finanzsystem (Fn. 19), S. 40. 70 European Central Bank (ed.), Report on a digital euro, October 2020. 71 EZB, Pressemitteilung vom 14. Juli 2021; Bereit für die digitale Zukunft des Euro, Blogbeitrag von Fabio Panetta, Mitglied des Direktoriums der EZB, vom 14. Juli 2021; https://www.ecb.europa.eu/press/blog/date/2021/html/ecb.blog210714~6...

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Das „Crypto-Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets

40. Das „Crypto-Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets und die Stellung Österreichs dazu Einleitung Nachdem im vorstehenden Beitrag die Rolle und Funktion von „Krypto“Währungen untersucht wurde,1 soll nunmehr eine kurze Darstellung des sog. „Cypto Valley“ als europäische Schwerpunktregion, versucht werden, in der die Schweiz und Liechtenstein durch den Erlass einer Reihe einschlägiger Gesetze für die Emittierung, den Handel und die Eigentumsverhältnisse an „Krypto“-Werten zu weltweit führenden Niederlassungen von „Krypto“-Unternehmen geworden sind. Zur Kontrastierung soll auch noch eine kurze Darstellung der einschlägigen Situation in Österreich in Bezug auf die Behandlung virtueller Währungen angefügt werden. Das „Crypto Valley“ als signifikante europäische Schwerpunktregion Zur Veranschaulichung der Größenverhältnisse der im vorerwähnten letzten Beitrag angesprochenen Phänomene im Fin-Tech und Finanzbereich, soll anschließend ein kurzer Blick auf die europäische Schwerpunktregion, das sog. „Crypto Valley“, geworfen werden. Darunter versteht man eine Reihe von Kantonen in der Schweiz sowie das Fürstentum Liechtenstein, wo sich schwerpunktmäßig die wichtigsten „Krypto“-Unternehmen niedergelassen haben. Mit den beiden Instituten SEBA Bank und Sygnum Bank sind im „Crypto Valley“ auch die weltweit ersten von einer renommierten Aufsichtsbehörde, nämlich der schweizerischen Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA), voll regulierten „Krypto“-Banken, bewilligt worden. Die Bewilligung für Bitcoin Suisse, die ebenfalls beantragt wurde, wurde Mitte März 2021 vorerst allerdings verweigert.2 Durch den Erlass einer Reihe einschlägiger Gesetze für die Ausgabe, den Handel und die Eigentumsverhältnisse an „Krypto“-Werten ist die Schweiz zum weltweit führenden Sitzstaat von „Krypto“-Unternehmen geworden. So waren in ihr im Jahr 2020 die Hälfte dieser einschlägigen Unternehmen in Zug domiziliert (425 Unternehmen), danach folgten die Kantone Zürich (139), Genf (45), Tessin (42), Waadt (27), Luzern (16) und Bern (14). Die insgesamt 842 Schweizer Unternehmen beschäftigten dabei rund 4.400 Mitarbeiter. Bis Ende 2020 hat sich die Zahl der Unternehmen auf 960, und die von deren Mitarbeitern auf 5.184 erhöht.3 In den Top 50 Unternehmen sind 819 Mitarbeiter angestellt. In Liechtenstein wiederum hatten sich 80 Unternehmen angesiedelt. 1 Hummer, W. Virtuelle Währungen (sog. „Krypto“-Währungen) und deren Bedeutung für das herkömmliche Geld- und Finanzsystem, EU-Infothek vom 29. März 2021; siehe Artikel Nr. 39, vorstehend auf S. 505 ff. 2 Siehe dazu nachstehend auf S. 524 f. 3 CV VC Top 50 Report H2/2020.

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Das „Crypto-Valley“ als europäische Schwerpunktregion für digitale Assets

Der Marktwert der 50 größten Unternehmen des „Crypto Valley“ ist innerhalb eines Jahres (2020) um 680%, dh von 37,5 Mrd. auf 254,9 Mrd. $ angestiegen.4

Fürstentum Liechtenstein Der erste Rechtsträger, der im „Crypto-Valley“ eine umfassende Regulierung der Fin-Tech und Blockchain-Unternehmen vornahm, war Liechtenstein. Am 21. März 2018 teilte Regierungschef Adrian Hasler während seiner Rede auf dem Finance Forum in Vaduz mit, dass seine Regierung ein Gesetz plane, mit dem auf der Blockchain-Technologie basierende Geschäftsmodelle regulatorisch entsprechend behandelt werden sollen. „Mit dem geplanten Gesetz werden wir eines der ersten Länder weltweit sein, das dieses Thema in dieser Breite gesetzlich regelt und damit die Grundlage für weitgehende wirtschaftliche Anwendungen schafft“.5 In der Folge verabschiedete der liechtensteinische Landtag am 3. Oktober 2019 einstimmig das „Token- und VT-Dienstleistergesetz“ (TVTG), das zum einen die zivilrechtlichen Fragestellungen in Zusammenhang mit Kunden- respektive Vermögensschutz regelt, und zum anderen eine adäquate Aufsicht über die verschiedenen Dienstleistungsunternehmen etabliert. Bei der Tokenisierung von Vermögenswerten werden Rechte (bzw. Anteile) an realen oder virtuellen Vermögenswerten in eine einzige digitale Abbildung – einen sog. „Token“ – umgewandelt, sodass real existierende Vermögenswerte digital übertragen, verwahrt und gehandelt werden können, ohne dass es dabei einer zentralen Instanz oder eines Intermediärs – wie zB eines Auktionshauses oder eines Vermittlungsportals – bedarf.6 Dazu kommen noch Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche hinzu, indem Dienstleister den Sorgfaltspflichtregeln unterstellt werden. Der liechtensteinische Regierungschef bemerkte dazu: „Mit dem TVTG wird ein wesentliches Element der Finanzplatzstrategie der Regierung umgesetzt und Liechtenstein als innovativer und rechtssicherer Standort für Anbieter in der Token-Ökonomie positioniert“.7 Mit dem, am 1. Jänner 2020 in Kraft getretenen, TVTG-Gesetz ist das Fürstentum Liechtenstein tatsächlich der erste Staat, der über eine umfassende Reglementierung des „Krypto“-Bereichs verfügt.8 4 Grundlehner, W. Die Blockchain-Industrie ist immun gegen das Corona-Virus, www.ch vom 8. März 2021, S. 1. 5 Kasanmascheff, M. Liechtenstein will Blockchain-Technologie mit neuem Gesetz fördern, Cointelegraph vom 28. März 2018. 6 Stefanoski, D. – Sahin, O. Aktuelle Entwicklungen im Bereich „Decentralized Finance“, Advertorial vom 29. September 2020. 7 Landtag stimmt dem Blockchain-Gesetz einstimmig zu, Landesverwaltung Fürstentum Liechtenstein-Medienmitteilung vom 3. 10. 2019. 8 Cant, J. Liechtenstein’s Parliament Unanimously Approves New Blockchain Act, Cointelegraph vom 5. Oktober 2019.

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Schweiz Im Gegensatz zu Liechtenstein, das auf die Technik des Erlasses neuer gesetzlicher Regelungen setzte, ging die Schweiz einen anderen Weg und ergänzte diesbezüglich nur den bereits vorhandenen Bestand an einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.9 Nachdem der Schweizer Bundesrat im Dezember 2018 einen Bericht zu den rechtlichen Rahmenbedingungen für Blockchain und „Distributed Ledger Technologie“ (DLT) im Finanzsektor publiziert hatte, schickte er bereits im März 2019 eine Reihe von Anpassungen bestehender Gesetze in die Vernehmlassung, verzichtete aber auf die Schaffung eines spezifischen Technologiegesetzes. Auf der Basis der Anregungen, die der Bundesrat aus dieser Vernehmlassung erhalten hatte, verabschiedete er in der Folge am 27.  November 2019 die Botschaft zum Bundesgesetz zur Anpassung des Bundesrechts an Entwicklungen der Technik verteilter elektronischer Register. Mit der am 25. Oktober 2020, gemeinsam mit dem DLT-Gesetzesentwurf, publizierten Mantelverordnung werden punktuelle Anpassungen in neun Bundesgesetzen vorgeschlagen, und zwar sowohl im Zivilrecht, als auch im Finanzmarktrecht. Damit will der Bundesrat die Rahmenbedingungen für DLT/Blockchain weiter verbessern, wobei es bei der DLT im Kern um Systeme zur gemeinsamen Datenverwaltung geht, die auf verteilten Registern beruhen. Eine Blockchain wiederum ist eine mögliche Form, wie Daten in einem solchen System abgelegt werden. Die DLT ermöglicht damit einen direkten, elektronischen Werttransfer zwischen den Teilnehmern eines Netzwerkes, ohne dass eine kontoführende Stelle (zB (Zentral)Bank) dafür eingeschaltet werden muss. Nachdem der Bundesrat am 10. September 2020 das vorerwähnte „Bundesgesetz zur Anpassung des Bundesrechts an Entwicklungen der Technik verteilter elektronischer Register“ (DLT-Gesetz) verabschiedet hatte, setzte er am 11. Dezember 2020 nunmehr diejenigen Elemente der DLT-Mantelverordnung per 1. Februar 2021 in Kraft, die die Einführung von Registerwertrechten (Security Token) ermöglichen. Erstmals kam es dabei zu einer erfolgreichen Verbindung einer Aktie mit einem Blockchain-basierten Token, nämlich durch die Erfassung der Aktien von MME Compliance auf der digitalen Aktienplattform von Daura. Das DLT-Gesetz bestimmt in diesem Zusammenhang nämlich, dass der Token mit der Aktie gleichzusetzen ist.10

9 Vgl. Graham-Siegenthaler, B. – Furrer, A. The Position of Blockchain Technology and Bitcoin in Swiss Law, Jusletter vom 8. Mai 2017; Beutler, C. Swiss law reforms make crypto respectable, swissinfo.ch vom 10. September 2020. 10 Grundlehner, W. Die digitale Aktie ist da – und wenig passiert. Die Tokenisierung hat in der Schweiz ein rechtliches Fundament erhalten, NZZ vom 17. März 2021, S. 21.

