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German Pages 660 [662] Year 2017
Christian Sieg Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 146
Christian Sieg
Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion
Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990
ISBN 978-3-11-052160-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052807-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052651-6 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dank Die vorliegende Studie wurde 2015 vom Fachbereich Philologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen und entstand am Exzellenzcluster ‚Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne‘. Sie ist das Ergebnis einer intensiven interdisziplinären Auseinandersetzung und ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Clusters für die fruchtbare Zusammenarbeit in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen sowie im Rahmen von Workshops und Konferenzen bedanken. Mein ganz besonderer Dank gilt dabei Martina Wagner-Egelhaaf, die mich in unserer langjährigen Zusammenarbeit stets unterstützt hat und mir im persönlichen Gespräch immer wieder wichtige Anregungen geben konnte, die in diese Studie eingeflossen sind. Profitieren durfte ich außerdem von der diskussionsfreudigen und kollegialen Atmosphäre am Lehrstuhl Wagner-Egelhaaf: Julia Bodenburg, Katharina Grabbe, Innokentij Kreknin, Matthias Schaffrick, Christian Schmitt und Kerstin Wilhelms haben in konstruktiven Debatten sehr zum Gelingen dieser Studie beigetragen. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich den Gutachterinnen und Gutachtern dieser Studie: Cornelia Blasberg, Klaus-Michael Bogdal, Thomas Gutmann und Martina Wagner-Egelhaaf. Ihre produktive Kritik habe ich in der Überarbeitung des Manuskripts aufgenommen. Unterstützung habe ich zudem von vielen studentischen Hilfskräften erfahren. Mein Dank geht hier insbesondere an Carina Wobbe, Hanna Goyer, Anna Hüsch und Leonie Schnüttgen. Für seine Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts danke ich Wolf Wellmann. Auch finanziell wurde dieses Buch vom Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘ unterstützt; dafür danke ich dem Vorstand ganz herzlich.
Inhalt Verzeichnis der Abkürzungen Einleitung I
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Autorschaft aus literatursoziologischer Sicht 18 Legitimationsstrategien im literarischen Feld: Autorschaft und Autorität 22 Die Temporalität von Autorschaft 26 30 Die Inszenierung von Autorschaft Zur Historisierung der Methode: Autorschaft und Autonomie 33 Autorschaft und die Grenzen des literarischen Felds 38 42 Politische Autorschaft Literarische Texte und Konsekrationsinstanzen des literarischen Felds 45 Schreiben im Auftrag der ‚jungen Generation‘: Politische Autorschaft im literarischen Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit 47 50 Die Innere Emigration als Gegner politischer Autorschaft . Religion in den Autorschaftsinszenierungen der Inneren Emigration 51 . Preisgekrönte Autorschaften der Inneren Emigration 57 64 . Der Nihilismusvorwurf an die ‚junge Generation‘ Autorschaft im Namen der ‚jungen Generation‘ 67 Zwischenfazit: Generation und Habitus 77 Die westdeutsche Literaturkritik nach 1945: Friedrich Sieburg, Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen 82 . Drei Gegenspieler der ‚jungen Generation‘ 85 . Verhältnis zur Inneren Emigration 93 Fazit: Literaturkritik und Autonomieästhetik 97
III Schreiben, um zu mahnen: Heinrich Böll und Paul Schallück als ‚Gewissen der Nation‘ (1953 – 1963) 99 Autorschaft in Bölls Romanen zwischen 1951 und 1963 105 . Und sagte kein einziges Wort: Autorschaft im Namen der sozial und 106 religiös Marginalisierten . Haus ohne Hüter: Vom Scheitern einer Autorschaft 110 . Billard um halb zehn: Eine Rhetorik des Leidens 113
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Inhalt
. Ansichten eines Clowns: Der Autor als Ärgernis 120 129 . Bölls Autorschaft im Roman Bölls essayistische Schriften und Reden in den 1950er-Jahren 131 . Opfer überall! – Die Religion und Bölls Erinnerungspraxis 132 . Schuldanerkennung als Beichte 137 142 . Realismus als religiöse Aufgabe . Böll als ‚Gewissen der Nation‘ 145 152 . Essays und Reden zwischen Religion und Politik Dokumentation: Bölls Autorschaft im Urteil der Literaturkritik 153 . Und sagte kein einziges Wort 156 159 . Haus ohne Hüter . Irisches Tagebuch 160 . Billard um halb zehn 162 168 . Ansichten eines Clowns . Rezeption im Spannungsfeld von Religion und Politik 174 Schallücks Werk in den 1950er-Jahren im Vergleich 176 . Die existentielle Thematik der drei Romane aus den Jahren 1951 – 179 1954 . Schallücks essayistische Positionsbestimmungen 184 . Endlich Erfolg: Engelbert Reineke 187 . Dokumentation: Schallücks Romane im Urteil der 197 Literaturkritik Fazit: Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘ 206
IV Schreiben, um zu lästern: Arno Schmidt und Günter Grass als Blasphemiker (1953 – 1963) 214 Günter Grass: Der „Hai im Sardinentümpel“ 215 . Die Blechtrommel: Dissonante Töne gegen das Vergessen 221 . Katz und Maus: Vom Scheitern eines Autorschaftsmodells 246 . Hundejahre: Ein Kranz für den Nihilismus 257 . Dokumentation: Grass’ Autorschaft im Urteil der zeitgenössischen Rezeption 275 . Grass’ Autorschaft und die Dynamik des Skandals 300 Arno Schmidt: Der „Hecht im Karpfenteich“ 303 . Seelandschaft mit Pocahontas: Keine Theodizee 309 318 . Aus dem Leben eines Fauns: Mit der Faust geschrieben . Das steinerne Herz: Vom Nutzen und Nachteil des kalten Herzens 328 . Dokumentation: Zur Rezeption Arno Schmidts zwischen 1953 und 1956 335
Inhalt
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. Schmidts Autorschaft: contradico ergo sum 347 Fazit: Blasphemie und Autorschaft
344
Schreiben, um sich zu opfern: Authentische Autorschaft und das Leiden an der Gesellschaft (1973 – 1977) 354 Tod und Nachleben der Literatur: Zur Vorgeschichte authentischer Autorschaft 362 . Die Dokumentarliteratur: Misstrauen gegenüber dem Literarischen 365 373 . Kulturrevolution: Das Subjekt als politischer Faktor Autorschaft nach der Revolte: Das Literaturmagazin und die Authentizität 379 Authentische Autorschaft und ihre Rezeption durch die 396 Literaturkritik . Karin Strucks Klassenliebe: Vom Wunsch, Autorin zu sein 398 . Maria Erlenbergers Der Hunger nach Wahnsinn: Das Protokoll einer 410 Selbstopferung . Fritz Zorns Mars: Krankheit als Strafe 419 . Bernward Vespers Die Reise: Die Hoffnung auf Erlösung 435 . Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte: 457 Schwierigkeiten beim Schreiben des Selbst Fazit: Authentische Autorschaft als Opfergang 475
VI Schreiben, um die Zukunft zu offenbaren: Prophetie und Apokalypse in 491 der Literatur der 1980er-Jahre Methodische Vorbemerkung: ‚Weltuntergang‘ oder ‚Apokalypse‘? 495 Feldbeobachtungen: Die Literatur der 1980er-Jahre im Zeichen der Endzeit 499 Christa Wolfs Kassandraruf: Erzählung und Vorlesungen 509 . Prophetie und Authentizität 510 . Dokumentation: Kassandra im Urteil der Literaturkritik 525 Günter Grass als Prophet des Weltuntergangs 529 . Grass’ Weltuntergangsvisionen in Essays und Reden 532 . Die Rättin: Schreiben in der Tradition der Apokalyptik 535 . Dokumentation: Die Rättin im Urteil der Literaturkritik 553 Fazit: Autorschaft und Apokalypse 557 Schlussfolgerungen Literatur
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Personenregister
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Verzeichnis der Abkürzungen AeC Bhz HoH KeW ESG HnW DB DRä H KuM ER Azl ALF DsH SmP Kl DR K M
Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns Heinrich Böll: Billard um halb zehn Heinrich Böll: Haus ohne Hüter Heinrich Böll: Und sagte kein einziges Wort Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte Maria Erlenberger: Der Hunger nach Wahnsinn Günter Grass: Die Blechtrommel Günter Grass: Die Rättin Günter Grass: Hundejahre Günter Grass: Katz und Maus Paul Schallück: Engelbert Reineke Paul Schallück: Wenn man aufhören könnte zu lügen Arno Schmidt: Aus dem Leben eines Fauns Arno Schmidt: Das steinerne Herz Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas Karin Struck: Klassenliebe Bernward Vesper: Die Reise Christa Wolf: Kassandra Fritz Zorn: Mars
Einleitung Das politische Engagement von deutschen Autorinnen und Autoren nach 1945 hat einprägsame Bilder hinterlassen. Sie zeigen Heinrich Böll inmitten einer Demonstration gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mutlangen, Günter Grass im Kampf gegen die Lagerung von Atommüll in Gorleben oder Christa Wolf, wie sie auf dem Alexanderplatz für den friedlichen Dialog eintritt. Die nachdrücklichen Interventionen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in die politischen Debatten der Bundesrepublik und der DDR haben mitunter dazu geführt, die Politik ihrer literarischen Werke mit der Politik ihres intellektuellen Engagements zu identifizieren. Manifest wird eine solche Tendenz in literaturhistorischen Darstellungen, die sich in erster Linie auf das Sujet der Werke konzentrieren und diese selbst als „erzählte Zeitgeschichte“¹ begreifen. Es fragt sich jedoch, ob das Politische der Literatur ausschließlich in ihrem Diskursbeitrag zum politischen Zeitgeschehen besteht. Diese Studie wendet den Blick von den Bildern politisch engagierter Autorinnen und Autoren ab und untersucht stattdessen, welches ‚Bild‘ die literarischen Texte selbst von politischer Autorschaft zeichnen. Dabei werden nicht Selbstdarstellungen und Vermarktungsstrategien von Autorinnen und Autoren fokussiert, die ihre Person in den Mittelpunkt rücken, sondern Motive, Narrative und Diskurse, die dem Schreiben politische Signifikanz zusprechen, kurz: politische Autorschaftsmodelle.² Den Ausgangspunkt bildet die Hypothese, dass die politische Dimension der ‚engagierten Literatur‘ sich nicht vorrangig in ihrer Beteiligung an politischen Debatten zeigt, sondern in der Inszenierung von Autorschaft. Diese muss als eine genuin literarische Praxis verstanden werden, die nicht den Spielregeln des politischen Felds folgt, also weder tagespolitische Forderungen stellt noch sich parteiideologisch verortet, aber gleichwohl politische Bedeutsamkeit für sich reklamiert. Die Literatur von Au Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 12.) 2., aktualisierte u. erw. Aufl. München 2006, S. 179. Den gleichen Begriff nutzt Ralf Schnell in: Wolfgang Beutin u. a. (Hgg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8., aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart 2013, S. 606. Für den Begriff ‚Autorschaftsmodell‘ vgl. Torsten Hoffmann, Daniela Langer: Autor. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Stuttgart 2007, S. 131– 170. In der Forschung wird auch der Begriff ‚Selbstbild‘ genutzt, um die Inszenierung von Autorschaft zu untersuchen.Vgl. Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 140.) Berlin 2015, S. 36; Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. 2., erw. Aufl. Heidelberg 2007, S. 194– 198. Präziser bestimmt wird der Begriff ‚Autorschaftsmodell‘ im ersten Kapitel. Vgl. S. 18 – 46. DOI 10.1515/9783110528077-001
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Einleitung
toren wie Heinrich Böll und Günter Grass oder Autorinnen wie Karin Struck und Christa Wolf inszeniert Autorschaft als politische Einspruchsinstanz gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Die hier verfolgte Analyse der Sprechposition, die sich politische Autorinnen und Autoren in ihren Texten zuschreiben, unterscheidet sich im Erkenntnisinteresse von den vielen wichtigen diskursanalytischen Studien der letzten Jahrzehnte, in denen die politischen Themen und Motive literarischer Texte im Vordergrund stehen. Präsentieren diese Arbeiten oftmals literaturhistorisch relevante Längsschnitte durch die Literatur nach 1945 und beleuchten somit mitunter die über Jahrzehnte andauernde Persistenz mancher Diskurse,³ so können in der vorliegenden feldanalytisch ausgerichteten Studie nur einzelne Querschnitte durch die Literaturlandschaft vorgenommen werden. Fokussiert wird beispielsweise nicht darauf, dass sowohl Heinrich Böll in den 1950er-Jahren als auch Bernward Vesper in den 1970er-Jahren den Nationalsozialismus thematisieren. Vielmehr steht die Funktion im Vordergrund, die eine solche Thematisierung für die Inszenierung von Autorschaft hat: Wie können Autorinnen und Autoren für ihr Schreiben politische Relevanz beanspruchen? Eine Bestandsaufnahme des Politischen in der Literatur muss unvollständig bleiben, wenn sie allein danach fragt, zu welchen politischen Themen die Literatur Stellung bezieht. Politisch ist auch die Zuschreibung einer gesellschaftlichen Funktion, die durch die Inszenierung von Autorschaft erfolgt. Autorschaftsmodelle zielen darauf, Literatur zu legitimieren und greifen zu diesem Zweck auf gesellschaftlich anerkannte Kulturmuster zurück. Das gilt auch für politische Autorschaftsmodelle, wobei diese, wie sich zeigen wird, nicht notwendigerweise auf politische Diskursmuster zurückgreifen müssen. Während Literatur im Laufe ihrer Geschichte mit verschiedenen Autorschaftsmodellen vom vates bis zum
So verweist eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Darstellungen auf die literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die bereits in den 1960er-Jahren einsetzte und bis heute anhält. Beispielhaft seien genannt: Cornelia Blasberg: Geschichte als Palimpsest. Schreiben und Lesen über die „Kinder der Täter“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), H. 3, S. 464– 495; Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001; Stephan Braese (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt am Main 1998. Auch die Geschichte des literarischen Antisemitismus nach 1945 ist untersucht worden: Klaus-Michael Bogdal u. a. (Hgg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart 2007. Den Diskurs über ‚Flucht und Vertreibung‘ untersuchen: Louis F. Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachtkriegszeit. (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 3.) 3., um den aktuellen Forschungsstand und ein Register erg. Aufl. Wiesbaden 1996; Friederike U. Eigler: Heimat, Space, Narrative. Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion. Rochester 2014.
Einleitung
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poète maudit legitimiert wurde, bezieht sich politische Autorschaft im deutschsprachigen literarischen Feld zwischen 1945 und 1990 auf religiöse Motive, Narrative und Diskurse. Anstatt hieraus auf ein religiöses Fundament politischer Autorschaft zu schließen, soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Inszenierung von Autorschaft am Modell religiöser Kommunikationsformen eine andere Form politischer Vergemeinschaftung fordert. Die von der Forschung bisher ignorierte, gleichwohl aber konstitutive Funktion der Religion für die Inszenierung politischer Autorschaft steht im Zentrum dieses Buches. Im Fokus der folgenden Kapitel stehen literarische Texte von Autorinnen und Autoren, die der ‚engagierten Literatur‘ der Nachkriegszeit zugerechnet werden.⁴ Daraus ergibt sich eine Konzentration auf Texte, die überwiegend in den westlichen deutschsprachigen Ländern entstanden sind. Die ostdeutsche Literatur- und Kulturlandschaft mitsamt ihren politischen Herrschaftsverhältnissen kann hier nicht adäquat analysiert werden, auch wenn mit Christa Wolf eine DDR-Autorin berücksichtigt und mit der Friedensbewegung der 1980er-Jahre ein politischer Kontext erörtert wird, der die Grenzen zwischen den literarischen Feldern in Ost und West porös werden ließ.⁵ Allerdings kann hier auch kein vollständiges Bild der ‚engagierten Literatur‘ in Westdeutschland, Österreich und der Schweiz entworfen werden – zu viele Autorinnen und Autoren wären zu berücksichtigen.⁶ Vielmehr wird im Folgenden die Inszenierung politischer Autorschaft anhand einiger pa-
Der Untersuchungszeitraum dieser Studie endet in den 1980er-Jahren, ohne dass damit die These vertreten werden soll, dass die politisch engagierte Literatur im Jahr 1990 ihr abruptes Ende findet. Zur Kontinuität politisch engagierter Literatur vgl. zahlreiche Aufsätze in: Jürgen Brokoff u. a. (Hgg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016; Sabrina Wagner: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Juli Zeh, Ilija Trojanow, Uwe Tellkamp. Göttingen 2015. Die politischen und sozialen Differenzen zwischen ‚Ost und West‘ bilden sich auch feldtheoretisch ab. Die für die politisch engagierte Literatur zentralen Diskurse wurden überwiegend in den westlichen deutschsprachigen Ländern geführt und nur in diesen kann in Bezug auf die Literatur von einer ausdifferenzierten Gesellschaft gesprochen werden. Der Systemgegensatz betraf zudem die institutionelle Verankerung sowie die kulturelle und politische Bedeutung der Religion. Das deutschsprachige literarische Feld kann allerdings auch nicht nationalstaatlich gefasst werden, beeinflussen doch Literaturpreise und Buchkritiken aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gemeinsam die Kräfteverhältnisse im Feld. Die Vergabe symbolischen Kapitals im deutschsprachigen literarischen Feld war und ist nicht national organisiert. Wichtige Autorinnen und Autoren konnten in dieser Studie nicht oder nur am Rande behandelt werden. Es fehlt eine detaillierte Analyse der Texte von Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Friedrich Dürrenmatt, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Wolfgang Koeppen, Elfriede Jelinek, Hans Werner Richter, Martin Walser und vielen anderen. Auch nach dem Jahr 1986, in dem mit Günter Grass’ Die Rättin das historisch jüngste der hier detailliert analysierten Werke erschien, inszenierten sich Autorinnen und Autoren politisch.
