Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess: Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte 3830520174, 9783830520177


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Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess: Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte
 3830520174, 9783830520177

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Rüdiger Deckers/GÜllter Köhnken (Hrsg.)

Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte

2. Auflage

Iiinft I

BWV· BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Rüdiger Deckers/Günter Köhnken (Hrsg.)

Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte

2. Auflage

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN

978-3-8305-2017-7

© 2014 BWV· BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG GmbH, Markgrafenstraße 12-14, 10969 Berlin E-Mail: [email protected], Internet: http://www.bwv-verlag.de Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photornechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis Rüdiger Deckers Vorwort zur zweiten Auflage ................................................................................. .IX Rüdiger Deckers Vorwort zur ersten Auflage* ............................... ................................... ............... xv

Günter Kähnken, Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten' ............................................ . 1 RalfEschelbach Zu den Voraussetzungen, unter denen es zur Sachaufklärung erforderlich ist, über eine Zeugenaussage ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen ...... 43

Rainer Drees Erforderlichkeit von Glaubhaftigkeitsbegutachtung aus tatrichterlicher Sicht ...... 83

Heinz Offe Zum Stellenwert der Aussagernotivation in aussagepsychologischen

Gutachten ............................................................................................................... 87

Wolfgang Pfister Die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung' ..................................................... ................. 99 Rüdiger Deckers Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage durch das Gericht im Lichte der neueren BG H -Rechtsprechung ..................................................... 119 Rüdiger Deckers Glaubhaftigkeitsprüfung ................................... . ................................. . ............. 131 Thomas Fischer Antrag und gerichtliche Bescheidung auf Einholung eines alternativen psychiatrischen und/oder psychologischen Gutachtens ....................................... 153

Die mit Sternchen gekeIlllZeiclmeten Beiträge sind unveränderte Übernahmen aus der ersten

Auflage, die 2007 unter dem Titel ,,Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess" erschien.

VI

Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Deckers Korreferat: Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, Antrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens ..................... 163 Beate Daber Akteneinsicht der Nebenklage in der Fallkonstellation "Aussage gegen Aussage" aus aussagepsychologischer Perspektive ............................................. 169 Jesko Baumhöfener Akteneinsicht der Nebenklage in der Fallkonstellation "Aussage gegen Aussage" aus rechtlicher Perspektive ................................................................... 183 Josef A. Rohmann Trauma und Folgen - Erkenntnisse, verbreitete Ansichten und

rechtspsychologische Bedeutung ......................................................................... 193

Rüdiger Deckers Erfahrungen der Verteidigung mit auto- und fremdsuggerierten Belastungsaussagen ............................................................................................. 243 Beate Daber Neue Entwicklungen in der Aussagepsychologie ................................................ 259 Nahlah Saimeh Können psychische Erkrankungen die Aussagetüchtigkeit bei Sexualdelikten beeinflussen?' .............................................................................. 267 Ursula Oppermann Aussagetüchtigkeit - die unterschätzte Fragestellung ......................................... 295 Rebecca Mi/ne / Ray Bull Befragung von Opferzeugen unter besonderer Berücksichtigung von

Kindern und Personen mit intellektuellen Defiziten' ........................................... 301 Susanne Folkers Ermittlungsvernehmungen bei der Staatsanwaltschaft' ....................................... 323 Susanne Folkers Fehlerquellen bei Zeugenvernehmungen' .......................................................... 337

Charlolte Mohrbach Methoden der Ermittlungsvernehmung und des aussagepsychologischen Explorationsgesprächs' ........................................................................................ 347

Inhaltsverzeichnis

VII

Barbara Blum Suggestive Prozesse bei der Zeugenbetreuung und -befragung' .......................... 353 Axel Wendler Die Vernehmung der Auskunftsperson in der Hauptverhandlung aus richterlicher Sicht' ......................................................................................... 379 Jenny Lederer "Ja, aber dann habe ich doch eine nigelnagelneue Aussage gemacht.. ". Folgen falscher Aussagen nach Einflüssen Dritter auf deren Inhalt aus Verteidigersicht .................................................................................................... 405 Knut-H enning Staake Die Gestaltung der Vernehmung einer Auskunftsperson in der Hauptverhandlung durch den Iatrichter' ............................................................ 419 Christo! Püschel Zur Vernehmung der Auskunftsperson in der Hauptverhandlung aus Sicht der Verteidigung' ................................................................................. 429 Christo! Püschel Familiemechtliche und strafrechtliche Implikationen beim Vorwurf sexuellen Missbrauchs: Zivilrechtliehe Regulierung - Gutachten - Strategie' ... 435 Jose! A. Rohmann Schnittstellen von aussagepsychologischer Begutachtung in Strafsachen und zivil- bzw. familiemechtlichen Aspekten - Brennpunkte für ein Manifestieren adäquaten Verständnisses und Vorgehens sowie von

Irrtüm em oder F ehlem ......................................................................................... 451 Klaus Detter Zu den rechtlichen Voraussetzungen von Prognosegutachten ............................. 473 Klaus Michael Beier Sexuelle Präferenz und (Un-)Vemunft' ................................................................ 503 Autorenverzeichnis ....................................... ..

......... 535

Vorwort zur zweiten Auflage 1)

Boetlicher hat in der Zeitschrift Strafverteidiger (2009, 220, 221) über die Erstauflage geschrieben: "Der Sammelband kann als Fundgrube aller wichtigen Problemfelder im Feld der Aussagepsychologie bewertet und empfohlen werden, in dem der Anfänger ebenso viel Material finden kann wie der Fortgeschrittene, der seinen eigenen Fundus anreichern will. "

Es ist zu bedauern, dass das Buch so rasch vergriffen war, vor allem der Auf-

satz von Köhnken zu den "Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten" findet sich als Literaturhinweis in vielen ebendieser Gutachten. Für das

MAH-Strafverteidigung (2014, 2406 ff) hat Köhnken unter dem Titel "Potenzielle Ursachen unrichtiger Aussagen" die Aufgabenfelder des aussagepsychologischen Gutachtens auf den aktuellen Stand gebracht Zwischenzeitlich schreiben wir das 15. Jahr nach der Grundsatzentscheidung des BGH zur aussagepsychologischen Begutachtung (BGHSt 45, 164) und verfolgen mit Spannung die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur BeweiswÜfdigung bei der Konstellation "Aussage gegen Aussage", wie sie

Pfister unter dem Titel "Was ist seit BGHSt 45, 164 geschehen?" (FPPK, 2008, 3 ff.) fortgeschrieben hat Das Referat von Brause, "Glaubhaftigkeitsprüfung und -bewertung einer Aussage im Spiegel der höchstrichterlichen Rechtsprechung", das dieser auf der Tagung des Arbeitskreises Psychologie im Strafverfahren am 03. November 2012 in Düsseldorf gehalten hat, ist - mit einigen Modifikationen - in der NStZ 2013, 129 ff abgedruckt Es knüpft - ähnlich wie die Beiträge von Schmandt (StraFo 2010, 446) und Deckers (StraFo 2010, 372) - an die Aufsätze von Pfister an. Brause zeigt darin deutlich neue Schwerpunkte in der Betrachtung und Prüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung auf, z. B.: -

"Neuere Fälle übergangener Falschbelastungsmotive" (S. 133)

-

"nicht erörterte naheliegende Alternativhandlung" (S. 134)

-

"Traumatisierung und Aussagequalität" (S. 135)

-

"Aussagetüchtigkeit und Borderline-Störung" (S. 135).

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Rüdiger Deckers

Die Aufsätze von Deckers, "Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage durch das Gericht im Lichte der neueren BGH-Rechtsprechung" und "Glaubhaftigkeitsprüfung", befassen sich mit den aktuellen Entscheidungen zu diesem Thema (Stand April 2014) und den neueren Entwicklungen in der Aussagepsychologie. 2)

Der Beitrag von Eschelbach zu den Voraussetzungen zur Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens setzt sich mit der Fragestellung auseinander, ob die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Gutachters im Strafprozess eine - seltene - Ausnahme bleibt oder - aus den verschiedensten Gründen-

häufiger praktiziert werden soll, weil die "ureigene Aufgabe des Tatrichters" (vgl. BVerfG NJW 2004, 209, 211) im Einzelfall als besonders schwer lösbar erscheint.

Fischer hatte zum Thema "Aussagewahrheit und Glaubhaftigkeitsbegutachtung" die Fragestellung mit restriktiver Grundeinstellung (vgl. NStZ 1994, 1) auf der Tagung des AK-Psychologie im Strafverfahren vom 03. November 2007 beleuchtet Der Aufsatz ist in der Festschrift für Widmaier (2008, 191 ff) abgedruckt Fischer formuliert: "Das Merkmal der ,Besonderheit', dessen Vorliegen eine Begutachtung erforderlich machen kann, dar/nicht als quantitatives Kriterium missverstanden werden Fälle wie ,besonders schwierige Beweislage' oder ,Aussage gegen Aussage' gebieten als solche keine Glaubhafligkeitsbegutachtung Als mögliche Quelle von Besonderheiten in dem hier interessierenden Sinn sollten vielmehr nur die Voraussetzungen für die Anwendung einer systematischen, kriterien-orientierten Aussageanalyse angesehen werden, also Gegebenheiten, aufgrund derer die Feststellung und Beurteilung der nach dem Stand derAussagepsychologie in der Regel anzuwendenden Glaubhaftigkeitskriterien zweifelhaft ist. " (FS Widmaier, 222) Fischer nennt a. a. o. ungewöhnliche individuelle Dispositionen, Persönlichkeitsstrukturen oder psychische Erkrankungen, also individuelle persönliche Voraussetzungen der Aussageperson, die vorn regelmäßig zugänglichen "Nor-

malen" abweichen und auch unter dem Begriff der Aussagetüchtigkeit diskutiert werden.

Drees behandelt solche Aspekte in seinem Beitrag aus der Sicht des Tatrichters.

Fischer hat auf der Tagung im Jahre 2011 zum Thema "Antrag und gerichtliche Bescheidung auf Einholung eines alternativen psychiatrischen und/oder

Vorwort zur zweiten Auflage

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psychologischen Gutachtens" referiert. Sein Beitrag ist in Vortragsform abgedruckt Fischer weist zu Recht auf die besonderen Anforderungen hin, die das Beweisantragsrecht der Verteidigung abverlangt, wenn sie ein weiteres Gutachten einzuholen begehrt Die Entscheidung des 2. Strafsenats - BGHSt 55, 5 (Amn. Eisenberg, JZ 2010, 471) - gibt solchen Anträgen, in denen sich die Verteidigung um substantielle Kritik des Ursprungsgutachtens bemuht, erhebliche Wirkkraft. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass der Senat den Beweisantrag besonders unter dem Aspekt der Erheblichkeit in den Blick nimmt, die vorgetragenen (Mangel-)Tatsachen also unter dem (strengen) Aspekt der Bedeutungslosigkeit zu prüfen sind. Deckers verweist in seinem Korreferat unter anderem auf zwei weitere Entscheidungen des 2. Strafsenats, die in diesem Kontext von Bedeutung sind (2 StR 246/03 ~ StV 2004,241; 2 StR 367/04 ~ StV 2005, 124; vgl. dazu auch SchrothlDeckers in: MAH-Strafverteidigung, Verteidigung in Sexualstrafverfahren, 1921 ff, u. Deckers in: Anwaltkommentar StGB, vor § 174, im Druck). Die Meinung von Fischer, der Sachverständige sei - auch wenn es um Sicherungsverwahrung oder Unterbringung gehe - nicht verpflichtet, ein vorbereitendes schriftliches Gutachten vorzulegen, ist heftig umstritten (so BGH St 54, 177; m. zust Amn. Peglau, JR 10, 302; Senge, KK-StPO 2013, § 82, Rn 3; Meyer/Goßner/Schmitt, StPO 2014, § 82, Rn 2; a. A Schäfer/Sander, Praxis des Strafverfahrens, 2000, Rn 1041; DeckerslHeusel, StV 2009,7; Deckers/ Schöch/Nedopil et al. , NStZ 2011, 69; Eisenberg, Beweisrecht der StFO, 2013, Rn 1582; Geipel, StraFo 2010, 273; Ziegert, StV 2011, 199). Zu Recht weist Fischer daraufhin, dass unabhängig von dieser Streitfrage das Urteil, das ohne die Grundlage eines vorbereitenden schriftlichen Gutachtens verfasst worden ist, auf Darstellungs- und Erörterungsmängel zu prüfen ist - was im entschiedenen Fall zur Aufhebung geführt hat

3)

Daber und Baumhöfener befassen sich in ihren Beiträgen mit der Problematik der Akteneinsicht der Nebenklage (§ 406 e StPO) und der daraus resultierenden Trübung des Beweiswerts der (einzigen) Belastungsaussage in der Konstellation "Aussage gegen Aussage" aus aussagepsychologischer und rechtlicher Sicht

4)

Die Prüfung der Aussagetüchtigkeit und mögliche sie einschränkende Faktoren behandeln die Beiträge von Saimeh und Oppermann. Auch Traumata können Einfluss sowohl auf die Aussagetüchtigkeit wie auch die Qualität der Aussage selbst haben.

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Rüdiger Deckers

5)

Die Fragestellung, die bereits Valbert in ihrem Aufsatz "Aussagen über Traumata" im Handbuch der Rechtspsychologie (StellerIValbert (Hrsg.), 2008, 342) aufgeworfen hat, ist im Beitrag von Rohmann, "Traumata und Folgen", sehr grundsätzlich und fundamental aufgearbeitet Die Auseinandersetzung zwischen der aussagepsychologischen Begutachtung einerseits und der "Traumatologie" andererseits - wie sie beispielhaft im Kachelrnann-Verfahren ausgetragen worden ist - wird durch Rohmanns Aufsatz auf eine sachliche Basis gestellt Vgl. dazu auch: Dressing/Faerster, Begutachtung der posttraumatischen Belastungsstörung, FPPK 2014, 26 ff

6)

Daber bezieht in ihrem Aufsatz zu "Neueren Entwicklungen in der Aussagepsychologie" Position zu den Herausforderungen, die die Veränderungen in der Praxis an die Aussagepsychologie stellen. Dabei wendet sie sich insbesondere den immer häufiger auftretenden Mischforrnen von autosuggestiv beeinflussten und mit Kontrafakten durchsetzten Aussagen zu (vgl. dazu das Interview von Steiler, in: Rückert, Umecht im Namen des Volkes, 2007).

7)

Offe befasst sich mit dem Sonderproblem der Motivanalyse in aussagepsychologischen Gutachten.

8)

Der Beitrag von Deckers zu den "Erfahrungen der Verteidigung mit auto- und frerndsuggerierten Belastungsaussagen" setzt sich mit Erinnerungen zu fraglichen, weit zurückliegenden Ereignissen auseinander. Das Phänomen der "false memories" hat Valbert bereits in ihrem Aufsatz "Sexueller MissbrauchWie Pseudoerinnerungen entstehen können" (Psychotherapie im Dialog, H. 1, 2014, 82 ff) behandelt

9)

Die Beiträge von Falkers, Mahrbach und Milne!llull befassen sich im Schwerpunkt mit Ermittlungsvernehmungen von Zeugen. Die Beiträge von Wendler, Elum, Staake, Püschel und Lederer nehmen die Vernehmung von Auskunftspersonen in der Hauptverhandlung in den Blick.

10) Püschel und Rahmann beleuchten die Schnittstellen von familiemechtlichen und strafrechtlichen Irnplikationen bei Missbrauchsvorwürfen aus juristischer und psychologischer Sicht.

11) Außerhalb des Buchthemas, aber von hoher praktischer Relevanz, liegen die Beiträge von Detter zu Prognosegutachten (Stand 2014) und Eeier zu sexuellen Präferenzen und ihre Beurteilung aus sexualwissenschaftlicher Sicht. 12) Der in der ersten Auflage abgedruckte Beitrag von Lichtenstein zum Thema "Die Ennittlungsvemehrnung aus polizeilicher Sicht" ist in dieser zweiten Auf-

Vorwort zur zweiten Auflage

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lage nicht mehr enthalten. Ergänzt wurde die Neuauflage um ein Autorenver-

zeichnis, das den jeweiligen fachlichen Hintergrund der VerfasserInnen der Beiträge beleuchtet 13) Es soll ferner hingewiesen werden auf die - in diesem Buch nicht abgedruckten - Beiträge von Schwenn, "Fehlurteile und Ihre Ursachen - die Wiederaufnahme im Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs" (StV 2010,705 ff) - basierend u. a. auf dem Referat auf der zehnten Veranstaltung des AK-Psychologie im Strafverfahren vom 07. November 2009 -, und Steiler, "Vier Jahrzehnte forensische Aussagepsychologie - Eine nicht nur persönliche Geschichte" (praxis der Rechtspsychologie, Heft 1, August 2013, 11 II) - basierend auf seinem Vortrag vom 03. Dezember 2012 im AK-Psychologie im Strafverfahren. 14) Berichtet sei noch, dass sich der AK-Psychologie im Strafverfahren auf seiner Jahrestagung am 06. November 2010 intensiv mit der Problematik des falschen Geständnisses befasst hat (vgL zum Thema: ValbertlBähm, Falsche Geständnisse, in: Valbert/Steller, Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, 253 ff). Leider liegen uns dazu keine Manuskripte vor, was insbesondere bezogen auf den

Beitrag von Gisli Gudjanssan bedauerlich ist Deshalb sei an dieser Stelle hingewiesen auf die Werke von Friedrichsen, "Im Zweifel gegen die Angeklagten. Der Fall Pascal - Geschichte eines Skandals", 2008; Dornstädt, "Der Richter und sein Opfer", 2012, und Rückert, "Umecht im Namen des Volkes", 2007.

Vorwort Mit dem vorliegenden Sammelband präsentiert der Arbeitskreis Psychologie im Strafverfahren ausgewählte Beiträge der 6. und 7. Jahrestagungen (2005 und 2006). Im Anschluss an die Grundsatzentscheidung zur aussagepsychologischen Begutachtung des 1. Strafsenats des BGH vom 30. Juli 1999 (BGHSt 45, 164 ff) hat sich dieser Arbeitskreis gebildet, um im interdisziplinären Forum über die Umsetzung und Weiterentwicklung der Qualitätssicherung von Gutachten und gerichtlichen Entscheidungen zur Glaubhaftigkeit einer Aussage zu diskutieren. Ein Beitrag von dem Vorsitzenden des 1. Strafsenats, Herrn Vorsitzenden Richter am BGH Armin Nack, aus der Eröffnungsveranstaltung des Arbeitskreises im Jahr 2000 ist bereits unter dem Titel "Der Zeugenbeweis aus aussagepsychologischer und juristischer Sicht" in StraFO 2001, 1, publiziert und in den Beiträgen desselben Autors zur "Revisibilität der Beweiswürdigung" (StV 2002, 510 und 558) vertieft worden. Von Anfang an ist es darum gegangen, die Wechselwirkung der Grundsatzentscheidung im Verhältnis von Qualität, Kommunikationsfähigkeit und Transparenz des aussagepsychologischen Gutachtens einerseits und der Berufungs-, Kontroll- und Entscheidungskornpetenz des Richters andererseits herauszustellen. Wenn die Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Aussage einer Auskunftsperson als "ureigene Aufgabe des Tatrichters" (vgl. dazu: Fischer, NStZ 1994, 1; BGH NStZ-RR 2006,241) angesehen wird, der aber durchaus in besonderen Fällen sich des aussagepsycholo-

gischen Sachverstandes vergewissern muss (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 242; MeyerGoßner 50. Aufl § 261 RN 4,) so liegt es nahe, dass sich die juristischen und die aussagepsychologischen Methoden der Glaubhaftigkeitsbeurteilung annähern. Auch

für den Richter, der kein aussagepsychologisches Gutachten zu einer Zeugenaussage einholt, gelten implizit die in der Grundsatzentscheidung entwickelten Prüfungsmaßstäbe (Meyer-Goßner a.a.O.). Die - zunächst in der Praxis vielfach kritisierte "Nullhypothese" spiegelt dabei die Unschuldsvennutung des Art. 6 Abs. 2 MRK wider Die Frage lautet: "Ist die Aussage des den Tatvorwurfbestreitenden Beschuldigten/Angeklagten widerlegt?" Das wäre der Fall, wenn gegengerichtete Hinweise keine andere Interpretation oder zumindest keine vernünftigen Zweifel zulassen, dass der/die Belastungszeuge/-zeugin mit seinen/ihren individuellen Möglichkeiten unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung möglicher Einflüsse Dritter die Aussage nicht oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht hätte erstatten können, ohne dass sie auf einern realen Erlebnishintergrund ba-

siert (vgl. dazu Eisenberg JR 2004, 358 ff, 364). Dabei ist zu berücksichtigen, dass

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Rüdiger Deckers

der Aussage des Zeugen gegenüber der Aussage des Angeklagten nicht schon deshalb mehr Gewicht zukomm~ weil sie der strafbewehrten Wahrheitspflicht unterliegt (BGH NStZ 2004, 635), es kommt auf inhaltliche und nicht auf formale (aussageanalytische) Prüfkriterien an (BGH StV 1997, 172). Qualitätssicherung innerhalb des jeweiligen Fachgebietes und fachübergreifender Dialog mit dem kompetenten Entscheidungsträger, der wiederum selbst der Instanzenkontrolle durch die höchstrichterliche Rechtsprechung unterlieg~ lassen auf Verbesserung und Weiterentwicklung hoffen, die bei dem äußerst anfälligen Beweismittel einer Zeugenaussage dringend vonnöten sind - (vg1. dazu: Boetticher, NJW Sonderheft für Gerhard Schäfer, 2002, S. 8 ff). Das Beispiel, Mindestanforderungen an die Qualität eines Sachverständigengutachtens zu formulieren, ist aufgegriffen worden. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Juristen, forensischen Psychiatern und Psychologen sowie Sexualwissenschaft-

lern hat Empfehlungen für "Mindestänforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten" (Boetticher et, a1. NStZ 2005, 57 ff; kritisch dazu: Eisenberg NStZ 2005, 304) und für "Mindestänforderungen für Prognosegutachten" (Boetticher et, a1. NStZ 2006, 537) erarbeitet und publiziert Dass damit nur die Grundlage für eine Verbesserung der Methode und Darstellung des Gutächtens und dessen Plausibilitätskontrolle durch die Verfahrensbeteiligten geschaffen ist, versteht sich von selbst Eine Richtigkeitsgewähr für das Gutächtenergebnis ist allein mit der Einhaltung dieser Mindestänforderungen nicht verbunden. Im Gegenteil: Heutzutage kommen nicht selten mangelhafte Gutachten im Mantel der "Mindestanforderungen" daher und suchen zu verbergen, dass sie nur den "alten

Wein in neue Schläuche" gefüllt haben. In diese Kategorie fällt auch der Einwand gegen die wissenschaftlichen und methodischen Errungenschaften der Aussagepsychologie, die aussagepsychologische Methodik müsse für Traumaopfer modifiziert werden (von Hinckeldey!Fischer, 2002, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung). Traumaerinnerungen seien häufig fragmentarisch und besäßen deshalb eine andere Aussagequalität als "nonnale" Erinnerungen.

Nicht selten treffen wir in Strafprozessen "Traumatologen" an, die ihre Glaubhaftigkeitsdiagnose - zirkulär - darauf stützen, dass der Ursprung von Belastungssymptornen (psychische Störung) ein traumatisches Ereignis sei, das mit dem untersu-

chungsgegenständlichen identisch ist Die Existenz posttraumatischer Belastungsstörungen wird als "Beweis" für die Realität des Übergriffserlebnis begriffen, eine in sich widersprüchliche, knappe, fragmentarische Aussage sei daher durchaus als erlebnisbasiert anzusehen. Quellen der Erinnerung seien "flash-backs", "Intrusionen", mit denen sich das Ereignis dem Traurnaopfer immer wieder vennittele (vgl. dazu:

Vorwort zur ersten Auflage

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Friedrichsen "So könnte es gewesen sein", Der Spiegel 49/2006, S. 62 f; Saimeh in diesem Band). Volbert (Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 140) hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Frage bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung nicht is~ ob eine fragmentarische, inkonsistente, in sich widersprüchliche Aussage mit bizarren Details auf einern tatsächlichen Erlebnis basieren kann, sondern ob es für die Aussa-

ge keine andere Erklärung gibt als einen tatsächlichen Erlebnisbezug. Unter anderem diesen Problemen widmet sich der Beitrag von Professor Dr. Köhnken zu den "Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten". Der Beitrag gibt dem Juristen, aber auch den Fachpsychologen über die Grundsatzentscheidung des BGH hinaus eine gute Basis, Fehler bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung aufzuspüren und auch, sie zu vermeiden. Zu Recht weist Köhnken auf die Problematik eigener Erhebungen des Sachverstandigen hin (vgL dazu BGHSt 45, 164, 174; LG Essen StV 2006,521 m. Anm. Nagler; AG Euskirchen StraFo 2006, 493; zur Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit: Eisenberg NStZ 2006, 368; paradigmatisch: LG Kiel NStZ 2007, 169 "Es ist rechtswidrig, einem Sachverstandigen weite Teile des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zur selbstandigen und ausschließlichen Bearbeitung zu überlassen. "). Der große Gewinn des interdisziplinären Dialogs liegt darin, dass er sich dem Ge-

genstand - Glaubhaftigkeitsbeurteilung einer Aussage - aus verschiedenen Fachrichtungen zuwendet.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat - unter dem Begriff der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261) - ein differenziertes Prüf- und Bewertungssystem entwickelt. Es bezieht sich auf die - in Sexualstrafverfahren vorherrschende - Kon-

stellation "Aussage gegen Aussage", verlangt regelmäßig eine Gesamtbetrachtung aller Umstände (vgL nur BGH StV 1990, 99), der Beweisstoff ist umfassend im Urteil darzulegen (vgL nur BGH StV 1993, 235), das Urteil darf sich nur auf objektive Grundlagen und nicht auf Vermutungen stützen (BGH NStZ-RR 2007, 87; 2003, 49) und Zeugenaussagen, die für diese Entscheidung von Bedeutung sind, dürfen nicht ausgeblendet werden (BGH StV 1994, 6). Zudem besteht eine erhöhte Aufklärungspflicht des Gerichts (BG H StV 2002, 350). Die Aussagen des einzigen Belastungszeugen zum Kemgeschehen müssen ein 11in-

destmaß an Detaillierung haben (vgL dazu: BGH StV 1999, 305; 2000, 123; 2004, 58; JR 2004,384), sie müssen konstant sein (BGH StV 1999, 136 u. 305), es bedarf einer eingehenden Aussageanalyse, wenn der Zeuge aus tatsächlichen Begegnungen

mit dem fraglichen Täter in der Lage is~ detailreich zu schildern, allerdings mit Details, die er genauso gut als tatsächlich erlebt wiedergeben könnte, wenn der Belaste-

Rüdiger Deckers

XVIII

te überhaupt nicht oder anders beteiligt war (BGH StV 2000, 243) oder er nur deshalb über originäres Wissen von Einzelheiten verfügt, weil er selbst der Haupttäter war (BGH StV 2006,683). Sowohl für die Fälle teilweiser Falschbelastung (BGHSt 44, 153 u. 256; NStZ 2000, 496; 2001,161; StV 2002, 470; 2003, 544; NStZ 2003,164; NStZ-RR 2004,87) als auch in den Fällen, in denen die Verteidigung den einzigen Belastungszeugen nicht hat befragen können (BGHSt 46,93; StV 2007,66) als auch beim Zeugnis vom Hörensagen (wenn der WllTIittelbare Tatzeuge nicht zur Verfügung steht, vgL nur BGH NStZ 2000, 265; NJW 2000,1661; NStZ 2000, 607) gilt, dass die Aussage externer Bestätigung bedarf (gewichtige, außerhalb der Aussage liegende Umstände), wenn eine Verurteilung auf sie gestützt werden soll. Einzelnen Entscheidungen des 1. (1 StR 499/04) und 2. (NStZ-RR 2003, 268) Strafsenats des BGH sind zum Teil wenig nachvollziehbare Einschränkungen bei der Annahme der Fallkonstellation "Aussage gegen Aussage" zu entnehmen. Die Entscheiung des 1. Strafsenats formuliert:

"Eine vom Fehlen sonstiger Erkenntnisse gekennzeichnete Konstellation "Aussage gegen Aussage" (BGH NStZ 2004, 635, 636) liegt nicht vor. Es gibt nämlich eine Reihe von Indizien, die die Kammer in die Würdigung der zentralen Aussage der Geschädigten einbeziehen konnte, wie ihre früheren Offenbarungen gegenüber Dritten, der psychische und physische Zustand der Geschädigten in den Tatzeiträumen und danach sowie die Selbstverletzungen. Dies sind objektive Umstände von Gewicht die die Kammer für die Richtigkeit der Darstellung des Opfers herangezogen hat. Gleichwohl hat sie die Prüfongskriterien aus der Entscheidung BGH St 45, 164 angewandt. Sie hat eine umfassende Beweiswürdigung vorgenommen. "

Bedenklich ist, dass Indizien, deren unmittelbarer Tatbezug fraglich ist, herangezogen werden, um das Vorliegen der besonderen Fallkonstellation "Aussage gegen Aussage" abzulehnen. So liegt es auch bei dem vom 2. Senat entschiedenen Fall, in dem ergänzend zur einzigen Belastungsaussage lediglich die Schwester der Zeugin "in Randbereichen" die Aussage "bestätigt"l

NStZ-RR 2003, 268 , 269.

Vorwort zur ersten Auflage

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Der Randbereich bezieht sich - im entschiedenen Fall - darauf, dass die Schwester eine Weile vor der Tat mehrfach vorn Angeklagten angerufen worden war und er sich nach der Rückkehr der Zeugin von einer Reise erkundigte und dass die Zeugin umnittelbar nach dem fraglichen Tatgeschehen ihrer Schwester davon berichtete und diese ihr zur Anzeige riet. Die Schwester der Zeugin ist also keine Tatzeugin, sie war auch nicht in der Nähe des Tatorts, sie ist - bezogen auf das umnittelbare Tatgeschehen - lediglich Zeugin vorn Hörensagen. Die Konstellation ,,Aussage gegen Aussage" ist durch deren Angaben nicht aufgehoben (vgl. zur Definition: Sander, StV 2000, 45, 46; BGH StV 2002, 469: "Der Darstellung des Tatablaufs durch den Angeklagten steht eine davon im Kern abweichende Schilderung durch eine andere Auskunftsperson gegenüber, ohne dass ergänzend auf unmittelbar tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien zurückgegriffen werden kann. "). Ebenso kritikwürdig erscheint es, wenn der 2. Strafsenat (BGH NStZ-RR 2004, 87) es als Merkmal äußerer Homogenität gelten lässt, wenn die Aussage selbst durch ein aussagepsychologisches Gutachten gestützt wird, erfolgt doch diese Expertise allein auf der Grundlage einer aussageimmanenten Prüfung der Belastungsaussage selbst Die Analyse des Aussageinhalts kann - begriffslogisch - kein Beweismittel schaffen, dass die Qualität einer externen Bestätigung erlangt Instrüktiv sind in diesem Kontext noch die Entscheidungen zur Entstehungs- (vgl. nur BGH NStZ 2000, 496, 497; StV 2001, 551) und Entwicklungsgeschichte (vgl. nur BGH lR 2004, 384; StV 2002, 470) der Aussage, zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Lücken oder Widersprüche durch Verdrängung erklärt werden können (BGH NStZ-RR 2003, 16) und unter welchen Umständen ein Rachemotiv Zweifel an der Richtigkeit einer Aussage wecken kann (zum Gleichgewichtsmerkmal: BGH NStZ-RR 2003, 207). Ein aussagepsychologisches Gutachten ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zwar nur ausnahmsweise einzuholen, eine solche Ausnahme kann aber schon dann gegeben sein, wenn die Beweislage sich als komplex darstellt (BGH NStZ 2002, 490), die fraglichen Taten lange Zeit zurückliegen (BGH StV 2004,241), suggestive Einflüsse zu besorgen sind (BGH StV 1998, 116) oder die Angaben ungewöhnlich karg sind (BGH StV 1999, 470). Der Beitrag von Herrn Richter am BGH Pfister behandelt ausführlich diese Betrachtung des Beurteilungsgegenstandes aus juristischer Sicht

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1.

Rüdiger Deckers

Steht die Aussagefähigkeit eines Zeugen infrage, weil Anknüpfungstatsachen für eine psychische Erkrankung oder eine gravierende Persönlichkeitsstörung vorliegen, ist sowohl aussagepsychologischer wie psychiatrischer Sachverstand gefragt (vgl. zur Abgrenzung: BGH NStZ 2002, 490).