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Dabei handelt es sich um Novellierungen sowohl im Obligationenrecht, als auch im Bucheffektengesetz und im IPR-Gesetz. Zudem müssen sich ab diesem Datum nur noch jene Finanzdienstleister einer Ombudsstelle anschließen, die Finanzdienstleistungen gegenüber Privatkunden erbringen. Diejenigen, die Finanzdienstleistungen ausschließlich gegenüber institutionellen oder professionellen Kunden erbringen, sind davon befreit. Die übrigen Bestimmungen des DLT-Gesetzes werden voraussichtlich am 1. August 2021 in Kraft treten und die Einführung des DLT-Handelssystems, einer neuen Form von Lizenz für Handelsplätze für digitale Vermögenswerte, mit sich bringen. Hinsichtlich der Tätigkeiten, die von der neuen Lizenz erfasst sind, unterscheidet sich das DLT-Handelssystem stark von den heutigen Handelsplätzen. Neben dem Handel können DLT-Handelssysteme auch die Verwahrung von DLT-Effekten anbieten, eine Dienstleistung, die bisher eine Lizenzierung als Zentralverwahrer erforderte. Des Weiteren kann das DLTHandelssystem auch die Abrechnung und Abwicklung von Geschäften mit DLT-Effekten anbieten, was nach gegenwärtigem Recht eine zusätzliche Lizenz als Zentralverwahrer bzw. als Zahlungssystem erforderlich gemacht hätte. Von der Lizenz als DLT-Handelssystem nicht erfasst ist hingegen das Clearing von Transaktionen. Zusammengefasst ist das neue DLT-Handelssystem ein One Stop Shop für den Handel, die Verwahrung und die Abwicklung von digitalisierten Vermögenswerten, der nicht nur Banken oder Brokern, sondern auch Retailkunden offensteht.11 Mit dem Inkrafttreten des zweiten Teils des DLT-Gesetzes Anfang August 2021 werden Unternehmen versuchen, eine beträchtliche Präsenz auf dem Schweizer Börsenmarkt für den regulierten Handel mit „Krypto“Währungen sowie für andere „Krypto“-Währungsaustauschoperationen aufzubauen. Diesbezüglich haben bereits folgende drei Unternehmen eine Lizenz von der Schweizer Finanzmarktaufsicht (FINMA) erhalten: SEBA Crypto AG, Sygnum Bank und Crypto Broker AG.12 Die Schweiz ist damit, neben dem Fürstentum Liechtenstein, eines der wenigen Länder, die eine umfassende „Krypto“- und Blockchain-Regulierung verabschiedet haben, die alle wichtigen Asspekte der Branche berücksichtigt.13 Einen gewissen Rückschlag stellt hingegen die am 17. März 2021 erfolgte Verweigerung der Erteilung einer Bankbewilligung für den Zuger Finanzintermediär „Bitcoin Suisse“ durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA) dar, die wahrscheinlich auf Mängel im Geldwäscherei-Abwehr11 Vgl. Glarner, A. – Ganzoni, R. Neues Schweizer DLT-Handelssystem, MME vom September 2020. 12 Musharraf, M. Schweiz: Neue Gesetze legen rechtlichen Grundstein für Blockchain und Krypto, Cointelegraph vom 10. September 2020; Avan-Nomayo, O. Erster Teil von Schweizer Blockchain-Gesetz tritt in Kraft, Cointelegraph vom 1. Februar 2021. 13 Vgl. Grundlehner, W. Die Blockchain-Industrie ist immun gegen das Corona-Virus (Fn. 4).

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dispositiv zurückzuführen ist. Mitbestimmend dafür dürften aber auch Bedenken angesichts des rasanten Wachstums von „Bitcoin Suisse“ in den letzten Monaten gewesen sein. So war das Transaktionsvolumen im Februar 2021 mit rund 1 Mrd. Franken hundert Mal höher (sic) als im Juni 2019, als das Gesuch für eine Bankbewilligung eingereicht wurde.14 Bitcoin Suisse hat aber bereits angekündigt, die Banklizenz neuerlich zu beantragen und zwar nicht nur für die Schweiz, sondern nunmehr auch für Liechtenstein und die EU. Ganz allgemein haben die Gesetzesänderungen neue Rechtsgrundlagen vor allem für die Schaffung einer neuen Wertpapierkategorie im Obligationenrecht, die Aussonderung von tokenisierten Vermögenswerten im Fall eines Konkurses im Insolvenzrecht und die Schaffung einer neuen Bewilligungskategorie für DLT-Handelssysteme im Finanzmarktinfrastrukturrecht gebracht. Was hingegen die Regulierung des Status der rund 2.000 Schweizer Vermögensverwalter im Speziellen betrifft,15 so ergingen vor Kurzem zwei einschlägige Gesetze, nämlich das Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG)16 und das Finanzinstitutsgesetz (FINIG)17, die beide vom Parlament am 15. Juni 2018 verabschiedet wurden. Das FIDLEG enthält Verhaltensregeln, die Finanzdienstleister gegenüber ihren Kunden einhalten müssen. Das F ­ INIG hingegen vereinheitlicht im Wesentlichen die Bewilligungsregeln für bestimmte Finanzinstitute. Am 6. November 2019 hat der Bundesrat mit der Finanzdienstleistungs-VO (FIDLEV)18, der Finanzinstituts-VO (FINIV)19 und der Aufsichtsorganisationen-VO (AOV)20 auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen zu FIDLEG und FINIG erlassen, die, zusammen mit FIDLEG und FINIG, per 1. Jänner 2020 in Kraft gesetzt wurden. Vergleicht man die Schweizer Regulierung mit den parallelen Regelungen in der EU21, dann muss man feststellen, dass der vor kurzem ergangene Vorschlag der Kommission für eine „Market in Crypto-Assets“ (MiCA) – Verordnung22, die in der EU für einheitliche Regeln im Umgang mit digita14 Vgl. Grundlehner, W. Erfolgreiche Bitcoin Suisse darf keine Bank werden, nzz.ch vom 17. März 2021. 15 Vgl. Müller, A. Unabhängige Vermögensverwalter sind in der Schweiz eine heimliche Macht, NZZ vom 26. März 2021, S. 19. 16 AS 2019 4417. 17 AS 2018 5247. 18 AS 2019 4459. 19 AS 2019 4633. 20 AS 2019 4715. 21 Vgl. Müller, L. – Reutlinger, M. – Kaiser, P. Entwicklungen in der Regulierung von virtuellen Währungen in der Schweiz und der Europäischen Union, EUZ 3/2018, S. 80 ff. 22 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates on Markets in Crypto-assets, and amending Directive (EU) 2019/1937 (COM(2020) 593 final vom 24. September 2020).

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len Währungen und Krypto-assets sorgen soll – anders als das DLT-Gesetz – keine Token erfasst, die Finanzinstrumente darstellen. Letztere sollen in der entsprechend anzupassenden Markets in Financial Instruments Direc­ tive (MiFID)23 auf Finanzinstrumente auf DLT-Grundlage24 ausgeweitet werden, ebenso wie auch eine Pilotregelung für DLT-Marktinfrastrukturen für solche Instrumente von der Kommission vorgeschlagen wird.25 Da die Umsetzung dieser Anpassungen im Schoß der EU offensichtlich noch eine Weile dauern wird – vor allem sollte geklärt werden, ob „Krypto“-Währungen ohne zentralen Emittenten, wie zB der Bitcoin, von der geplanten MiCA-Verordnung überhaupt erfasst, oder sogar verboten werden26 – wird die mit dem DLT-Gesetz in der Schweiz einhergehende Rechtssicherheit, mindestens bis zur Inkraftsetzung der MiCA und der entsprechenden Anpassung der MiFID in Europa einzigartig sein.27 Ganz in diesem Sinn äußerst sich auch Luzius Meisser, CEO und Mitbegründet von Aktionariat: „Wenn sich digitale Wertrechte etablieren, dann in der Schweiz. Die europäischen und nordamerikanischen Länder haben zu komplizierte Gesetzgebungen und sind dementsprechend auch noch nicht sehr weit“.28

Österreich Österreich als „FinTech-Hotspot“ Im Gegensatz zu seinen Nachbarn Liechtenstein, Schweiz, aber auch Deutschland, hat Österreich bisher davon abgesehen, ein spezifisches regulatorisches Regime für kryptobezogene Aktivitäten oder Transaktionen zu schaffen. Vor 2018 haben seine Behörden, vor allem aber die österreichische Finanzmarktaufsicht (FMA), eine besonders skeptische Haltung gegenüber digitalen Vermögenswerten eingenommen, und dabei stets auf die enorme Volatilität sowie die Verbraucherschutzrisiken verwiesen, die mit diesen verbunden sind.29 Erst im Zuge der Aufarbeitung des Bitcoin-bezogenen Betrugsfalles „Optioment“30 wurde im Februar 2018 im Schoß der FMA ein 23 Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente (…) (ABl. 2014, L 173, S. 349 ff.). 24 COM(2020) 596 final. 25 COM(2020) 594 final. 26 EU-Vorschlag mit Pferdefuss, NZZ vom 17. März 2021, S. 21. 27 Vgl. Glarner/Ganzoni, Neues Schweizer DLT-Handelssystem (Fn. 11). 28 Zitiert in Grundlehner, Die digitale Aktie ist da – und wenig passiert (Fn. 10). 29 Die FMA hat bereits im November 2017 Informationen zu den mit virtuellen Währungen verbundenen Risiken veröffentlicht; FMA, Europäische Aufsichtsbehörden veröffentlichen gemeinsame Warnungen zu virtuellen Währungen, Pressemitteilung vom 12. Februar 2018, S. 2. 30 Vgl. dazu Pfluger, B. – Hahn, A. Justiz ermittelt im Fall Optioment gegen elf Personen, Der Standard vom 2. Februar 2019.

