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German Pages 342 [344] Year 2005
^meatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 46
Renata Häublein
Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliograflsche Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. IS,BN 3-484-66046-5
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Säur Verlag GmbH, München http://w\\'H:niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren
Inhalt
Einleitung 1.
Die literarische Shakespeare-Debatte 1.1 Der Widerstand gegen Gottscheds Theaterreform und das Aufkommen der Anglophilie in Deutschland 1.2 Das Schauspiel als »schöner Raritätenkasten«? Die Kulmination der Shakespeare-Debatte in der Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang
2. Shakespeare »wie er geredet haben würde: [...] wenn er zu ändern Zeiten und unter ändern Umständen wäre geboren worden«: Die Praxis der freien Shakespeare-Bearbeitung 2.1 »Der deutsche Verfasser hat also ein ganz neues Stück daraus zu machen versucht«: Christian Felix Weißes Romeo und Julie (1767) 3.
Die Konsequenzen der Entdeckung Shakespeares für die Schauspielkunst: Hamlet und der Hamburger Spielstil 3.1 »Shakespeare kam erst, sein Garrick später« - Friedrich L. Schröders Spielplangestaltung und das Vorbild der englischen Schauspielkunst . . . . 3.2 »Haben Sie meine Zusammen Pfuscherey Hamlets schon gesehen?« Schröders Hamlet-Adaption (1776) 3.3 »Hamlet macht bei uns erstaunendes Glück«: Die Aufführungen von Schröders //^w/it-Bearbeitung in Hamburg und Berlin
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4. »Dem Plan fehlt wenig um regelmäßig zu seyn«: 94 Othello oder: Das Experiment der originalnahen Shakespeare-Darstellung.... 94 4.1 Othello, ein bürgerliches Trauerspiel? Die Oi/W/o-Bearbeitungen Christian H. Schmids (1769) und Johann H. Steffens (1770) 94 4.2 »Zu furchtbar, zu grausenhaft«: Die Hamburger CWv//0-Aufführungen nach der Bearbeitung Friedrich L. Schröders (1776) 121 4.3 »Man sieht dieses Alles, [...] und bemitleidet ihn durch den ganzen Lauf des Stücks«: Die O^f//i/-Aufführungen am Wiener k. k. Hofund Nationaltheater (1785) 148 V
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Vom »unmenschlichsten, blutdürstigsten Kerl« zum »menschlichen Charakter«: Macbeth-Variationen 5.1 Macbeth als »Mord- und Spektakelstück« in Wien (1772) 5.2 Das Schauspiel als »nützliche[s] Blendwerk«: Franz J. Fischers Macbeth-Bearbeitung (1777) 5.3 Erste Versuche einer originalnahen Bühnendarstellung des Macbeth. Johann K. G. Wernichs (1778) und Heinrich L. Wagners (1779) Mtfc^ffA-Adaptionen 5.4 Die Vermenschlichung Macbeths: Friedrich L. Schröders MacbethBearbeitung (1779) 5.5 »Immer ist da noch die Bürgersche Bearbeitung die beste«: Gottfried A. Bürgers Macbeth-Adaption auf dem Berliner Theater (1787)
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6. »Der Jude stand da, den Shakspear sah«: Die Darstellung des Kaufmanns von Venedig im 18. Jahrhundert 6.1 Shakespeares Komödien im Bühnenrepertoire des 18. Jahrhunderts 6.2 Eine Shakespeare-Komödie »geringeren Werths, als so viele andere nicht sind«: Franz J. Fischers Kaufmann von Venedig-Bearbeitung (1777) 6.3 »Wollen sehn, ob das wohl gefallen wird«: Friedrich L. Schröders und Friedrich W. Gotters Bearbeitung des Kaufmanns von Venedig (1777) 6.4 Ein Stück, »gemacht, um den Charakter des Juden in's Licht zu setzen«: Die Mannheimer Darstellung des Kaufmanns von Venedig (1783)
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7. »Shakespeare wiedererkennen, sehen und fühlen!« Zusammenfassende Schlußbemerkung
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Verzeichnis der Abkürzungen
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Literaturverzeichnis
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit, eine für die Drucklegung leicht gekürzte Fassung meiner im Wintersemester 2002/03 vom Institut für Germanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommenen Dissertation, entwickelte sich aus der Verknüpfung von literaturgeschichtlichen mit theaterhistorischen Fragestellungen. Dabei diente die Erweiterung der Perspektive auf beide Rezeptionsformen — die der Literatur und des Theaters - dem grundlegenden Ziel, ein differenziertes Bild von der Komplexität der Entdeckung Shakespeares auf dem deutschen Theater zu liefern. Dieses Ziel schloß zugleich den Ansatz mit ein, angesichts der Fülle von Sekundärurteilen wieder auf die Primärquellen selbst zu hören, um gegenüber generalisierenden Befunden (besonders der älteren Forschung) die spezielle Eigenart des vorromantischen deutschen Bühnen-Shakespeare hervorzuheben. Die gründliche Analyse dieser Zeugnisse und ihre Integrierung in vielfältige zeit-, theater- und literaturhistorische Kontexte brachten es dabei ferner mit sich, daß diese Studie über den Themenbereich der Shakespeare-Rezeption hinaus zugleich ein Stück deutscher Theater-, Kultur- und Geschmacksgeschichte intensiv beleuchtet. Ohne die Unterstützung durch Herrn Prof. Dr. Och, ohne sein Engagement und seine Aufgeschlossenheit gegenüber ihrem interdisziplinären Ansatz wäre die Ausführung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Ihm sei daher herzlich gedankt. Besonders danke ich auch Herrn Prof. Dr. Erwin Wolff, der regen Anteil an der Entstehung der Studie nahm und mir kontinuierlich zu neuen Einsichten in die Shakespeareschen Originaldramen verhalf. Daneben gilt mein Dank den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Geheimen Staatsarchivs und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin; der Erlanger Universitätsbibliothek; der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Carl von Ossitzky (insbesondere Frau Marion Sommer); der Theatersammlung der Universität Köln; der Theatersammlung des Reiß-Museums, Mannheim (insbesondere Frau Liselotte Homering) und des Österreichischen Theatermuseums, Wien (insbesondere Herrn Othmar Barnert). Für wichtige Anregungen und freundschaftliche Bestärkung danke ich ferner ganz besonders Frau Dr. Gerda Heinrich, Anja Hentschel, Petra Kessler, Christina Kleiner, Bettina Koppel, Marco Puschner, Herrn Prof. Dr. Peter Schmitt, Norbert Sorger und Sibylle Weltz. Durch die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe »Theatron« ist ihre ideale wissenschaftliche Anbindung gewährleistet, wofür ich den Herausgebern großen Dank schulde. Die großzügige Druckkostenbeihilfe der VG WORT ermöglichte die Veröffentlichung in der vorliegenden Form. An dieser Stelle sei schließlich noch mein besonderer Dank an Markus Mattern gerichtet und an meine Eltern, denen diese Arbeit zugeeignet ist. VII
Es ist über Shakespeare schon so viel gesagt, daß es scheinen möchte, es wäre nichts mehr zu sagen übrig, und doch ist das die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist ewig anregt. Johann Wolfgang von Goethe
Einleitung
Im Vorwort zum ersten Band der Gesamtausgabe seiner Trauerspiele rechtfertigt der Dramatiker Christian Felix Weiße 1778 die Gebundenheit seiner älteren Dramen an inzwischen obsolet gewordene literarische Konventionen, indem er auf die »Umstände« 1 ihrer Entstehung verweist und grundsätzlich dafür plädiert, Entstehungskontexte und innerliterarische Traditionen bei der Beurteilung literarischer Werke zu berücksichtigen, denn, so konstatiert er: Die meisten unserer Kunstrichter haben bey Beurtheilung der Werke des Geistes ihrer Vorgänger [...] auf jene Umstände zu wenig Acht, und sehen nur aus ihrem izigen Standorte in die vorige Zeit zurück, wodurch sich die Gegenstände, so wie die Verdienste vieler braven [!] Schriftsteller, unendlich verkleinern. 2
Zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift richteten sich diese Bemerkungen Weißes vornehmlich gegen die zeitgenössische Kritik an seinen Alexandrinertragödien klassizistischer Prägung, doch lassen sie sich gleichermaßen auf die generelle Haltung beziehen, welche nachfolgende Generationen von »Kunstrichtern« gegenüber seiner Romeo und Julia-Adaption und anderen Shakespeare-Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts einnehmen sollten. Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt Adolf Winds die gängige Rezeptionshaltung bezüglich der vorromantischen Bühnenfassungen von Shakespeare-Dramen folgendermaßen: Es erregt unser Kopfschütteln, und ein Lächeln mitleidigen Erstaunens tritt auf die Lippen, wenn uns von alten oder fremden Shakespearebearbeitungen berichtet wird; von Darstellungen des Lear, wo die Cordelia am Leben bleibt, von denen des Othello, wo Desdemona nicht erdrosselt wird u.s.w.; wir sehen auf eine Zeit und ein Publikum, dem solches geboten werden konnte, als ein litterarisches Mittelalter vornehm herab.'
Während sich dieser ahistorische Zugang an die Texte bei Winds in einem mitleidigen Kopfschütteln manifestiert, blickten andere Literaturhistoriker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts häufig weniger vornehm auf die »Machwerke« 4 der Thea-
Christian Helix Weiße, Vorbericht. In: Ders., Trauerspiele, Bd. i. Karlsruhe 1778, S. A4. Weiße (1778), S. A5. Adolf Winds, Shakespeares Bezähmte Widerspenstige und ihre deutschen Bearbeitungen. In: Maske und Kothurn Bd. 5 (1903), Heft 2. (= Bd. 10), S. 755-764. Hier: S. 755. Als solches wird Weißes Romeo «W/w/w-Bearheitung 1897 von E. Mentzel bezeichnet [Eduard Mentzel, Ein Meisterwerk Shakespeares in seiner ersten deutschen Bearbeitung. In: Das Magazin für Litteratur, 66. Jahrgang (1897), Nr. 30, Sp. 882—889. Hier: Sp. 883].
terschaffenden des 18. Jahrhunderts herab: Als »rohe Verhunzungen]«, 5 »ganz willkürliche Verballhornungen« 6 oder »fragwürdige [...] Zurichtung[en]« 7 verstanden, diente ihre Betrachtung häufig nur dazu, aufzuzeigen, wie die Bearbeiter, »ohne besondere Einsicht«8 in ihre Vorlagen, »Shakespeares Meisterwerk[e] vergewaltigte [n].«9 Urteile dieser Art haben ihren Ursprung in einem höhenkammorientierten Literaturverständnis; ihre primäre Referenz ist Shakespeare als irreversible textuelle Größe, was zur Folge hat, daß die Shakespeare-Bearbeitungen ausschließlich am Kriterium der Textadäquanz bemessen werden und das Umwandeln der Originaldramen als »skrupellos[es]«10 Eingreifen in autonome Kunstwerke empfunden wird. In der zwischen 1880 und 1950 erschienenen Literatur zur deutschen Shakespeare-Rezeption paart sich dieser Zugang häufig mit einer grundsätzlich herablassenden Haltung gegenüber der vorromantischen Bühnenvermittlung des Autors, welcher im Vergleich zur literarisch-kritischen Shakespeare-Aneignung nur der Rang eines populärkulturellen Randphänomens zugesprochen wird. Die Anschauung, daß die Bemühungen des 18. Jahrhunderts, Shakespeare für die Bühne und für ein breites Theaterpublikum zu erschließen, eine rein »gewerbsmäßige Ausschlachtung [...] geistige[r] Werte« durch die »untersten Schichten«11 des kulturellen Lebens der Zeit gewesen seien, manifestiert sich besonders drastisch in Friedrich Gundolfs 1911 ersterschienener, aus geistesgeschichtlicher Sicht verfaßter Abhandlung Shakespeare und der deutsche Geist, welche die Vorstellung eines Dualismus' zwischen der geistigen Aufnahme Shakespeares durch die Literatur und seiner kommerziellen Verwertung durch das Theater nachhaltig prägte. Der Philosophie des George-Kreises verpflichtet, sieht Gundolf in der deutschen Literatur »zwischen den schöpferischen Geistern und dem Publikum - dem Bildungspöbel [...] — stets ein[en] geheimefn] oder offene[n] Gegensatz« walten; da »Publikum und Theater, oder Masse und Apparat« für ihn »nur [...] negative oder passive Faktoren«12 des geistigen Lebens darstellen, dienten die Shakespeare-Aufführungen des 18. Jahrhunderts in seinen Augen auch »lediglich der Verbreitung der vorhandenen Shakespearekunde in Kreise, die doch nichts Rechtes davon hatten [...].«'3 Im Rahmen solch geistesaristokratischen Denkens kommt den Theaterschaffenden, welche Shakespeare dem breiten Publikum zugänglich zu machen suchten, keinerlei Verdienst zu; im Gegenteil: sie machten sich nach Gundolfs Anschauung auf sträfliche Weise zu Verbündeten des »Bildungspöbels«,
G. Malkewitz, Die erste Macbethaufführung in Berlin. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Bd. XIV, Nr. 39 (18.9.1878), S. 201-203. Hier: S. 202. Alexander von Weilen, Hamlet auf der deutschen Bühne bis zur Gegenwart (Schriften der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Bd. 3). Berlin 1908, S. 12. Carl Niessen, Das deutsche Theater bürgere Shakespeare ein. Emsdetten 1964, S. 10. Malkewitz (1877), S. 202. Mentzel (1897), Sp. 883. Walter Kühn, Shakespeare's Tragödien auf dem deutschen Theater des XVIII. Jahrhunderts. Theaterbearbeitungen und Kritiken. Diss., München 1909, S. 44. Friedrich Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist (Berlin 1911). München und Düsseldorf ^1959, S. 246. Gundolf ( 9 I959), S. 245. Gundolf (»1959), S. 248.
denn sie »hatten nichts zu tun, als sich dem Niveau des Publikums zu bequemen« und begingen dadurch den Frevel der »Verstümmelung«, ja gar der »Entmannung«' 4 von Gundolfs heroisiertem Shakespeare. Im Zuge dieser Argumentation zieht Gundolf aus seinen Ausführungen zum Kapitel »Publikum und Theater« das bezeichnende Resümee: »Ein Gefühl Goethes ist [...] wichtiger als alle Massenepidemien.«15 Sicherlich ist Gundolfs Werk das augenfälligste Beispiel für die Art und Weise, wie sich ein ausgeprägter Geisteselitismus verbunden mit einem monumentalisierten, ahistorischen Shakespeare-Bild auf die Wahrnehmung der Anfänge der deutschen Bühnenaneignung Shakespeares auswirkt, doch repräsentiert es in radikalisierter Form eine generelle Tendenz der Bewertung, wie sie sich in etlichen um die Jahrhundertwende entstandenen Studien zur deutschen Shakespeare-Rezeption niederschlägt. In Überblicksdarstellungen findet sie ihren Ausdruck meist darin, daß die theatralische Entdeckung Shakespeares im 18. Jahrhundert als eine Quantite negligeable schlichtweg ignoriert und ausschließlich die literarisch-kritische Shakespeare-Diskussion behandelt wird10 - eine Schwerpunktsetzung, die noch auf etliche übergreifende Sammelwerke jüngeren Datums zur Aufnahme Shakespeares in Deutschland nachwirkte'7 und deren Effekt Karl S. Guthke 1967 treffend beschreibt, wenn er konstatiert: »[...] allzu oft gewinnt man doch aus den Arbeiten über die Eroberung Shakespeares als eines deutschen Klassikers den Eindruck, als habe sich diese Begegnung [Deutschlands mit Shakespeare] nur direkt, das heißt unter Ausschaltung der Verwirklichung auf der Bühne, vom Text zum Leser vollzogen.«'8 Daneben ist die Einschätzung der Shakespeare-Aufführungen als eines ephemeren Nebenprodukts der literarischen Auseinandersetzung mit dem englischen Autor aber selbst in den diversen zwischen 1880 und 1950 entstandenen Einzeluntersuchungen präsent, die sich
Gundolf ("1959), S. 248. Gundolf ('1959), S. 249. Wobei er die Shakespeare-Adaptionen Goethes für das Weimarer Hoftheater ebenso geflissentlich übergehe wie Goethes affirmative Äußerungen zur Praxis der Shakespeare-Bearbeitung in seinem Altersaufsatz Shakespeare und kein Ende! und die Tatsache, daß die Kapitel zur //««/ff-Inszenierung im Wilhelm Meister unter anderem eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Bühnenvermittlung Shakespeares enthalten. Vgl.: Adolf Hauffen, Shakespeare in Deutschland. Prag 1893; Septimus Harwood, Shakespeare Cult in Germany from the i6th Century to the Present Time. Sydney 1907; Marie JoachimiDege, Deutsche Shakespeare-Probleme im XVIII. Jahrhundert und im Zeitalter der Romantik. Haessel 1907. Eine Ausnahme bildet hierbei Roy Pascals Anthologie Shakespeare in Germany, welche auch einige wenige die Theaterpraxis betreffende Dokumente enthält. Allerdings bezeichnet auch er die Shakespeare-Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts als »bowdlerisations«, die dem Publikum »something non-Shakespearean« vermittelten [Roy Pascal (Hg.), Shakespeare in Germany 1740-1815. Cambridge 1937, S. I] und orientiert sich bei seiner Auswahl an Zeugnissen an der Höhenkammliteratur, wenn er neben einem Ausschnitt aus Weißes Romeo und Julie nur Übersetzungsbeispiele von Lessing, Herder, Bürger und Schiller anführt. Vgl.: Lawrence Marsden Price, Die Aufnahme englischer Literatur in Deutschland. 1500—1960. Bern/München 1961; Horst Oppel, Englisch-deutsche Literaturbeziehungen I. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1971; Klaus Peter Steiger, Die Geschichte der Shakespeare-Rezeption. Stuttgart 1987. Karl S. Guthke, Shakespeare im Urteil der deutschen Theaterkritik des 18. Jahrhunderts. In: ShJb-West 103 (1967), S. 37-69. Hier: S. 39.
dezidiert mit dem Komplex Shakespeare auf dem deutschen Theater beschäftigen.'9 Wo sie sich nicht explizit in einer geringschätzigen Aburteilung der Bearbeitungspraxis in der Manier oben angeführter Zitate manifestiert, findet sie ihren Niederschlag meist in einem ideologisch gerichteten Darstellungsmodell, welches die Aufführungen des »falschen«, da bearbeiteten Shakespeare des 18. Jahrhunderts primär unter dem Aspekt der »Vorbereitung der Eroberung des echten Shakespeare«20 im 19. Jahrhundert behandelt. Abgesehen davon, daß bei der Abgrenzung des »unechten, [...] zeitgemäß verfälschten Bühnen-Shakespeare«11 der Vorromantik von der »wahren« Bühnenvermittlung nach der Schlegel-Tieckschen Übersetzung unberücksichtigt bleibt, daß »auch deren Vorzüge [...] die Signatur der Zeit«12 tragen, orientieren sich die fragwürdigen Kategorien eines fakchen und echten Shakespeare-Verständnisses an eben dem Kriterium der Texttreue, wodurch theaterhistorische Kontexte aus dem Blick geraten und sich, um mit Weiße zu sprechen, »die Gegenstände, so wie die Verdienste vieler braven [!] Schriftsteller, unendlich verkleinern.«23 Vor allem monographische Abhandlungen zur Aufführungsgeschichte einzelner ShakespeareDramen tendieren zu einem solch linearen Beschreibungsverfahren, nach welchem die im 18. Jahrhundert erfolgten deutschen Erstaufführungen der Werke das untere Niveau einer aufstrebenden Entwicklungsskala markieren; aber auch Ernst Leopold Stahls 1947 erschienenes Standardwerk über Shakespeare auf dem deutschen Theater?*1 das »die Shakespeare-Rezeption seit ihrem Beginn am werkpoetischen Maßstab der Werktreue (für Stahl ultima ratio des kongenialen Verständnisses) anlegt«,15 folgt diesem Darstellungsprinzip. Die aus Stahls globalgeschichtlichem Zugang resultierende Materialfülle verhindert zudem eine detaillierte Untersuchung der angeführten Texte, so daß sich seine Ausführungen zum 18. Jahrhundert weitgehend in Auflistungen nicht genauer konkretisierter Namen und Daten erschöpfen. Dieselbe Problematik läßt sich an Stahls Hauptquelle beobachten, Rudolph Genees Geschichte der Shakespeare 'sehen Dramen in Deutschfondvon 1870,l6 die einen umfassenden bibliographischen Apparat zu den Übersetzungen, Bearbeitungen und Aufführungen der Shakespeare-Dramen in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Romantik enthält, welcher bis heute ein unschätzbares Fundament für jegliche wissen-
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Vgl.: Wolfgang Drews, König Lear auf der deutschen Bühne bis zur Gegenwart. Berlin 1932; Kühn (1919); Malkewitz (1878); Georg Friedrich Merschberger, Die Anfänge Shakespeare's auf der Harnburger Bühne. In: Shjb 25 (1890), S. 205-272; Erich Schumacher, Shakespeares Macbeth auf der deutschen Bühne. Emsdetten 1938.
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Guthke (1967), S. 47 (Hervorhebung, R.H.}.
21
Guthke (1967), S. 44. Roger Bauer (Hg.), Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Kongressberichte, Bd. 22). Bern u. a. 1988, S. 16. Weiße (1778), S. A5. Ernst Leopold Stahl, Shakespeare und das deutsche Theater. Stuttgart 1947. Markus Moninger, Shakespeare inszeniert. Das westdeutsche Regietheater und die Theatertradition des dritten deutschen Klassikers (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. 15). Tübingen 1996, S. 4. Genee, Rudolph, Geschichte der Shakespeare'schen Dramen in Deutschland. Leipzig 1870 (ND Hildesheim 1969).