2. In aller Regel kann sich bei dieser Fragestellung das Tatgericht eigene Sachkunde nicht zutrauen (vgl. nur BGH StV 2002, 183; NStZ 1998, 366; StV 2002, 637; OLG Stuttgart NStZ-RR 2003,51; OLG München StV 2006, 464; BGH NStZ-RR 2006, 18). 3. Der Beitrag von Frau Dr. Saimeh behandelt diese Aspekte aus psychiatrischer Sicht 4. Der Beitrag von Herrn Rechtsanwalt Dr. Deckers setzt aussagepsychologische und juristische Betrachtungsweisen miteinander in Beziehung und entwickelt daraus besondere Prüfkriterien für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage, die auch Hinweise für die Befragung der Auskunftsperson durch die Verteidigung hergeben. 5. In einem gesonderten Abschnitt werden die Probleme der Vernehmung der Auskunftsperson im Ermittlungs- und Strafverfahren behandelt

Frau Dr. Rebecca Mi/ne hat in ihrem Vortrag auf der Tagung im November 2005 über das kognitive Interview als beherrschende Technik der Erstvernehmung von Opferzeugen im Ennittlungsverfahren in England und Wales berichtet Der im Sammelband abgedruckte Beitrag von Dr Milne und Prof Dr Ray Bull stellt in besonderer Weise den Erkenntnisgewinn heraus, der aus der Erhebung des zusammenhängenden freien Berichts der Auskunftsperson (vgl. § 69 Abs. 1 S. 1 StPO) resultiert. Sodann wird eine systematische Darstellung des Befragungskonzepts angeschlossen. Die Verfasser sprechen sich für eine elektronische Aufzeichnung der Aussage aus. Dies entspricht einer Empfehlung des Criminal Justice Acts von 2003 an die Polizei. Auf diese Weise soll der Charakter der Aussage als authentischer geistiger Leistung (William Stern, Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, Beiträge zur Psychologie der Aussage, 2004, 1 - 147) gegenüber dem durch den Vernehmungsbeamten beeinflussten Verhörsprodukt (Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Auflage RN 601, spricht vom "Aushandeln der Wirklichkeit", Nack, StV 1994, 555, 563 vom sog. "Pygmalion-Effekt") abgesichert werden. Die elektronische Aufzeichnung ennäglicht nicht nur die unverfälschte Kontrolle der Aussage und des Gesprächsbogens (vgl. zur Forderung der elektronischen

Vorwort zur ersten Auflage

XXI

Aufzeichnung der Aussage von Auskunftspersonen in der Hauptverhandlung: Deckers, StraFo 2006, 269), sie optimiert auch - nach begründeter Auffassung der Autoren - die Informationsgewinnung und -sicherung ganz erheblich. 6. Die Beiträge von Frau KHK'in Lichtenstein und Frau Staatsanwältin Dr. Folkers widmen sich der bundesdeutschen Realität von Ermittlungsvernehmungen und deren Fehlerquellen, dabei geht es auch und gerade um die frühzeitigen Ermittlungsmaßnahmen zur Objektivierung von Aussageinhalten.

7. Frau Dipl.-Psych. Mohrbach untersucht mit ihrem Beitrag diese Problematik im Spiegel der aussagepsychologischen Expertise. Frau Rechtsanwältin Dr. Blum untersucht in ihrem Beitrag suggestive Prozesse bei der Zeugenbetreuung und

-befragung aus soziologischer Sicht 8. Die Beiträge von Herrn Richter am OLG Wend/er und Herrn Richter am LG Staake behandeln die Vernehmung der Auskunftsperson in der Hauptverhandlung durch den Richter, dazu komplementär ist das Thesenpapier von Herrn Rechtsanwalt Püschel zur Zeugenvernehmung aus Sicht des Verteidigers zu lesen.

9. Die Beiträge von Herrn Richter am BGH a.D. Dr. Detter - "Zu den rechtlichen Voraussetzungen von Prognosegutachten", Herrn Rechtsanwalt Püschel "Familiemechtliche und strafrechtliche Implikationen beim Vorwurf sexuellen Missbrauchs" (vgl. dazu auch Rakete-Dombeck, "Die familiemechtliche Betreuung von missbrauchsverdächtigen Eltern", AnwBl. 1997, 469; Undeutsch, "Neue Wege der wissenschaftlichen Verdachtsanalyse in Missbrauchsfällen", AnwBl. 1997, 462; Deckers, "Kindesrnissbrauch als straf- und familiemechtliches Problem", AnwBl. 1997, 453) und von Herrn Professor Dr. Beier "Sexuelle Präferenz und (Un-)Vernunft" erweitern das Spektrum der Betrachtung über das konkrete Thema des Sammelbandes hinaus. Die Praxis in Sexualstrafverfahren wird nach Wegen zu suchen haben, die von Beier vennittelten hochdifferenzierten Erkenntnisse der Sexualwissenschaften in die Betrachtung einzubeziehen.

Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten Günter K öhnken 1

Auch Sachverständige können irren. Eigentlich ist diese Feststellung trivial, denn bekanntlich kann keine Diagnostik völlig frei von Fehlern sein. Einerseits ist jedes diagnostische Verfahren mit einem Fehler behaftet und andererseits können Sachverständige bei der Auswahl und Anwendung diagnostischer Verfahren sowie bei den Schlussfolgerungen aus den erhobenen Befunden Fehler machen. Dennoch hat es bemerkenswert lange keine offensive Auseinandersetzung mit Fehlerquellen in der aussagepsychologischen Begutachtung gegeben. Auf kritische Äußerungen in Diskussionen, Vorträgen oder vereinzelten Publikationen ist vielfach defensiv reagiert worden. Diese defensive Haltung dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass Gutachten fast immer in konflikthaften Situationen erstattet werden, in denen dem Gutachten für die Parteien möglicherweise eine existentielle Bedeutung zukommt. Wenn die Verfahrensbeteiligten sich einig wären, bedürfte es keines Gutachtens. In einer solchen Situation muss diejenige Prozesspartei, für die das Ergebnis ungünstig ausfällt, versuchen, das Gutachten zu erschüttern. 1.1anche Sachverständige meinen dann offenbar - in einer völligen Verkennung der Situation - ihr (vorläufiges) Gutachten mit allen Mitteln verteidigen zu müssen. In dieser venneintlichen Verteidigungssituation würde eine öffentliche Fehlerdebatte der "Gegenseite" - so die Befürchtung - nur Munition für den Angriff auf das eigene Gutachten liefern. Eine derartig defensive Einstellung, möglicherweise noch verbunden mit der Ignorierung oder gar Leugnung von Fehlermöglichkeiten, ist fundamental falsch. Wohin sie führen kann, zeigt das Urteil des Bundesgerichtshofes zu Mindeststandards bei Glaubwürdigkeitsgutachten (BGHSt 45, 164), in dem Bundesrichter, diplomierte Psychologen u.a. darauf hinweisen mussten, dass z.B. Befundbericht und diagnostische Würdigung der Befunde in einern Gutachten voneinander zu trennen seien. So peinlich dieses Urteil einerseits für die forensische Aussagepsychologie gewesen sein mag, so wichtig sind seine Konsequenzen für die notwendige Diskussion der Qualitätssicherung bei forensischen Gutachten. Es hat nicht nur eine längst überfällige Diskussion in der forensischen Aussagepsychologie angestoßen, sondern wesentlich dazu beigetragen, dass inzwischen auch Bemühungen zur Vermeidung möglicher Fehler in Schuldfähigkeitsgutachten (Boetticher, Nedopil, Bosinski & Saß,

Ich danke Anna Matthes, Katja vom Schemm und Uta Kraus für ihre wertvollen Anregungen zu diesem Manuskript.

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Günter Köhnken

2005) und Prognosegutachten (Boetticher, Kräber, Müller-Isbemer, Bähm, MüllerMetz & Wolf, 2006) intensiviert wurden. Die Eindämmung von Fehlern erfordert zunächst einmal eine differenzierte Fehleranalyse. Erst wenn Fehler identifiziert und lokalisiert wurden, können systematisch Aktivitäten zur Reduzierung und Vermeidung dieser Fehler unternommen werden.

Dieses Ziel wird mit der nachfolgenden Übersicht über potentielle Fehlerquellen in aussagepsychologischen Gutachten angestrebt Darin werden potentielle Fehler im diagnostischen Prozess (Generierung von Hypothesen, Auswahl diagnostischer Me-

thoden, Planung und Durchfühnmg der Untersuchung, Bewertung der Befunde), bei der Aufbereitung und bei der Präsentation des Gutachtens (Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Darstellung sowie Fehler durch Nichtbeachtung gesetzlicher Rahmenbedingungen für die Sachverständigentätigkeit) dargestellt Schließlich werden einige Schlussfolgerungen und Konsequenzen diskutiert, die sich aus dieser Fehleranalyse ergeben können.

Fehler im diagnostischen Prozess

Die aussagepsychologische Begutachtung ist ein komplexer diagnostischer Prozess, der aus mehreren Komponenten oder Teilschritten besteht, u.a.

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Generierung von Hypothesen,

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Auswahl diagnostischer Verfahren, Entwicklung und Umsetzung eines Untersuchungsplanes, Befunderhebung, Auswertung von Anknüpfungstatsachen, diagnostische Bewertung der einzelnen Erkenntnisquellen, Integration der Befund- und Anknüpfungstatsachen zu einer Antwort auf die Gutachtenfrage.

Die hierbei möglichen Fehler werden im Folgenden exemplarisch erörtert.

Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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Fehler bei der Generierung von Hypothesen

Der diagnostische Prozess, der schließlich in die Beantwortung der Gutachtenfrage mündet, wird durch Hypothesen geleitet Hypothesen determinieren die Erhebung und Bewertung von Informationen (Anknüpfungs-und Befundtatsachen). Ausgangspunkt ist dabei die sog. Nullhypothese oder "Unwahrhypothese" (die vielleicht besser als Hypothese einer fehlenden Erlebnisgrundlage bezeichnet werden sollte, weil der Begriff "unwahr" vielfach mit "Lüge" assoziiert wird). Wenn einer Aussage keine eigenen Erlebnisse zugrundeliegen, muss sie eine andere Quelle haben. Es müs-

sen also Subhypothesen zu der pauschalen Umichtigkeitshypothese gebildet werden, d h. Hypothesen, die alternative Erklärungen für die Quelle der Aussage enthalten (z.B. dass die Aussage ein Fantasieprodukt oder Resultat einer suggestiven Beein-

flussung ist). Zu diesen Subhypothesen werden sodann Daten erhoben, die geeignet sind, die Plausibilität der jeweiligen Hypothese als Erklärung der Quelle der Aussage zu beurteilen. Jede dieser Subhypothesen wird also danach beurteilt, ob sie mit den gesammelten Fakten vereinbar ist oder nicht (s. auch BGHSt 45, 164). Ist sie es nicht, so wird sie als ungeeignet zur Erklärung der Aussage verworfen. Dieser Pro-

zess wird solange fortgesetzt, bis entweder alle Subhypothesen der globalen Umichtigkeitshypothese als widerlegt gelten oder bis eine Hypothese nicht zurückgewiesen werden kann. Wurden alle Subhypothesen widerlegt, bleibt als Erklärung nur die Armahme, dass die Aussage eigene Erlebnisse wiedergibt. Kann eine bestimmte

Subhypothese nicht widerlegt werden (z.B. weil zwischenzeitlich therapeutische Gespräche mit hohem Suggestionspotential stattgefunden haben), ist ein eindeutiger Rückschluss auf eine Erlebnisgrundlage nicht mehr möglich. Diese Vorgehensweise entspricht dem in empirischen Wissenschaften etablierten sog. "Popper'schen Falsi-

fikationsprinzip". Hierbei kommt der Phase der Hypothesengenerierung eine zentrale Bedeutung zu. Insofern Hypothesen die Informationssuche maßgeblich beeinflussen, hängt die Vollständigkeit der für die Beantwortung der Gutachtenfrage verfügbaren Erkenntnisse davon ab, ob die aufgestellten und untersuchten Hypothesen für die Erklärung des zu prüfenden Sachverhaltes erschöpfend sind. Zu nicht aufgestellten Hypothesen werden auch keine Infonnationen gesucht! Genau hier liegt eine der folgenschwers-

ten Fehlerquellen bei (nicht nur) aussagepsychologischen Gutachten. Manche der als "Justizdebakel" bezeichneten Strafverfahren in Deutschland und anderswo (u.a. Köhnken, 2000; Steller, 2000a; 2007) lassen sich u.a. darauf zurückführen, dass nicht alle relevanten Hypothesen aufgestellt und geprüft wurden. Da infolge unzureichender Hypothesengenerierung wesentliche Infonnationen fehlen, können hie-

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Günter Köhnken

raus resultierende Fehler nicht immer ohne eine weitere Befunderhebung beseitigt werden. Die systematische Generienmg und Überprüfung aller in Frage kommenden Hypothesen zur Quelle einer Aussage ist zudem Voraussetzung zur Vermeidung einer sog. "konfirmatorischen Teststrategie" (vom Schemm & Köhnken, 2007; SchulzHardt & Köhnken, 2000). Hierbei handelt es sich um die Tendenz, einseitig Inforrnationen zu sammeln, die zu den bereits vorgefassten Überzeugungen konsistent sind und Befunde so (umzu-)deuten, dass die Erwartungen immer bestätigt werden. Der hierdurch verursachte Fehler kann auf alle Ebenen des diagnostischen Prozesses durchschlagen und z.B. dazu führen, dass bevorzugt solche diagnostischen Methoden angewandt werden, die eine Widerlegung der eigenen Überzeugungen wenig wahrscheinlich machen. Oft bleibt dann auch die "Diagnostizität" einer Information unberücksichtigt. Nur wenn eine Infonnation eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit unter einer der Hypothesen und eine geringe unter der anderen Hypothese hat, ist diese Infonnation diagnostisch relevant. Nicht-diagnostische Infonnationen (= geringe Diagnostizität) hingegen haben ähnlich große Auftretenswahrscheinlichkeiten unter beiden Hypothesen; sie sind diagnostisch wertlos. Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Gutachter sich lediglich der Terminologie einer hypothesengeleiteten Diagnostik bedienen und z.B. den Begriff "Nullhypothese" in ihr Gutachten einbauen, ohne das eigentlich relevante erkenntnistheoretische Prinzip einer Falsifikationsstrategie wirklich verstanden zu haben. Bloße Hypothesemhetorik schützt nicht vor Versäumnissen in der Befunderhebung und -auswertung. Man muss das Prinzip auch verstanden haben, um Fehler in diesem Bereich vermeiden zu können. Dementsprechend sollten die Verfahrensbeteiligten bei der Prüfung eines Gutachtens nicht nur auf die Verwendung bestimmter "Schlüsselbegriffe" achten, sondern insgesamt den Umgang mit den verwendeten Informationen zu betrachten.

Fehler bei der Auswahl diagnostischer Methoden

Im Rahmen eines aussagepsychologischen Gutachtens werden im Allgemeinen zwei Bereiche untersucht: zum einen die individuelle Aussagefähigkeit oder Aussagetüchtigkeit eines Zeugen und zum anderen die Glaubhaftigkeit der Angaben. Bei der Überprüfung der Aussagefähigkeit wird u.a. untersucht, ob ein Zeuge über die kognitiven Voraussetzungen für eine korrekte Wahrnehmung, Speichenmg im und Abruf aus dem Gedächtnis sowie die Verbalisierung erinnerter Erlebnisse

Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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/Wahrnehmungen verfügt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch metakognitive Fähigkeiten wie etwa eine korrekte Quellenidentifizierung (d h. die Beurteilung, ob eine Erinnerung eigene Erlebnisse oder z.B. Erzählungen von anderen Personen,

gelesene oder im IV gesehene Berichte oder auch eigene Fantasien beinhaltet). Für die Untersuchung beider Bereiche, der Aussagefähigkeit und der Glaubhaftigkeit, müssen diagnostische Verfahren eingesetzt werden, die eine Entscheidung über die

zuvor aufgestellten Hypothesen erlauben. Ob bestimmte diagnostische Methoden angemessen sind oder nicht, hängt von den Ausgangshypothesen sowie von der spezifischen Fallkonstellation ab. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wie hoch die Validität eines diagnostischen Verfahrens für die Prüfung einer Hypothese ist. Dabei ist Validität kein absoluter Wert. Eine diagnostische Methode ist nicht entweder valide oder nicht valide. Sie besitzt vielmehr für bestimmte Fragestellungen im Kontext spezifischer Fallkonstellationen eine jeweils mehr oder weniger hohe Validität. Bei der Einschätzung dieser fall- und hypothesenspezifischen Validität können Fehler auftreten, die zur Auswahl suboptimaler oder gänzlich ungeeigneter diagnostischer Methoden führen können. Im F 01genden werden hierfür einige Beispiele vorgestellt.

Grundsätzlich ungeeignete Methoden Körperliche Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten. Eine Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen durch (i.d.R psychologische) Sachverständige erfolgt meistens zur Abklärung des Verdachts auf sexuellen Kindesrnissbrauch. Da sexuell missbrauchte Kinder häufiger als nicht missbrauchte Kinder verschiedene Verhaltensauffälligkeiten aufweisen (z.B. Rind, Iromovitch & Bausennan, 1998; Browne & Finkelhor, 1986), wurde angenommen, dass aus dem Auftreten derartiger

Symptome auf eine Erlebnisgrundlage der Aussage geschlossen werden kann. Derartige Symptome können allerdings nur dann als verlässliche Indikatoren für das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs betrachtet werden, wenn sie für diesen hinreichend spezifisch sind. Spezifität bezeichnet - vereinfacht ausgedrückt - die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Symptom als Begleiterscheinung oder Folge eines bestimmten Sachverhaltes, und zwar nur dieses Sachverhaltes, auftritt. Spezifisch in diesem Sinne wäre eine bestimmte Verhaltensauffälligkeit somit nur dann, wenn sie ausschließlich im Zusammenhang mit einern stattgefundenen oder noch andauernden sexuellen 11issbrauch auftreten würde, nicht aber bei anderen Ursachen wie et-

wa zerrütteten Familienverhältnissen. Eine hohe Spezifität reduziert die Gefahr

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Günter Köhnken

falsch positiver Diagnosen, im hier erörterten Kontext also z.B. die falsche Schlussfolgerung, ein sexueller Missbrauch habe stattgefunden. Nach den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen kann nicht von einern spezifischen Symptom oder einer Symptomkombination als Folge oder Begleiterscheinung eines sexuellen 11issbrauchs ausgegangen werden. Die in manchen Fällen beobachteten Verhaltensauffälligkeiten sind vielmehr unspezifisch und können Z.B. auch als Folge familiärer Spannungen, schulischer Überforderung, sozialer Isolierung usw. auftreten. Auch das von manchen als "Leitsyrnptorn" für sexuellen Missbrauch angesehene "altersinadäquat sexualisierte Verhalten" ist als mutmaßlicher 11issbrauchsindikator hochproblematisch, weil die Einschätzung dessen, was a) sexualisiert und b) altersinadäquat ist in hohem Maße subjektiven Moralvorstellungen folgt" Empirische Daten zu "normalem" Verhalten sind selten und haben zudem aufgrund der Verschiebung von Moralvorstellungen und Moden eine recht kurze Verfalldauer (Volbert, 2005). Die fatalen Folgen einer Fehlinterpretation körperlicher Symptome beschreibt Steller (2000b) am Beispiel der sog. Wormser Missbrauchsprozesse.

Ein zuverlässiger Schluss von festgestellten Verhaltensausfälligkeiten auf einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch ist daher nicht möglich (Köhnken, 2006a). Dies gilt natürlich auch umgekehrt. Das Ausbleiben von Verhaltensauffälligkeiten ist kein verlässlicher Indikator gegen eine Erlebnisgrundlage der Aussage, denn nicht alle Kinder bilden nach einem sexuellen Missbrauch Symptome aus. Vor diesem Hintergrund ist auch die von kinder- und jugendpsychiatrischer Seite gelegentlich aufgestellte Forderung abwegig, im Rahmen einer aussagepsyehologisehen Begutachtung gleichsam routinemäßig auch eine körperliche Untersuchung durchzuführen. Welche körperlichen Befunde zu welchem Zweck erhoben werden sollen, bleibt dabei völlig nebulös3 (kritisch hierzu auch Steller, 2000b; 2007).

2

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Eine Therapeutin fragte die Mutter eines zwölfjährigen Mädchens während eines Erstgesprächs, ob sie schon mal daran gedacht habe, dass ihre Tochter möglicherweise sexuell missbraucht worden sei. In einer späteren Befragung vor Gericht beglÜIldete sie diese Frage mit einem auffällig sexualisierten Verhalten des Mädchens. Weiter befragt, um welches Verhalten es sich dabei gehandelt habe, gab sie an, das Mädchen sei mit lackierten Fingernägeln in die Therapiestunde gekommen. Auf eine Frage nach den Hypothesen, die mit dieser Untersuchungsmethode überpruft werden sollen, antwortete mir ein Kinder- und Jugendpsychiater lNährend eines Symposiums, dass zu einer ärztlichen Untersuchung immer auch eine körperliche Untersuchung gehöre. Weitere GlÜIlde nannte er nicht.

Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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Spielverhalten und Kinderzeichnungen. WeJUl Kinder sich nicht über einen vermuteten sexuellen Missbrauch äußern, wird dies manchmal fehlender Verbalisierungsfähigkeit, einem durch den mutmaßlichen Täter auferlegten Schweigegebot oder Scham zugeschrieben. Gelegentlich ist angesichts einer solchen unklaren Befundlage vorgeschlagen worden, das Spielverhalten von Kindern, "Wie es etwa in Kinderzeiclmungen oder im Umgang mit sog. anatomisch korrekten Puppen zum Ausdruck kommt, hinsichtlich möglicher Anzeichen auf sexuellen Missbrauch zu untersuchen. WeIlll ein Kind beispielsweise mit den Geschlechtsorganen einer solchen Puppe spielt, soll dies gleichsam ein Abbild eigener Erlebnisse sein. Derartige Deutungen sind jedoch durch keinerlei "Wissenschaftliche ErkeIllltnisse belegt. Es gibt keine empirisch begründeten Kataloge symbolhafter Zeiclmungen und deren Zuordnung zu bestimmten (sexuellen) Erlebnissen (kritisch zur Deutung von Kinderzeiclmungen z.B. Ihli, 2000). Abb. 1 und 2 zeigen zwei Zeiclmungen, die ein etwa zelmjähriger Junge während des Zeichenuntemchts in einer Schille fiir geistigbehinderte Kinder angefertigt hat. Diese Zeiclmungen lösten bei zwei Lehrerirmen zunächst den Verdacht und bald damuf die Überzeugung aus, der Junge sei von seinem Vater "anal missbraucht" worden. Abb. ,~~

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Günter Kähnken

Abb.2

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Auch das Spielverlmlten mit "anatomisch korrekten" Puppen hat sich als nicht treJUlscharf erwiesen. Tatsächlich lässt sich die (scheinbare) Darstellung sexueller Praktiken an ,,anatomisch korrekten" Puppen auch bei nicht sexuell missbrauchten Kindern beobachten (z.B. Everson & Boat, 1990; Greuel, 1998). Das Hantieren mit den an diesen Puppen (manchmal übertrieben ausgeprägten) primären Geschlechtsmerkmalen ist schlicht Teil des natürlichen Neugier- und Spielverhaltens von Kindern. Der BGH hat in seinem richtungweisenden Urteil über die Glaubhaftigkeitsbegutachtung (BGRSt 45, 164) folgerichtig alle vvissenschaftlich nicht legitimierten deutenden Verfahren fur ungeeignet zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung bezeiclmet (zur Problematik von anatomischen Puppen vgl. Greuel, 1994; 1998).

Nonverbale und paraverbale Verhaltensweisen. Nonverbale Verhaltensweisen werden seit etwa 30 Jahren hinsichtlich ihrer Eignung als Täuschungsindikatoren untersucht. IJl.ZliIIischen liegt hierzu eine umfangreiche Forschungsliteratur vor (Kölmken, 1990; Vrij, 2000-, DePaulo, Lindsey, Malone, Muhlenbruck, Charlton & Cooper, 2003). Diese vvissenschaftlichen Befunde zeigen, dass es zwar gevvisse Zusammenhänge zwischen einzelnen nonverbalen (Gestik, :Mimik u.ä.) und paraverbalen Verhaltensweisen (Stottern, Satzabbrüche u.ä.) einerseits und dem Wahrheitsge-

Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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halt einer Aussage andererseits gibt Hierbei handelt es sich jedoch immer um Unterschiede zwischen Gruppemnittelwerten, die nur sehr begrenzt eine Schlussfolgerung auf die aktuelle Täuschungs- oder Wahrheitsrnotivation eines einzelnen Zeugen bei seiner individuellen Aussage zulassen. Außerdem sind diese Zusammenhänge zu schwach und zu inkonsistent, um darauf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage stützen zu können (Köhnken, Kraus & vom Schemm, 2007; Sporer & Köhnken, 2007).

Aussageanalyse bei traumatisierten Zeugen. Schwere Traurnatisierungen können vollständige oder partielle Amnesien zur Folge haben, so dass eine detaillierte Schilderung der traurnatisierenden Erlebnisse gar nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist (vgl. Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-IV IR). Hieraus ist von einzelnen Autoren der Schluss gezogen worden, dass "die bisher vorliegenden Erkenntnisse zu traumaspezifischen Verarbeitungsprozessen im Allgemeinen und zu den Charakteristika des traumaspezifischen Gedächtnisses im Besonderen bei mutmaßlich traurnatisierten Probanden zu einer Modifikation bzw. Einschränkung der klassischen aussagepsychologischen Realitätskriterien" zwingen (v. Hinckeldey & Fischer, 2002, S. 175). Das Vorgehen bei der Begutachtung traurnatisierter Zeugen habe demnach "die beiden zentralen Fragen" zu klären, ob eine psychische Iraumatisierung vorliege und ob Beeinträchtigungen des Gedächtnisses nachzuweisen seien. "Erst vor dem Hintergrund dieser Informationen lassen sich die Aussagen traurnatisierter Zeugen einordnen und bewerten" (v. Hinckeldey & Fischer, 2002, S. l66f.). Diese Auffassung verkennt, dass die Aufgabe bei der aussagepsychologischen Begutachtung nicht die Feststellung einer Iraumatisierung ist, sondern die Beantwortung der Frage, ob die Aussage eigene Erlebnisse beschreibt. Würde man der Argumentation von v. Hinckeldey und Fischer (2002) folgen, so müsste man bei der Begutachtung von einer Prämisse (Traurnatisierung durch das fragliche Delikt) ausgehen, deren Zutreffen durch eben die Begutachtung eigentlich erst beurteilt werden soll. Die hierdurch verursachte Zirkularität führt zu einer perfekten Immunisierung der zu prüfenden Hypothesen: Wenn in einer Aussage ausreichend Realkennzeichen gefunden werden, spricht dies gegen die Hypothese einer Konfabulation und somit für eine Erlebnisgrundlage; ist die Aussage nur bruchstückhaft und wenig detailliert, spricht dies für eine Iraumatisierung und deshalb ebenfalls für eine Erlebnisgrundlage. Abgesehen davon geben die Autoren auch keine empirische Grundlage für die Validität der vorgeschlagenen Modifikationen der Realkennzeichen an (s. hierzu auch Volbert, 2004, S. 125 ff, die auf offensichtliche Missverständnisse bei v. Hinckel-

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dey und Fischer hinsichtlich der Methodik der aussagepsychologischen Begutachtung hinweist).

Untersuchungsmethoden mit problematischer/eingeschränkter Validität

Noch immer werden im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung gele-

gentlich diagnostische Verfahren angewendet, deren Validität bzgL der jeweiligen Fragestellung zumindest zweifelhaft ist Dies gilt Z.B. für die sog. "Erlebnisgedächtnisprüfung" oder für die "Fantasieprobe".

Erlebnisgedächtnisprüfung. Mit diesem Verfahren soll das autobiografische Ge-

dächtnis untersucht werden, d h. die Fähigkeit eines Zeugen, sich an mehr oder weniger lange zurückliegende eigene Erlebnisse korrekt zu erinnern. Diese Beurteilung

ist für die Einschätzung der Aussagefähigkeit insbesondere dann von Bedeutung, wenn in der zu beurteilenden Aussage länger zurückliegende Ereignisse beschrieben

werden. Bei der Erlebnisgedächtnisprüfung lässt man sich ein Ereignis schildern, welches vergleichbar lange zurückliegt wie die in der zu beurteilenden Aussage berichteten Ereignisse. Darüber hinaus sollte es sich um ein Ereignis handeln, das für den Zeugen eine vergleichbar hohe subjektive Bedeutung hat Diese Bedingungen treffen z.B. auf Urlaubsreisen oder Klinikaufenthalte zu. Man lässt sich nun also beispielsweise eine Urlaubsreise schildern und beurteilt u.a. die Detailliertheit der Beschreibung. Wenn es sich um eine differenzierte, detaillierte Darstellung handelt, wird auf ein gutes autobiografisches Gedächtnis und - im nächsten Schritt - auf eine

in dieser Hinsicht gute Aussagefähigkeit geschlossen. Eine derartige Schlussfolgerung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn die Richtigkeit der vom Zeugen gemachten Angaben überprüft worden ist Nur dänn, wenn die Korrektheit der Schilderung belegt ist, kann man auf die Güte der Erinnerung schließen. Andernfalls sagt dieser Befund lediglich etwas über den Aussagestil oder die Eloquenz des Zeugen aus. Auch dies kann im Einzelfall durchaus diagnostisch bedeutsam sein. Den Aussagestil ohne jegliche weitere Prufung mit der Erinnerungsleistung gleichzusetzen, ist jedoch schlicht Unfug. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang eingewandt, dass es kaum verlässliche

alternative Methoden zur Beurteilung der Güte des biografischen Gedächtnisses gebe und man deshalb auf die o.a. Erlebnisgedächtnisprüfung angewiesen sei. Dieses

Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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Argument ist jedoch nicht stichhaltig. Eine für eine bestimmte Fragestellung nicht geeignete Methode wird nicht schon deshalb valide, weil es keine brauchbare Alternative gibt. Es käme ja auch niemand auf die Idee, neuronale Aktivitäten mittels einer simplen Kamera zu untersuchen, weil gerade kein Cornputertornograph zur

Hand ist Im Übrigen sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und eine Methode vorschnell als ungeeignet einstufen. So können z.B. Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Schilderungen durch entsprechende Befragungen von Bezugspersonen erlangt werden. Dies ist sicher nicht ideal, denn auch die Bezugspersonen können Erinnerungsverzerrungen und Vergessensprozessen unterliegen. Ebenso ist die

Entwicklung einer gemeinsamen "Familiengeschichte" durch wiederholte Gespräche über das ausgewählte Thema denkbar Daraus kann eine hohe Übereinstimmung in der Schilderung resultieren, die die tatsächliche Erinnerung an das ursprüngliche Ereignis möglicherweise überschätzt. Die Auswahl eines geeigneten Themas muss

deshalb sorgfältig überlegt werden.

Fantasieprobe. Die aussagepsychologische Beurteilung erfolgt immer personenspezifisch. Die zu beantwortende Frage lautet dabei, ob dieser Zeuge mit seinen spezifischen kognitiven Fähigkeiten, Kenntnissen, Erfahrungen usw. in der Lage gewesen

wäre, die erhobene Aussage mit den darin festgestellten inhaltlichen Qualitäten auch dann zu produzieren, wenn es dafür keine Erlebnisgrundlage gäbe. Die Beurteilung der Aussagequalitat anhand der Realkennzeichen erfordert deshalb einen Vergleich mit einern individuellen Referenzwert. Die zu beurteilende Frage lautet somit, zu

welchen (dem fraglichen Sachverhalt ähnlichen) konfabulatorischen Leistungen der Zeuge auch ohne Erlebnisgrundlage fähig gewesen wäre. Wenn die festgestellte Aussagequalitat den so geschätzten Referenzwert übersteig~ würde die Hypothese einer lediglich ausgedachten Aussage zurückgewiesen. Zur Prüfung der konfabulatorische Fähigkeiten wird manchmal eine sog. "Fantasieprobe" durchgeführt. Dabei gibt es verschiedene Varianten, die aber im Kern gemeinsam haben, dass der Zeuge in der Untersuchungssituation aufgefordert wird, ausgehend von bildlichen oder verbalen Vorgaben eine Geschichte zu erfinden oder weiterzuführen. Die inhaltliche Qualität dieser Phantasieproduktion (u.a. Detailliertheit, Originalität) wird dann mit der Qualität der zu beurteilenden Aussage verglichen. Die Feststellung, dass die Sachverhaltsaussage qualitativ besser ist als die phantasierte Schilderung, wird dann als Beleg dafür gewertet, dass der Zeuge nicht in der Lage wäre, die zu beurteilende Aussage ohne Erlebnisgrundlage zu produzieren.