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„FinTech-Beirat“ gegründet,31 ein Umstand, der in der Folge zu einem entscheidenden Wandel in Bezug auf die Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Finanzierungsmethoden führen sollte. Mit seiner nunmehr offenen Haltung gegenüber neuen Technologien und „Krypto“-Währungen erlangte Österreich sehr bald eine gewisse Bedeutung als „FinTech-Hotspot“ und wurde zum bevorzugten Standort zahlreicher Startups, wie zB Bitpanda. Das 2014 in Wien gegründete „Krypto“-Unternehmen beschäftigt mehr als 600 Personen aus 50 Nationen und erreichte Mitte 2021 eine Bewertung von über 4,1 Mrd. Euro.32 Laut eigenen Angaben hat Bitpanda zwei Millionen User.33 Mitte Februar 2021 erhielt Bitpanda die Konzession als Wertpapierhändler und bietet in diesem Zusammenhang den Handel mit „Krypto“-Währungen, wie Bitcoin, Ether uam an, für die seit dem 10. Jänner 2020 eine Registrierungspflicht bei der FMA besteht. Kunden können diese digitalen Vermögenswerte kaufen, verkaufen oder auf eigene Wallets (digitale Geldbörsen) legen. Bitpanda verlangt in diesem Zusammenhang für jede Transaktion, die über ihre Plattform abgewickelt wird, handelsübliche 1,49 Prozent.34 Derzeit gibt es, gemäß einer Studie der Österreichischen Nationalbank (ÖNB), 112 österreichische Unternehmen, die sich als FinTech-Unternehmen qualifizieren. Diese sind in der Regel Start-ups und kleine und mittlere Unternehmen (KMU), bei denen der mittlere Umsatz 650.000 € und die durchschnittliche Anzahl der Mitarbeiter sechs beträgt. Insgesamt erwirtschaftete die österreichische FinTech-Industrie 2020 einen Jahresumsatz von 130 Mio. € und beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter. Trotz dieser eher kleinen Zahlen muss angemerkt werden, dass die Wachstumsraten der FinTechs weit über denen der gesamten Finanzbranche liegen.35 Was den rechtlichen Rahmen von FinTech-Unternehmen betrifft, so wurde durch § 23a des Finanzmarktaufsichtsbehördengesetzes36 eine sog. „regulatorische Sandbox“ eingeführt, die es Unternehmen ermöglichen soll, ihr Geschäftsmodell zu testen und danach so optimal als möglich auf die geltenden Rahmenbedingungen auszurichten. Bei der Bestimmung des regulatorischen Status, der auf ein spezielles Geschäftsmodell mit „Krypto“Assets anzuwenden ist, ist nämlich eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, wobei sich aus folgenden gesetzlichen Bestimmungen unterschiedliche Lizenzpflichten ergeben können: (a) Zahlungsdienstegesetz37, (b) Bankwesen31 FMA (Hrsg.), Die Kontaktstelle FinTech. Innovation weiterentwickeln (2018). 32 Zirm, J. Bitpanda ist 4,1 Milliarden Dollar wert, Die Presse vom 18. August 2021, S. 13. 33 Wiener Krypto-Fintech wird erstes „Unicorn“, Wiener Zeitung vom 17. März 2021, S. 1. 34 Wiener Krypto-Firma Bitpanda wird Österreichs erstes „Unicorn“, Wiener Zeitung vom 17. März 2021, S. 10. 35 Fletzberger, B. Austria: Fintech laws and Regulations 2020, ICLG 2020, S. 1. 36 BGBl. I Nr. 97/2001. 37 BGBl. I Nr. 17/2018.

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gesetz38, (c) E-Geldgesetz39, (d) Alternative Investmentfonds Manager-Gesetz40, (e) Wertpapieraufsichtsgesetz41 und (f) Kapitalmarktgesetz42. Neben diesen speziellen gesetzlichen Regelungen bestehen noch weitere Sondergesetze, die folgende Bereiche betreffen: (a) Geldwäsche43, (b) Besteuerung (Einkommenssteuer, Umsatzsteuer) und (c) Datenschutz (EU-Datenschutzgrundverordnung44, Datenschutzgesetz45)). Die Wiener Börse hat mittlerweile schon eine Reihe von „Krypto“-Finanzprodukten in ihre Notierung aufgenommen – so notierten an der Wiener Börse seit Anfang Oktober 2020 bereits Bitcoin und Ether – und auch „Krypto“-Zahlungen beginnen sich zu etablieren. So arbeitet die Raiffeisen Bank Austria an einer nationalen digitalen Währung „Pilot“46 und der große Mobilfunkbetreiber A1 akzeptiert über sein firmeneigenes Zahlungsnetzwerk „Salamantex“ schon seit Juli 2020 Zahlungen in Form von „Krypto“Währungen (Bitcoin, ETH, Dash uam.).47 Angesichts des Mandats der Kommission, bis zum 11. Jänner 2022 Gesetzesvorschläge für weitere Regulierungsmaßnahmen im FinTech-Bereich zu prüfen und zu entwerfen,48 sind in Österreich Änderungen gegenüber dem derzeitigen Rechtsbestand mit Sicherheit zu erwarten.49

Wissenschaftliche Einrichtungen im „Krypto“-Bereich Nachstehend sollen in aller Kürze diejenigen wissenschaftlichen Einrichtungen in Österreich dargestellt werden, die sich mit verwandten „Krypto“Phänomenen beschäftigen.

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BGBl. 532/1993 idgF. BGBl. I Nr. 107/2010. BGBl. I Nr. 135/2013. BGBl. I Nr. 107/2017. BGBl. I Nr. 62/2019. In Umsetzung der 5. Geldwäsche-Richtlinie der EU (Richtlinie (EU) 2018/843, ABl. 2018, L 156, S. 43 ff.) erging das Finanzmarkt-Geldwäschegesetz (BGBl. I Nr. 118/2016), geändert durch Art. 3 des Bundesgesetzes, mit dem das Kontenregisterund Konteneinschaugesetz (…) geändert werden (BGBl. I Nr. 25/2021). 44 ABl. 2016, L 119, S. 1 ff. 45 BGBl. I Nr. 165/1999. 46 Raiffeisen Bank to pilot digital currency, 20 May 2020. 47 Vgl. Avan-Nomayo, O. Wegen zunehmender Betrugsfälle – Österreich fordert strengere Krypto-Regulierung, Cointelegraph vom 20. Februar 2021. 48 Vgl. Waechter, O. Regulierung virtueller Währungen, vom 31. Juli 2019. 49 Schmidt, S. Österreich: Regulierung virtueller Währungen im Jahr 2020: Licht in die österreichische Blockchain-Landschaft bringen, Oblin Rechtsanwälte LLP, vom 1. Dezember 2020.

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Forschungsschwerpunkt für Blockchain und Kryptoökonomie an der WU Wien Wie bereits vom Wirtschaftsministerium mehrmals angekündigt, begann die Wirtschaftsuniversität Wien (WU) Ende des Jahres 2017 einen eigenen Forschungsschwerpunkt für Kryptoökonomie einzurichten, der unter der Leitung des Wirtschaftswissenschaftlers Prof. Alfred Taudes50 steht.51 Dafür bekam die Bildungseinrichtung vom Wissenschaftsministerium 500.000 Euro für fünf Jahre zugesagt. Der Schwerpunkt will sich vor allem der Frage widmen, wie und ob sich auf Basis von Blockchain-Technologien neue Wirtschaftssysteme herausbilden können. Dabei werden interdisziplinär Volkswirte, Betriebswirte, Juristen, Banken-, Steuer- und Marketingexperten zusammenarbeiten, um herauszufinden, wie dezentrale Applikationen (dApps), das Zusammenspiel mit IoT, künstliche Intelligenz, dezentrale Verwaltung und Crypto-Recht am besten eingesetzt werden können. Hinter der Umsetzung steht ua auch der Verein „Blockchain Initiative Austria“ (BCI).52 Der Forschungsschwerpunkt an der WU Wien soll sich zu einem Zen­ trum für die Blockchain-Bestrebungen in ganz Österreich entwickeln, an die andere interessierte Einrichtungen andocken können. In Österreich gibt es diesbezüglich mit dem Wiener Forschungsinstitut RIAT (Research Institute for Arts & Technology), dem Blockchainhub Graz und dem SBA Research in Salzburg weitere Einrichtungen, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Christian Doppler-Labor an der TU Wien Auf der TU Wien wurde ein neues Christian Doppler-Labor mit dem Namen „Blockchain Technologies for the Internet of Things“ (CDL-BOT) eingerichtet, das das erste Labor dieser Art darstellt, das sich auf die Kombination aus Blockchain-Technologie und Internet of Things (IoT) spezialisiert hat, und das unter der Leitung von Ass.-Prof. Stefan Schulte steht.53 Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit soll auf der Forschung und Entwicklung von Partnerschaften zwischen privaten Unternehmen und Unternehmen der öffentlichen Hand liegen, die die Distributed-Ledger-Technologie (DLT) in praktischen Anwendungsbereichen nutzen wollen. Die Eröffnung desselben erfolgte am 26. November 2020 durch die österreichische BM für Digitalisierung und Wirtschaft, Margarethe Schram50 Institute for production engineering & Research Institute for Cryptoeconomics. 51 WU startet Forschungsschwerpunkt für Blockchain und Krypto-Ökonomie, Trending Topics vom 27. Oktober 2017. 52 Vgl. dazu nachstehend auf S. 530. 53 Steinschaden, J. Mit Pantos und IOTA: Neues Christian Doppler Labor an TU Wien forscht an Blockchain