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schaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Bühnentradition der Shakespeare-Vermittlung darstellt, aufgrund ihres Umfangs aber den Charakter der angesprochenen Texte nur kurz anreißen kann und die Frage nach ihrer Wirkung weitgehend unberücksichtigt lassen muß. Grundsätzlich ist zu konstatieren, daß die ältere Forschung dort, wo sie sich auf die Vermittlung historischer Quellen beschränkt und von Wertungen absieht, unentbehrliches Material zu dem Themenbereich der Shakespeare-Rezeption auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts geliefert hat. Zu nennen sind hierbei vor allem Alexander von Weilens27 und Fritz Brüggemanns28 Reeditionen verschiedener Adaptionen, durch die dem interessierten Leser zumindest vier Originaltexte (Heufelds und Schröders HamletBearbeitungen, Weißes Romeo und Julie, sowie die A/Äf^itA-Bearbeitung Stephanies d. J.) leicht zugänglich gemacht wurden — leider mit dem widrigen Nebeneffekt, daß die neuere Forschung bislang fast ausschließlich auf die bei Brüggemann und von Weilen erschienenen Dokumente zurückgriff, i9 was eine Verengung der Perspektive auf die genannten Texte zur Folge hatte und zudem bewirkte, daß diesen in Relation zu der Vielfalt der im 18. Jahrhundert entwickelten Adaptionskonzepte eine unverhältnismäßig hohe Gewichtung zukam. Fragt man nach den Gründen für das beharrliche Rekurrieren der jüngeren Forschung auf bereits erschlossene Materialien, so läßt es sich durchweg auf die schwierige Quellenlage der Primärtexte zurückführen. Wenn Roger Bauer im Vorwort zu seiner 1988 herausgegebenen Aufsatzsammlung über Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik konstatiert, daß »die Texte dieser Adaptionen [des 18. Jahrhunderts] die Aufmerksamkeit der Literaturhistoriker und nicht nur der Theaterwissenschaftler« verdienten, »heute jedoch zum überwiegenden Teil schwer zugänglich«10 seien, so spiegelt sich in diesem Befund die achtzig Jahre zuvor von Alexander von Weilen formulierte Klage über die »großen, fast unüberwindlichen Schwierigkeiten«, mit denen er sich bei der Untersuchung von Hamlet-Bearbeitungen »[...] in der Beschaffung wie in der Verwertung, namentlich aber in der Qualität des Materials«3' konfrontiert sah. In neueren Studien weicht man diesen Schwierigkeiten einer aufwendigen Materialbeschaffung, welche langwierige Recherchen — auch die Arbeit in Archiven — voraussetzt, meist aus, indem
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Alexander von Weilen (Hg.), Der erste deutsche Bühnen-Hamlet. Die Bearbeitungen Heufelds und Schröders. Wien 1914. Fritz Brüggemann (Hg.), Die Aufnahme Shakespeares auf der Bühne der Aufklärung in den sechziger und siebziger Jahren. (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Aufklärung, Bd. n). Leipzig 1937. Vgl. Julius Bobinger, Entwicklungstendenzen deutscher Shakespeare-Bearbeitungen im 18. Jahrhundert. In: Ortwin Kühn (Hg.), Großbritannien und Deutschland. München 1974, S. 334 346; Aban Gazdar, Deutsche Bearbeitungen der Shakespeare-Tragödien Othello, Macbeth, Hamlet und King Lear im achtzehnten Jahrhundert. Diss., München 1979; Samuel L. Macey, The Introduction of Shakespeare into Germany in the Second Half of the Eighteenth Century. In: Eighteenth Century Studies, 5,2 (Winter 1971-71), S. 161-169; Simon Williams, Shakespeare on the German Stage, vol. i: 1586-1914. Cambridge u. a. 1990. Roger Bauer, Einleitung. In: Ders. (1988), S. 8. Alexander von Weilen, Hamlet auf der deutschen Bühne bis zur Gegenwart. Berlin 1908 (Schriften der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Bd. 3), S. VIII.
man sich eben auf die oben erwähnten neuedierten Bearbeitungstexte konzentriert, oder aber ohne Kenntnis der Primärquellen auf Befunde der älteren Literatur zurückgreift. So werden auf dem Gebiet der deutschen Bühnemezeption Shakespeares oftmals revisionsbedürftige Urteile bis in die jüngste Zeit hinein repetiert, während es im Bereich der literarischen Shakespeare-Rezeption längst zu einer methodischen Aufarbeitung der älteren Forschungsergebnisse kam.32 Denn grundsätzlich ist seit den sechziger Jahren ein neuerwachtes Interesse der Literaturwissenschaft an den Anfängen der deutschen ShakespeareRezeption zu verzeichnen, in dessen Rahmen durchaus auch an die »Shakespeare-Pflege erinnert« wurde, »die an den durch das intensive Wirken der Aufklärer aufblühenden deutschen Theatern getrieben wurde.«33 Namentlich in der Folge von Karl S. Guthkes Artikel Shakespeare im Urteil der deutschen Theaterkritik des 18. Jahrhunderts, in welchem er 1967 die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen zwischen der literarischen und der theatralischen Entdeckung Shakespeares im 18. Jahrhundert lenkte, wurde auch wiederholt auf den Fehlschluß verwiesen, daß die »früheren deutschen Shakespeare-Aufführungen für die Literaturgeschichte irrelevant und allenfalls für die Theaterhistorie von Interesse seien«;34 trotzdem hielt die Forschung weitgehend an dem Prinzip einer separaten Behandlung der literarisch-kritischen und der theatralischen Shakespeare-Rezeption fest. Dagegen reichten die wenigen Abhandlungen, die an Guthkes erweiterte Perspektive anknüpften, nicht für eine echte Neubewertung der deutschen Bühnenrezeption Shakespeares im 18. Jahrhundert aus. Abgesehen davon, daß diese Arbeiten allein vom Umfang her unbefriedigend sind - sie beschränken sich auf Aufsätze oder Abschnitte innerhalb weitergefaßter Darstellungen35 -, vermögen sie über interessante Ansätze hin32
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Zu nennen ist dabei vor allem Hansjürgen Blinns hervorragende Einleitung zu seiner Sammlung von Zeugnissen zur deutschen Shakespeare-Rezeption, vgl.: Hansjürgen Blinn (Hg.), Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. I. Ausgewählte Texte von 1741 bis 1788. Berlin 1982. Vgl. zudem: Steiger, op. cit. (1987); Wolfgang Stellmacher (Hg.), Auseinandersetzung mit Shakespeare: Texte zur deutschen Shakespeare-Aufnahme von 1740 bis zur französischen Revolution. Berlin 1976; Hans Wolffheim (Hg.), Die Entdeckung Shakespeares. Deutsche Zeugnisse des 18. Jahrhunderts. Hamburg 1959. Peter Michelsen, Rezension zu: »Lawrence Marsden Price, Die englische Literatur in Deutschland.« In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 220 (1968), S. 239-282. Hier: S. 271. Guthke (1967), S. 39. Vgl.: Bauer (1988); Günther Erken, Shakespearekritik und Rezeption Shakespeares in der Literatur. Deutschland. In: Ina Schabert (Hg.), Shakespeare-Handbuch. Die Zeit - Der Mensch Das Werk- Die Nachwelt. Stuttgart 42ooo, S. 635-659; Eva Maria Inbar, Shakespeare-Rezeption im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 3O/Gesamtreihe 61 (1980), S. 129-149; Moninger (1996). Eine sehr schöne Verknüpfung der geistes- und theatergeschichtlichen Tendenzen der vorromantischen Shakespeare-Rezeption liefert Simon Williams in den Kapiteln zum 18. Jahrhundert seiner Studie Shakespeare on the German Stage [op. cit. Williams (1990)]. Da Williams sich aber ebenfalls auf die bei Brüggemann und von Weilen erschienenen Adaptionen konzentriert und diese vornehmlich in ihrer Funktion zur Vorbereitung der Bühnenvermittlung Shakespeares im 19. Jahrhundert - welche in seiner Studie den entsprechend größeren Raum einnimmt - behandelt (vgl. seine Feststellung in Bezug auf zwei untersuchte Bearbeitungstexte: »They are not to be dismissed absolutely, for limited and even grotesque as they might be, they still prepared audiences for the time when Shakespare's plays would be seen in versions closer to the original« [Williams (1990), S. 66]), bedürfen auch seine Ausführungen der Erweiterung und Vertiefung.
aus keine vertieften Einsichten in das umfangreiche Textkorpus der Bühnenbearbeitungen zu vermitteln - was uns wieder auf die Crux einer mißlichen Quellenlage zurückwirft. Generell hat der 1980 von Eva Maria Inbar konstatierte Befund bis heute wenig an Gültigkeit verloren, daß man nämlich die Shakespeare-Bearbeitungen und -Aufführungen des 18. Jahrhunderts allgemein »entweder als Kuriosa oder als Vorstufen zum echten Shakespeare der Romantik verstanden [...], nicht aber als Dokumente einer produktiven Rezeption ernstgenommen« hat.'6 So stellt auch die 1988 von Roger Bauer geforderte umfassende »literarische - geistesgeschichtliche und formale - Analyse jener ersten Adaptionen« 37 bislang ein Forschungsdesiderat dar. Auf die geistesgeschichtliche Bedeutung der Shakespeare-Adaptionen des 18. Jahrhunderts, die bemerkenswerten Aufschluß über das zeitgenössische Shakespeare-Verständnis zu geben vermögen, hat bereits 1891 Albrecht Köster hingewiesen, der seine Analyse von Schillers Macbeth-Bearbeitung mit den Worten einleitete: »Die Bühnenbearbeitung oder die Übersetzung eines Dramas ist zugleich der eingehendste und gedrängteste Commentar, welcher zu demselben geschrieben werden kann.«' 8 So stellen die Shakespeare-Adaptionen nicht nur Umdeutungen, sondern vor allem auch Ausdeutungen der Originaldramen dar; an ihnen lassen sich interpretatorische Zugänge an die Originalwerke ablesen, in welchen sich auf breiter Ebene allgemeine Tendenzen der zeitgenössischen ShakespeareAnschauung spiegeln. Die Frage, aufweiche Weise das Textverständnis, welches die Bühnenfassungen transportieren, Züge der Identifikation der elisabethanischen Dramen mit den Denkformen des 18. Jahrhunderts impliziert, inwiefern die Bearbeitungen also spezifische Formen der Shakespeare-Aneignung durch die Epoche reflektieren, stellt zweifellos einen der lohnendsten Aspekte ihrer Analyse dar. Trotzdem ist Bauers Forderung nach einer literarischen Untersuchung der Bearbeitungstexte nach meiner Ansicht zu kurz gefaßt. Denn eine fruchtbare Auseinandersetzung mit diesen Spieltexten, die ja in erster Linie Produkte der Theaterpraxis darstellen, setzt einen interdisziplinären Ansatz voraus, der sie nicht nur auf ästhetische, sondern auch auf dramaturgische und bühnentechnische Gesichtspunkte hin untersucht. Eine rein literarische Analyse, welche theaterpraktische Kontexte unberücksichtigt läßt, wird für etliche Modifikationen, welche die Bearbeitungen bezüglich ihrer Vorlagen aufweisen, keine befriedigenden Erklärungen finden39 und sich leicht in einem bloßen Statuieren von Unterschieden zwischen Adaption und Original erschöpfen,40 da sie eine Komponente ausschließt, welche den Charakter dieser
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Inbar (1980), S. 130. Bauer (1988), S. 9. Albrecht Köster, Schiller als Dramaturg. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Berlin 1891, S. 18. Gut illustriert wird dieses Problem durch Merschbergers Analyse von F. L. Schröders HamletAdaption, in welcher der Autor konstatiert: »Unbegreiflich bleibt die Art, wie mit der Eintheilung des Stoffes umgegangen [wurde]« [Merschberger (1890), S. 251], er aber trotz dieses Befremdens vor dem vetmeintlich respektlosen Umgang des 18. Jahrhundert mit den Shakespeareschen Originalen keinen Versuch unternimmt, sich das Unbegreifliche historisch begreifbar zu machen. Die Unergiebigkeit dieses Ansatzes läßt sich an Aban Gazdars Dissertation ablesen, welche Bearbeitungen des Othello, Macbeth, Hamlet und King Lear untersucht, ohne theaterpraktische Kon-
Texte auf signifikante Weise bestimmte: die Tatsache, daß die Theater des 18. Jahrhundert Shakespeares Dramen auf einer Bühnenform zu realisieren suchten, für die sie nicht ausgelegt waren. Das Problem der Umsetzung der für das elisabethanische Theater geschriebenen Stücke auf der Kulissenbühne, welche anstelle der Wortkulisse über die Dekoration eine konkrete visuelle Illusion herzustellen anstrebte, wird sehr anschaulich durch folgende Äußerung Goethes dokumentiert: Die Unvollkommenheit der englischen Bretterbühne ist uns durch kenntnißreiche Männer vor Augen gestellt. Es ist keine Spur von der Natürlichkeitsforderung, in die wir nach und nach durch Verbesserung der Maschinerie und der perspectivischen Kunst und der Garderobe hineingewachsen sind, und von wo man uns wohl schwerlich in jene Kindheit der Anfänge wieder zurückführen dürfte: vor ein Gerüste, wo man wenig sah, wo alles nur bedeutete, wo sich das Publicum gefallen ließ, hinter einem grünen Vorhang das Zimmer eines Königs anzunehmen, [...] und was dergleichen mehr ist. Wer will sich nun gegenwärtig so etwas zumuthen lassen?4'
Hierzu ist anzumerken, daß die bekannte Kopie von Johannes de Witts Skizze des SwanTheatres aus dem Jahre 1596 — das bedeutendste Bilddokument für die modernen Rekonstruktionsversuche des elisabethanischen Theaters - erst 1888 veröffentlicht wurde,41 im 18. Jahrhundert also nur vage Vorstellungen davon existierten, aufweiche Weise Shakespeares Dramen aufgeführt wurden, was auch die Vermutung aufkommen ließ, sie seien überhaupt nicht für die Bühne geschrieben, sondern als Lesedramen konzipiert worden. Grundsätzlich ist zu konstatieren, daß im 18. Jahrhundert kein Zweifel daran herrschte, daß Shakespeares Stücke der Umarbeitung bedurften, um sie auf der zeitgenössischen Bühne präsentieren zu können, und daß die vornehmlichste Aufgabe der Bühnenbearbeitungen - nicht umsonst auch Bühneneinrichtungen genannt - darin bestand, die Dramen den technischen Bedingungen der Kulissenbühne anzugleichen. Die Bühnenvermittlung Shakespeares im 18. Jahrhundert setzte also Strategien zur Transferierung seiner Dramen in ein neues Präsentationssystem voraus, und man wird den Bearbeitungstexten nur dann gerecht, wenn man sie in dem Kontext ihrer Funktion, diese Strategien zu entwickeln, betrachtet. Die Analyse der Bühnenfassungen allein vermag allerdings kein differenziertes Bild von der Shakespeare-Begegnung, die sich auf und in den deutschen Theatern des 18. Jahrhunderts ereignete, zu geben, noch vermag sie das Ineinanderwirken von Literaturkritik und Bühnenpraxis, das den Charakter der theatralischen Shakespeare-Aneignung als einem
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texte zu berücksichtigen [Gazdar (1979)]. Dabei erschöpfen sich ihre Ergebnisse in oberflächlichen Textanalysen der Dokumente, die im Kern immer die Minderwertigkeit der Bearbeitungen im Vergleich zu ihren Vorlagen implizieren. Daneben ist Gazdars Studie schlicht schlampig recherchiert, was sich besonders irritierend auswirkt, wenn die Autorin den Bearbeitungstexten, die sie mangels weiterer Funde behandelt, einen besondets hohen Stellenwert im Kontext der deutschen Shakespeare-Rezeption zuschreibt, oder wenn sie, ohne Angabe von Quellennachweisen, Befunde der älteren Forschung nicht nur wiedergibt, sondern fälschlich interpretiert und diese Irrtümer als Fakten ausgibt. Johann Wolfgang von Goethe, Shakespeare und kein Ende! (1813-1816). In: Hansjürgen Blinn (Hg.), Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. II. Ausgewählte Texte von 1793 bis 1827. Berlin 1988, S. 183-191. Hier: S. 190. Vgl. Schaben (4zooo), S. 81.
produktiven Element der vorromantischen Shakespeare-Rezeption kennzeichnet, ausreichend zu beleuchten. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung des Prozesses der Einbürgerung Shakespeares auf dem deutschen Theater muß daher die Betrachtung von Formen der Darstellung und der Inszenierung sowie die Frage nach der Wirkung der besprochenen Aufführungen miteinschließen. Das Problem der Transitorik des Theaters ist seit Lessing bekannt; von einer ausführlichen Darstellung der Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion theatralischer Ereignisse - vor allem, wenn sie weit zurückliegen - darf deshalb hier abgesehen werden. Sie sei auf die Anmerkung beschränkt, daß jede historiographische Beschreibung theatralischer Erzeugnisse nur eine Annäherung an dieselben impliziert, und daß der Grad dieser Annäherung von der Menge und Qualität des Quellenmaterials abhängt. Bei der Darstellung der Aufführungsgeschichte der einzelnen Shakespeare-Bearbeitungen sieht man sich freilich mit denselben Widerständen bei der Quellenrequirierung konfrontiert wie bei der Ermittlung der Bearbeitungstexte, was wohl die Hauptursache dafür bildet, daß eine gründliche und zugleich umfassende neue wissenschaftliche Untersuchung der deutschen Bühnenvermittlung Shakespeares im 18. Jahrhundert, welche theaterhistorische Kontexte ebenso berücksichtigt wie literarische Prägungen, bis heute nicht in Angriff genommen wurde. Die vorliegende Studie will einen Beitrag zur Neubewertung der Anfänge der Shakespeare-Rezeption auf dem deutschen Theater leisten. Sie orientiert sich dabei an einem Erklärungs- und Darstellungsprinzip, das, anstatt einer »quasi-kausale[n] chronologische [n] Linearität«43 zu folgen, eine differenzierte Untersuchung unterschiedlicher Tendenzen des komplexen Prozesses der Aufnahme Shakespeares auf dem deutschen Theater anstrebt, was selbstverständlich die Berücksichtigung der spezifischen theater- und literaturhistorischen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen der behandelten Aufführungen voraussetzt. Dieser Ansatz, die Beschreibung theater- und literaturgeschichtlicher Phänomene mit ihrer Kontextanalyse zu verbinden, hat für eine breitangelegte Studie der deutschen Bühnenrezeption Shakespeares im 18. Jahrhundert eine besondere Berechtigung, da die Forschung zu diesem Themenkomplex bislang weitgehend an eben jenem ideologischen Argumentationsmodell ausgerichtet ist, welches die vorromantischen Shakespeare-Inszenierungen vornehmlich als Vorstufen zur »spätere[n] adäquate[n] Aufnahme Shakespeares«44 im 19. Jahrhundert behandelt. Anstelle der mit diesem Beschreibungsverfahren häufig einhergehenden Frage nach dem Niederschlag eines richtigen oder falschen Shakespeare-Verständnisses in den Shakespeare-Aufführungen des 18. Jahrhunderts richtet die vorliegende Untersuchung ihr Augenmerk auf die produktive Wirkung, die von der vorromantischen Shakespeare-Rezeption auf die deutsche Literatur und das deutsche Theater ausging, und die sich ebenso an den zeitgenössischen Bühnenfassungen seiner Werke ablesen läßt wie an den Zeugnissen der Hochkultur. Aus dem Anspruch, einen differenzierten Einblick in die vielfältigen Tendenzen der Shakespeare-Aneignung auf den deutschen Theatern des 18. Jahrhunderts zu liefern, resul-
Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 457. Guthke (1967), S. 46.
tierte der Ansatz, bearbeitungstechnische und szenische Aspekte der Bühnenvermittlung einer großen Anzahl verschiedener Shakespeare-Dramen zu untersuchen. Dabei wurde die Auswahl der behandelten Bearbeitungen von mehreren Kriterien bestimmt: Vor allem galt es, sich derjenigen Texte anzunehmen, denen vonseiten der Forschung bislang noch kein oder nur marginales Interesse entgegengebracht wurde und über die — da sie inhaltlich noch nicht erschlossen wurden und höchstens Sekundärbewertungen über sie vorliegen - entsprechend viele pauschalierende Fehlspekulationen kursieren. Neben diesen — häufig nur in Form von Manuskripten überlieferten und teils für verschollen erklärten Dokumenten45 — wurden aber auch einige von der Forschung weniger vernachlässigte Adaptionen in die Darstellung einbezogen, welche den Beginn der Einführung Shakespeares auf dem deutschen Theater markieren und die nachfolgenden Versuche der Bühnenrealisation seiner Dramen stark prägten. Aufgrund des wirkungsgeschichtlichen Aspektes wurde etwa Friedrich Ludwig Schröders //tf/wfo-Bearbeitung aus dem Jahre 1776 in die Untersuchung aufgenommen, während seine zwei Jahre später erstaufgeführte Adaption des King Lear unberücksichtigt bleiben mußte.46 Dabei gilt auch für diese relativ bekannten Texte, daß eine neue, vorliegende Forschungsergebnisse zusammenfassende und vertiefende Analyse ihres Gehalts und ihrer Aufführungsgeschichte eine notwendige Erweiterung des bisherigen Forschungsstandes impliziert. Ein weiteres Kriterium bei der Auswahl der behandelten Shakespeare-Aufführungen bildete schließlich noch das Quellenmaterial, das uns hinsichtlich der praktischen Bühnenrealisation der einzelnen Bearbeitungen überliefert ist. Da der Umfang und die Qualität der Zeugnisse, die Aufschluß über die schauspielerische und inszenatorische Umsetzung der Bühnenfassungen zu geben vermögen, in Bezug auf einzelne Aufführungen stark variiert, wurden vor allem auch Bearbeitungen in die Untersuchung integriert, deren Bühnendarstellung durch die überlieferten Berichte besonders anschaulich dokumentiert wird. Angesichts der Breite der Bewegung, die Shakespeare von den deutschen Bühnen aus bekannt machte, waren Beschränkungen unumgänglich. So konzentriert sich die vorlie45
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Durch intensive Archivrecherchen konnten folgenden für verschollen gehaltenen Dokumente aufgefunden werden: Johann H. Steffens und Friedrich L. Schröders Of/W/o-Bearbeitungen sowie Heinrich L. Wagners und Fr. L. Schröders Macbeth-Adaptionen. Zwar nicht dezidiert für verschollen erklärt, aber von der Forschung bislang gänzlich oder nahezu unbeachtet geblieben sind: Johann Fr. Brockmanns Othello-Bearbeitung, die - nur in Form eines Manuskripts überlieferte Erstfassung von Schröders und Gotters Kaufmann von l/ffW/j^Bearbeitung sowie die ebenfalls nur als handschriftliches Soufflierbuch vorliegende Mannheimer Adaption desselben Werks. In Bezug auf Schröders King £ivzr-Adaption und seiner schauspielerischen Gestaltung der Titelrolle sei hier auf Wolfgang Drews und Dieter Hoffmeiers ausführliche Darstellungen derselben verwiesen [vgl. Drews (1932); sowie: Dieter HofFmeier, Die Einbürgerung Shakespeares auf dem Theater des Sturm und Drang. In: Rolf Rohmer (Hg.), Schriften zur Theaterwissenschaft, Bd. 3. Berlin 1964, S. 9-265]. Hoffmeiers Studie stellt einen bedeutsamen Beitrag zur Aufdeckung der Auswirkungen der Shakespeare-Darstellung auf die Schauspielkunst dar. Abgesehen davon, daß er sich aber mit der Beschreibung von Friedrich L. Schröders Hamlet- und König Lear-Gestaltung nur auf die Höhepunkte der theatralischen Shakespeare-Vermittlung im 18. Jahrhundert konzentriert, führt sein marxistischer Ansatz - Hoffmeier will mit seiner Untersuchung dazu beitragen, »ein sozialistisches Nationaltheater in Deutschland zu schaffen« [Hoffmeier (1964), S. 26] - zu ideologisch geleiteten Fehlschlüssen, durch welche die Arbeit nach heutigen Maßstäben methodisch überholt und unbefriedigend bleibt.
gende Arbeit weitgehend auf Bearbeitungen, die in dem Zeitraum zwischen 1767 und 1787 entstanden sind, und behandelt vornehmlich Shakespeare-Aufführungen der stehenden Bühnen in Hamburg, Mannheim, Berlin und Wien, während die Shakespeare-Inszenierungen der Wandertruppen nur in Einzelfällen einbezogen wurden. Unberücksichtigt bleiben mußten die durch Christoph Martin Wieland initiierten Shakespeare-Aufführungen in Biberach, welche die Komödiantengesellschaft theaterbegeisterter Amateure der Stadt ab 1761 vorführten, von denen aber keine übergreifende Wirkung auf die gesamtdeutsche Bühnenrezeption Shakespeares ausging. Nachstehende Analysen der ausgewählten Shakespeare-Bearbeitungen und -Afführungen orientieren sich an folgenden Schwerpunktsetzungen: Am Beispiel von Christian F. Weißes Romeo und Julie vsird die erste bekannte Shakespeare-Adaption in Form einer sehr frei mit den Vorlagen verfahrenden Bearbeitungsmethode untersucht. Die Analyse von Friedrich L. Schröders Hamlet-Inszenierung dient hingegen vor allem der Beleuchtung der Auswirkungen der ShakespeareDarstellung auf die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst. Anhand von vier OthelloBearbeitungen werden daraufhin die Bemühungen um eine relativ textgetreue Bühnenvermittlung Shakespeares im 18. Jahrhundert dargestellt und verschiedene Tendenzen der schauspielerischen Umsetzung Shakespeares auf den Theatern Berlins, Hamburgs und Wiens untersucht. Das Macbeth-Y*Ap\te\ liefert einen umfassenden Überblick über die Vielfalt der interpretatorischen Zugänge, welche die Bühnen des 18. Jahrhunderts allein in Bezug auf diese einzelne Shakespeare-Tragödie entwickelten. Das letzte Kapitel widmet sich mit der Untersuchung von Bearbeitungen und Inszenierungen des Merchant of Venice schließlich der Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts mit einer Shakespeare-Komödie, die erhebliche Divergenzen zu der zeitgenössischen Gattungsdefinition aufwies, weshalb im Zentrum der Analyse die Frage nach dem Umgang mit den semi-tragischen Zügen des Stücks steht. Da dieser unmittelbar mit der Auslegung der Shylock-Figur zusammenhängt, schließt die Behandlung der verschiedenen Bearbeitungsund Darstellungstendenzen auch den kulturhistorisch bedeutsamen Aspekt der Judendarstellung auf den deutschen Theatern des 18. Jahrhunderts mit ein. Abgesehen von diesen Gliederungsaspekten wird die Einzelanalyse der behandelten Dokumente grundsätzlich von folgender methodischer Herangehensweise bestimmt: Sofern die Quellen es erlauben, werden zunächst geistes- und theaterhistorische Entstehungskontexte der jeweiligen Bearbeitungen herausgearbeitet, gefolgt von der inhaltliche Erschließung der Texte nach bühnenpraktischen und interpretatorischen Gesichtspunkten, an welche sich die Behandlung darstellerischer und inszenatorischer Tendenzen ihrer Bühnenrealisation anschließt. Am Ende der Einzeluntersuchungen steht stets die Frage der Wirkung der einzelnen Bearbeitungen, was die Wiedergabe von Kritikerstimmen impliziert, aber auch den Aspekt der Prägung von Rollenmustern und Zügen nachfolgender Adaptionen miteinschließt. Die Quellen selbst kommen ausführlich zu Wort, liegt doch die vornehmlichste Aufgabe folgender Ausführungen darin, den schwer zugänglichen und entlegenen Texten endlich einen gebührenden Platz innerhalb der Bewegung der deutschen Shakespeare-Aneignung einzuräumen und, anstelle der gängigen Pauschalurteile, differenzierte Einsichten in die Einzelleistung »vieler brave[r] Schriftsteller«47 und Schauspieler zu vermitteln. Weiße (1778), S. A4.
i.