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Einleitung
radigmatischer Autorinnen und Autoren dargestellt. Die Auswahl orientiert sich sowohl an der Relevanz dieser Autorengruppe für das deutschsprachige literarische Feld als auch daran, dass in ihren Inszenierungen von Autorschaft religiöse Begriffe, Narrative, Motive und Diskurse einen prominenten Platz einnehmen. Detailliert untersucht werden literarische Texte und Paratexte von Heinrich Böll, Paul Schallück, Arno Schmidt, Günter Grass, Karin Struck, Maria Erlenberger, Fritz Zorn, Bernward Vesper, Nicolas Born und Christa Wolf. Diese Autorinnen und Autoren exemplifizieren verschiedene Modi des politischen Autorschaftsmodells. In ihren Texten weisen sie ihrer schriftstellerischen Praxis eine bestimmte Funktion zu und legitimieren diese: Sie schreiben, um zu mahnen, um Gott zu lästern, um sich zu opfern oder um die Zukunft zu offenbaren.
Religion jenseits der säkularisierungstheoretischen Perspektive Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war ein empirischer Befund. Liest man zentrale Texte der politisch engagierten Literatur aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dann finden sich immer wieder religiöse Motive, intertextuelle Verweise auf religiöse Schriften und Anspielungen auf religiöse Szenen sowie Narrative. Für Bölls Werk erscheint ein Nachweis dafür fast unnötig, so sehr ist dieser Autor als Katholik in die Literaturgeschichte eingegangen. Schon die zeitgenössischen Rezensionen bezeugen, dass die christliche Prägung seiner Werke stets wahrgenommen worden ist. Gleiches gilt für den weniger bekannten Paul Schallück. In Werken wie Schallücks Engelbert Reineke (1959) oder Bölls Billard um halb zehn (1959) fallen christologische Figurationen und biblische Motive deutlich ins Auge. Dass Bölls Roman nicht nur ein christliches Thema behandelt, sondern die religiös motivierte Differenzierung in Lämmer und Büffel gleichsam als ein politisches Entscheidungsschema präsentiert, ist ebenso evident. Blättert man durch Die Blechtrommel (1959) von Günter Grass, fällt erneut eine Christusfiguration ins Auge. Ist es bloßer Zufall, dass sich ausgerechnet der Protagonist und Erzähler Oskar Matzerath als Jesus Christus in Szene setzt? Grass’ Invektiven gegen das Christentum wurden jedenfalls ähnlich wie die von Arno Schmidt von der Literaturkritik und anderen Akteuren des literarischen Felds als blasphemisch gebrandmarkt und insofern als religiöser Kommunikationsakt rezipiert. Auch weitere kanonisierte Romane der ‚engagierten Literatur‘ beziehen sich keineswegs nur akzidentiell auf christliche Narrative und Motive.Wenn Grass in den 1980er-Jahren die Apokalypse zum zentralen Intertext von Die Rättin (1986) macht und Christa Wolf in Kassandra (1983) die griechische Prophetin zur Protagonistin ihrer Erzählung erwählt, dann zeigt sich erneut die Signifikanz der
Religion jenseits der säkularisierungstheoretischen Perspektive
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Religion für politische Autorinnen und Autoren. Es mag überraschen, dass auch die durch die Studentenrevolte massiv beeinflusste Literatur der 1970er-Jahre mit dieser Tradition nicht bricht. Für das damalige literarische Feld maßgebliche Autorinnen und Autoren wie Karin Struck, Maria Erlenberger, Fritz Zorn, Bernward Vesper oder Nicolas Born sparen in ihren Texten nicht mit religiösen Bezügen. Im Gegenteil: Das Selbstopfer, als das sie ihr Schreiben inszenieren, ist religiös codiert: Ein Text wie Der Hunger nach Wahnsinn (1977) referiert auf den Kreuzestod Christi, in Mars (1977) inszeniert sich der Autor in der Nachfolge Christi und ein Kultbuch der Neuen Linken wie Vespers Die Reise (1977) feiert die durch Drogen evozierten Epiphanien, in denen sich der Autor u. a. mit dem Gottessohn identifiziert, als Sekunden „des Erkennens“, die „einer anderen Welt [jenseits von Angst, Kälte, Befehl und Gehorsam]“ entstammen.⁷ Auch das ‚authentische Schreiben‘ der 1970er-Jahre kommt ohne die Religion nicht aus. Warum sind diese Befunde bislang nicht theoretisch adäquat gewürdigt worden? Ein Grund dafür mag darin liegen, dass literaturwissenschaftliche Darstellungen der ‚engagierten Literatur‘ oftmals die Gruppe 47 als Akteur des literarischen Felds in den Vordergrund stellen, nicht jedoch Gemeinsamkeiten, die sich aus den Texten ergeben. Außerdem fällt auf, dass von Religion mit Bezug auf die politisch engagierte Literatur der Nachkriegszeit vorrangig polemisch gesprochen wird. Dies kommt auch im Beitrag von Karl Heinz Bohrer zu einer kontrovers geführten Debatte über die Berechtigung der ‚engagierten Literatur‘ zum Ausdruck. Polemisch zugespitzt konstatierte er im deutsch-deutschen Literaturstreit 1990: „Eine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Priester-Schriftsteller.“⁸ Bohrers Diktum verdeutlicht, dass in den Auseinandersetzungen des literarischen Felds religiöse Narrative, Figuren oder Institutionen, die für die Inszenierung von politischer Autorschaft signifikant sind, oftmals nur angesprochen werden, um die ‚engagierte Literatur‘ zu desavouieren. Diese Polemik basiert auf modernisierungstheoretischen Voraussetzungen: Christa Wolf und andere ‚engagierte‘ Autorinnen und Autoren müssten sich daran gewöhnen, „was Literatur in einer säkularisierten Gesellschaft darstellt: keine Droge für Unterdrückte, kein quietistisches Labsal. Vielmehr verschärfter Anspruch an die imaginative Potenz“.⁹ Bohrer bezieht sich auf das ästhetische Autonomiepostulat in differenzierungstheoretischer Absicht und versteht die Einheitssemantik der Religion als Charakteristikum der Vormoderne. Aufgerufen sind mit der Moderni-
Bernward Vesper: Die Reise. Ausgabe letzter Hand. 22. Aufl. Berlin und Schlechtenwegen 1982, S. 531. Karl H. Bohrer: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur 44 (1990), H. 11, S. 1015 – 1018, hier S. 1016. Ebd., S. 1016 f.
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sierungstheorie und dem Säkularisierungsnarrativ zwei Diskurse, die literaturwissenschaftliche Analysen von politischer Autorschaft stark geprägt haben. Exemplarisch kann in dieser Hinsicht Wolfgang Emmerich genannt werden, der in seiner Untersuchung des schriftstellerischen und intellektuellen Engagements nach 1945 den Autor bzw. Intellektuellen als „Ausgeburt“¹⁰ und Widersacher des Modernisierungsprozesses begreift. Emmerich skizziert den politischen Autor vor dem Hintergrund der entzauberten Welt: „Er trachtet, als der dem Priester nachfolgende konstitutionelle Sinnsucher, diese Entzugserfahrung zu kompensieren und wird zum Sinnstifter und Heilslehrer auf der kalten, wüsten, von Gott verlassenen Stätte, der im Extremfall die ‚Heilsherrschaft über alle Wirklichkeit‘ (ein Wort von Karl Löwith) für sich beansprucht.“¹¹ Emmerichs Bezug auf Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen verdeutlicht, dass für ihn, wie für Bohrer, die Geschichtsphilosophie die Nachfolge der Theologie angetreten hat.¹² Politische Schriftstellerinnen und Schriftsteller übersetzten eine religiöse Einheitssemantik in säkulare Begrifflichkeiten und verstünden sich damit als Sachwalter geschichtsmächtiger Kollektive. Helmuth Schelskys Studie Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, auf die sich Emmerich ebenfalls bezieht, spricht deswegen von einer „Gemeindebildung der neuen sozialen Heilsbewegung“,¹³ als deren Priester Autoren wie Heinrich Böll amtierten. Den hier referierten Positionen Bohrers, Emmerichs und Schelskys ist bei allen Differenzen gemeinsam, dass sie den Säkularisierungsbegriff implizit oder explizit nutzen, um politische Autorschaft ins Unrecht zu setzen: Die ‚engagierte Literatur‘ partizipiere uneigentlich an theologischen Begriffen und ignoriere die Gebote einer ausdifferenzierten sozialen Praxis. Eine solche Kritik basiert auf der Normativität der Modernisierungstheorie.¹⁴ Die zuvor dargestellten literarischen Be-
Wolfgang Emmerich: Deutsche Schriftsteller als Intellektuelle. Strategien und Aporien des Engagements in Ost und West von 1945 bis heute. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2001), H. 124, S. 28 – 45, hier S. 30. Ebd. Das ‚Wort‘ kommt auf der von Emmerich angegebenen Seite nicht vor, wohl aber bei Schelsky: „Die Reflexionselite beansprucht die Heilsherrschaft über alle Wirklichkeit, insbesondere über die Arbeit und Verantwortung der praktisch Tätigen“. Meine Hervorhebung. Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 1975, S. 94. Vgl. Karl H. Bohrer: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit. In: Merkur 44 (1990), H. 7, S. 851– 865. Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 342. Vgl.Wolfgang Knöbl: Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit.Weilerswist 2001, S. 29 f.; Wilfried Spohn: Globale, multiple und verwobene Modernen. Perspektiven der historisch-vergleichenden Soziologie. In: Thomas Schwinn (Hg.): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen. Wiesbaden 2006, S. 101– 130, hier S. 102.
Autorschaft und Politik
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zugnahmen auf die Religion in den Texten politischer Autorinnen und Autoren können in dieser Perspektive nicht analysiert, sondern nur abgelehnt werden. In der Literaturwissenschaft konnte sich eine solche normative Indienstnahme der Modernisierungstheorie zwar nicht auf breiter Front durchsetzen, doch verhinderte das modernisierungstheoretische Säkularisierungsnarrativ in der Forschung zu einigen politischen Autorinnen und Autoren eine weitergehende Auseinandersetzung mit den von mir vorgestellten Textbelegen. Exemplarisch kann dies an der Thematisierung von Religion in der Böll-Forschung dargestellt werden, deren Position Rainer Nägele im Jahr 1976 wie folgt zusammenfasst: „Es besteht ein allgemeiner und gerechtfertigter Konsensus, daß es bei Böll nicht so sehr um die Theologie des Katholizismus geht als um seine soziale Funktion.“¹⁵ Sicherlich: Bölls Romane sind keine theologischen Traktate, sondern akzentuieren die soziale Dimension des Glaubens. Die Gesellschaft mitsamt der Politik ist aus einer religiösen Perspektive aber nicht fundamental vom Glauben geschieden, wie es das Säkularisierungsnarrativ nahelegt.¹⁶ Böll sorgt sich vielmehr um die sozialen Zustände in einer säkularen Gesellschaft, die meint, die Religion in die Privatsphäre verbannen zu können. Bölls Begriff des Sozialen ist theologisch inspiriert. Reduziert man unter Einfluss des Säkularisierungsnarrativs Religion auf individuelle Glaubensfragen, die um transzendente Belange kreisen, dann verliert man den Zusammenhang zwischen Religion und Politik aus dem Blick. Das mag erklären, warum die zahlreichen oben aufgeführten Textbelege, die die Bedeutung der Religion für die ‚engagierte Literatur‘ erahnen lassen, bislang keiner systematischen Analyse unterzogen worden sind.
Autorschaft und Politik Bohrers plakatives Diktum exemplifiziert darüber hinaus, dass um Autorschaft im literarischen Feld als normative Kategorie gestritten wird. Aus diesem Grund ist Autorschaft in den letzten Dekaden zunehmend zur literaturwissenschaftlichen
Rainer Nägele: Heinrich Böll. Einführung in das Werk und in die Forschung. Frankfurt am Main 1976, S. 116. Nägeles These wird noch in neueren Publikationen akzeptiert. Vgl. Anja M. Richter: Das Studium der Stille. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spannungsfeld von Gnostizismus, Philosophie und Mystik. Frankfurt am Main 2010, S. 20. José Casanova unterscheidet drei Aspekte des Säkularisierungsnarrativs: Behauptet würden erstens die soziale Ausdifferenzierung der Religion, zweitens die Abnahme des Glaubens und religiöser Praktiken sowie drittens die Marginalisierung der Religion, die nur noch in der Privatsphäre geduldet werde. Vgl. José Casanova: Public Religions in the Modern World. Chicago 2012, S. 211.
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Einleitung
Untersuchungskategorie geworden. Inzwischen liegen zahlreiche Publikationen zu verschiedenen Aspekten von Autorschaft vor, die sich durch einen starken methodischen Pluralismus auszeichnen.¹⁷ Bezüge auf die inzwischen kanonisch zu nennenden Essays Der Tod des Autors von Roland Barthes und Was ist ein Autor? von Michel Foucault aus den 1960er-Jahren sind dabei an der Tagesordnung.¹⁸ Nur wenige Publikationen haben neue methodische Ansätze systematisch ausgearbeitet.¹⁹ Diese Studie nimmt ‚Autorschaft‘ als eine literatursoziologische Kategorie systematisch in den Blick und knüpft an die gewinnbringende Verwendung literatursoziologischer Kategorien in zahlreichen Einzeluntersuchungen an. Mit Pierre Bourdieus Feldtheorie können Empirie und Theorie in ein undogmatisches, fruchtbares Verhältnis zueinander gesetzt werden. Anstatt die Literatur reduktionistisch als einen Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, liest Bourdieu literarische Texte und Paratexte als sozial situierte Kommunikationsmedien, die durch die sozialen Verhältnisse im literarischen Feld nicht nur beeinflusst werden, sondern auf diese zugleich zurückwirken. Die Feldtheorie bietet
Vgl. Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen 1998; Fotis Jannidis u. a. (Hgg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999; Fotis Jannidis u. a. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002; Jochen Strobel (Hg.): Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006; Christine Künzel, Jörg Schönert (Hgg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007; Corina Caduff, Tan Wälchli (Hgg.): Autorschaft in den Künsten. Konzepte – Praktiken – Medien. Zürich 2008; Rolf Parr: Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930. Heidelberg 2008; Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Göttingen 2009; Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.): Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen. Berlin 2011; Claudia Gronemann u. a. (Hgg.): Strategien von Autorschaft in der Romania. Zur Neukonzipierung einer Kategorie im Rahmen literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich basierter Geschlechtertheorien. Heidelberg 2012; Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Neue Verfahren literarischer Selbstkonstruktion. Bielefeld 2012; Lucas M. Gisi u. a. (Hgg.): Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst‐)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview. Paderborn 2013; Christel Meier, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin 2014; Christian Sieg, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.): Autorschaften im Spannungsfeld von Religion und Politik. (Religion und Politik 8.) Würzburg 2014. Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u. a. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185 – 193; Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Foucault: Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main 2003, S. 234– 270. Für einige Ausnahmen vgl. Niels Werber, Ingo Stöckmann: Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung. In: Henk de Berg, Matthias Prangel (Hgg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen 1997, S. 233 – 262; Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin und New York 2007.