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böck, und zwischenzeitlich haben sich bereits zwei renommierte Unternehmen dem CDL-BOT angeschlossen, nämlich zum einen die IOTA Foundation, eine Non-Profit-Organisation hinter dem deutschen Krypto-Projekt IOTA (IOTA Tangle und MIOTA), sowie, zum anderen, das Unternehmen Pantos, ein Tochterunternehmen von Bitpandavolatiliät, der vorstehend bereits erwähnten Handelsplattform für „Krypto“-Währungen und digitale Assets54. Mit der steigenden Anzahl von Anwendungsbereichen für DLT-basierte Zahlungen und den Datenaustausch im Internet of Things (IoT) müssen immer wieder neue DLTs integriert werden, weshalb die Interoperationalität zwischen den DLTs immer wichtiger wird. Durch die Nutzung des IOTAStandards können IoT-Geräte automatisch Daten und Zahlungen an andere Geräte übertragen, die sich ebenfalls im IOTA-Netzwerk befinden. Das IOTA-Netzwerk kann in der Theorie dabei bis zu 10.000 Transaktionen pro Sekunde abwickeln, was durch das Upgrade „Chrysalis“ im August 2020 ermöglicht wurde.55 „Blockchain Initiative Austria“ Nach intensiven Vorbereitungen im Jahr 2020 wurde – ua mit fachlicher Expertise der AUSTRIAPRO und unter Zusammenarbeit mit dem Austrian Blockchain Center – im Jänner 2021 der Verein „Blockchain Initiative Austria“ (BCI) gegründet.56 Zweck des Vereins ist die Unterstützung des Aufbaues einer sicheren, dauerhaften und vertrauenswürdigen Infrastruktur für die privatwirtschaftliche Blockchain-Nutzung in Österreich. Analog zur „Austrian Public Service Blockchain“ ist der erste Anwendungsfall hierfür die „Daten-Zertifizierung“ – auch „Dokumenten-Notarisierung“ genannt – bei der digitale Fingerabdrücke von Dateien in der Blockchain hinterlegt werden, um zu einem späteren Zeitpunkt im Echtbetrieb verfügbar zu sein und öffentlich einsehbar zur Verfügung zu stehen.57 Schlussbetrachtungen Anfang 2021 waren über 8.400 „Krypto“-Währungen auf dem Markt58 – nachdem zwischenzeitlich seit der Erfindung von Bitcoin 1.839 digitale 54 Vgl. dazu vorstehend auf S. 527. 55 McNally, C. IOTA schließt sich neuem Blockchain- und IoT-Forschungslabor der TU Wien an, Cointelegraph vom 27. November 2020. 56 Der Sitz des Vereins befindet sich in der Anton-Krieger-Gasse 83, 1230 Wien, die Mail-Adresse lautet: [email protected] 57 BCI News Jänner 2021, S. 1. 58 Knips-Witting, M. Kryptowährungen als Spekulationsobjekt, vom 12. März 2021, S. 6; Blumenstein, Was ist eigentlich Bitcoin?, Diese Technik steckt dahinter (www. t-online.de vom 23. Jänner 2021) erwähnt für Jänner 2021 insgesamt 8.200 Kryptowährungen, ebenso wie auch Wimmer, F. – Sandner, P. – Schmitt, S. – Andres, J.

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Währungen wieder aufgegeben wurden59 – wobei allein die Marktkapitalisierung von Bitcoin Ende 2020 765 Mrd. US-$ und die von Ether 156 Mrd. US-$ betrug. An dritter Stelle rangiert mit über 30 Mrd. US-$ die von der Börsen-Plattform Binance kreierte „Krypto“-Währung BNB.60 Angesichts dieser Größenordnungen nimmt es wunder, dass über den damit ermöglichten digitalen Zahlungsverkehr ohne Zentralinstanzen, wie etwa Banken, oder der spekulativen Veranlagung derselben, noch keine umfassende Aufklärung der interessierten österreichischen Öffentlichkeit erfolgt ist. Da der Handel zB mit Bitcoins ein gewisses technisches „know-how“ voraussetzt, muss sich der nicht-kundige Interessent, einer Reihe von speziellen Dienstleistern bedienen, die ihn über den Kauf, die Aufbewahrung und die sichere Übertragung an Andere beraten, um keiner betrügerischen Manipulation zu unterliegen. Bedauerlicher Weise hat die Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) in diesem Zusammenhang aber feststellen müssen, dass Anlagebetrug inzwischen größtenteils mit „Krypto“-Währungen betrieben wird. Mehr als 60% der bei der FMA von „Whistleblowern“ angezeigten Fälle von Anlagebetrug stehen in Verbindung mit „Krypto-Assets“, wobei hauptsächlich soziale Netzwerke, wie Facebook, WhatsApp, Telegram und TikTok als Nährböden dienten, um Anleger in betrügerische Veranlagungen zu locken. Es ist daher hoch an der Zeit, dass eine diesbezügliche Informationskampagne gestartet wird, mittels derer unwissenden Anlegern, denen unglaubliche Spekulationsgewinne in Aussicht gestellt werden – so stieg der Wert einer Bitcoin-Einheit von 500 Dollar im Jahr 2014 auf 60.000 Dollar (sic) Mitte März 202161 – vor Augen geführt wird, welches Risiko sie bei der enormen Volatilität dieser „Krypto“-Währung eigentlich eingehen. Laut JP Morgan Chase & Co hat Bitcoin das Potential, langfristig 146.000 Dollar zu erreichen, da es mit Gold als Anlageklasse konkurriert. Dabei müsste aber die Marktkapitalisierung von Bitcoin um das 4,6-fache steigen, um den Gesamtanlagen des Privatsektors in Gold über börsengehandelte Fonds oder Goldbarren und Goldmünzen zu entsprechen.62 Quelle: EU-Infothek vom 30. März 2021, S. 1 – 8 (Artikel Nr. 40)

Steuerschätzung: 1,2 Mrd. EURO Steuereinnahmen für das Steuerjahr 2020 durch Kryptowährungen, Frankfurt School Blockchain Center, vom 13. Jänner 2021, S. 2. 59 Laut Website deadcoins.com; vgl. Grundlehner, W. Auf dem Friedhof der Kryptowährungen, nzz.ch vom 27. Dezember 2019. 60 Grundlehner, W. Bitcoin-Euphorie trägt Coinbase-Aktien nach oben, NZZ vom 27. Februar 2021, S. 13. 61 Lammer, Bitpanda ist jetzt ein „Einhorn“ (Fn. 32). 62 Grundlehner, W. – Schürpf, T. Bitcoin-Höhenflug abrupt gestoppt: Hat Elon Musk die Kryptowährung kippen lassen?, nzz.ch vom 23. Februar 2021.

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PS: Die neuesten Erscheinungsformen virtueller Phänomene sind aber nicht auf den monetären Bereich beschränkt, sondern erfassen auch die Kunst-Szene. „KryptoKunst“, iSv „Nicht-Fungiblen Token“ (NFT)-Kunstwerken, erreichte in kurzer Zeit nach ihrer erstmaligen Ankündigung im Jahr 2014 Marktrelevanz, im Rahmen derer im März 2021 durch das Auktionshaus Christie’s eine digitale Collage, namens „Everydays. The First 5000 Days“, des amerikanischen Digitalkünstlers Mike Winkelmann (vulgo „Beeple“) für fast 70 Mio. US-$ versteigert wurde und den Künstler damit zum drittteuersten lebenden Künstler, nach Gerhard Richter und Jeff Koons, weltweit machte.63 Der Ersteigerungsbetrag wurde von den Käufern, Vignesh Sundaresan und Anand Venkateswaran, mithilfe ihres NFT-Fonds und in „Krypto-Währung“ beglichen64, woraus der enge Zusammenhang beider Phänomene unmittelbar ersichtlich ist. Auch in Österreich existiert bereits eine Kryptokünstler-Szene, wie zB das sechsköpfige Kollektiv VRON, das seit 2018 sog. „CryptoWiener“ als digitale Pixel-Figuren, die von den CryptoPunks inspiriert wurden, erzeugt und diese auch international veräußert.65

63 Hummer, W. Nach digitalen „Krypto-Währungen“ nun Run auf „Krypto-Kunst“. „Nicht-Fungible-Token“ (NFT) – der „Krypto-Kunstmarkt“ boomt, EU-Infothek vom 30. April 2021, S. 1 ff. 64 Muthalaly, S. But, who spends $ 69 million on digital art?, The HINDU, vom 14. April 2021. 65 Rustler, K. Pixel statt Pinsel, Der Standard vom 24./25. April 2021, S. 3; Meier, P. Die Kryptomanie hat die Kunst erfasst – und reisst die Preise in den Himmel, nzz.ch vom 21. Mai 2021.