Die literarische Shakespeare-Debatte
i.i
Der Widerstand gegen Gottscheds Theaterreform und das Aufkommen der Anglophilie in Deutschland
Es ist zwar hinlänglich bekannt, daß Shakespeares Werk bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland größtenteils terra incognita war, und doch wird man den zu dieser Zeit einsetzenden Bemühungen um den englischen Dramatiker nur in dem Bewußtsein gerecht, daß sowohl die Literaturkritik als auch die Bühnen sein Werk als absolutes Novum aufnahmen — ein Phänomen, das in Hinblick auf die im 19. Jahrhundert begonnene und bis heute wirksame Etablierung Shakespeares zum dritten deutschen Klassiker nicht genug betont werden kann.1 Ferner muß für eine produktive Auseinandersetzung mit den Shakespeare-Adaptionen des 18. Jahrhunderts der für Bühnenstücke höchst atypisch verlaufene Rezeptionsprozeß der Dramen Shakespeares in Deutschland berücksichtigt werden. Denn hier gab nicht, wie generell beim Schauspiel üblich, die Aufführung der Werke den ersten Impuls für eine nachfolgende kritische Erörterung derselben, sondern die Aufnahme der Stücke in das Repertoire deutscher Bühnen wurde umgekehrt erst durch die theoretische Shakespeare-Diskussion initiiert. Die Tatsache, daß der englische Dichter ab den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend zur literaturkritischen Streitfrage wurde, brachte es mit sich, daß es sich führende Theater im letzten Viertel des Säkulums zur Aufgabe machten, »dem Volk den Shakespear, von dem es jetzt so viel hört, auch auf der Bühne zu zeigen.«1 Allerdings sahen sich die Prinzipale und Intendanten, die den vielbesprochenen Autor aufs Theater bringen wollten, mit ungeahnten bühnentechnischen und ästhetischen Problemen konfrontiert, die in der vorangegangenen Debatte nicht thematisiert worden waren. Der Umstand, daß die Frage nach der Vermittlung der Stücke durch die Bühne lange nicht gestellt wurde, läßt sich zum einen dadurch erklären, daß bis zum Erscheinen der Wielandschen Übersetzung zwischen 1762 und 1766 eine brauchbare Textgrundlage fehlte und somit an Aufführungen auf deutschen Bühnen bis dahin ohnehin nicht zu denken war.3 Zum anderen ist zu bedenken, daß — zumindest vor dem Auftreten des Sturm und Drang — die Frage nach der deutschen Shakespeare-Aneignung nicht den Kern jenes
Die Rezeption Shakespeares als des dritten deutschen Klassikers im 20. Jahrhundert wird ausführlich dargestellt in: Moninger (1996). Christian H. Schmid, Vorrede. In: Ders., Englisches Theater, Bd. i. Leipzig 1769, S. X (Hervorhebung, /?.//.). Vgl. Bobinger (1974), S. 334.
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kunsttheoretischen Disputs bildete, der zum Bekanntwerden des englischen Autors beitrug. Vielmehr bezeichnete die Hinwendung zu Shakespeare zunächst in erster Linie eine Abkehr vom Drama französisch-klassizistischer Prägung, das Gottsched bei seinen Reformbestrebungen für das deutsche Theater propagierte. Erst in Opposition zur GottschedSchule entwickelte sich aus einer - wie Lexikonartikel und literarische Periodika der Zeit dokumentieren 4 — unbefangenen Kenntnisnahme des englischen Dramatikers zu Beginn des Jahrhunderts eine mit zunehmender Intensität geführte literarische Diskussion. Es war der Leipziger Professor selbst, der die Etablierung eines Antagonismus zwischen Shakespeares Dramen und seinem rationalistischen Regelkodex provozierte, als er 1741 in seiner Rezension der Julius Caesar- Übersetzung Caspar Wilhelm von Borcks der Übersetzung wie dem Original mit äußerster Ablehnung begegnete, welche er mit den Verstößen des Stücks gegen die aristotelischen Regeln begründete. 5 Ein Jahr später sprach er in seinen Beyträgen zur Critischen Historic der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit1 Shakespeare den Rang eines Dichters ab, da zu einem »gebohrnen Poeten ein starkes Maaß der Urtheilskraft« gehöre, »die ihm anzeiget, was wahrscheinlich, was möglich, was der Zeit und dem Orte und dem Wohlanstande gemäß sei.« Auch wenn mit »der Kenntniß der Regeln [...] freylich kein Mensch gebohren« würde, müsse ein Poet doch ein intuitives Gespür für die Vorteile einer regelmäßigen Dramaturgie besitzen. Diese »gewisse Ahndung« treibe ihn dann an, »die Regeln zu erlernen, welche er nothwendig wissen muß«, um Werke von höherer literarischer Qualität zu produzieren als die Dramen Shakespeares, welche Gottsched folgendermaßen charakterisiert: Die Unordnung und Unwahrscheinlichkeit, welche aus dieser Hindansetzung der Regeln entspringen, die sind auch bey dem Schakespear so handgreiflich und ekelhaft, daß wohl niemand, der nur je etwas vernünftiges gelesen, daran ein Belieben tragen wird. Sein Julius Cäsar [...] hat so viel niederträchtiges an sich, daß ihn kein Mensch ohne Ekel lesen kann. Er wirft darinnen alles unter einander [...].7
Die Vermischung von Charakteren hohen und niederen Standes, von komischen und ernsten Szenen, die große Zeitspanne, über die sich das Stück erstreckt, und die Unwahrscheinlichkeit der Geistererscheinung veranlaßten Gottsched zu diesem vernichtenden Urteil. Der Leipziger Professor wird den Leser hier aber keineswegs »ungeduldig« machen,8 wenn dieser bedenkt, daß der Schwerpunkt seiner Reform auf der Substitution einer frei
Vgl. Blinn (1987), S. lof. Johann Christoph Gottsched, Nachricht von neuen hieher gehörigen Sachen III. In: Blinn (1982), S. 4of. Johann Christoph Gottsched, Anmerkungen über das 592. Stück des Zuschauers. In: Blinn (1982), S. 6if. Ebenda. Marie Joachimi-Deges Äußerung »Wenn je, so macht uns Gottsched hier ungeduldig, wo er v. Borck, dessen Übersetzung noch nicht einmal ohne Verdienst war, und dessen guter Wille unsere Anerkennung in so reichem Maße hat, im Namen >Deutschlands< in ein durchbohrendes Nichtsgefühl zurückschleudern will« [Joachimi-Dege (1907), S. n] ist charakteristisch für die ahistorische Sichtweise der älteren Forschung in Bezug auf die Ikone Shakespeare, die ihr eigenes Urteil kurzerhand auf Gestalten des 18. Jahrhundert überträgt.
mit ihren Vorlagen verfahrenden improvisatorischen Theaterpraxis durch eine dem Dramentext verpflichtete literarische Theaterform lag. Dieses Konzept eines literarisch-szenischen Kunstwerks diente zum einen der Kontrolle des szenischen Gehalts von Theateraufführungen, um diesen systematisch zur Verbreitung aufgeklärten Gedankenguts zu verwenden.9 Zum ändern bedeutete die Transformation des Schauspiels vom reinen Unterhaltungswesen zweifelhaften Rufes zur bürgerlichen Bildungsanstalt auch die Anhebung eines gesellschaftlich anrüchigen Gewerbes in den Kreis der freien Künste. Um das Theater als Kunstform zu etablieren, womit auch der soziale Status des Schauspielerstandes verbessert werden sollte, bedurfte es zunächst der radikalen Abkehr von allem, was an die Haupt- und Staatsaktionen, die keinen sittlichen oder ästhetischen Anspruch vertraten, erinnerte. Gottsched maß den künstlerischen und moralischen Wert eines Dramentextes am Modell der klassizistischen französischen Stücke, bildeten sie doch die Textgrundlage für die einzig angesehene Form des Schauspiels in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts: die Aufführungen am Hofe. Führt man sich zudem vor Augen, daß die frühe Aufklärung die unwahrscheinlichen Elemente des Stegreiftheaters, seine Hexen, Zauberer und Geistererscheinungen, ablehnte, weil sie dadurch die Erhaltung des im Volke noch virulenten Aberglaubens befürchtete, so verwundert es nicht, daß das elisabethanische Drama Gottsched als den »elendeste[n] Haupt- und Staatsaction[en] unsrer gemeinen Comödianten« ähnlich erschien, »so voll Schnitzer und Fehler wider die Regeln der Schaubühne und gesunden Vernunft.«10 Mit seinen starken Vorbehalten gegenüber den »englischefn] Theaterndichterfn]«11 reagierte Gottsched allerdings bereits 1741 auf die Tatsache, daß sich in Deutschland langsam in kultureller wie in politischer Hinsicht eine Alternative zur französischen Hegemonie herauszubilden begann: England.12 Als der Professor gut zehn Jahre später »die heutige Sucht unsrer Deutschen« tadelt, »englische Stücke zu lesen, zu verdeutschen und zu spielen«,'3 hatte sich die Anglophilie in Deutschland bereits durchgesetzt. In vielen Kreisen war man zu dieser Zeit gegenüber allem, was aus Großbritannien kam, positiv voreingenommen, setzte man britisch gleich mit gut. Dieses positive Englandbild war keine reine Modeerscheinung, sondern war vornehmlich politisch motiviert. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts stand in Deutschland unter dem Zeichen der Suche nach einer spezifisch deutschen Identität, denn durch die Förderung eines nationalen Selbstbewußtseins hoffte man, das in Territorialstaaten zersplitterte Heilige Römische Reich Deutscher Nation geistig einen zu können. Der historische Kontext brachte es mit sich, daß dieser Prozeß der nationalen Selbstfindung in der Abkehr vom französischen Einfluß geschah,
Vgl. zu den Reformen der Frühaufklärung: Hilde Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien/ München 1980. Gottsched, in: Blinn (1982), S. 40. Gottsched, in: Blinn (1982), S. 63. Vgl. Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen/Zürich 1987, Kap. I. Johann Christoph Gottsched, Das Neueste aus der Anmuthigen Gelehrsamkeit. Leipzig 1753. Zit. nach: Inbar (1980), S. 131.
was allerdings nicht »gegen die Franzosen als Aufklärer« gerichtete war, sondern vielmehr »gegen die Franzosen unter den Deutschen, gegen die französische Hof- und Adelskultur in Deutschland.«'4 Die Anglophilie wurde zu einem wichtigen Element innerhalb dieser Phase kultureller Umorientierung; da man Frankreich und England als konträre Pole auffaßte, wurde die Abgrenzung von Frankreich durch die Hinwendung zu dessen Antipoden entschieden erleichtert. Dieses Verständnis von Großbritannien als einem Gegenpart zu Frankreich war außenpolitisch spätestens seit dem Frieden von Utrecht mit der von Wilhelm III. angestrebten Balance of Power allgemein verbreitet:'5 Beide Länder bildeten die führenden politischen Pole, um die sich die weiteren europäischen Staaten in einem Wechsel von Allianzen formierten. Auch in Hinblick auf soziale Strukturen wurden sie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert als entgegengesetzt angesehen, denn die Diskrepanz zwischen dem absolutistisch regierenden französischen König, der sich selbst uneingeschränkt mit dem Staat gleichsetzte, und der englischen parlamentarischen Monarchie, in der das Bürgertum neben dem Adel eine einzigartige Machtposition innehatte, hätte größer nicht sein können. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewann England nun zunehmenden Einfluß auf deutsches Gedankengut, der sich in den unterschiedlichsten Bereichen, wie der politischen Ausrichtung, dem Gartenbau, der Philosophie und der Literatur, spiegelt. Letzteres zeigt sich besonders deutlich an der großen Resonanz, die der englische Roman in Deutschland fand - man nimmt an, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über 300 englische Texte dieser Gattung ins Deutsche übersetzt wurden. Zudem ist unbestritten, daß die Entwicklung des deutschen Romans in hohem Maße von der Rezeption englischer Romane, vor allem der Werke Samuel Richardsons, Henry Fieldings und Laurence Sternes, abhing. Nicht zuletzt das lebhafte Interesse gerade Frankreichs an allem Britischen half insulares Gedankengut in Deutschland zu verbreiten. Durch die für gebildete Europäer obligate Rezeption französischen Schrifttums begann sich in Deutschland das Wissen über England und damit auch über Shakespeare zu mehren. Wichtigen Anteil an seinem Bekanntwerden hatten dabei die Lettres sur les Anglois et sur les Francois et sur les voiages Beat Ludwig von Muralts, die, 1725 erschienen, entscheidend dazu beitrugen, die französische und damit die europäische Anschauung von England umzuformen, sowie vor allem Voltaires Lettres philosophiques ou Lettres ecrites de Londres sur les Anglais (1733 in englischer Sprache und 1734 auf Französisch erschienen), die aufgrund ihrer politischen Brisanz auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt wurden, was ihrer Rezeption in ganz Europa nur förderlich war.' 6 Einer dieser Briefe behandelt die englische Tragödie, oder vielmehr Shakespeare, der hier bereits als oberster Repräsentant des englischen Theaters besprochen wird; er enthält die Übersetzung des Hamlet-Mono\ogs »To be or not to be«, und obgleich Voltaire die Regellosigkeit Shakespeares kritisierte, zeigte er sich zugleich von ihm fasziniert. Sein Vergleich der Werke Shakespeares mit einem natürlich wachsen-
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Maurer (1987), S. 409. Vgl. zu Folgendem: Maurer (1987), sowie: Ders. (Hg.), O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts. München/Leipzig/Weimar 1992. Vgl. Inbar (1980), S. 131 und Maurer (1987), S. 32ff.
den Baum voller dicht austreibender Äste'7 und die Meinung, er sei »un genie plain de force et de fecondite, de naturel et de sublime« gewesen, sollten richtungsweisend für die künftige Shakespeare-Auffassung in Deutschland werden. Neben Voltaires Betrachtungen bildeten die zuerst ins Französische übertragenen moralischen Wochenschriften Addisons und Steeles, The Guardian und The Spectator, das bedeutendste Medium der frühen Vermittlung Shakespeares auf dem Kontinent, deren Einfluß auf die deutsche Meinungsbildung durch die Übersetzungen Luise A. Gottscheds ab 1739 enorm stieg. Vor allem die rund vierzig Äußerungen zu Shakespeare im Spectator, die von großer Bewunderung zeugen, mußten »die Neugier auf diesen >fameuxadmirable< und >inimitable< genannten Autor wecken.«'8 Gottsched selbst hatte die Veröffentlichung der Zeitschriften in deutscher Sprache initiiert,' 9 doch erst mit von Borcks Julius Caesar, der Erwähnung »Saspers« in zwei Schriften Bodmers20 und dem Beitrag seines Schülers Johann Elias Schlegel, Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs, erkannte er die Geister, die er damit gerufen hatte, und begann gegen die im Spectator artikulierte Präferenz für Shakespeare zu polemisieren.2' Mit diesen Angriffen bot er den Programmatikern eines deutschen Nationaltheaters, wie Lessing, Mendelssohn und Nicolai, welche gegen die Prävalenz der tragedie classique eintraten, ungewollt bereits einen Alliierten in ihrer Fehde gegen die von ihm verbreitete theatrale Norm. Im Zentrum der Kritik an Gottsched stand vor allem die unkritische Nachahmung einer ausländischen französischen Dramatik, die die jüngere Generation als wenig fruchtbar für die Konstituierung eines eigenständigen deutschen Nationaltheaters, welches nationale Sitten und Anschauungen reflektieren sollte, empfand. Die Ablehnung von Gottscheds Frankophilie hatte in Bezug auf das Programm des bürgerlichen Dramas, das mit dem des Nationaltheaters eng verknüpft war, aber auch die bereits angesprochene politische Komponente: Man wollte sich durch den Bruch mit der Dominanz Frankreichs im kulturellen Bereich zugleich vom höfischen Absolutismus französischer Prägung lösen.22
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»Le genie poetique des Anglais rcssemble jusqu'ä present a un arbre touffu plante par la nature, jetant au hasard mille rameaux, et croissant inegalement avec force.« [Voltaire, Lettres philosophiques ou Lettres ecrites de Londres sur les Anglais. Lettre XVIII. In: Ders., Oeuvres Completes (Nouvelle Edition de Beuchot), 50 Bde. Paris 1882, Bd. 22, S. 148-156. Hier: 156]. 18 Erken, in: Schabert (42OOo), S. 638. 19 Die Übersetzungen enthielten neben den Bemerkungen Addisons und Steeles zu Shakespeare auch eine von der Gottschedin in Blankvers übertragene Stelle aus dem Sommernachtstraum im 2. Teil des Zuschauers (Leipzig 1740), zu der sie anmerkte, daß dieses »ein sehr angenehmes Stück« sei [zit. nach: Michelsen (1968), S. 262]. 20 In seinem Vorwort zur Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740) und den Critischen Betrachtungen der poetischen Gemähide der Dichter (1741) [vgl. Blinn (1982), S. 12 und Price (1961), S. 227^]. 21 Gottsched, in: Blinn (1982), S. 62. Gottscheds Äußerungen beziehen sich auf die Bemerkung im Spectator, »who would not rather read one of his [Shakespeare's] plays, where there is not a single rule of art observed, than any production of a modern critic where there is not one of them violated?« [zit. nach: Price (1962), S. 229]. " Die politische Brisanz der Abwendung vom französischen Vorbild läßt sich an der Reaktion der absolutistischen Fürsten auf die deutsche Shakespeare-Rezeption ablesen. Friedrich II. bezeichnet Shakespeares Werke in seinem Verdikt De la litterature allemande (1780) als »abscheulich«
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Diese Aspekte münden in ästhetischer Hinsicht in dem Protest der Berliner Aufklärer gegen den bei Gottsched vorherrschende Primat formaler Kriterien, insbesondere der aristotelischen Regeln, gegenüber Fragen des Inhalts. Denn im augenfälligen Kontrast zu dem Gewicht, das Gottsched der äußeren Korrektheit eines Stücks beimaß, war der Inhalt von primärem Interesse für das Bürgerliche Drama, dessen Quintessenz eine Dramaturgie der Leidenschaftserregung — des Mit-Leidens13 — und der Zuschaueridentifikation bildet. Obwohl die jungen Kritiker die Maxime der aristotelischen Regeln nicht, wie später die Anhänger des Sturm und Drang, absolut negierten, wehrten sie sich dagegen, daß die Qualität der deutschen Dramatik ausschließlich nach diesem Gesichtspunkt bewertet werden sollte; denn der äußere Bau eines Dramas allein schaffe noch lang kein gutes Schauspiel, wie Friedrich Nicolai klar und mit beißendem Spott gegenüber Gottsched formuliert: Es giebt gewisse Leute, die mit dem izzigen Zustand des deutschen Theaters ungemein zufrieden sind, sie sehen den Hanswurst abgeschafft, und Stükke in fünf Aurzügen, nach den Regeln der Alten vorstellen, sie sind damit zufrieden und finden, daß wir den Franzosen Originahtükke entgegen sezzen können; sie haben es mit einander abgeredet, dem Darius geduldig zuzuhören, bei der ungleichen Heirat nicht zu jähnen und bei der Atalanta noch weit ärger zu lachen, als die spielende [!] Personen. Was soll man diesen Leuten entgegen sezzen? Sie steifen sich immer darauf, daß ihre Stükke regelmäßig sind, und das kann man ihnen auch nicht streitig machen - sie aber können nicht begreifen, daß ein Werk des Wizzes rege/massig schlecht sein kann [...].14
Als Alternative zu der blinden Imitation französischer Stücke, auch derer, die »in Paris kein Schauspieler annehmen würde«, nennt Nicolai das englische Drama, das »in seiner Art so viel vorzügliches [!] hat als das Französische.« Vor allem bezüglich der »Grosse und Mannigfaltigkeit der Charaktere« könnten »die Deutschen von den Engländern lernen.« 25 In ihrer Kunst der Menschendarstellung kam die englische Dramatik dem Programm des bürgerlichen Theaters mit seiner Forderung nach emotiver Wirkung auf den Zuschauer eher entgegen als die »frostigen« 26 französischen Schauspiele. Besonders die bürgerlichen Tragödien aus England, wie George Lillos The London Merchant or The History of George
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und als »lächerliche Farcen [...], die nur würdig wären, vor den Wilden von Canada gespielt zu werden.« Seine vordergründig ästhetischen Vorbehalte gründen sich dabei auf der Furcht vor einem Übergreifen der »Mißachtung von Gesetzen und Regeln in der Kunst [...] auf das reale Leben«, wie Hansjürgen Blinn es formuliert. Auch Joseph II., der weniger der französischen Dramatik anhing als Friedrich II., hatte eine Abneigung gegen Shakespeares Werke [vgl. Blinn (1982), S. 34. Der Text Friedrichs II. ist ebenfalls bei Blinn abgedruckt: Blinn (1982), S. I5if.]. Lessing sieht den Zweck der Tragödie in der Erregung von »Mitleid« beim Zuschauer, einer Empfindung, die den Rezipienten insgesamt zu einem humaneren Wesen machen könnte, denn im Bewußtsein seiner Mitleidsfähigkeit könne er im sozialen Umgang seiner Mitwelt mit größerer Toleranz entgegenkommen. Somit ist »der mitleidigste Mensch [...] der beste Mensch« [G. E. Lessing, M. Mendelssohn, F. Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, hrsg. von Jochen Schuhe-Sasse. München 1972, S. 55], Friedrich Nicolai, Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Der Eilfte Brief [1755]. In: Blinn (1982), S. 63-67. Hier: S. 64. Nicolai (1755), in: Blinn (1982), S. 66. Nicolai (1755), in: Blinn (1982), S. 64.
Barnwell una Edward Moores The Gamester, die ab 1752 rege rezipiert wurden, entsprachen dieser Zielsetzung. In diesem Sinne begründet Lessing seine These, er wolle »unendlich lieber der Urheber des Kaufmanns von London als des Sterbenden Cato sein« mit folgenden Worten: Bey einer einzigen Vorstellung des ersten sind auch von den unempfindlichsten mehr Thränen vergossen worden, als bey allen möglichen Vorstellungen des ändern, auch von den Empfindlichsten, nicht können vergossen werden. Und nur diese Thränen des Mitleids, und der sich fühlenden Menschlichkeit, sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine haben.27
Um das Herz der Zuschauer zu erreichen, bedarf es glaubhafter Figuren, die man in besonders beeindruckender Weise bei Shakespeare findet. Schon 1741 hatte J. E. Schlegel seine Kunst der Menschengestaltung hervorgehoben28 und auch Nicolai meint, dieser »Mann ohne Kenntniß der Regeln, ohne Gelehrsamkeit, ohne Ordnung« habe »der Mannigfaltigkeit und der Stärke seiner Charaktere den grösten Theil« seines »Ruhmes zu danken.«29 Shakespeares Werk verkörpert hier die genaue Umkehrung der französischen Dramatik: inhaltlich stark, doch mit formalen Schwächen. Von den Engländern sollen die deutschen Autoren infolgedessen auch nicht »ihre Wildheit, ihre Unregelmäßigkeit, ihr[en] übelgeordnete[n] Dialog« übernehmen, »aber die Regeln sind dasienige, was ein Deutscher am ersten weiß, und mit einer mäßigen Kenntniß derselben, sind diese Fehler, bis auf den letzten, sehr leicht zu vermeiden.«30 Nicolais Ausführungen sind symptomatisch für die Shakespeare-Auffassung der mittleren Aufklärung, die zwar die orthodoxe klassizistische Konvention ablehnte, aber trotz größerer Liberalität noch immer traditionsgebunden blieb." Die Tatsache, daß sich das ablehnende wie das affirmative Shakespeare-Interesse der Aufklärer an der Frage der Autorität der aristotelischen Regeln entzündete, ist von großer Bedeutung in Hinblick auf die Frage, warum der Aspekt der Bühnentauglichkeit seiner Dramen während dieser Phase der theoretischen Diskussion weitgehend unbehandelt blieb. Shakespeare bildete als Autor, der trotz seiner vermeintlichen Fehler den »Zweck der Tragödie« - nämlich die Affektivität der Zuschauer zu wecken - »fast immer« erreicht,31 eine hervorragende Antithese zu Gottscheds Regeldogmatismus. Für diesen Zweck mußte man sich mit Shakespeares Texten nicht allzu detailliert befassen, es genügte, die Aspekte
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Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann. Dritte aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, 23 Bde. Stuttgart bzw. Leipzig und Berlin 1886-1924, Bd. 12, S. 86 [im folgenden: LM]. 28 Johann EHas Schlegel, Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs [1741]. In: Blinn (1982), S. 41-61. Hier besonders: S. 47 und S. 5if. 2 5 Nicolai (1755), in: Blinn (1982), S. 66. 30 Nicolai (1755), in: Blinn (1982), S. 66f. 31 Karl S. Guthke, Lessing, Shakespeare und die deutsche Verspätung. In: Wilfried Barner, Albert M. Reh (Hg.), Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang (Beiträge zur Internationalen Tagung der Lessing Society in der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v. d. H. n. bis 13. Juli 1983. Sonderband zum Lessing Yearbook). Detroit/München 1984, S. 138-150. Hier: S. 147. 32 LM, Bd. 8, S. 43.