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Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise lediglich die spontane Konfabulationsfähigkeit geprüft wird, die Fähigkeit also, ohne besondere Vorbereitungen nach Vorgaben eine zusammenhängende Geschichte zu erfinden. Sofern die zu prüfende Hypothese lautet, dass die zu beurteilende Aussage ebenfalls spontan, aus der aktuellen Situation heraus, erfunden wurde (weil man z.B. unenvartet in einen Rechtfertigtmgsnotstand geraten ist), kann diese Methode der spontanen "Fantasieprobe" durchaus valide sein. Eine völlig andere Situation liegt jedoch vor, wenn davon ausgegangen werden muss, dass die Aussage über Wochen oder gar Monate gewachsen ist, wenn sie mental visualisiert und hinsichtlich möglicher Inkonsistenzen überprüft wurde. Im Laufe einer solchen Entvvicklung werden rnöglichervveise Lücken und/oder Diskrepanzen erkannt und ausgeräumt. Im Übrigen werden Aussagen selten völlig frei erfunden, sondern in bekannte Abläufe, Umgebtmgen usw. eingebettet. Hierbei kann man oftmals auf vertraute Elemente zurückgreifen und diese in die erfundene Aussage integrieren. Es ist offensichtlich, dass ein derartig langwieriger Entwicklungsprozess nicht durch eine ad hoc konstruierte Fantasiegeschichte auch nur halbwegs angemessen simuliert werden kann. Falsche Aussagen entstehen zudem nicht immer - vielleicht nicht einmal überwiegend - aus einer bewussten Falschbelastungsintention. Es ist geradezu kennzeichnend für (auto-)suggestive Prozesse, dass sie eben nicht gleichsam aus dem Nichts heraus eine vollständige Aussage mit allen Einzelheiten eines behaupteten Geschehens produzieren. Oft nehmen sie ihren Anfang in alltäglichen, jedenfalls nicht unplausiblen Erfahrtmgen, die dann im weiteren Verlauf zunehmend "enthannlost" werden. Gerade angeblich sehr lange zurückliegende Ereignisse haben ihre Wurzel manchmal in fehlgedeuteten Alltagshandlungen anderer Personen (z.B. das Reinigen nach einem Toilettenbesuch). Cima, Merckelbach, Hollnack und Knauer (2003) haben darauf hingewiesen, dass eine geläufige Fonn von Pseudoerinnerungen auftritt, wenn Personen eine Gedächtnisillusion zu einern Alltagserlebnis entwickeln. In einer Untersuchung von Porter und Birt (2001) gaben über 20% der von ilmen befragten Probanden an, dass sie schon einmal ein Ereignis zu erinnern meinten, welches definitiv nicht stattgefunden hat. Derartige Pseudoerinnerungen mögen zunächst als unsicher oder ungewiss erlebt werden, so dass man sie niemandem mitteilt. Wenn sich jedoch wiederholt Szenen oder Bilder einstellen, die den ungewissen "Erinnerungen" entsprechen, erhöht sich im Laufe der Zeit die subjektive Gewissheit, dass es sich um reale Ereignisse handelt, die man zu "erinnern" meint. Dieser Vorgang ist in der Literatur als "imagination inflation effect" bezeichnet worden (u.a. Heaps & Nash, 1999; Mazzoni & Memon, 2003). Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den genannten Untersuchungen nur kurze Zeiträume für die Imagination zur Verfügung standen. Selbst in diesen

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kurzen Zeiträumen war der "imagination inflation effect" zu beobachten. Eine spontane Fantasieprobe kann diesen Entwicklungsprozess nicht angemessen abbilden.

Verbalmerkprobe. Ebenfalls zur Prüfung der Aussagefähigkeit wird die "Verbalmerkprobe" eingesetzt. Bei diesem Verfahren wird dem Zeugen zu Beginn der Untersuchung eine Geschichte vorgelesen, zu der später Fragen gestellt werden. Häufig handelt es sich um insgesamt 29 Fragen zum Inhalt der vorgelesenen Geschichte. Aus der Anzahl der korrekt beantworteten Fragen wird auf die Qualität der Erinnerungsleistung und im weiteren Schritt auf die Aussagefähigkeit geschlossen. Eine solche Vorgehensweise ist nicht unbedingt falsch. Problematisch ist jedoch die bei diesem Verfahren häufig festzustellende Tendenz, quasi-psychometrische Aussagen zu machen, für die es keinerlei empirische Grundlagen gibt. Meistens werden 29 Fragen gestellt Wenn davon z.B. etwa 14 Fragen korrekt beantwortet werden, wird dies als ein "durchschnittliches" Ergebnis bezeichnet. Dabei wird anscheinend ein

Durchschnitt (der in der psychologischen Diagnostik üblicherweise einen in einer Referenzgruppe ermittelten arithmetischen Mittelwert bezeichnet) mit der Hälfte der insgesamt gestellten Fragen venvechselt. Möglicherweise werden in der Referenzgruppe im Durchschnitt 20 der 29 Fragen richtig beantwortet Eine Leistung von 14 korrekten Antworten wäre dann als unterdurchschnittlich zu klassifizieren.

Durch die Verwendung der Bezeichnung "Durchschnitt" wird eine psychometrische Qualität des Befundes suggeriert, die mangels empirischer Daten in keiner Weise erfüllt werden kann. Hinzukommt dass die Feststellung einer sich beliebig zusammensetzenden Anzahl korrekt beantworteter Fragen unterstellt, dass allen Fragen das gleiche Gewicht zukommt (weil sie z.B. alle einen vergleichbaren Schwierigkeitsgrad haben). Auch dies müsste aber zunächst einmal empirisch belegt werden (z.B. durch Berechnung der sog. Itemschwierigkeit und -trennschärfe). Diesbezügliche Daten sind jedoch nie veröffentlicht worden, so dass Zweifel berechtigt sind, ob sie überhaupt existieren.

Falsche Anwendung und Überbewertung der Motivanalyse. Traditionell wird im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung in der Regel auch eine Motivanalyse durchgeführt (z.B. Michaelis-Arntzen, 1994; Arntzen, 1993). Arntzen (1993) spricht in diesem Zusammenhang von der "Objektivitat" der Aussage. Eine Aussage ist demnach objektiv, "wenn sie ihrem Inhalt nach sachgebunden und nicht an persönliche Interessen des Zeugen gebunden ist, sie vielmehr aus uneigennützigen Motiven des Zeugen erwachsen ist, die nur auf eine zutreffende Schilderung der

Zeugenbeobachtung ausgerichtet waren" (S. 85). Einschränkend weist Arntzen je-

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doch darauf hin, dass es grundsätzlich auch beim heutigen Stand der Aussagepsychologie noch wichtig sei, "welche Interessen, Wünsche, Strebungen, Absichten bei einem Zeugen vorlagen und ihn evt!. zu einer Aussage bewogen haben." Allerdings könne man dem Motivstudium für die Aussagebeurteilung "keinen so uneingeschränkten Wert mehr zusprechen, wie es früher geschehen" sei. Als Grund hierfür nennt Arntzen vor allem die Schwierigkeit der Erfassung aussagebestirnrnender Motive. Kritisch zu bewerten ist die Motivanalyse vor allem wegen der grundsätzlichen Problematik des Nachweises der Nicht-Existenz eines Sachverhaltes mittels psychodiagnostischer Methoden. Es ist in der Tat sehr schwierig, im Rahmen einer aussagepsychologischen Untersuchung jenseits alltagspsychologischer Spekulationen reliable und valide Indikatoren für die Motivlage eines Zeugen zu finden. Wenn kein Motiv für eine Falschbelastung gefunden wird, kann dies auch einfach daran liegen, dass nicht sorgfältig genug gesucht wurde. Problematisch ist auch, dass die Suche nach möglichen Motiven für eine falsche Aussage in der Praxis häufig auf mögliche Gründe für eine falsche Belastung des Beschuldigten beschränkt bleibt Findet man ein solches "Falschbelastungsmotiv" nicht, wird dies als ein Beleg für die "Objektivität" der Aussage im Sinne Arntzens und damit als ein Anzeichen für deren Richtigkeit gewertet Dabei wird übersehen, dass das mit einer Falschaussage angestrebte Ziel möglicherweise gar nichts mit der beschuldigten Person zu tun hat Eine Falschaussage kann in dem Bestreben begründet sein, sich in einer prekären Situation selbst zu entlasten oder sich Vorteile zu verschaffen (man denke etwa an Kronzeugemegelungen, die Vergünstigungen versprechen, wenn durch die eigene Aussage andere Täter ennittelt werden können). Die beschuldigte Person wurde vielleicht nur zufällig ausgewählt und für die eigenen Ziele instrumentalisiert, weil sie aufgrund irgendwelcher Umstände in die erfundene Geschichte zu passen schien. Umgekehrt wäre es ebenfalls ein Fehler, Äußerungen eines Zeugen, in denen Verbitterung, Wut, Enttäuschung oder ein Rachebedürfnis zum Ausdruck kommen, als Motiv für eine Falschaussage zu werten. Derartige emotionale Reaktionen gegenüber einern Peiniger sind psychologisch nachvollziehbar. Die Vorstellung eines gänzlich interesselosen, nur der Rechtspflege verpflichteten, dem Verursacher körperlicher und seelischer Leiden neutral und objektiv gegenüberstehenden Zeugen ist realitätsfremd. Angesichts dieser Kumulation von Problemen sind Zweifel an der diagnostischen Relevanz einer Motivanalyse für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage angebracht. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob sie überhaupt relevante

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Erkenntnisse zur Aussagebeurteilung beitragen kann. Eine Zeugenaussage ist das Resultat einer kognitiven Leistung. Zentrale Aufgabe der Aussageanalyse ist die Beantwortung der Frage, ob dieser Zeuge seine zu beurteilende Aussage auch ohne Erlebnisgrundlage hätte produzieren können, also zu der festgestellten Leistung fähig gewesen wäre (s.o.). Wenn die Aussageanalyse ergibt, dass ein Zeuge nicht in der Lage gewesen wäre, die Aussage mit den darin festgestellten inhaltlichen Qualitäten ohne Erlebnisgrundlage zu erfinden, hätte er das auch nicht bei Vorliegen einer sehr starken Belastungsmotivation gekonnt Anders ausgedrückt: Fehlende Kompetenz kann nicht durch hohe Motivation kompensiert werden. Aussageanalyse zum Zwecke der Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist Leistungsdiagnostik und nicht Gesinnungsdiagnostik Auch für den umgekehrten Fall, dem Mangel an verwertbaren Realkennzeichen, ist bisher kein schlüssiges Argument für die diagnostische Signifikanz fehlender (besser gesagt: nicht gefundener) MotivelInteressen vorgetragen worden. Fehlende Belastungsrnotive können einen Mangel an Realkennzeichen nicht kompensieren.

Falsche Anwendung grundsätzlich geeigneter Methoden

Fehlerhafte Gutachten können auch in einer falschen Anwendung prinzipiell geeigneter diagnostischer Methoden begründet sein. Einige dieser Fehler sind gleichsam systemimmanent und deshalb prinzipiell unvermeidbar (wie z.B. Fehlervarianzen aufgrund unterschiedlicher Beurteilungen durch Sachverständige), andere dagegen resultieren aus Unzulänglichkeiten bei der Anwendung diagnostischer Methoden und können vennieden oder doch zumindest reduziert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei u.a. die unkritische Verwendung des vorhandenen Aussagematerials und die Nichtberücksichtigung möglicher Konfundierungen.

Unkritische Verwendung des Aussagematerials. Grundlage der Realkennzeichensowie der Konstanzanalyse ist die in der eigenen Untersuchung erhobene Aussage. Wie jedes andere diagnostische Material (Testergebnisse, Beobachtungsdaten usw.) muss auch dieses Aussagematerial zunächst hinsichtlich seiner Qualität und Eignung für die zu untersuchende Hypothese kritisch geprüft werden. Manchinal wird dieser wichtige Zwischenschritt unterlassen, und es wird unreflektiert die gesamte Aussage ohne Berücksichtigung der jeweiligen diagnostischen Relevanz für die Realkennzeichenanalyse verwendet. Diagnostisch bedeutsam ist aber z.B. nur derjenige Teil der

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Aussage, der sich auf strittige Aspekte bezieht, denn nur dieser Teil hätte im Falle einer unrichtigen Aussage konstruiert werden müssen. Beispiel: Eine Zeugin behauptet sie sei vergewaltigt worden. Sie berichtet dass sie nach einem Discobesuch gegen 2 Uhr in der Nacht mit einem Taxi nach Hause fahren wollte. Während sie auf das Taxi gewartet habe, sei sie von einem ihr bis dahin unbekannten Mann angesprochen worden. Er habe ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren. Die Zeugin habe eingewilligt. Während der Fahrt habe der Beschuldigte vorgeschlagen, in sein in einem nahe gelegenen Gewerbegebiet liegendes Büro zu fahren und dort einen Kaffee zu trinken. Auch hierin habe die Zeugin eingewilligt. In diesem Büro soll es zu sexuellen Handlungen gekommen sein, von denen die Zeugin behauptete, sie seien gegen ihren Willen geschehen. Der Beschuldigte dagegen gab an, dass alles einverständlich gewesen sei. In einem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen Gutachten wurde die gesamte Aussage der Zeuginfür eine Realkennzeichenanalyse verwendet also auch diejenigen Teile, in denen unstrittige Ereignisse geschildert wurden (z.B. die Einrichtung des Büros, die Bekleidung des Beschuldigten). Dabei wurden eine erhebliche Detailliertheit und mehrere weitere Realkennzeichenfestgestellt Die Aussage wurde deshaTb als glaubhaft beurteilt.

Bei der Beurteilung wurde nicht berücksichtigt, dass weder die Fahrt mit dem Beschuldigten noch der Aufenthalt in dessen Büroräumen strittig war. Ebenso wenig war strittig, dass es sexuelle Handlungen gegeben hat. Strittig war allein die Frage der Einverständlichkeit. Wenn die Frage untersucht wird, ob die Zeugin ihre Aussage auch ohne eine eigene Erlebnisgrundlage hätte erfinden können, kann sie sich sinnvoll nur auf diejenigen Aspekte beziehen, die unmittelbar mit der fehlenden Einvernehmlichkeit zusammenhängen (z.B. Diskussionen, Gegenwehr e!c.). Die Schilderung der Fahrt zum Büro sowie die dortige Eimichtung hätte sie ebenso wenig erfinden müssen wie z.B. die Beschaffenheit der Unterwäsche des Beschuldigten, evtl. vorhandene körperliche Besonderheiten usw. Diese Schilderungen sind somit nicht trennscharf für die zu beurteilende Hypothese einer erfundenen Aussage. Dieses Beispiel zeigt: Das vorhandene Aussagernaterial muss zunächst hinsichtlich seiner diagnostischen Relevanz bzgl. der zu beurteilenden Hypothese bewertet werden. Für die Analyse können nur diejenigen Aussageteile verwendet werden, in denen strittige Ereignisse beschrieben werden. Andernfalls besteht die Gefahr einer Überschätzung der inhaltlichen Aussagequalität.

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Nichtberücksichtigung möglicher Konfundierungen im Aussagematerial. Ein Untersuchungsansatz zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit stützt sich auf die Stabilität der Erinnerung an das fragliche Ereignis. Er geht von der Annahme aus, dass eigene Erlebnisse stärker, prägnanter, stabiler im Gedächtnis verankert sind als lediglich ausgedachte Geschichten. Die Stabilität einer Gedächtnisspur ist aber nicht direkt beobachtbar, sondern muss aus anderweitig feststellbaren Indikatoren erschlossen werden. Ein solcher Indikator ist z.B. das Ausmaß der Übereinstimmung in Aussagen, die zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben worden sind. Nach der o.a. Armahme wäre somit zu erwarten, dass Schilderungen eigener Erlebnisse, die zu verschiedenen Zeitpunkten gegeben werden, besser übereinstimmen als solche über lediglich ausgedachte Geschichten. Aus der festgestellten Konstanz wird also im ersten Schritt auf einen stabilen Gedächtnisinhalt und im zweiten Schritt auf eine Erlebnisgrundlage geschlossen. Auf dieser Schlussfolgerungskette basiert die Konstanzanalyse. Sie dient der Einschätzung der Erinnerungsstärke bzw. -stabilität. Dabei werden verschiedene Aussagen eines Zeugen systematisch miteinander verglichen und hinsichtlich Übereinstimmungen und Diskrepanzen analysiert. Wenn dabei im Kernbereich der Aussage himeichend hohe Übereinstimmungen festgestellt werden, spricht dies gegen die Hypothese einer lediglich ausgedachten Aussage (jedenfalls sofern ein solches Ausmaß an Übereinstimmung angesichts der kognitiven Fähigkeiten eines Zeugen im Falle einer lediglich ausgedachten Geschichte nicht hätte erwartet werden können). Die hier beschriebene Schlussfolgerungskette, die letztlich zur Zurückweisung der Hypothese einer nicht erlebnisbegründeten Aussage führen würde, ist aber nur dann begründet, wenn die festgestellte Übereinstimmung nicht auch durch andere Faktoren als durch eine Erlebnisgrundlage verursacht sein kann. Wenn ein Zeuge z.B. Unterlagen von früheren eigenen Aussagen hat und diese vor einer Befragung liest, kann dadurch die Erinnerung an diese früheren Aussagen aufgefrischt werden. Auch zwischenzeitliche Gespräche oder Vernehmungen haben einen solchen auffrischenden Effekt. Diese "Auffrischung" des Gedächtnisses kann auch dann eine hohe Konstanz bewirken, wenn die Aussage tatsächlich nicht erlebnisbegründet ist. Daraus folgt: die Zurückweisung der Hypothese einer ausgedachten Aussage auf der Grundlage der festgestellten Konstanz ist nur dann sachlich begründet, wenn andere Ursachen für die Übereinstimmung (z.B. Aktenkenntnis, Lesen eigener Aufzeichnungen, zwischenzeitliche Gespräche) ausgeschlossen werden können. Unter methodischen Gesichtspurikten handelt es sich hier um weitere Subhypothesen der globalen Umichtigkeitsannahme. Das Versäumnis der Prüfung derartiger potentieller

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Konfundienmgen kann ebenso zu falschen Gutachtenergebnissen führen wie die Nichtbeachtung etwa einer Suggestionshypothese.

Fehlerhafte Kodierung der Realkennzeichen. Bei einer Realkennzeichenanalyse wird die Aussage nach ÄuJlenmgen abgesucht, die sich einem der Realkennzeichen zuordnen lassen. Dieser Vorgang wird in der psychologischen Diagnostik im Allgemeinen als "Kodierung" bezeichnet. Die Auswertung der zu beurteilenden Aussage anhand der Realkennzeichen erfordert eine gründliche Ausbildung und praktische Erfahrungen. Dabei reichen weder die Teilnahme an Vorträgen oder (literaturlastigen) Seminaren noch das Lesen einschlägiger Literatur aus, um zufriedenstellende Beurteiler-Übereinstirnrnungen zu erreichen. In unseren Untersuchungen lagen die Übereinstimmungen bei der Kodierung von Realkennzeichen zwischen mehreren Beurteilern ohne jegliches Training bei etwa 30% - 40%, während nach einern zweibis dreiwöchigen Training mit verschiedenen Übungen und Rückmeldungen Übereinstimmungen von 70% und mehr erreicht wurden. Entsprechend lagen die Korrelationen nach Vorträgen, Lektüre oder Seminaren bei .20 - .30, nach einern ausführlichen Training dagegen bei .60 - .70 und teilweise noch darüber. Dies zeigt zum einen, dass ein gründliches Training in der Kodierung der Realkennzeichen erforderlich ist, um bei dieser Form der Inhaltsanalyse ausreichende Beurteiler-Übereinstimmungen zu erzielen. Zum anderen wird deutlich, dass auch nach Absolvierung eines solchen Trainings keine perfekten Übereinstimmungen erreicht werden. Zwar ist denkbar, dass diese an Studierenden ohne jegliche einschlägige Erfahrung erhobenen Werte die von erfahrenen Sachverständigen erreichbaren Reliabilitäten unterschätzen. Es wäre jedoch illusorisch anzunehmen, dass selbst erfahrene Sachverständige bei der Kodierung von Realkennzeichen keinerlei Fehler machen. Jedes diagnostische Verfahren ist unvenneidlich mit einern mehr oder weniger großen Fehlerrisiko behaftet. Selbst mit hochgradig strukturierten und standardisierten Leistungstests und Persänlichkeitsfragebägen werden keine perfekten Reliabilitaten erreicht. Allgemein gilt, dass Objektivitat und Reliabilität diagnostischer Daten umso geringer sind, je gräßer der Handlungs- und Interpretationsspielraurn bei der Erhebung und der Bewertung dieser Daten ist. Da die Analyse von teilweise mehrdeutigen und unstrukturierten Äußerungen von Zeugen immer auch Bewertungen erfordert, muss in diesem Bereich mit unvenneidlichen Ungenauigkeiten gerechnet werden.

Übergeneralisierung von Befunden. Bei der aussagepsychologischen Begutachtung wird nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit seiner

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Aussage beurteilt (BGHS~ 45, 164; Volbert & Steller, 2004; Köhnken, 2006b). Während dieser allgemein akzeptierte Grundsatz bei der Beurteilung einer Aussage über ein einzelnes Ereignis weitgehend beachtet wird, werden bei der Schilderung mehrerer Tathandlungen manchmal Extrapolationen vorgenommen, die durch die Methodik und/oder durch die Befunde nicht mehr gedeckt sind. Die aussagebezogene (im Gegensatz zur personenbezogenen) Beurteilung erfordert, dass jede behauptete Tathandlung bzgl. der Realkennzeichen und der Konstanz geprüft wird. Dabei können sich unterschiedliche Befundlagen ergeben, die eine differenzierte Beurteilung der aufgestellten Hypothesen erfordern. Wenn beispielsweise eine der Tathandlungen nur in einer polizeilichen Vernehmung oder nur in der aussagepsychologischen Exploration geschildert wird, kann hierfür keine Konstanzanalyse vorgenommen werden. Eine Zurückweisung der Hypothese einer erfundenen Aussage ist somit - unter sonst gleichen Bedingungen - weniger abgesichert als im Falle positiv festgestellter Konstanz. Das bedeutet nicht, dass diese Tatschilderung deshalb falsch sein muss. Die schwächere Absicherung führt jedoch zwangsläufig zu einer geringeren Zuverlässigkeit der diesbezüglichen Schlussfolgerung, und dies muss dem Gericht kommuniziert werden. Ebenso ist es möglich, dass verschiedene Tathandlungen unterschiedlich detailliert geschildert werden. Möglicherweise ist ein bestimmter Vorfall unter aussagepsychologischen Gesichtspunkten eher schlicht und kurz gewesen. Vielleicht liegt er lange zurück und ist in Teilbereichen bereits vergessen worden, so dass z.B. aufgrund von Erinnerungsverlusten nur eine kurze und oberflächliche Schilderung gegeben werden kann. In einer solchen Situation wäre es ein Fehler, von einzelnen aufgrund ihrer inhaltlichen Qualität und Konstänz als nicht erfunden beurteilten Aussagekomplexen auf das Vorhandensein einer Erlebnisgrundlage auch für andere, weniger qualifiziertefkonstante Schilderungen zu schließen. Das Gericht mag im Zuge der freien Beweiswürdigung derartige Schlussfolgerungen anstellen, ein Sachverständiger muss sich dagegen auf die Methoden und Schlussfolgerungsregeln seiner Wissenschaft beschränken und deshalb differenziert die Zuverlässigkeit der aussagepsychologischen Schlussfolgerungen für die verschiedenen behaupteten Tathandlungen darlegen.

Mechanistische Anwendung der Realkennzeichen. Es ist immer wieder betont worden, dass die aussagepsychologische Begutachtung nicht als mechanistisches Abarbeiten einer Checkliste von Realkennzeichen missverstanden werden darf (z.B. Greuel, Offe, Fabian, WetzeIs, Fabian, Offe, & Stadler, 1998; Köhnken, 2006b; Volbert & Steller, 2004). Vielmehr handelt es sich um einen komplexen einzelfall-

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diagnostischen Prozess. Die zugnmde liegende Methodik kann als ein Algorithmus verstanden werden, der die Generienmg von fallspezifischen Hypothesen, die hypothesengeleitete Erhebung von Daten und deren Beurteilung sowie schließlich die Integration der Befunde und Einzelbeurteilungen beschreibt In Verbindung mit der zu untersuchenden Fragestellung, ob der zu begutachtende Zeuge (nicht: irgendein Zeuge) unter Berücksichtigung seiner Kenntnisse und kognitiven Fähigkeiten in der Lage gewesen wäre, diese Aussage (nicht: irgendeine Aussage) auch ohne Erlebnisgnmdlage zu produzieren, ergibt sich die Notwendigkeit einer individuellen Prüfung und Beurteilung. Gelegentlich in Gutachten zu lesende F ormulienmgen wie z.B. "Derartige Schilderungen findet man in erfundenen Aussagen nicht" oder "Falsch aussagende Zeugen geben erfahrungsgemäß nicht solche Beschreibungen" u. A lassen auf eine nicht sachgerechte pauschale (im Gegensatz zur personen- und fallbezogenen) Beurteilungsstrategie schließen.

Nichtbeachtung der Grenzen der Aussageanalyse

Bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung auf der Gnmdlage einer Konstanz- und Realkennzeichenanalyse handelt es sich um eine diagnostische Prozedur, die unter bestimmten Voraussetzungen hohe Trefferquoten erreichen kann. Wenn diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt sind, steigt das Fehlerrisiko. Dies ist für sich genommen nicht problematisch, sondern eine normale Eigenschaft jeder diagnostischen Methode. Zum Problem wird es dann, wenn die Grenzen der Methode nicht erkannt und angemessen berücksichtigt oder wenn ungeeigneten Methoden zu ihrer Überwindung angewandt werden.

Kein Aussagematerial vorhanden. Von geistig behinderten Zeugen, von Kleinkindern ooer von traurnatisierten Zeugen können manchmal keine Aussagen erhoben werden, weil sie entweder nicht in der Lage sind, ein Erlebnis hinreichend verständlich zu verbalisieren oder weil sie keine oder nur rudimentäre Erinnerungen an einen

vermuteten Übergriff haben. Gelegentlich wollen Zeugen auch nicht mehr über die fraglichen Erlebnisse sprechen, weil sie die damit verbundenen emotionalen Belas-

tungen vermeiden wollen. In einem solchen Fall kann die Methode der Wahl, nämlich die inhaltliche Analyse einer Aussage, mangels Analysematerial nicht angewandt werden. Dies ist sicher eine unbefriedigende Situation. Es wäre jedoch ein

methodischer Fehler, den Mangel an diagnostisch verwertbaren Befunden dadurch überwinden zu wollen, dass auf andere, nicht valide Verfahren wie etwa Zeichnun-

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gen, Verhaltensauffälligkeiten o.ä. ausgewichen wird. Fehlende Validität eines ungeeigneten Verfahrens wird nicht dadurch kompensiert, dass andere, besser geeignete Verfahren nicht anwendbar sind. Ähnliches gilt für den bereits weiter oben angesprochenen untauglichen Versuch, bei mutmaßlich traurnatisierten Zeugen die Realkennzeichen umzudeuten, ohne dies empirisch zu belegen.

Kein ausreichendes diagnostisch relevantes Aussagematerial vorhanden. Manchmal liegt eine umfangreiche und detaillierte Aussage vor, von der aber nur kleine Anteile diagnostisch für die Realkennzeichenanalyse verwertbar sind. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn - wie weiter oben bereits erwähnt - im Falle einer behaupteten Vergewaltigung nicht die sexuelle Interaktion selbst, sondern lediglich die fehlende Einvernehmlichkeit bestritten wird. Wenn es nicht gelingt, in der aussagepsychologischen Exploration durch eine entsprechende Fokussierung der Befragung ausreichend relevantes Aussagernaterial zu erheben, reicht der vorhandene Rest für eine fundierte Aussageanalyse möglicherweise nicht mehr aus. In diesem Fall muss auf eine Aussageanalyse verzichtet werden, weil diese aufgrund unzureichender Datenbasis zu einern falschen Ergebnis führen kann.

Kontamination der Aussage durch suggestive Befragung. Wenn davon ausgegangen werden muss, dass ein Zeuge oder eine Zeugin suggestiv beeinflusst wurde, kann die Aussageanalyse nicht mehr sinnvoll angewandt werden. Sie wurde entwickelt, um erfundene von erlebnisbegründeten Aussagen zu unterscheiden, versagt aber bei der Unterscheidung zwischen erlebnisbegründeten und nachhaltig suggerierten Aussagen. Durch suggestives Vennitteln von Details kann eine Aussage entstehen, die sich inhaltlich nicht mehr von erlebnisbegründeten Aussagen unterscheidet. Die Nichtbeachtung einer solchen Kontamination kann das Risiko einer fälschlicherweise als erlebnisbegründet eingestuften Aussage dramatisch erhöhen, wie z.B. einige spektakuläre Fälle aus dem vergangenem Jahrzehnt zeigen (z.B. Steller, 2000a). Zur grundsätzlichen Problematik suggestiver Beeinflussungen und damit verbunden von sog. Aufdeckungsarbeit für die aussagepsychologische Begutachtung sei u.a. auf Volbert und Steller (2004) verwiesen.

Vertrautheit des Zeugen mit der Analysetechnik Ein bisher in der Begutachtungspraxis noch weitgehend vernachlässigtes Problem ist die Vorbereitung eines Zeugen auf die aussagepsychologische Exploration mit dem Ziel, realkennzeichemelevante Äußerungen zu produzieren ("coaching"). Es gibt inzwischen mehrere empi-

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rische Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Aussagen ohne Erlebnisgrundlage, die systematisch im Hinblick auf die bekannten Realkennzeichen trainiert wurden, deutlich schwerer oder gar nicht mehr von erfundenen Aussagen zu unterscheiden sind (z.B. Lösel & Raichle, 2001; Volbert & Rutta, 2001; Vrij, Kneller& Mann, 2000; Vrij, Akehurst, Soukara & Bull, 2002). Bei einem solchen coaching handelt sich deshalb ebenso um eine Kontamination des Analysernaterials wie bei einer suggestiven Beeinflussung oder der weiter oben diskutierten Auffrischung des Gedächtnisses durch Lesen von Protokollen eigener früherer Aussagen. Eine Realkennzeichenanalyse wäre dann nicht mehr sinnvoll anwendbar. Auf der Grundlage der bisher noch nicht sehr zahlreichen Studien ist schwer einzuschätzen, wie intensiv eine Vorbereitung sein muss, um einerseits als solche nicht erkannt zu werden und andererseits ausreichend Realkennzeichen in der Aussage zu produzieren. Vermutlich dürfte der Erfolg eines solchen coachings auch von den intellektuellen Fähigkeiten des Zeugen abhängen. Es ist daher unklar, ob auch bereits selektive Verstärkungen ("Das musst du beim Gutachter auch erzählen, das ist wichtig! ") ausreichen, um in der Exploration hinreichend viele und qualifizierte Realkennzeichen zu generieren, oder ob es hierzu eines intensiven, systematischen Trainings bedarf. Dessen ungeachtet handelt es sich hier um eine potentielle Konfundierung, wie sie auch bereits weiter oben im Zusammenhang mit der Konstanzanalyse diskutiert wurde. Wenn ein coaching stattgefunden hat, kann aus evt!. gefundenen Realkennzeichen nicht mehr auf eine Erlebnisgrundlage als Quelle der Aussage geschlossen werden.

Hohe Fähigkeiten zur Selbstpräsentation. Bei der Aussageanalyse wird die aktuell erhobene Aussage mit den intellektuellen, insbesondere verbalen und kreativen Fähigkeiten des Zeugen sowie dessen einschlägigen Kenntnissen und Erfahrungen in Beziehung gesetzt (s. 1.4.1.). Je besser diese Fähigkeiten und Kenntnisse ausgeprägt sind, desto schwieriger wird es, die so detenninierte "Messlatte" zu überspringen, d h., die Möglichkeit einer fantasierten Aussage auszuschließen. Während also die Anwendbarkeit dieser Methode unten an eine Grenze stößt, wenn keine venvertbare Aussage vorhanden ist, wird die obere Grenze durch die spezifischen Fähigkeiten und Kenntnisse des Zeugen markiert.

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Fehler im Untersuchungsplan oder bei der Durchfohrung der Untersuchung

Die Qualität der erhobenen Daten hängt nicht nur von den eingesetzten diagnostischen Methoden ab, sondern auch von den Umständen, unter denen diese Daten gewonnen wurden. So kann z.B. auch ein Intelligenztest mit sehr hoher Reliabilität zu einer falschen EinschätZllilg der intellektuellen Kapazität eines Probanden führen, wenn er während der Bearbeitung der Aufgaben gestört wurde oder durch eine lange Untersuchungsdauer zu einer ungünstigen Tageszeit in seiner Leistungsfähigkeit temporär eingeschränkt war. Ebenso können die im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung erhobenen Befunde durch suboptimale Untersuchungsbedingungen verzerrt werden.