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Teil III: Dokumentation

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Dok. 1: Beschluss der im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regierungschefs über eine neue Regelung für das Vereinigte Königreich innerhalb der Europäischen Union (Auszug), vom 19. Februar 2016

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Quelle: ABl. 2016, C 69 I, S. 1 ff.

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Dok. 2: Austrittsschreiben von Premierministerin Theresa May aus der EU an den Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, vom 29. März 2017

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Dok. 3: Art. 50 EUV

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Dok. 4: Ratsbeschluss über den Abschluss des Austrittsabkommens des UK aus der EU und der EAG, vom 30. Januar 2020

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Quelle: ABl. 2020, L 29, S. 1 ff.

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...

Dok. 5: Politische Erklärung der EU und des UK zu ihren zukünftigen Beziehungen, vom 30. Januar 2020

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Quelle: ABl. 2019, C 384 I, S. 178 ff.

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Dok. 6: Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK – Übersicht

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Teil IV:  Sachverzeichnis Nach jedem Hauptschlagwort wird die Nummer des jeweiligen Artikels, in dem es vorkommt, in Klammer nachgestellt bzw. bei Verweis auf Teil I das jeweilige Kapitel desselben angegeben. Den Schlagwörtern, die in anderen (Unter)Kapiteln vorkommen, werden die Nummern dieser Kapitel in Klammer nachgestellt. Atomkraftwerke (Nr. 29) – Betrieb von AKW als „ultra hazardous activity“ – Gefährdungs- oder Erfolgshaftung statt Verschuldenshaftung – Grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung – Österreich als „atomfreies Land“ – Atomhaftungsgesetz (1999) – Atomsperrgesetz (1978) – BVG für ein atomfreies Österreich (1999) – Negative Volksabstimmung gegen das AKW Zwentendorf vom 5. November 1978 – Reaktion Österreichs auf grenznahe Atomkraftwerke – Atomkraftwerke in den MOEL (Paks I und Paks II, Temelin, Bohunice, Dukovany, Mochovce, Krško) – Atomkraftwerke in der Schweiz (Beznau 1 und 2, Leibstadt, Gösgen, Mühleberg) – Entsorgungs- und Endlagerprobleme des Atommülls – Endlager – Zwischenlager – Kernenergiepolitische Debatte in der Schweiz – Verbot des Baues neuer AKW durch das Parlament (2011)

– Verlängerung der Betriebsdauer bestehender AKW durch das ENSI – Zulässigkeit der Errichtung grenznaher Atomkraftwerke? Austritt aus EU (Teil I, Kap. 6.1.) – Rechtsgrundlage (Art. 50 EUV) – Austrittsabkommen EU-UK – „Mezzaninrang“ – Übergangszeitraum – und Politische Erklärung – und Protokoll zu Gibraltar – und Protokoll zu den Hoheitszonen des UK auf Zypern – und Protokoll zu Irland/Nordirland – Austrittsverhandlungen mit dem UK Austrittserklärung aus EU – Widerrufbarkeit? (Teil I, Kap. 6.2.) (Nr. 15) – Austrittserklärung nur „aufschiebend bedingt“? – Europäische Bürgerinitiativen – „Exit“ vom Brexit möglich? – Parallele zwischen „Exit“ vom Brexit und Art. 68 WVK (1969)? – Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof – Beschleunigtes Verfahren gem. Art. 105 VerfO des Gerichtshofs – Hypothetisches Feststellungsbegehren? – Zustimmungsbedürftigkeit des Widerrufs der Austrittserklärung?

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Sachverzeichnis

„Begrenzungsinitiative“ der Schweiz (2020) (Nr. 36) – Der „bilaterale Weg“ zwischen der EU und der Schweiz – Bilaterale I (1999): Paket von 7 bilateralen Verträgen EU-Schweiz – Bilaterale II (2004): Paket von 9 bilateralen Verträgen EU-Schweiz – Scheitern des „bilateralen Weges“: Alternative Modelle – EU-Mitgliedschaft – EWR-Mitgliedschaft – Zollunion –  Umfassendes Freihandelsabkommen – „Institutionelles Rahmenabkommen“ (InstRA) – drei sensible Materien: staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Übernahme der Unionsbürger-Richtlinie – einseitige Beendigung der Vertragsverhandlungen durch Schweizer Bundesrat – Inhaltliche Ausgestaltung – Konsequenzen für die Beziehungen Schweiz – EU im Allgemeinen – Konsequenzen für das „Institutionelle Rahmenabkommen“ – „Masseneinwanderungsinitiative“ (2014) – Überfremdung der Schweiz – Volksinitiative „Für eine massvolle Zuwanderung“ („Begrenzungsinitiative“) vom 27. September 2020 „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) (Nrn. 6, 19) – Aktualisierung der „Blocking-VO“ (2018) – Einsatz der „Blocking-VO“ gegen die extraterritorialen US-Sanktionen gegen den Iran (INSTEX) Brexit (Teil I Kap. 5, 6) (Nr. 15) – Abstimmungsverhalten im UK bei Volksbefragung im UK (2016) – England (53,4 Pro Austritt) – Nordirland (56% Contra) – Schottland (62% Contra) – Wales (52,5 Pro) – Exit vom Brexit? (Nr. 15) – „hard Brexit“: Lugano-Abkommen (2007) (Teil I, Kap. 14)

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– Brüssel-Ia-Verordnung (2012) – EuGVVO (2012) – EuGVÜ (1968) – Politische Konsequenzen – Spezielle Problemlagen – Freihäfen – Gibraltar – Gleichzeitiger Austritt aus EWR? – Kanalinsel Jersey – Unabhängigkeitsreferenden in Schottland, Wales und Nordirland? – Volksbefragung im UK (2016) – Wirtschaftliche Konsequenzen CALIBRA (Nr. 38) – CALIBRA: DIEM-Wallet, Umbenennung in NOVI – Facebook: verantwortlich für Umbenennung Crypto-Valley“ (Nr. 40) – Europäische Schwerpunktregion – Liechtenstein: Token- und VT-Dienstleistergesetz (TVTG) (2019) – Österreich: FinTech-Hotspot mit 112 Unternehmen (BITPANDA uam) – „Blockchain Initiative Austria“ (2021) – Christian Doppler-Labor an der TU Wien – „regulatorische Sandbox“ (§ 23a Finanzmarktaufsichtsbehördengesetz) (2001) – Schweiz: – BG zur Anpassung des Bundesrechts an Entwicklungen der Technik verteilter elektronischer Register (DLTGesetz) (2020) – Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) (2018) – Finanzinstitutsgesetz (FINIG) (2018) – Lizenzvergabe durch Schweizer FINMA an drei Unternehmen – Schweiz (960 Unternehmen) und Liechtenstein (80 Unternehmen): weltweit führende Niederlassungen von „Krypto-Unternehmen“ Cyber-Angriffe (Nr. 32) – Cyber-Angriffe gegen die „Organisa­ tion für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW)

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– Cybercrime im „engeren“ und „weiteren“ Sinn – erste Sanktionen durch die EU – Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) [ENISA I (2004), ENISA II (2013) und ENISA III (2019)] – Maßnahmen der EU zur Erhöhung der Cybersicherheit – Sanktionen der EU gegen Cyber-Angriffe Dalli, John (Nr. 13) – erster „freiwilliger Rücktritt“ eines Kommissars (am 16. Oktober 2012) – Mitglied der „Barroso-Kommission“ – Nichtigkeitsklage Dalli’s vor dem EuG gegen Amtsenthebung und Berufung vor dem EuGH Datenschutz-Grundverordnung (2016) (Nr. 4) Deutsch-französische Freundschaftsverträge (Nr. 18) – „Élysée-Vertrag“ (1963) – Vertrag von Aachen (2019) DIEM (Nr. 38) – DIEM als „stable coin“ – DIEM-Association – Motive und Effekte der Umbenennung von LIBRA in DIEM Drohnen (Nr. 1) – als „dual use“-Güter – Bezeichnung: unbemannte Luftfahrzeuge (ULF), unmanned aircraft systems (UAS) – Einsatzmöglichkeiten – zivil – militärisch – Gefahr für zivilen Flugverkehr – Mitgliedstaatliche Regelung – Österreich (Luftfahrtgesetz, Kriegsmaterialgesetz) – BRD [VO zur Regelung des Betriebs von unbemannten Fluggeräten (2017)] – Unionsrechtliche Reglementierung „e-Curia“ (Nr. 12) – elektronischer Aktenaustausch in Verfahren vor dem Gerichtshof der EU

– mögliche Einführung beim Gerichtshof der EU (2011) – verbindlicher Gebrauch beim Gericht (EuG) (2018) „Élysée-Vertrag“ (1963) (Nr. 18) – Neofunktionalistischer „spill over“ – Organisation und Programm der deutsch-französischen Zusammenarbeit – Weiterentwicklung durch „BlaesheimAbkommen“ (2001) EMRK (Teil I, Kap. 11.2.) (Nrn. 3, 8, 10, 22) ENISA I, II, III (Nr. 32) – Cyber-Angriffe – ENISA I (2004) – ENISA II (2013) – ENISA III (2019) – Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit EU-Ämter – Neubesetzung (2019) (Nr. 30) – Abweichung vom „SpitzenkandidatenSystem“ – „Europäischer Rat“ – wichtige Funk­ tion bei der Nominierung der einzelnen Organwalter – Hoher Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik – Präsident der Europäischen Kommis­ sion – Präsident des Europäischen Rates – Präsident der Europäischen Zentralbank EUROJUST (Nr. 14) – Errichtung (2018) – EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Zusammenarbeit mit EUROPOL – Zusammenarbeit mit OLAF Europäische Arbeitsbehörde (ELA) (Nr. 20) – Aufgaben der ELA – ELA: Dezentrale Agentur der EU – Kritische Reaktionen auf Gründung der ELA – Vorläufer: Europäische Säule sozialer Rechte“ (ESSR) (2017) – Zusammenarbeit mit EUROFOUND, CEDEFOP, EU-OSHA, ETF, EURES, EPAUW uam