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seines Werks vorzubringen, welche die Auffassungen der bürgerlichen Programmatik positiv stützen konnten.'3 Ästhetische und aufführungstechnische Probleme, die Shakespeares Werk für das 18. Jahrhundert in sich barg, mußten dabei an die Peripherie gedrängt werden, wollte man den englischen Dichter nicht als »Faktum im literarischen Guerillakrieg der Zeit« verlieren.34 Auch Lessing, der die zeitgenössischen Strömungen der deutschen wie der englischen35 Shakespeare-Rezeption in seinem 17. Literaturbrief sehr prägnant und gegenüber Gottsched äußerst offensiv resümiert hat, bedient sich des Beispiels Shakespeare— nicht, um ihn als neue Norm zu etablieren, sondern um ein Exempel für das sine obligate der alten Norm zu statuieren. Dementsprechend ist der Ausgangspunkt dieser für die folgende deutsche Shakespeare-Rezeption sehr fruchtbaren Quelle nicht Shakespeare, sondern Gottsched. Lessing - hier ganz der Meister im »Abgrenzen und Klarstellen«, 36 als den ihn Thomas Mann charakterisiert - spricht Gottsched mit folgenden Worten jeden Verdienst um das deutsche Theater ab: »>Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserungen dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.< Ich bin dieser Niemand, ich leugne es geradezu.«37 Erst sehr viel später kommt er auf Shakespeare zu sprechen, nicht ohne vorher die französische und die englische Dramatik einander gegenüberzustellen. Dabei geht er noch weiter als Nicolai, wenn er letztere nicht nur als alternatives Muster vorschlägt, sondern überdies behauptet, sie entspräche dem deutschen »Naturell«'8 eher als die französische: Er [Gottsched] hätte aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu grosse Verwicklung, etc.39
Diese Argumentation aus völkerpsychologischer Sicht wurde in der Folgezeit von zentraler Bedeutung für die Befürworter Shakespeares; allerdings ließ sie viele Kritiker bei der vagen und hypothetischen Frage des »Nationalgeistes«40 verharren, ohne zu einer diffe33 34
Inbar (1980), S. 137. Karl S. Guthke, Grundlagen der Lessing-Forschung. Neue Ergebnisse, Probleme, Aufgaben. In: Günter Schulz (Hg.), Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 2 (1975), S. 10-46. Hier:
S. 30. Er übersetzte 1758 John Drydens Essay of Dramatick Poesie, der sein eigenes Shakespeare-Bild stark prägte. Vgl. hierzu: Wolffheim (1959), S. igff. 36 Thomas Mann, Rede über Lessing. In: Ders., Gesammelte Werke, 13 Bde. Frankfurt a. M. 1990, Bd. 9, S. 229-245. Hier: S. 231. '7 LM, Bd. 8, S. 41. 38 Den Begriff »Naturell« benutzt Lessing schon 1750 in der Vorrede zu Beyträge zur Historic und Aufnahme des Theaters, in der er das englische Drama bereits als Vorbild empfiehlt [LM, Bd. 4, S. 52]. 35
39 LM, Bd. 8, S. 42. 40
Vgl. etwa: Wilhelm August Iffland, Beantwortung der vierten dramaturgischen Frage. In: Max Martersteig (Hg.), Protokolle des Mannheimer Nationaltheaters unter Dalberg aus den Jahren 1781 bis 1789. Mannheim 1890, S. 131.
renzierten Auseinandersetzung mit Shakespeares Werk beizutragen. Dabei war die Gegenüberstellung Englands und Frankreichs aber nicht nur ein Thema der Literaturkritik der Zeit; das Kontrastieren des verzärtelten französischen Nationalcharakters mit dem nervigen, wilden der Briten wurde bald zum gängigen Topos, der allgemein in Deutschland für die Definition des eigenen nationalen Wesens bemüht wurde. Die Wechselwirkung von ästhetischen und politischen Vorgängen im 18. Jahrhundert manifestiert sich hier in ausnehmend deutlicher Form: Einerseits sah man die englische Literatur als Spiegel des britischen Charakters, der durch seine egalitäre Staatsverfassung originär und frei sein konnte, andererseits wurden die Vorstellungen eben dieses Nationalcharakters stark von der deutschen Auffassung der englischen bzw. französischen Literatur geprägt. So galt der Engländer bald, ebenso wie sein Drama, als »fest, stark, regellos, sich selbst gelassene Natur«, 4 ' der Franzose als »weichlich, frostig, affektiert.«42 Bei der Suche nach einer deutschen Identität neigte man eher den Engländern zu, mit denen man sich, nicht zuletzt durch Montesquieus Interpretation der englischen Staatsordnung als einer »germanische[n]«,43 seelenverwandt fühlte. Diese Haltung demonstrierte Friedrich Wilhelm Zachariäs auf literarischer Ebene bereits 1756 in seinem Epos Die Tageszeiten: Und warum ists falscher Geschmack, dem Britten zu folgen? Ist er nicht näher mit uns verwandt, als Galliern Sklaven, Denen Gebrauch und Grammatik die stärksten Flügel beschneidet? Deutsches sächsisches Blut schlägt in Britanniens Barden. Schande genug, daß Enkel von uns, uns längst übertroffen. Aber noch größere Schande, wenn wir nicht Enkel verstünden [...].44
Obgleich England zunehmend als die Verwirklichung dessen gedeutet wurde, was Deutschland unter glücklicheren politischen Umständen hätte werden können, orientierte man sich generell an einer goldenen Mitte zwischen Engländern und Franzosen45 und bezeichnete dementsprechend den deutschen »Nationalcharakter« gerne als »Mittel zwischen dem Wässerichten des Franzosen, und dem Feurigen des Engländers.«40 Diese Tendenz wird in der deutschen Shakespeare-Diskussion der sechziger Jahre reflektiert: Wo Nicolai den deutschen Dichtern empfiehlt, die Vielschichtigkeit der Charaktere, nicht aber die »Fehler« in Aufbau und Dialog vom englischen Drama zu übernehmen, und Joseph von Sonnenfels ihnen eine »Mittelstraße zwischen der französischen Politesse und der englischen Ruggedness«*7 nahe legt, meint auch Lessing, man hätte »die Meisterstücke des Shakespear, mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen« übersetzen sollen.48 Daß Les41 4Z
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Inbar (1980), S. 131. Vgl. Joseph von Sonnenfels, Briefe über die Wienerische Schaubühne (1768). Wien 1885 (Wiener Neudrucke, Bd. 7), S. 173. Maurer (1987), S. 409. Friedrich Wilhelm Zachariä, Die Tageszeiten. Ein Gedicht, In vier Büchern, Rostock und Leipzig 1756, S. 63. Vgl. Inbar (1980), S. 133. von Sonnenfels (1768/1884), S. 173. von Sonnenfels (1768/1884), S. 174.
LM, Bd. 8, S. 43 (Hervorhebung, R.H.).
sing gewisse Modifikationen nicht nur aus ästhetischen Gründen für nötig erachtete, sondern das Rezeptionsverhalten der Zuschauer in seine Überlegungen miteinbezog, beweist folgende Feststellung in der Hamburgischen Dramaturgie, die zwar allgemein auf die englische Dramatik bezogen ist, dabei aber durchaus auch auf Shakespeare zutrifft — auch wenn Lessing es geflissentlich vermeidet, ihn expressis verbis in diese Kritik einzubeziehen: Indes sind wir Deutschen es sehr zufrieden, daß die Handlung [von Voltaires Das Kaffeehaus, oder die Schottländerin] nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreut und ermüdet uns; wir lieben einen einfältigen Plan, der sich auf einmal übersehen läßt. So wie die Engländer die französischen Stücke mit Episoden erst vollpfropfen müssen, wenn sie auf ihrer Bühne gefallen sollen; so müßten wir die englischen Stücke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Bühne glücklich damit bereichern wollten. 49
Der Einfluß Shakespeares als erster Repräsentant des englischen Stils sollte nicht zu einer Imitation seines Werks führen, sondern den deutschen Autoren bei der Entwicklung einer spezifisch deutschen Dramatik behilflich sein. Die Programmatiker eines deutschen Nationaltheaters erhofften sich von einer ausgeprägteren Shakespeare-Rezeption nicht die Ablösung französischer Stücke durch englische auf der deutschen Bühne, sondern eine Verbesserung der Qualität deutscher Schauspiele, deren Mediokrität allgemein beklagt wurde. Lessing behauptet im 17. Literaturbrief, die Einführung von Shakespeares Werk würde von bessern Folgen gewesen seyn, als daß man sie [die Deutschen] mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an jenem weit mehr Geschmack gefunden haben, als es an diesen nicht finden kann; und zweytens würde jener ganz andere Köpfe unter uns erweckt haben, als man von diesen zu rühmen weiß. Denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden [...].s°
Daß diese »Entzündung« Inspiration, nicht Imitation bedeutet, verdeutlicht Lessing neun Jahre später in der Hamburgischen Dramaturgie, wo er erklärt: »Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmahler die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektiret; aber er borge nichts daraus.«5' Die Darstellung der »Natur«, der Realismus Shakespeares, soll übernommen werden, und diesen Realismus sah man besonders in seiner Charakterzeichnung verwirklicht. Neben seiner Eigenschaft als großer Menschenkenner lobte man an Shakespeare vor allem seine Fähigkeit, starke Gefühle beim Zuschauer zu evozieren; indem er »das Gemüth so zu erhitzen, und in einen solchen Taumel von Leidenschaften zu stürzen weis«,52 vermag er Furcht und Mitleid zu erregen und den Zuschauer im Sinne der bürgerlichen Dramaturgie zu bewegen. Um diese Seite seines Werks kreisen rund ein Jahrzehnt später auch die ersten
LM, Bd. 9, S. 234 (= HD, 13. Stück). LM, Bd. 8, S. 43. LM, Bd. , S. 95 (= HD, 73. Stück). Moses Mendelssohn, Briefe, die neueste Litteratur betreffend. 5. Teil, 84. Brief (1760). In: Blinn (1982), S. 73.
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textnahen Shakespeare-Aufführungen in Deutschland: Die Psychologie der Charaktere und die affektive Wirkung der Stücke waren es, welche Schauspieler und Zuschauer an Shakespeare faszinierten, und die Tendenz, diese Aspekte seines Werks in den Bearbeitungen besonders herauszustreichen,53 wird bei genauerer Betrachtung der einzelnen Bühnenfassungen zu beobachten sein. Obgleich die bürgerlichen Dramaturgen bemüht waren, Shakespeare in einem möglichst positiven Licht darzustellen, da er ihr Modell einer auf die Figuren bezogenen Mimesis beispielhaft verkörperte, so konnten wir bereits Vorbehalte gegenüber gewissen Komponenten seines Werks ausmachen, die als wenig nachahmenswert angesehen wurden. Zu den Fehlern Shakespeares zählte man zum einen die episodische Handlungsstruktur seiner Dramen, von der man annahm, sie würde den Zuschauer verwirren und deshalb sein Interesse am Ganzen behindern. Diese Befürchtung erscheint plausibel, wenn man bedenkt, daß die Erwartungshaltung von folgender Anschauung einer guten Handlungsführung geprägt war: Die Kürze eines Theaterabends, die Notwendigkeit, das Publikum wie eine einzige mit tausend Augen und Ohren versehene Person in demselben Zauber zu bannen, verlangt straffe deutliche Fassung, eine auf scharfe Linien reduzierte Wirklichkeit. [...] Der vorgetragene Fall muß in seine einfachste Form gebracht, alles Verwirrende, nicht notwendig aus dem Thema Fließende muß beseitigt sein.54
Als unnötig wurde dabei auch Shakespeares Vermischung von komischen und tragischen Elementen angesehen, die »den Leser mit Thränen in den Augen zum lauten Gelächter nöthiget.«55 Hierdurch sah man den Rezipienten bei seinem Prozeß der Identifikation gestört und in seiner Mitleidsempfindung gehemmt. Zudem mutete vieles an Shakespeare, sowohl die Handlung als auch die Sprache betreffend, als nicht genügend natürlich und wahrscheinlich an, was wiederum wenig in ein auf Identifikation und Rührung angelegtes Dramenkonzept passen wollte. Wir sehen, daß das Shakespeare-Bild dieser Generation trotz allen Lobes und aller Faszination insgesamt ambivalent war — in hohem Maße evident wurde dies allerdings erst mit Christoph Martin Wielands Übersetzung von 22 Shakespeare-Dramen ins Deutsche. Wielands »Galeeren-Sclaven-Arbeit«,56 wie er seine Übersetzungsarbeit nannte, war der Meilenstein für eine breite Shakespeare-Rezeption und der Wegbereiter für die Aufnahme Shakespeares in das Repertoire deutscher Theater. Welch großen Einfluß die theoretische Diskussion auf die literarisch interessierte Öffentlichkeit genommen hatte, beweist die starke Resonanz, mit der Wielands Publikation aufgenommen wurde: Sie »ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen.«57 Die zwischen 1762
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Vgl. Inbar (1980), S. 144. Arthur Eloesser, Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 1898, S. 7. von Sonnenfels (1768/1884), S. 138. Wieland an Geßner, 24. Juni 1762, in: Wielands Briefwechsel, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften, 17 Bde. Leipzig bzw. Berlin 1963-2001, Bd. 3. Leipzig 1975, S. 95f. Hier: S. 96. Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit (3. Teil, n. Buch). In: Ders., Werke.
und 1766 erschienene Übersetzung war bereits 1773 vergriffen; trotz ihrer zum Teil harschen Verurteilung durch die Kritik. Neben der Ansicht, man könne über die Unzulänglichkeiten hinwegsehen, weil das Projekt als solches gutzuheißen sei,58 gab es äußerst ablehnende Reaktionen, wie die Heinrich Wilhelm Gerstenbergs, der Wieland vorwarf, er hätte »wie ein Jesuiten-Knabe übersetzt« und in seinen Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur zu dem Ergebnis kommt, »daß die Wielandische Übersetzung schlecht sey: wer aber hat das nicht schon lange gewußt?«59 Tatsächlich finden sich in der Veröffentlichung eine Reihe von Übersetzungsfehlern, die auf Wielands unzureichende Englischkenntnisse und die spärlichen Hilfsmittel, die er für seine Arbeit benutzte, zurückzuführen sind.00 Was ihn allerdings besonders angreifbar werden ließ, waren die Fußnoten, mit denen er seinen Text versah und in denen er nicht nur seiner Begeisterung für Shakespeare Ausdruck verlieh, sondern sich auch zu seinen Fehlern in Stil und Sprache äußerte. Zu letzterem gehörten die zeittypischen Bedenken gegenüber Shakespeares ausgeschmückter Bildersprache, all dem »Jingle and Quibble«6' der Wortspiele, der Metaphern und des rhetorischen Zierrats. Viele Zeitgenossen Wielands faßten Shakespeares Sprache als »barock und schwülstig« auf, voll von »falsch Pomphaften Bildern« und »Bombastaenlichen Deklamazionen.«61 Woran sich Wieland aber auf stilistischer Ebene am meisten stieß, waren die Verstöße wider das Gebot des Anstands. So ließ er derbe Formen Shakespearescher Komik— wie den »unterste[n] Grad von pöbelhafter Ausgelassenheit des Humors und der Sitten« 63 bei Falstaff oder Sir Toby - mit dem Argument unübersetzt, daß »wir vermuthlich keine Leser von derjenigen Classe haben werden, zu der die Zuhörer gehörten, die man damit belustigen wollte.«64 Wielands Kommentare brachten ihm vor allem von den Anhängern des Sturm und Drang, deren Kritik in hohem Maße von Gerstenbergs Schriften beeinflußt war, den Vorwurf ein, das Originalgenie Shakespeare mit klassizistischer Elle gemessen und dadurch verkannt zu haben. Die Theaterschaffenden jedoch, die rund ein Jahrzehnt später versuchten, Shakespeare einem breiten Publikum zugänglich
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Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz (Hamburger Ausgabe), München I3 i998, Bd. 9, S. 493. So Lessing im 15. Stück der Hamburgischen Dramaturgie. »Wir haben an den Schönheiten, die es {das Buch] uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es sie liefert, so beleidigen, daß wir notwendig eine bessere Übersetzung haben müßten« [LM, Bd. 9, S. 245 (=HD, 15. Stück)]. Heinrich Wilhelm Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766/1767), 18. Brief. In: Blinn (1982), S. 87-91, Hier: S. 9of. Vgl. Blinn (1982), S. 24. David Garrick, Advertisement zu Romeo and Juliet. In: Gerald M. Berkowitz (Hg.), The plays of David Garrick. New York & London 1981, Bd. II, S. A 3. Johann Friedrich Schink, Dramaturgische Fragmente [im folgenden: DF], Bd. 2 (Graz 1781), S. 313. William Shakespeare, Theatralische Werke in 21 Einzelbänden übersetzt von Christoph Martin Wieland. Hrsg. von Hans und Johanna Radspieler. Zürich 1993, Bd. 13 (Der erste Theil von König Heinrich dem vierten.), S. 60. Vgl. auch die Anmerkung zu Sir Toby, in: Shakespeare/ Wieland, Theatralische Werke (1993), Bd. 19 (Was ihr wollt. Ein Lustspiel), S. 12. Shakespeare/Wieland, Theatralische Werke (1993), Bd. 13 (Der zweyte Theil von König Heinrich dem Vierten), S. 134.
zu machen, sahen viele ihrer Probleme hinsichtlich derjenigen Aspekte, die mit den Geschmacksnormen der Zeit divergierten, bei Wieland vorweggenommen. Ihr Standort war demjenigen Wielands sehr ähnlich, schrieb er doch im steten Bewußtsein eines Lesers, dem vieles an Shakespeare befremdlich erscheinen mußte. Um ihn nicht »ungeduldig« zu machen, sah der Übersetzer mitunter von einer »allzuschüchternen Treue«65 gegenüber dem Prätext ab. Seine Vorbehalte finden sich zum Teil wörtlich in Aussagen der Bearbeiter wieder66 - sie konnten bei Wieland die Gewähr dafür finden, daß man Rücksicht auf den Rezipienten nehmen durfte, dem die Fehler Shakespeares nicht bedingungslos zuzumuten waren. Dennoch wollte Wieland auch den Deutschen, die des Englischen nicht mächtig waren, einen möglichst authentischen Eindruck von Shakespeares Werk liefern, anders als die Kritiker vor ihm, die Shakespeare als »Folie der Polemik«67 einsetzten und dabei nur seine Schönheiten betonten. Wo Nicolai meinte, man hätte »Shakespeare gar nicht übersetz[en]« sollen, denn ohne »Kenntniß der englischen Sprache, der englischen Sitten, des englischen Humors, kann man an dem größten Theil seiner Werke wenig Geschmack finden«68 oder Christian Felix Weiße vorschlug, man solle »nur einen Auszug von Szene zu Szene liefern« und ausschließlich die »besten und schönsten Stellen [...] ganz übersetzen«,69 sah sich Wieland mit der Gesamtwirkung des Textes konfrontiert. Er gab sich dabei keineswegs »damit zufrieden, seinen Enthusiasmus an sog. schönen Stellen zu nähren«,70 wie Horst Oppel noch 1971 in Anlehnung an Gundolf behauptet,71 vielmehr war es seine Absicht, »meinen Autor mit allen seinen Fehlern zu übersetzen und dies um so mehr, weil mir däuchte, daß sehr oft seine Fehler selbst eine Art von Schönheiten sind.«72 Daß Wieland dieses Ziel nicht konsequent verwirklichte, hängt nicht nur mit seinem Shakespeare-Verständnis, sondern auch mit seinem Herangehen an die Tätigkeit des Übersetzens zusammen. Wir müssen uns - auch in Bezug auf die Theateradaptionen — bewußt machen, daß die Maßstäbe, die an eine literarische Übersetzung gestellt wurden, zur Entstehungszeit von Wielands Shakespeare-Übertragung keineswegs klar definiert waren.73 Vielmehr fand gerade hier ein Orientierungswechsel zwischen unterschiedlichen Übersetzungsprinzipien statt, die Goethe wie folgt charakterisiert:
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Shakespeare/Wieland, Theatralische Werke (1993), Bd. 6 (Der Kauffmann von Venedig), S. 8. Vgl. Dalbergs Skepsis gegenüber dem »romanhaft-unwahrscheinlichen Gang« und den »etwas frostigen Scenen« des Kaufmanns von Venedigs [Wolfgang Heribert v. Dalberg in: Martersteig (1890), S. 224] mit Wielands Kritik an den »ungereimten Abfällen« und den »frostigen Antithesen« desselben Stücks. [Shakespeare/Wieland (1993), Bd. 6 (Der Kauffmann von Venedig), S. 8 (Hervorhebungen, R.H.)]. Erken, in: Schabert (42OOo), S. 641. ADB, i (1765), S. 30. Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 9 (1763), S. 261. Oppel (1971), S. 102. Vgl. Gundolf ("1959), S. 154. Christoph Martin Wieland, Der Geist Shakespeares. In: Blinn (1982), S. 119-122. Hier: S. 122. Vgl. zu Folgendem: Eva Maria Inbar, Shakespeare in Deutschland: Der Fall Lenz (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 67). Tübingen 1982, S. 83-94.
Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herübergebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen.74
War zur Gottschedzeit der erste Grundtyp die Norm des Übersetzens, da man davon ausging, daß sich in jedem Werk ein konstitutiver Gehalt manifestiert, der sich ohne Beeinträchtigung aus einer Epoche und einer Nation in eine andere transportieren läßt, distanzierte man sich im Laufe des 18. Jahrhunderts graduell von dieser Methode, da sich — Herder war daran maßgeblich beteiligt - »mit der Entwicklung der Sprachtheorie [...] langsam die Erkenntnis durchsetzte, daß jeder artikulierte Ausdruck des menschlichen Geistes, auch Gedanke und Phantasie, sprachgebunden und von der Sprache geprägt sind.«75 Damit kam auch ins Bewußtsein, daß das sprachliche Profil eines literarischen Werks nicht unerheblich und substituierbar sein könne, sondern elementar zu seinem Wesen beitrüge. Nun wurden diese Theorien, die folgenreiche Auswirkungen auf die Übersetzung hatten, erst in der Romantik vollends realisiert. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begann das alte Übersetzungsmodell zwar an Autorität zu verlieren, doch hatte sich die Form, in der man nach Goethe »die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht statt des ändern, sondern an der Stelle des ändern gelten solle«,70 noch nicht durchgesetzt. Zwar sieht Goethe in Wieland einen Repräsentanten der freien, von ihm als »parodistisch« bezeichneten Übersetzung, doch macht sich in dessen Shakespeare-Übertragung der Wandel im Zugang an ein fremdsprachiges Werk bereits bemerkbar. Denn sie ist einerseits von dem Bedürfnis geprägt, den Autor an den Bezugsrahmen seines zeitgenössischen Publikum anzugleichen, andererseits von der Intention getragen, »eine getreue Copie« der Vorlage, »die mit den Schönheiten des Originals auch die Fehler darstellt«,77 zu liefern. Die Folge war, daß Wieland sowohl dafür getadelt wurde, zu textnah übersetzt zu haben, wie dafür, den Text zu sehr für seine Zeit assimiliert zu haben. Wie umstritten seine Übersetzung bis heute sein mag: Wieland war der erste Kritiker, der die Individualität Shakespeares als solche — jenseits des von der Regel- und Formendebatte festgesetzten Bereichs — praktisch sichtbar machte, sich dabei aber unversehens auch gezwungen sah, das ambivalente Verhältnis seiner Generation zu Shakespeare zu artikulieren. Von keinem der Zeitgenossen beanstandet wurde die Tatsache, daß Wieland die Dramen bis auf den St. Johannis-Nachts-Traum durchgehend in Prosa übersetzte. Auch Johann Joachim Eschenburg, der sich 1773 der Revision und Vervollständigung der Übersetzung
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Johann Wolfgang von Goethe, Wieland's Andenken in der Loge Amalia zu Weimar gefeyert den 18. Februar 1813 von Goethe. Faksimile des Erstdrucks, neu hrsg. zur Festwoche 900 Jahre Biberach an der Riss. Biberach 1984, S. 16. 75 Inbar (1982), S. 86. 76 Johann Wolfgang von Goethe, Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des westöstlichen Divans. In: Ders., Werke (1998), Bd. 2, S. 256. 77 Christoph Martin Wieland, Der Geist Shakespears (1773). In: Blinn (1982), S. 119-122. Hier: S. 12.2.