Störungen während der Exploration. Wenn die Untersuchung in der Wohnung des Zeugen durchgeführt wird, hat man als Untersucher nur sehr begrenzt Kontrolle über mögliche Störfaktoren wie etwa Telefonanrufe, Klingeln an der Tür, Ablenkungen durch im Zimmer vorhandenes Spielzeug oder Störungen durch Familienmitglieder Derartige Störungen können die Qualität der erhobenen Daten erheblich mindern. Die Durchführung der Begutachtung in eigenen Untersuchungsräumen oder in speziell eingerichteten Räumen in Polizeistationen oder Kliniken kann diese Probleme verringern. Im Einzelfall mag es unvenneidlich sein, die Untersuchung in der hauslichen Umgebung des Zeugen durchzuführen (wenn z.B. ein Verlassen der Wohnung aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist oder wenn ein Kind sich außerhalb der vertrauten Umgebung nicht befragen lässt). In diesen Fällen müssen Vorkehrungen zur Vermeidung von Störungen oder gar Beeinflussungen durch Dritte getroffen werden. Ebenso sollte möglichen Konfundierungen der Befunde durch Verwendung von Aufzeichnungen o.ä. vorgebäugt werden. Ähnlich argumentiert Eisenberg (2004), wenn er fordert, dass "gutachterliche Untersuchungen ... grundsätzlich auf neutralem Ort durchzuführen (seien), da dadurch am ehesten eine einflussfreie oder doch -arme Bedingung geschaffen wird" (S. 364). Die Durchführung der Untersuchung z.B. im häuslichen Bereich des Zeugen sei dagegen "geeignet, die Neutralität in dieser oder jener Tendenz zu beeinträchtigen". Dies gelte namentlich dann, "wenn in dem konkreten häuslichen Milieu das Aussageverhalten zwecks Gestaltung und Aufrechterhaltung bestimmter Inhalte vorbereitet worden sein könnte" (S. 364).

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Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch emotionale Belastung. Bei einer detaillierten Befragung zu hochgradig belastenden Erlebnissen werden fast unvermeidlich die damit assoziierten negativen Emotionen aktiviert. Dies kann sich doppelt ungünstig auf die inhaltliche Qualität einer Aussage auswirken: Zum einen beeinträchtigen starke negative Affekte generell die kognitive Leistungsfähigkeit (Gedächtnisabruf, Quellenattribution, Verbalisierung usw.). Hinzu kommt dann manchmal noch die individuelle Reaktion auf den an sich selbst wahrgenommenen emotionalen Kontrollverlust, der sich z.B. in Weinen äußert. Dies ist dem Zeugen li.U. sehr unangenehm oder gar peinlich, was zu einer verstärkten Beschäftigung mit der eigenen Befindlichkeit und dem Versuch, die Kontrolle über die eigenen Emotionen wiederzuerlangen, führen kann. Diese Aktivitäten lenken ebenfalls von der eigentlichen Aufgabe ab und können dadurch eine geringer als eigentlich mögliche Aussagequalität zur Folge haben.

Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch eine zu lange Untersuchungsdauer. Die Belastbarkeit insbesondere von Kindern, aber auch von emotional betroffenen Ervvachsenen ist zeitlich begrenzt. Wenn diese Grenzen in einer umfangreichen diagnostischen Untersuchung überschritten werden, können sich rasch Unaufmerksamkeit, Konzentrationsmängel und auch Unwilligkeit einstellen. Die Folge ist dann möglicherweise eine geringe Aussagequalität, aufgrund derer evtl. die Hypothese einer fantasierten Aussage fälschlicherweise nicht zurückgewiesen wird. Bei Anzeichen von Konzentrationsverlust (wie z.B. motorische Umuhe) kann es zur Vermeidung dieser Probleme sinnvoll sein, die Untersuchung zu unterbrechen und zu einern späteren Zeitpunkt fortzusetzen.

Anwesenheit anderer Personen während der Exploration. Sehr jungen Kindern ist es manchmal unangenehm, sich in Abwesenheit der Eltern untersuchen zu lassen. Auch Eltern äußern gelegentlich den Wunsch, während der Exploration ihres Kindes anwesend zu sein. 1.1an sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass sich eine derartige Konstellation ungünstig auf die Angaben des Kindes auswirken kann. Wenn Kinder bereits zuvor mit den Eltern über den fraglichen Sachverhalt gesprochen haben, könnten sie womöglich bestrebt sein, mit ihren früheren Schilderungen konsistent zu bleiben. Sie erinnern sich dann evtl. eher an ihre früheren Äußerungen als an ihre Erlebnisse. Es besteht auch die Gefahr, däss anwesende Personen durch ihr nonverbales Verhalten oder gar durch direkte Äußerungen Einfluss auf die Schilderung des Zeugen nehmen.

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Fehler bei der diagnostischen Bewertung der Befunde Die aussagepsychologische Bewertung der "Rohdaten" aus der Realkennzeichenund der Konstanzanalyse beinhaltet zwei Komponenten. Zunächst muss eingeschätzt werden, zu welchen Aussagequalitäten und Konstanzen ein Zeuge auch dann in der Lage wäre, wenn dessen Aussage keine Erlebnisgrundlage hätte, wenn sie also eine Erfindung wäre. Hierfür müssen zunächst einmal geeignete Befunde erhoben werden, die eine Beurteilung der diesbezüglichen Kompetenzen ermöglichen. Dazu gehören z.B. Daten zu den kognitiven und insbesondere verbalen Fähigkeiten sowie den einschlägigen Kenntnissen und Erfahnmgen des Zeugen. Im zweiten Schritt müssen die Befunde zur Aussagequalität und Konstanz mit den so geschätzten Kompetenzen in Beziehung gesetzt werden. Beide Komponenten beinhalten komplexe Beurteilungsprozesse, bei denen es auch zu Fehleinschätzungen kommen kann.

Falsche Bewertung der festgestellten Realkennzeichen

Gegenstand der Realkennzeichenanalyse ist die schon mehrfach erwähnte Frage: Wäre dieser Zeuge mit seinen spezifischen kognitiven Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen angesichts dieser situativen Bedingungen (z.B. Art der Tat, Zeitabstand) sowie zwischenzeitlicher Ereignisse (z.B. Anzahl und Art bisheriger Befragungen) in der Lage gewesen, diese Aussage auch ohne eigene Erlebnisgrundlage zu produzieren und himeichend konstant zu wiederholen? Die aussagepsychologische Begutachtung der Glaubhaftigkeit ist somit eine individualisierte Leistungsdiagnostik Sie erfordert, die in der Untersuchung festgestellte Aussageleistung mit der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit des Zeugen in Beziehung zu setzen. Übersteigt die inhaltliche Qualität der Aussage ein Niveau, welches der Zeuge auch ohne Erlebnisgrundlage zu produzieren imstande gewesen wäre, wird die Hypothese einer nicht erlebnisbegründeten, d.h. erfundenen, Aussage zurückgewiesen. Hieraus folg~ dass eine Realkennzeichenanalyse drei Phasen beinhaltet:

(1)

die (noch ohne Bewertung erfolgende) Erfassung von Äußerungen, die sich einern oder mehreren der Realkennzeichen zuordnen lassen,

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(2)

die Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten des Zeugen bzgl. der festgestellten Realkennzeichen (Referenzwert), und

(3)

ein Vergleich der festgestellten inhaltlichen Qualitäten (Realkennzeichen) mit dem geschätzten Referenzwert.

Die im Rahmen einer Inhaltsanalyse gefundenen Äußerungen, die sich einem oder mehreren Realkennzeichen zuordnen lassen, sind zunächst lediglich Rohwerte, die für sich betrachtet keine diagnostischen Schlussfolgerungen erlauben. Sie sind in diesem Sinne vergleichbar mit der Anzahl richtig gelöster Aufgaben in einem Intelligenztest Die bloße Anzahl richtiger Lösungen ist völlig nichtssagend. Erst durch ein In-Beziehung-Setzen des individuellen Testrohwertes mit spezifischen Referenzwerten (der Anzahl von Aufgaben, die Probanden in einem bestimmten Alter in einern bestimmten Test unter standardisierten Bedingungen im Durchschnitt richtig lösen) wird eine sinnvolle diagnostische Schlussfolgerung möglich (z.B. "die Leistung dieses Probanden liegt in diesem Test um eine Standardabweichung oberhalb des Mittelwertes seiner Vergleichsgruppe"). Während für standardisierte Testverfahren die für eine Bewertung notwendigen Referenzwerte in den sog. Norrntabellen nachgeschlagen werden können, gibt es derartige "Normen" für Realkennzeichen nicht. Es kann sie auch nicht geben, weil es an einer zentralen Voraussetzung mangelt, nämlich der Standardisierung und Konstanthaltung der Bedingungen, unter denen die zu bewertende Leistung erbracht wird. Während bei Intelligenztests Z.B. die Instruktionen, Zeitvorgaben, Materialien usw. genau vorgeschrieben und exakt in dieser vorgeschrieben Form anzuwenden sind, können die leistungsrelevanten Faktoren bei der Schilderung eines Ereignisses sehr stark variieren. So kann das berichtete Ereignis sehr unterschiedlich komplex sein, es kann erst kürzlich oder vor langer Zeit geschehen sein, der Zeuge hat in der Zwischenzeit häufig oder selten darüber nachgedacht, mit anderen gesprochen usw. Auch die allgemeine individuelle Leistungsfähigkeit (hinsichtlich Z.B. metakognitiver Fähigkeiten, verbaler Differenzierthei~ Erfahrungen mit dem fraglichen Ereignis usw.) kann stark variieren. Der "Referenzwert", mit dem die in der Realkenzeichenanalyse festgestellte Leistung in Beziehung gesetzt wird, muss deshalb in jedem Einzelfall geschätzt werden. Grundlage für diese Schätzung sind diagnostische Befunde, die speziell zu diesem Zweck erhoben werden müssen. Es gibt allerdings keine diagnostischen Verfahren, mit denen sich die Fähigkeit zur Produktion einer konfabulierten Aussage direkt erfassen ließe. Somit bleibt nur die Möglichkeit, Befunde zur allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit (u.a. allgemeine bzw. mehrdimensionale Intelligenztests, ggf

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Gedächtnistests, Daten über schulische Leistungen, Differenziertheit verbaler Schilderungen fallneutraler Ereignisse) zu erheben und daraus die bei einer konfabulierten Aussage zu erwartende inhaltliche Qualität zu schätzen. Unter bestimmen Bedingungen kann dabei auch eine Form der oben erwähnten "Fantasieprobe" hilfreich sein. Die Schlussfolgerung von diesen Befunden zu mehr oder weniger allgemeinen kognitiven Fähigkeiten einerseits auf die in der speziellen Fallkonstellation zu erwartende Aussagequalität andererseits ist nicht unproblematisch und kann misslingen. Dabei kann die Schätzung der Kompetenz zur Produktion einer Fantasiegeschichte die tatsächlichen Fähigkeiten über- oder unterschätzen und in der Folge zu falsch positiven oder falsch negativen Entscheidungen führen. Die einzelnen oder mehreren Realkennzeichen zugeordneten Äußerungen des Zeugen müssen nun mit dem so geschätzten "Referenzwert" in Beziehung gesetzt werden. Er bildet gleichsam die "Messlatte". Übersteigt die Aussagequalität diese Messlatte, kann man schließen, dass die Aussage jedenfalls nicht ohne weitere Hilfe oder Einflussnahme ausgedacht sein kann. Liegt sie auf dem gleichen Niveau oder sogar darunter, ist die Zurückweisung der Hypothese einer nicht erlebnisbegründeten Aussage nicht möglich (was nicht gleichbedeutend mit der Schlussfolgerung ist, die Aussage sei falsch, sondern lediglich bedeutet, dass mit den verfügbaren Methoden keine himeichend eindeutige Schlussfolgerung möglich ist). Hierbei handelt es sich um einen komplexen Beurteilungsprozess, zu dem es - anders als für die Güte der Kodierung der Realkennzeichen - bisher noch kaum empirische Befunde zur Reliabilität (im Sinne einer Übereinstimmung verschiedener Beurteiler) gibt. Selbstverständlich können auch an dieser Stelle Fehleinschätzungen vorkommen. Dabei dürfte das Fehlerrisiko umso größer sein, je näher die festgestellte Aussagequalität dem geschätzten Referenzwert kommt. In dieser Region sind auch die Folgen einer Fehleinschätzung gravierender. Wenn die Aussagequalität weit oberhalb des Referenzwertes liegt, wirken sich geringfügige Unterschatzungen nicht auf das Beurteilungsergebnis aus, weil die Qualität der Aussage nach wie vor in einern Bereich liegt, der die individuellen Kompetenzen übersteigt. Dieser "Sicherheitspuffer" wird jedoch umso geringer, je ähnlicher die festgestellte Aussagequalität dem geschätzten Referenzwert ist. Eine falsche Unterschätzung der Aussagequalität oder Überschätzung der individuellen Kompetenzen kann dann dazu führen, dass die Hypothese einer fehlenden Erlebnisgrundlage nicht mehr zurückgewiesen wird.

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Falsche Bewertung der Ergebnisse der Konstanzanalyse

Auch die Konstanzanalyse beinhaltet mehrere Bewertungsphasen. Der Vergleich zweier oder mehrerer Aussagen über den gleichen Sachverhalt ergibt zunächst - so wie bei der Realkennzeichenanalyse -lediglich "Rohwerte" in Form von festgestellten Übereinstimmungen und Abweichungen. Diese bedürfen einer Bewertung unter Heranziehung verschiedener Kriterien. So sind z.B. nicht übereinstimmende Schilderungen zunächst einmal danach zu beurteilen, ob die festgestellten Abweichungen überhaupt diagnostisch relevant oder beispielsweise nur das Resultat sprachlicher Ungenauigkeiten oder unterschiedlicher Befragungsformen sind. Weiterhin ist bei ggf. festgestellten Diskrepanzen zwischen verschiedenen Aussagen zu beurteilen, ob diese den Kernbereich oder lediglich periphere Details betreffen. Bei jedem dieser Beurteilungsschritte können Fehler auftreten, z.B. indem geringfügige Abweichungen irrtümlich als diagnostisch bedeutsame Inkonstanzen klassifiziert werden. Nachdem auf diese Weise die diagnostische Bedeutsarnkeit von Übereinstimmungen und Diskrepanzen beurteilt wurde, muss das Resultat dieser Beurteilung - wie bei der Bewertung der Ergebnisse der Realkennzeichenanalyse - mit den individuellen kognitiven Fähigkeiten des Zeugen unter Berücksichtigung der für die Erinnerungsgenauigkeit relevanten fallspezifischen Besonderheiten Cu.a. Komplexität des Ereignisses, Zeitabstand zwischen dem geschilderten Ereignis und der Erstaussage sowie zwischen den zu vergleichenden Aussagen) in Beziehung gesetzt werden. Auch hierfür bedarf es zunächst der Schätzung eines "Referenzwertes" , der Konstanzleistung also, zu der der Zeuge unter den gegebenen Bedingungen auch im Falle einer nicht erlebnisbegründeten Aussage vennutlich fähig wäre. Zu diesem Referenzwert werden sodann die ÜbereinstimmungenIDiskrepanzen zwischen den Aussagen in Beziehung gesetzt. Dieser Beurteilungsprozess ist nicht weniger komplex als derjenige bei der Realkennzeichenanalyse. Dementsprechend können auch hier Fehler durch die Fehleinschätzung auf den verschiedenen Stufen des Prozesses auftreten. Die Gefahr eines falschen Gutachtenergebnisses hängt auch hier davon ab, wie weit der jeweilige "Schwellenwert" bei den einzelnen Beurteilungsphasen überschritten wird.

Fehler bei der Integration der Befund- undAnknüpfungstatsachen Wenn alle Befunde erhoben und jeweils unabhängig voneinander hinsichtlich der jeweiligen Ausgangshypothesen bewertet worden sind, müssen sie zu einern Ge-

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samturteil über die eingangs aufgestellten Hypothesen zur Quelle der Aussage integriert werden. Dies kann relativ einfach sein, wenn alle einzelnen Beurteilungsergebnisse zu dem gleichen Ergebnis geführt haben (z.B. hohe inhaltliche Qualität der Schilderung, hohe Konstanz, keine Anhaltspunkte für suggestive Beeinflussungen usw.) oder wenn z.B. die vorhandenen Schilderungen so sehr voneinander abweichen, dass weitergehende Analysen überflüssig sind. Schwierig wird die Bewertung aber bei inkonsistenten Ergebnissen in den verschiedenen Analyseschritten oder bei Abweichungen von anderen Erkenntnissen (z.B. Aussagen anderer Zeugen). Dann muss z.B. abgewogen werden, ob eine hohe inhaltliche Qualität der aktuellen Schilderung (z.B. mehrere stark ausgeprägte Realkennzeichen) Diskrepanzen, die in der Konstanzanalyse festgestellt wurden, kompensieren können oder nicht Auch bei diesen differenzierten Abwägungen können Fehleinschätzungen vorkommen und letztlich zu falschen Gutachtenergebnissen führen. Bei diagnostischen Entscheidungen können grundsätzlich zwei verschiedene Fehler gemacht werden (z.B. Amelang & Schmidt-Atzert, 2006): zum einen kann ein tatsächlich vorhandener Sachverhalt (z.B. eine Krankheit) nicht erkannt werden. Hierbei handelt es sich um ein falsch negatives Ergebnis oder einen "Fehler 2. Art" bzw. "ß-Fehler". Ein "Fehler 1. Art" (oder "a-Fehler") liegt dagegen dann vor, wenn eine falsche Zuordnung zu einer Diagnosekategorie erfolgt (z.B. wenn eine Erkrankung bei einer tatsächlich gesunden Person diagnostiziert wird). Beide Fehler hängen miteinander zusammen. Wenn man den Schwellenwert, den die Qualität einer Aussage

übersteigen muss, um als nicht erfunden klassifiziert zu werden (d h. die Unwahrhypothese wird verworfen), erhöht, reduziert sich das Risiko einer falsch positiven Diagnose ("a-Fehler": eine tatsächlich falsche Aussage wird unzutreffend als erlebnisbegründet klassifiziert). Gleichzeitig steigt aber unvermeidlich das Risiko einer falsch negativen Entscheidung ("ß-Fehler": die Hypothese einer umichtigen Aussage wird verworfen und die tatsächlich falsche Aussage wird als erlebnisbegründet klassifiziert). Bei der Anwendung dieser Art von Fehleranalyse auf die aussagepsychologische Begutachtung müssen allerdings zwei Besonderheiten beachtet werden. Zunächst einmal handelt es sich um einen statistischen Zusammenhang zwischen diesen Fehlerarten. Er beschreibt die Veränderung der zu erwartenden Fehlerquoten bei einer

größeren Zahl diagnostischer Entscheidungen. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung müsste also korrekt lauten: der Anteil falsch negativer Entscheidungen an der Gesamtzahl aller diesbezüglich getroffenen Entscheidungen steigt, wenn der Schwellenwert für die erforderliche Aussagequalität erhöht wird. Bei der aussagepsychologischen Begutachtung handelt es sich jedoch um Einzelfalldiagnostik. Das Risiko, einen Fehler 1. oder 2. Art zu begehen, hängt somit entscheidend von der

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Position der zu beurteilenden Aussage in der (hypothetischen) Verteilung einer Grundgesamtheit von Aussagen ab. Ist die Aussage qualitativ sehr hochwertig (weil sie z.B. viele stark ausgeprägte Realkennzeichen enthält und hochgradig konstant zu früheren Angaben ist), ist sie weit oberhalb des sog. cut-off-Wertes lokalisiert, so dass sich eine Verschiebung dieses cut-off-Wertes in Richtung höherer Qualität faktisch gar nicht auf die Entscheidung auswirken würde. Anders ist die Situation, wenn die Qualität der zu beurteilenden Aussage den Schwellenwert nur knapp überoder unterschreitet In diesem Fall würden sich bereits geringfügige Verschiebungendes cut-off-Wertes auf das Gutachtenergebnis auswirken. Daraus folgt, dass die als Fehler 1. oder 2. Art bezeichneten Risiken eines falschen Gutachtenergebnisses für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen Befundlage differenziert eingeschätzt werden müssen. Neben den Unterschieden zwischen statistischen Fehlerquoten einerseits und einzelfalldiagnostischen Entscheidungen andererseits muss auch berücksichtigt werden,

dass der spezifische Beurteilungskontext Auswirkungen auf die aus der Fehleranalyse resultierenden Konsequenzen hat In anderen Anwendungsfeldern psychologischer (oder medizinischer) Diagnostik würde der Diagnostiker jeweils abwägen, wie gravierend die Folgen einer falsch negativen und einer falsch positiven Entscheidung sind. Hätte z.B. eine bestimmte diagnostische Entscheidung im Falle des Zutreffens große Vorteile, aber keine nennenswerten negativen Folgen, wenn sie falsch wäre, könnte ein relativ hohes Risiko eines Fehlers 1. Art akzeptiert werden. Der

cut-off-Wert könnte dann sehr niedrig angesetzt werden, um möglichst wenig falsch negative Entscheidungen zu treffen (wodurch Patienten möglicherweise wirksame Medikamente vorenthalten würden). Hätten die Medikamente allerdings gefährliche Nebenwirkungen, würde dieser Abwägungsprozess wahrscheinlich zu einer anderen

Bewertung führen. 1.1an könnte nun geneigt sein, diese Güterabwägung auch auf die forensischpsychologische Begutachtung zu übertragen und sich das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsverrnutung und des "in dubio pro reo" zu eigen zu machen. Dies wäre jedoch ein Fehler, denn hierbei handelt es sich um normative Beurteilungen, die allein dem Gericht zustehen. Bei der Beurteilung diagnostischer Befunde darf man sich davon nicht beeinflussen lassen, sondern muss sich auf die fachwissenschaftli-

chen Schlussfolgerungsregeln beschränken.

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Fehler bei der Aufbereitung und Präsentation des Gutachtens

Der BGH hat in dem bereits erwähnten Urteil vom 30.07.1999 neben Kriterien für die Durchfühnmg der Begutachtung auch Anforderungen an die Aufbereitung und Präsentation des Gutachtens zusammengestellt. Diese Anforderungen sind keine Neuschöpfungen des BGH, sondern stellen lediglich Zusammenfassungen von Standards dar, die bereits seit langem in der psychologischen Diagnostik gelten. Dabei gilt generell, dass die diagnostischen Schlussfolgerungen des Sachverständigen nach Möglichkeit für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden müssen.

Erkennbarkeit der Untersuchungshypothesen, Die für die Begutachtung aufgestellten und geprüften Hypothesen sind für das Gutachtenergebnis von zentraler Bedeutung. Ein Gutachten kann deshalb nur dann substantiell nachgeprüft werden, wenn die geprüften Hypothesen erkennbar sind. Dies setzt nicht notwendigerweise voraus, dass jeder Hypothese eine eigene Ordnungsziffer oder Überschrift zugeordnet worden ist Wesentlich für die Erkennbarkeit der Hypothesen ist lediglich, dass sie im Text zu identifizieren sind und dass ein sachkundiger Leser feststellen kann, ob zu einer bestimmten Hypothese Befunde erhoben wurden. Ferner muss erkennbar

sein, ob die Hypothesen unter Heranziehung von Befund- und Anknüpfungstatsaehen erörtert werden und zu welchem Ergebnis die diagnostische Würdigung der Befunde geführt hat

Benennung und Beschreibung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen, Das Gebot der Transparenz und Nachvollziehbarkeit erfordert nicht notwendigerweise eine vollständige Wiedergabe des Akteninhaltes. Unerlässlich ist jedoch die Benennung mit Quellenangabe derjenigen Anknüpfungstatsachen, die in die diagnostische Urteilsbildung Eingang gefunden haben.

Benennung und Beschreibung der angewandten diagnostischen Verfahren. Die erhobenen Befunde sind die zentrale Datenbasis für die gutachterlichen Schlussfolgerungen. Ihre erschöpfende Darstellung ist deshalb eine notwendige Voraussetzung für die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens. Unerlässlich ist auch eine Beschreibung der verwendeten diagnostischen Verfahren. Sofern es sich um eingeführte Methoden handelt (z.B. standardisierte und der Fachöffentlichkeit allgemein zugängliche psy-

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chometrische Testverfahren, Persönlichkeitsfragebögen o. A) ist die eindeutige Benennung des Verfahrens ausreichend, da alle weiteren Informationen der entsprechenden Fachliteratur entnommen werden können. Anders ist die Situation jedoch bei informellen Verfahren, jedenfalls sofern es sich dabei nicht lediglich um Explorationshilfen handelt Diese bedürfen einer näheren Erläuterung im Gutachten selbst Diese Erläuterung sollte zumindest beinhalten, was mit dem Verfahren erfasst werden soll und auf welche theoretischen und empirischen Grundlagen sich die Methode stützt.

Beschreibung der Befundtatsachen. Eine Nachvollziehbarkeit des Gutachtenergebnisses ist ohne einen umfassenden Befundbericht nicht möglich. Es wäre deshalb ein Fehler, für das Gutachten wesentliche Befunde nicht oder nur unzureichend im Gutachten wiederzugeben. Hinsichtlich der Beifügung der Explorationsprotokolle oder gar der Tonaufzeichnungen der Exploration gibt es unterschiedliche Auffassungen. Nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH kann jedoch kein Fehler darin gesehen werden, dass dem Gutachten kein vollständiges Explorationstranskript beigefügt wird. Vielmehr sei es "ausreichend und wegen der größeren Übersichtlichkeit vorzugswürdig, . das Gespräch nur insoweit wörtlich - ggf unter Schilderung von Ablauf und Begleitumständen - (darzustellen), wie es für die Bearbeitung des Gutachtenauftrags von Bedeutung ist" (BGHSt, 45, 164).

Trennung von Befundbericht und diagnostischer Würdigung der Befunde. Die deskriptive Darstellung der erhobenen Befunde (Testergebnisse, Anamnese, Exploration usw.) muss klar erkennbar von den diagnostischen Bewertungen dieser Befunde getrennt werden, da andernfalls nur noch schwer oder gar nicht erkennbar ist, woraus diagnostische Schlussfolgerungen abgeleitet wurden.

Transparenz der Schlussfolgerungsregeln. Im Rahmen der Realkennzeichenanalyse sollten die in der Aussage festgestellten Realkennzeichen mit entsprechenden Beispielen und ggf wörtlichen Zitaten aus dem Explorationsbericht belegt werden. Sofern eine Konstanzanalyse durchgeführt wurde, sollten auch die übereinstimmend berichteten Aussagepassagen durch Beispiele belegt werden. Diskrepanzen dürfen dabei nicht ignoriert werden, sondern erfordern eine explizite Erörterung. Ggf. muss aus dem Gutachten hervorgehen, warum eine Aussage z.B. trotz festgestellter Diskrepanzen als erlebnisbegründet beurteilt wurde.

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Die Integration aller Einzelbefunde und deren diagnostische Bewertung münden schließlich in der Beantwortung der Gutachtenfrage. Für die Transparenz und Nachvollziehbarkeit muss dabei u.a. erkennbar sein, wie die einzelnen Befunde gewichtet

wurden und warum angesichts evt!. diskrepanter Befunde eine bestimmte Schlussfolgerung gezogen wurde.

Nichtbeachtung gesetzlicher Rahmenbedingungenfor die Begutachtung

Standen bisher Fehlerquellen im Vordergrund, die die psychologisch-diagnostische Methodik, die Datenerhebung und -auswertung betrafen, so sollen abschließend noch zwei Probleme angesprochen werden, die in der Nichtberücksichtigung gesetz-

licher Rahmenbedingungen der Sachverständigentätigkeit begründet sind.

Überschreitung gesetzlicher Grenzen der Informationsbeschaffung durch Sachverständige

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Sachverständigentätigkeit in Strafverfahren sind in den §§ 72ff der Strafprozessordnung (StPO) geregelt Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem § 80 StPO. Danach kann "dem Sachverständigen. auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden (Abs. 1). Gern. Abs. 2 kann ihm "zu demselben Zweck. gestattet werden, die Akten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an sie unmittelbar Fragen zu stellen." Hieraus folgt, dass ein Sachverständiger die Befragung anderer Personen als derjenigen, auf die sich der Gutachtenauftrag bezieht, nicht eigenständig durchführen darf Stattdessen muss bei der auftraggebenden Stelle (Staatsanwaltschaft oder Gericht) beantragt werden, eine weitere Person zeugenschaftlieh zu vernehmen und bei dieser Vernehmung Fragen stellen zu dürfen (z.B. Ulrich, 2007). Bei aussagepsychologischen Gutächten sind Sachverständige vor allem bei der oftmals fachlich notwendigen Rekonstruktion der Aussagegenese mit dem sich hieraus

ergebenden Problem konfrontiert. Kinder sind nur selten in der Lage, diesbezüglich zuverlässige Angaben zu machen, weshalb i.d.R. Eltern oder andere Bezugspersonen

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zu der sog. Geburtsstunde der Aussage befragt werden. Derartige Befragungen werden dann gerne als "informatorische Anhörungen" bezeichnet - offenbar, weil man sich der rechtlichen Problematik dieser Befragungen sehr wohl bewusst ist Die Etikettierung als "informatorische Befragung" vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es sich hierbei letztlich um die Beschaffung beweiserheblicher Tatsachen handelt, die einem Sachverständigen nicht erlaubt ist Der BGH hat in seinem Urteil zu Mindeststandards für Glaubhaftigkeitsgutachten (1 StR 618/98) auf "erhebliche strafprozessuale und rechtstatsächliche Einwände" gegen diese Praxis hingewiesen und deren Zulässigkeit ausdrücklich offengelassen. Im Zuge der Diskussion von Mindeststandards für Prognosegutachten ist diese Thematik in einern Arbeitskreis aus Bundesrichtern, Strafverteidigern, Forensischen Psychiatern, Sexualwissenschaftlern und Rechtspsychologen erneut erörtert worden - mit einer noch deutlich restriktiveren Tendenz. Die Ergebnisse dieser Diskussionen sind im Jahre 2006 veröffentlicht worden (Boetticher et a1., 2006). Zur Befragung weiterer Personen wird dort ausgeführt: "Hält der Gutachter im Erkenntnisverfahren die Befragung weiterer Zeugen zur Vorbereitung seines Gutachtens für erforderlich, gilt die Verfahrensweise nach § 80 Stpo. Danach hat der Sachverstandige bei der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht auf deren Vernehmung hinzuwirken, bei der ihm gemäß § 80 Abs. 2 StPO ein Anwesenheits- und Fragerecht zusteht Dies gilt in besonderem Maße in Bezug auf zeugnis- und auskunftsverweigerungsberechtigte Personen. Informatorische Befragungen durch den Sachverständigen, die nur dazu dienen, die Beweiserheblichkeit des Wissens der Auskunftsperson festzustellen und gegebenenfalls ihre Vernehmung zu beantragen, sind zulässig." Die Erhebung einer Anamnese durch Befragung der Eltern des zu begutachtenden Zeugen dürfte demnach noch zulässig sein, da es sich hierbei um eine psychodiagnostische Befunderhebung handelt Problematisch erscheint dagegen vor diesem Hintergrund die Befragung der Eltern oder anderer Personen zur Aussageentstehung, denn hierbei handelt es sich nicht um psychodiagnostische Befunde. Vollends unzulässig ist die eigenständige Befragung weiterer Zeugen wie etwa Lehrer oder Erzieher, die evt1. Adressaten von Frühaussagen waren. Die Nichtbeachtung dieser Restriktionen gutachterlicher Informationserhebung kann letztlich zur Ablehnung des Sachverständigen führen. Teilweise wird von Staatsanwaltschaften bei der Gutachtenbeauftragung bereits ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Befragung anderer als der zu begutachtenden Person nur im Rahmen einer fonnellen Vernehmung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei erfolgen darf

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Unzulässige Bewertung von Beweismitteln

Wenn Informationen über beurteilungsrelevante Sachverhalte - z.B. zur Aussagegenese - nur durch andere als den zu begutachtenden Zeugen zu erlangen sind, handelt es sich hierbei um Anknüpfungs- und nicht um Befundtatsachen. Dies ist auch dann der Fall, wenn es Widersprüche zwischen der zu beurteilenden Aussage und den Angaben anderer Zeugen gibt Es ist somit nicht in der Kompetenz des Sachverständigen, die Zuverlässigkeit oder Glaubhaftigkeit der Aussagen dieser anderen Zeugen zu beurteilen. Entweder müsste das Gericht dem Sachverständigen ausdrücklich vorgeben, von welchen Sachverhalten er bei seiner Beurteilung auszugehen hat, oder im Gutachten wären die infrage kommenden Alternativen und deren jeweilige Auswirkung auf das Gutachtenergebnis gesondert zu erörtern. Eine eigenmächtige Beurteilung der Aussage weiterer Zeugen würde jedenfalls die Grenzen der Sachverständigentatigkeit überschreiten. Die gleiche Einschränkung gilt hinsichtlich der Bewertung von Sachbeweisen. Wenn beispielsweise strittig ist, ob eine bestimmte Handlung unter den angegebenen örtlichen Bedingungen überhaupt möglich war, muss das Gericht vorgeben, von welcher Annahme bei der Beurteilung der Aussage ausgegangen werden soll. Diese Vorgabe ist dann der Beurteilung zugrunde zu legen.