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Europäische Nachbarschaftspolitik (Teil I, Kap. 11) Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) (EPPO) (Nrn. 14, 34) – Delegierte Europäische Staatsanwälte – Einrichtung der EUStA (2017) – Europäischer Generalstaatsanwalt – Eignungskriterien – Laura Codruta Kövesi – Zulassungskriterien – Fall einer „verstärkten Zusammenarbeit“ iSv Art. 20 Abs. 2 EUV – Sitz in Luxemburg – Verfolgung auch terroristischer Straftaten – Zusammenhang mit EUROJUST, OLAF, EUROPOL – Zwei Ebenen – Zentrale Ebene: Europäischer Generalstaatsanwalt, 22 Europäische Staatsanwälte, Verwaltungsdirektor, Fachpersonal – Dezentrale Ebene: je zwei „Delegierte Europäische Staatsanwälte“, im jeweiligen EU-Mitgliedstaat ansässig Europäische Union (Teil I, Kap. 6.1.) – Austritt aus EU (Art. 50 EUV) – Beitritt zur EU (Art. 49 EUV) – kein Ausschluss aus EU – und EURATOM (EAG) (Art. 106a EAGV) (Teil I, Kap. 15) Europäischer Haftbefehl (Nrn. 9, 10) – Scheitert dessen Vollstreckung wegen „systemischer Mängel“ in der polnischen Justiz? – Behindert die Einleitung des Art. 7 Abs. 1 EUV („Frühwarnsystem“) gegen Ungarn die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“? – Rahmenbeschluss (2002) Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) (Teil I, Kap. 13.1.) – Assoziationsabkommen dreier EFTAStaaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) mit der EU gem. Art. 217 AEUV – EU-Austritt des UK ist nicht gleichzeitiger Austritt aus EWR – EWR-Modell für UK nach Brexit? – Gleichzeitiger Austritt aus EU und EWR?

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Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung von Urteilen des Gerichtshofs (Nr. 25) – Pauschalbeiträge oder/und Zwangsgeld als finanzielle Sanktionen bei Nichtbefolgung eines Urteils – Änderung der Berechnung von Pauschalbeträgen und Tagessätzen für das Zwangsgeld – Kumulierung von Pauschalbetrag und Zwangsgeld – Von der „qualifizierten“ Mehrheit zur „doppelten“ Mehrheit – „Zweites Vertragsverletzungsverfahren“ gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV Flüchtlinge (Nr. 7) „Frühwarnsystem“ (Nrn. 9, 23) – gem. Art. 7 Abs. 1 EUV – Vorbild: „Sanktionen der 14 gegen Österreich“ (2000) (Nr. 30) FYROM (Nr. 11) – Former Yugoslav Republic of Mazedonia – Umbenennung in Republik „NordMazedonien“ – Westbalkanstrategie der EU Gerichtsorganisation (Nr. 34) – „Brexit“-bedingte Änderungen – Ausscheiden der britischen Richter am Gerichtshof und am Gericht – Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs, Rosario Silva de ­Lapuerta – Keine Gleichsetzung von Richtern und Generalanwälten – Klagen von GA Eleanor Sharpston beim Gericht – Probleme bei der Beendigung des Mandats der britischen Generalanwältin Eleanor Sharpston – Probleme bei Erhebung einer Beschwerde an den EGMR durch GA Sharpston – Urteile des Gerichtshofs in den Rs. C-684/20 P und C-685/20 P vom 16. Juni 2021 (ECLI:EU:C:2021:485 bzw. 486) – „Corona“-bedingte Änderungen – Änderung der VerfO des Gerichtshofs am 1. Dezember 2019

Sachverzeichnis

– Einführung von Telearbeit durch den Gerichtshof (ab 16. März 2020) – Neufassung der „Praktischen Anweisungen für die Parteien“ – Ernennung der Richter durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen – und nach Anhörung eines „Qualifikationsausschusses“ (Art. 255 AEUV) – Generalanwälte (GA) – Anzahl der GA (11) – Ernennung durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen – Erstellung (nicht-bindender) begründeter Schlussanträge – Urteile des Gerichtshofs: Finanzielle Sanktionen bei Nichterfüllung? (Nr. 25) – Pauschalbeträge – Zwangsgeld – Zusammensetzung des „Gerichtshofs der EU“ – Der „Gerichtshof“ (samt GA) – Das „Gericht“ (EuG) (seit 1989) besteht aus 54 Richtern – Das „Gericht für den öffentlichen Dienst“ (GöD) (von 2005 bis 2016 tätig) Gibraltar (Teil I, Kap. 13.3.1.) – Aufnahme in den „Schengen-Raum“ – Grenzkontrolle durch FRONTEX – Protokoll zu Gibraltar im Austrittsabkommen „Goldene Pässe“/„Goldene Visa“ (Nr. 35) – Bericht der Kommission über Staatsbürgerschaftsregelungen und Aufenthaltsregelungen für Investoren in der EU vom 23. Januar 2019 – Betroffene Staaten: Bulgarien, Rumä­ nien, Malta, Zypern, Montenegro – „citizenship by investment“ (CBI) – Erlangung einer Staatsbürgerschaft – Europarechtliche Aspekte – Staatsrechtliche Aspekte – Völkerrechtliche Aspekte – Entschließung des EP vom 16. Januar 2014 zum Verkauf der Unionsbürgerschaft

– „Goldene Visa“ als Vorstufe zur Staatsbürgerschaft – Verkauf von Aufenthaltsberechtigungen („Goldene Visa“) – Verkauf von Staatsbürgerschaften („Goldene Pässe“) – Verletzung der europarechtlichen Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) und der Integrität des Status der Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) – Verletzung des „genuine link“-Krite­ riums des Völkerrechts – Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gegen Zypern und Malta „Gold-Plating“ (Nrn. 2, 5) – Begriff „Vergolden“ – bei Umsetzung von Richtlinien – effet utile-Grundsatz – Sperrwirkung – Verschlechterungsverbot – idealtypische Szenarien – konkrete Fälle in der österreichischen Rechtsordnung – Rechtsbereinigung – Deregulierung – Forschungsprojekt der WKO Steiermark und des Instituts für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft/ Univ. Graz „Guillotine-Klausel“ (Nr. 36) „hard Brexit“ (Teil I, Kap. 14) – Lugano-Übereinkommen (2007) – Veto der EU gegen einen Beitritt des UK zum „Lugano-Abkommen“ INSTEX (Nrn. 6, 19) – Aufkündigung der Wiener Nuklearvereinbarung (2015) durch die USA – „Blocking-Verordnung“ der EU (1996) gegen die US-Sanktionen gegen den Iran – Deutschland, Frankreich und das UK schaffen „Tauschbörse“ – INSTEX: Versuch, die Übermacht des Dollars im Erdölhandel zu verringern – INSTEX: Zweckgesellschaft der EU zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran

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Iran – „Blocking-VO“ der EU (Nr. 6) – INSTEX (Nrn. 6, 19) – US-Sanktionen gegen den Iran „Karfreitag-Feiertagsregelung“ (Nrn. 21, 22) – Auswirkungen auf die österreichische Rechtsordnung – Feiertagsregelung im Arbeitsruhegesetz (1983) – Angehörige der Evangelischen Kirche (AB und HB) – Angehörige der Altkatholischen Kirche – Angehörige der Evangelisch-Methodistischen Kirche – Gerichtshof: unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Religion (Rs. C-193/17) – Kritik an der „persönlichen Feiertagsregelung“ – Offene Fragen – Gesetzlicher Eingriff in Kollektivverträge: verfassungswidrig? – Konsequenzen des Urteils des Gerichtshofs in der Rs. C-193/17 für den Kläger Markus Achatzi – „Neue Karfreitagsregelung“ und öffentlicher Dienst – Parlamentarischer „Schnellschuss“: Umdeutung des Karfreitags als „halber Feiertag“ zum „persönlichen Feiertag“ nach eigener Wahl für alle – Verhältnis zum jüdischen „Jom Kippur“ und zum evangelischen Reformationstag – Verstoß gegen Art. 21 EU-Grundrechte-Charta Kövesi, Laura Codruta (Nr. 14) – Ernennung durch EP und Rat am 16. Oktober 2019 – Europäische Generalstaatsanwältin „Krypto-Währungen“ (Nrn. 38, 39, 40) – Anlagebetrug mit „Krypto-Währungen“ – Bit-Gold (1998) – Bitcoin (2008) – Blockchain – Crypto-Coins als Zahlungsmittel?