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Wielands annahm, übernahm vorbehaltlos dessen Prosa, so sehr sich sein Ansatz im allgemeinen von demjenigen seines Vorgängers unterschied. Seine Kommentare zu dem zwischen 1775 und 1777 erschienenen Text sind historisch-philologischer Natur; mit ihnen sucht er die Akzeptanz für Shakespeares Eigenarten zu fördern. Die Bedeutung seiner historisch fundierten Kenntnis des englischen Dramatikers läßt sich an der Tatsache ermessen, daß seine Glossen auch holländischen und französischen Shakespeare-Übersetzungen beigegeben wurden. A. W. Schlegel charakterisierte Eschenburgs Übersetzung folgendermaßen: Schon neun Jahre nach Erscheinung der wielandischen Uebersetzung stellte sich das Bedürfnis, nicht eines neuen Abdrucks desselben, sondern einer verbeßerten Verdeutschung der sämmtlichen Werke Shakespeares ein. Da Wieland selbst diese Arbeit nicht übernehmen konnte, fiel sie glücklicher Weise einem unserer gelehrtesten und geschmackvollsten Litteratoren in die Hände, der mit gründlicher Sprachkunde, seltnem Scharfsinn im Auslegen, und beharrlicher Sorgfalt, der Uebersetzung ertheilte, was ihr bisher noch gefehlt, nämlich Vollständigkeit im Ganzen und Genauigkeit im Einzelnen.78
Dabei war Eschenburgs Arbeit aber keineswegs nur »eine gradmäßige Verbesserung über Wieland heraus«,79 wie Gundolf behauptet und auch Schlegel anzudeuten scheint, sondern eine durchaus eigenständige Arbeit.80 Die Tatsache, daß auch der Philologe Eschenburg Shakespeare in Prosa übersetzte, beweist, daß diese Form nicht zufällig und aus »Wielands Lässlichkeit«81 heraus entstanden ist. Die Prosa-Form verdeutlicht vielmehr, wie sehr der von den bürgerlichen Dramaturgen an Shakespeare bewunderte Realismus das Verständnis seines Werks insgesamt bestimmte. Selbst die Anhänger des Sturm und Drang hatten nichts dagegen einzuwenden, daß Shakespeares Figuren, von denen Goethe emphatisch behauptete »Natur! Natur! Nichts so Natur als Schäkespears Menschen!«,82 in der deutschen Übersetzung keine unnatürliche Verssprache verwendeten, die schnell ins Deklamatorische abgleiten konnte.8' Für die eigenen shakespearisierenden Dramen benutzten sie ebenfalls die Prosaform, die ihrerseits wiederum die allgemeinen Vorstellungen bezüglich Shakespeares sprachlichen Stils stark
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August Wilhelm Schlegel, Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796). In: Ders., Kritische Briefe und Schriften, hrsg. von E. Lohner, Bd. i. Stuttgart 1962, S. 88-122. Hier: S. 99. Gundolf (1959), S. 247. Eschenburgs Arbeit- wie Lawrence Marsden Price- als »WielandEschenburg-Übersetzung« [vgl. Price (1961), S. 243] zu bezeichnen, bedeutet, seine eigenständige Leistung zu verkennen. Noch überraschender ist, daß das Werk des Begründers der deutschen Shakespeare-Philologie in etlichen Darstellungen der deutschen Shakespeare-Rezeption vollständig ignoriert wird [vgl. Oppel (1971), sowie: Siegfried Korninger, Shakespeare und seine deutschen Übersetzer. In: Shjb 92 (1956), S. 19-44]. Vgl. Heidi Gidion, Eschenburgs Shakespeare-Übersetzung. In: Shjb (West) 1971, S. 35—47. Gundolf (1959), S. 154. Johann Wolfgang von Goethe, Zum Schakespeares-Tag (1771). In: Ders., Werke (1998), Bd. 12, S. 224-227. Hier: S. 226. Noch 1813 soll Goethe gegenüber Falk geäußert haben: »Eben diese hohe Natürlichkeit ist der Grund, warum ich den Shakespeare, wenn ich mich wahrhaftig ergötzen will, jedesmal in der Wielandschen Übersetzung lese« [zit. nach: Price (1961), S. 246].
prägte. Für das deutsche Theater war die Prosa Wielands nicht nur in Hinblick auf die Dramen des Sturm und Drang von Bedeutung. Sämtliche Bühnenfassungen Shakespearescher Dramen übernahmen diese Sprachform, die über die Aufführungen beträchtlich zur Entwicklung eines realistischen Spielstils beitrug, was besonders am Beispiel Friedrich Ludwig Schröders in Hamburg zu beobachten sein wird.
1.2
Das Schauspiel als »schöner Raritätenkasten«? Die Kulmination der Shakespeare-Debatte in der Auseinandersetzung mit dem Sturm und Drang
Es ist sicherlich kein Zufall, daß die ersten Shakespeare-Aufrührungen in Deutschland in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts stattfanden, also in der Blütezeit des Sturm und Drang mit den großen Aufsätzen Goethes, Herders und Lenz' zu dem englischen Genie und den shakespearisierenden Dramen der jungen Generation. Die Shakespeare-Bearbeitungen als konsequente Fortführung des Sturm und Drang zu deuten ist allerdings ein Fehlschluß, dem die Theatergeschichtsschreibung häufig erlegen ist.84 Tatsächlich läßt sich formal und inhaltlich bei den Adaptionen generell eine sehr viel prononciertere Affinität zu der bürgerlichen Dramatik des 18. Jahrhunderts feststellen als zu den Produkten der jungen Shakespeare-Nachahmer. Indirekt ist allerdings ein Einfluß des Sturm und Drang auf die ersten Versuche, Shakespeare auf das deutsche Theater zu bringen, durchaus auszumachen. Zum einen richteten die theoretischen Äußerungen dieser Gruppe — welche in radikalisierter Form die Tendenzen, die schon in der mittleren Aufklärung angelegt waren, zum Endpunkt brachten - die Aufmerksamkeit erneut auf den englischen Autor. Die exorbitante Euphorie, die ihm hier in völliger Abkehr vom alten Regelkodex entgegengebracht wurde, hat sicherlich das Verlangen nach seiner Bühnendarstellung verstärkt. Daß der Sturm und Drang als meinungsbildender Faktor zur Akzeptanz Shakespeares beitrug, wird — wenn auch mit Widerwillen — von Albrecht Wittenberg dokumentiert. Der Lizentiat Wittenberg konnte sich 1777 den Andrang des Publikums auf die Hamburger Aufführungen des in seinen Augen völlig überbewerteten Hamlet, den er zu den »abgeschmackten], unanständige [n], unsittliche [n], abscheuliche [n] Schauspiele [n], die auf der deutschen und besonders auch auf der hamburgischen Bühne erschienen sind«,85 zählte, nur folgendermaßen erklären: Einige, die etwas von dem berühmten Namen, den Shakespeare unter den Schauspieldichtern hat, gehört hatten, Hessen sich dadurch verführen, begaben sich hin, Hessen sich durch einige schöne Stellen, die man dem Dichter nicht absprechen kann, blenden und fanden sein Trauer-
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Vgl. Karl S. Guthke, Literarisches Leben im 18. Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern und München 1975, S. 279; Hoffmeier (1964), dessen Studie nicht umsonst den Titel Die Einbürgerung Shakespeares auf dem Theater des Sturm und Drang trägt; Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 4 (Theatergeschichte der Goethezeit). Salzburg 1961. Albrecht Wittenberg, Vorrede. In: Schreiben des Voltaire an die Akademie Frangoise über den englischen Schauspieldichter Shakespear mit Anmerkungen und einer Vorrede von Albrecht Wittenberg. Hamburg 1777, S. XXIf.
spiel göttlich. Andere hörten Hamlet von gewissen Herrchen, die sich Genies nennen, gar zu gern den Ton angeben möchten und sich bei schwachen Köpfen und Unwissenden in Ansehen gesetzt haben, loben und fanden, aus Furcht, für Dummköpfe gehalten zu werden, das gleichfalls schön, was jene schön fanden. 86
Zum ändern führten die Dramen dieser Gruppe zur Kulmination der Debatte über die Schönheiten und die Fehler in Shakespeares Werk. Wie im letzten Kapitel dargelegt, hatten es die bürgerlichen Dramaturgen lange vermieden, die vermeintlichen Mängel Shakespeares näher zu erörtern; wenn sie diese erwähnten, dann beiläufig mit apologetischer Geste oder begleitet von der demonstrativen Würdigung der ungleich größeren Vorzüge des Dichters. Die neuartigen dramatischen Produkte der jungen Generation warfen nun aber die Frage auf, wie eine angemessene Shakespeare-Nachahmung beschaffen sein sollte, was die Konzentration auf diejenigen Aspekte im Werk des britischen Dichters lenkte, die als wenig imitierenswert galten. Denn die Stimmen derer, die meinten »daß ein Shakespear, der in unsern Tagen, mit gleichen Talenten, regelmäßige Stücke schriebe, wohl daran thun würde«,87 waren keineswegs mit dem Aufkommen des Sturm und Drang verstummt, sie waren vielmehr durch die Auseinandersetzung mit dessen Werken lauter denn je vernehmbar. Man tadelte an der jungen Avantgarde, daß sie, besonders in Hinblick auf Sprache und strukturelle Freiheiten, gedankenlos Shakespeares Schwächen nachahmte, anstatt den Geist seiner Werke aufzunehmen und in eine zeitgemäße Form zu gießen; daß sie also »plünderte«, wo sie hätte »studieren« sollen.88 Häufig gestanden die Rezensenten dem shakespearisierenden Drama zwar diejenigen Vorzüge zu, die auch an Shakespeare gelobt wurden - die tiefe Einsicht in die menschliche Natur, die ausdrucksstarke Sprache, die Gewalt über die Gefühle des Publikums —, isolierten diese aber als Details vom künstlerischen Ganzen, dem sie aufgrund der unregelmäßigen Form und dem uneinheitlichen Stil skeptisch gegenübertraten;89 um mit Serlo in Wilhelm Meisters Lehrjahren zu sprechen: »sie entzück[t]en sich nur stellenweise.«90 Die jungen Genies sahen sich aber gerade von der ungewöhnlichen Form Shakespeares inspiriert; sein Vorbild wirkte auf sie wie eine Befreiung von den drei Einheiten, die sie als »lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft« 9 ' empfunden hatten. Wo sie Shakespeares Dramatik, die sich in ihren Augen namentlich durch ihre Heterogenität und Episodik auszeichnete, als »schöne[n] Raritä-
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Wittenberg (1777), Anmerkung, S. 12. Christoph Martin Wieland, in: Der teutsche Merkur, 6,3 (Juni 1774), S. 325. Vgl. LM, Bd. 10, S. 95 (= HD, 73. Stück). Vgl. zu Folgendem: Eva-Maria Inbar, Shakespeare in der Diskussion um die aktuelle deutsche Literatur, 1773-1777: Zur Entstehung der Begriffe »Shakespearisierendes Drama« und »Lesedrama«. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1979, S. 1-39. Vgl. z.B. folgende Äußerung zu Goethes Götz von Berlichingen: »Der Plan kan bei diesem Stücke gar nicht in Betracht kommen. Das Bemerkenswürdige und Vortrefliche in demselben besteht gänzlich in Schönheiten des Details« [zit. nach: Inbar (1979), S. 9]. Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Buch 5, Kap. 4). In: Ders., Werke (1998), Bd. 7, S. 295. Johann Wolfgang von Goethe, Zum Shakespeares-Tag. In: Ders., Werke (1998), Bd. 12, S. 224227. Hier: S. 225.
ten Kasten«92 definierten, sahen die Kritiker am Sturm und Drang in deren Handlungsstruktur lediglich »unzusammenhängende Scenen, die, wie Schattenspielgemählde, nur in die Laterne gesteckt werden.«93 Um in der Metaphorik der Zeit zu bleiben: anstatt das englische Modell im Sinne Lessings fokussierend als »camera obscura«94 zu benutzen, ahmte der Sturm und Drang Shakespeares »Raritätenkasten« nach, was auf seine Kritiker allerdings die diffuse Wirkung einer Laterna Magica hatte. Wo man dem elisabethanischen Autor seine angeblichen Schwächen nachsehen mochte, da »im Shakespeare erst der Anfang der dramatischen Kunst sei«95 und er vor der »Anstekkung des falschen Geschmacks seiner Zeit«96 nicht gefeit sein konnte, verlangte man von einem zeitgenössischen Dichter wie Goethe, er hätte lieber danach streben sollen, für seine Epoche ein Shakespeare zu werden, und dessen bewegende Kraft mit einer harmonischen Form paaren sollen. Im Zusammenhang mit dem Sturm und Drang betonte man die zeitliche Kluft zwischen Shakespeare und dem gegenwärtigen Stadium der Rezeption; dieses historische Argument löste größtenteils die Bezugnahme auf die aristotelischen Regeln ab, da es den Kritikern erlaubte, die »geschmacklosen Nachtreter«97 Shakespeares zu tadeln, das Vorbild selbst aber von den Beanstandungen auszunehmen. Sicherlich wird hier auch Herders Shakespeare-Aufsatz nicht ohne Wirkung gewesen sein, hatte er doch den Ansatz einer normativen Gattungspoetik dadurch relativiert, daß er die Andersartigkeit des elisabethanischen Dramas im Vergleich zu dem der Griechen historisch-genetisch begründete. Ein gängiger Topos wurde nun bei den konservativeren Kritikern aus den Reihen der bürgerlichen Dramaturgen die Unterscheidung zwischen zeitbedingten Mängeln und zeitlosen Qualitäten Shakespeares. Erstere meinte man in einer dem 18. Jahrhundert angemessenen Form übernehmen zu können, letztere glaubte man vermeiden zu können, indem man den englischen Dichter »reden lassen« sollte, »wie er geredet haben würde: wenn sein Genie kukivirter, wenn er zu ändern Zeiten und unter ändern Umständen wäre geboren worden.« 98 Die Annahme, daß Shakespeares Werk aufgrund seiner Zeitbedingtheit dem 18. Jahrhundert nicht in jeder Hinsicht angemessen war, ließ sich auch durch die historische Sichtweise Herders nicht widerlegen, hatte dieser doch selbst geklagt: Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser grosse Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen grossen Trümmern der
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Goethe, Zum Shakespeares-Tag. In: Ders., Werke (1998), Bd. 12, S. 226. Allgemeine deutsche Bibliothek [im folgenden: ADB], 27 (1776), S. 386. M LM, Bd. , S. 95 [=HD, 73. Stück]. 95 Beytrag zum Reichs-Postreuther. Zit. nach: Inbar (1978), S. 21. 96 Christoph Martin Wieland, Der Geist Shakespeares. In: DerTeutsche Merkur, 3,1 (1773), S. 183188. Hier: S. 184. Wieland spricht sich hier zwar gegen dieses Argument aus, bezieht sich aber damit auf das, was »man zu sagen gewohnt ist« [ebenda]. 97 Christoph Martin Wieland, Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief. In: Blinn (1981), S. 157-167. Hier: S. 160. 98 Schink, DF, Bd. 2 (1781), S. 310. 93
Ritternatur so weit heraus sind, das [!] selbst Garrik, der Wiedererwecker und Schutzengel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslaßen, verstümmeln muß [...]."
Dabei muß aber betont werden, daß Herder kein ideologisches Geschichtsbild vertritt100 und daher die Entwicklung und das Veralten des elisabethanischen Autors aus dem historischen Kontext heraus erklärt, niemals aber vom Standpunkt der eigenen Epoche aus darüber urteilt. Dementsprechend liegt ihm eine Trennung der überzeitlichen von den zeitbezogenen Elementen im Werk Shakespeares völlig fern. Den Anhängern des bürgerlichen Dramas ist die Separation der Form Shakespeares von seinem geistigen Gehalt aber ein Behelf, den englischen Dramatiker für sich nutzbar zu machen und zugleich Unbequemes zu umgehen; sie ist Variation und Fortfuhrung der Argumente, die wir bereits aus dem theoretischen Diskurs der sechziger Jahre kennen. Eva Maria Inbar hat zu Recht herausgestellt, daß das Rekurrieren des Sturm und Drang auf Shakespeare dort verdammt wurde, wo es dem Programm des bürgerlichen Dramas nicht entsprach, und daß sich hinter »der berechtigten Abwehr gegen billiges Nachäffen, gegen das Shakespearisieren also, [...] nur allzu oft die Abwehr gegen das Neue« verbarg.101 Diese ablehnende Haltung gegenüber den Neuerungsversuchen der jungen Dramatiker sowie die vermeintliche Gefahr, die man von ihrer Shakespeare-Nachahmung auf die deutsche Bühne ausgehen sah, wird besonders drastisch von J. F. Schink formuliert: Uibersezzungen Shakespears für unsre Büne im eigentlichen Verstande des Uibersezzens, nüzzen der dramatischen Kunst nichts, sie schaden ihr vielmehr unendlich. Unsre dramatische Geniechen, die, statt Hirn, Wasser im Kopf haben, und ihren Bier- und Branteweinrausch so oft für Begeisterung ausgeben, haben ja überdem Hang genug, uns ihren poetisch-prosaischen Unsin für Sprache des Herzens, und ihre abgeschmakten widersinnigen Tiraden für Ausdruk der Leidenschaft zu verkaufen: warum sollen wir sie erst noch durch das verfürerische Beispiel eines so berümten Dichters als Shakespear zu Ausschweifungen verleiten, zu denen ihre Wasserköpfe an und für sich schon Anlage genug haben? Denn gerade das, wodurch in den Augen der Kritik und der Kunst Shakespear gleichsam entshakespearisirt, sein Genie gleichsam herabgewürdiget wird: gerade das ist es, was auf das Sensorium dieser Geniefentchen am meisten wirkt, was sie aus allen Kräften nachzuamen streben, weil nichts in der Welt leichter ist, und Shakespears wahre Schönheiten zu begreifen und zu fülen, ihr elender Kopf nicht Hirns genug hat.101
Schinks Strategie ist exemplarisch für die Kritik am Einfluß Shakespeares auf den Sturm und Drang: Einerseits wird dieser Einfluß als schädlich dargestellt, andererseits will man die eigene Galionsfigur nicht in Mißkredit bringen. Daher desavouiert Schink dasfahche Shakespeare-Verständnis der nicht ernstzunehmenden »Geniechen«, indem er ihnen vorwirft, sich gerade diejenigen Eigenheiten seines Werks zum Vorbild zu nehmen, die von dem Wesentlichen seiner Kunst ablenkten. Da sich diese Eigenheiten aber nicht schlichtweg leugnen lassen, werden sie als unwesentlich für den eigentlichen Charakter seines
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Johann Gottfried Herder, Shakespeare. In: Ders., Sämmtliche Werke hrsg. von Bernhard Suphan, 33 Bde. Berlin 1877-1913, Bd. 5. Berlin 1891, S. 208-231. Hier: S. 231. too ygj Ulrich Karthaus, Sturm und Drang. Epoche - Werk - Wirkung. München 2000, S. J2ff. 101 Inbar (1979), S. 22. IOZ Schink, DF, Bd. 2, (1781), S. 3!of.