Rigides Festhalten am Ergebnis des vorläufigen Gutachtens

Ein während des Ermittlungs- oder Zwischenverfahrens erstelltes Gutachten ist immer vorläufig. Das abschließende Gutachten kann erst nach Abschluss der Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung erstattet werden. Im Zuge der Beweisaufnahme können neue Erkenntnisse erlangt werden, die mit den zum Zeitpunkt der (vorläufigen) Gutachtenerstellung verfügbaren Befund- und Anknüpfungstatsachen abgeglichen werden müssen. Hieraus kann die Notwendigkeit einer Neubewertung und, in der Folge, einer Modifikation des Gutachtenergebnisses resultieren. Es wäre falsch (und wird von Gerichten immer wieder kritisiert), ungeachtet des Ergebnisses der Beweisaufnahme bei der Gutachtenerstattung das vorläufige Gutachten einfach zu verlesen und dabei neue Erkenntnisse unerwähnt zu lassen.

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Fehler in aussagepsychologische Gutachten: Konsequenzen und Schlussfolgerungen

Die vorstehende Zusammenstellung verschiedener Fehlennöglichkeiten in aussagepsychologischen Gutachten verfolgt nicht die Absicht, die inhaltsorientierte Beurteilung einer Zeugenaussage mittels Realkennzeichen- und Konstanzanalyse zu diskreditieren. Sie hat sich in der forensischen Praxis seit vielen Jahren gut bewährt und ist auch durch empirische Forschungsergebnisse untennauert. Abgesehen davon ist derzeit keine andere diagnostische Methode erkennbar, die an ihre Stelle treten könnte. Andere Ansätze sind entweder als Beweismittel unzulässig (wie etwa die psychophysiologische Aussagebeurteilung oder Polygraphie), haben sich als unbrauchbar erwiesen (wie etwa die Deutung von Kinderzeichnungen), haben keine empirische Grundlage (wie z.B. die Forderung nach einer Modifizierung der Realkennzeichen im Falle traurnatisierter Zeugen) oder stützen sich auf zu unspezifische Indikatoren, um für einzelfalldiagnostische Anwendungen geeignet zu sein (wie non- und paraverbale Verhaltenskorrelate von Täuschungen). Es wäre auch grundlegend falsch, als Anwender dieser Methode in eine defensive Rechtfertigungshaltung zu verfallen, weil die Gefahr gesehen wird, dass eine Beschreibung und Publizierung von Fehlermöglichkeiten die Akzeptanz forensischer Gutachten erschweren könnte. Jede diagnostische Methode in jeder wissenschaftlichen Disziplin ist mit mehr oder weniger großen Felilerwahrscheinlichkeiten behaftet. Vor diesem Hintergrund wäre es geradezu naiv und realitätsfremd zu glauben, eine aussagepsychologische Begutachtung sei frei von Fehlern oder man könne tatsächlich vorhandene Fehlerquellen gleichsam durch Nichtbefassung mit dem Thema aus der Welt schaffen. Wenn sich die forensische Psychologie nicht offensiv dieses Themas annimmt, werden es andere tun mit der Folge, dass sie dann tatsächlich in die Defensive gerät. Eine detaillierte Fehleranalyse eröffnet darüber hinaus die Chance eines konstruktiven Umgangs mit Schwächen und Fehlerquellen und ermöglicht dadurch eine Verbesserung der Gutachtenqualität sowie eine differenzierte Einschätzung der Konsequenzen festgestellter Fehler:

Identifizierung von Forschungsdefiziten. In einer Fehleranalyse werden Forschungsdefizite erkennbar, die gezielt bearbeitet werden können. Orientierungshil{e für die Beurteilung von Gutachten durch Verfahrensbeteiligte. Für psychologische Laien ohne entsprechende Detailkenntnisse ist es oftmals schwierig, ein Gutachten fachlich differenziert zu beurteilen. Es bleibt dann manch-

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mal nur ein diffuses Unbehagen und das subjektive Gefühl, das Gutachten sei irgendwie suboptimaL Hieraus resultieren dann gelegentlich unsachliche Angriffe auf den Gutachter. Die Kenntnis der verschiedenen Fehlermöglichkeiten und deren jeweiliger Tragweite ermöglichen dagegen eine rationale Analyse des vorgelegten Gutachtens und eine Prüfung seiner Qualität durch gezielte Fragen an den Sachverständigen. So können entweder gezielt Nachbesserungen verlangt oder das Gutachten vollständig zurückgewiesen werden.

Differenzierte Einschätzung der Konsequenzen/estgestellter Fehler. Die vorstehende Erörterung verschiedener Fehlermöglichkeiten hat deutlich gemacht, dass nicht alle Fehler gleichermaßen schwerwiegend sind. Manche Fehler führen auch nicht notwendig zu einern im Ergebnis falschen Gutachten. Dies gilt insbesondere für Mängel in der Transparenz und Nachvollziehbarkeit Wenn beispielsweise Befunde nur unvollständig im Gutachten berichtet werden, kann das Gericht dem Sachverständigen aufgeben, fehlende Informationen nachzureichen. EvtL ist sogar die Nacherhebung von Befunden oder eine nachträgliche Bewertung von zunächst vernach-

lässigten Hypothesen möglich. Dies hätte den Vorteil, dass ein vorhandenes Gutachten nicht vollstandig zurückgewiesen und demzufolge eine neue Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen angeordnet werden müsste. Eine erneute Untersu-

chung des Zeugen sowie eine vollständige Neuansetzung der Hauptverhandlung mit den damit für alle Beteiligten verbundenen Belastungen könnte so in manchen Fällen vennieden werden.

Direkte und indirekte Qualitätssicherung Eine detaillierte Kenntnis potentieller Fehler trägt in mehrfacher Weise zur Qualitatssicherung bei. Eine explizite Behandlung von Fehlerquellen in der Aus- und Weiterbildung schärft zunächst einmal die Aufmerksamkeit für potentielle Schwachstellen. Auf dieser Grundlage können gezielt Fertigkeiten zur Vermeidung von Fehlern vermittelt werden. Bei der Erstellung von Gutachten kann die Kenntnis einer Fehlertaxonornie die abschließende eigene

Qualitatskontrolle erleichtern. Neben diesen direkten Formen der Qualitätssicherung gibt es auch einen indirekten Weg, mittelfristig die Qualität von Gutachten zu verbessern, nämlich über die Rückmeldung durch die Verfahrensbeteiligten (z.B. in Form kritischer Fragen oder des Aüfzeigens konkreter Mängel). Wenn man Kritik nicht als persörilichen Angriff, sondern als Lemhilfe betrachtet, vermittelt sie wertvolle Hinweise auf Schwachstellen in den eigenen Gutachten und gibt Amegungen für zukünftige Verbesserungen in der Arbeitsweise und/oder in der Vermittlung der Gutachten.

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Fehlerquellen in aussagepsychlogischen Gutachten

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Zu den Voraussetzungen, unter denen es zur Sachaufldärung erforderlich ist, über eine Zeugenaussage ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen RalfEschefbach

1. Einführung in das Problemfeld 1. Der Kampf um das •./alse memory syndrome" Der Zeugenbeweis ist das arn meisten gebrauchte und doch unzuverlässigste Beweismittel. Das zeigen gedächtnispsychologische Erkenntnisse über die - relative Häufigkeit von Erinnenmgsverfälschungen. also das in den USA so genannte ..false memory syndrome", das in Deutschland mit "Pseudoerinnerungen" übersetzt wird. 1 Gegner der "false-rnernory-syndrorne"-Thesen sehen darin eher eine Verschwörung der Verteidigerlobby im Bereich der Pädophilie.' Ihre These liegt aber ebenso fern. wie es die gegenteilige Armahme wäre, es gebe praktisch kaum reale Delikte einer bestimmten Kategorie. sondern fast nur ..falsche Erinnenmgen". Tatsächlich kommt beides vor. sodass sich lediglich die Frage stellt. wann. wie oft und warum dies geschieht. Pseudoerinnerungen durch Venvechseln verschiedener Ereignisse, die im Gedächtnis zu einem einzigen Ereignis verschmelzen, oder durch Entstehen insgesamt falscher Gedächtnisbilder aufgrund von suggestiven Einflüssen kommen vor und betreffen auch im Alltag praktisch jeden Menschen. also auch persönlich .. glaubwürdige" Personen und solche. die sich dafür halten. Erinnerungsverfälschungen sind streng genommen - zumindest im Detail- häufiger als annähernd authentische Erlebnisaufzeichnungen. denn die Gedächtnisleistung ist stets ein dynamischer Pro-

KilhnellMarkowitsch, Falsche EriJUlerungen. Die Sünden des Gedächtnisses, 2007; Loftus, The Myth of Repressed Memory. False Memories and Allegations of Sexual Abuse, 1994; dieselbe, Falsche Erirmerungen, in: Spektrum der Wissenschaft 111998, S. 63 ff.; Steifens/ Mecklenbräuker, False Memories. Phenomena, Theories and Implications, in: Journal of Psycho1ogy 2007, Vol. 215 (1), S. 12 ff.; s. a. Rollin, Falsche EriIlllerungen. Das Leben- eine einzige Erfindung, 28.1 0.2006, \V\V\V. spiegel. delwissenscha:ft!m enschlfalsche-eriJUlerungendas-1eben-eine-einzige-erfindung-a-444334 html. Vgl. Schal/eck, Rotkäppchens Schweigen. Die Tricks der Kindesmissbraucher und ihrer Helfer. 2006.

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zess. Die Vorstellung, das Gedächtnis liefere eine beinahe photographische Wiedergabe einer Wahrnehmung, ist eine Selbsttäuschung. 3 Erinnerungen werden vielmehr sogar permanent "bearbeitet". Intensive Vernehmungen in Strafverfahren mit Vorhalten sind geradezu ideale Quellen für Erinnerungsverfälschungen. Auch Therapeuten und Berater können - unabsichtlich und unbewusst - falsche Vorstellungsbilder bei Patienten und Probanden oder Mandanten produzieren. Ob die Äußerungen der Auskunftspersonen im Strafverfahren - ganz oder teilweise - richtig oder falsch sind, ist danach besonders schwer zu unterscheiden. Die multimediale Beeinflussung aller Menschen führt zu einer Inflation von Vorstellungsbildern, die teils real, teils künstlich generiert sind. "Falsche Erinnerungen" unterscheiden sich von der bewussten Falschaussage oder Lüge psychologisch gesehen dadurch, dass der Zeuge selbst seine Aussage für richtig hält und entsprechend auftritt, obwohl sich die Schilderung vom realen Erleben ganz oder teilweise unterscheidet Im Extremfall wird ein Ereignis detailliert und mit originellen Details beschrieben, das tatsächlich nie stattgefunden hat; auch ein solcher Fall ist in der Realität anzutreffen. Das Phänomen der Pseudoerinnerung kann weder generell bestritten noch stets belegt werden. Das ist ein entscheidendes Dilemma bei der Verfolgung und Aburteilung von Sexualstraftaten, für deren Begehung es nur einen einzigen Zeugen als Belastungsbeweis gibt. Sexuellen Missbrauch nicht zu verfolgen und nicht zu bestrafen wäre ebenso verheerend, wie es eine Verfahrensgestaltung ist, die dem eine Tatbegehung bestreitenden Angeklagten keine Verteidigungsmöglichkeit beließe, weil jeder Person, die behauptet, Opfer eines Sexualdelikts gewesen zu sein, annähernd bedingungslos zu glauben sei. Letzteres wird von Opferschutzorganisationen gefordert. Dies ist emotional nachvollziehbar, aber in der geforderten Konsequenz weder psychologisch noch rechtlich vertretbar.

2. Die Reduzierung der Risiken einer falschen Verdächtigung Heute herrscht eine Opferschutzeuphorie, die zur Umkehrung der Beweislast im Strafprozess geführt hat. Wer sich dagegen ausspricht, wird verteufelt. Verteidigung im Sexualstrafverfahren stößt auf den verfahrenspsychologisch größtmöglichen Wi-

De/fs, Falsche EriIlllerungen an sexuellen Missbrauch. Eine therapeutische Mcxle, die Familien zerstört, 2013, S. 41.

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derstand 4 Sexueller Missbrauch kommt vor und die Dunkelziffer ist hoch; falsche Verdächtigungen sind auch praktische Realität und besitzen gleichfalls eine hohe Dunkelziffer. 5 Gleichzeitig ist das Strafverfolgungsrisiko für Zeugen, die gegebenenfalls zu Unrecht einen Vorwurf erheben und im Bereich des Sexualstrafrechts bereits dadurch den Beschuldigten ruinieren können, minimiert worden. Die multimediale Verbreitung der Möglichkeit, einen verhassten Menschen durch erfundene Missbrauchsvorwürfe sogleich zu vernichten, ohne dabei ein allzu großes Risiko einzugehen, hat die Quote falscher Vorwürfe mutmaßlich vergrößert. Ein älteres Korrekturinstrument ist praktisch obsolet geworden. Der Zeugeneid, der Falschaussagen zum Verbrechen werden lassen würde, ist im Gesetz von der Regel zum Ausnahmefall geworden und wird von der Praxis weitgehend eliminiert. Ein Nacheid ist zwar ein strukturell ungeeignetes Mittel zur Verhinderung von Falschaussagen vor Gericht im Verfahren selbst. Meineid wurde aber früher wenigstens strenger verfolgt als uneidliche Falschaussagen, schon weil das Opportunitätsprinzip auf den Verbrechensvonvurf nicht anzuwenden war. Werden Zeugen kaum noch vereidigt, sinkt zwangsläufig das Strafverfolgungs- und Verurteilungsrisiko. Vorwürfe falscher Verdächtigungen werden heute ebenfalls ausgesprochen selten verfolgt Klageerzwingungsverfahren sind durch übertriebene Formanforderungen an den Antrag auf gerichtliche Entscheidung an das Oberlandesgericht nahezu aussichtslos. Dieses Schicksal teilen sie mit den mit umgekehrtem Vorzeichen gestellten Anträgen von Verurteilten auf Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens. Das alles erleichtert heute strukturell die Zeugenlüge, der früher zum indest zum Teil immerhin die generalpräventive Wirkung der Verfolgung und Aburteilung von Meineiden entgegenwirkte.

3. Das unerforschte Fehlurteilsrisiko und die Toleranzschwelle Intentionale Falschaussagen kommen zu Erinnerungsfehlern als Fehlurteilsrisiko hinzu. Lügen sind leichter aufzudecken als "falsche Erinnerungen", weil sie einer besonderen rnanipulativen Leistung der Auskunftsperson entspringen, die Spu-

Schwenn StV 2010, 705 ff Vgl. ElsnerlSteffen, Vergewaltigung und sexuellen Nötigung in Bayern, 2005, https:l/wvvw. polizei.bayem. de/contenU 4/317/vergewaltigung_und_sexuelle _ n _ tigung_in_bayern_ bpfi.

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ren hinterlässt; Pseudoerinnerungen wirken dagegen echt und werden vorn Zeugen selbst geglaubt, erst recht von Beurteilern der Zeugenleistung. Beides zusammen - Pseudoerinnenmgen und Lügen - sind die kumulativ bei der F ehlurteilsquote 6 zusammenwirkenden Feinde der strafgerichtlichen Wahrheitserforschung. Sie sind jedenfalls zahlreicher und stärker, als psychologische Laien, zu denen die meisten Juristen gehören, es anzunehmen pflegen. Wie hoch die Quote von Fehlurteilen zugunsten Freigesprochener oder zuungunsten Verurteilter ist, bleibt natürlich unbekannt Da Freisprüche generell selten sind und ein Freispruch in Anwendung des Satzes "in dubio pro reo" auch bei tatsächlich unzutreffender Entscheidung zugunsten des Schuldigen rechtlich kein Fehlurteil ist - weil der Zweifelssatz nun einmal zum rechtsstaatlichen Strafverfahren gehört-, wäre vor allem die Fehlurteilsquote zum Nachteil Unschuldiger von Interesse. Die Unschuld ist aber kaum positiv nachweisbar. Soweit dies mit relativer Sicherheit gelingt, geht es um den nachträglichen Entlastungsbeweis zugunsten derjenigen, die aufgrund falscher Zeugenaussagen verurteilt wurden, mit Hilfe von DNA-Untersuchungen, die den wahren Täter entlarven. Das bleibt allerdings statistisch ein seltenes Ereignis, weil die Ermittlung des wahren Täters in solchen Konstellationen nur zufällig gelingt. Das heißt aber nicht, dass Fehlurteile zuungunsten Unschuldiger nur in der minimalen Quote dieser Nachweisereignisse vorkommen. Immerhin gibt es starke Hinweise darauf, dass die Dunkelziffer deutlich größer ist als die Quote der Urteilsaufhebungen in Berufungs-, Revisions- oder Wiederaufnahmeverfahren. Die Fehlurteilsforschung ist vor allem eine Fehlerquellenforschung, die derzeit wieder in den Kinderschuhen steckt. Sie wäre aber primäre Voraussetzung für die Prüfung, welche Fehlurteilsquote im Rechtsstaat noch tolerabel ist, um das Rechtsschutzsystem als ausreichend zu bezeichnen und unverändert aufrecht zu erhalten. Der "Umrechnungskurs" ist seit jeher umstritten. 7 Wenn der Rechtsstaat heute die Frage, wie viele Fehlurteile der Rechtsstaat hinnehmen kann, nicht einmal mehr stellt und den Versuch einer Antwort nicht einmal wagt, so ist das bezeichnend. Die Unhaltbarkeit dieser Lage wird im Prognosebeweisrecht deutlich, bei dem empirische Erkenntnisse darauf hinweisen, dass die Mehrzahl aller Prognoseentscheidungen im Maßregelrecht zulasten der untergebrachten "false positives" unzutref-

Zu deren Unwägbarkeit und der Frage des "Umreclmungskurses"im staatlichen Strafverfahren eindrucksvoll Sancinetti, FS Frisch, 2013, S. 1233, 1234. Sanicetti, FS Frisch, 2013, S. 1233, 1234 f.

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fend ist. 8 Die Tatsache, dass der Rechtsstaat nicht einmal auf ein solches Alarmsignal reagiert, lässt Zweifel an der Brauchbarkeit seines Rechtsschutzsystems aufkommen. Ebenso drastisch wird die Fehlurteilsquote bei der retrospektiven Beweisbetrachtung zwar nicht sein, weil begangene Taten Spuren hinterlassen, die prognostizierte künftige Taten nicht liefern; marginal und restlos vernachlässigenswert aber kann sie auch hier nach den Gesetzen der Logik nicht sein, wenn die Ursachen der erkannten Fehlurteile überprüft werden und sich daraus immerhin ergibt, dass strukturelle Fehlerquellen existieren.'

4. Die Kumulation der Probleme in der "Aussage-gegen-Aussage"Konstellation Besonders brisant ist die Beweissituation, in der dem bestreitenden Angeklagten nur ein Belastungszeuge als einziges Beweismittel für den strafrechtlichen Vorwurf gegenübersteht. Dies gilt nochmals in gesteigerter Form, wenn der Belastungszeuge auch Eigeninteressen an Genugtuung oder Schadensausgleich verfolgt. Eine weitere Potenzierung der Problematik entsteht durch die Art des Vorwurfs bei Sexualdelikten, welche gegebenenfalls die Intimsphäre des Verletzten betroffen haben und in der Gesamtbevölkerung auf größte Abscheu treffen. Die Behauptung, es gebe heute in der Auslegung und Anwendung allgemeiner strafprozessualer Regeln kein Sonderstrafverfahrensrecht für Missbrauchsfälle, 10 wirkt vor diesem Hintergrund zweifelhaft. So werden notorisch unzuverlässige Beweise, wie das Zeugnis vorn Hörensagen 11 oder die Vervvertung einer Zeugenaussage, bei der das Konfrontationsrecht der Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK nicht genutzt werden konnte,12 sonst nur als ausreichender Tat- und Schuldbeweis akzeptiert, sofern ein externes Zusatzindiz hinzukommt. Beim Beweis in der für Sexualstrafverfahren typischen "Aussage-gegen-Aussage"-Konstellation hingegen kann eine Verurteilung des bestreitenden Angeklagten auch alleine auf die Aussage eines parteilichen Opferzeu-

II

Albrecht, FS Nedopil, 2012, S. 1, 7; Alex, Nachträgliche Sicherungsvenvahrung, 2010, S. 91 ff und FPPK 2011, 244, 251; Alex/Feltes/Kudkacek, StV 2013, 259 ff.; Kinzig FPPK 2010,48,57. Vgl. Eschelbach, Fehlurteilsquellen aus der polizeilichen Beschuldigtenvemehmung, ZAP 912013, S. 467 ff. ~ Fach 22, 661 ff. Zu den Schal.tstellen einer fortgesetzten Kursabweichung in SexualstrafverfahrenMattlRenzikowski/Eschelbach, StGB, 2013, § 176 Rn. 8 ff. und § 177 Rn. 10. BVerfG, Beschl. vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 292; BGH, Urt. vom 16.4.1985 - 5 StR 718/84, BGHSt 33, 178, 181. BGH, Ur!. vom 25.7.2000 - 1 StR 169100, BGHSt 46, 93, 106.

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gen gestützt werden. Allgemein werden hier zur Schließung einer als unerträglich empfundenen Strafverfolgungslücke auch kaum substanziierte Zeugenaussagen zu lange zurückliegenden Tatserien toleriert. Dabei wird gleichzeitig der prozessuale Tatbegriffim Sinne der §§ 151 Abs. 2, 200 Abs. 1, 264 Abs. 2 StPO modifiziert, die Informationsfunktion von Anklageschrift, Eröffnungsbeschluss und gerichtlichen Hinweisen reduziert und der Instanzenzug zum Opferzeugenschutz vor sekundärer Viktimisierung durch Anklageerhebung beim Landgericht nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG gekürzt Über Jahrtausende hinweg ermöglichte der strukturell defizitäre Beweis durch einen einzigen parteilichen Zeugen nach einer auf Erfahrungen beruhenden Vorsichtsregel alleine noch keine Verurteilung. 13 Erst die Einführung des Prinzips der - im Gesetzestext scheinbar schrankenlos gewährleisteten - "freien Beweiswürdigung" (§ 261 StPO) eröffnete den Weg dazu, der aber auch erst seit der Nachkriegszeit zunehmend beschritten wurde. Die besagte Konsequenz ist die Verurteilung bestreitender Angeklagter aufgrund einer singulären Belastungszeugenaussage, die auch einzelne Defizite aufweisen kann, um danach immer noch geglaubt zu werden. 14 Die Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie, wonach die Erinnerung stets ein dynamischer und kreativer Prozess ist, der entgegen der juristischen Ervvartungshaltung niemals eine beinahe photographisch-statische Aufzeichnung einer Erlebniswahrnehmung ist, sind erst in jüngster Zeit angestiegen. Sie müssten jedenfalls zu besonderer Vorsicht mahnen, sind aber in der strafprozessualen Praxis noch nicht angekommen. Anders ist es kaum zu erklären, dass Zeugen in der Nebenklägerrolle über einen anwaltlichen Beistand ohne Rücksicht auf beweisrechtliche Folgen auch Aktenkenntnis vennittelt wird 15 und Opferschutzorganisationen ein Zeugencoaching vornehmen können, das die intuitive tatrichterliche Beweiswürdigung beinahe unkontrolliert beeinflussen kann, ohne dass sich dagegen ein laut hörbarer Widerspruch erhebt. Was hier durchaus gut gemeint ist, muss objektiv nicht gut sein. Gedächtnis- und aussagepsychologisch sind Zeugen, die eigene und fremde Aussagen sowie Verdachtshypothesen und sonstige Beweise oder Fallbewertungen aus den Akten kennen und überdies auf ihre Zeugenaussage durch Rollenspiele, Ratschläge und Empfehlungen zur inhaltlichen Gestaltung der Aussage "vorbereitet" werden 16,

B U

Sancinetti, FS Frisch, 2013, S. 1233, 1237 ff. Krit. dazu Karl Peters, FS Olivecrona, 1964, S. 532, 536 = Wasserburg (Hrsg.), Strafrechtspflege und Menschlichkeit. Ausgewählte Schriften, 1988, S. 364, 368. Baumhäfener, NStZ 2014, 135, 136 ff. Schwenn, StV 2010, 705, 708.

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als Beweismittel praktisch wertlos. Besondere Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärung und an eine möglichst professionelle Beweiswürdigung unter Berücksichtigung aller erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse wären dann, wenn nicht sogar eine Beweisregel des Verbots der Begründung einer Verurteilung alleine mit den Angaben solcher Zeugen als einzigem Belastungsbeweis wieder aufleben müsste, das Minimum dessen, was im Rechtsstaat zu fordern ist. Das hier zu besprechende Thema ist alleine die Frage, ob und unter welchen Umständen vor diesem Hintergrund die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit der Person und der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Belastungszeugen durch das Tatgericht erforderlich ist

11. Prämissen 1. Irrelevante Prozessrollen bei relevantenAWisagen Wenn überhaupt ein Sachverständigenbeweis erhoben wird, findet nach der Praxisgepflogenheit stets nur eine Begutachtung der Aussagetüchtigkeit von Zeugen oder der Glaubhaftigkeit ihrer Zeugenaussagen nach der Methode der hypothesengeleiteten Realkennzeichenanalyse statt Eine Begutachtung von Beschuldigten17 oder Mitbeschuldigten und ihren Darstellungen findet nicht statt 18 Beschuldigte oder Mitbeschuldigte sind nicht von gleichem Interesse, weil sie nicht aktiv an der Sachaufklärung mitwirken müssen 19 und oft außer einem Bestreiten der eigenen Tatbeteiligung keinen analysierbaren Aussageninhalt zu bieten haben. Sagen sie nicht aus oder bekunden sie nicht mehr als eine Unschuldsbehauptung, dann ist der Aussagentext für psychologische Sachverständige ohne Interesse. Weil das oft so ist, wird in der Praxis schon die Frage verdrängt, ob es auch möglich und geboten sein kann, im Einzelfall hinsichtlich der Glaubhaftigkeit einer Beschuldigtenaussage oder der beweisrelevanten Eigenschaften dieser Auskunftsperson eine Begutachtung herbeizuführen. Würde die Rechtsfrage ernsthaft gestell~ so wäre sie zu-

BGH Ur!. vom 27.1.2005 - 3 StR 431104, NStZ 2005, 394. Zum Problemfeld Deckers, StraFo 2010, 372 ff. Vgl. allgemein zum Grundsatz ,,nemo tenetur se ipsum aeeusare" BGH Besehl. vom 13.5.1996 - GSSt 1196, BGHSt 42, 139, 151 f (Hörfalle); Ur!. vom 21.1.2004 - 1 StR 364/03, BGHSt 49, 56, 58 (Speichelprobe).

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mindest in der "Aussage-gegen-Aussage"-Konstellation prinzipiell zu bejahen. 20 Die Fairness des Verfahrens muss dies unter dem Gesichtspunkt der "prozessualen Waffengleichheit" gebieten, da es sich - von der Interessenlage her gesehen - um eine Art von Parteienprozess handelt Mitbeschuldigte sind dagegen, jedenfalls soweit sie andere belasten, sogar ebenfalls "Zeugen" im Sinne von Art 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit d EMRK. Die Annahme, dass sie an der Begutachtung von Zeugenaussagen nicht gleichen Anteil haben sollen wie ursprüngliche Zeugen, ist daher rechtlich kaum begründbar. Von einem erfahnmgswissenschaftlichen Standpunkt aus ist die Prozessrolle irrelevant.

2. Erheblichkeit der Begutachtung von Beschuldigten und Einlassungen Natürlich ist auch der Beschuldigte - seine Mitwirkungsbereitschaft vorausgesetzt - potenziell tauglicher Proband einer Untersuchung durch Sachverständige,21 selbst wenn er nicht viel zum "Kemgeschehen" sagen kann oder will. Nur geht es dann weniger um Aussagepsychologie,22 als vielmehr um eine Angewandte Kriminologie, die anhand krirninorelevanter oder krirninovalenter Kriterien prüft, ob es ein erfahrungswissenschaftlich passendes Erklärungskonzept für die Tatbegehung im Sinne der Verdachtshypothese gibt oder ob dies krim inologischer Erfahrung widerspricht; es geht verfahrensrechtlich um die Ausschöpfung von Erfahrungssätzen. Die Tatsache, dass die Praxis die Angewandte Kriminologie fast ausnahmslos bei der Wahrheitserforschung ignoriert, korrespondiert mit der Nichtwahrnehmung der Gebote der Herstellung prozessualer Waffengleichheit Tendenziell wird die Beweislast dadurch zum Nachteil von Angeklagten umgekehrt Die Unklarheit der beim Sachverständigenbeweis zuständigen Disziplin ist aus dem Prognosebeweisrecht bekannt, wo Psychiater auch über geistig gesunde Probanden Kriminalprognosen abgeben, die eigentlich der Kriminologie abzufordern wären, welche sich aber der Aufgabenstellung nur selten widmet und von der Justiz selten dazu aufgefordert wird. Da der Grund hierfür nur in Ignoranz besteht, ist diese

Vgl. Drews, Die Königin unter den Beweismitteln? 2013, S. 258. Fischer, NStZ 1994, 1, 3; Wille, Aussage gegenAussage in sexuellen Missbrauchsverfahren, 2012, S. 137 ff.; aA Meyer-Goßner, SIPO, 56. Aufl., § 244 Rn. 74a. Zur aussagepsychologischen Beurteilung von Geständnissen insbesondere nach Geständnisvviderruf VolbertlSteller, FS Nedopil, 2012, S. 315 ff.; s. dazu auch Kähnken in: Damstädt, Der Richter und sein Opfer, 2013, S. 88 f.; zur rechtlichen Beurteilung von potenziell falschen Geständnissen Eisenberg, JA 2013, 775 ff., 860 ff.

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Verhaltensweise verfahrensrechtlich nicht ausreichend legitimiert. Im Prognosebeweisrecht sind die Vertreter der Forensischen Psychiatrie partiell zu Krirninologen

mutiert und haben das Feld besetzt Der ärztliche Sachverständige 23 soll dort der "Krankheit des Verbrechens" auf die Spur kommen, nicht etwa, weil sein Fachgebiet dazu prädestiniert wäre, sondern weil dem approbierten Arzt persönlich besonderes Vertrauen geschenkt wird. Bei der retrospektiven Beweisprüfung im Erkenntnisverfahren hinsichtlich eines Tatverdachts müssen Aussagepsychologen entweder auch

kriminologische Themen mit behandeln oder das Feld teilweise einem kriminologischen Sachverständigen überlassen. Die Kriminologie als Erfahrungswissenschaft und Schwesterdisziplin zur Forensischen Psychologie ist in der Justiz jedoch in Vergessenheit geraten. Sie wird tatsächlich von Krirninologen kaum praktiziert24 und ihre - empirisch wie rechtlich

- prinzipiell der Aussagepsychologie gleichrangige Bedeutung bleibt unbeachtet. Würde die Kriminologie aber bei der Begutachtungsfrage im Erkenntnisverfahren wenigstens mitberücksichtigt, dann würde besonders deutlich, dass durch Erfahrungswissenschaften, wie Kriminologie oder Aussagepsychologie, einerseits nicht mehr, andererseits aber auch nicht weniger als Wahrscheinlichkeitsaussagen über

die Beweislage im Einzelfall zu gewinnen sind. Eine von den Auftraggebern für Glaubhaftigkeitsgutachten erhoffte Ergebnissicherheit kann eine Begutachtung dagegen nicht liefern. 25 Die blinde Befolgung des Gutachtenergebnisses in der Annahme, der Sachverständige verfüge über besondere Gaben, die auch eine hoch-

wahrscheinliche Sicherheit der Erfassung der materiellen Wahrheit gewährleiste, beruht auf einem Trugschluss. Wahrscheinlichkeitsaussagen haben jedoch durchaus eine Beweisbedeutung. Das ist inzwischen wiederum aus dem Prognosebeweisrecht

in Bezug auf zu erwartende Rückfalltaten bekannt; es gilt ebenso bei der Beweisfrage zu einer bereits begangenen Tat. Wahrscheinlichkeitsaussagen gestatten im-

merhin eine plausible Erklärung zu den in Frage kommenden Hypothesen mit mehr oder weniger großem Wahrscheinlichkeitswert. Sie sind damit eine Möglichkeit zur

Annäherung an die objektive Wahrheit und insoweit ein prinzipiell taugliches BeweismitteF6 - neben anderen. Wenn alle Annahmen über eine materielle Wahrheit,

die sich mit menschlichen Kräften nie endgültig feststellen lässt, letztlich nur Wahr-

" " "

BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004- 2 BvR2029/01, BVerfGE 109, 133, 164 zum exklusiv geforderten ärztlichen Gutachten. Zur Methcxle Bock in: Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl., § 15 ff.

Erb, FS Stöckel, 2010, S. 181, 188. VgL BGH BeschL vom 15.3.2007 - 4 StR 66/07, StV 2008, 337 f; Erb, FS Stöckel, S. 181, 189.