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– Digitale Zentralbank-Währungen (CBDC) – Digitaler Yuan – Elektronisches Geld („E-Geld“) – Ether (2013) – „Fiat-Geld“: Formen, Funktionen, Eigenschaften – Formen von „Krypto-Währungen“ – bidirektional konvertible – inkonvertible – unidirektional konvertible – Funktionen von „Krypto-Währungen“ – Gesamtbestand an marktgängigen „Krypto-Währungen“ (2021): 8.400 – „Krypto-Börsen“ – „Krypto-Rubel“ – Lösegeld für Hacker (Ransomware) – „Schürfen“ (mining) von Krypto-Währungen – Großer Energie-Aufwand, im TeraWatt–Bereich – Großer Kohlendioxid-Ausstoß – Staatliche Kryptowährungen (Nr. 33) – Steuerrechtliche Fragen – Bilanzierung – Versteuerung – „Virtuelle Währungen“ – Definition durch EBA – Definition durch EU – Definition durch EZB – Definition in Deutschland – Definition in Österreich – Volatilität – Wechselwirkung zwischen „Fiat“- und „Krypto-Währungen“ LIBOR (Nr. 37) – „City of London“ verliert ihren „EUPass“ – EU-Benchmark-Verordnung (2016) – EURIBOR – Konsequenzen des Brexit für den ­LIBOR – LIBOR (London Interbank Offered Rate): Zinssatz für Londoner Interbankengeschäfte in fünf Währungen (US-$, Euro, Pfund Sterling, Yen, Schweizer Franken) – LIBOR: Abschaffung mit Dezember 2021

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– Libor-Referenzwert – Nachfolger von LIBOR und EURIBOR: SONIA, SOFR, SARON und TONAR, sowie EONIA, ESTER LIBRA (Nr. 38) – Ankündigung von Mark Zuckerberg, dass Facebook (2,5 Mrd. Nutzer) ein Zahlungssystem namens LIBRA einführen werde (Juni 2019) – Ansuchen der LIBRA-Association bei der Schweizer FINMA um Verleihung des Status eines Zahlungssystems – Dienstleister in Bezug auf virtuelle Währungen: Registrierungspflicht bei der Finanzmarktaufsicht (FMA) – E-Geld–Richtlinie (EMD2) (2009) – „EU-Blockchain - Beobachtungsstelle“ und „Blockchain-Forum“ – Entwurf eines „Gesetzes über digitale Dienste“ (2020) – Entwurf eines „Gesetzes über digitale Märkte“ (2020) – Europäische Kommission: FinTechAktionsplan (2018) – „Fiat“-Währungen: staatlich begebene Währungen – „Krypto-Währungen“ (Bitcoin, Ether uam) (Nr. 39) – LIBRA als „Blockchain“ – LIBRA Association: Niederlassung in Genf – Markets in Financial Instruments Directive (MIFID II) (2014) – Stable-Coin – Überweisung von Rimessen – Umbenennung in DIEM (Nr. 39) – Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über Märkte für Kryptowerte (2019) – Virtuelle Währung in Österreich: § 2 Ziff. 21 Finanzmarkt-Geldwäschegesetz (2016) – Von LIBRA zu DIEM: Abkoppelung von Facebook – Wallet von LIBRA: Calibra – Umbenennung in Novi Lugano-Abkommen (2007) (Teil I, Kap. 14) – Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländi-

scher Urteile in Zivil- und Handelssachen – Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen (2005) – „hard Brexit“ – Veto der EU gegen Beitritt des UK zum Lugano-Abkommen Mazedonien (Nr. 11) – Namensstreit mit nordgriechischer Region „Makedonien“ – Umbenennung in „Nord-Mazedonien“ MERCOSUR (Nrn. 27, 28) – „Demokratie-Gebot“ im MERCOSUR – Einberufung des argentinischen Botschafters in Wien, Juan Carlos Kreckler, im Zusammenhang mit den „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) – Protokoll von Ushuaia I (1998) – Protokoll von Ushuaia II (2011) – Freihandelsabkommen MERCOSUR – EFTA – Beachtung des Pariser Klimaschutzübereinkommens (2015) – Einsetzung eines Schiedsgerichts – Freihandelsabkommen MERCOSUR – EU – Assoziationsabkommen gem. Art. 217 AEUV – „gemischtes Abkommen“ – Liberalisierungseffekte des Abkommens – „Pakt von Leticia zum Schutz von Amazonien“ (2019) – Veto Österreichs gegen den Abschluss des Abkommens – Aufforderung des „EU-Unterausschusses des Nationalrates“ an den zuständigen Bundesminister, den Handelsteil des Abkommens nicht zu ratifizieren (Art. 23e Abs. 3 B-VG) – Erstes Veto aller EU-Mitgliedstaaten – Vorläufer: Interregionales Rahmenabkommen EG – MERCOSUR (1995) – Weltweit größte Freihandelszone

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– Widerstand gegen Abschluss wegen Brandrodungen im tropischen Regenwald und „Überschwemmung“ europäischer Märkte mit brasilianischem „Billigfleisch“ – MERCOSUR (Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) als bloße Freihandelszone – MERCOSUR: fünftgrößter Wirtschaftsraum außerhalb der EU MIFID I, II und III (Teil I, Kap. 6.3.) (Nr. 40) Migrations-Agenda (Nr. 7) – „Europäische Migrationsagenda“ (2015) der Europäischen Kommission – „Flüchtlinge“ versus „Migranten“ – „Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration“ der UN (2018) – Migration als globales Phänomen Mönche als Rechtsanwälte? (Nr. 17) – Eintragung in die Rechtsanwaltsliste? – Mönch Monachos Eirinaios konnte in die griechische Rechtsanwaltsliste nicht eingetragen werden – Mönch Monachos Eirinaios wird in die zypriotische Rechtsanwaltsliste eingetragen – Übertragung von zypriotischer in griechische Liste? – Anwendbares Recht – Griechisches Recht – Unionsrechtliche Bestimmungen – Urteil des Gerichtshofes in der Rs. C-431/17 vom 7. Mai 2019 Montenegro (Nr. 2) – EU-Beitrittskandidat seit Dezember 2010 – Verkauf „Goldener Pässe“ und „Goldener Visa“ „ne bis in idem“ (Nr. 3) – im Europarecht – im Staatsrecht – im Strafrecht – im Völkerrecht – in den Urteilen des EuGH – in der Judikatur des EGMR – Kumulierungsmöglichkeit strafrechtlicher und verwaltungs(straf)rechtlicher Sanktionen

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– Problem in Österreich wegen „Verwaltungs(straf)recht“ – Verbot der Doppelbestrafung Nordirland (Teil I, Kap. 9, Kap. 13.2.3) – „Karfreitagsabkommen“ von Belfast vom 10. April 1998 – Nordirland-Protokoll zum Austrittsabkommen des UK aus der EU – Brexit: Irisch/nordirische Grenze wird von einer Binnen- zu einer Außengrenze – Britische Manipulationen („Binnenmarktgesetz“) (Teil I. Kap. 9.1.) Nordische Zusammenarbeit (Nr. 31) – Betonung der „skandinavischen Identität“ – „Helsinki-Vertrag“ vom 23. März 1962 – Nordische Passunion (1954) – Nordischer Ministerrat (1971) – intergouvernementale Kooperation – Mitgliedstaaten: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden (samt Ålandinseln, Färöer und Grönland) – Tagungen in elf Formationen – Nordischer Rat (1952) – Internationale Organisation – Interparlamentarische Kooperation – Mitgliedstaaten: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden (samt Ålandinseln, Färöer und Grönland) – Westnordischer Rat (1985) – Interparlamentarische Kooperation – Mitgliedstaaten: Grönland, Island, Färöer – Verhältnis der nordischen zur europäischen Integration – Verhältnis des „Nordischen Rates“ zum „Nordischen Ministerrat“ – Zusammenarbeit zwischen dem „Nordischen Rat“ und dem „Nordischen Ministerrat“ „Nord-Mazedonien“ (Nr. 11) – Jugoslawische Teilrepublik „Mazedo­ nien“ – Namensstreit mit Griechenland – neuer Name für FYROM – „Prespa-Abkommen“ (2018) – „Republik Mazedonien“

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– Westbalkan-Strategie der Kommission (2018) Österreich (Nrn. 4, 5, 23, 27, 28, 29, 30) – „Europäische Stelle für Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC) (Nr. 23) – Konkrete Fälle von „Gold Plating“ (Nr. 5) – Österreich als „atomfreies Land“ (Nr. 29) – Atomhaftungsgesetz (1999) – Atomsperrgesetz (1978) – BVG für ein atomfreies Österreich (1999) – Negative Volksabstimmung gegen das AKW Zwentendorf vom 5. November 1978 – „Präsidentschaft“ in der EU (Nr. 4) – Reaktion Österreichs auf grenznahe Atomkraftwerke (Nr. 29) – Atomkraftwerke in den MOEL (Paks I und Paks II, Temelin, Bohunice, Dukovany, Mochovce, Krško) – Atomkraftwerke in der Schweiz (Beznau 1 und 2, Leibstadt, Gösgen, Mühleberg) (Nr. 29) – „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) (Nrn. 23, 27, 28, 30) – Veto gegen den Abschluss des Freihandelsabkommens MERCOSUR-EU (Nr. 28) Polen (Nrn. 9, 10) – erstmalige Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 Abs. 1 EUV durch die Europäische Kommission – „kollusives“ Einverständnis zwischen Polen und Ungarn zur Behinderung des Sanktionsschrittes gem. Art. 7 Abs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeitsdefizite – Scheitert die Vollstreckung eines „Europäischen Haftbefehls“ wegen „systemischer“ Mängel im Justizsystem? „Präsidentschaft“ in der EU (Nr. 4) – Begriff und Funktion – dreimalige Präsidentschaft Österreichs – Österreichische „EU-Präsidentschaft“ (2018) – inhaltliche Vorgaben