Werks gedeutet, sie widersprechen diesem sogar, sind das, »was Shakespear gleichsam entshakespearisiert«. Diese Definition macht deutlich, daß Schinks Argumentation auf einem höchst subjektiven Shakespeare-Bild basiert, das den wahren Shakespeare dort sieht, wo er seiner persönlichen Ästhetik entgegenkommt. Allerdings finden sich Vorbehalte gegen die willkürliche Imitation der Manier des Briten nicht nur bei den vehementen Gegnern des Sturm und Drang, zu denen Schink offensichtlich zählt. So sieht der Beytrag zum Reichs-Postreuther in Lenz' Hofineister »viel Spuren eines großen Genies«, stört sich aber an der episodischen Dramaturgie: »Es kommen überdieß in dieser Comödie so viel Vorfälle vor, die im geringsten nicht präpariret sind, von welchen man nicht weiß, wie sie zur Würklichkeit kommen, so viel übel zusammenhängende Szenen [...].«'°3 Selbst Herder veranlaßte Goethe mit der Bemerkung, »daß Euch Shakespeare ganz verdorben« habe,104 zu der Überarbeitung des Götz von Berlichingen, und in Verbindung mit Gerstenbergs Ugolino kommt er zu folgendem Schluß: »Ein theatralisches Genie, das auch nur Funken von Shakespeares Geist hätte, ihm aber seine Untereinandermischung, sein Übereinanderwerfen der Scenen und Empfindungen ließe, und sich keine Episoden erlaubte - was wäre dies für eine schöne Mäßigung des Britten!«105 Die Omnipräsenz der hier dargestellten Ansichten blieb nicht ohne Wirkung auf die Bühnenfassungen der Shakespeare-Dramen. Um ihn wahr darzustellen, bedurfte es nicht der hörigen Wiedergabe des Originals, vielmehr war es durchaus legitim, ja sogar erwünscht, den Autor in gereinigter Form zu präsentieren. So spricht Schink von der »Pflicht des Uibersezzers, der Shakespear unmittelbar für die Bühne uibersezt, alle die Stellen zu überspringen, wo seine Sprache nicht mehr Sprache der Natur ist.«106 Bekräftigt wurde diese Haltung auch dadurch, daß die Kritik zunehmend zwischen dem Lesen der Dramen und der möglichen theatralischen Realisierung unterschied. Schink differenziert deutlich zwischen der Rezeptionshaltung eines Lesers und der eines Zuschauers, wenn er feststellt: Ein anderes ist es, Shakespear für den Leser, ein anderes ihn für den Zuschauer übersezzen. [...] Der Geist des Lesers ist nicht so geschäftig, wie der des Zuschauers; er hat immer Zeit genug [...] sich wieder zu sammeln um den abgerissnen Faden bei einem ändern Ende zu fassen. Nicht so der Zuschauer. Alles, was den geraden Gang der Natur zuwiderläuft, alles, was ihn im Fortschritt der Leidenschaft aufhält, schwächt seine Aufmerksamkeit und ermattet seine Teilnehmung.107 Auch Herder, der zwar bei der Lektüre Shakespeares, wo ihm »Theater, Akteur, Koulisse verschwunden« waren,108 bewunderte, wie der Dramatiker mit »Göttergriff eine ganze Welt der Disparatesten Auftritte zu Einer Begebenheit« zusammenzufassen vermochte,
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Beytrag zum Reichs-Postreuther 1774. Zit. nach: Inbar (1979), S. 10. Goethe zitiert diese Worte Herders in einem Schreiben an denselben: »Die Definitiv, >daß Euch Shakespeare ganz verdorben, etc.< erkannt' ich gleich in ihrer ganzen Stärke [...]« [Goethe an Herder, etwa 10. Juli 1772, in: Ders., Werke (1998), Bd. 4, S. 488]. "°5 Johann Gottfried Herder, Werke (1877-1913), Bd. 4 (1878), S. 312. 106 Schink, DF, Bd. 2 (1781), S. 311 (Hervorhebung, R.H.). '°7 Schink, DF, Bd. 2 (1781), S. 311. 108 Johann Gottfried Herder, Shakespeare. In: Ders., Werke (1877-1913), Bd. 5 (1891), S. 208-231. Hier: S. 219. 104
meinte in Hinblick auf eine visuelle Darstellung, »was man bei Shakespeare siehet« sei »immer zu viel, als nicht betäubt zu werden.«109 Noch um 1816 sollte Goethe auf dieses Problem der verminderten Konzentrationsfähigkeit des Theaterbesuchers Bezug nehmen und sich gegen das »Vorurteil« aussprechen, »daß man Shakespeare auf der deutschen Bühne Wort für Wort aufführen müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer daran erwürgen sollten.« Hieraus zieht er das Fazit: »Will man ein Shakespearisch Stück sehen, so muß man wieder zu Schröders Bearbeitung greifen.«"0 Da es Anfang der siebziger Jahre allerdings noch kein anerkanntes bühnenreifes Äquivalent zu Shakespeare, dem Leseautor, gab, wurde er größtenteils auch ausschließlich als solcher verstanden. Diese Haltung manifestierte sich besonders in der Auseinandersetzung mit den Dramen des Sturm und Drang. Die Frage nach deren Bühnentauglichkeit wurde eingehend erörtert, was implizit stets die Frage nach der Spielbarkeit Shakespeares miteinbezog. Selbst die Kritiker, die den shakespfarisierenden Schauspielen - vor allem in Hinblick auf die emotive Wirkung — durchaus Qualitäten zugestanden, sahen, wie Ch. H. Schmid bei Goethes Götz von Berlichingen, Probleme bei der »Einrichtung des Stücks selbst, der mit jeder Szene sich verändernde Schauplatz, die allenthalben durchscheinende Absicht, Handlungen und Begebenheiten, die auf keiner Bühne vorgestellet werden können, nicht erzählen zu lassen, sondern in lauter Action zu verwandeln.«111 Wenn man bedenkt, daß jeder Schauplatzwechsel für die Bühne des 18. Jahrhunderts einen aufwendigen Umbau der Dekoration bedeutete, und daß die dramatis personae von weit über dreißig Figuren beim Götz von Berlichingen in keinem Verhältnis zum durchschnittlich zirka fünfzehnköpfigen Personal einer Theaterkompanie der Zeit stand, so wird Wielands Annahme, Goethe hätte »bloß ein Drama zum Lesen schreiben«"2 wollen, durchaus verständlich. Das Urteil nicht spielbar wog dabei bei den zeitgenössischen Autoren ungleich schwerer als bei Shakespeare, denn bei dem Mangel an deutschen Originalschauspielen erschien es geradezu widersinnig, Stücke zu schreiben, die für die Bühne ungeeignet waren und damit in keiner Weise zum Aufbau eines deutschen Nationaltheaters beitrugen. Daher rief man die Künstler sogar dazu auf, diese vermeintliche Zweckentfremdung der dramatischen Form zu unterlassen, wie in folgendem Appell der Auserlesenen Bibliothek: »Bedenkt, daß unsere Bühne arm, daß das Leben kurz ist; gebraucht das eurige dazu, der Nation den wichtigen Dienst zu thun ihre Bühne zu bereichern. Das habt ihr noch nicht gethan. Eure Stücke können nicht aufgeführt werden.«"3 Daß die These, die Stücke des Sturm und Drang seien nicht aufführbar, nicht nur auf die Voreingenommenheit der Kritiker gegenüber dem Ungewohnten zurückzuführen ist, sondern auch auf nüchternen theaterpraktischen Überlegungen basierte, vermag auch folgende Kritik der Allgemeinen Deutschen Bibliothek zu Lenz' Der neue Menoza zu dokumentieren: 109
Johann Gottfried Herder, Werke (1877-1913), Bd. 2 (1877), S. 233. "° Johann Wolfgang von Goethe, Shakespeare und kein Ende. In: Blinn (1988), S. 183-191. Hier: S. 191 (Hervorhebung, R.H.). '" Christian Heinrich Schmid, Götze von Berlichingen, mit der eisernen Hand. In: Der Teutsche Merkur, 3,3 (1773), S. 267-287. Hier: S. 273. 112 Christoph M. Wieland, Ueber das Schauspiel Götz von Berlichingen, mit der eisernen Hand. In: Der Teutsche Merkur, 6,3 (1774), S. 321-333. Hier: S. 332. 113 Auserlesene Bibliothek, 8 (1775), S. 499.
32.
Oder hat der Verf. sein Stück wirklich für die Bühne bestimmt? Soll der Theatermeister die Scene so unzählichemal, und oft um einer Rede von anderthalb oder drittehalb Zeilen willen, (wie S. 16 u. 19) zauberisch verändern? [...] Soll der Graf der Frau von Biederling das Knie küssen? die Donna Diana in der Kutsche aufs Theater fahren, und Gustav ihnen reitend begegnen? Soll die hogarthische Karikaturscene, (S. 96), die Gesellschaft von schmausendem Pöbel und Bettlern, Lahmen und Blinden wirklich gespielt werden? [...] Diana und der Graf auf der Erde liegend, und Gustav in einem Winkel erhenkt erscheinen?" 4
Sämtliche hier angesprochene Probleme, von den vielen Szenenwechseln über Verstöße wider den Anstand bis hin zu Pferden und Leichen auf der Bühne, standen zugleich einer Aufführung von Shakespeares Stücken im Wege. Auch wenn bekannt war, daß man diesen Schwierigkeiten in England durch Bühnenbearbeitungen entgegentrat, war man der Ansicht, die englischen Theaterverhältnisse könnten nicht nach Deutschland transferiert werden, da das ästhetische Empfinden der Briten zu sehr von dem des deutschen Publikums differiere. Schon Wieland hatte in seiner Shakespeare-Übersetzung auf die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem englischen Theaterpublikum hingewiesen. So reizt ihn eine der Falstaff-Szenen im ersten Teil des Henry IVzu folgendem Kommentar: Man muß ein Engländer seyn, diese Scenen von Engländern spielen sehen, und eine gute Portion Pounsch dazu im Kopfe haben, um den Geschmak daran zu finden, den Shakespears Landsleute gröstentheils noch heutigen Tages an diesen Gemählden des untersten Grads von pöbelhafter Ausgelassenheit des Humors und der Sitten finden sollen."5
Ähnlich despektierlich äußert sich ein Rezensent des Götz von Berlichingen, der aus der Beziehung dieses Stücks zum englischen Geschmack den Schluß zieht, es könne nicht aufgeführt werden, »bis wir ein Parterr, gleich dem englischen, haben, das eigensinnig genug ist, etwas ansehen zu wollen, das es kaum halb versteht, und auch im Grunde kaum halb schön findet.« 1 ' 6 Die Tatsache, daß die für die Bühne des 18. Jahrhunderts sperrigen Sturm und DrangDramen dennoch zur Aufführung gelangten, setzte auch das Spielen von Shakespeares Dramen in den Bereich des Möglichen. Denn es bedurfte beispielsweise zur Darstellung des Götz von Berlichingen durchaus keiner »wohltätige[n] Fee«, die den Deutschen »ein eigen Theater und eigene Schauspieler dazu herzaubert[e]«,117 sondern vielmehr einer umsichtigen Bearbeitung und einiger Hilfestellungen für die Zuschauer, wie es die ersten Aufführungen des Götz 1774 durch die Kochsche Gesellschaft in Berlin und die Ackermannschen Truppe in Hamburg zu dokumentieren vermögen. In beiden Städten wurde zu Beginn der Vorstellungen des Götz von Berlichingen »zum leichteren Verständnisse der Zuschauer«"8 eine Art Programmheft verkauft, in dem der Kern jeder einzelnen Szene
"4 ADB, 27 (1776), S. 37Sf. "^ Shakespeare/Wieland, Theatralische Werke (1993), Bd. 13 (Der erste Theil von König Heinrich dem Vierten), S. 60. "6 Neuer Gelehrter Mercurius, Altona 19. August 1773. /it nach: Inbar (1979), S. 25. "7 So Wieland, in: Der Teutsche Merkur, 6,3 (1774), S. 3Z3f. 118 Vgl. Titelblatt der Inhaltsangabe Friedrich Ludwig Schröders. Abgedruckt in: Fritz Winter, Die
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kurz zusammengefaßt wurde. Diese Inhaltsangaben sollten die Theatergänger im voraus mit den vielen Figuren und Vorgängen vertraut machen, damit sie während der Vorstellung nicht vor der ungewohnten Anforderung an ihre Konzentration resignieren würden. Die Handlungsführung selbst wurde in den Bühnenfassungen vereinfacht; in Hamburg wurden ganze Szenen gestrichen, was auch mit der notwendigen Reduzierung der dramatis personae zu tun hatte, dessen ungeachtet man aber mit Doppelbesetzungen arbeiten mußte."9 Um die vielen Dekorationswechsel zu umgehen, faßte man, wenn es die Handlungsstruktur erlaubte, Szenen, die am selben Ort spielten, so zusammen, daß sie ein Kontinuum formten,120 und fusionierte verschiedene Räumlichkeiten zu einem identischen Schauplatz.111 Zudem hielt man den Aufwand an verschiedenen Dekorationen gering, indem man mit Versatzstücken arbeitete, durch die man ein und dasselbe Bühnenbild zu verschiedenen Räumlichkeiten umgestalten konnte.111 Insgesamt benötigte man in Hamburg, nachdem man die Szenenwechsel von 55 auf 23 reduziert hatte, höchstens zehn Dekorationen,123 was allerdings noch immer einen ungeheuren finanziellen und technischen Aufwand implizierte. Sowohl in Hamburg als auch in Berlin hatte man bei der Aufführung des Stücks besonderen Wert auf die Ausstattung gelegt; das Publikum zeigte sich in beiden Städten vor allem von den Kostümen historisierenden Stils beeindruckt. Allerdings sahen die Kritiker in beiden Fällen die anfänglich große Publikumsresonanz in dem optischen Eindruck der Vorstellungen begründet. In Berlin vermutete Friedrich Nicolai: »vielleicht hatten die Kleider und Harnische, ganz neu und im vollkommenen Costume gemacht, an diesem Beyfalle eben so viel Antheil, als etwas anderes«.124 In Hamburg argwöhnte der Kritiker des Theatralischen Wochenblatts gar, der große visuelle Reiz der Vorstellung hätte einen Teil der Zuschauer vom Inhalt des Werks abgelenkt, wenngleich er diejenigen, »die beim erstenmale die Nase rümpften und den Mund verzogen, weil sie über allem Schönen nicht klug werden konnten,« mit den Worten rügte:
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erste Aufführung des »Götz von Berlichingen« in Hamburg. In: Ders. und Eugen Kilian, Zur Bühnengeschichte des »Götz von Berlichingen« (Theatergeschichtliche Forschungen, Bd. 2). Hamburg und Leipzig 1891, S. 28. Statisten- und kleine Rollen, wie Knechte, Gerichtsdiener, Zigeuner, Reiter, wurden in der Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts generell von immer denselben Schauspielern übernommen; bei der Hamburger Aufführung des Götz wurde allerdings die Wandlungsfähigkeit F. L. Schröders besonders bewundert, der sowohl den Bruder Martin als auch den Lerse darstellte. Wie beispielsweise im zweiten Akt, wo die Aurzüge in Bamberg nicht mehr von denen in Jaxthausen und im Spessart unterbrochen, sondern aufeinanderfolgend in einem Block präsentiert wurden. So beschränkte man die Räumlichkeiten im Bischöflichen Palast auf Adelheids Zimmer, was wiederum einige Umbauten des Bühnenbildes entbehrlich machte. So wurde in Hamburg »der unterirdische Gang zum heimlichen Gerichte [...] durch Herablassung einer einzigen Säule in der Mitte zu einem Gefängnis verwandelt.« [Theatralisches Wochenblatt, 1774, 10. Stück. In: Winter (1891), S. 46-50. Hier: S. 499]. Vgl. Paul F. Hoffmann, Friedrich Ludwig Schröder als Dramaturg und Regisseur (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 52). Berlin 1939, S. 88. Friedrich Nicolai an Freiherrn von Gebier, 8. Oktober 1774. Zit. nach: Winter (1891), S. 17.
Wunderliche Leute! Wer seid ihr, daß ihr mit Einem Blicke eine Gallerie meisterhafter Gemälde überschauen wollt, deren jedes einzelne für sich betrachtet und untersucht sein will? Was kann der Dichter dafür, daß ihr nur seine Ahnentracht angafft und ihn den Tauben predigen laßt? Oder kamt ihr, nur zu sehen? [...] So geht's euch wie dem Kinde, das über dem goldenen Rahmen Gemälde sein läßt!125
Auch wenn das Theatralische Wochenblatt bei der Aufführung des Götz das Ziel des Theaters im Sinne einer bürgerlichen Dramaturgie verwirklicht sah - das Publikum »sah und ward getäuscht, und hörte und ward gerührt und empfand«^ so ist doch zwischen den Zeilen zu lesen, daß ein Großteil der Zuschauer tatsächlich an die Grenze seiner Konzentrationsfähigkeit stieß. Besonders deutlich wird dies, wenn der Rezensent an Goethe appelliert, er solle doch »inskünftig dem allzuraschen Rosse seiner Phantasie [...] einen Ring in die Nase und ein Gebiß ins Maul« legen, »damit ihm Schauspieler und Zuschauer folgen können.«127 Das von Schink und Herder in Bezug auf Shakespeare angesprochene Problem der Zersprengung des Interesses bestätigte sich auch bei der Berliner Auffuhrung des Götz, was folgende Ausführungen Christian H. Schmids dokumentieren. Schmid versucht, die Gründe für die verhaltene Publikumsresonanz auf das Stück zu ermitteln und greift dabei, obwohl er die Aufführung absolut gutheißt, bereits bekannte Vorbehalte gegenüber der Bühnentauglichkeit der neuen Dramatik auf: Wenn aber die Vorstellung selbst nicht alle die Wirkung that, die man erwartete, so muß man bedenken, daß Zuschauer leichter zerstreut werden, als Leser, daß sich die Illusion bey dem deutschen Zuschauer schwerer bemerken läßt, als bey dem brittischen, daß bey einer solchen Menge an Personen unmöglich alle Rollen (und jede fordert keinen gemeinen Acteur) gleich gut gespielt werden können.118
Die Bedenken der Kritiker gegenüber den Dramen des Sturm und Drang waren also keineswegs völlig durch ihre theatralische Verwirklichung widerlegt worden — noch zwei Jahre nach der Uraufführung des Götz von Berlichingen sah Friedrich Nicolai darin eher einen »Beweis von dem sehr zu entschuldigenden Eifer unsrer Theateraufseher für ihren Vortheil, als von der Schicklichkeit des Stücks zur Aufführung, die wir demselben, der würklichen Aufführung ungeachtet, nicht zugestehen können.«129 Der angebliche Vorteil für die Theaterleiter war bei diesem Unterfangen gewiß nicht pekuniärer Art; in Hamburg führte es zu erheblichen finanziellen Einbußen für die Ackermannschen Truppe unter Friedrich Ludwig Schröder.'30 Aber auch wenn es beim breiten Publikum zu keinem Durchbruch der neuen Dramatik kam, so bedeutete der große Widerhall, den die Bemühungen der Berliner und
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Theatralisches Wochenblatt, 1774, n. Stück. In: Winter (1891), S. 50-53. Hier: S. 50. Theatralisches Wochenblatt, 1774, n. Stück. In: Winter (1891), S. 51. 117 Theatralisches Wochenblatt, 1774, 10. Stück. In: Winter (1891), S. 46-50. Hier: S. 48. 118 Zit. nach: Winter (1891), S. 19. 12 9 ADB, 27 (1776), S. 361. 130 Vgl. Johann Friedrich Schütze, Hamburgische Theater-Geschichte. Hamburg 1794, S. 418; sowie: Berthold Litzmann, Friedrich Ludwig Schröder. Ein Beitrag zur deutschen Litteratur- und Theatergeschichte in 2 Teilen. Berlin 1894, Bd. 2, S. 143. 116
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Hamburger Theatergesellschaften bei der Presse erfuhren, einen beträchtlichen Anstieg ihres Renommees. Ihr Engagement für deutsche Originalstücke - und damit Inbegriffen für ein deutsches Nationaltheater — wurde eingehend gewürdigt, was gewiß in keinem geringen Maße zu der Intensivierung ihrer Bemühungen um dasselbe beitrug. Nur wenige Monate nach den Vorstellungen des Götz rief Schröder deutsche Dramatiker dazu auf, ihm ihre Stücke einzusenden, für die er ihnen im Falle einer Aufführung 100 Thaler zahlen wollte. Allerdings legte er ihnen einige Restriktionen auf, offenbar um Komplikationen nach Art des Goetheschen Schauspiels vorab zu vermeiden: Die Texte sollten inhaltlich nicht gegen den Anstand verstoßen, in ihrer Umsetzung auf der Bühne nicht zu kostspielig werden, zudem nicht »die Anzahl der agierenden Personen übersteigen [n], die man billigerweise auf einer deutschen Bühne erwarten kann«' 3 ' und möglichst in Prosa verfaßt sein. Auch wenn wir erneut bei Shakespeare keine dieser Prämissen — die von Wieland eingeführte Prosaform ausgenommen - an ein geeignetes Bühnenstück verwirklicht sehen, ist bemerkenswert, daß die Befolgung der drei Einheiten nicht mehr zu den elementaren Voraussetzungen an ein spielbares Drama zählt; die freie Wahl von Zeit, Ort und Handlung in einem Stück stellen für diesen Theaterleiter offenbar keine unüberbrückbaren Probleme für die theatralische Realisierung desselben mehr dar. So wurden in Hamburg auch 1775 Wagners Die Reue nach der Tat und Anfang 1776 Klingers Die Zwillinge gespielt, 1779 eröffnete Schröder das neu renovierte Theater am Gänsemarkt mit dem Hofmeister von Lenz. Generell ist festzustellen, daß die Aufführungen von Sturm und Drang-Dramen zu keiner absoluten Umwälzung des Status quo des deutschen Theaters führten, und doch bewirkte die Tatsache, daß auch diese gegen die drei Einheiten verstoßenden Stücke zur Darstellung gelangten, offenbar eine Unterminierung der gängigen normativen Vorgaben an ein spielbares Bühnenstück. Die theatrale Rezeption des Sturm und Drang führte dementsprechend auch nicht, wie von der Forschung teilweise suggeriert,131 schlagartig zur Einbürgerung Shakespeares auf der deutschen Bühne, sondern trug in erster Linie dazu bei, daß sich der Gedanke einer möglichen Darstellung seiner Werke zunächst überhaupt konstituieren konnte. Auch wenn sich die Aufführung der Stücke durch Umarbeitung technisch realisieren lassen konnte, so war noch ungewiß, wie das breite Publikum darauf reagieren würde - ein Aspekt, der den Theaterleitern angesichts ihrer meist äußerst beschränkten finanziellen Lage nicht gleichgültig sein konnte. Auch blieben die Anforderungen, welche die Figuren Shakespeares an die schauspielerische Leistung der Akteure stellten, ein Problem, das angesichts der erst rudimentär entwickelten Schauspielkunst schwer lösbar schien. Zudem hatte die Diskussion um die richtige und die falsche Shakespeare-Nachahmung auch gezeigt, daß noch lange kein Konsens darüber herrschte, ob eine originalnahe Darstellung der Dramen mit ihren Fehlern überhaupt wünschenswert sei. Auch in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts sah man eine Affinität der elisabethanischen Dramatik zum Barocktheater »mit seinen Helden, Märtyrern, Bösewichtern und Possenreißern, seinen Schaueffekten und Wundererscheinungen, seiner pomphaften
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Litzmann (1894), Bd. 2, S. Vgl. Pascal (1937), S. 14.
Verssprache und seiner Unregelmäßigkeit«,'33 was in der häufig angewandten Definition von Shakespeares Stücken als »Haupt- und Staatsakzionen«'34 besonders deutlich wird. Bis zum Ende des Säkulums wurde erörtert, wie eine angemessene Shakespeare-Darstellung beschaffen sein sollte; ein Problem, mit dem sich Schiller und Goethe noch um die Jahrhundertwende auseinandersetzten, wenn sie den englischen Autor in klassischer Form zu präsentieren suchten. Generell muß dabei betont werden, daß die Notwendigkeit von Bühnenbearbeitungen in dieser Ära der theatralen Shakespeare-Rezeption nicht durch die Äquivalenzfrage berührt wurde. Wir haben bereits im Zusammenhang mit den ersten Übersetzungen Shakespeares ins Deutsche gesehen, daß die Prinzipien der Texttreue und der Übernahme der sprachlichen Form für die literarische Übersetzung bis Ende des 18. Jahrhunderts noch keine festen Größen darstellten. Die transponierende Übertragungspraxis, die »den Leser möglichst in Ruhe läßt und [...] den Schriftsteller ihm entgegen« bewegt,'35 hatte nun gerade im Bereich der Bühnenadaption besondere Gültigkeit, weil man im Vergleich zum Lesen von einem direkteren, da visuell unterstützten, Kommunikationsverhältnis zwischen Text und Rezipienten ausgehen mußte. Man hielt die Anpassung ausländischer Dramen und vor allem die an einen anderen historischen Kontext gebundenen Stücke Shakespeares an den Bezugsrahmen des Publikums im Theater für dringend erforderlich, sollte es zu der angestrebten Illusionswirkung und damit zur Identifikation der Zuschauer mit den vorgestellten Figuren kommen. Daß man den englischen Autor nicht in seiner Originalform auf die zeitgenössische Bühne bringen konnte, war unbestritten — offen blieb allerdings, wie eine adäquate Adaption der Texte beschaffen sein sollte.
'» Inbar (1980), S. 141. 134 Christoph Martin Wieland, Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief. In: Blinn (1982), S. 157-167. Hier: S. 159. Vgl. auch Joseph v. Sonnenfels' Bemerkung, die Stücke Shakespeares hätten »in der That eine Aehnlichkeit [...] mit den nicht unschicklich sogenannten Haupt- und Staatsaktionen« [Sonnenfels (1768/1884), S. 220]. '3S Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. Rede vor der königlichen Akademie der Wissenschaften, 24. Juni 1813. Zit. nach: Inbar (1982), S. 85.
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2.
Shakespeare »wie er geredet haben würde: [...] wenn er zu ändern Zeiten und unter ändern Umständen wäre geboren worden«: Die Praxis der freien Shakespeare-Bearbeitung
Bei der Bearbeitung Shakespeares für das 18. Jahrhundert sah man sich vor die beiden Alternativen gestellt, die man bereits im Zusammenhang mit der literarischen Shakespeare-Rezeption diskutiert hatte: Man konnte Shakespeare entweder gänzlich, einschließlich seiner heterogenen Form, nachahmen oder versuchen, seinen geistigen Gehalt in eine völlig neue Form zu transponieren. Wir haben bereits gesehen, daß sich in Hinblick auf die Bühnenbearbeitungen die Frage stellte, ob man sich überhaupt darum bemühen sollte, den Dramen in ihrer Handlungsstruktur genau zu folgen, oder ob eine angemessene Adaption nicht darin bestehen konnte, den vermeintlichen geistigen Gehalt der Stücke aufzunehmen und formal völlig neu zu gestalten. Bis Mitte der siebziger Jahre war letzteres die alleinige Manier, in der Shakespeare auf dem Theater gezeigt wurde; man griff Stoffe seiner Dramen auf und verarbeitete sie zu neuen, mit dem Zeitgeschmack korrespondierenden Schauspielen. Dabei muß man die verschiedenen Stücke dieser Machart durchaus differenziert betrachten, da ihre Autoren sehr unterschiedlich mit den Vorlagen verfuhren. Wo einige tatsächlich darum bemüht waren, die als essentiell erachteten Komponenten der einzelnen Stücke zu übernehmen und in eine zeitgemäße Form zu bringen, nutzten andere ihre shakespeareschen Vorlagen in erster Linie als Stofifquellen, deren Plot ihnen grob als Handlungsgrundlage für die eigenen dramatischen Produktionen diente was oft zu theaterhistorisch durchaus interessanten Ergebnissen führte. Insgesamt stellen auch diese sehr freien Bearbeitungen ein bemerkenswertes Element der produktiven Shakespeare-Rezeption im 18. Jahrhundert dar, weshalb ihnen hier mehr Beachtung zukommen soll, als ihnen von der Forschung bisher zugestanden wurde. Diese verhielt sich bislang eher paradox gegenüber diesen Dramen: Tat man sie einerseits als »Shakespeare-Surrogate«1 ab und versuchte man sie damit bewußt von den — sich näher an die Originale haltenden — sogenannten Bearbeitungen abzugrenzen, bezog man sie andererseits gewöhnlich ohne Differenzierung in statistische Aufzählungen von Shakespeare-Aufführungen im 18. Jahrhundert mit ein.2 Um ein umfassendes Bild von der Art und Weise, in der das Stahl (1947), S. 59. Vgl. Anton Pichler, Die Shakespeare-Aufführungen des Mannheimer Hof- und Nationaltheaters 1779-1871. In: Shjb 9 (1874), S. 295-300; sowie: Gisbert Frhr. von Vincke, Zur Geschichte der deutschen Shakespeare-Bearbeitung. In: Shjb 17 (1882), S. 82-99, Hier: S. 84. Vgl. auch: Lawrence F. McNamee, The First Production of Julius Caesar on the German Stage. In: Shakespeare Quarterly, Vol. X (1959), S. 410—421. Hier: S. 410. McNamee zeigt sich hier erstaunt über die ablehnende Haltung des Schauspielers Conrad Ekhof gegenüber Shakespeare, der doch seine größten Erfolge als Richard III. gefeiert hätte, beachtet dabei allerdings nicht, daß es sich bei Ekhofs Rollenverkörperung nicht um Shakespeares Richard, sondern um die Figur aus Christian F. Weißes gleichnamigen Trauerspiel handelte.