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sich für eine Analyse von Autorschaftsinszenierungen im besonderen Maß an, weil sie den Kampf um soziale Anerkennung innerhalb des literarischen Felds ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Bourdieu fragt, welche Regeln für die Generierung von symbolischem Kapital konstitutiv sind und setzt dabei voraus, dass diese Regeln selbst in ihrer Geltung niemals gesichert sind.²⁰ Sie müssen nicht nur etabliert werden, sondern können ihre Normativität auch jederzeit einbüßen. Entschieden wird darüber von den Akteuren des literarischen Felds, vor allem von Autorinnen und Autoren sowie Literaturkritikerinnen und Literaturkritikern. Das literarische Feld produziert demnach nicht nur Texte, sondern auch den Wert von Texten. Maßgeblich dafür sind Debatten über den Stil, das Sujet oder die Sprache der Literatur, gestritten wird aber auch über Autorschaftsmodelle, die das Schreiben selbst charakterisieren. In welcher Hinsicht dies geschieht, ist nicht festgelegt. Bezieht sich das Modell des vates beispielsweise auf den (göttlichen) Ursprung der Dichtkunst und inszeniert es den Dichter bzw. die Dichterin als reines Medium, so betonen andere Modelle die Fähigkeiten des Autors oder der Autorin und heben beispielsweise die schöpferische Kompetenz des Genies hervor.²¹ Politische Autorschaftsmodelle akzentuieren hingegen die Funktion der Literatur und charakterisieren das Schreiben als eine soziale Praxis. Gemeinsam ist Autorschaftsmodellen, dass sie das literarische Schreiben legitimieren, indem sie auf Figuren, Motive oder Narrative zurückgreifen, die Anerkennung zu generieren gestatten. Weil das literarische Feld agonal strukturiert ist, kommt der Inszenierung von Autorschaft eine feldstrategische Bedeutung zu. Sie vollzieht sich vor dem Hintergrund einer jeweils historisch spezifischen Feldordnung und dient der Distinktion.
Über eine problematische Dichotomie: ‚Engagement‘ oder Kunst? Sich der ‚engagierten Literatur‘ mit der Frage zuzuwenden, wie politische Autorschaft in ihr in Szene gesetzt wird, hat zum Ziel, bisher nicht erkannte Facetten des Politischen in der Literatur zu beleuchten. Angeknüpft werden kann dabei an Forschungsbeiträge, die den Politikbegriff der ‚engagierten Literatur‘ genau explizieren, die Erklärungskraft des Engagementbegriffs nicht voraussetzen und stattdessen zeigen, wie Literatur auf die „Veränderung von Denk- und Wahr-
Für die Funktion des ‚symbolischen Kapitals‘ im literarischen Feld vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 2001, S. 228. Einen Überblick über Autorschaftsmodelle vermitteln: Hoffmann und Langer: Autor, S. 139 – 148.
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nehmungsstrukturen“ abzielt.²² Begriffe wie ‚Engagement‘ und ‚Nonkonformismus‘, mit denen Autorinnen und Autoren ihre literarische Praxis beschreiben, erklären oftmals nicht, warum Kunst als politisch oder apolitisch betrachtet werden sollte. Vielmehr fungieren sie als Etiketten, die Loyalitäten und Allianzen zum Ausdruck bringen und über die nicht zuletzt Identifikationsprozesse vollzogen werden. Gestritten wird mit ihnen über die Berechtigung politischer Autorschaft, nicht über ihre Wirkungsmechanismen, Strategien oder Grundlagen.²³ Verteidigen mussten sich die Anhänger einer ‚engagierten Literatur‘ vorrangig gegen den Vorwurf, dass die politische Ausrichtung der Literatur ihrem ästhetischen Wert abträglich sei. So berief sich Marcel Reich-Ranickis apologetischer Artikel Engagierte Literatur – wozu? auf eine Rede von Max Frisch, die den Gegensatz von Engagement und Kunst infrage stellte. Reich-Ranicki identifizierte sich mit Frischs Position, dass das Engagement eine ästhetische Produktivkraft sei und folgerte: „Wie die Literatur, die kein Engagement kennt, steril ist, hört das Engagement ohne Artistik auf, Kunst zu sein.“²⁴ In gleicher Absicht unterlief Walter Jens die Dichotomie von littérature pure und littérature engagée. ²⁵ Romane, die einem Traktat glichen oder gar eine „Paraphrase politischer Parolen“ darstellten, gehörten in die Gefilde der Tendenzliteratur,²⁶ politisch und künstlerisch wertvoll hingegen sei eine Literatur, die es vermöge, „eine Welt zu beschreiben, in
Ingrid Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen. Weilerswist 2007, S. 136. Sowohl im ersten Kapitel, das der theoretischen Reflexion gewidmet ist, als auch in den Schlussfolgerungen gehe ich auf diesen Politikbegriff ein.Vgl. S. 18 – 46 u. S. 566 – 582. Vgl. Mechtild Rahner: „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“. Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945 – 1949). Würzburg 1993, S. 267 u. 291. Marcel Reich-Ranicki: Engagierte Literatur – wozu? In: Reich-Ranicki: Literarisches Leben in Deutschland. Kommentare und Pamphlete. München 1965, S. 230 – 233, hier S. 232. Bereits Baudelaire verwendete den Ausdruck littérature pure, der oftmals einer littérature engagée entgegengesetzt wird. Versteht man ihn im historischen Kontext des französischen literarischen Felds im Zweiten Kaiserreich (und der Prozesse gegen Baudelaire und Flaubert), dann wird erkennbar, dass mit ihm seitens der Autorinnen und Autoren des l’art pour l’art für die Autonomisierung des literarischen Felds gestritten wurde. Vgl. Gisèle Sapiro: Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes. In: Markus Joch, Norbert C. Wolf (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 25 – 44, hier S. 29 f. Der Begriff der ‚Tendenz‘ knüpft an die Debatten des literarischen Felds in den 1920er-Jahren an und ermöglich es zwischen verschiedenen Formen politischer Literatur zu unterscheiden. Vgl. Helmut Peitsch: Engagement/Tendenz/Parteilichkeit. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. (Bd. 2.) Stuttgart 2000, S. 178 – 223, hier S. 195 – 197.
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der sich alles verkehrt hat, die vertrautesten Maßstäbe untauglich sind, bewährte Kategorien versagen“.²⁷ Sowohl Reich-Ranicki als auch Walter Jens wehrten sich also gegen die Dichotomisierung von Politik und Kunst. Worin aber die politische Dimension der Literatur genau besteht, wodurch sie politische Wirkung erzielt oder politische Weltbilder zum Einsturz bringt, das wird in solchen Debatten nicht erkenntlich. Literaturhistorische Darstellungen, die sich der ‚engagierten Literatur‘ widmen, sind deswegen auch überwiegend unbefriedigend, wenn man von ihnen Aufschluss darüber erwartet, was unter ‚engagiert‘ genau zu verstehen ist. Inwiefern der Begriff mehr ist als ein Synonym von ‚politisch‘, das geht auch aus Forschungsbeiträgen mit programmatischen Titeln wie Gerhard Hays Von der Herkunft engagierter Literatur in Westdeutschland nicht hervor.²⁸ Der Grund dafür liegt in der Rezeptionsgeschichte des Konzepts ‚Engagement‘ selbst. Zwar nimmt das deutschsprachige literarische Feld der Nachkriegszeit Jean-Paul Sartres Begriff des Engagements zur Kenntnis, doch mangelt es dieser Auseinandersetzung an begrifflicher Prägnanz. Helmut Peitsch spricht daher von einer „Verweigerung der Rezeption von Sartres Konzept“²⁹ und Ursula Geitner erinnert zu Recht daran, dass Sartre Engagement keinesfalls „auf eine politische Aufgabenbestimmung der Literatur“³⁰ verkürzt. Traugott König, der Herausgeber von Sartres Was ist Literatur?, konstatiert in seinem Nachwort, dass „selten ein Begriff derart mißdeutet worden ist wie der der ‚engagierten Literatur‘, den man als Losung einer das Wesen der Kunst verratenden Tendenzliteratur angriff.“³¹ Diese Rezeptionsverweigerung erklärt, warum die politische Dimension der Literatur zwischen 1945 und 1990 nicht adäquat gefasst werden kann, wenn man sie als ‚engagiert‘ charakterisiert. Die Analyse politischer Autorschaft hingegen ist durchaus in der Lage, das Politische der Literatur adäquat zu fassen.
Walter Jens: Literatur und Politik. Pfullingen 1963, S. 10. Vgl. Gerhard Hay: Von der Herkunft engagierter Literatur in Westdeutschland. In: Der Deutschunterricht 33 (1981), H. 3, S. 23 – 30. Zur Kritik des Engagement-Begriffs für ein Verständnis der Gruppe 47 vgl. Dagmar Günther: Engagement und Elfenbeinturm. Zur politischen Dimension der Literatur in der frühen Bundesrepublik und der IV. Republik Frankreichs. In: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. (Historische Politikforschung 1.) Frankfurt am Main 2005, S. 241– 267, hier S. 261. Helmut Peitsch: Die Gruppe 47 und das Konzept des Engagements. In: Stuart Parkes, John J. White (Hgg.):The Gruppe 47 Fifty Years on. A Re-Appraisal of its Literary and Political Significance. (German Monitor 45.) Amsterdam und Atlanta 1999, S. 25 – 51, hier S. 25. Ursula Geitner: Stand der Dinge. Engagement-Semantik und Gegenwartsliteratur-Forschung. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hgg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016, S. 19 – 58, hier S. 37. Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hg. von Traugott König. (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 3.) Reinbek bei Hamburg 2006, S. 226.
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Folgenreich für die literaturwissenschaftliche Forschung zur politisch engagierten Literatur³² nach 1945 war Theodor W. Adornos Essay Engagement, der 1962 unter dem Titel „Zur Dialektik des Engagements“ in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde.³³ Die normative Emphase, mit der Adorno die ‚engagierte Literatur‘ in diesem Essay kritisiert, resultiert aus dem Vorwurf politischer Wirkungslosigkeit. Wirklich politisch relevant, so die dialektische Pointe, seien nur diejenigen Werke, die sich dem politischen Diskurs entziehen, die gesellschaftliche Zerrüttung auch in ihrer Form ausdrücken und dadurch „die Partei der Opfer naturbeherrschender Rationalität ergreifen“.³⁴ Adornos politische Apologie der klassischen Moderne kann hier nicht verhandelt werden. Wirkungsmacht hat sein Essay aber auch insofern entfaltet, als er dazu beitrug, die ‚engagierte Literatur‘ mit dem politischen Diskurs zu identifizieren. Unterstellt wird ihr, die Gesellschaft deswegen simplifizierend darzustellen, weil sie einer politischen Handlungslogik folgt und daher auf die Mobilisierung der Leserschaft setzt. Aus der Perspektive der Politik sei die gesellschaftliche Fehlentwicklung aber nicht mehr zu greifen. Adorno zufolge wird die ‚engagierte Literatur‘ an der gesellschaftlichen Misere mitschuldig, weil sie den Routinen des politischen Felds folgt. Im „Gestus des Anredens“³⁵ wendet sie sich Adorno zufolge an politische Akteure und unterstützt damit den Glauben an die politische Aktion (mit Bourdieu: an die illusio des politischen Felds), mit dem doch eigentlich zu brechen sei. Diese Studie wird zeigen, dass die Inszenierung politischer Autorschaft, die sich tatsächlich an Leserinnen und Leser in kommunikativer Absicht wendet, die Literatur keinesfalls den Regeln des politischen Diskurses angleicht. Politische Autorschaft zielt nicht in erster Linie auf politische Forderungen oder die Übernahme politischer Haltungen ab,³⁶ sondern spricht der ästhetischen Praxis, wie sie sich im Schreibprozess manifestiert, eine politische Funktion zu. Die für die Inszenierung politischer Autorschaft verwendete Sprache entstammt vorrangig nicht dem
Auch in Anbetracht der hier vorgebrachten Kritik des Engagementbegriffs wird die gebräuchliche Formulierung ‚politisch engagierte Literatur‘ im Folgenden beibehalten, weil nur so der mit ihr üblicherweise bezeichnete Korpus von Texten unmissverständlich benannt werden kann. Ziel der Studie ist es nicht, einen Begriff vorzuschlagen, der ‚Engagement‘ ersetzt, sondern die Inszenierung von Autorschaft als eine Textpraxis auszuweisen, die den politischen Charakter von Literatur prägt. Vgl. Theodor W. Adorno: Zur Dialektik des Engagements. In: Die Neue Rundschau 73 (1962), H. 1, S. 93 – 110. Kanonisch ist der Text durch seine Aufnahme in Noten zur Literatur geworden. Vgl. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Adorno: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1981, S. 409 – 430. Ebd., S. 429. Ebd. Vgl. ebd., S. 412.
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politischen Diskurs. Die Vielzahl religiöser Motive und Narrative in den ‚engagierten‘ Texten bezeugt vielmehr den Versuch, mit dem politischen Autor bzw. der politischen Autorin einen neuen Akteur einzuführen, der die Grenzen des politischen Feldes verschiebt. Was Politik ausmacht, auf diese Fragen gibt die Inszenierung von Autorschaft eine andere Antwort als es die üblichen politischen Akteure tun. Die anschließenden Kapitel werden zeigen, dass die politisch engagierte Literatur zwischen 1945 und 1990 keinesfalls auf spezifisch literarische Darstellungsmöglichkeiten verzichtet. Im Gegenteil: Autorschaft wird insbesondere dann in Texten inszeniert, wenn letztere sich nicht einfach in die im politischen Feld jeweils aktuellen Diskurse einschreiben können. Erinnert sei exemplarisch an so unterschiedliche Publikationen wie Christa Wolfs Debütroman Der geteilte Himmel (1963), der etliche zeitgenössische politische Diskurse aufgreift, und einen Text wie Nachdenken über Christa T. (1968), der Schreiben als eine vom offiziellen politischen Diskurs abweichende und genuin subjektive politische Praxis in Szene setzt. Politische Autorschaft schreibt politische Diskurse nicht fort, sondern schafft mitunter erst den Ort, von dem aus politisch gesprochen werden kann. Anstatt direkt zu kommunizieren, nutzt die hier behandelte Literatur spezifisch literarische Möglichkeiten. Politische Resonanz erzielt sie gerade dadurch, dass sie sich politische Marginalität zuschreibt,³⁷ aus dem Abseits spricht und damit die Formen politischer Kommunikation irritiert. Erst jenseits der Dichotomisierung von littérature pure und littérature engagée kann die Selbstreflexivität derjenigen Texte, in denen politische Autorschaft inszeniert wird, in den Blick geraten. Heinrich Bölls, Günter Grass’ oder auch Christa Wolfs literarische Texte positionieren sich nicht nur zu diversen politischen Themen, sondern beantworten auch die Frage, warum sie geschrieben worden sind. Ein Urteil über die ästhetische Qualität literarischer Texte ist damit weder in positiver noch in negativer Hinsicht präjudiziert. Angezeigt ist vielmehr ein Analyseauftrag. Denn die sogenannte ‚engagierte Literatur‘ ist bisher nicht dahingehend untersucht worden, wie sie Autorschaft inszeniert. Die vorliegende Studie integriert daher zahlreiche Textanalysen in feldtheoretische Darstellungen. Vorlegt wird damit keine Literaturgeschichte deutschsprachiger Prosa zwischen 1945 und 1990, sondern punktuelle Analysen historischer Feldkonstellationen, die für die Etablierung politischer
Dies wird in der Analyse der im Folgenden behandelten Romane gezeigt werden, findet sich aber auch in programmatischen Texten von Autorinnen und Autoren deutlich formuliert, die hier vernachlässigt werden. So heißt es beispielsweise in dem schon angesprochenen Text von Walter Jens: „Auf jeden Fall bemerken wir, daß der Schriftsteller unserer Tage, klassenlos und ohne vaterländischen Auftrag, sich der deutschen Wirklichkeit gleichsam von der Peripherie her nähert“. Jens: Literatur und Politik, S. 14.
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Autorschaftsmodelle im westdeutschen literarischen Feld von großer Wichtigkeit waren. Die literatursoziologische Ausrichtung dieser Studie erklärt auch, warum nicht alle Werke der hier behandelten Autorinnen und Autoren analysiert werden: Autorschaftsmodelle sind relational auf die jeweiligen (historisch und sozial spezifischen) Feldkonstellationen bezogen. Sie können genutzt und auch wieder abgelegt werden, wie nicht zuletzt das Beispiel Günter Grass zeigen wird.
Zu den Kapiteln Den feld- und textanalytischen Kapiteln dieses Buchs ist mit dem ersten Kapitel eine Methodenreflexion vorangestellt, die sich dem Phänomen politischer Autorschaft auf der Grundlage von Bourdieus Literatursoziologie nähert, zugleich jedoch einige Modifikationen der Feldtheorie vornimmt, die der Historisierung der Methode geschuldet sind. Das Kapitel knüpft an die bereits in dieser Einleitung vorgenommenen Ausführungen zum Begriff politischer Autorschaft an und bestimmt diese als feldstrategische Legitimierung des Schreibens. Zudem wird in die differenzierungstheoretische Perspektivierung literarischer Praxis eingeführt und danach gefragt, wie eine ausdifferenzierte soziale Praxis, die sich in lediglich einem Teilbereich der Gesellschaft vollzieht, für sich in Anspruch nehmen kann, relevant für die ganze Gesellschaft zu sein. Politische Autorschaft verschiebt die Grenzen des Literarischen und ruft nicht nur im literarischen Feld Feldeffekte hervor, sondern auch in der Religion und der Politik. Die besondere imaginative Potenz der Literatur wird in der Inszenierung politischer Autorschaft dafür genutzt, gesellschaftliche Einheit zu simulieren und das Schreiben aus dieser Perspektive zu betrachten. Im zweiten Kapitel wird das literarische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit rekonstruiert und insbesondere gefragt, warum sich politische Autorinnen und Autoren als ‚junge Generation‘ in Szene setzten. Das ‚generation building‘ wird dabei als eine Feldstrategie analysiert, die im Kontext der Nihilismusdebatte eine religionskritische Komponente offenbart. Die Inszenierung von Autorschaft vor dem Hintergrund der Generationserfahrung bezog sich nicht nur auf die eigenen habituellen Prägungen, sondern berücksichtigte auch die Relationen des literarischen Felds. Sie nahm für sich in Anspruch, dass die kulturellen und religiösen Traditionsbestände, insbesondere die etablierten Autorschaftsmodelle, in Widerspruch zur eigenen Generationserfahrung geraten seien und daher modifiziert werden müssten. Die Rekonstruktion der agonalen Struktur des literarischen Felds in der unmittelbaren Nachkriegszeit schließt die Literaturkritik mit ein. Insbesondere drei prominente Literaturkritiker werden als Gegenspieler der ‚jungen Generation‘ vorgestellt.