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scheinlichkeitsaussagen sind, deren Spitzenergebnis in Verbindung mit einer subjektiv sicheren richterlichen Überzeugung eine Verurteilung tragen kann, dann ist die Angewandte Kriminologie nicht weniger hilfreich als die Aussagepsychologie; die Untersuchung eines Beschuldigten ist nicht weniger wichtig als diejenige eines Hauptbelastungszeugen.

3. Privilegierung von" Opjerzeugen" durch Aktenkenntnis oder Zeugencoaching Schließlich geht es in den im Mittelpunkt des Interesses stehenden "Aussage-gegenAussage"-Konstellationen praktisch um Parteiprozesse. 27 Ein meist vorschnell vor dem Beginn oder jedenfalls vor dem Ende der Beweisaufnahme so genanntes "Opfer" vertritt hier schließlich seine Rechtsposition auch als Nebenkläger. Das mutmaßliche Tatopfer kann im Adhäsionsverfahren zivilrechtliehe Ansprüche dem staatlichen Strafanspruch als Verfahrensgegenstand hinzufügen und vom Strafgericht titulieren lassen. Die Beweisbedeutung dieser Neupositionierung von mutmaßlichen Tatopfern im Strafverfahren ist weder vom Gesetzgeber noch von der Rechtsprechung bisher genau überprüft worden. In der Praxis ist sie in erstaunlichem Maße unbekannt Das "Opfer" kann durch einen Nebenklagevertreter Aktenkenntnis erlangen und sich damit auf dieselbe Stufe der Vor- oder Zusatzinforrnation stellen, wie etwa ein als Zeuge vernommener Errnittlungsbeamter, der über Erkenntnisse zum konkreten Fall aus dem Vorverfahren berichtet. Während es bei dem Ermittlungsbeamten in der Zeugemolle allerdings nur um eine Auskunftsperson geht, die regelmäßig alleine über objektive Spuren einer Tat oder Wissen vorn Hörensagen berichtet und damit ohnehin nur ein Sekundärbeweismittel ist. betrifft die Aussage von mutmaßlichen Tatopfern den Primärbeweis. Kann bei den Zeugen zu Sekundärwissen die Aktenkenntnis und Erinnerungsbeeinflussung partiell hingenommen werden, so gilt das nicht in gleicher Weise bei mutmaßlichen Tatzeugen. Erst recht muss das in der "Aussage-gegen-Aussage"-Konstellation gelten, in der diese Zeugen das einzige belastende Beweismittel zur Iatfrage sind. Erinnerungsverfälschungen durch Aktenkenntnis oder Rollenstudium und die Beeinflussung des Aussageverhaltens durch Zeugencoaching sind hier endgültig inakzeptabel, weil sie die Beweisquelle in irre-

Wille, Aussage gegen Aussage in sexuellen Missbrauchsverfahren, S. 48 ff.

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versibler Weise trüben. Eine Analyse der Aussagekonstanz wird obsolet, wenn der Zeuge die Akten mitsamt dort enthaltenen Vernehmungsprotokollen studiert hat 28 Der vorschnell so genannte "Geschädigte" kann auch Unterstützung durch eine Opferhilfeeimichtung erlangen, die Betreuungen aller Art, bis hin zur Bekräftigung der Opferrolle und zum Einstudieren der Zeugenposition leisten. 29 Damit wird der persönliche Eindruck der Auskunftsperson auf den beurteilenden Iatrichter als Beweisgrundlage obsolet Schließt sich an den Strafprozess ein separater Schadensersatzprozess vor einern Zivilgericht an, dann wird die Parteistellung des klagenden "Opfers" noch deutlicher, sie ist dort aber verfahrenspsychologisch nicht anders als im vorgreiflichen Strafverfahren. Im Zivilprozess herrscht nur von Rechts wegen aufgrund des Gleichheitssatzes und des Fairnesspostulats "prozessuale Waffengleichheit" (Chancengleichheit),30 im Strafprozess dagegen derzeit nicht rn ehr. 31 Das muss Bedenken wecken, wenn es neben der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs als Interesse der Allgemeinheit auch um besondere Interessen von Opfern geht, denen im Prozess Subjektstatus zuerkannt wird. Im Zivilprozess kann sich im Einzelfall eine andere Sicht auf die "Wahrheit" ergeben als im Strafprozess. 32 Die alte Vorsichtsregel, dass einern einzigen Zeugen, der noch dazu parteilich gegen den Angeklagten eingestellt ist und Eigeninteressen verfolgt, alleine nicht so geglaubt werden kann, dass darauf eine Verurteilung gestützt werden darf,33 wird hier geradezu umgekehrt. Das kann auch durch besondere Sorgfalt bei der Beweiswürdigung und sogar durch aussagepsychologische Begutachtung nicht restlos austariert werden, wenn "Opferzeugen" mit Aktenwissen systematisch Erinnerungsverfälschungen erleben und das Einstudieren der Zeugemolle ihr Aussageverhalten bis zur Unkenntlichkeit der Ursprungslage verfälscht. Damit wird der einzige Belastungsbeweis strukturell unbrauchbar, die einzige Beweisquelle der Verdachtshypothese irreversibel getrübt. Erfolgt dennoch eine Verurteilung des den Iatvorwurf bestreitenden, aber strukturell verteidigungsunfähigenAngeklagten, so verstößt dies streng genommen gegen Art. 1 Abs. 1 S. 1, 3 Abs. 1, 19Abs. 4, 20 Abs. 3 GG. Ist die

Baumhäfener, NStZ 2014, 135, 136 f. Schwenn, StV 2010, 705, 708. VgL BVerro BeschI. vom 25.7.1979 - 2 BvR 878174, BVerfDE 52, 131, 144. BVerfG Beschl. vom 15.1.2009 - 2 BvR 2044/07, BVerlGE 122,248,272, zum gl.eichlautendenAnsatz aber noch BVerfG Urt. vom 30.3.2004 - 2 BvR 1520, 1521101, BVerfGE 110, 226,253. Vgl. zum Anlass fur die Wiederaufuahme des Strafverfahrens im Fall HarryWörtz durch ein divergierendes Zivilurteil Damstädt, Der Richter und sein Opfer, S. 44 ff. Sancinetti, FS Frisch, 2013, S. 1233, 1242.

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belastende Zeugenaussage des auf der vereinigten Offizial- und Nebenklägerseite stehenden "Opferzeugen" nach Ansicht des nicht sachverständig beratenen Gerichts glaubhaft, die bestreitende Einlassung aber unglaubhaft, dann müsste es zumindest ein Gebot der Fairness im Sinne von Chancengleichheit sein, dass sich das Gericht sachverständigen Rat verschafft 34 Wird die Opferzeugen-"Partei" mit dem Ergebnis einer positiven Glaubhaftigkeitseinschätzung begutachtet, dann müsste das Begutachtungsgebot aus Fairnessgründen auch für die als Täter beklagte "Partei" gelten. Das wiederum müsste nicht nur im Haftpflichtprozess, sondern auch im vorhergehenden Strafverfahren gelten. Die weitere Frage, ob die Zeugenaussage eines über den anwaltlichen Beistand aktenkundigen Nebenklägers überhaupt noch eine aussagepsychologische Begutachtung ermöglichen kann, oder ob sie, etwa bei der Konstanzanalyse, nicht generell aus dem Prüfungsraster fällt,35 wird in der Rechtsanwendungspraxis regelmäßig nicht gestellt, zumal der Befund meist im Dunkeln bleibt Erst recht bleibt ungefragt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Aussageverhalten von Zeugen, die ihre Opferzeugemolle mit Hilfe einer Opferschutzorganisation trainiert haben, überhaupt noch Beweiswert besitzen kann. Aus gedächtnis- und verhaltenspsychologischer Perspektive kann die Antwort nur lauten, dass der Beweiswert bei der Rekonstruktion aktuell vorhandenen Wissens über Wahrnehmungen bei einern Tatgeschehen dadurch massiv beeinflusst wird und eine Glaubwürdigkeitsprüfung auch unter Einschluss der Beobachtung des Aussageverhaltens entwertet ist. Es tritt eine nicht mehr korrigierbare Trübung der Beweisquelle ein. So kann es zu Fällen kommen, in denen für das Tatgericht sichtbar wird, dass ein Hauptbelastungszeuge oder eine Hauptbelastungszeugin über seinen/ihren anwaltlichen Beistand in den Besitz von Aktenmaterial gelangt ist und/oder über eine Opferschutzeimichtung eine Bestärkung in der Opferrolle bis hin zum Training von Aussageverhalten und einer Überprüfung von Aussageinhalten erfahren hat. In diesem Fall muss sich als Minimalforderung zur Erhaltung der Fairness des Verfahrens die Fragestellung an einen psychologischen Sachverständigen aufdrängen, ob und wie sehr dies zu einer Beeinträchtigung des Beweiswerts von Aussageverhalten und Aussageninhalt geführt haben kann. Der ohnehin meist überschätzte "persönliche Eindruck" des Tatrichters vom Erscheinungsbild36 der Auskunftsperson wird durch Zeugencoaching praktisch

Erb, FS Stöckel, S. 181, 192. Baumhäfener, NStZ 2014, 135, 136. Vgl. OLG Koblenz Beschl. vom 18.9.2012 - 2 Ws 712112, NJW 2013,98; krit. Karl Peters, FS Olivecrona, 1964, S. 532, 540 = Wasserburg (Hrsg.), Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 364, 372.

Aussagepsychologisches Gutachten über eine Zeugenaussage

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wertlos. Die Konstanzanalyse bei der rn erkm alsorientierten Aussageninhaltsuntersuchung wird infolge von Aktenwissen der Auskunftsperson obsolet 37 Andere Glaubhaftigkeitskriterien können diesen Mangel nicht kompensieren, zurnal sie ihrerseits durch die Aktenkenntnis des Zeugen beeinflusst sind, die "falsche Erinnerungen" produziert. Das alles ist aber bisher in der Strafprozesswirklichkeit noch terra in-

cognita.

111. Aufklärungspf/icht und Beweisantragsrecht Im Mittelpunkt der Frage nach dem Aufklärungsbedarf hinsichtlich einer aussagepsychologischen Begutachtung von Zeugen oder Aussageinhalten steht die Frage der richterlichen Sachkunde. Soweit genügende eigene Sachkunde besteht, gebietet es die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO nicht, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Das Gericht kann dann aber auch einen Beweisantrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 244 Abs. 4 Satz I StPO ablehnen 38 Insoweit könnte mit Blick auf § 244 Abs. 2 und Abs. 4 Satz I StPO angenommen werden, die Amtsaufklärungspflicht und das Beweisantragsrecht bewirkten in der Sache an dieser Stelle keinen Unterschied. Ob das aber zutrifft, ist noch nicht endgültig entschieden. Wenn das Beweisantragsrecht als Teilhaberecht am Prozess infolge der Subjektstellung jedenfalls des Beschuldigten im Prozess rechtlich mehr und etwas anderes sein soll als die Instruktionsrnaxirne,39 dann können Zweifel daran aufkommen, dass diese Gleichsetzung berechtigt ist Immerhin besteht ein Unterschied im Verfahren; denn der Iatrichter muss bei Ablehnung eines Beweisantrags auf Gutachteneinholung seine ausreichende Sachkunde begründen (§ 244 Abs. 6 StPO). Diese Begründung kann pauschal und mit abstrakten Erklärungen erfolgen, wenn der Beweisantrag nur nonualpsychologische Kriterien als Grund für den Begutachtungsanlass nennt. Sie muss detaillierter werden, wenn der Beweisantrag auch mit Verhaltensauffälligkeiten erläutert wird, die andeuten, dass im Einzelfall gerade kein normalpsychologischer Befund bei der Wahrnehmung oder Äußerung von Informationen aus der Erinnerung des Zeugen an ein mutmaßlich selbst erlebtes Ge-

Baumhäfener, NStZ 2014, 135, 136 f. Näher dazu Deckers, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 87 ff. Vgl. zu Grundfragen des Beweisantragsrechts einschließlich seiner Herleitung aus der Menschenwürdegarantie Eschelbach, ZAP 2512013 Nr. 14 S. 721 ff. = Fach 22,681 ff.

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RalfEschelbach

schehen vorliegt, der mit den Alltagserfahrungen der Richtef"O ausreichend genau beurteilt werden kann. Sonderwissen darf nicht vorausgesetzt werden. Weil aber schon die Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie zu normalpsychologischen Ereignissen nicht zum durchschnittlichen Wissensstand der Juristen gehören, müssten jedenfalls auch besondere Einflussfaktoren, die nicht zu psychopathologischen Befunden gehören, den Gerichten Anlass bieten, das Gutachten eines psychologischen Sachverständigen einzuholen. Das geschieht in der Praxis kaum jemals, weil die gedächtnispsychologischen Zusammenhänge der Verursachung "falscher Erinnerungen" unbekannt sind und die praktische Erfahrung der Richter im nonualpsychologischen Bereich überbetont wird. Die Begründungsanforderungen an den Gerichtsbeschluss, mit dem ein Beweisantrag abgelehnt wird, steigen immerhin mit der Substanziierung der Antragsbegründung durch einen Verteidiger, der seinerseits auf Problernfelder aus diesem Bereich aufmerksam macht Nur so kann bewirkt werden, dass sich Tatgerichte und bei entsprechender Verfahrensrüge auch Revisionsgerichte mit weiteren Phänomenen auseinandersetzen. Auf diesem Wege könnte die Besonderheitemechtsprechung zur Beweisantragsfrage des § 244 Abs. 4 Satz I StPO (unten VI!.) angereichert werden, die ihrerseits die neueren Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie noch nicht erfasst, weil sie einerseits die nonnativen Erwartungen an tatrichterliche Sachkunde überschätzt, andererseits selbst die tatsächlichen Auswirkungen gedächtnispsychologischer Phänomene im Bereich der "falschen Erinnerungen" nicht kennt. Das "false memory syndrome" bedarf demnach - unbeschadet der verbleibenden Möglichkeiten einer Verifizierung oder Falsifizierung - in tatsächlicher und verfahrensrechtlicher Hinsicht verstarkter Aufmerksamkeit durch alle professionellen Akteure des Strafverfahrens.

IV Verschiedenheit der Arbeitsbedingungen zwischen richterlicher Zeugenvemehmung und Beweiswürdigung sowie aussagepsychologischer Exploration und Begutachtung Die Frage, ob das Gericht selbst genügende eigene Sachkunde annehmen oder einen Sachverständigen zu Rate ziehen muss, hängt auch von den Unterschieden in der Arbeitsweise und den Prüfungsbedingungen ab.

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Krit. zur Lebenserfahrung der Richter Sommer, FS Rieß, 2002, S. 585 ff.; lvfalek, StV 2011, 559,563.

Aussagepsychologisches Gutachten über eine Zeugenaussage

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Das Besondere an der aussagepsychologischen Begutachtung ist die prinzipiell im Rahmen des Möglichen41 - geforderte Exploration außerhalb des Gerichtssaals unter besseren Möglichkeiten der Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Untersucher und Proband und ohne denselben Zeitdruck,42 wie er auf den Prozessbeteiligten im Verhandlungssaallastet F emer besteht die Möglichkeit einer authentischen Dokumentation der Äußerungen, die anschließend der Inhaltsanalyse zu Grunde gelegt werden kann. Dies alles kann die Verhandlungsszenerie, auch bei audio-visuell in den Gerichtssaal übertragener Zeugenvernehmung an anderem Ort, nicht ebenso leisten, weil der primäre Fragesteller kein Aussagepsychologe ist und weil die Verhandlungsatmosphäre eine andere ist als die Situation bei der Exploration, schließlich auch, weil der Aussageninhalt in der Hauptverhandlung nicht genau dokumentiert wird, sodass eine Textanalyse nur rudimentär anhand von Notizen vorgenommen werden kann. Das ist mit der rn erkmalsorientierten Inhaltsanalyse durch einen Aussagepsychologen arn Dokurnentationstext von Äußerungen aus der Exploration nicht annähernd zu vergleichen. Für eine intuitive richterliche BeweiswÜfdigung mag das Geschehen in der Hauptverhandlung genügen, wissenschaftlichen Anforderungen hält es nicht Stand 43 Sind die Gegebenheiten zwischen der Beweisgrundlage einer richterlichen BeweiswÜfdigung und einer aussagepsychologischen Begutachtung demnach kategorial unterschiedlich, dann kann ausschließlich anhand normativer Überlegungen überhaupt von ausreichender richterlicher Sachkunde im scheinbaren Nonnalfall der "Aussage-gegen-Aussage" -Konstellation gesprochen werden.

V Methodenvergleich der richterlichen Beweiswürdigung mit der aussagepsychologischen Begutachtung Die Unterscheidung von erlebnis basierten und der objektiven Ereignislage nahekommenden gegenüber unbewusst falschen oder sogar intentional falschen Aussagen ist ein komplexer Vorgang. Die Vorstellung, es gehe nur um die Unterscheidung von objektiver Wahrheit oder Lüge, greift bereits zu kurz. Aber auch die Aussa-

Steht der Proband nicht zur Verfugung, darm kÖMen psychologische Aussagen selbstverständlich auch anhand anderer Informationen, namentlich protokollierter Zeugenaussagen, gemacht werden. Sie haben geringeren Wert, sind aber weder rechtlich unzulässig noch vollends wertlos. BGH Urt. vom 14.12.1954 - 5 StR 416/54, BGHSI7, 82, 84. Das sollte bei der rechtspolitischen Forderung nach einer gesetzlichen Regelung der Dokumentation der Hauptverhandlung hervorgehoben werden.

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RalfEschelbach

gepsychologie kann mit der Undeutsch-Hypothese nur diese Alternativen annähernd genau unterscheiden, weil diese Hypothese davon ausgeht, dass eine bewusst falsche Aussage eine geistige Leistung voraussetzt, die bei der zutreffenden oder jedenfalls nicht bewusst falschen Aussage entfällt Schon die Aufdeckung von den vom Zeugen als wahr eingeschätzten Pseudoerinnerungen, die aufgrund von Autosuggestion, Frerndsuggestion oder sonstigen Frerndeinflüssen auf die im Gedächtnis abgespeicherte Infonnation entstehen, ist auch für Aussagepsychologen auf dieser Grundlage nicht oder jedenfalls nicht ebenso zuverlässig zu leisten wie die Aufdeckung einer Lüge. 44 Sie können allenfalls zum Grad der Suggestibilität des individuellen Zeugen Angaben machen, auf Alternativhypothesen zur Verdachtsannahme hinweisen und Problernzonen für die richterliche Beweiswürdigung benennen. Das ist nicht viel, aber doch deutlich mehr als reine Intuition. Aussagepsychologie kann schon viel bewirken, wenn sie nur gedächtnispsychologischen Faktoren, die hier wirksam werden können,45 bekannt und bewusst macht. Die intuitive richterliche Beweiswürdigung der Berufs- und Laienrichter geht daran nur allzu oft vorbei. Ob die Aussagepsychologie der intuitiv agierenden richterlichen Beweiswürdigung bei der Abgrenzung von erlebnisbezogenen und der Wahrheit nahekommenden Aussagen von Angaben über Pseudoerinnerungen allerdings im Ergebnis kategorial überlegen ist, lässt sich in Frage stellen. Eine abschließende Validitätsüberprüfung fehlt in beiden Bereichen. Letzteres geht mit dem Totalausfall einer neuen Fehlurteilsforschung seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Tübinger Untersuchungen durch Karl Peters über "Fehlerquellen im Strafprozess" 1970 bis 1974 einher. Die Beachtung von fonnalen Methodenvorgaben für die Erstellung schriftlicher Gutachten durch Aussagepsychologen über individuelle Zeugen und ihre Angaben zur Sache liefert auch keine Ergebnissicherheit, sondern nur einen - bisweilen trügerischen - Anschein dafür. Wäre der aussagepsychologische Mindeststandard für schriftliche Gutachten nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30.7.199 of

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Fazit: Verfahrensakten wie jugendamtliche Unterlagen sollten ebenso wie Arztbriefe oder Behandlungsberichte von der Enuittlungsbehörde oder dem Gericht angefordert und beigezogen und einem aussagepsychologischen Sachverständigen zur Kenntnis gegeben werden. Soweit es speziell fachliche Sachverhalte betriill. ist es seine Angelegenheit. sich diese (mit entsprechendem Einverständnis) zu verschaffen. Selbstverstandlich muss dies im Gutachten dokumentiert sein.

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s. Fußn. 6. hier: 2275. S. Fußn. 7. hier: 304.

Schnittstellen von Begutachtung in Strafsachen und zivi/rechtlichen Aspekten

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5. Zum Vernachlässigen bzw. Übergehen eventuell bedeutsamer Umstände und Tatsachen (Wirkgräßen) bezüglich Aussageentstehung undAussageentwicklung Anhand des ersten Beispielfalls war herausgestellt worden. dass wichtige Umstände bezüglich einer ersten Aussage - hier erster, obendrein sich widersprechender Aussagen - nicht berücksichtigt worden waren: Störungen von Krankheitswert und not-

wendige stationäre Behandlung sowie Ausreißen und Unterschlüpfen. Folglich auch. dass dadurch eine ausreichende und sachgerechte Untersuchung und Beurteilung einer Aussage kaum noch möglich erscheint. Bezüglich der Untersuchungsfragen ist stets zu prüfen: .. [ ... ] [E]rfassen sie erschöpfend alle auf Grund der vorhandenen Erkenntnisse plausibel erscheinenden Aussagequellen?" (Köhnken 2006)22 Daher ist es einfach fehlerhaft. die Umstände erster Bekundungen und Befragungen nicht aufzuhellen. Befremdend bzw. unerfindlich ist es, wenn dies von einern Fach-

psychologen/einer Fachpsychologin für Rechtspsychologie unterlassen und außerdem noch ..rationalisiert" wird. Ein 12- bis 13-jähriges Mädchen z. B. wird im Beisein seiner Mutter von deren Freundin in einer Eisdiele bedrängt, etwas zu ver-

dächtigen Nachrichten auf einem Handy und einem damit aufkommenden Verdacht gegen den Lebensgefährten der Mutter zu äußern. Dabei wird dem Mädchen eine venneintliche Erklärung seiner Schwester vorgehalten. Das Mädchen verneint allerdings. Wenig später "flieht" die Mutter mit den Kindern zu einer Freundin, welche in einern anderen Bundesland lebt. Diese Freundin sei selbst eine früher Geschä-

digte. Sie und die Mutter befragen das Mädchen (und seine Schwester) dort weiter. anhand der (spärlichen) Aktenlage erkennbar auch suggestiv und weiter bedrängend. woraufhin das Mädchen allmählich sexuelle Handlungen des Mannes an und mit ihm bestätigt. Dieser wird inhaftiert. Bei der Mutter kommen wenig später Zwei-

fel auf. woraufhin beide Kinder in einer Pflegestelle in Obhut genommen werden. Die Gutachterin beleuchtet die Umstände der ersten Befragungen und Gespräche nur unzureichend, hält zu keiner Zeugenvernehmung der Freundin der Mutter an,

beleuchtet auch nicht die Implikationen der Inhaftierung des Mannes/.. Stiefvaters" für eine Glaubwürdigkeits-Attribution oder für eine eventuell empfundene behördliche Verifikation bei den Mädchen. Ebenso wenig beleuchtet die Gutachterin die Umstände und die spezifischen psychischen Implikationen der Inobhutnahme und Unterbringung in einer Pflegestelle. einschließlich dessen. was den Kindern hierzu

s.

Fußn. 6. hier: 2278.

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Jase! A. Rahmann

vennittelt wurde, wie diese es empfunden haben und was die Pflegepersonen even-

tuell mit ihnen bezüglich des inkriminierten Sachverhalts beredet haben. Eine Suggestionshypothese stand einfach im Raum. war kaum abgeleitet. noch hinsichtlich der Prüfkriterien elaboriert ausgewiesen. Ein Monitum in einer kritischen Expertise rügte, dass die Sachverständige u. a. auf eine Kenntnis entsprechender Zeugenanga-

ben bezüglich Entstehungs- und frühem Entwicklungskontext der Aussage verzichtet und diese nicht erbeten habe. Die Gutachterin - als Fachpsychologin für Rechtspsychologie - erwiderte dem Landgericht gegenüber. es wäre nicht Aufgabe einer psychologischen Sachverständigen, daraufhinzuweisen, dass bzw. welche weiteren Vernehmungen erforderlich seien, dies könne in einer Hauptverhandlung geschehen.

Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen. dass sie sich dadurch einmal um die Möglichkeit bringt, auf einer ausreichenden Grundlage zu arbeiten, zum anderen, dass

diese Auffassung den fachlichen Regeln wie den rechtlichen Bestimmungen (§ 80 StPO) widerspricht. Im Weiteren war es während der Ermittlungen im Beisein der Gutachterin zu einer

richterlichen Vernehmung beider Mädchen gekommen. bei welcher es laut Protokoll kaum zu einer eigenstandigen umfassenden Darlegung der jeweiligen Zeugin kam und in welcher zahlreiche Anhaltspunkte für Befragungssuggestion bzw. wenig taugliche Befragung zu erkennen waren. In Zusammenhang mit dem Entstehungskontext war hierauf in der Expertise aufmerksam gemacht und der Gutachterin vor-

gehalten worden. dieses im Zuge der Hypothesenprüfung bzw. bezüglich Entwicklung der Aussage nicht berücksichtigt zu haben. In ihrer Erwiderung erklärte sie. es sei nicht Aufgabe einer Sachverständigen. bei der Wiedergabe von Anknüpfungstatsachen Kritik an Befragungen zu üben. Als dabei Anwesende. u. U. Mitwirkende. setzt sich eine Gutachterin mit solch bewusstem Verzicht auf kritische Wahrneh-

mung aber ggf dem Verdacht möglicher Befangenheit aus. Dass fachlich wie auch rechtlich ein Beachten und ggf Durchdringen der Entstehungsbedingungen einer Aussage wie von relevanten Umständen im Verlauf gebo-

ten sind. daran besteht kein Zweifel. Das gilt insbesondere für Fälle mit familiärem oder familienähnlichem Bezug. In der Literatur ist dies vielfach herausgearbeitet worden (z. B. Undeutsch 1967. 109 ff; Undeutsch 1993. 40. 47. 113 f; Schade. B./ Harschneck. M. 2000. 40 f; Köhnken 2006. 2280; VolbertiSteller 2009. 840. 842;

Schnittstellen von Begutachtung in Strafsachen und zivilrechtlichenAspekten

471

Deckers, R 1999, 1368; Nack 2001,4)23. Es gilt auch für zwischenzeitlich erfolgte richterliche Vernehmungen (Deckers 2009, 212)24. Im zuletzt skizzierten Fall blieb auch offen, ob es im Anschluss an die Inobhutnahme der Kinder ein familiengerichtliches Verfahren gab und die Kinder hierbei angehört worden waren und sich eventuell "zur Sache" geäußert hatten. Insofern lässt sich erneut verdeutlichen, dass ein verkürztes Verständnis von aussagepsychologischer Begutachtung, das Ausblenden zivil-, ggf. familiengerichtlicher Aspekte und das Missachten bedeutsamer Umstände und Tatsachen hinsichtlich Aussageentstehung und Aussageentwicklung vielfach ineinandergreifen und sich unselig verquicken. Aufgrund - wiederum nur persönlicher, mithin selektiver - Erfahrung stellt der Autor infrage, dass "amtliche", behördliche bzw. gerichtliche Entscheidungen wie u. U damit verknüpfte wegweisende Lebensveränderungen (wie zum Beispiel eine Herausnahme oder ein Kontaktverbot), welche von eventuell erheblicher strukturierender bzw. prägender Bedeutung hinsichtlich einer Geschichte der Aussage sein können, regelmäßig kritisch beleuchtet werden. Mitunter scheint "der Zeitraum von der Erstaussage bis zur Hauptverhandlung als psychologischer Prozeß" (Schade 2000)25 lässig gehandhabt zu werden, auch von beauftragten Gutachtern.

>-

Fazit: Hinsichtlich himeichender Grundlage für die Hypothesenbildung und die spätere Beurteilung sind die psychischen Wirk- und Einflussgrößen bei der Entstehung und Entwicklung der Aussage kritisch zu beleuchten, so auch ein u. U psychisch bedeutsames Geschehen im Verlauf. Hierzu zählen in der Regel Sorgerechtsentzüge, Inobhutnahmen und Kontakteinschränkungen. Dieser Komplex ist im Zuge der Ermittlungen, in einer Hauptverhandlung und hinsichtlich eines vorgelegten Gutachtens gründlich zu prüfen.

Undeutsch (1967), s. Fußn. 6; Undeutsch (1993), Die aussagepsychologische RealitätsplÜfung bei Behauptung sexuellen Missbrauchs, in: S. Kraheck-Brägelmarm (Hrsg.), DieAnhönmg von Kindern als Opfer sexuellen Missbrauchs, Rostock: Hans. Fachvlg. f. Wirtschaft, 69-162; Schade, B.lHarsclmeck, M. (2000), Die BGH-Entscheidung im Rückblick auf die Wonnser Mißbrauchsprozesse, in: Praxis der Rechtspsychologie, 10, Sonderheft 1, 28-47; Kölmken (2006), s. Fußn. 6; Volbert/Steller (2009), s. Fußn. 3; Deckers (1999), GlaubWÜTdigkeitkindlicher Zeugen, in: NJW, 52, H. 19, 1365-1371; Nack (2001), Der Zeugenbeweis aus aussagepsychologischer und juristischer Sicht, in: Strafoerteidiger FOlUm, H. 1, 1-9. Deckers (2009), Qualität von Gutachten - rechtsanwaltliche ElV/artungen, in: S. Dauer et al. (Hrsg.), Rechtspsychologie zwischen Politik, Justiz und Medien, Lengerich: Pabst, 205-214. Schade (2003), Der Zeitraum von der Erstaussage bis zur Hauptverhandlung als psychologischer Prozeß. Folgerungen für die Glaub\VÜfdigkeitsbegutachtung am Beispiel der Wonnser Prozesse über sexuellen Kindesmißbrauch, in: Strafoerteidiger, H. 3, 165-170.

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Jase! A. Rahmann

6. Riskieren oder billigendes Inkaufoehmen unzureichender "Spurensuche " bzw. unzureichender Hypothesen und einer kurzschlüssigen, eventuell konfirmatorischen Bewertung bzw. Bewertungsgrundlage Wenn ein unzureichendes Grundverständnis aussagepsychologischen Arbeitens, ein

eventuelles Übergehen kollateral bedeutsamer familiengerichtlicher Verfahren und! oder ein Übergehen bedeutsamer Umstände und Tatsachen hinsichtlich Aussageentstehung undAussageentwicklung vorliegen, mündet dies in eine unzureichende, ggf. voreingenommene Hypothesenbildung und eine unzureichende, nicht zuverlässige

und nicht valide Beurteilung. Das Ganze ist verkürzt, selektiv und meist beschränkt konfinuatorisch. Der Volksmund würde es sprichwörtlich erklären: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Ähnliches gilt für eine nicht genügend umfassende Ermittlungsgrundlage. Es schließt sich somit wieder der Kreis von unauflöslichem und interaktivem Bezug von Aussagequalität, personalen Voraussetzungen und Aussagegeschichte, was das praktische Procedere einer Ermittlung ebenso wie einer psychologischen Datenerhebung und das juristische wie das diagnostische Schlussfolgern bei der Beurteilung von Zeugenaussagen lenkt und grundiert. Praktisch geht dies mit stets latenten Kontrollfragen einher: Was müsste ich tun, um unzureichende Spuren oder Materialien zu sammeln und dies zu riskieren bzw. billigend in Kauf zu nehmen? Was müsste ich tun oder wie müsste ich vorgehen, um

nicht genügend und zu gering durchdachte Hypothesen (Enuittlungs- bzw. Untersuchungsfragen) zu bilden? Und was müsste ich tun, um diese Fragen schnell abzuarbeiten, mich dabei auf eine oder wenige Spuren zu setzen und allmählich blind für anderes zu werden, allmählich einfach müde und erschöpft und auf dieser Basis das Ganze für erschöpfend geklärt und himeichend beurteilbar zu halten? Ergänzend vielleicht: Was müsste ich tun, um ausschließlich meine schmale fachliche Spur zu beachten und nicht über den Rand hinauszuschauen?26 Die Einheit der Rechtsordnung wird dadurch ebenso wenig gewahrt wie ein Anschluss an andere Sachkunde und eine interdisziplinäre Verständigung.

Im SiJUle einer ge"Wissen Betriebsblindheit oder "dt'{onnation professionelle".