Theaterpublikum dieser Zeit mit dem englischen Autor bekannt wurde, zu erhalten, müssen auch diese mehr oder weniger stark auf Shakespeare basierende Dramen in die Analyse integriert werden. Dabei ist zu betonen, daß diese Art der Shakespeare-Adaption keineswegs, wie die in der Forschung übliche, mit den »Surrogaten« beginnende, chronologische Darstellung impliziert,3 von späteren Bearbeitungen, die sich näher an die Prätexte anlehnten, abgelöst wurde. Bei näherer Betrachtung sehen wir einige dieser Dramen, wie Christian Felix Weißes Romeo und Julie, noch bis Ende des Jahrhunderts auf den deutschen Bühnen gespielt, und wissen auch von späteren Versuchen, wie etwa Schinks Die bezähmte Widerbellerin von 1781, den berühmten Autor auf diese Weise für das Theater nutzbar zu machen. Stücke deutscher Autoren, die sich auf Shakespeare gründeten, sind also keineswegs als reine Vorstufen zu textnahen Shakespeare-Bearbeitungen zu deuten. Dabei läßt sich generell feststellen, daß die Grenzen zwischen Bearbeitung, freier Adaption und der Umformung eines Originals zu einem neuen Text als fließend anzusehen sind. So können wir aus der Art und Weise, wie die individuellen Bearbeiter ihre Werke definieren, noch keine Rückschlüsse auf die Nähe der Texte zum Original ziehen. Wenn Franz J. Fischer seine Bearbeitungen mit »von Shakespeare«4 tituliert, so bedeutet dies nicht, daß er weniger Veränderungen an den Prätexten vornimmt als Friedrich L. Schröder, der seine Adaptionen als »nach Shakespeare«5 bezeichnet, oder Johann Fr. Schink, der Die bezähmte Widerbellerin als »frey nach Shakespeare bearbeitet«6 ausweist. Allerdings können wir im Vergleich zu den Bearbeitern, die sich als solche bezeichnen - von den Resultaten ihrer Bemühungen einmal abgesehen —, bei den Autoren, die zwar Handlungselemente von Shakespeare entlehnen, ihre Produkte aber als eigenständige Werke charakterisieren, von einem anderen Selbstverständnis ausgehen: Ihnen geht es offenbar weniger darum, die englischen Schauspiele für die deutsche Bühne des 18. Jahrhunderts tauglich zu machen, vielmehr versuchen sie, die heimische Dramatik unter dem Einfluß Shakespeares um neue Produkte zu bereichern. Es bleibt dabei immer zu bedenken, daß die Konstituierung eines deutschen Nationaltheaters von der Erzeugung geeigneter deutschsprachiger Schauspiele abhing, weshalb die Versuche deutscher Autoren aus einer Quelle »ein ganz neues Stück [...] zu machen«7 im allgemeinen auf Anerkennung
Vgl. Stahl (1947) und Williams (1990). Vgl. Macbeth. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Shakespear. Fürs hiesige Theater adaptirt und herausgegeben von F. J. Fischer. Prag 1777; sowie: Der Kauffmann von Venedig oder Liebe und Freundschaft, ein Lustspiel von Shakespear in dreyen Aurzügen. Fürs Prager Theater eingerichtet, von F. J. Fischer. Prag 1777. Vgl. zum Beispiel: Friedrich Ludwig Schröder, Hamlet, Prinz von Dänemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen nach Shakespeare. Hamburg 1778. Die bezähmte Widerbellerin oder Gasner der zweyte. Ein Lustspiel in vier Akten. Nach Shakespear frey bearbeitet von Schink. Graz 1783. Christian Felix Weiße, Vorbericht zu Romeo und Julie. In: Brüggemann (1937), S. 235-237. Hier: S. 236. Zitate aus Weißes Romeo und Julie werden im folgenden nach Brüggemanns leicht zugänglicher Reedition des Erstdrucks von 1767 zitiert und die jeweiligen Stellenangaben im fortlaufenden Text angegeben.
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stießen, was Weiße wie folgt beschreibt: »[...] unsre Bühnen mußten sich, ausser sehr wenig guten Originalen mit größtentheils mittelmäsigen Uebersetzungen fremder, und hauptsächlich französischer Schauspiele behelfen: ein Versuch [ein deutsches Schauspiel zu schreiben] also, er mochte ausfallen, wie er wollte, war allzeit zu vergeben.«8 Diese Bemühungen im Verhältnis zu Übersetzungen oder Bearbeitungen als minderwertig anzusehen, wie es im 19. und 20. Jahrhundert üblich wurde,9 lag den meisten Zeitgenossen fern — wir wissen umgekehrt von der Kritik an der angeblich zu nahen Anlehnung der Stücke an ihre Vorlage. Besonders positiv wurde Weißes Bürgerliches Trauerspiel, Romeo und Julie aufgenommen. Da es nicht nur das zugkräftigste und zugleich wirkungsreichste Stück dieser Machart war, sondern - sehen wir von Wielands Shakespeare-Bearbeitungen ab — auch das erste uns bekannte Drama ist, bei dem der Autor dezidiert auf den Einfluß Shakespeares hinweist, soll es am Anfang der folgenden Studie stehen.
2.1
»Der deutsche Verfasser hat also ein ganz neues Stück daraus zu machen versucht«: Christian Felix Weißes Romeo und Julie (1767)
Weißes Romeo und Julie ist eine der wenigen Shakespeare-Adaptionen des 18. Jahrhunderts, die in der Forschung verhältnismäßig große Beachtung gefunden hat. Dies resultiert zum einen sicherlich daraus, daß das Stück in der Reedition Fritz Brüggemanns von 1937 verhältnismäßig leicht zugänglich ist,10 zum anderen hängt es mit dem Interesse der Literaturgeschichte an Weiße, dem Jugendfreund Lessings, dem Autor pädagogischer Kinderliteratur, dem Herausgeber der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der zwiespältigen Rolle, die er in der literarischen Fehde zwischen Christian Adolf Klotz und Lessing spielte, zusammen. Dieses Interesse bildete den Impuls für Jakob Minors umfangreiche Studie über diesen produktiven Dichter der Aufklärung," in der auch auf Weißes Romeo und Julie eingegangen wird. Minor hat hier besonders in Hinblick auf die Rezeption des Trauerspiels wertvolles Material zusammengestellt, bewertet das Stück aber nach rein literarischen Kriterien und läßt die Relation der Umarbeitung zur Theaterpraxis außer acht. Die Ausführungen Artur Sauers, Ernst Leopold Stahls, Eduard Mentzels, Walter Hüttemanns, Johanna Grubers und Walter Papes bleiben in ihrem Informationsgehalt allesamt weit hinter Minors 1880 erschienener Studie zurück,12 einzig der Beitrag zu Wei-
Christian Felix Weiße, Vorbericht. In: Ders., Trauerspiele. Karlsruhe 1778, Bd. i, S. II - VII. Hier: S. III. Vgl. Kühn (1909), S. 35; sowie: R. Gericke, Zu einer neuen Bühnenbearbeitung des Macbeth. In: Shjb 6 (1871), S. 19-82. Hier: S. 19. Brüggemann (1937), S. 243-306. So beschäftigt sich Simon Williams detailliert nur mit den Shakespeare-Bearbeitungen des 18. Jahrhunderts, die bei Brüggemann abgedruckt sind. Jacob Minor, Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Innsbruck 1880. Artur Sauers Ausführungen stellen eine simplifizierende Wiederholung von Minors Erkenntnissen dar [Artur Sauer, Shakespeares Romeo und Julia in den Bearbeitungen und Übersetzungen der deutschen Literatur. Diss., Greifswald 1915]; Ernst Leopold Stahls Analyse des Textes erschöpft sich in seiner Definition als einem »im theaterpraktischen Sinn keineswegs ungenutzten Shake-
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ßes Trauerspiel in Simon Williams' Shakespeare on the German Staged der das Stück aus theaterhistorischer Perspektive betrachtet, liefert Einblicke in den Text, die dezidiert über das Reproduzieren von Minors Darstellung hinausgehen. Allerdings muß Williams bei dem geringen Umfang seiner Abhandlung recht allgemein bleiben und kann auf die Entstehung und Rezeption des Stückes, wie auch auf die Interdependenz zwischen Weißes Shakespeare-Auffassung und der literarischen Shakespeare-Debatte, insbesondere den Einfluß Lessings, nicht eingehen. Daher macht auch seine Studie eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Text und vor allem die Darstellung seiner Position innerhalb der deutschen Shakespeare-Rezeption nicht entbehrlich. Christian Felix Weiße ist in der Literaturgeschichte vor allem durch die Kritik Lessings an seinem Trauerspiel Richard III. in der Hamburgischen Dramaturgie zu zweifelhaftem Ruhm gelangt. Das Drama selbst soll hier nicht näher untersucht werden, da der Verfasser eine Beeinflussung durch Shakespeare leugnete'4 und auch seine Zeitgenossen die in Alexandrinern abgefaßte Tragödie gemeinhin nicht als auf Shakespeare basierend auffaßten. Sie wurde zwar häufig mit dem englischen Stück verglichen, dabei aber generell als eigenständiges Produkt gewertet.'5 Die Aufführung des Trauerspiels 1768 in Hamburg ließ Lessing über die Behauptung seines Leipziger Jugendfreundes räsonieren, er hätte das Drama Shakespeares erst gelesen, nachdem er seinen RichardIII. beendet hatte, womit er sich gegen den Vorwurf des geistigen Diebstahls abzusichern suchte. Lessing nahm diese Behauptung zum Anlaß, um die von ihm empfohlene Art der ShakespeareNachahmung darzulegen, was ihn zu der bereits mehrfach zitierten Maxime »Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein« führte. Diesen Gedanken führte er mit folgenden Worten genauer aus: spcare«, ohne diese Angabe jedoch genauer zu spezifizieren [Stahl (1947), S. 59]; Eduard Mentzels Artikel über die Bearbeitung beschränkt sich gar ohne Einbeziehung des historischen Kontexts darauf, despektierlich zu beschreiben, wie »Weiße das Meisterstück Shakespeares vergewaltigte« [Mentzel (1897), Sp. 883]. Walter Hüttemanns knappe Behandlung des Textes [Walter Hüttemann, Christian Felix Weisse und seine Zeit in ihrem Verhältnis zu Shakespeare. Diss., Duisburg 1911] bezieht sich vorrangig auf Weißes Quellen und besteht größtenteils aus einer berechtigten Kritik an Johanna Grubers Aufsatz [Johanna Gruber, Das Verhältnis von Weißes Romeo und Julie-M Shakespeare und den Novellen. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, Bd. 5 (1905), S. 395-438], welcher die motivischen Parallelen in Weißes Werk zu Shakespeare und den Novellen da Portos und Bandcllos detailliert auflistet, nur um zu dem Ergebnis zu kommen, daß das Stück tatsächlich auf Shakespeare basiert, ein »Resultat, [das sich] bei aufmerksamer Lektüre gleich als erster unverwischbarer Eindruck (...) einstellt« [Hüttemann (1912), S. 87). Walter Pape [Walter Pape, Ein billetdouxun die ganze Menschheit. Christian Felix Weiße und die Aufklärung. In: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 17). Heidelberg 1990, S. 267-295. Zu Romeo und Julie. S. 280-282] strebt eine Rehabilitierung Weißes und seines »Verdienst[es] um die Shakespeare-Rezeption in Deutschland« an [Pape (1990), S. 281], konzentriert sich in seiner kurzen Beschreibung des Textes aber weniger auf Weißes Methode der Shakespeare-Nachahmung denn auf die Disposition des Werks als eines Bürgerlichen Trauerspiels. Williams (1990), S. 58-62. Bei Walter Hüttemann findet sich der stichhaltige Nachweis, daß Weiße durchaus Shakespeares Richard III. als Quelle verarbeitet hat; offensichtlich bezog er sich auf die 1755 in den Neuen Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens erschienene Übersetzung einzelner Szenen des Dramas. Siehe: Hüttemann (1912), S. 71-75.
Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks ungefähr wie ein weitläufiges Freskogemälde gegen ein Miniaturbildchen in einem Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze [!] ausführen muß? Ebenso würden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzelnen Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen."5
Hätte Weiße sich laut Lessing auf diese Art von Shakespeare beeinflussen lassen, so hätte er »eben so original« bleiben können, »als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übertragene [!] Gedanke davon gezeugt hätte.«17 Auch wenn Weiße bei seiner Romeo und Julia-Adaption den Forderungen Lessings ebenso wenig gerecht wird wie bei seinem Richard III. - er eignet sich von Shakespeare weit mehr an als »ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe« -,'8 bekennt er sich im Vorwort zu diesem Bürgerlichen Trauerspiel doch zumindest offen zu dem Einfluß Shakespeares. Allerdings sucht er diesen durch die Bezugnahme auf weitere Quellen zu relativieren, denn er schreibt hier, er habe »ein ganz neues Stück daraus [aus Shakespeares Drama} zu machen versucht, und den Bandello und Luigi da Porto«, also die Quellen Shakespeares, »darinnen zu Führern genommen.«19 Daß Weißes Verhältnis zu Shakespeare ein zwiespältiges war, klingt in seinem Schreiben an Johann Peter Uz an, in welchem er tief verletzt über Lessings Kritik an seinem Richard III. konstatiert: »Was thut Lessing bei aller seiner Gelehrsamkeit? gewiß chikanirt und subtilisiret er bisweilen. Shakespeare ist der Maßstab nach dem alles gemessen wird, und mit diesem schlägt er auf jeden los, der nicht das ist, oder sein kann, was jener ist.«zo Im Gegensatz zu Lessing war Weiße weit davon entfernt, Shakespeare als verbindliches Muster zu akzeptieren: Ueberall wird aus vollem Halse Shakespeare geschrieen, und ich möchte doch sehen, wie weit ein neuer Shakespeare käme. So ein großer Verehrer ich von ihm bin, so wollte ich doch darauf wetten, daß wenn wir, wie er, alle Regeln, alle Fesseln der Einförmigkeit abschütteln, und uns unserer ungebundenen Einbildungskraft ohne Ziel und Maß überlassen dürften, wir gewiß oft eben solche launische Auftritte machen könnten. l>
Weiße gibt sich als Verehrer Shakespeares aus, degradiert dessen Werk dabei aber aufgrund seiner unregelmäßigen Form als wenig kunstvoll — eine zwiespältige Einstellung, die wir aus der Diskussion um den Sturm und Drang bereits kennen.21 Weißes Würdi15
Vgl. Lessing im Folgenden und Johann Fr. Schink, DF, Bd. 3 (1782), S. Siyff. LM, Bd. , S. 95f. (= HD, 73. Stück). '7 LM, Bd. , S. 96 (= HD, 73. Stück). 18 LM, Bd. , S. 96 (= HD, 73. Stück). 19 Christian Felix Weiße, Vorbericht zu Romeo und. Julie. In: Brüggemann (1937), S. 236. 10 Weiße an Johann Peter Uz, 15. April 1768. Zit. nach: Minor (1880), S. 204. 71 Weiße an Johann Peter Uz, 19. Dezember 1767. Zit. nach: Ebenda. 22 Weiße wendet diese Anschauung auch auf den Sturm und Drang an, wenn er in Bezug auf Gerstenbergs Ugolino schreibt: »Man stellet sich wahrlich die Sprache und was man sonst darinnen shakespearisch machen will, weit schwerer vor, als sie in der That ist. Sobald ich meiner Einbil16
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gung Shakespeares, die sich bei näherer Betrachtung als reines Lippenbekenntnis entlarvt, vermag zu veranschaulichen, daß die Reverenz vor dem englischen Dichter in den sechziger Jahren bereits eine obligatorische war, wollte man nicht in den Verruf geraten, konservativ und der Gottsched-Schule zugeneigt zu sein. Insgesamt können wir seinen theoretischen Äußerungen zur Reform des deutschen Theaters kein erhebliches persönliches Engagement für Shakespeare entnehmen; wenn er sich den englischen Autor dennoch auf die Fahne schreibt, so geschieht dies in erster Linie als Epigone Lessings.13 Denn Weiße, der in Hinblick auf die Kritik von sich selbst behauptete, »es ist doch kein furchtsamer Geschöpf wie ich«, 24 war in erster Linie darum bemüht, seine am Publikumsgeschmack ausgerichteten Dramen auch literarisch zu legitimieren - was ihm den nicht unberechtigten Vorwurf einbrachte, er habe »allen Partheien nach dem Munde zu reden« versucht.25 So ist die Schilderung seines literarischen Programms als ein Mittelweg zwischen dem englischen und dem französischen Einfluß auch keineswegs originell, reproduziert Weiße dabei doch im Wesentlichen nur den gängigen Kurs innerhalb der mittleren Aufklärung: Würden wir nicht wohl thun, wenn wir zwischen ihnen [den Engländern und den Franzosen} die Mittelstraße nähmen, von beiden lernten, und einen eigenen Weg beträten? Von Engländern könnten wir die großen tragischen Situationen, die Bearbeitung und Abstechung der Charaktere, den edlen kühnen und erhabnen Ausdruck, und die Sprache der Leidenschaften; von Franzosen die Wohlanständigkeit der Sitten, das richtige Verhältnis der einzelnen Theile zum Ganzen, die gezüchtigte und feine Sprache des Hofes, der Gefälligkeit und der Liebe, und endlich die Regelmäßigkeit und Ordnung lernen. Durch eine solche Vereinigung würden wir den Schwulst und das Uebertriebene der einen, und das Leere und Geistlose der ändern, das Zügellose, Unregelmäßige, und oft in eine Wildheit ausartende der Engländer, und das lächerliche, galante, coquettenmäßige und seichte der Franzosen vermeiden.z6
Seinen Bedenken gegenüber Shakespeare und dem »Unregelmäßige[n] 10
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Henry Fielding, The History of Tom Jones, a Foundling, übersetzt von Matthias Arnold Wodarch (1750). Zit. nach: Brunkhorst (1987), S. 153. Vgl. auch seine Äußerung: Wer »über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist« [LM, Bd. 9, S. 19! (= HD, 2. Stück)]. LM, Bd. 9, S. 33. Vgl. auch: Brunkhorst (1987), S. 154. Helferich Peter Sturz, Besuch bei David Garrick (1768). In: Maurer (1992), S. 170—179. Hier. S. 173. Vgl. Brunkhorst (1987), S. 151. Eine verbreitete Rezeption erfuhr Hills Abhandlung durch Diderots Observations sur une brochure intitulee Garrick ou les acteurs anglais. Paris 1770. Vgl. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, 3 Bde. Stuttgart/Weimar 1996, Bd. 2, S. 661. Garrick, oder die engländischen Schauspieler. Ein Werk, das Bemerkungen über das Drama, die Kunst der Vorstellung, und das Spiel der Acteurs enthält. Mit historisch kritischen Anmerkungen und Anekdoten über die verschiedenen Schaubühnen in London und Paris. Uebersetzt von ***. Kopenhagen und Leipzig 1771.
Führung oder die Restriktion mechanisch eingesetzter Gebärden zugunsten einer individuell ausgearbeiteten Rollenauffassung, nicht nur am Beispiel verschiedener ShakespeareRollen ausgeführt,25 die Möglichkeit ihrer Realisierung wird zudem — frei nach Schröders Motto »Shakespeare kam erst, sein Garrick später« — in direkte Korrelation zu Shakespeares Dramen gestellt. Hill zeigt sich besonders beeindruckt von der »klugen Oekonomie« im Dialog Shakespeares, die es dem Schauspieler erschwert, in »lange und prächtige Exclamation«26 zu verfallen und die mimische Vermittlung innerseelischer Vorgänge geradezu provoziert — die immediate Sprache Shakespeares trägt also, wenn der Schauspieler sie zu erschließen versteht, direkt zu einem realistischen Spielstil bei, und es ist sicherlich kein Zufall, daß Garricks Ruhm vornehmlich auf seinen Shakespeare-Rollen basierte. Wir sehen diese Wirkung des Shakespeareschen Textes auch durch Lichtenbergs Beschreibungen seiner Theaterbesuche in den Briefen aus London bestätigt, die 1776 im Deutschen Museum veröffentlicht wurden. 27 Wir können davon ausgehen, daß diese Briefe, die eine beispiellose Apotheose der Schauspielkunst Garricks enthalten, Schröders Ham/ei-Inszenierung unmittelbar beeinflußten, denn er nahm die Arbeit daran nur wenige Wochen nach ihrem Erscheinen auf.28 Lichtenberg liefert, anders als die Reisenden vor ihm, ein faßbares Rollenmodell von Garricks Hamlet, weil er sich jenseits seiner Euphorie für dessen schauspielerische Leistung auch darum bemüht, der Ursache seiner Begeisterung auf den Grund zu gehen.29 Er beschreibt daher nicht nur die Wirkung, die Garricks Rollengestaltung auf ihn ausübte,30 sondern versucht anhand von exakten Beobachtungen ein genaues Bild von dessen Schauspielmethodik zu gewinnen. Am Beispiel des Hamlet seziert er einzelne Handlungsmomente des Künstlers, um plastische Beweise für dessen methodische Innovationen zu geben. Mit diesem empirischen Ansatz entwickelt er ein neues Verfahren der Aufführungsanalyse: die »mimographische Handlungsbeschreibung«,31 die detailliert all die Ausdrucksmittel des Schauspielers schildert, die nicht aktiv vom Text diktiert werden. Es muß nicht betont werden, daß diese Methode besonders geeignet war, um Garricks schauspieltechnische Innovationen darzulegen, wurden diese doch gerade durch den verstärkten Einsatz von nonverbalen Ausdrucksmomenten gekennzeichnet. So schildert Lichtenberg eindringlich die Begegnung Hamlets mit dem Geist: Auf einmal, da Hamlet eben ziemlich tief im Theater, etwas zur Linken, geht und den Rücken nach der Versammlung kehrt, fährt Horazio zusammen: Sehen Sie, Mylord, dort kommt's, sagt er, und deutet nach der Rechten, wo der Geist schon unbeweglich hingepflanzt steht, ehe man
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King Lear, Romeo and Juliet, Henry Kund Othello. Hill/Anonymus (1771), S. 75. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Briefwechsel, hrsg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne, 4 Bde. München 1983, Bd. i (1765 -1779), D 285, S. 546. Und zwar nach seinen Worten am 24. August 1776. Vgl. Friedrich Ludwig Schröder, Vorrede. In: Hamburgisches Theater, Bd. 3 (1778), S. V. Vgl. zu Folgendem: Hoffmeister (1964), S. 58-66. Dafür verweist er übrigens auf »Meister Rebhuns [ = Partridge] vortrefliche Beschreibung im Fündling [=TomJones]«, wobei er betont: »Die meinige soll jene nicht entbehrlich machen, sondern nur erklären« [Lichtenberg (1775/1983), D 285, S. 542]. Hoffmeister (1964), S. 61.