Zu den Kapiteln
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Das dritte und vierte Kapitel zeichnen zwei Autorschaftsmodelle nach, die den religionskritischen Impuls der Nihilismusdebatte aufnehmen und weiterführen. Im dritten Kapitel steht die Inszenierung des Autors als ‚Gewissen der Nation‘ im Mittelpunkt, wie sie von Heinrich Böll erfolgreich betrieben wurde. Neben Böll, der wie kein zweiter Autor als moralische Instanz geschätzt, aber auch bekämpft wurde, wird in diesem Kapitel zudem der heute fast schon vergessene Paul Schallück eine Rolle spielen. An Schallücks großen Romanerfolg Engelbert Reineke (1959) wird demonstriert, dass Autorschaftsmodelle prinzipiell adaptierbar sind und als Diskursmuster verstanden werden müssen. So steht das von Böll und Schallück in Anspruch genommene Modell des Autors als ‚Gewissen der Nation‘ in der Tradition der Intervention Émile Zolas in die Dreyfuss-Affäre. Die Bedeutung der Religion für Bölls Werk ist in der Forschung natürlich nicht übersehen worden, jedoch ist ihre Funktion für die politische Dimension des Werks bisher nicht systematisch untersucht worden. Diese Studie zeigt auf, wie wesentlich Bölls Positionierung im religiösen Feld für die Inszenierung seiner politischen Autorschaft war. Beachtung finden Bölls Romane zwischen 1953 und 1963 – von Und sagte kein einziges Wort bis Ansichten eines Clowns. Dabei sollen aber auch die Spannungen zwischen Religion und Politik Berücksichtigung finden, die Bölls Essays und Reden bezeugen. Die Dokumentation der literaturkritischen Rezeption wird in diesem und allen anderen feldanalytischen Kapiteln nachzeichnen, wie die Inszenierung von Autorschaft aufgenommen worden ist. Der Untersuchungszeitraum des vierten Kapitels überschneidet sich mit dem des dritten, doch wird hier ein politisch deutlich stärker polarisierendes Autorschaftsmodell fokussiert. Das Kapitel zeigt auf, wie sich Arno Schmidt und Günter Grass in den Jahren 1953 bis 1963 in ihrer Prosa als Blasphemiker in Szene setzten. Die Religionskritik beider Autoren radikalisierte Bölls und Schallücks Kirchenkritik und provozierte in beiden Fällen schroffe Ablehnung. Die Rezeption ist für das Modell des blasphemischen Autors besonders wichtig, da sich erst hier das provozierende Potential der Texte auswirkt. Reaktionen aus Politik, Kirche und Feuilleton, die ‚Gotteslästerungen‘ oder ‚Obszönitäten‘ beklagen, verweisen auf den Normkonflikt, den Schmidts und Grass’ Texte hervorzurufen bestrebt waren. Die politische Dimension der Texte entspringt nicht allein der Weltanschauung der Autoren, sondern diesem dialogischen Raum. Insbesondere Arno Schmidts Werk in den 1950er-Jahren, das die Marginalisierung der eigenen Position zum Kennzeichen echter Autorschaft erhebt, verdeutlicht, dass Autorschaft immer vor dem Erwartungshorizont der Rezipienten inszeniert wird. Anders als in Schmidts Prosa legitimieren in der Danziger Trilogie von Günter Grass zahlreiche Motive und Narrative die Außenseiterrolle, die sich der Autor zuschreibt. Grass knüpft an die Dialektik der Religionskritik an und nimmt das Blasphemieverdikt auf sich, weil ihm zufolge die Religion die von ihr versprochene Erlösung nur verhindere. Grass
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lehnt Religion insofern nicht nur ab, sondern hält in der Abgrenzung auch an ihrem Versprechen fest. Schmidt bricht mit dieser Dialektik. Zu Recht ist deswegen bemerkt worden, dass Schmidts Autorschaft eigentlich nicht atheistisch, sondern „antitheistisch“³⁸ ist. Das fünfte Kapitel widmet sich der Literatur nach der Studentenrevolte, in der sich ein gewandelter Politikbegriff bemerkbar machte. Analysiert werden hier Autorinnen und Autoren, die sich von der ‚Literatur‘ abwendeten, die ästhetischen Standards des literarischen Felds gezielt unterliefen und ein ‚authentisches Schreiben‘ praktizierten. Authentische Autorschaft fokussiert das subjektive Leiden der Schreibenden, das gleichsam als eminent politisch in Szene gesetzt wird. Verstanden wird der Schreibprozess dabei nicht nur als ein Vorgang, durch den vergangenes Leid schriftlich festgehalten wird, sondern auch als eine Praxis, die das Leid erst generiert und insofern Autorinnen und Autoren selbst affiziert. Das schreibende Ich distanziert sich vom beschriebenen Ich, ja es opfert seine frühere Identität, die es als entfremdet negieren will. Authentische Autorschaft orientiert sich am autobiografischen Schreiben und greift den christlichen Gedanken des Selbstopfers auf. Paradigmatischen Wert erhält in dieser Hinsicht die christliche Gattung des Bekenntnisses. Als Intertext fungieren insbesondere die Confessiones des Augustinus, zu deren zentralen Formaspekten das „Selbstopfer des Sprechers“³⁹ gehört. Die Funktionsstelle des Sündengedankens übernimmt in den hier analysierten ‚Bekenntnissen‘ des 20. Jahrhunderts das Entfremdungsnarrativ, dessen moralischer Dualismus es ermöglicht, zwischen Gut und Böse scharf zu trennen und eine utopische Gemeinschaft zu ersinnen. So wie jedes religiöse Opfer einen Empfänger kennt, dem es dargebracht wird, so auch authentische Autorschaft, die sich als Selbstopfer vollzieht. Sie wendet sich an eine kommende Gemeinschaft, in der das Leiden und die Entfremdung abgeschafft sein werden und aus deren Perspektive sich der Opfergang rückblickend gelohnt haben wird. Politische Autorschaft verortet ihre Legitimation feldübergreifend und kann daher auch leicht von gesellschaftsprägenden politischen Bewegungen affiziert werden. Das sechste Kapitel analysiert darum ein Autorschaftsmodell, das im Kontext der Friedensbewegung der 1980er-Jahre entstand. Die damals stark verbreitete Angst vor dem Weltuntergang in Folge eines atomaren Kriegs motivierte zahlreiche Autorinnen und Autoren dazu, sich in ihren Texten als Propheten und Apokalyptiker zu stilisieren. Dargestellt wird in diesem Kapitel die apokalyptische
Georg Guntermann: „In unserer Bestjen der Welten …“. Zeit- und Religionskritik im Werk Arno Schmidts. In: Michael M. Schardt (Hg.): Arno Schmidt. Leben – Werk – Wirkung. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 216 – 235, hier S. 226. Ulrich Breuer: Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk. (Finnische Beiträge zur Germanistik 3.) Frankfurt am Main 2000, S. 183.
Zu den Kapiteln
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Rhetorik der in der Friedensbewegung aktiven Autorinnen und Autoren. Im Zentrum steht die Inszenierung apokalyptischer Autorschaft in Christa Wolfs Kassandra (1983) und Günter Grass’ Die Rättin (1986). Gezeigt wird, dass beide Autoren versuchen, ein religiöses Autorschaftsmodell unter säkularen Bedingungen in Szene zu setzen. Grass gelingt dies nicht nur durch viele Paratexte wie Interviews und Reden, in denen er sich mit der Prophetie seines fiktionalen Werks explizit identifiziert, sondern auch dadurch, dass er Die Rättin als ein Streitgespräch zwischen Verfechtern verschiedener Autorschaftsmodelle konzipiert, in dem sich schließlich die apokalyptische Autorschaft durchsetzt. In Christa Wolfs Kassandra steht ein ähnlicher Konflikt im Mittelpunkt, denn schließlich verkörpert sich in der mythischen Kassandra das Problem einer Prophetie, deren Wahrheit nicht oder erst zu spät erkannt wird. Kassandra kann insofern als Paradigma der Prophetie in der Moderne gelten. In Wolfs Erzählung wird die Angst, der verdrängten Wahrheit ins Gesicht zu ‚sehen‘, thematisch und Trojas Untergang rechtfertigt die warnende Stimme der Prophetin, der im Mythos und in der Erzählung kein Glauben geschenkt wird. Dass hieraus Lehren für die Gegenwart der achtziger Jahre zu ziehen seien, bekräftigt Wolf in ihren Paratexten nachdrücklich: Nur wer die warnenden Stimmen seines ‚Inneren‘ nicht weiter verdränge, erkenne die Gefahr des Weltuntergangs. Sowohl Wolf als auch Grass verschreiben sich mit ihren beiden Büchern einem Wahrheitsbegriff, den die religiösen Apokalypsen geprägt haben: Die Wahrheit offenbart sich auch bei ihnen nicht als Produkt diskursiver Prozesse, sondern in Bildern und Zeichen, die sich dem Autor bzw. der Autorin aufdrängen. Ihre Autorschaft steht in den 80er-Jahren im Zeichen der Apokalypse, einer religiösen Textgattung, die ihrerseits das imaginative Potential voll ausschöpfte, um darzustellen, wie Wahrheit sich mitteilt. Da die feld- und textanalytischen Kapitel dieser Studie (Kapitel II–VI) jeweils ein eigenes Fazit ziehen, werden die Ergebnisse dieser Analysen nicht noch einmal zusammengefasst. Stattdessen stehen am Ende meiner Ausführungen generelle Schlussfolgerungen, die sich aus den Ergebnissen in differenzierungstheoretischer Absicht ziehen lassen. Fokussiert wird dabei erstens auf Theorien, mit denen das Verhältnis von Religion und Politik im 20. Jahrhundert in verschiedenen Disziplinen begriffen worden ist. Insbesondere wird an einen Gedanken der Politischen Theologie von Carl Schmitt angeknüpft. Muss Schmitts These einer Strukturverwandtschaft theologischer und staatsrechtlicher Begriffe auch deutlich modifiziert werden, so erlaubt sie es doch, das Zusammenspiel zwischen Religion und Politik in der Inszenierung von Autorschaft präziser zu bestimmen. Zweitens wird mit Armin Nassehi ein Politikbegriff vorgeschlagen, der die politische Dimension der hier analysierten Autorschaftsmodelle zu fassen vermag.
I Autorschaft aus literatursoziologischer Sicht Eine Analyse des literaturtheoretischen Diskurses über die Kategorien ‚Autor‘ und ‚Autorschaft‘ seit den 1950er-Jahren kommt zu einem überraschenden Ergebnis. Im Chor der vielfältigen Schulen ist die Stimme der Literatursoziologie nur schwach vernehmbar.¹ Gut hörbar sind die Stimmen der Hermeneutik, der Werkimmanenz, der Systemtheorie, der Sozialgeschichte, der Medientheorie, des Strukturalismus und des Poststrukturalismus. Der einflussreiche Sammelband Texte zur Theorie der Autorschaft (2000) lässt zudem geschlechtertheoretische, psychoanalytische und biographische Deutungen des Begriffs ‚Autorschaft‘ zu Wort kommen.² Harmonisch ist die literaturtheoretische Debatte selbstverständlich nicht verlaufen: Die Werkimmanenz löste eine oftmals mit der Biografie der Autoren argumentierende philologische Praxis ab, bevor sie wiederum von der Konstanzer Schule der Ignoranz gegenüber den Lesern bezichtigt wurde. Der Poststrukturalismus hat diese Hinwendung zum Leser noch verstärkt.³ Von einem allseitig in der Literaturwissenschaft akzeptierten Begriff von ‚Autorschaft‘ kann also mitnichten die Rede sein.
Wichtige literatursoziologische Anregungen für eine Theorie der Autorschaft geben: Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur; Markus Joch, Norbert C. Wolf (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005; Norbert C. Wolf: Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800. In: Eckart Goebel (Hg.): „Für viele stehen, indem man für sich steht“. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin 2004, S. 23 – 49; Klaus-Michael Bogdal: Akteure literarischer Kommunikation. In: Jürgen Fohrmann u. a. (Hgg.): Literaturwissenschaft. München 1995, S. 272– 296. Der Sammelband beinhaltet exemplarische Aufsätze der genannten literaturtheoretischen Schulen. Vgl. Jannidis u. a.:Texte zur Theorie der Autorschaft.Weitere Aufsätze sind gesammelt in: Jannidis u. a.: Rückkehr des Autors. Die Hermeneutik fungiert als Grundlage für: Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Geschlechtertheoretische Ansätze bieten: Ina Schabert (Hg.): Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800. Berlin 1994; Gronemann u. a.: Strategien von Autorschaft in der Romania. Eine sozialgeschichtliche Perspektive auf Autorschaft findet sich in: Parr: Autorschaft. Auf der Basis der Systemtheorie argumentieren: Matthias Schaffrick: In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft. Heidelberg 2014;Werber und Stöckmann: Das ist ein Autor! Medientheoretischen Ansätzen folgen: Gisi u. a.: Medien der Autorschaft; Florian Hartling: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld 2009; Künzel und Schönert: Autorinszenierungen; Strobel: Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Zu den zentralen Texten dieser Debatte gehören: Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Tübingen und Basel 1948; Wiliam K. Wimsatt: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington 1954; Hans R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967; Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Manteia (1968), H. 5, S. 12– 17; Michel Foucault: Qu’est-ce qu’un auteur? In: Bulletin de la Société française de philosophie 63 (1969), H. 3, S. 73 – 104. DOI 10.1515/9783110528077-002
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Übereinstimmung herrscht lediglich hinsichtlich der Ablehnung eines biografischen Autorschaftsverständnisses. Das Leben des Autors wird in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung seit den 1950er-Jahren als bedeutungslos für die Interpretation von Texten angesehen. Auch wenn demnach von der Vielfalt der literaturwissenschaftlichen Autorschaftsbegriffe auszugehen ist, so lässt sich doch das Paradigma angeben, das die Basis für einen Vergleich der divergierenden Begriffsdefinitionen ermöglicht: Es ist die kommunikationstheoretische Trias AutorText-Leser, auf deren Grundlage die verschiedenen Autorschaftsbegriffe in Relation zueinander gesetzt werden können. So schreiben die Herausgeber des schon erwähnten Bandes Texte zur Theorie der Autorschaft, dass der Akzent der Beiträge „entweder auf dem Autor, auf dem Text oder auf dem Leser“ liege.⁴ Zwar akzentuieren die verschiedenen literaturtheoretischen Schulen jeweils andere Elemente der kommunikationstheoretischen Trias, doch analog zum Sender-EmpfängerModell begreifen sie alle eine Instanz als bedeutungsgenerierend. Literarische Kommunikation vollzieht sich in diesen Modellen nur in eine Richtung. Der Vorteil des Kommunikationsparadigmas ist offensichtlich. Die diversen Literaturtheorien können anhand der Privilegierung eines Begriffes geordnet werden: Die biografische Methode präferiert den Autor, die werkimmanente den Text und der Poststrukturalismus den Leser. Die analytische Übersichtlichkeit hat jedoch ihren Preis, denn Autor, Text und Leser werden hier nicht in ihren sozialen Relationen erfasst, sondern lediglich in ihrer Funktion für die Interpretation von literarischen Texten begriffen. Dabei bezeugt die literaturwissenschaftliche Praxis nicht nur, dass alle drei Größen in der Auslegung zu berücksichtigen sind, sondern es fragt sich zudem, ob die Kategorisierung anhand der Trias nicht säuberlich trennt, was in der produktionsästhetischen Praxis aufeinander bezogen ist. Schreiben Autoren nicht immer beeinflusst von anderen Texten und in Hinblick auf ihre Leser? Werden Begriffe wie Autor, Text und Leser methodisch fixiert, gerät die historische Spezifizität der damit bezeichneten Sachverhalte, die das relationale Verhältnis aller drei Aspekte in der Literaturproduktion belegt, aus dem Blick. Literarische Kommunikation auf die Frage nach dem Ursprung der Bedeutungsgeneration zu reduzieren, zielt darauf ab, Elemente literarischer Praxis theoretisch zu fixieren, um den literaturwissenschaftlichen Interpretationsvorgang methodisch abzusichern. Autorschaft ist jedoch kein invariantes Phänomen, sondern wird in soziokulturell spezifischen Kontexten generiert. Im Folgenden plädiere ich daher für eine literatursoziologische Kurskorrektur der Autorschaftsdebatte, die Autor, Text und Leser als relationale Begriffe in den Blick nimmt. Dabei dient Pierre Bourdieus Literatursoziologie als Grundlage, weil
Jannidis u. a.: Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 10.