Zu den rechtlichen Voraussetzungen von Prognosegutachten Klaus DeI/er

Die Bedeutung von Prognosegutachten hat in letzter Zeit angesichts von der Presse aufgegriffener und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierter Fälle an erheblichem Gewicht gewonnen. 1 Rechtsprechung und Literatur haben ebenfalls in größerem Umfang die Problematik von Prognosegutachten aufgegriffen und nach einer sowohl für die Freiheit des Betroffenen wie auch für den Schutz der Allgemeinheit akzeptablen Lösung gesucht 2 Gesetzliche Regelungen, bei denen Prognosen notwendig sind, finden sich vor allem im Bereich der Strafaussetzung zur Bewährung, der Maßregeln der Besserung und Sicherung, der Strafvollstreckung sowie im Therapieunterbringungsgesetz. Obwohl das Wort Prognosegutachten in den entsprechenden Gesetzestexten nicht auftaucht, wird tatsächlich in einer Vielzahl von Fällen ein solches Gutachten gefordert. Für solche Gutachten gilt allgemein: "Prognoseentscheidungen bergen stets das Risiko der Fehlprognose, sie sind im Recht aber gleichwohl unumgänglich Die Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar, mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein. In der Praxis der forensischen Psychiatrie hat sich im Übrigen das Wissen um die Risikofaktoren in den letzten Jahren erheblich verbessert, so dass über einen Teil der Delinquenten relativ gute und zuverlässige prognostische Aussagen gemacht werden können. "3

Der Fall Mollath; vgl. dazu z. B. Sponsel, Mindestanforderungen für forensische Prognosegutachten und ihre Einhaltung bei Gustl F. Mollath; vgl. auchlvfuckel JA 2014, 73 f.; Walter ZRP 2014, 103f; PrantIDRlZ 2013, 20. BoetticherlNedopillBosinskilSaß NStZ 2005, 57; krit. Eisenberg NStZ 2005, 304 ff.; zu Mindestanforderungen an Prognosegutachten vgl. BoetticherlKräberlMüller-Isbemerl BöhmIMüller-MetzlWoifNSfZ 2006, 537; BockStV 2007, 269 Ir; Schöch FS Widmaier %7 ff.; Nedopil BewHi 2001, 341 ff. (Risikoeinschätzung bei Sexualstraftätem); ZJJ 2010, 283 ff.; ders. FPPK 2012, 221 ff.; ders. Prognosen in der Forensischen Psychiatrie - ein Handbuch für die Praxis; Leygraj in: Vemla.f.!!Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., S. 484 ff., 496 ff.; FelteslKudlacehAlex StV 2013, 259 ff.; Riegl, Die Qualität forensischer Prognosegutachten bei Gewalt- und Sexualstraftätem. Zu methcxlenkritischen Gegengutachten vgL BGH BesehL v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 ~ BGHSt 49, 347 Ir m. Anm. Nedopil JR 2005,213 f.; vgl. auch Birkhoff, Probleme des StrafVerteidigers mit Prognosegutachten, StraFo 2001, 401 Ir BVerfD Urt. vom 05.02.2004 - 2 BvR 2029/01 ~ NJW 2004, 739 ~ StV 2004, 267.

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Klaus Detter

Prognoseentscheidungen beruhen auf Wahrscheinlichkeitsfeststellungen. Bei einer Prognose kann nicht verlangt werden, dass zukünftige Ereignisse oder Zustände zur vollen richterlichen Überzeugung feststehen. Ansonsten könnte die Gefahrprognose immer mit dem Argument verneint werden, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass gefahrbegründende Faktoren nicht eintreten. Ein solcher Maßstab ist wegen zu hoher Anforderungen rechtsfehlerhaft 4 Werden zur Beurteilung der Gefährlichkeit die Erkenntnisse aus standardisierten, auf statistischen Erfahrungen beruhenden Prognoseinstrurnenten herangezogen, ist zu beachten, dass diese Instrumente Umstände auflisten, die einen Zusammenhang mit Rückfälligkeit aufweisen. Sie sind jeweils das Ergebnis der Untersuchung von unterschiedlich zusammengesetzten Stichproben verurteilter Straftäter. Ob ein bestimmtes Prognoseinstrument für die Beurteilung des bei einem Angeklagten bestehenden individuellen Rückfallrisikos generell tauglich ist, hängt zuerst einmal davon ab, ob die in die Stichprobe einbezogenen Täter bezüglich ihrer persönlichen Umstände (z. B. Anlassdelikt, psychische Erkrankung, Alter) mit dem Angeklagten vergleichbar sind. Entsprechendes gilt hinsichtlich des für den Angeklagten zukünftig zu erwartenden Umfelds und der für die Prognose als entscheidend erachteten Zeitspanne. Gibt es keine oder eine geringe Vergleichbarkeit zwischen der Stichprobe des angewendeten Prognoseinstruments und dem zu beurteilenden Einzelfall, ist die Bestimmung eines individuellen Risikogrades aus methodischer Sicht nicht zu rechtfertigen. Stützt der Iatrichter seine Gefährlichkeitsprognose auf ein von einern Sachverständigen verwendetes standardisiertes Prognoseinstrurnent, hat er deshalb darauf zu achten, dass es im jeweiligen Einzelfall tauglich ist. Selbst dann bedarf es zur individuellen Prognose über die Anwendung derartiger Instrumente hinaus einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen" Eine Gefahrenprognose, die ohne konkreten Bezug auf die Person des Betroffenen letztlich auf im Grunde statistische Erwägungen ("fast regelhaft") gestützt ist, reicht nicht aus. 6 Durch eine Arbeitsgruppe von Juristen, Psychiatern und Psychologen wurden Empfehlungen hinsichtlich der Mindestanforderungen für Prognosegutachten dokumentiert 7 Ob diese Empfehlungen immer Eingang in die Prognosegutachten und die darauf beruhenden Entscheidungen der Gerichte finden, ist aber fraglich. 8

BGH Urt. v. 25.09.2012 - 1 StR 160112 ~ NSlZ 2013, 225 f BGH Besehl. v. 22.07.2010 - 3 StR 169110 ~ StV 2011, 271 f BGH Besehl. v. 03.04.2008 - 1 StR 153/08 ~ StraFo 2008, 300 f NSlZ 2006, 357 ff So Sponsel a. a. 0.: ,,[D]ie Veröffentlichung der Regeln scheint nur proklamatorischen und Alibifunktions-Charakter zu haben, weil sich die wenigsten forensischen PsychiaterlIIlllen daran halten, auch nicht die creme de la creme Gutachter'.

Zu den rechtlichen Voraussetzungen von Prognosegutachten

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1. Prognosen im Rahmen von Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56, 57, 57 a StGB) 1. § 56Abs.1 SIGB

Abs.1 ,,[. .. } wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Straji;ollzugs keine Straftaten mehr begehen wird Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirküngen zu berücksichtigen, die von der Aussetzungjür ihn zu erwarten sind"

Abs.2 ,,[. .. } wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tatverursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen. " Grundlage der Prognose sind alle Tatsachen, aus denen sich Schlüsse auf das künftige Verhalten des Täters ziehen lassen. Ob sie sich bei der abzuurteilenden Tat ausgewirkt haben, ist unerheblich. Die in § 56 Abs. 1 Satz 2 genannten Gesichtspunkte sind nicht erschöpfend. Neben ihnen sind auch alle sonstigen Tatsachen zu beachten, die für oder gegen eine günstige Prognose sprechen. Die Erwartung im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB setzt nicht eine sichere Gewähr für künftiges straffreies Leben voraus. Ausreichend ist, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens größer ist als diejenige neuer Straftaten. Die Tatbegehung während des Laufs einer Bewährungszeit schließt die erneute Strafaussetzung zur Bewährung nicht grundsätzlich aus. Hat ein Täter etwa erstmals Freiheitsentzug erlitten, kann ihn dies so beeindruckt haben, dass die Prognose deswegen nunmehr günstig ist. 9 Es genügt aber nicht, dass eine günstige Sozialprognose nur nicht auszuschließen ist oder dass die Möglichkeit, der Angeklagte werde in Zukunft keine Straftaten begehen, nicht gänzlich verneint werden kann. Hinsichtlich der für die Erwartung erforderlichen Anknüpfungstatsachen gilt aber der Zweifelssatz. Die Prognoseentscheidung erfordert eine Gesamtwürdigung. Maßgeblich ist die Beurteilung im Zeitpunkt der Urteilsfällung. Bei der Prüfung einer günstigen Sozialprognose ist auch abzuwägen, ob und inwieweit eine Strafverbüßung die Eingliederung des Angeklagten in das Arbeits-

BGH Besehl. v. 21.03.2012 -1 StR 100/12 ~NS1Z-RR 2012, 201.

Klaus Detter

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leben erschweren, wenn nicht gar vereiteln würde. Für die Prognose entscheidung gilt der Zweifelsgrundsatz nur, soweit die tatsächlichen VoraussetZllilgen betroffen sind. Das gesetzliche Verwertungsverbot gemäß § 51 Abs. 1, § 63 Abs. 4 BZRG wonach aus der Tat, die Gegenstand einer getilgten Verurteilung ist, keine nachteiligen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten gezogen werden dürfen, gilt auch für die gemäß § 56 Abs. 1 StGB zu treffende Prognose entscheidung. 10

Im Rahmen von § 56 Abs. 2 StGB ist eine Prüfung der Kriminalprognose, also die Erwartung, der Angeklagte werde sich künftig straffrei führen, unerlässlich. Denn dieser Gesichtspunkt kann auch für die Beurteilung bedeutsam sein, ob Umstände von besonderem Gewicht im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB vorliegen. 11

2. § 57 SIGB12 (1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. [. .. ] 2. dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und 3. [. .. }.

Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten

Person, ihr Vorleben, die Umstande ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind

(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestensjedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn

I.[J 2. die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und

ihrer Entwicklung wahrend des StrafVollzugs ergibt, dass besondere Umstände vorliegen,

und die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt sind

'"

II U

BGH Besehl. v. 04.02.2010 - 3 StR 8/10 ~ StraFo 2010, 207. BGH Besehl. v. 22.08.2012 - 1 StR 343/12 ~ StV 2013, 84 f VgL dazu BVerfG BesehL v. 10.06.2013 - 2 BvR 1541/12; v. 22.06.2012 - 2 BvR 22/12 StV 2013, 217f

~

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Bei der diagnostischen wie der prognostischen Beurteilung muss deutlich werden, in welchem Zusammenhang Ausgangsdelikt und frühere Delinquenz mit der Persönlichkeit stehen (situative oder persönlichkeitsbedingte Taten) und ob deliktspezifische Persönlichkeitszüge persistieren oder nicht. Dabei muss die prognostische Relevanz der Vortaten und der Anlasstat aus der Gesamtpersönlichkeit des Betroffenen nachvollziehbar abgeleitet werden 13 Die Anforderungen, welche an die Erfolgsaussichten der Prognose zu stellen sind, werden desto strenger, je höher das Gewicht des bedrohten Rechtsguts ist Bei der danach gebotenen Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände kommt dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und dem Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts insbesondere dann besondere Bedeutung bei, wenn der Verurteilung ein Verbrechen gegen das Leben zugrunde lag. Dies bedeutet aber nicht, dass bei Gewaltdelikten eine vorzeitige Entlassung grundsätzlich ausgeschlossen ist; das verfassungsrechtlich verankerte Gebot bestmöglicher Sachaufklärung erfordert dann aber auch zum Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Rechtsbrechern verstarkt, dass sich der Richter ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft Diesem Gesichtspunkt hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass nach der Neufassung des § 454 Abs. 2 Satz I Nr. 2 StPO hierzu das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen ist, wenn das Gericht erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz I StGB bezeichneten Art, namentlich eines Verbrechens gemäß § 57 StGB, zur Bewährung auszusetzen.

Die Berücksichtigung eines bei der Staatsanwaltschaft gegen den Verurteilten anhängigen anderen Strafverfahrens ist im Rahmen der Prognoseentscheidung des § 57 StGB möglich und zulässig. Dem steht nicht die Unschuldsvermutung des Art 6 Abs. 2 MRK entgegen. Die Bejahung einer günstigen Täterprognose nach der Verantwortungsklausel des § 57 Abs. I Satz 2 Nr. 2 StGB fordert die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolges der Aussetzung der Vollstreckung, wobei die Kriterien des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit und des Gewichts des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes dem Wahrscheinlichkeitsurteil Grenzen setzen. In diesem Sinne bedingt das mit der Aussetzung verbundene Erprobungswagnis gleichwohl keine Gewissheit künftiger Straffreiheit Es genügt, wenn eindeutig festzustellende positive Umstände die Erwartung (i. S. einer wirklichen Chance) rechtfertigen, dass der Verurteilte im

Vgl. dazu BoetticherjurisPR-StrafR 20/2011 Anm. 2.

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Falle seiner Freilassung nicht mehr straffällig und die Bewährungszeit durchstehen wird. Dies entspricht ebenso der ständigen Rechtsprechung des Senates wie die Ein-

schränkung, dass nicht aufklärbare Unsicherheiten und Zweifel zu Lasten des Verurteilten gehen. Die im Rahmen des § 57 Abs I StGB gebotene Prognoseentscheidung trifft nicht der Sachverständige, sondern das Gericht; es ist Aufgabe des Fachgerichts, das Gutachten nicht nur hinsichtlich des Ergebnisses, sondern insgesamt auf seine Qualität hin zu kontrollieren. 14

Bei § 56 Abs. 2 StGB muss es sich um mildernde Umstände handeln, die von besonderem Gewicht sind und dem Fall im Rahmen der abzuwägenden Gesamtschau zugunsten des Täters eine besondere Prägung geben. Die Umstände müssen die Tat,

ihre Auswirkungen bzw. die Entwicklung der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt vergleichbarer Fallgestaltungen so deutlich abheben und in einem so milden Licht erscheinen lassen, dass eine Strafaussetzung ohne Gefährdung der allgern einen Interessen verantwortet werden kann.

Hinweis: Es liegt in der Dispositionsfreiheit eines Verurteilten, an der Aufklärung fraglicher Vorgänge in seinem Vollzugsverhalten, aus denen Zweifel an einer günstigen Sozial- und Krirninalprognose, insbesondere an einern Wandel seiner Persönlichkeit, erwachsen sind, mitzuwirken und so dem Gericht und

auch dem Sachverständigen die erforderlichen Anknüpfungstatsachen für eine krirninalprognostische Beurteilung zu vennitteln. Wenn der Verurteilte

die gebotene Mitwirkung verweigert und deshalb nicht aufklärbare Unsicherheiten und Zweifel an einer ausreichend günstigen Krirninalprognose verbleiben, wirkt dies zu Lasten des Verurteilten.

3. § 57 aStGB Die dem Strafvollstreckungsrichter abverlangte Entscheidung gebietet u. a. eine prognostische Bewertung und eine vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung, die ureigene richterliche Aufgabe sind. Die Grundwerte der Verfassung gebieten nicht nur

BVerfD, Besehl. v. 27.06.2011- 2 BvR 2135/10.

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bei der dem Strafvollstreckungsrichter nach § 57 aAbs. 1 Nr. 2 StGB übertragenen Schuldabwägung, sondern auch bei der nach § 57 a Abs. 1 Nr. 3 und S. 2 i. V mit § 57 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StGB erforderlichen prognostischen Bewertung eine besonders sorgfältige und eingehende richterliche Prüfung aller relevanten Umstände. Vor allem wenn die bisherige Dauer der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren (§ 57 a Abs. 1 Nr. 1 StGBl übersteigt und die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung nicht mehr gebietet (§ 57 a Abs. Abs. 1 Nr. 2 StGBl, gewinnt der Anspruch des Verurteilten auf Achtung seiner Menschenwürde und seiner freien Persönlichkeit zunehmendes Gewicht auch für die Anforderungen, die an die für die Prognoseentscheidung notwendige Sachverhaltsaufklärung zu stellen sind. Bei Straftaten, die wie der Mord (§ 211 StGBl mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit besondere Bedeutung für die Prognose zu, ob es verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Die Strafrestaussetzung darf nicht zu Rückfallmorden führen. Bestehen Anhaltspunkte für eine Gefahr, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen wird, so kommt eine Aussetzung nicht in Betracht. Insoweit geht der Zweifel an einer günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten. Nach langjähriger Haft kann diese Prognose aüßerordentlich schwierig sein. Dem Strafvollstreckungsrichter ist die Aufgabe übertragen, hier in besonders verantwortungsvoller Weise einerseits dem berechtigten Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung zu tragen, andererseits darauf zu achten, dass die dem Verurteilten von Verfassungs wegen zukommende Chance, seine Freiheit bei einer entsprechenden Entwicklung seiner Persönlichkeit im Strafvollzug wiederzugewinnen, grundsätzlich auch realisierbar bleibt Dem verfahrensrechtlichen Gebot einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung kommt in einern solchen Fall die Bedeutung eines Verfassungsgebots zu. Der Strafvollstreckungsrichter muss für die Prognoseentscheidung zunächst eine himeichende Tatsachengrundlage schaffen, die alle maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erfasst Auf dieser Grundlage hat er nach sachverständiger Beratung (§ 454 II StPOl eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat Bei der Prognose hat der Richter die Art der drohenden Straftaten und das Maß ihrer Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, wobei er insbesondere auch die möglichen Wirkungen von Weisungen sowie der Betreuung durch einen Bewährungshelfer aüßerhalb des Vollzuges (§ 57 a III 2 i. V mit §§ 56c, 56d StGBl zu berücksichtigen hat. Die so gewonnene wertende Prognose muss dann gegen das

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verfassungsmäßige Recht des Betroffenen auf Achtung seiner Menschenwürde gewogen werden. 15

II. Prognosen im Rahmen von Maßregeln der Besserung

und Sicherung (§§ 63, 64, 67 d StGB, §§ 246 a, 454 StPO) 1. § 63SIGB ,,[. .. } ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. " Mit einer Wahrscheinlichkeit hohen Grades muss anzunehmen sein, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und daher für die Allgemeinheit gefährlich ist. § 63 StGB setzt zunächst die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründet. und ferner, dass der Täter in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begangen hat, die auf den die Annahme der § § 20, 21 StG B rechtfertigenden dauerhaften Defekt zurückzuführen ist. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Deshalb darf sie nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Täter infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, die zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineimeichen. Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. 16 Unter Umständen kann allerdings schon die erste Straftat die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit belegen; jedoch bedarf die Gefährlichkeitsprognose dann besonderer Prüfung, wenn es sich

BVerfD Besehl. v. 23.09.1991 - 2 BvR 1327/89 ~ NSlZ 1992,405, 406 ~ StV 1992, 25 f.; Besehl. v. 29.11.2011- 2 BvR 1758/10 ~ StV 2012, 543; v. 17.05.2011 - 2 BvR 942/11. BGH Urt. v. 10.10.2013 - 4 StR 135/13; Besehl. v. 18.10.2013 -3 StR215/13; v. 01.10.2013 3 StR 311/13; v. 24.10.2013 - 3 StR 349/13.

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um eine eher geringfügige Anlasstat handelt Vom Angeklagten während der Unterbringung gezeigtes Verhalten kann nur eingeschränkt bei der Prognoseentscheidung berücksichtigt werden. Der Täter ist für die Allgemeinheit gefährlich, wenn dafür nach einer eingehenden Gesamtwürdigung des Täters und der Tat eine bestimmte oder doch gewisse, über die bloße Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit besteht Eine Sicherheit oder eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose im Sinne von § 63 StGB ist der Zustand des Täters zur Zeit der letzten Verhandlung vor dem Tatrichter. Diese Prognose hat das Tatgericht unter verpflichtender Hinzuziehung eines Sachverständigen zu treffen (§ 246 aStPO). Im Rahmen des "Gebotes der bestmöglichen Sachaufklärung" hat das entscheidende Gericht die Aussagen oder Gutachten des Sachverstandigen selbstständig zu beurteilen. Er darf die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverstandigen überlassen, sondern hat diese selbst zu treffen. 17

2. § 64 SIGBlS

,,[. .. } ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn die Gefahr besteht, dass er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. " Die Anordnung der Unterbringung gemäß § 64 StGB ist bei Vorliegen ihrer rechtlichen Voraussetzungen zwingend. Sie setzt - im Gegensatz zur Unterbringung nach § 63 StGB - nicht voraus, dass bei Begehung der Tat die Voraussetzungen des § 21 StGB vorlagen. Sicher feststehen muss allein, dass die Tat im Rausch begangen wurde oder auf die Rauschmittelabhängigkeit des Täters zurückzuführen ist Maßgeblich bei der Prüfung der Erfolgsaussichten, an die keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen, ist, ob es gelingen kann, den abhängigen Täter unter den besonderen Bedingungen des Maßregelvollzugs zu heilen oder doch über

BverfD Besehl. v. 26.08.2013 - 2 BvR 371/12 ~NJW 2013, 3228 (Fall Mollath). Vgl. dazu Dannhom NStZ 2012, 414 ff.

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eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in entsprechenden Fällen auch Sinn und Zweck der Therapie ist, den Untergebrachten dazu zu bringen, dass er sich nach einer gewissen Anpassungszeit der Notwendigkeit der Behandlung öffnet und an ihr mitwirkt Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt

3. § 67 dStGB ,,(2) Ist keine Höchstfrist vorgesehen oder ist die Frist noch nicht abgelaufen, so setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewäh-

rung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. (3) Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregelfür erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaujsicht ein. (6) Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhausfest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird. " Bei der Prüfung, ob der Vollzug einer Maßregel gern. § 67dAbs 2 StGB ausgesetzt werden kann, muss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz berücksichtigt werden. Das sich aus diesem Grundsatz ergebende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheits-

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anspruch des betroffenen Einzelnen und dem SicherungsbedÜTfnis der Allgemeinheit verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. 19 Bei der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung handelt es sich um eine wertende Entscheidung, die nach ausfüllungsbedÜTftigen Kriterien und unter Prognosegesichtspunkten zu treffen ist Im Rahmen des "Gebotes bestmöglicher Sachaufklärung" besteht bei Prognoseentscheidungen, bei denen geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, in der Regel die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Dies gilt in Sonderheit dort, wo die Gefährlichkeit eines in einern psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu beurteilen ist. Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich bei solchen langdauernden Unterbringungen in einern psychiatrischen Krankenhaus auch auf die an die Begründung einer Entscheidung zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich angesichts der in besonderem Maße wertenden Natur der Entscheidung, ob die Erprobung des Untergebrachten in Freiheit verantwortet werden kann, dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine WÜTdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag. Zu verlangen ist mithin vor allem die Konkretisierung der Wahrscheinlichkeit weiterer rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen, und deren Deliktstypus. Bleibt das Bemühen des Richters um Zuverlässigkeit der Prognose trotz Ausschöpfung der zu Gebote stehenden Erkenntnismittel mit großen Unsicherheiten behaftet, so hat auch dies Eingang in seine Bewertung zu finden. 20 Der Gesetzgeber hat mit der am 31. Januar 1998 in Kraft getretenen Neufassung im Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBL I S. 160) die frühere Erprobungsformel durch die Erwartensformel ersetzt, die ihrem Wortlaut nach derjenigen des § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB entspricht Die Erwartung, der Untergebrachte werde außerhalb des Maßregelvollzuges keine Straftaten mehr begehen, verlangt zwar nicht, dass ein Rückfall

BVerfD Besehl. v. 24.07.2013 - 2 BvR 298/12; vgl. dazu Peg/au jurisPR-StrafR 1712013 Anm.3.

BVerfD Besehl. v. 16.05.2013 - 2 BvR 2671111

~NS1Z-RR

2013,322 ff.

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des Untergebrachten in rechtswidrige Handlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist. Andererseits reicht nicht nur eine Vennutung, dass der Untergebrachte keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Die günstige Prognose setzt vielmehr voraus, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens größer ist als diejenige des Rückfalls. Unter Berücksichtigung des Schutzes der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftaten hängt das geforderte Maß der Wahrscheinlichkeit einer günstigen Prognose maßgeblich vom Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes ab. Die Wahrscheinlichkeit einer günstigen Prognose muss folglich bei schweren Straftaten besonders hoch sein. Das in Vorbereitung der Überprüfungsentscheidung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB, §§ 463 Abs. 3 Satz 3, 454Abs. 2 StFO eingeholte Sachverständigengutachten muss eine eigenständige Diagnose des gegenwärtigen gesundheitlichen Zustandes des Untergebrachten sowie eine eigene Prognose zur Frage seines künftigen Sozialverhaltens enthalten. Die Untersuchung der diagnostischen und prognostischen Einschätzung der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten zu den entscheidenden Fragen auf Fehler reicht nicht aus. 21 Ein Gutachten erfordert eine umfassende, in sich nachvollziehbare Darstellung des Erkenntnis- und Wertungsprozesses des Probanden. Hierzu gehört die Angabe der von ihm herangezogenen und ausgewerteten Erkenntnisrnittel sowie der hierdurch erlangten Informationen. Für ein prognostisches Gutachten ist es unerlässlich, sich mit der den Taten zugrunde liegenden Dynamik und den sonstigen Tatursachen (wie sie sich aus den Urteilsgründen und einern vorn Tatgericht ggfs. eingeholten Gutachten ergeben) auseinanderzusetzen und die Entwicklung des Untergebrachten im Hinblick auf diese Tatursachen während des Maßregelvollzugs darzustellen. Eine (knappe) gutachterliche Stellungnahme der behandelnden Ärzte, die diesen Anforderungen nicht genügt, vermag die Begutachtung durch einen externen Sachverständigen nicht zu ersetzen. 22 Liegt eine eingehende, den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an Prognosegutachten genügende Begutachtung durch einen externen Sachverständigen bereits vor und ist diese zu einer vollständig negativen Prognose gekommen, so besteht Anlass zu einer erneuten Vollbegutachtung des Untergebrachten - auch wenn er sich bereits lange im Maßregelvollzug befindet - erst dann, wenn sich ein erkennbarer und zumindest nicht völlig unbedeutender Behandlungsfortschritl ergeben hat. 23 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert die größtmögliche Konkretisierung der vom Untergebrachten

OLG Küb1enz v. 21.05.2003 - 1 Ws 301103 ~ StV 2003, 686 f OLG Hamm v. 14.03.2003 - 2 Ws 71103 ~ StV 2004, 273 f OLG Küb1enz v. 25.10.2004 - 1 Ws 646/04 ~NS1Z-RR 2005, 30.

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im Falle der bedingten Entlassung ausgehenden Gefährdung der Allgemeinheit nach Gefährdungsgrad und Deliktsschwere. Auch das befürchtete Rückfalldelikt muss von einern Schweregrad sein, der nach dem Gesetz die Verhängung der Maßregel (Einweisung in eine psychiatrische Klinik) rechtfertigen würde. 24

Hinweis: Einern in einern psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist von Verfassungs wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es wegen Besonderheiten und Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers ist auch dann geboten, wenn die Würdigung aller Umstände, das Vorliegen eines "schwerwiegenden Falles" ergibt. Davon ist bei einer Dauer von 19 Jahren Freiheitsentziehung durch Unterbringung auszugehen. 25

4. Anordnung und Entlassung aus der Sicherungsverwahrung (§§ 66ff. StGB)

4. L § 66 StGB (in der Fassung vom 22.12.2010)

Abs. 1 Nr. 3,,[. .. } die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschadigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. " Die nach § 66 Abs. I Nr. 3 StGB gebotene Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten muss die Persönlichkeit des Angeklagten mit allen kriminologisch wichtigen Tatsachen einschließlich der Vorstrafen und Vortaten einbeziehen; die Würdigung der Taten darf sich nicht auf die abzuurteilenden Taten und das Einlassungsverhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung beschränken, sondern muss insbesondere auch die die formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. I StGB begründenden

" "

OLG Küb1enz v. 13.01.2004 - 1 Ws 807103. BVerfG, Beschluss vom 13.11.2005,2 BvR 792/05.

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Symptomtaten umfassen. Die Gefahrlichkeitsprognose im Sinne des § 66 Abs. I Nr. 3 StGB ist in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen. Dieser Aufgabe ist der Tatrichter nicht etwa deshalb enthoben, weil sich der gemäß § 246 a StPO gehörte psychiatrische Sachverständige "aufgrund des hohen Widerstandes gegenüber dem Gutachter und der Unzuverlässigkeit des Angeklagten bezüglich seiner Angaben und der damit verbundenen Infonnationsdefizite" an der eindeutigen Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gehindert gesehen hat Vielmehr ist es in einem solchen Fall Aufgabe des Gerichts, unter Mithilfe des Sachverständigen alle übrigen ihm - etwa auch aus den Vorstrafakten - zur Ver-

fügung stehenden Erkenntnisquellen auszuschöpfen. Darüber hinaus hat der Sachverständige das Gericht auf - seiner Ansicht nach - aufklärungsbedürftige und für die Beurteilung wesentliche Punkte hinzuweisen, um durch weitere Aufklärung die Grundlage für seine gutachterliehe Stellungnahme in dem von ihm selbst für erforderlich gehaltenen Maße verbreitern zu können. Grundlage der Gefährlichkeitsprognose sind ausschließlich die Verhältnisse zur Zeit der Hauptverhandlung, nicht der Entlassung aus der sich anschließenden Strafhaft Denkbare, aber nur erhoffte positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug bleiben der obligatorischen Prüfung vor dessen Ende, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert (§ 67 c Abs. I StGBl, vorbehalten. Nur wenn in der Hauptverhandlung festgestellt wird, dass die unter den bisherigen Lebensverhältnissen an sich gegebene Gefährlichkeit nach dem Strafvollzug nicht mehr bestehen werde oder dass sie durch weniger einschneidende und sicher ausführbare Maßnahmen behoben werden kann, ist die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ausgeschlossen. Der Tatrichter darf aber dem Alter des Angeklagten und den Wirkungen eines langjährigen Strafvollzuges dann Bedeutung beimessen, wenn schon bei Urteilsfindung mit Sicherheit angenommen werden kann, dass aufgrund dessen eine Gefährlichkeit des Täters bei Ende des Vollzuges der Strafe nicht mehr bestehen wird. Die bloße Möglichkeit künftiger Besserung oder die Hoffnung auf sich ändernde Umstände können die Gefährlichkeit jedoch nicht ausräumen. Im Rahmen von § 66 Abs. 2 StGB ist der Tatrichter bei der Ausübung seines Ermessens strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes gebunden. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefahrlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen läßt. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind deshalb wichtige Kriterien, die im Rahmen dieser Ennessensentscheidung zu berücksichtigen sind. Dabei besteht

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freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird. Je länger die verhängte Freiheitsstrafe und je geringer die bisherige Erfahrung des Täters mit Verurteilung und Strafvollzug ist, desto mehr muss sich der Tatrichter aber mit diesen Umständen auseinandersetzen. Ordnet der Tatrichter die Unterbringung nach § 66 Abs. 2 StGB an, müssen die Urteilsgründe nicht nur erkennen lassen, dass er sich seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war; sie müssen auch darlegen, aus welchen Gründen er von ihr in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat Mit sexuellem Missbrauch nach den §§ 176, 176 a StGB ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu prognostizieren, ist nahezu ausgeschlossen, weshalb auch die allgemeine und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten Grundlage von Sicherungsverwahrung sein kann. Dass keine körperliche Gewalt gegen ein Tatopfer angewandt wurde, beseitigt nicht die Erheblichkeit des Tuns, sondern führt lediglich dazu, dass er nicht auch noch der sexuellen Nötigung schuldig ist Dies hat aber bei der Prüfung von § 66 StGB keine Bedeutung. 26 Macht sich das Tatgericht bei der Erörterung der Gefährlichkeit des Angeklagten das vorn Sachverständigen herangezogene Prognoseinstrurnent "Static 99", die von Hare 1985 erarbeitete "PCL (Psychopathy-Check-List)" und den "SVR-(SexualViolence-Risk-)Kriterienkatalog" zu eigen, genügt es nicht, lediglich anzugeben, welche Prozent- bzw. Punktwerte der Angeklagte als Testergebnis erreicht hat Die Feststellung, der Angeklagte weise bei Anwendung irgendeines statistischen Prognoseinstruments eine bestimmte Anzahl von Risikopunkten auf, ist nicht ausreichend. Solche Instrumente können für die Prognose zwar Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen Grundrisikos liefern, sie sind indes nicht in der Lage, eine fundierte Einzelbetrachtung zu ersetzen. Zur individuellen Prognose bedarf es über die Anwendung derartiger Instrumente hinaus zusätzlich einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen. Denn jedes Instrument kann nur ein Hilfsmittel sein, eines von mehreren Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung erarbeitet In den Urteilsgründen ist deshalb im Einzelnen anzugeben, welche der maßgeblichen Kriterien bei dem Angeklagten erfüllt sind und welche nicht. 27

" "

Urt. v. 24.03.2010 - 2 StR 10/10. Urt. v. 04.11.2009 - 2 StR 347/09; Besehl. v. 30.03.2010 - 3 StR 69/10.