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ihn einmal gewahr wird. Garrick, auf diese Worte, wirft sich plötzlich herum und stürzt in demselben Augenblicke zwey bis drey Schritte mit zusammenbrechenden Knien zurück, sein Hut fällt auf die Erde, die beyden Arme, hauptsächlich der linke, sind fast ausgestreckt, die Hand so hoch als der Kopf, der rechte Arm ist mehr gebogen und die Hand niedriger, die Finger stehen aus einander, und der Mund offen, so bleibt er in einen grossen aber anständigen Schritt, wie erstarrt, stehen [...]; in seiner Miene ist das Entsezen so ausgedruckt [!], daß mich, noch ehe er zu sprechen anfing, ein wiederholtes Grauen anwandelte. [...] So spricht er endlich, nicht mit dem Anfange, sondern mit dem Ende eines Odemzugs und bebender Stimme: Angels and ministers of grace defend us!32
Garrick agiert hier ohne begleitenden Text, er bereitet den Ausruf »Angels and ministers of grace defend us!« mit Gestik und Mimik vor und liefert damit ein mustergültiges Beispiel für das, was Francesco Riccoboni in seiner L'Art du Theatre als stummes Spiel bezeichnet hatte: die aktive Beteiligung des Schauspielers an der Handlung auch dort, wo er selbst nicht spricht.33 Wir sehen aber auch, wie Shakespeares Text diesen Einsatz des stummen Spiels geradezu generiert. Das Geschehen impliziert ja an sich ein physisch sichtbares Erschrecken Hamlets; um mit den Worten Schinks zu sprechen: »Die Erscheinung eines Geistes [...] von all den Umständen begleitet, wie hier [...], kann [...], wenn sie nun auf einmal vor mir daherschreitet, nichts anders, als den äußersten Grad des Entsetzens und Erstaunens in mir erregen.«34 Zudem ist es unvermeidlich, daß der Darsteller des Hamlet sein Grausen augenfällig macht, um beim Zuschauer den unheimlichen Eindruck zu evozieren, der vom Geist ausgehen soll. Garrick löst mit seinem Spiel ein, was Lessing beim Lesen des Textes vorschwebte: Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn [Hamlet\, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerrütteten Gemüts wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerrüttung in ihm verursacht, für eben das zu halten, wofür er sie hält. Das Gespenst wirkt auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet auf uns über, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als daß wir an der außerordentlichen Ursache zweifeln sollten."
Bemerkenswert ist der Kunstgriff des englischen Schauspielers, mit seinem Gang in den Bühnenfond den Blick des Publikums von der Stelle abzulenken, an welcher der Geist kurz darauf erscheint, so daß dieser unbemerkt vom Zuschauer eintreten und einen Überraschungseffekt hervorrufen kann. Um eine möglichst perfekte Illusion zu erzeugen, greift Garrick zu unkonventionellen Mitteln: So wendet er in dieser Szene dem Publikum den Rücken zu - ein offener Affront gegen eine der Grunddoktrinen klassizistisch-französischer Schauspielpraxis. Lichtenberg berichtet auch von Stellen, wo er auf die Verständlichkeit des Textes verzichtet, um den Seelenzustand Hamlets anhand optischer Zeichen
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Lichtenberg (1775/1983), D 285, S. 543.
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Francesco Riccoboni, Die Schauspielkunst (L'Art du Theatre 1750) übersetzt von G. E. Lessing. Angefügt: Friedrich Ludwig Schröder, Auszüge aus Franz Riccobonis Vorschriften über die Kunst des Schauspielers mit hinzugefügten Bemerkungen, hrsg. von Gerhard Piens. Berlin 1954, S. 95. Johann Friedrich Schink, Ueber Brockmanns Hamlet. Berlin 1778, S. 22. LM, Bd. 9, S. 230 (= HD, n. Stück).
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lebendig vermitteln zu können; die korrekte Artikulation wird hier nicht nur zweitrangig, sondern sogar entbehrlich. Bei dem Monolog »O that this too, too solid flesh would melt« kommen ihm so stark die Tränen, daß von den Worten: So excellent a King [...] das letzte ganz verloren [geht]; man sieht es nur an der Bewegung des Mundes, der sich gleich darauf fest und zitternd schliest, um den allzu deutlichen Ausdruck des Schmerzes durch die Lippen, der sich ins unmännliche ziehen könnte, zu hemmen. [...] Am Ende des Monologs mischt sich gerechter Unwille mit seinem Schmerz, und einmal, da sein Arm heftig, mit einem Streich herunterfällt, um einem Wort im Unwillen Nachdruck zu geben, bleibt dieses Wort, unerwartet für den Zuhörer, von Thränen aufgehalten aus, und kömmt erst nach einigen Augenblicken, mit den Thränen zugleich nach [...] Es war unwiderstehlich.36
Mit seinem Verstummen drückt Garrick mehr aus, als die bloße Rezitation des Textes vermitteln könnte. Zudem kommentiert er mit seinem physischen Ausdruck nicht nur den Text, sondern zeigt den inneren Konflikt der Figur, die mit höchst unterschiedlich gelagerten Emotionen wie Trauer, Wut und Selbstverachtung kämpft. Diese Darstellung einer ganzen Palette von Gefühlen zieht den Zuschauer in seinen Bann, weil sie psychologisch genau motiviert ist. Hierin sieht Lichtenberg auch die Hauptursache für die Illusionswirkung von Garricks Darstellung. Er betont mehrfach, daß dessen Realismus nicht allein auf dem Einsatz eines normierten Ausdrucksrepertoires basiere; wer mechanischunreflektiert seine Gesten nachahme, ahme nur »das Phantom« nach, bleibe aber »dem ohngeachtet weit unter dem wahren Original.«37 Das Ingenium Garricks liegt für Lichtenberg vornehmlich in dessen Studium der Menschen jeglicher sozialer Herkunft, in der kontinuierlichen Beobachtung des menschlichen Verhaltens in allen Lebenslagen: »Der Mensch lag seinem beobachteten Geiste offen, von dem ausgebildeten und ausgekünstelten in den Sälen von S. Jame's an, bis zu den Wilden in den Gahrküchen von S. Gile's.«38 Weil Garrick im realen Leben genau erforscht, wie der Mensch in den verschiedensten Situationen reagiert, kann er diese Erfahrungen auf seine Rollen übertragen. Weil er beobachtet, wie sich verschiedene Stimmungen im physischen Ausdruck des Menschen spiegeln, kann er diesen Ausdruck - mithilfe seiner absoluten Körperbeherrschung — auf der Bühne exakt kopieren. Dadurch erreicht er allein mit seiner Körperhaltung einen hohen Eindruck an Natürlichkeit, der von der gravitätisch-steifen Bewegungstechnik anderer Schauspieler deutlich absticht: »er geht und bewegt sich unter den übrigen Schauspielern, wie der Mensch unter Marionetten.«39 Weil er in seinen Rollen als Mensch aus Fleisch
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Lichtenberg (1775/1983), D 286, S. 5491". Lichtenberg (1775/1983), D 285, S. 544. Vgl. auch seinen Kommentar: »Man hat mich einmal versichern wollen, daß hier ein Mann an einem Werk für die Schauspieler arbeite, das Regeln enthalten soll, von Garricken abstrahirt, aber durch Philosophie auf Grundsätze zurückgebracht, verbunden und geläutert. Ich habe nachher nichts wieder davon gehört. Wenn es an dem ist, so gebe der Himmel, daß der Mann ein Lessing ist, aber die sind leider! hier so selten in Deutschland.« [Lichtenberg (1775/1983), S. 538]. Lichtenberg (1775/1983), S. 541. Lichtenberg (1775/1983), S. 539.
und Blut erscheint, realisiert sich bei seinen Vorstellungen Lessings Postulat vom Mitleiden der Zuschauer: »Man sieht ernsthaft mit ihm aus, man runzelt die Stirne mit ihm, und lächelt mit ihm.« 40 Lichtenberg ist der Ansicht, daß auch andere Schauspieler Garricks »Gabe, alles zu individualisieren«, bis zu einem gewissen Grad lernen könnten, wenn sie ihre »Aufmerksamkeit nicht auf Schauspieler, sondern auf Menschen in Geselkchaft«*1 lenken würden, denn nur auf diese Weise könnten sie vom mechanischen Einsatz schematischer Gebärden und Mienen zu einer individuellen Rollenauffassung gelangen. Im Kontext von Garricks empirischer Naturnachahmung erwähnt Lichtenberg auch einen anderen englischen Künstler, der in seinen Augen nach derselben Methode arbeitete: William Shakespeare. Wenden wir uns wieder zurück nach Hamburg. Obgleich der Name Garrick zu Beginn von Schröders Prinzipalschaft also bereits als locus communis für eine geniale und vor allen Dingen erstaunlich realistische Schauspielkunst gehandelt wurde, benutzt dieser ihn im Prolog zu Emilia Galotti nicht nur als Chiffre für die intendierte mustergültige Leistung seiner Truppe. Vielmehr ist der Name Garrick hier tatsächlich Programm: Die Dominanz mimischer und gestischer Aktion über die reine Deklamation, gepaart mit dem Anspruch, »den billigen Forderungen des Menschenkenners«42 gerecht zu werden, bildete auch für Schröder die Quintessenz seines schauspielerischen Schaffens.43 Im Zusammenhang mit Garricks Hamlet-Darstellung äußerte er sich, lange bevor er die Rolle selbst verkörperte, über die mediale Funktion der Schauspielerkunst folgendermaßen: »Wehe dem Schauspieler, wenn, statt mit Tränen im Auge oder Lächeln auf den Lippen wortlos das Theater zu verlassen, der Zuschauer sagt: >Das Stück ist schön geschrieben!* Dann war es eine Lesegesellschaft die er verlassen hat.«44 Die Einlösung des Lessingschen Mitleidspostulats ist für Schröder eng mit der schauspielerischen Leistung verknüpft: Durch die schauspielerische Veranschaulichung innerseelischer Vorgänge kann und soll beim Zuschauer die emotionale Anteilnahme am Geschehen geweckt werden, die über die Rezeption des Textes als literarischem Kunstwerk hinausgeht. Für Schröder liegt die elementare Funktion des Schauspielers in der effektiven Verkörperung des Drameninhalts, und zwar über die Rezitation des Textes hinaus, die die Empathie des Zuschauers zu wekken vermag. Schröders starke Fokussierung auf die eloquentia corporiswar freilich auch innerhalb Deutschlands durch die vorangegangene Schauspielergeneration vorbereitet worden. Im
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Lichtenberg (1775/1983), S. 540. Lichtenberg (1775/1983), S. 553. Meyer (1819), Bd. i, S. 338. Die frappierenden Parallelen in Schröders und Garricks künstlerischem Werdegang suggerieren, daß Schröder hierin mehr oder minder bewußt seinem englischen Vorbild folgte. Zwar läßt die Tatsache, daß Schröder, wie Garrick, am Anfang seiner Bühnenkarriere eine tänzerische Laufbahn anstrebte und als Schauspieler erst in komischen Rollen reüssierte, bevor er sich dem tragischen Fach zuwandte, noch keine Schlüsse auf eine bewußte Nachfolge zu. Doch könnte Schröders Entschluß, wie Garrick zuerst den Geist des alten Hamlet zu spielen, bevor er sich an die Rolle des Protagonisten wagte, durchaus mit Blick auf den Engländer erfolgt sein, ebenso wie die Wahl anderer Shakespeare-Rollen, wie die des Lear, lago, Macbeth, Benedick und Falstaff. Schmidt (1875), Teil 2, S. 136.
Zusammenhang mit den Forderungen der bürgerlichen Theaterreformer nach einer imitatio naturae auf der Bühne, die sich am neuen empirischen Naturbegriff orientierte, 45 hatte sich bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Wandel fort von der an der Alexandrinertragödie ausgerichteten deklamatorischen Spielmanier hin zu einem neuen wirklichkeitsnahen Darstellungsmodus angebahnt, der ja auch für die szenische Vermittlung der bürgerlichen Dramatik obligat war.40 Doch selbst Conrad Ekhof, der Hauptrepräsentant dieser Übergangsphase, der die Körpersprache als Gestaltungsmittel eindrucksvoll einzusetzen verstand,47 hatte, gemessen an dem Realismus, den Schröder antizipierte, zu viel »Gesuchte[s], Überstudierte[s], Gezierte[s]« an sich, wollte zuweilen »zu viel malen, zuviel ausdrücken.«48 Insgesamt war er in Schröders Augen noch zu sehr von der französischen Schule geprägt, um für ihn mehr sein zu können als »der größte TheaterrasfeiT, den wohl je eine Nation gehabt.« Den Seitenhieb, den dieses recht fragwürdige Kompliment gegen Ekhof enthält, pointiert Schröder noch mit den Worten: »er wäre sicherlich als Schauspieler ebenso groß gewesen, hätte ihm die Natur einen bessern Körper gegeben, hätte er nie französisches Theater gesehn.«^ Tatsächlich bedingte die Priorität der Deklamation bei Ekhofs Rollengestaltung auch dessen negative Haltung zu einer möglichen Darstellung Shakespeares auf der deutschen Bühne. Gegenüber August W. Iffland soll er sich zu diesem Thema folgendermaßen geäußert haben: Das ist nicht, weil ich nichts dafür empfände, oder nicht Lust hätte, die kräftigen Menschen darzustellen, die darin aufgestellt sind, sondern weil diese Stücke unser Publikum an die starke Kost gewöhnen und unsere Schauspieler gänzlich verderben würden. Jeder, der die herrlichen 45
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Vgl. hierzu: Erika Fischer-Lichte, Entwicklung einer neuen Schauspielkunst. In: Wolfgang F. Bender (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, S. 51-70. Vgl. Alexander Kosenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. n). Tübingen 1995. So zeigte sich Friedrich Nicolai von seiner Vermittlung innerer Aktion durch die Geste in der Rolle des Odoardo begeistert: »da Marinelli endlich die Stirn hat, zu sagen: >Er habe Verdacht, daß ein Nebenbuhler des Grafen Appiani ihn habe aus dem Weg räumen lassen«, so verliert Odoardo alle Fassung, sträubt sich aber doch, es nicht merken zu lassen, so daß er halb und halb im Hinbrüten ist. Hier fing Ekhof abermals das gleichsam bewußte Zupfen am Federhute an, und als Odoardos innerer Unwillen, den er doch verbergen muß, aufs höchste stieg, [...] pflückte Ekhof konvulsisch eine einzelne Feder aus der Hutbesetzung. Alles war in seinem Spiel so zusammenstimmend, seine inneren Empfindungen entwickelten sich durch kleine äußere Bewegungen so übereinstimmend, daß bei dem Herausreißen dieses Federchens den Zuschauer ein kalter Schauer unterlief.« [zit. nach: Monty Jacobs (Hg.), Deutsche Schauspielkunst. Zeugnisse zur Bühnengeschichte klassischer Rollen. Berlin 1954, S. 62). Johann F. Schink, zit. nach: Garla Pietschmann, Konrad Ekhof. Theatcrwissenschaftliche Rekonstruktion einer Schauspielerpersönlichkeit aus dem 18. Jahrhundert. Diss., Berlin 1956, S. 245. Meyer (1819), Bd. i, S. 143 (Hervorhebung, R.H.). Obwohl auch persönliche Animositäten in Schröders kritischer Beurteilung Ekhofs mit im Spiel gewesen sein dürften, so ist doch unbestritten, daß der auf eine Harmonie der Gestaltung ausgerichtete Spielstil des Älteren »immer noch ausgesprochen stilisiert wirkte, wenn man [ihn] mit der veristischen, auf direkteste Lebensnachahmung ausgehenden Darstellungsweise Schröders vergleicht« [Heinz Kindermann, Konrad Ekhofs Schauspieler-Akademie (Sitzungsberichte der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Bd. 203, Heft 2). Wien 1956, S. 63f.].
Kraftsprüche sagt, hat dabei auch gerade nichts zu tun als daß er sie sage. Das Entzücken, das der Schauspieler erregt, erleichtert dem Schauspieler alles. Er wird sich alles erlauben und ganz vernachlässigen.50
Ekhofs Vorbehalte gegen Shakespeare-Aufführungen in Deutschland sind demnach vorrangig theaterpädagogischer Natur. Analog zu Lessings resigniertem Resümee aus den Erfahrungen der Hamburger Entreprise: »Wir haben Schauspieler, aber keine Schauspielkunst«,51 strebte er die Ausformung einer »Gramatik der Schauspielkunst« an.'1 Den bis dahin weitgehend autodidaktisch arbeitenden Akteuren sollte ein methodisches System an die Hand gegeben werden, das es ihnen ermöglichte, sich »mit den Mitteln bekannter machen, durch deren Anwendung wir zu der Fähigkeit gelangen, die Ursachen von allem einzusehen, nichts ohne hinlänglichen Grund zu reden noch zu thun, und den Namen eines Freykünstlers mit Recht zu verdienen.«53 Der vermeintliche Automatismus bei der Darstellung Shakespeares mußte ihm in Hinblick auf diese Zielsetzung kontraproduktiv erscheinen. Dabei ist es allerdings bezeichnend, daß Ekhof in erster Linie von der Wirkung des Textes auf die Deklamation ausgeht - also von dem, was der Schauspieler sagt, nicht von dem, was er auf der Bühne tut. Schröder hingegen sah bei der Darstellung Shakespeares den Einsatz kinesischer Zeichen beim Schauspieler stimuliert. Suaden, die die Gefühlslage der Figuren expressis verbis mitteilten, liefen seinem Spielstil zuwider, bei dem es nicht darauf ankam, »zu schimmern und zu glänzen, sondern auszufüllen und zu sein.« Deshalb sprach er davon, daß ihn »manche sehr bewunderte und dichterisch glänzende Stelle Kampf und Anstrengung kostet[e], um sie mit der Natur auszugleichen.« 54 Bei Shakespeare hingegen, wo die innere Gefühlslage der Figuren oftmals nicht explizit geäußert wird, konnte er seinem Anspruch, den Text auszufüllen, leichter gerecht werden. Für ihn bedeutete es eine künstlerische Herausforderung, daß der Schauspieler bei Shakespeare gleichsam gezwungen ist, den Subtext des Dialogs über Mimik und Gestik zu vermitteln, daß er sich aus der Kenntnis des gesamten Stücks die Leerstellen im Text erschließen und sie durch außersprachliche Zeichen komplementieren muß, um die innere Handlung anschaulich zu machen. Schröder äußerte in diesem Zusammenhang, daß ihm »der Natursohn Shakespeare alles so leicht und so zu Dank machfe]«, 55 und man hat hierin eine gewisse Affinität zu Ekhofs Urteil gesehen. Doch wenn man ihren Kontext berücksichtigt, ist die Bemerkung keineswegs in dem Sinne zu verstehen, daß sich das Spiel des Akteurs bei der Vorstellung von Shakespeares Dramen gleichsam verselbständige.50 Denn Schröder formulierte sie im 50
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August Willhelm Iffland, Ueber meine theatralische Laufbahn (1798), hrsg. von Eduard Scharrer-Santen. Leipzig (Reclam) 1915, S. 6jf. LM, Bd. , S. zu (= HD, 104. Stück). Vgl. hierzu: Wolfgang F. Bender, Vom »tollen Handwerk« zur Kunstübung. Zur »Gramatik« der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart. 1992., S. 11-51. Zit. nach Bender (1992), S. 18. Meyer (1819), Bd. i, S. 338. Meyer (1819), Bd. i, S. 338. Simon Williams geht nach meiner Ansicht nicht genügend auf den Kontext dieser Bemerkung Schröders ein, wenn er aus ihr schließt: »He echoed Ekhofs opinion on the English playwright,
Zusammenhang mit seiner Proklamation einer individuellen Rollengestaltung. Nach seiner Ansicht sollte der Schauspieler als kongenialer Partner des Dramatikers jeden Charakter so [auffassen^, daß sich ihm nichts Fremdes beimischt, daß er nicht blos an eine allgemeine Gattung mahnt, sondern sich auch von seinen Verwandten durch eigentümliche Züge unterscheidet, die er aus seiner Kunde herausnimmt, um den Wünschen des Dichters zu entsprechen. Das unterscheidet den Schauspieler vom guten Vorleser oder Declamator.57
Aus dieser Perspektive waren Shakespeares Figuren schon deshalb dankbare Rollen, da sie - selbst in modifizierter Form - das konventionelle Rollenfach sprengten. Der Schauspieler konnte hier schwerlich in die gängige Praxis verfallen, einfach ein vertrautes Rollenstereotyp zu variieren, sondern mußte sich notgedrungen mit komplexeren Formen psychologisierender Charakterdarstellung auseinandersetzen. Daß dies für diejenigen Akteure, die sich noch in der Tradition einer schematisch-outrierten Spielweise bewegten, nicht unproblematisch war, wurde bereits im Zusammenhang mit der Präsentation der freien Shakespeare-Bearbeitungen ersichtlich. Für Schröder sollte die Darstellung von Shakespeares Figuren aber ein probates Mittel zur Realisierung seiner individualisierenden antideklamatorischen Spielweise bedeuten, zu deren Entwicklung zweifellos auch die Prosa der Shakespeare-Übersetzungen Wielands und Eschenburgs maßgeblich beitrug. Gerhard Müller-Schwefe hat im Zusammenhang seiner Analyse des Hamlet-Textes als eines theatralischen Codes generell festgestellt, daß der »im Gedächtnis haftende Effekt« häufig zitierter Stellen des Werks »offenbar nicht oder nicht vornehmlich auf dem Wortinhalt [basiert], sondern [...] ganz wesentlich auf der nach dem Text als theatralischer Partitur hervorgebrachten Wirkung, die die Zuschauer durch Mimik, Gestik, Bewegung und andere akustische und visuelle Mittel beeindruckte.«58 Zweifellos war Schröders Zugang an einen zu spielenden Dramentext von der Auffassung des Werkes als theatralischer Partitur geprägt. Eine Äußerung F.L.W. Meyers vermag an dieser Stelle zu dokumentieren, wie sehr Schröders Fokussierung auf die nonverbalen Ausdrucksmittel ihm bei der Verkörperung von Shakespeare-Rollen zupaß kam. Meyer hatte sowohl Ekhof als auch Schröder in der Rolle des Geistes im Hamlet gesehen und schildert die Divergenz im Spielstil der beiden, die in dieser Rolle deutlich zutage trat, folgendermaßen: »[EkhofJ sprach sie [die Rolle] nicht schlechter als Schröder. Aber sich so geistermäßig zu benehmen, war ihm nicht gegeben.«59 Weitere Zeitzeugen bestätigen die suggestive Kraft von Schröders Darstellung des Geistes, »dessen lange, hagere Gestalt und hohler Grabton den Hörern die Haare, wie die Stacheln des ergrimmten Igels, emporstehen machten.«00 Das
though in a far more positive sense, when he claimed that Shakespeare caused him lirtle trouble [...]« [Simon Williams, German Actors of the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Idealism, Romanticism, and Realism (Contributions in Drama and Theatre Studies, Nr. 12). Westport und London 1985, S. 59]. 57 Meyer (1819), Bd. i, S. 338. 58 Gerhard Müller-Schwefe, Corpus Hamleticum. Tübingen 1987, S. i. 59 Friedrich L. W., Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers, 2 Teile. Hamburg 1819, Bd. i, S. 291. 60 Joseph Lange, Biographie des Joseph Lange, k. k. Hofschauspielers. Wien 1808, S. 97.
anschaulichste Dokument für die intensive Wirkung, die Schröder in dieser Rolle erreichte, liefert uns der Wiener Schauspieler Johann H. F. Müller, der nach Hause berichtete: »[Schröder], ein langer hagerer Mann, spielte die untergeordnete Rolle des Geistes mit einer Täuschung, die Schaudern erregte. Er ging nicht — er schien zu schweben. Ein dumpfer hektischer Ton, den er angenommen hatte und bis ans Ende beibehielt brachte eine ungemein gute Wirkung hervor.«01 Daß Schröders illusionistischer Spielstil sich selbst von den anderen Mitgliedern seiner Truppe abhob, vermögen folgende von seinem Biographen überlieferte Anekdoten zu illustrieren. Die eine gibt die Äußerung wieder, die Lessings Freund, der Hamburger Arzt Johann Hinrich Reimarus (der Sohn des Philosophen), anläßlich der Vorstellung des Hamlet m Hamburg getroffen haben soll: »Auf den Geist seht! Den Geist bewundert! Der kann mehr als die Ändern zusammen!«62 Die andere greift den aus der Garrick-Kritik bereits bekannten Topos der durch die körperliche Beredsamkeit des Schauspielers ermöglichten nonverbalen Kommunikation auf, wenn Meyer berichtet: >»Was der lange Mann will< — sagte mir ein Engländer, der kein Wort Deutsch verstand [...],- >was der lange Mann will weiß ich sehr gut; die ändern geben mir Rätsel auf.