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sie es erlaubt, das nachrichtentechnische Paradigma zu verlassen und Autorschaft als ein soziokulturelles Phänomen zu begreifen, ohne die literarische Praxis reduktionistisch auf gesellschaftliche Formationen zurückzuführen.⁵ Bourdieus Theorie des literarischen Felds trennt nicht zwischen Gesellschaft und Literatur, sondern analysiert die sozialen Strukturen der Literaturproduktion. Sie geht davon aus, dass Akteure den soziokulturell variablen Kräfteverhältnissen des literarischen Felds ausgesetzt sind.⁶ Die Analyse sowohl von literarischen Werken als auch von Autorschaftsmodellen kann sich daher nicht nur auf einzelne Werke und Autoren beziehen, sondern muss gleichzeitig die sozialen Beziehungen zwischen Werken und Autoren berücksichtigen. Da Bourdieu zufolge Felder agonal strukturiert sind, muss Kunst als ein dynamisches System von Differenzen verstanden werden, in dem Anerkennung – in Bourdieus Terminologie: symbolisches Kapital – auf Distinktion beruht.⁷ Weil Autorschaft mit Bourdieu in einem sozialen Koordinatensystem verortet werden muss, kann die „semantische Unschärfe von Begriffen wie Schriftsteller“⁸ oder ‚Autor‘ auch nicht theoretisch beseitigt werden. Sie ist „gleichzeitig Ergebnis und Voraussetzung der Kämpfe um die Durchsetzung einer Definition“.⁹ Der feldanalytische Ansatz empfiehlt sich damit als eine Methode, die Aufmerksamkeit für die sozialen Dynamiken und historischen Spezifika des literarischen Felds erzeugt, um die Funktion von Autorschaftsmodellen genauer zu bestimmen. Hier unterscheidet sich Bourdieu signifikant von Foucault, der in Was ist ein Autor? „über verschiedene Epochen hinweg eine gewisse Invarianz in den Regeln der Konstruktion des Autors“¹⁰ findet und in der ‚AutorFunktion‘ „eine der möglichen Spezifikationen der Subjekt-Funktion“¹¹ entdeckt.¹²
Bourdieu hat seine Literatursoziologie in verschiedenen Publikationen dargestellt. Die wichtigsten Texte seien hier genannt: Bourdieu: Die Regeln der Kunst; Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: Louis Pinto, Franz Schultheis (Hgg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997, S. 33 – 148; Pierre Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld. In: Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main 1974, S. 75 – 124. Für eine Definition des Feldbegriffs vgl. Pierre Bourdieu: Über einige Eigenschaften von Feldern. In: Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main 1993, S. 107– 114. Über die Bedeutung des ‚symbolischen Kapitals‘ für das literarische Feld reflektiert Bourdieu in: Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 228 f. Ebd., S. 355. Ebd. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 248. Ebd., S. 259. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen in Was ist ein Autor? deutet Foucault in Die Ordnung des Diskurses die Variabilität von Autorschaftsmodellen an: „Aber ich denke, daß – zumindest seit einer bestimmten Epoche – das Individuum, das sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt. […] Und wenn es das traditionelle Bild, das man sich vom Autor macht, umstößt, so schafft es eine neue Autor-Position,
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Während Foucault Autorschaft im seit dem 18. Jahrhundert geltenden rechtlichen und institutionellen Rahmen analysiert, der „das Universum der Diskurse umfasst, determiniert, gliedert“,¹³ kommt Bourdieu ohne solche makrosoziologischen Annahmen – ohne den „Glauben an die kulturelle Einheit einer Epoche und einer Gesellschaft“ – aus,¹⁴ wird für ihn der Autorschaftsdiskurs selbst doch zum sozialen Kampfplatz, auf dem um die Verteilung des symbolischen Kapitals im literarischen Feld gestritten wird.¹⁵ Bourdieu zufolge weigert sich Foucault, „die Kulturprodukte zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion in Beziehung zu setzen“.¹⁶ Foucault untersucht vorrangig, wie Autorschaft im Diskurs konstruiert und den Textproduzenten zugeschrieben wird. Bourdieu fokussiert zugleich den literarischen Produktionsprozess, für den die Inszenierung von Autorschaft eine legitimierende Funktion innehat. Die Feldtheorie erlaubt es insofern, der Diversität von Autorschaftsmodellen im literarischen Feld gerecht zu werden. Wenn mit Bourdieu im Folgenden danach gefragt wird, wer den literarischen ‚Schöpfer‘ denn ‚geschaffen‘ habe, dann wird sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Perspektive auf das literarische Feld eingenommen.¹⁷ Untersucht wird, welche Narrative, Motive und Normen Autorschaft legitimieren. Im Zentrum der Analyse stehen die strategischen Positionierungen von Autorinnen und Autoren im Diskurs des literarischen Felds.¹⁸ Der Begriff ‚Autor‘ oder ‚Autorin‘ von der aus es in allem, was es je sagt, seinem Werk ein neues, noch verschwommenes Profil verleiht.“ Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. 10., erw. Aufl. Frankfurt am Main 2007, S. 21 f. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 251. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 317 f. Klaus-Michael Bogdal weist darauf hin, dass Foucaults „abstraktes Modell der Subjektkonstituierung“ nicht ausreicht, um den „emphatischen Autorbegriff der Literatur“ zu erklären, weil es gesellschaftliche Entwicklungen, wie die zunehmende Arbeitsteilung, und den Einfluss von Diskursen in anderen Feldern nicht zu berücksichtigen gestattet. Vgl. Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur, S. 193 f. Die Feldtheorie bietet hier ein methodisches Instrumentarium, das zudem die relative Autonomie des literarischen Felds anerkennt. Die Emphase, mit der um Autorschaft gestritten wird, erklärt sich nicht zuletzt aus der illusio des literarischen Felds. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 317. Vgl. Pierre Bourdieu: Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen? In: Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main 1993, S. 197– 211. Die Analyse von Autorschaftsmodellen, die diese Studie durchführen wird, unterscheidet sich daher auch grundlegend von Forschungsbeiträgen, in denen die „Selbstdarstellung“ und das „Image“ von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Mittelpunkt stehen. Carolin John-Wenndorf beispielsweise geht von der These aus, dass der Autor versuche, „sich selbst als Protagonist in den Diskurs des literarischen Feldes einzubringen; und zwar nicht allein durch seine Prosa oder Lyrik, sondern indem er sein Ich […] zur Anschauung bringt.“ Carolin John-Wenndorf: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld 2014, S. 14, 15 u. 16. Diese These und das mit ihr verbundene Erkenntnisinteresse teile ich nicht. Autorschaft legitimiert sich durch
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bezieht sich dabei auf die empirischen Akteure. ‚Autorschaft‘ bezeichnet hingegen eine jeweils historisch zu konkretisierende diskursive Zuschreibung, deren soziale Bedingtheit und normative Dimension in diesem Kapitel theoretisch erläutert und in den folgenden Kapiteln historisch analysiert wird.
1 Legitimationsstrategien im literarischen Feld: Autorschaft und Autorität Der Begriff ‚Autor‘ steht etymologisch in enger Beziehung zum lateinischen ‚auctoritas‘, das einen fördernden Einfluss bezeichnet.¹⁹ Autorschaft impliziert also schon rein etymologisch eine soziale Dimension.²⁰ Eine literatursoziologische Bestimmung von Autorschaft fragt nach den sozialen Strukturen, die Einfluss auf die Entstehung von Texten haben (augere: ‚etwas entstehen lassen‘) und durch die Autorschaft gestiftet wird. Anstatt Autorschaft als kulturelle Praxis einfach vorauszusetzen, muss untersucht werden, wie eine solche Praxis legitimiert und die Autorität des Autors generiert wird. Die Bourdieu’sche Literatursoziologie bietet sich für eine solche Analyse im besonderen Maße an, weil sie die Legitimierung von Literatur im Allgemeinen und Autorschaft im Besonderen nicht als einen sekundären Diskurs begreift, der die literarische Praxis ideologisch begleitet, sondern als Voraussetzung dafür versteht, dass literarische Praxis überhaupt stattfindet. Dieser normativen Dimension literarischer Praxis analytisch gerecht zu werden, erfordert eine doppelte Perspektive auf das literarische Feld einzunehmen, die nicht nur die Produktion von Werken, sondern auch die von Werten erkennen kann: Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum […]. Da das Kunstwerk als werthaltiges symbolisches Objekt nur existiert, wenn es gekannt und anerkannt, daß heißt von Betrachtern, die mit der dazu erforderlichen ästhetischen Einstellung und Kompetenz ausgestattet sind, gesellschaftlich als Kunstwerk instituiert ist, hat die Wissenschaft von den kulturellen Werken nicht nur deren Produktion zum Gegenstand, sondern auch die Produktion des Werts der Werke oder, was auf dasselbe herausläuft, die des Glaubens an den Wert der Werke.²¹
Normen und Kompetenzen, die die Bezeichnung eines Individuums als ‚Autor‘ oder ‚Autorin‘ erst legitimieren können, und daher nur in gewissen Fällen durch den Bezug auf das eigene Ich. Vgl. Erich Kleinschmidt: Autor. In: Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin und New York 1997, S. 176 – 180. Vgl. Michael Wetzel: Autor/Künstler. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. (Bd. 1.) Stuttgart 2000, S. 480 – 544. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 162. Hervorhebung im Original.
1 Legitimationsstrategien im literarischen Feld: Autorschaft und Autorität
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Bourdieu zufolge wird literarische Autorität vom literarischen Feld in einem autonomen Prozess selbst generiert und darf nicht objektivistisch aufgefasst werden. Die Normen und Werte des Felds sind nach der Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht einfach vorgegeben, sondern müssen in den Kämpfen des Felds gesetzt werden. Sie sind daher auch konstitutiv für die literarische Praxis selbst. Damit wird allerdings auch deutlich, dass Bourdieus These einen gesellschaftlichen Differenzierungsprozess voraussetzt und keine zeitlose Gültigkeit beansprucht. Die Soziologie des literarischen Felds theoretisiert einen sozialhistorischen Umstand, dessen Entstehung Bourdieu in seinem literatursoziologischen Hauptwerk Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire (1992) auf das 19. Jahrhundert datiert. Die Gültigkeit des im Folgenden theoretisch herauszuarbeitenden Autorschaftsbegriffs erstreckt sich gleichermaßen nur auf jene Epochen, in denen sich Kunst autonom bestimmt. Die Frage nach der Autonomie ist von großer Bedeutung, weil es insbesondere in Hinblick auf den Autorschaftsbegriff einen Unterschied macht, ob die Autorität des Autors und der Wert der Kunstwerke durch das literarische Feld selbst generiert werden, oder in Philosophie, Theologie oder Politik fundiert sind. Bourdieus im obigen Zitat vorgenommene Charakterisierung des Rezipienten als ästhetisch kompetent deutet darauf hin, dass es die Akteure des literarischen Felds selbst sind, d. h. neben anderen Autoren auch Rezensenten, Verleger und Leser, die über den Wert eines Kunstwerks und die Autorität eines Autors entscheiden. Hiermit sind heterogene Einflüsse auf das literarische Feld nicht ausgeschlossen, sondern ist darauf verwiesen, dass außerliterarische Ereignisse sich nicht unmittelbar im Feld abbilden, da sie einem Brechungseffekt unterliegen.²² Bourdieu hebt sich hier wohltuend von älteren literatursoziologischen Ansätzen ab, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst entweder kausal (orthodoxer Marxismus) oder nur unscharf bestimmen (Sozialgeschichte der Literatur).²³ Die Autonomie des literarischen Felds als Grundlage für die Autorität von literarischen Werken und literarischer Autorschaft zu begreifen, eröffnet einen neuen Zugang zur Autorschaftsfrage. Autorschaft verliert so ihre Selbstverständlichkeit und wird als soziokulturelles Konstrukt analysierbar. Die Frage, wie die
Vgl. ebd., S. 349. Für eine kritische Betrachtung der Sozialgeschichte aus Bourdieu’scher Perspektive vgl. Markus Joch, Norbert C. Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: Markus Joch, Norbert C.Wolf (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 1– 24, hier S. 6. Kritische Weiterentwicklungen sozialgeschichtlicher Ansätze finden sich in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hgg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000.
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Autorität von Autorschaft generiert wird, rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Unterscheidung zwischen Autorinnen und Autoren als empirischen Akteuren des literarischen Felds einerseits und Autorschaftsmodellen andererseits wird von Bourdieu in Die Regeln der Kunst nicht explizit vorgenommen. Bourdieu setzt sie aber in seiner Argumentation implizit voraus, wenn er das literarische Feld als agonal beschreibt: Der Kampf zwischen den Inhabern der polar einander entgegengesetzten Positionen des Felds der Kulturproduktion dreht sich um das Monopol auf die Durchsetzung der legitimen Definition des Schriftstellers.²⁴
Offensichtlich bezieht sich Bourdieu, wenn er von „Inhabern“ spricht, auf die empirischen Akteure des literarischen Felds, zu denen Autorinnen und Autoren zu rechnen sind. Ihr Ziel ist es, ihre „Definition des Schriftstellers“, die von mir als ‚Autorschaftsmodell‘²⁵ bezeichnet wird, zu legitimieren. Die Einführung dieses Begriffs im Rahmen der Literatursoziologie stellt in Rechnung, dass Bourdieu der Autorschaftsfrage keine theoretische Aufmerksamkeit zukommen lässt. Bourdieu fokussiert vorrangig auf die Form als Motor literarischer Evolution und auch neue literatursoziologische Darstellungen konzipieren das Feld (zumindest theoretisch) „als relationale Situierung von Poetiken“.²⁶ Die Auseinandersetzungen im literarischen Feld bestehen jedoch aus mehr als „internen Kämpfen um die Definitionsmacht legitimer Literaturformen“.²⁷ Sicherlich positionieren sich Autorinnen und Autoren auch mittels ästhetischer Formen im literarischen Feld. Aber auch die Inszenierung von Autorschaft dient der Legitimation literarischer Werke, wie die folgenden Feldanalysen demonstrieren werden. Wie alle Modelle reduzieren auch Autorschaftsmodelle die komplexe Wirklichkeit auf charakteristische Elemente und stellen damit Orientierungswissen bereit.²⁸ Auch dadurch werden sie zu Medien sozialer Auseinandersetzungen. Autorschaftsmodelle sind weder nachträgliche Phänomene, die eine bestimmte schriftstellerische Praxis lediglich reflektieren, noch rein individuell generierte Vorstellungen einzelner Autorinnen und Autoren. Sie besitzen einen normativen Charakter, der das Moment der Textproduktion beeinflusst und selbst sozial fundiert ist. Indem Bourdieu den agonalen Charakter des literarischen Felds betont, macht er deutlich, dass die
Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 354. Den Begriff nutzt auch: Hoffmann und Langer: Autor. Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur, S. 34. Ebd. Meine Hervorhebung. Vgl. Bernd Mahr: Cargo.Vom Verhältnis von Bild und Modell. In: Ingeborg Reichle u. a. (Hgg.): Visuelle Modelle. München 2008, S. 17– 40.