– Mitwirkung der zehn Rats-Forma­ tionen – Sieben zentrale Themenstellungen – Vorbereitungskurse für die Beamtenschaft: Diplomatische Akademie, Verwaltungsakademie des Bundes – „Trio“-Präsidentschaft – Vorsitz im Rat (Art. 16 Abs. 9 EUV) „Rauchlose Tabakerzeugnisse“ (Nr. 13) – Kautabak, Lutschtabak, Schnupftabak, SNUS – erlaubter Kautabak – SNUS als schwedisches Kulturgut – Verbotener Lutschtabak SNUS – Rücktritt von Kommissar John Dalli wegen Bestechungsvorwurf – Amtsenthebung gem. Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 EUV – Druck von Kommissionspräsident José Barroso – „freiwilliger“ Rücktritt Dalli’s – Tabak-Richtlinie 2014/40/EU verbietet Inverkehrbringen von „Tabak zum oralen Gebrauch“ Rechtsstaatsprinzip (Nr. 16) – Aktuelle Gefährdungen in der EU und ihren Mitgliedstaaten – Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland – Informationszentrum „Forum Recht“ in Karlsruhe – Forum, Ausstellungsraum, Virtueller Raum – Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Österreich – Indikatoren für die Messbarkeit der Rechtsstaatlichkeit – Studie des ÖRAK: „Fieberkurve des Rechtsstaats“ (2016/2018) – „Kopenhagen-Paradoxon“ – Sanktionsverfahren gegen Polen und Ungarn gem. Art. 7 Abs. 1 EUV (Nrn. 9, 10) Sanktionen, im Bereich der GASP (Nr. 3) – „restriktive Maßnahmen“ gegen Drittstaaten (Art. 215 Abs. 1 AEUV) – „restriktive Maßnahmen“ gegen natürliche und juristische Personen, Grup-

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pierungen oder nichtstaatliche Einheiten (Art. 215 Abs. 2 AEUV) – wegen Cyber-Angriffen (VO (EU) 2019/796 des Rates) (Nr. 32) „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) (Nr. 30) – „Bericht der drei Weisen“ vom September 2000 – Reaktion des MERCOSUR (Nrn. 27, 28) – Rechtsnatur der „Sanktionen der Vierzehn“ – Urheber der Sanktionen Sanktionsverfahren, gem. Art. 7 AEUV (Nrn. 9, 10) – „Frühwarnsystem“ (Art. 7 Abs. 1 EUV) – erstmalige Einleitung gegen Polen (2017) – Vorbild: „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) (Nr. 30) – Einleitung gegen Ungarn – „illiberale Staaten“ – „reziprokes Veto“ durch „kollusives“ Einverständnis Ungarns und Polens – „Sargentini-Entwurf“ – Systemische Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz – und Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) – und Vollstreckung „Europäischer Haftbefehle“ – „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ Schengen (Nrn. 3, 31) – Einbeziehung Gibraltars in den „Schengen-Raum“ (Teil I, Kap. 13.3.1.) – Schengen-Abkommen (1985) – Schengener Durchführungsabkommen (1990) – Schengener Informationssystem (SIS) (Nr. 4) Schweiz (Nrn. 29, 36, 40) – Atomkraftwerke: Beznau 1 und 2, Leibstadt, Gösgen, Mühleberg (Nr. 29) – Entsorgungs- und Endlagerprobleme des Atommülls – Kernenergiepolitische Debatte in der Schweiz – Verbot des Baues neuer AKW durch das Parlament (2011)

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– Verlängerung der Betriebsdauer bestehender AKW durch das ENSI – Begrenzungsinitiative (Nr. 36) – „bilateraler Weg“ – „Institutionelles Rahmenabkommen“ (InstA) – Beendigung der Vertragsverhandlungen durch Schweizer Bundesrat am 26. Mai 2021 – drei sensible Materien: staatliche Beihilfen, Lohnschutz und Übernahme der Unionsbürger-Richtlinie – Crypto Valley (Nr. 40) – BG zur Anpassung des Bundesrechts an Entwicklungen der Technik verteilter elektronischer Register (DLTGesetz) (2020) – Finanzdienstleistungsgesetz (FIDLEG) (2018) – Finanzinstitutsgesetz (FINIG) (2018) – Lizenzvergabe durch Schweizer FINMA an drei Unternehmen – Schweiz (960 Unternehmen): weltweit führende Niederlassungen von „Krypto-Unternehmen“ – Überfremdung Selmayr, Martin (Nr. 26) – Architekt des „Spitzenkandidatensystems“ (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 EUV) – Generalsekretär der Europäischen Kommission – Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – „mächtigster Beamter“ Europas – „Monster at the Berlaymont“ – Persönliches Profil – Vertreter der Europäischen Kommis­ sion in Österreich „Spitzenkandidaten-System“ (Nr. 30) Staatliche „Krypto-Währungen“ (Nrn. 33, 39) – El Salvador führte im Juni 2021 Bitcoin als amtliche Währung ein – „Petro“ und „Petro oro“ als erste Paral­lelwährungen zur Landeswährung Bolívar in Venezuela (2018) – Aufsichtsbehörde (SUNACRIP)

Sachverzeichnis

– der „Bolívar Fuerte“ wurde am 20. August 2018 durch den „Bolívar Soberano“ ersetzt, der an den ­PETRO gebunden ist – die Verfassungsgebende Versammlung Venezuelas stimmte am 4. April 2018 der Einführung des PETRO zu – PETRO – Preis des PETRO: ein Barrel Rohöl (159 l) im Wert von 60 US-$ – Untypische Kryptowährung, da durch die Regierung begeben und reguliert – PETRO oro – Mit Gold abgesicherte Variante des PETRO – Scheitern der Kryptowährungen ­PETRO und PETRO oro Supreme-Court (USA), Richterbestellung (Nr. 8) – „judicial activism“ – „judicial behavior“ – Forschung – „judicial dialogue“ – „judicial restraint“ – Nominierung eines konservativen Höchstrichters durch Präsident Trump – Rechtssoziologische Erkenntnisse – Unterschiede zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem System Unbemannte Luftfahrzeuge (ULF) (Nr. 1) – Drohnen als „dual use“-Güter – Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) – Gefahr für den zivilen Flugverkehr – mitgliedstaatliche Regelung – im deutschen Recht – im österreichischen Recht – unionsrechtliche Reglementierung Ungarn (Nrn. 9, 23) – Einleitung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 Abs. 1 EUV durch Europäisches Parlament (Nr. 9) – „illiberaler Staat“ (Nr. 9) – „kollusives“ Einverständnis zwischen Ungarn und Polen zur Behinderung des Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 Abs. 2 EUV – Modell Österreich? (Nr. 23)

Urteile, des Gerichtshofs der EU (Nr. 25) – Konsequenzen der Nichtbefolgung – Pauschalbeträge und Zwangsgeld Venedig-Kommission, des Europarates (Nr. 10) Vereinigtes Königreich (UK) (Teil I) – Abkommen mit EURATOM über friedliche Nutzung der Kernenergie (2020) – Atomkraftwerke (Hinkley Point C) – Austritt aus EU (Nr. 15) – Austritt aus EURATOM – Austrittsabkommen samt „Politischer Erklärung“ – Austrittserklärung vom 29. März 2017 – Beitritt zur EWG (1973) – „Briten-Rabatt“ (Thatcher) – Handels- und Kooperationsabkommen mit EU – Abschluß („EU-only“-Abkommen) – Inhalt – Umsetzung – „opt-out“-Zusagen (2016) – Präferenzbeziehungen mit der EU nach Austritt – EFTA-Modell – EWR-Modell – Kanadisches Modell (CETA) – Schweizer Modell – Türkisches Modell – WTO-Option – Veto de Gaulles zum Beitritt zur EWG (1963/1967) – Volksabstimmung über Verbleib in der EWG (1975) – Volksbefragung über Austritt aus EU (2016) – Zusammensetzung: Großbritannien, Wales, Schottland und Nordirland Vertrag von Aachen (2019) (Nr. 18) – Auswirkung auf europäische Integra­ tion – Ergänzung des „Élysée-Vertrags“ (1963) – intensive politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich „Vor Artikel 7 EUV-Verfahren“ (Nrn. 9, 10) Virtuelle Währungen (Nrn. 38, 39)

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– Bedeutung für herkömmliches Geldund Finanzsystem – oder „Krypto“-Währungen „Weisenrat“ der Europäischen Volkspartei (EVP) für Ungarn (2019) (Nr. 23) – Auswüchse des „illiberalen“ Staates Ungarn und deren Sanktionierung – „Modell Österreich“ für die Einsetzung eines „Weisenrates“? – „Sanktionen der Vierzehn“ gegen Österreich (2000) (Nr. 30) – „Weisenbericht“ zur Aufhebung der Sanktionen vom 12. September 2000 – Suspendierung der Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei FIDESZ in der EVP im EP am 20. März 2019 – Unterschiede in den Sanktionen gegen Österreich und Ungarn Westbalkanstrategie der EU (Nr. 11) – Agenda von Thessaloniki (2003) – Behinderung durch Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland – und Beitrittsambitionen der Westbalkanstaaten Whistleblower Julian Assange (Nr. 24)

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– Auslieferung an die britische Justiz – Auslieferungsersuchen Schwedens und der USA – Flucht in die ecuadorianische Botschaft in London – humanitäres Bleiberecht – „politisches“ oder „diplomatisches“ Asyl? – freies Geleit – Gründung von WikiLeaks (2006) – Schutz von Whistleblowern, Richtlinien-Vorschlag der Kommission (2018) – Vergleich der Situation der beiden bekanntesten Whistleblower Julian Assange und Edward Snowden – Secret Internet Protocol Network (SIPRINet) – Whistleblower und/oder Verbrecher? Wirtschaftliche Kooperation zwischen europäischen und lateinamerikanischen Integrationszonen (Nrn. 27, 28) – Freihandelsabkommen MERCOSUREFTA – Freihandelsabkommen MERCOSUREU