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4.2. § 66 a StGB (in der Fassung vorn 22.12.2010) Abs. 3 Satz 2 .. Das Gericht ordnet die Sicherungsverwahrung an. wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergän-

zend seiner Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt dass von ihm erhebliche Straftaten zu erwarten sind. durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. " § 66 a StGB kommt nur in Betracht, wenn zum einen ein Hang im Sinne von § 66 Abs. I Nr. 3 StGB festgestellt ist und wenn zum anderen eine erhebliche. naheliegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht. dass der Täter für die Allgemeinheit im Sinne von § 66 Abs. I Nr. 3 StGB gefährlich ist und dies auch zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung aus dem Strafvollzug sein wird. Lediglich die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit muss nicht mit himeichender Sicherheit feststellbar sein. § 66 a StGB und § 66 StGB stehen in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander. Erst wenn die für § 66 StGB erforderliche Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit nicht mit himeichender Sicherheit festgestellt werden kann. kommt eine Vorbehaltsanordnung nach § 66 a StG B in Betracht. Die Prüfung des Merkmals des Hanges zu erheblichen Straftaten (§ 66 Abs. I Nr. 3 StGB) ist auch im Rahruen der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht entbehrlich.

4.3. § 66 b StGB (in der Fassung vorn 22.12.2010) •.Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt worden. weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand. auf dem die Unterbringung beruhte. im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat. so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn

1. [. .. } 2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner

Entwicklung bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ergibt. dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird. durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. "

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Nach dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 (SichVNOG 28J hat die bisher in § 66 b StGB geregelte Sicherungsverwahrung nur noch für vor dem I. Januar 2011 begangene Taten (Altfälle) Bedeutung." Für Neufälle (nach diesem Stichtag begangene Taten) ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur noch in den von § 66 b StGB i. d. F d. SichVNOG erfassten Fällen möglich. Bei den Altfällen30 besteht neben der für die Neufälle genannten Möglichkeit des "Maßnahmetauschs" (gern. § 66 bAbs. 3 StGB i. d. F d. SichVNachtrEG) nach Art 316eAbs. I S I EGStGB unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 1,2 i. d. F d. Sich VNachtrEG. Erforderlich ist zunächst das Vorliegen der Voraussetzungen von § 66b Abs. I oder 2 StGB a. F, also neben der Verurteilung wegen einer spezifischen schuldhaft begangenen Anlasstat das vor Vollzugsende erfolgende Bekanntwerden neuer Tatsachen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisen. Eine Gesamtwürdigung der Vortaten des Verurteilten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs muss ergeben, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Straftaten begehen wird. Neu hinzugekommen ist, dass neben diesen Voraussetzungen die Anordnung (bzw. Fortdauer) einer solchen nachträglichen Sicherungsverwahrung - gern. Art 316e Abs. I S 2 EGStGB jew. i. V m. Art 316f Abs. 2 S 2 EGStGB (Anlasstat vor dem 1. Januar 2011) bzw. Art. 316f Abs. 2 S. I EGStGB (Anlasstat zwischen dem I. Januar 2011 und dem 31. Mai 2013) - nur dann erfolgen darf, wenn beim Betroffenen zusätzlich eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten die hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird. Diese zusätzlichen Voraussetzungen bereiten unter verschiedenen Gesichtspunkten erhebliche Schwierigkeiten. Nicht geklärt ist, in welchem Verhältnis die nach § 66 b Abs. I und 2 StGB a. F erforderlichen nova zu dem Erfordernis der psychischen Störung und den konkreten gefahrbegründenden Umständen stehen. Ganz besondere Schwierigkeiten wird der "unbestimmte Rechtsbegriff' der psychischen Störung bereiten. 31

BGBL I, S. 2425; vgl. dazuPollälme StV 2013, 249 ff.; Peglau JR 2013, 249 ff.; LestingStV 2013,278 ff.; Zimmennann HRRS 2013, 164 ff. Zu den Übergangsvorschriften vgl. BGH Urt. v. 12.06.2013 - 1 StR 48/13 = BGHSt 58, 292 f ~ StV 2013, 767 ff m. Anm. Brettel StV 2013, 768 ff Vgl. dazuZimmennanna.a.O. S. 173 ff. Vgl. dazu § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (verfassungsgemäß so BGH Beschl. v. 23.05.2013 - V ZB 201/12; zum zentralen Begriff der ,,psychischen Störung" vgl.lvfahler/Pjöfflin RuF 2012, 130 f;HäjJleriStadtlandStV 2012, 239 f; PeglaujurisPR-StrafR 2212011 Anm. 2; vgl. aueh BVerfD Besehl. v. 07.05.2013 - 2 BvR 1238/12; v. 15.09.2011- 2 BvR 1516/11 ~ StV 2012,

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1II. § 454 StPO (in der Fassung vom 26.6.2013) ,,(1) Die Entscheidung, ob die Vollstreckung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll (§§ 57 bis 58 des Strafgesetzbuches) sowie die Entscheidung, dass vor Ablauf einer bestimmten Frist ein solcher Antrag des Verurteilten unzulässig ist, trifft das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. [. .. } 2) Das Gericht holt das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes 1. der lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen oder 2. einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art auszusetzen und nicht auszuschließen ist, daß Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.

Das Gutachten hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeitfortbesteht Der Sachverständige ist mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, seinem Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. Das Gericht kann von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen absehen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft daraufverzichten. " Zieht das Gericht eine Aussetzung der Reststrafe nicht in Betracht, weil sie wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles offensichtlich nicht verantwortet werden kann, so ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens entbehrlich. Danach ist eine zweigeteilte Vorgehensweise erforderlich, in deren ersten Schritt das Gericht anhand der allgemeinen Voraussetzungen (§ 454Abs. I StFO, § 57 StGB) überprüfen muss, ob eine vorzeitige Entlassung in Betracht zu ziehen ist, wobei insbesondere der nach § 454 Abs. I Satz 2 StPO einzuholenden Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Bedeutung zukommt. Erst wenn diese Prüfung positiv ausfällt, ist in dem zweiten Schritt ein Gutachten einzuholen. Fällt sie dagegen negativ aus, kann dieser zweite Schritt entfallen. Dies wird regelmäßig bei Gewalttätern der Fall sein,

25 f.; Besehl. v. 11.07.2013 - 2 BvR 2302/11 u. a. zur Verfassungsmäßigkeit des Therapieunterbringungsgesetzes.

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die auch in der Haft durch gewalttätiges Verhalten auffallen, keine Auseinandersetzung mit der Tat erkennen lassen oder durch auffälliges Vollzugsverhalten Charaktermängel bestätigen. Daneben kommen aber auch solche Täter in Betracht, die zwar resozialisierende Maßnahmen begonnen haben, nach Überzeugung des Gerichtes aber noch so sehr am Anfang dieses Prozesses stehen, dass eine bedingte Entlassung zu einer Destabilisierung der Persönlichkeitsentwicklung und zu der Gefahr eines Rückfalls führen würde. Bei dieser Prüfung trifft das Gericht jedoch eine umfassende Aufklärungspflicht und es muss sich ein möglichst abschließendes Bild über die zu beurteilende Person verschaffen, weswegen eine ausreichende Erforschung des zu Grunde liegenden Sachverhaltes in jedem Fall unerlässlich ist Verweigert sich der Untergebrachte einer Therapie auf der Grundlage des Gutachtens oder trägt die Therapie keine Früchte, ist ein - den Anforderungen an ein Gutachten nicht genügender - detaillierter Bericht der Anstaltsärzte, aus dem sich die Tatsache und die Gründe des Ausbleibens jedweden Therapiefortschritts zweifelsfrei ergibt, ausreichend, um eine vorzeitige Entlassung nach § 67dAbs. 2 StGB zu versagen. 32 Das in Vorbereitung der Überprüfungsentscheidung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB, §§ 463 Abs. 3 Satz 3, 454 Abs. 2 StPO eingeholte Sachverständigengutachten muss eine eigenständige Diagnose des gegenwärtigen gesundheitlichen Zustandes des Untergebrachten sowie eine eigene Prognose zur Frage seines künftigen Sozialverhaltens enthalten. Die Untersuchung der diagnostischen und prognostischen Einschätzung der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten zu den entscheidenden Fragen auf Fehler reicht nicht aus. 33

IV Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (I'herapieunterbringungsgesetz - ThUG) Das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) ist eine Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 17.12.2009. 34 Es regelt die Unterbringung von verurteilten Straftätern, die nach der Entscheidung des Gerichtshofs deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden dürfen, weil ihre Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde. Die Unterbringung erfolgt in geschlossenen

OLG Küblenz NStZ-RR 2005, 30. OLG Küblenz StV 2003, 686-687. NJW 2010, 2495 ff. ~ StV 2010,181 f

~NStZ

2010, 263 f

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Eimichtungen, die räumlich und organisatorisch von Eimichtungen des Strafvollzuges getrennt sein rnüssen. 35

§ 1 ThUG (Grundsatz) ,,(1) Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidungfest, dass eine wegen einer Straftat der § 66 Absatz 3 Satz 1 des SKJB genannten Art verurteilte Person deshalb nicht langer in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn

1. sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdignng ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und 2. die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist. "

Die Unterbringung gern. § I Abs I ThUG oder deren Fortdauer darf nur angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad kann dabei nicht anhand einer bestimmten Prozentgrenze beziffert werden; das Gewicht der prognostizierten Delikte ist in die Betrachtung miteinzubeziehen. Bei der Ermittlung des Gesamtgewichts aufgrund von Eintrittswahrscheinlichkeit und Deliktsschwere kann ein Weniger des einen in engen Grenzen durch ein Mehr des anderen ausgeglichen wer-

den. Dabei müssenjedoch Delikte unterhalb der Schwelle "schwerster Gewalt- und Sexualdelikte" außer Betracht bleiben. Auch für die denkbar schwersten Delikte der Gruppe schwerster Gewalt- und Sexualdelikte muss eine signifikante Eintritts-

Vgl. dazu Kimig NJW2011, S. 177 ff.; Nußstein NJW 2011,1195 ff.; ZimmennannJZ 2013, 1108 f; Peg/au JR 2013, 249 ff.; Kreuzer StV 2011, 122 f; SchräderlStarke DRiZ 2011, 254 f., 284 f.; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfG Beschl. v. 11.07.2013 - 2 BvR 2302/11 = NJW 2013, 3151 ff.; BGH Besehl. v. 23.05.2013 - V ZB 201112 ~NJW2013, 2828.

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wahrscheinlichkeit bestehen. 36 Soweit es den Gefährlichkeitsmaßstab betrifft, ist die von § 1 Abs. 1 Nr. 2 ThUG geforderte "hohe Wahrscheinlichkeit" einer erheblichen Beeinträchtigung der Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung keineswegs mit der - ausnahmsweise die Fortdauer der Sicherungsverwahrung rechtfertigenden - "hochgradigen Gefahr" identisch. Läge es anders, bestände für das Therapie- und Unterbringungsgesetz nämlich kein eigenständiger Anwendungsbereich.

§ 9 ThUG (Einholung von Gutachten) ,,(1) Vor einer Therapieunterbringung hat eine förmliche Beweisaufoahme durch Einholung von zwei Gutachten stattzufinden. Als Sachverständiger ist nicht zu bestellen, wer den Betroffenen bisher behandelt hat Höchstens einer der Sachverständigen kann aus dem Kreis der Personen bestellt werden, die im Rahmen eines ständigen Dienstverhältnisses in der Einrichtung tätig sind, in der der Betroffene untergebracht ist oder zuletzt untergebracht war. Die Sachverständigen sollen Ärzte für Psychiatrie sein; sie müssen Ärzte mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein. (2) Die Sachverständigen haben den Betroffenen zur Erstellung der Gutachten unabhängig voneinander zu untersuchen oder zu befragen. Die Gutachten müssen Aussagen darüber enthalten, ob der Betroffene an einer psychischen Störung leidet und ob er infolge dieser Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird. Die Gutachten sollen auch Behandlungsvorschläge sowie Angaben zu deren zeitlicher Umsetzung beinhalten. " Das Erfordernis der Einholung von zwei Gutachten schützt nicht nur den Betroffenen, sondern beschreibt auch den bei der Sachaufklärung zu beachtenden Sorgfaltsmaßstab. Von der Einholung eines weiteren Gutachtens darf daher - von Fällen einer evident fehlenden Erforderlichkeit einer Unterbringung abgesehen - nicht abgesehen werden, wenn das erste Gutachten zwar von einern Gefährdungspotential ausgeh~ aber nicht zur Erforderlichkeit einer Unterbringung kommt 37

BVerfD BeschI. v. 11.07.2013 - 2 BvR 2302/11 ua~NJW 2013, 3151 ff. ~ StV 2014,160 ff. Arun. Häffler S. 168 ff.; v. 13.11.2013 - 2 BvR 1797113. Schles"Wig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 13.06.2012 - 17 W 13/11 = SchlHA2012,312.

ill.

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§ 12 ThUG (Dauer und Verlängerung der Therapieunterbringung) ,,(2) Für die Verlängerung der Therapieunterbringung gelten die Vorschriften über die erstmalige Anordnung entsprechend Abweichend von § 9 Absatz 1 Satz 1 kann die Beweisaufnahme auf die Einholung eines Gutachtens beschränkt werden Als Sachverständiger ist nicht zu bestellen, wer den Betroffenen bisher behandelt hat oder im Rahmen eines ständigen Dienstverhaltnisses in der Einrichtung tätig ist, in der der Betroffene untergebracht ist oder zuletzt untergebracht war. Als Sachverständiger soll nicht bestellt werden, wer den Betroffenen bereits mehr als ein Mal im Rahmen eines Unterbringungsverfahrens nach diesem Gesetz begutachtet hat. "

V Zum Inhalt des Gutachtens 1. Grundsätze Bevor der Richter das Prognoseergebnis auf Grund eigener Wertung kritisch hinterfragen kann, hat er zu überprüfen, ob das Gutachten bestimmten Mindeststandards genügt. So muss die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsmethoden erläutern und seine Hypothesen offenlegen. Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage der fortbestehenden Gefährlichkeit eigenverantwortlich zu beantworten. Der Richter hat eine eigenständige Prognoseentscheidung zu treffen, bei der er dem ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen hat. Diese Kon-

trolle hat sich nicht nur auf das Prognoseergebnis, sondern auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung zu beziehen. Dabei müssen die Gutachter die für die Begutachtung maßgeblichen Einzelkriterien regelmäßig in einem sorgfältigen Verfahren erheben, das die Auswertung des Aktenmaterials, die eingehende Untersuchung des Probanden und die schriftliche Aufzeichnung des Gesprächsinhalts und des psychischen Befundes umfasst und dessen Ergebnisse von einern Facharzt mit psychi-

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atrischer Ausbildung und Erfahrung gewichtet und in einen Gesamtzusammenhang eingestellt werden. 38

2. Folgerungen Ein Gutachten erfordert eine umfassende. in sich nachvollziehbare Darstellung des Erkenntnis- und Wertungsprozesses des Probanden. Hierzu gehört die Angabe der von ihm herangezogenen und ausgewerteten Erkenntnismittel sowie der hierdurch erlangten Infonnationen. Für ein prognostisches Gutachten ist es unerlässlich, sich mit der den Taten zugrunde liegenden Dynamik und den sonstigen Tatursachen, wie sie sich aus den UrteilsgfÜ1lden und einem vom Tatgericht ggfs. eingeholten Gutachten ergeben, auseinanderzusetzen und die Entwicklung des Untergebrachten im Hinblick auf diese Tatursachen während des Maßregelvollzugs darzustellen. Eine (knappe) gutachterliehe Stellungnahme der behandelnden Ärzte. die diesen Anforderungen nicht genügt, vermag die Begutachtung durch einen externen Sachverständigen nicht zu ersetzen. 39 Der Gesetzgeber hat mit der durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBL I S. 160) veranlassten Änderung des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO keine Regelung darüber getroffen. welcher Fachrichtung der Gutachter angehören soll. Es kommen sowohl psychiatrische als auch psychologische. kriminologische oder soziologische Gutachten in Betracht. Welcher Art das Gutachten zu sein hat. hängt also vom Einzelfall ab. 40 Das nach StFO § 454 Abs. 2 vorgeschriebene Gutachten erfordert eine umfassende und nachvollziehbare Darstellung des Erkenntnis- und Wertungsprozesses des Sachverständigen. Hierzu gehört die Angabe der von ihm herangezogenen und ausgewerteten Erkenntnismittel ebenso wie die Darstellung der hierdurch erlangten Informationen. soweit diese nicht aktenkundig und daher dem Gericht bekannt sind. Ein bloßer Bericht (hier: der Anstaltsärzte ) über den Verlauf der Unterbringung unter Hervorhebung gewisser Verhaltensauffälligkeiten und erlittener Rückschläge wird diesen Anforderungen nicht gerecht. 41

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BVerfD. Besehl. vom 14.01.2005 - 2 BvR 983/04 ~ EuGRZ 2005. 181 f. 791f. OLG Ramm StV 2004, 273-274 m. Anm. Po/lähne in RuP 2004,43. KGv. 14.10.19995 Ws 619/99. OLG Koblenz StV 1999.496 ff.

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RuP 2005.

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Im Gegensatz zu Begutachtungen der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten nach § 454 Abs. 2 Satz I Nr. I StPO, bei welchen nach dem gesetzgeberischen Willen grundsätzlich ein Arzt als Sachverständiger heranzuziehen ist, kommt bei § 454 Abs. 2 Satz I Nr. 2 StPO auch die Beauftragung eines Psychologen in Betracht Da die Einschaltung eines externen Gutachters zumeist nicht erforderlich sein wird, reicht es in der Regel aus, den Anstaltspsychologen, der den Verurteilten kennt und mit seiner Problematik bereits vertraut ist, als Sachverständigen hinzuzuziehen. 42

Das in Vorbereitung der Überprüfungsentscheidung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB, §§ 463 Abs. 3 Satz 3, 454 Abs. 2 StPO eingeholte Sachverständigengutachten muss eine eigenständige Diagnose des gegenwärtigen gesundheitlichen Zustandes des Untergebrachten sowie eine eigene Prognose zur Frage seines künftigen Sozialverhaltens enthalten. Die Untersuchung der diagnostischen und prognostischen Einschätzung der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten zu den entscheidenden Fragen auf Fehler reicht nicht aus. 43

Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darstellen, seine Untersuchungsrnethoden erläutern und seine Hypothesen offenlegen. Auf dieser Grundlage hat er eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen, die das Gericht in die Lage versetzt, die Rechtsfrage des § 67d Abs. 3 StGB eigenverantwortlich zu beantworten. Neben dem Gebot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Gebot himeichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine GesarntwÜfdigung von

Tat und Täter (vgl. § 66 Abs. I Nr. 3 StGB) zu ermöglichen, muss das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und -querschnitt des Verurteilten betrachten. Zu fordern ist insbesondere eine Auseinandersetzung mit dem An-

lassdelikt, der prädeliktischen Persönlichkeit, der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung sowie dem sozialen Empfangsraurn des Täters. Darüber hinaus hat der

Gutachter bei Vorbereitung der - nach langjährigem Freiheitsentzug zu treffenden - Entscheidung gemäß § 67d Abs. 3 StGB besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, wie sich der Verurteilte bei etwaigen Vollzugslockerungen verhält. Denn gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung des Verurteilten dar. Die Qualität der Prognose hängt entscheidend von der Breite der Prognosegrundlage ab. Die Prognose verliert an Plausibilität, wenn sie nur einen schrnalenAusschnitt der Wirk-

OLG Karlsruhe StV 1999,495 f OLG Küblenz StV 2003, 686 f

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lichkeit zur Grundlage hat Deshalb haben Gesetz (vgl. §§ 66 Abs. I Nr. 3,66 aAbs. 2 Satz 2, 63 StG B) und Rechtsprechung bei freiheitsentziehenden Maßregeln stets eine umfassende Prüfung der Täterpersönlichkeit und der begangenen Taten verlangt Die Begründung einer Unterbringung bedarf einer ausführlichen Erarbeitung und Darstellung der Legalbiographie des Täters. Zu erörtern ist insbesondere, wie es zu den Taten gekommen ist, ob sie gegebenenfalls auf einem Hang zu delinquentem Verhalten beruhen, welche typischen Begehungsweisen ihnen zu eigen sind und inwieweit die Opfer durch sie seelisch oder körperlich geschädigt wurden. Bei der eigenständigen richterlichen Prognoseentscheidung darf sich die richterliche Kontrolle nicht nur auf das Ergebnis beschränken, sondern muss sich auch auf die Qualität der gesamten Prognosestellung beziehen. 44

3. Externer Gutachter (vgl. u. a. § 275 aAbs. 4 Satz 2 StPO) Zwar ist aus dem auch im Vollstreckungsverfahren geltenden Prozessgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren abzuleiten, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen müssen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage erfordern, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. 45 Insoweit kann bei längerer Unterbringung in demselben psychiatrischen Krankenhaus auch die Strafvollstreckungskammer von Zeit zu Zeit zur Einholung eines externen Sachverständigengutachtens verpflichtet sein, um der Gefahr von Routinebeurteilungen vorzubeugen. 46

4. Anwesenheit des Verteidigers 47 Die fachliche Durchführung der Untersuchung ist allein Sache des Sachverständigen; er hat hinsichtlich der Informationsbeschaffung und der Methodenwahl weitgehend freie Hand. Das Gericht darf ihm keine Weisungen darüber erteilen, auf

" " "

..

BVerfD Besehl. v. 14.01.2005 - 2 BvR 983/04 ~ RuF 2005, 79 f Vgl. BVerfDE 70, 297 (308) . OLG Sehleswig SehlHA 2002, 144-145. BGH Besehl. vom 08.08.2002 - 3 SIR 239102 ~NStZ 2003, 101 m. Anm. Bar/on StV 2003, 537.

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welchem Weg er das Gutachten zu erarbeiten hat Wenn es der Sachverständige für erforderlich hielt, die psychiatrische Untersuchung des Beschuldigten in Abwesenheit dritter Personen, insbesondere des Verteidigers, vorzunehmen, weil er die Verfälschung des Ergebnisses der Exploration befürchtete, bewegte er sich im Bereich seiner Fachkompetenz. Es gibt keinen wissenschaftlichen Standard, der die Anwesenheit Dritter bei Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten vorsieht Das Recht des Beschuldigten, sich in jeder Lage des Verfahrens anwaltlicher Hilfe zu bedienen, führt entgegen der Ansicht der Revision nicht zu einern Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Exploration. Die Strafprozessordnung sieht ein solches Anwesenheitsrecht nicht vor. Auch wenn die Exploration unter Umständen in Abhängigkeit von dem Gutachtenauftrag vernehmungsähnliche Elemente haben kann, ist sie mit den Vernehmungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht gleichzusetzen. Die Anwesenheit des Verteidigers ist auch nicht erforderlich, um sicherzustellen, dass die Begutachtung den medizinischen Standards und der Strafprozessordnung entspricht Wenn der Beschuldigte sich gleichwohl nur in Anwesenheit seines Verteidigers untersuchen lassen will und damit die Untersuchung in der vorn Sachverständigen für erforderlich gehaltenen Art verweigert, muss er in den Fällen, in denen - wie hier - die Untersuchung ihrer Art nach die freiwillige Mitwirkung des Beschuldigten voraussetzt, damit rechnen, dass seine Begutachtung ggf. nur auf einer schmaleren Basis von Befunden erfolgen wird.

VI. Z usammenfassung48 Bei jeder forensischen Begutachtung müssen vor Beginn der diagnostischen Untersuchungen zunächst Hypothesen über die zu prüfenden Sachverhalte aufgestellt werden. Auf der Grundlage dieser Hypothesen sind diagnostische Methoden auszuwählen und anzuwenden, welche geeignet sind, zwischen den Hypothesen zu entscheiden. Gegebenenfalls müssen die eingangs aufgestellten Hypothesen modifiziert oder ergänzt werden, was weitere Datenerhebungen zur Prüfung dieser neuen oder modifizierten Hypothesen erforderlich machen kann. Mit der Widerlegung der Ausgangshypothese, der "Nullhypothese" wird vom forensischen Sachverstandigen ein Vorgehen verlangt, das sich in der allgemeinen Wissenschaftstheorie seit langem durchgesetzt hat. Dieses gedankliche Vorgehen bedeutet aber nicht, dass jeder Sachverständige nur einer einzigen Prüfstrategie folgen und jedes Gutachten einen

Vgl. dazu Böttcher NStZ 2005, 417 ff.

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einheitlichen Aufbau haben muss. Die Aufbereitung des forensischen Gutachtens steht unter dem Vorbehalt der Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Gutachtens: Für die Verfahrensbeteiligten muss überprüfbar sein, wie der Sachverständige zu seinem Ergebnis gelangt ist. Aus dem Gutachten muss erkennbar sein, von welchen Hypothesen der Sachverständige während des diagnostischen Prozesses ausgegangen ist. Die angewandten diagnostischen Verfahren müssen zumindest einzeln benannt werden. Der Befundberich~ also die deskriptive, noch nicht Bewertungen und Schlussfolgerungen enthaltende Darstellung der mit den eingesetzten Methoden erhobenen Befunde, ist von den hieraus abgeleiteten diagnostischen Schlussfolgerungen zu trennen. Diese Anforderungen beruhen auf der Argumentation des BVerfGs49, das die neue gesetzliche Regelung des § 67 dAbs. 3 StGB 50 als "Nullhypothese" vorgegeben hat Der Sachverständige und das Vollstreckungsgericht haben die Annahme des Gesetzes, die Gefährlichkeit des Sicherungsverwahrten sei nach Ablauf von zehn Jahren regelmäßig erledigt, anhand von konkreten und gegenwärtigen Anhaltspunkten so lange zu überprüfen, bis die vermutete Ungefährlichkeit mit den gesammelten Fakten übereinstimmt. Nur wenn der Gutachter eine neue Straftat positiv voraussagt, ist die Ausgangshypothese widerlegt Kann der Gutachter diese konkrete Vorhersage nicht treffen, sollen die Zweifel zu Lasten des Staates gehen und der Untergebrachte ist zu entlassen. Von den Prognosegutachtern kann nur eine konkrete Risikobeschreibung abverlangt werden, die gerade die nach Ablauf von zehn Jahren maßgeblichen konkreten und gegenwärtigen Umstände in den Mittelpunkt der Prognose stellt Nicht in jedem Fall darf eine ungünstige Kriminalprognose nur mit einer hohen Summe von Risikofaktoren begründet werden, die schematisch zusammengezählt werden. Der Sachverständige hat in den von ihm zu bildenden Alternativ hypothesen die Risikofaktoren darzulegen und zu bewerten, die seit der Anordnung der Sicherungsverwahrung bis zum Ablauf von zehn Jahren gegen eine Entlassung gesprochen haben und zu denen ein oder häufig sogar mehrere Prognosegutachter nach § 67 d Abs. 2 StGB, § 454 Abs. 2 StpO Stellung genommen haben (Anlasstaten, bisherige Kriminalitätsentwicklung, Persönlichkeit, vorhandene psychische Störung, Einsicht in seine Störung, Grad der Chronifizierung, fehlende

Ur!. v. 05.02.2004 - 2 BvR2029/01 ~NJW 2004, 739 ff.; vgl. auch Beschl. v. 29.10.2013-2 BvR 1119/12; v. 11.07.2013 - 2 BvR 2302111 ~NJW 2013, 3151 f; v. 07.05.2013 - 2 BvR 1238/12 ~ RuP 2013,217 f; v. 28.03.2013 - 2 BvR 553/12. ,,sind zelm Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden, so erklärt das Gericht die Maßregel fur erledigt, WeJlll nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden."

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Lockenmgen, fehlende feste Beziehungen etc.). Diese Faktoren sind den konkreten und gegenwärtigen Umständen (z. B. fortgeschrittenes Alter, Krankheit, Eheschließung, Therapie, Verhalten im Vollzug und während der Lockenmgen, Hinweise auf Anpassungsverhalten etc.) gegenüberzustellen. Veränderungen oder Stillstand sind zu erörtern. Mit Hilfe eines der inzwischen angewandten Prognoseinstrurnente sind

die bisherigen in der Unterbringung erbrachten sozialen und therapie bedingten Leistungen sowie sich daraus ergebende persönliche Verhaltensänderungen zu bewerten und in eine Gesarntbeurteilung einzustellen. Unter Beachtung des Grundsatzes, dass Prognoseentscheidungen nur für jenen Zeitraum abgegeben werden dürfen, für den

sich die prognostische Sicherheit in einem akzeptablen Rahmen bewegt, sind dem Vollstreckungsgericht die zur Widerlegung der Ausgangshypothese notwendigen konkreten und gegenwärtigen Umstände darzulegen. Es ist dann Sache des Vollstreckungsgerichts, unter Beachtung der statistischen Bedeutung der Basisrate und unter eigenständiger Prüfung, d. h. ohne Bindung an die Ausführungen des Prognosegutachtens, zu entscheiden, ob im konkreten Einzelfall die in der Vergangenheit festgestellten Risiken in der Zeit der Unterbringung tatsächlich beseitigt worden sind oder in der Gegenwart noch bestehen. Das Vollstreckungsgericht hat dabei auch zu entscheiden, ob es Handhabungen gibt (medikamentöse Behandlung, ambulante Nachsorge oder eng geführte Betreuung etc.), die den zu Entlassenden stabilisieren und so die Prognose verbessern. Es hat dann die schwierige Aufgabe, aufgrund einer Gesarntschau und unter Beachtung des mit jeder Entlassung verbundenen "Restrisikos"

sowie der vom BVerfG vorgenommen Umkehnmg des Regel-Ausnahme- Verhältnisses nach § 67 d Abs. 3 StGB zu entscheiden, ob die bisherigen negativen Risikofaktoren trotz des Ablaufes von zehn Jahren weiterbestehen oder ob das Gewicht der konkreten und gegenwärtigen Umstände eine Entlassung aus der Unterbringung gebietet. Die Prognosegutachten sollen nur noch von besonders qualifizierten Sachver-

ständigen erstellt werden, die jeweils Fachärzte mit psychiatrischer Ausbildung und Erfahrung sein müssen. Damit wäre der Kreis der forensisch erfahrenen Psychologen ausgeschlossen, die teilweise über mehrjährige Erfahrungen in der forensischen

Schuldfähigkeitsbeurteilung oder in der klinischen Diagnostik verfügen 51

Hinweis: Im Vollstreckungsverfahren ist dem Verurteilten analog § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist

BVerfD Urt. v. 05.02.2004 - 2 BvR 2029101

~NJW

2004, 739 f

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oder sonst ersichtlich ist, dass der Verurteilte seine Rechte nicht selbst wahrnehmen kann. 52 Ein Verurteilter ist überfordert, wenn ein Gutachten psychiatrisch-neurologische, psychoanalytische oder kriminologische Fragestellungen aufwirft. 53

Meyer-Goßner StPO 57. Auf!. (2014) § 140 Rn. 33 ill.w.N. Kammergericht NStZ-RR 2006, 284 f.; OLG Naumburg, Beschl. v. 02.10.2013, 1 Ws 591113.

Sexuelle Präferenz und (U n-)Vernunft KliIus M Beier

A. Biopsychosoziales Verständnis menschlicher Geschlechtlichkeit Sexualität lässt sich als eine biologisch. psychologisch und sozial determinierte Erlebnisqualität des Menschen verstehen. die in ihrer individuellen Ausgestaltung von der lebensgeschichtlichen Entwicklung geprägt wird.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit menschlicher Sexualität, die den Anspruch hat. dieser Komplexität gerecht zu werden. erfordert daher eine fächerübergreifende und ganzheitliche Beschäftigung mit dem sexuellen Erleben und Verhalten bei "Gesunden" und "Kranken" sowie notwendigerweise ein biopsychosozia-

les Verständnis von Geschlechtlichkeit: Jede sexuelle Funktion und jede sexuelle Beziehung beinhaltet biologische (Körperlichkeit). psychologische (persönlichkeit) und soziale (Partnerbezogenheit) bzw. soziologische (Normen) Ebenen. die nicht getrennt voneinander gesehen werden können und sich darum auch nicht unabhängig voneinander untersuchen und behandeln lassen.

Dies ist keineswegs banal, wenn man sich vor Augen führt, dass ein derartiges Grundkonzept menschlicher Sexualitat - erstmals vorgelegt von Wilhelm von Humboldt - auf erbitterten Widerstand in der philosophischen Welt stieß und insbesondere den Unwillen von Irnrnanuel Kant, dem Begründer des kritischen Rationalismus

provozierte. Wilhelm von Humboldt hatte sich mit der Erforschung des .. inneren Kosmos" befasst und dabei herausgearbeitet, dass das innere Erleben nicht abzukoppeln ist von der Geschlechtlichkeit der Menschen. Aus heutiger Sicht würde man sagen: nicht abzukoppeln von ihrer sexuellen Präferenz. Humboldt behauptete damit. dass die Geschlechtlichkeit eines Jeden sein inneres Erleben und Verhalten bestimmt. Seine erstmals 1795 in der von Friedrich Schiller herausgegebenen Monatsschrift ..Die Horen" publizierten Gedanken zur Geschlechtlichkeit standen dabei im Widerspruch zu der Auffassung Kants. der sich darum bemüßigt sah. diese neue Richtung des Denkens in Misskredit zu bringen.

Klaus M Beier

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Abb. 1: Titelbild und Inhaltsverzeichnis der ersten Ausgabe der "Horen" 3nn~alt

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