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Normen des Felds niemals fixiert, sondern stets umstritten sind. Bourdieu unterstellt jedoch kein nutzenmaximierendes Kalkül seitens der Autorinnen und Autoren, wie ihm vorgeworfen wurde.²⁹ Im Gegenteil: Die Bourdieu’sche Literatursoziologie bietet sich für die Analyse von Autorschaft insbesondere deswegen an, weil sie das identitätsstiftende Moment von Autorschaftsmodellen nicht ideologiekritisch desavouiert, sondern als einen sozialen Vorgang, der konstitutiv für das literarische Feld ist, anerkennt. Bourdieu rückt die autonome Generierung literarischer Normen ins Blickfeld, indem er den methodischen Dualismus der Handlungstheorie unterläuft. Einerseits grenzt er sich von der strukturalistischen und marxistischen Privilegierung objektiver Strukturen oder Instanzen, die Handlungen determinieren, ab. Andererseits kritisiert er subjektphilosophische Ansätze, die Akteuren Entscheidungsfreiheit zuschreiben. Jedoch erklärt Bourdieu die Intuitionen, auf denen die kritisierten Methoden basieren, keinesfalls für nichtig, sondern nimmt sowohl eine objektivierende als auch eine subjektivierende Perspektive auf Handlungen ein. So verwendet er verschiedene Begriffe, je nachdem, ob er objektive Zustände des literarischen Felds bezeichnet, oder die gleichen Sachverhalte aus der Perspektive der Akteure charakterisiert. Die operative Logik des Felds wird beispielsweise einmal als nomos und ein anderes Mal als illusio bezeichnet.³⁰ Während mit nomos die normative Dimension des Operierens im Feld objektiv bestimmt wird, qualifiziert Bourdieu dieses Gesetz in seiner Geltung für die Akteure zugleich als imaginär. Nur der Glaube an den Sinn des literarischen Spiels hält es im Gang. Der Begriff der illusio ist zentral für ein literatursoziologisches Verständnis von Autorschaft, da er die identitätsstiftende Dimension von Autorschaftsmodellen erfasst. Die illusio bezeichnet den Umstand, dass Akteure in ein Feld investieren, sich um des Spiels willen einbringen und nicht aufgrund eines nutzenmaximierenden Kalküls. Gleichzeitig betont Bourdieus doppelte Perspektive jedoch die soziale Dimension von Autorschaftsmodellen, denn diese setzen sich nicht aufgrund ihrer Originalität durch, sondern weil sie im Feld anerkannt werden. Dass literarische Praxis auf soziale Anerkennung bezogen ist, diese jedoch sowohl die „praktische oder theoretische Beherrschung des Erbes“³¹ des Felds als auch eine innovative Anknüpfung an die Tradition erfordert, verweist auf die spezifische Temporalität von Autorschaft. Symbolisches Kapital kann nur akkumuliert werden, wenn die individuelle Kunstproduktion im Namen der Kunst vollzogen und somit die zukünftige ästhetische Doxa antizipiert wird. Ob dies Vgl. Peter Bürger: Adorno, Bourdieu und die Literatursoziologie. In: Jahrbuch für internationale Germanistik XVII (1985), H. 1, S. 47– 56, hier S. 51. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 353 – 365. Ebd., S. 385.
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bewusst oder unbewusst passiert, ist zweitrangig, entscheidend ist das VerhaftetSein im literarischen Spiel, die illusio. Diese erklärt zudem die religionssoziologischen Begriffe der Bourdieu’schen Literatursoziologie. Der Gebrauch von Termini wie ‚Orthodoxie‘, ‚Häresie‘ oder auch ‚Konsekration‘ gründet auf der Annahme, dass es der Glaube an den Sinn der Literatur ist, der sich in den Praktiken des literarischen Felds einerseits materialisiert und diese Praktiken andererseits erst ermöglicht. Bourdieu lokalisiert Autorität insofern vornehmlich in der Tradition des literarischen Felds. Häretische Impulse können jedoch von heterogenen Einflüssen auf das Feld unterstützt werden. Gesellschaftliche oder politische Umbrüche wie beispielsweise der Zweite Weltkrieg, der für den Untersuchungszeitraum dieser Studie bedeutsam ist, können – vermittelt durch Positionierungen von Akteuren – tradierte literarische Formen und Autorschaftsmodelle infrage stellen und die Möglichkeit, ja Notwendigkeit generieren, Literatur und Autorschaft anders zu autorisieren. Zurückgegriffen werden kann in solchen Situationen auf normative Muster aus anderen Feldern. Hier setzt die Inszenierung von Autorschaft nach 1945 an. Durch die Positionierung im religiösen und politischen Feld versuchen Autoren im Nachkriegsdeutschland, Autorität für ihre literarische Praxis zu generieren. Gleichzeitig erneuern sie damit den Glauben an Literatur und Kultur (illusio), der durch den Holocaust infrage gestellt wurde.
2 Die Temporalität von Autorschaft Autorschaftsmodelle sind begrifflich auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die empirischen Akteure des literarischen Felds. Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, in ihnen Erklärungen für das Verhalten einzelner Akteure zu finden und somit ‚Autorschaft‘ und ‚Autor‘ synonym zu verwenden, sondern den Bezug der Akteure auf die Modelle zu erklären. Die Grundlage dafür bietet das jeweils zeitgenössische literarische Feld, in dem die empirischen Akteure wirken. Nur die Rekonstruktion des Felds erlaubt es, den Werdegang eines Autors verständlich zu machen, wie Bourdieu im folgenden Zitat betont: Einen Werdegang oder ein Leben als eine einzige, sich selbst genügende Reihe sukzessiver Ereignisse verstehen zu wollen, die nichts als ihre Beziehungen auf ein ‚Subjekt‘ untereinander verbindet, dessen Stetigkeit sich vielleicht in dem ihm sozial zuerkannten Eigennamen erschöpft, ist etwa ebenso absurd wie der Versuch, eine Fahrt in der U-Bahn nachzuzeichnen, ohne die Struktur des Netzes, das heißt die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen verschiedenen Stationen, zu berücksichtigen.³²
Ebd., S. 410.
2 Die Temporalität von Autorschaft
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Indem Bourdieu die Laufbahn eines Autors im literarischen Feld mit einer UBahnfahrt vergleicht, dekonstruiert er nicht nur den Subjektbegriff, sondern hebt zugleich hervor, dass Autorschaft in einem sozialen Kräftefeld generiert wird. Das U-Bahnnetz versinnbildlicht die relationale Dimension von Autorschaft. Bourdieu kritisiert mit diesem Bild ein biografisches Verständnis von Autorschaft, demzufolge literarische Werke als Ausdruck künstlerischer Individualität zu begreifen sind. Bourdieus Sinnbild legt nahe, Erfolge von Autorinnen und Autoren nicht allein auf ihre individuellen Eigenarten zurückzuführen, sondern das literarische Feld als einen Raum von Möglichkeiten zu begreifen, in dem keinesfalls willkürlich gehandelt werden kann.Wie bei einem U-Bahnnetz können nur bestimmte Wege eingeschlagen werden, die immer auch für andere Autorinnen und Autoren offen sind. Sinnbilder wie dieses erklären jedoch immer nur Aspekte einer Theorie und dürfen nicht überstrapaziert werden. In diesem Fall ist daher zu betonen, dass Bourdieu hier eine objektivistische Perspektive auf das literarische Feld illustriert. Aus der Perspektive der Akteure zeichnen sich die einzuschlagenden Wege natürlich nicht so deutlich ab, wie es das Bild suggeriert. Der Grund dafür liegt in der Temporalität von Autorschaft. Da die Zukunft des Felds stets das Resultat von Kämpfen ist, können neue Wege nur erprobt werden und lässt sich erst in der Retrospektive ein gangbares Wegenetz skizzieren. Die Temporalität von Autorschaft erlaubt es, einen produktiven Dialog zwischen Poststrukturalismus und Literatursoziologie zu initiieren, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass Bourdieus literatursoziologische Methode mit der poststrukturalistischen These harmoniert, dass der Autor als Interpretationskategorie für literarische Texte methodisch obsolet geworden sei. Poststrukturalismus und Literatursoziologie widersprechen sich bekanntlich in vielerlei Hinsicht, gemeinsam ist ihnen jedoch die Relativierung der Autorposition. Kritisiert der Poststrukturalismus die Rückführung literaturwissenschaftlicher Interpretationen auf die Person des Autors, begreift die Literatursoziologie Autorschaft selbst als soziales Phänomen, das jeglicher biografischer Reduktion widerspricht. Roland Barthes wirkungsmächtiger Essay Der Tod des Autors (1968) markierte die Krise eines in der Literaturwissenschaft der 1950er- und 60er-Jahre sowohl in Frankreich als auch in Deutschland weit verbreiteten Verständnisses von Autorschaft als hermeneutischer Kontrollinstanz. Barthes bezweifelt in diesem inzwischen klassisch gewordenen Text, dass sich hinter einem Werk „immer die Stimme ein und derselben Person verberge, die des Autors“.³³ Seine These, dass der Autor als Ursprungskategorie nicht mehr von Belang sei, stützt sich auf die literarische Praxis Mallarmés und der écriture automatique der Surrealisten:
Barthes: Der Tod des Autors, S. 186. Hervorhebung im Original.
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I Autorschaft aus literatursoziologischer Sicht
„Für Mallarmé (und für uns) ist es die Sprache, die spricht, nicht der Autor.“³⁴ Barthes’ Kritik an der Illusion auktorialer Souveränität betont die religiöse Dimension der hermeneutischen Konzeption von Autorschaft. Dem Autor dürfe kein gottgleicher Status zugeschrieben werden, denn Schreiben sei keine creatio ex nihilo. Barthes dekonstruiert die Vorstellung von Autorschaft als Ursprung, indem er auf die Temporalität des Schreibens aufmerksam macht. Die avantgardistischen und modernistischen Sprachexperimente offenbaren seiner Ansicht nach nur, was schon immer im literarischen Schreibprozess angelegt gewesen ist, dass die „Schrift [écriture] jede Stimme, jeden Ursprung zerstört“.³⁵ Schreiben sei nicht der Ausdruck einer früher gemachten Erfahrung, es registriere nicht Vorhandenes, sondern sei „ein Feld ohne Ursprung“.³⁶ Hermeneutischen Kontrollphantasien entgegnet Barthes, dass Autorschaft kein dem Text vorgängiges Phänomen ist: Der Autor ernährt vermeintlich das Buch, das heißt, er existiert vorher, denkt, leidet, lebt für sein Buch. Er geht seinem Werk zeitlich voraus wie ein Vater seinem Kind. Hingegen wird der moderne Schreiber [scripteur] im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben vorausginge oder es überstiege; er ist in keiner Weise das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben.³⁷
Barthes’ These gewinnt an Plausibilität, wenn man ‚Autor‘ und ‚scripteur‘ in diesem Zitat als Kategorien der Interpretation ansieht. Im Gegensatz zum ‚Autor‘, dessen frühere Erfahrungen die Bedeutung des Textes verbürgen sollen, setzt eine Interpretation, die einen Text als Produkt eines ‚scripteurs‘ ansieht, ein textuelles Spiel voraus. Der ‚scripteur‘ lässt sich von der Sprache treiben und versucht, seine Kontrolle über den Text zu minimieren. Eine diesem Modell entsprechende Interpretation muss die Mehrdeutigkeit des Textes herausarbeiten. Barthes’ Fokus auf das Hier und Jetzt des künstlerischen Schaffensprozesses ermöglicht es aber auch, die Gegenwart der Textproduktion nicht nur als eine Dialektik zwischen Schreiber und sprachlichem Material zu begreifen, sondern als einen performativen Vorgang, denn Autorschaft wird in der Tat durch Texte reklamiert. Diese stehen jedoch in einem sozialen Kontext. Barthes spielt in seinem Essay einen poststrukturalistischen Schriftbegriff gegen die Vorstellung aus, dass der Autor seinen Text semantisch kontrollieren könne. Doch fragt es sich, ob damit die These vom Tod des Autors hinreichend belegt ist. Michel Foucault hat richtigerweise bemerkt, dass Barthes die tradi
Ebd., S. 187. Ebd., S. 185. Ebd., S. 190. Ebd., S. 189. Hervorhebungen im Original.
2 Die Temporalität von Autorschaft
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tionelle Logik der Frage nach literarischer Autorschaft beibehält. Auch Barthes stelle eine Ursprungsfrage. Anstatt des entmachteten Subjekts fungiere bei Barthes (ganz im Sinne eines poststrukturalistischen Textbegriffs) eine „transzendentale Anonymität“³⁸ als Ursprung jeglicher Bedeutung: die des Textes selbst. Die Verkürzung der Autorschaftsfrage auf eine Ursprungsfrage resultiert aus dem kommunikationstheoretischen Paradigma, das Barthes dekonstruiert, aber eben nicht verabschiedet. Werden diesem zufolge Autor und Leser als Sender und Empfänger eines Kommunikationsvorganges aufgefasst, als dessen Medium der Text fungiert, so entmachtet Barthes den Autor und lokalisiert die Bedeutungsgeneration in der Relation zwischen Text und Leser. Ein literatursoziologischer Begriff von Autorschaft grenzt sich ähnlich wie der Poststrukturalismus von Theorien ab, die den Autor als Quelle der Textbedeutung begreifen, er vermag aber zudem die Relevanz von Autorschaftsmodellen zu erklären. Dies gilt auch für die von Barthes angeführten Autoren. Mallarmé und die surrealistischen Schreibexperimente folgen einem modernistischen Autorschaftsverständnis, das darauf abzielt, die hermeneutische Kontrolle über den Text aufzugeben. Ein solches Autorschaftsmodell resultiert jedoch nicht einfach aus einem dem Poststrukturalismus affinen Sprachverständnis, sondern benötigt, um erfolgreich verwirklicht zu werden, die Legitimation durch das literarische Feld. In der Literaturwissenschaft sind aus diesem Grunde die Zusammenhänge thematisiert worden, die zwischen den Formexperimenten der klassischen Moderne sowie der Avantgarde und den epistemologischen Irritationen bestehen, die sich aus wissenschaftlichen Diskursen wie Albert Einsteins Relativitätstheorie, Ernst Machs Psychologie, Fritz Mauthners Sprachkritik und Sigmund Freuds Psychoanalyse ergaben. Ist der Textproduktion, wie Barthes betont, auch eine nicht hintergehbare Spontanität eigen, so ist der Erfolg der produzierten Werke und inszenierten Autorschaftsmodelle doch von den Kräfteverhältnissen des literarischen Felds abhängig. Eine literatursoziologische Sichtweise erlaubt es somit, den ‚Tod des Autors‘ selbst als ein Autorschaftsmodell zu begreifen, das sich seit der klassischen Moderne einer anhaltenden Beliebtheit erfreut, wie es die Nobelpreisrede von Herta Müller im Jahr 2009 erneut demonstriert hat.³⁹ Barthes’ Hinweis auf die Temporalität des Schreibens führt daher nicht notwendigerweise dazu, Autorschaft als Kategorie aufzugeben.Vielmehr eröffnet sich so die Möglichkeit, Autorschaft nicht als Ursprung, sondern als Produkt von Texten zu begreifen. In diesem Sinne lese ich die folgende Passage aus Barthes’ Essay:
Foucault: Was ist ein Autor?, S. 241. Vgl. Herta Müller: Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis. In: Frankfurter Rundschau vom 07.12. 2009.
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I Autorschaft aus literatursoziologischer Sicht
Linguistisch gesehen, ist der Autor immer derjenige, der schreibt, genauso wie ich niemand anders ist als derjenige, der ich sagt. Die Sprache kennt ein ‚Subjekt‘, aber keine ‚Person‘. Obwohl dieses Subjekt außerhalb der Äußerung, durch die es definiert wird, leer ist, reicht es hin, um die Sprache zu ‚tragen‘, um sie auszufüllen.⁴⁰
Indem Barthes den Schreibprozess mit dem Sprechen vergleicht, verdeutlicht er erstens, dass Schreibende außerhalb der Diskurse, in die sie sich einschreiben, unbestimmbar bleiben und zweitens, dass die Möglichkeit, Bezug auf sich zu nehmen, nur vermittelt über Diskurse besteht.⁴¹ Barthes unterscheidet hier also implizit zwischen den schreibenden Autoren und Autorschaftsmodellen, die sich erst durch Texte und andere Medien herstellen lassen. Diese von Barthes nicht weiter verfolgte Unterscheidung möchte ich literatursoziologisch fruchtbar machen. Denn sie erlaubt zu erklären, warum Autorschaft nicht als Ursprung von Texten zu verstehen ist, sondern sich Autoren durch Texte mit Autorschaftsmodellen identifizieren. Letztere sind in ihrer Bedeutung durch Differenzen bestimmt. Sie stehen in diachronen und synchronen Relationen zu anderen Autorschaftsmodellen. In temporaler Hinsicht muss daher festgehalten werden, dass sich erst in der Textproduktion Möglichkeiten auktorialer und literarischer Positionierungen ergeben und diese Positionierungen wiederum auf die Anerkennung des literarischen Felds angewiesen sind. Auch wenn Autorschaft im Moment der Textproduktion generiert wird, so kann eine diachrone Perspektive auf Autorinnen und Autoren jedoch nicht aufgegeben werden, sind diese doch sowohl als vormalige Textproduzenten als auch als Lesende mit den Gepflogenheiten des literarischen Felds vertraut. Dieses Wissen bringen sie in den Produktionsprozess mit ein.
3 Die Inszenierung von Autorschaft Der Dialog zwischen Poststrukturalismus und Literatursoziologie legt nahe, dass Autorschaft der Textproduktion nicht vorangeht, sondern im gleichen Prozess wie der Text generiert wird. In diesem Sinne spreche ich von der ‚Inszenierung von Autorschaft‘.⁴² Der Inszenierungsbegriff erlaubt es, das Verhältnis zwischen em Barthes: Der Tod des Autors, S. 188. Hervorhebung im Original. Wolfgang Iser, der auch die Autorschaftsfrage untersucht hat, spricht in dieser Hinsicht von der „Nullstelle des Diskurses“. Vgl. Wolfgang Iser: Auktorialität. Die Nullstelle des Diskurses. In: Klaus Städtke, Ralph Kray (Hgg.): Spielräume des auktorialen Diskurses. Berlin 2003, S. 219 – 241. Zurückgreifen kann ich dabei auf zahlreiche Publikationen. Vgl. Gisi u. a.: Medien der Autorschaft; Künzel und Schönert: Autorinszenierungen; Simon Bunke: Immer Höltys Geist gefragt. Inszenierungen von Autorschaft und Autorisation zwischen Göttinger Hain, Hölty und Voß. In: Ethel Matala de Mazza, Clemens Pornschlegel (Hgg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument
3 Die Inszenierung von Autorschaft
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pirischem Autor und Autorschaftsmodell analog zur Differenz zwischen Schauspieler und Rolle zu denken. Die Inszenierung von Autorschaft bezieht sich einerseits auf autoritätsverleihende Muster, setzt diese aber andererseits nicht einfach um, sondern transformiert sie im Prozess der Aktualisierung. Analog zur Welt des Theaters ist ein Interpretationsvorgang impliziert. Inszenierung bezeichnet allerdings mehr als ein bloß theatralisches Verhalten, denn die Inszenierung von Autorschaft erschafft keine fiktive Welt, sondern muss als performativer Vorgang verstanden werden. Sie ist als Handlung zu begreifen, die Autorität beansprucht, indem sie auf kulturell anerkannte Muster rekurriert. Zudem handelt es sich um einen selbstreflexiven Vorgang, der sich auf das eigene Schreiben bezieht. Letzteres geschieht entweder durch fiktionale Texte bzw. Paratexte oder durch poetologische Texte, die den Anspruch erheben, das eigene Schreiben zu reflektieren. Wenig ergiebig ist es, diesen Vorgang als Spiegelung oder Verzerrung des ‚eigentlichen‘ Schreibvorgangs zu qualifizieren. Vielmehr vollzieht sich die Inszenierung von Autorschaft als Kontextualisierung: Der Schreibende kann seine Autorschaft nur mithilfe des Diskurses charakterisieren, steuern und legitimieren. Die nur schwache Institutionalisierung des literarischen Felds verhindert es, dass Autorschaftsmodelle überzeitliche Gültigkeit besitzen. Aus diesem Grund ist literarischer Erfolg auch nicht planbar. Stattdessen ist jede Inszenierung von Autorschaft auf die Konsekration durch das Publikum angewiesen, d. h. auf Leser, Rezensenten und Verleger. Der Begriff der Inszenierung verweist zudem auf eine rhetorische Dimension, die in Bourdieus Literatursoziologie unterbelichtet bleibt, insbesondere für die Analyse von Autorschaft jedoch grundlegend ist. Die antike Rhetorik unterscheidet die Wirkung auf die Zuhörer durch Argumente (Logos), Affekte (Pathos) und durch das Bild, das der Sprechende von sich erzeugt (Ethos).⁴³ Jérôme Meisoz, der den Begriff des Ethos mit der Inszenierung von Autorschaftsmodellen in Verbindung gebracht hat, definiert wie folgt: „Das Ethos liegt im Selbstbild begründet, das der Sprechende in seine Rede hineinprojiziert, um die Zustimmung
literarischer Texte. Freiburg i. Br. 2003, S. 271– 295; Sandra Heinen: Literarische Inszenierung von Autorschaft. Geschlechtsspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik. Trier 2006; Nathalie Amstutz: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker. Köln 2004; Klaus-Michael Bogdal: „Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit“. Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers. In: Hansjörg Bay, Christof Hamann (Hgg.): Ideologie nach ihrem Ende. Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Opladen 1995, S. 129 – 145. Franz-Hubert Robling: Ethos. In: Gert Ueding,Walter Jens (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1994, Sp. 1516 – 1543.
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I Autorschaft aus literatursoziologischer Sicht
der Zuhörer zu gewinnen.“⁴⁴ Selbstbild ist nicht im Sinne einer permanenten personalen Identität zu verstehen, denn es dominiert der Zuhörerbezug. So betont auch Roland Barthes in seiner Analyse der antiken Rhetorik, dass der Begriff des Ethos eben „keine Ausdruckspsychologie“ impliziere und präzisiert: „Ich muss bedeuten, was ich für den anderen sein will.“⁴⁵ Mithilfe der antiken Rhetorik thematisiert Barthes hier ein Phänomen, das von Herbert Willems soziologisch als „Interaktionstheatralität“ begriffen wird: Mit Bezug auf die Arbeiten Erving Goffmans versteht Willems Interaktion als „Identifikations-, Signifikations- und Informationsspiel“, das einen Doppelzwang auf die Teilnehmer ausübt, die sowohl die Spielzüge der anderen interpretieren als auch selbst demonstrieren müssen, wie ihr Vorgehen einzuschätzen ist.⁴⁶ Letzterer Zwang, den Willems als „Kundgabezwang“ charakterisiert,⁴⁷ bildet das soziologische Pendant zu der rhetorischen Kategorie ‚Ethos‘ und zeigt somit auf, wie sich eine soziologische und eine rhetorische Perspektive verbinden lassen. Das Ethos des Autors ist Teil seiner Autorschaftsinszenierung und wendet sich an die anderen Akteure des literarischen Felds. Die Theatralität kommunikativen Handelns macht vor dem literarischen Feld nicht halt: „Wir handeln, sprechen, interagieren nicht einfach: wir inszenieren unser Handeln, Sprechen und Interagieren, indem wir es für uns und andere mit Deutungs- und Regieanweisungen versehen, die uns eine gewisse Zielstrebigkeit der Kooperation sichern.“⁴⁸ Der soziologischen Analyse zufolge ist der Kundgabezwang ein Strukturelement der Interaktionssituation. Allerdings kann man diesem Zwang mehr oder weniger nachkommen. Missglückte Kommunikation kann beispielsweise dadurch verursacht werden, dass ein Sprecher oder eine Sprecherin seinen/ihren Beitrag nur unzureichend mit Deutungs- und Regieanweisungen ausstattet. Der Doppelcharakter der Rhetorik, die einerseits Äußerungen analysiert, andererseits aber die Kunst der Rede lehrt, ist hier von Belang. Dass ich bedeuten muss, was ich dem anderen sein will, betont den normativen Charakter der Rhetorik. Als deskriptives Element der Rede umfasst der Begriff ‚Ethos‘ jedoch sowohl intentional als auch Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Markus Joch, Norbert C. Wolf (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 177– 188, hier S. 181. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Barthes: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 15 – 102, hier S. 76. Herbert Willems: Inszenierungsgesellschaft. Zum Theater als Modell, zur Theatralität von Praxis. In: Herbert Willems, Martin Jurga (Hgg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 23 – 80, hier S. 26. Ebd., S. 27. Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Frankfurt am Main 1989, S. 150.
4 Zur Historisierung der Methode: Autorschaft und Autonomie
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unbewusst generierte Selbstbilder. Dies erlaubt es, den Begriff aus der Rhetorik an die Bourdieu’sche Literatursoziologie anzuschließen, denn Autorschaft kann sowohl durch habituelle Verhaltensmuster als auch bewusst produziert werden. Der Modus der Generierung von Autorschaft kann nicht theoretisch dekretiert, sondern muss empirisch nachgewiesen werden. Bourdieu zufolge basiert literarischer Erfolg auf einer Wahlverwandtschaft zwischen Dispositionen von Autorinnen und Autoren einerseits und einer freien Position im Feld möglicher Positionierungen andererseits.⁴⁹ Das Zusammentreffen von Habitus und Position ist demnach nicht mechanisch zu denken, sondern eher so, dass eine freie Feldposition Akteure mit einem bestimmten Habitus anlockt und die Inszenierung eines bestimmten Habitus fördert. Beide Modi der Generierung von Autorschaft sind somit von literatursoziologischem Interesse.
4 Zur Historisierung der Methode: Autorschaft und Autonomie Bourdieus literatursoziologische Thesen sind an einem historischen Beispiel gewonnen. Dies hat zwei Konsequenzen. Erstens setzt die Anwendung der Bourdieu’schen Begriffe, wie schon erwähnt, ein autonomes literarisches Feld voraus. Zweitens behandelt Bourdieu das empirische Geschehen nicht einfach als Illustration theoretischer Kategorien, sondern verfertigt mithilfe theoretischer Konzepte eine Beschreibung empirischer Vorkommnisse. Ein Nachteil eines solchen Theoriedesigns ist es, dass die theoretischen Begriffe nicht abstrakt genug, sondern durch charakteristische Merkmale der untersuchten Epoche geprägt sind. Dies trifft m. E. auf Bourdieus Bewertung des Zusammenhangs zwischen Autonomie und Evolution des Felds zu. Die Evolution des literarischen Felds wird der Feldtheorie zufolge durch dessen Akteure gesteuert. Bourdieu grenzt sich dabei explizit von konkurrierenden literaturwissenschaftlichen Evolutionstheorien ab: Der Motor des Wandels, genauer gesagt, des von den russischen Formalisten beschriebenen, genuin literarischen Prozess von Automatisierung und Entautomatisierung, wohnt nicht den
Bourdieus Literatursoziologie unterscheidet sich hier von deterministischen Ansätzen. Der Grund für den Erfolg im literarischen Feld kann nicht allein dem Habitus zugeschrieben werden, sondern dieser muss auf eine strukturelle Begebenheit treffen, die ihn legitimiert. Mit anderen Worten: Der gleiche Habitus kann zu sehr verschiedenen Positionen im literarischen Feld führen, je nachdem, wie dieses strukturiert ist. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 405 f. Auf den Zusammenhang zwischen Habitus und Inszenierung werde ich im nächsten Kapitel näher eingehen, das die Generationsrhetorik der unmittelbaren Nachkriegszeit analysiert. Vgl. S. 47– 98.
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Werken inne, sondern dem für alle Felder der Kulturproduktion konstitutiven Gegensatz zwischen Orthodoxie und Häresie […].⁵⁰
Der Literatursoziologe hebt im Kontrast zu den russischen Formalisten hervor, dass es letztlich Akteure sind, die den künstlerischen Wandel hervorbringen, indem sie sich im agonal strukturierten literarischen Feld positionieren. Die Gesetze der literarischen Evolution werden damit aber nur akteurstheoretisch reformuliert. Schreibt Bourdieu literarische Innovation auch anderen Ursachen zu, so bleibt ihr Medium doch auch für ihn die literarische Form. Seine an der Entwicklung des französischen literarischen Felds gewonnenen empirischen Erkenntnisse generalisiert er im zweiten Teil seines literatursoziologischen Hauptwerks, der den „Grundlagen einer Wissenschaft von den Kulturprodukten“ gewidmet ist: Die Entwicklung des Feldes der kulturellen Produktion in Richtung auf größere Autonomie geht mit der in Richtung auf erhöhte Reflexivität einher, die jedes [sic] der ‚Gattungen‘ zu einer kritischen Besinnung auf sich selbst, seine [sic] eigene Grundlage, seine [sic] eigenen Voraussetzung führt […].⁵¹
Da die Autonomie literarischer Felder permanent zunimmt, steigert sich Bourdieu zufolge auch die Selbstbezüglichkeit der Kunst. Angesprochen sind hier sowohl die Ausdifferenzierung der literarischen Formen als auch die Zunahme von Bezügen auf die eigene Geschichte. Der Form kommt Bourdieu zufolge eine besondere Bedeutung zu, weil sie ausschließlich dem literarischen Feld zugehört. So erklärt sich beispielsweise, warum Flaubert in Bourdieus Analyse der Genese des literarischen Felds in Frankreich so wichtig ist. Flauberts Kunst hat sich unabhängig von ihrem Objekt gemacht: „Bien écrire le médiocre“ – in dieser Formulierung Flauberts sieht Bourdieu sein gesamtes ästhetisches Programm ausgedrückt.⁵² In ähnlicher Weise bezieht sich Bourdieu auf die Wertschätzung des ‚reinen Romans‘ durch André Gide und die Forminnovationen von James Joyce, William Faulkner und Virginia Woolf. Wie wichtig die Entwicklung hin zu einer „erhöhten Reflexivität“ für Bourdieus Theoriekonzeption ist, zeigt sich im folgenden Zitat, in dem Bourdieu ein „ganz allgemeines Modell, gültig für alle Unternehmungen, die auf Verzicht auf diesseitigen Gewinn und dem Leugnen der Ökonomie beruhen“,⁵³ begrifflich umreißt:
Ebd., S. 329. Ebd., S. 384. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 157– 166. Ebd., S. 405.
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Die neue Avantgarde hat um so weniger Mühe, die von der arrivierten Avantgarde aufgegebenen Positionen (oder in der Marketingsprache, die ‚Nische‘) zu besetzen, als sie sich zur Rechtfertigung ihrer ikonoklastischen Neuerungen nur auf die Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition der Praxis, auf die Reinheit, Verkanntheit und Ärmlichkeit des Beginnens zu berufen braucht; die literarische oder künstlerische Häresie findet gegen die Orthodoxie statt, aber zugleich auch mit ihr: im Namen dessen, was diese einst war.⁵⁴
Bourdieu legt hier nahe, dass literarische Evolution den Weg ästhetischer Innovation geht. Die einzige Logik, die tendenziell Anerkennung im literarischen Feld zu versprechen vermag, scheint für Bourdieu die der ‚reinen Kunst‘ zu sein. Er spricht in dieser Hinsicht auch von einer asketischen Phase, in der die Häretiker nur im Namen der Kunst agieren und weltliche Anerkennung oder gar Gewinn ganz von sich weisen: Ein frühes Martyrium verspreche späte Klassizität. Die Annahme einer solchen Entwicklungsrichtung der Kunst mag in einem Narrativ überzeugen, das den Ästhetizismus oder auch die oben genannten avantgardistischen Künstlerinnen und Künstler als Endpunkt setzt.⁵⁵ Doch wie kann die Entwicklung des literarischen Felds in Deutschland nach 1933 erklärt werden? Offensichtlich beeinflussten die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts die literarische Produktion. Als ästhetische Innovationen können die vielen Geschichtsromane des Exils und die Prosa der Gruppe 47 jedenfalls nicht betrachtet werden. Bourdieu vernachlässigt die relationale Dimension ästhetischer Autonomie. Denn während die epistemologischen Krisen zur Zeit der klassischen Moderne die Reflexivität der Kunst noch verstärken mochten, sind die heterogenen Einflüsse auf die deutschsprachige Literatur nach 1933 anderer Natur. Aufgrund dieser Problemlage dient die Literatursoziologie Bourdieus meiner Forschung auch nur als theoretische Basis. Es liegt im Theorieverständnis Bourdieus begründet, dass die Analyse einer neuen historischen Epoche theoretische Modifikationen mit sich bringen kann. Denn zum einen basiert die Theorie Bourdieus auf der Beschreibung einer empirischen Realität und ist daher an deren Transformation gekoppelt, zum anderen ist das literarische Feld als nur relativ autonom charakterisiert. Letzteres bietet Spielraum, um grundlegende historische Einschnitte wie den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg in ihren Auswirkungen
Ebd., S. 404 f. So kann Christine Magerski in ihrer literatursoziologischen und wissenschaftshistorischen Untersuchung der Herausbildung der ästhetischen Moderne in Deutschland überzeugend an Bourdieus These einer Zunahme von Reflexivität anknüpfen. Magerski zeigt zugleich auf, dass die Herausbildung der Literatursoziologie selbst als Resultat der Konstituierung eines autonomen literarischen Felds zu betrachten ist. Vgl. Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 101.) Tübingen 2004, S. 3 f.
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auf die Literatur theoretisieren zu können. Mit Bourdieu steht man also dem Umstand, dass eine avantgardistische Entwicklungslogik für das literarische Feld nach 1933 nicht konstatiert werden kann, sondern religiöse, politische und ethische Momente für die Entwicklung des Felds in Deutschland bedeutend wurden, nicht hilflos gegenüber. Im Gegenteil: Auf der Grundlage der Literatursoziologie Bourdieus und mithilfe des hier vorgeschlagenen Begriffs ‚Autorschaftsmodell‘ können die Legitimationsstrategien von Autorinnen und Autoren nach 1945, die auf feldexterne kulturelle Muster rekurrieren, präzise analysiert werden. Da dieses Methodenkapitel zur Orientierung der durchzuführenden literatursoziologischen Analysen dient, soll der Begriff ‚politische Autorschaft‘ hier nur insoweit präzisiert werden, wie es der theoretischen Durchdringung des empirischen Materials in den nachfolgenden Kapiteln hilft. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist Bourdieus Darstellung der Urszene des schriftstellerischen Engagements: Émile Zolas Intervention in die Dreyfus-Affäre, die allgemein als die Geburtsstunde des Intellektuellen gilt. Es kann an dieser Stelle natürlich nicht darum gehen, Bourdieus Ausführungen historisch zu überprüfen. Vielmehr möchte ich die theoretischen Implikationen derselben herausstellen und darstellen, inwieweit hier ein Fundament für die Analyse ‚politischer Autorschaft‘ nach 1945 gelegt wird. Auffällig an Bourdieus Erörterung von Zolas Anklage ist, dass der theoretische Schwerpunkt nicht auf den politischen Aspekten von Zolas Prosa, sondern auf der Erfindung der Rolle des Intellektuellen durch einen Vertreter der autonomen Literatur liegt. Bourdieu untersucht nicht, inwiefern die Möglichkeit der politischen Intervention Zolas durch die politische Dimension seiner Literatur generiert wurde, sondern warum ein Vertreter des autonomen literarischen Felds politisch erfolgreich handeln konnte. Engagiert ist hier nicht die Literatur, sondern die Positionierung des Autors im politischen Feld. Joseph Jurt hat darauf hingewiesen, dass es vor allem der am Modell der Medizin gewonnene wissenschaftliche Anspruch in Zolas Autorschaftsverständnis ist, der Bourdieu berechtigt, ihn als Vertreter der künstlerischen Autonomie zu betrachten.⁵⁶ Durch poetologische Schriften wie Le roman expérimental (1879) identifiziert sich Zola laut Bourdieu mit dem „klinischen Blick“ und stiftet so „zwischen dem Schriftsteller und seinem Gegenstand die objektivierende Distanz, die die Größen der Medizin von ihren Patienten trennt“.⁵⁷ Bourdieu zufolge ist daher das autonome Autorschaftsverständnis die Basis für die politische Intervention:
Vgl. Joseph Jurt: Autonomie und Engagement. Bourdieus Modell Zola. In: Eckart Goebel (Hg.): „Für viele stehen, indem man für sich steht“. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin 2004, S. 122 – 141, hier S. 132. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 192.
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Kraft einer sonderbaren Umkehrung, indem sie sich auf die spezifische Autorität stützen, die von den reinen Schriftstellern und Künstlern gegen die Politik erobert worden war, wird es mithin Zola und den aus der Entwicklung des Hochschulwesens und der Forschung hervorgegangenen Wissenschaftlern gelingen, mit der politischen Gleichgültigkeit ihrer Vorgänger zu brechen und anläßlich der Dreyfus-Affäre in das politische Feld selbst einzugreifen, mit Waffen freilich, die keine politischen sind.⁵⁸
Zola wird von Bourdieu in diesen Zeilen als austauschbarer Vertreter des autonomen literarischen Felds angesehen und der Transfer von Autorität zwischen zwei Feldern so entpersonalisiert. Mit J’accuse (1898) fordere Zola die Autorität des literarischen Felds in der Politik ein und inszeniere sich „als Verteidiger universeller Prinzipien, die nichts anderes sind als das Ergebnis der Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums“.⁵⁹ Diese Modellanalyse des politischen Engagements kann auf die deutsche Nachkriegszeit nicht übertragen werden. Die Literatur der verschiedenen Mitglieder der Gruppe 47 stellt mitnichten ‚reine Literatur‘ dar, grenzt sich vielmehr auch in der Inszenierung von Autorschaft von dieser ab und bezeugt eine politische Tendenz. Es wäre ein argumentativer Kurzschluss, die Autorität des politischen Engagements von Schriftstellerinnen und Schriftstellern nach 1945 aus der Autonomie des literarischen Felds erklären zu wollen, eroberte die Gruppe 47 ihre Position im literarischen Feld doch gerade gegen Vertreter der ‚reinen Kunst‘ wie Gottfried Benn. Dennoch ist Bourdieus Analyse des Transfers von symbolischem Kapital zwischen zwei Feldern wichtig. Denn sie spricht noch einen anderen Vorgang an, der in seiner Relevanz für die Nachkriegszeit nicht unterschätzt werden sollte: die Übertragung von Autorität vom intellektuellen Feld ins literarische Feld. Bourdieu bezieht sich im folgenden Zitat auf diesen Transfer und versucht zu erklären, warum Zola trotz seines Massenerfolgs seine Literatur als ästhetisch legitim durchsetzen konnte: Dazu mußte er eine neuartige Gestalt erfinden, die des Intellektuellen, und zwar indem er für den Künstler einen subversiven prophetischen Auftrag ersann, der, intellektuell und politisch zugleich, geeignet ist, als ästhetisch-ethisch-politische Konzeption erscheinen zu lassen,was seine Gegner als Folge eines vulgären oder abwegigen Geschmacks beschreiben, und Mitstreiter dafür zu gewinnen.⁶⁰
Das Modell ‚Intellektueller‘ fungierte Bourdieu zufolge für Zola als Autorschaftsmodell.Weil Zola als Intellektueller angesehen wurde,veränderten sich die Maßstäbe, die
Ebd., S. 213. Ebd., S. 211. Zolas politisches Engagement wird von Bourdieu als Modell für sein eigenes intellektuelles Engagement und damit durchaus normativ verstanden. Vgl. Jurt: Autonomie und Engagement, S. 136 – 140. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 210.
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an seine Literatur angelegt wurden. Eventuelle ästhetische Mängel seien so kompensiert worden. Bourdieu spricht hier eine zentrale Funktion von Autorschaftsmodellen an, die von Autorinnen und Autoren adaptiert werden, um sich als Teil einer den Bereich der Ästhetik transzendierenden Bewegung zu inszenieren. Dies gilt nicht nur für das Modell des politischen Autors, wie es von einzelnen Mitgliedern der Gruppe 47 inszeniert wurde, sondern auch für sich kulturkritisch inszenierende Bewegungen wie etwa den Expressionismus.⁶¹ In beiden Fällen positionieren sich Autorinnen und Autoren mithilfe von ethischen, politischen oder religiösen Argumenten, um ihre ästhetische Produktion zu legitimieren.
5 Autorschaft und die Grenzen des literarischen Felds Die Positionierung von Autorinnen und Autoren in religiösen oder politischen Diskursen erscheint aus der Perspektive Bourdieus als eine Grenzverletzung, die die Autonomie des literarischen Felds einschränkt. Spricht Bourdieu auch selbst von „relativer Autonomie“,⁶² so denkt er doch lediglich an die strukturellen Voraussetzungen der literarischen Kommunikation, wie etwa die Herausbildung einer intellektuellen Leserschaft oder die Veränderungen des Publikationswesens. Bourdieu unterscheidet sich hier kaum von einer an Luhmann geschulten systemtheoretischen Literatursoziologie. Den Code der literarischen Kommunikation legt auch er fest: Er besteht in der Zuschreibung oder Aberkennung von ästhetischer Innovation.⁶³ Anders als die Systemtheorie, die autopoetische Prozesse als Gründungsereignisse ansieht, legt Bourdieu die Entstehung und Evolution sozialer Felder jedoch in die Hände von Akteuren. Seine Untersuchung Die Regeln der Kunst erzählt nicht zuletzt eine Heldengeschichte, deren Heroen Baudelaire und Flaubert sind. Die ‚Regeln der Kunst‘ werden Bourdieu zufolge in einer „heroischen Phase der Eroberung der Autonomie“ gesetzt.⁶⁴ Diese erschaffe einen von den Imperativen der Religion, Politik und Moral getrennten Kommunikati So betont beispielsweise Kurt Pinthus in seinen programmatischen Texten, dass die noch fehlende Perfektion der expressionistischen Ästhetik durch die Energie legitimiert wird, mit der der Bruch mit einer seelenfernen Zivilisation gesucht wird. Vgl. Kurt Pinthus: Zuvor. In: Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Lyrik. Berlin 1920, S. X–XVI. Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, S. 108.Vgl. Pierre Bourdieu u. a.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main 2009, S. 137. Ich vereinfache hier ein wenig, indem ich den systematischen Aussagen Bourdieus in den Regeln der Kunst folge. Allerdings gibt es auch der Systematik widersprechende Thesen, wie beispielsweise Bourdieus Verweis auf die Bedeutung der politischen Restauration für das Ende des Naturalismus. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 208 f. Ebd., S. 103.
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onsraum. Der ästhetische Bruch, so Bourdieu, gründe daher auch notwendigerweise auf einem „ethischen Bruch“.⁶⁵ Die von Baudelaire und Flaubert ausgelösten Skandale erhalten somit eine signifikante Funktion in der Etablierung des literarischen Felds, das sich einerseits dieser Negation verdankt, sich andererseits jedoch eigene Regeln geben muss. Auffällig an Bourdieus Gründungsnarrativ ist die Vielzahl religionswissenschaftlicher Termini wie ‚Glaube‘, ‚Konsekration‘ oder ‚Prophetie‘. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des unmittelbaren Gründungsakts, sondern auch für die Entwicklungsgeschichte des literarischen Felds, die Bourdieu als einen Konflikt zwischen ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘ konzipiert. Bourdieu spricht von Propheten und Häretikern, weil ihnen allen der ‚reine Glaube‘ bzw. die ‚reine Literatur‘ am Herzen liege. Die Gründungsgesten Baudelaires und Flauberts müssen insofern wiederholt werden. Die jeweils neue Avantgarde könne sich zwecks Rechtfertigung allein „auf die Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition der Praxis, auf die Reinheit, Verkanntheit und Ärmlichkeit des Beginnens“ berufen.⁶⁶ Autorschaft kann sich Bourdieu zufolge also nur durch einen positiven Rückbezug auf die Gründungsgesten literarischer Autonomie legitimieren. Es fragt sich aber, warum die ursprünglich durchgeführte Abgrenzung nur wiederholt werden kann, die Genese des Felds seine Entwicklung in diesem Maße determinieren muss. Bourdieu scheint davon auszugehen, dass kontinuierliche Abgrenzung von anderen sozialen Feldern für das literarische Feld notwendig bleibt. Autorschaft lässt sich mit Bourdieu theoretisch also als eine Inszenierungspraxis fassen, die die ursprüngliche Abgrenzungsgeste der Literatur wiederholt. In den nächsten Kapiteln wird zu zeigen sein, wie dieses Autorschaftsmodell im deutschsprachigen literarischen Feld auch nach 1945 vertreten wird. Schon hier muss aber an den empirischen Befund erinnert werden, der weiter oben schon angeführt worden ist: Autorinnen und Autoren berufen sich nach 1945 nicht nur auf den reinen Gründungsakt, sondern überschreiten in ihren Inszenierungen von Autorschaft auch die Feldgrenzen. Ihre Positionierung in anderen Diskursen wirkt sich auf ihr symbolisches Kapital aus. Im literarischen Feld wird also nicht nur darum gestritten, was künstlerisch innovativ ist, sondern wird auch die Funktion der Kunst in der Gesellschaft verhandelt. Autorschaftsinszenierungen bilden einen Kommunikationsraum, in dem die Grenzen des literarischen Felds neu verhandelt werden können. Albrecht Koschorke hat in einem Text, der sich mit den Grenzen der gesellschaftlichen Teilsysteme auseinandersetzt, der Kulturwissenschaft die Aufgabe zugesprochen, ein Konzept von ‚Kultur‘ zu entwickeln, das sich auf der Höhe
Ebd. Ebd., S. 404 f.
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sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bewegt und der „Ausdifferenzierung unterschiedlicher sozialer Systeme nicht nur in topologischer, sondern auch in epistemologischer Hinsicht“ Rechnung trägt.⁶⁷ Die Kulturwissenschaft müsse sich aus ihrer geisteswissenschaftlichen Tradition lösen, laufe sie doch sonst Gefahr, die Diversität der Gesellschaft mit einem universalistischen Begriff zu verdecken. Kultur, so schlägt Koschorke vor, könne als „Entstehungsort von Systemrationalitäten“⁶⁸ verstanden werden, als ein Ort, der von „symbolischen Machtkämpfen“,⁶⁹ wie es in einer an Bourdieu gemahnenden Terminologie heißt, gezeichnet sei. Mein Ansinnen ist es nun nicht, hier ein Kulturkonzept vorzustellen. An Koschorkes Überlegungen kann für die Autorschaftsfrage aber insofern produktiv angeschlossen werden, als die Debatten um Autorschaft als kulturelle Aushandlungsprozesse der Systemrationalität bzw. des nomos des literarischen Felds betrachtet werden können. So ergibt sich zugleich ein präziser Begriff von dem, was Bourdieu als ‚relative Autonomie‘ des literarischen Felds bezeichnet. Von Autonomie kann gesprochen werden, weil die Grenzen des Felds von den Akteuren desselben selbst gezogen werden. Als relativierender Faktor macht sich jedoch geltend, dass die Akzeptanz eines Autorschaftsmodells, verstanden als Systemrationalität des literarischen Felds, nicht nur von feldinternen Bedingungen abhängt. Empirisch exemplifiziert: Am traditionellen Sinn des literarischen Spiels, der für alle Akteure des Felds notwendigen illusio, meldeten viele Akteure des Felds nach 1945 Zweifel an. Das von ihnen vertretene Autorschaftsmodell reagierte also auf den Zustand in anderen sozialen Feldern. In der Sprache der Systemtheorie könnte man diesen Vorgang als ‚Irritation‘ beschreiben. Wann eine solche Irritation vorliegt, lässt sich jedoch nicht theoretisch bestimmen, sondern fällt in den Bereich der Empirie. Nur in der Retrospektive und durch die Selbstbeschreibungen des literarischen Felds lässt sich die Ursache benennen, die zu einer Irritation geführt hat, sind es doch die Akteure des Felds selbst, die letztlich festlegen, was als Irritation gilt und worin sie besteht. Bourdieu spricht in diesem Sinne, wie schon ausgeführt wurde, von einem Brechungseffekt, dem alle feldexternen Faktoren unterliegen, die sich auf das Feld auswirken.⁷⁰ Wenn sich eine Gruppe von Autorinnen und Autoren durchsetzt, die ein anderes Autorschaftsmodell favorisiert, dann ändert sich auch die Selbstbeschreibung des literarischen Felds. Autorschaftsinszenierungen müssen insofern sowohl als Element der
Albrecht Koschorke: Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart 2004, S. 174– 185, hier S. 177. Ebd., S. 179. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 367.
5 Autorschaft und die Grenzen des literarischen Felds
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Struktur des literarischen Felds als auch als Ereignis verstanden werden. Sie transformieren feldexterne Begebenheiten in konstitutive Elemente des literarischen Felds und reagieren somit auf soziale Veränderungen. Wesentlich ist daher die performative Dimension von Autorschaftsinszenierungen: Sie beschreiben nicht nur ein Autorschaftsmodell, sondern restrukturieren auch das Verhältnis des literarischen Felds zu anderen Feldern. Warum bietet sich nun gerade Autorschaft als ein Medium an, in dem das literarische Feld seine Grenzen zu anderen sozialen Feldern zieht? Eine Teilantwort liegt in der einfachen Tatsache begründet, dass Autorinnen und Autoren selbstverständlich auch den Effekten anderer sozialer Felder ausgesetzt sind. Die politischen Autorschaftsinszenierungen machen sich diesen Umstand zunutze: Biografische und generationelle Erfahrungen können so in die Inszenierung von Autorschaft einfließen, besitzen aber keine determinierende Funktion. Von einer Teilantwort habe ich deswegen gesprochen, weil Autorschaft nicht einfach verursacht wird. Ob biografische Erfahrungen dazu genutzt werden, den nomos des literarischen Felds neu auszuhandeln, bleibt letztlich kontingent. Die Beziehung des sozialen Kontexts zum Text kann mit Fredric Jameson, der sich selbst auf Althusser bezieht, als ein „absent cause“⁷¹ verstanden werden. Die ‚Ursache‘ wird erst durch die literarische Kommunikation codiert, dennoch aber als ‚Ursache‘ verstanden. Luhmann hat dies wie folgt ausgedrückt und damit zugleich auf die Schwierigkeiten der Systemtheorie aufmerksam gemacht: „Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ‚Quelle‘ und eines (oder keines) ‚Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters.“⁷² Schwierig ist diese These für die Systemtheorie deswegen, wie Koschorke herausstellt,⁷³ weil der hier konstatierte Beobachter nicht dem System selbst entstammen kann. Um von System und Umwelt zugleich berichten zu können, benötigt er einen dem System enthobenen Standpunkt. Argumentiert man hingegen weniger systemtheoretisch als vielmehr feldtheoretisch, so löst sich die paradoxale Struktur auf. Denn mit Bourdieu braucht man die Autonomie des literarischen Felds nicht absolut setzen, wie Luhmann es fordert. Während systematische Prozesse nur rekursiv verlaufen, also an die jeweils aktuell abgeschlossenen Systemoperationen anschließen müssen, erlaubt der agonale Charakter, den Bourdieu Feldern zuspricht, verschiedene Anschlussmöglichkeiten. Damit ist aber eine größere Offenheit gegenüber anderen
Fredric Jameson: The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca 1981, S. 82. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1997, S. 441. Vgl. Albrecht Koschorke: Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie. In: Albrecht Koschorke, Cornelia Vismann (Hgg.): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin 1999, S. 49 – 60, hier S. 57.
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Feldern verbunden. Autorschaft muss sich auch daher nicht zwangsläufig auf die Autorität des Anfangs berufen, wie Bourdieu es selbst annimmt, sondern kann aus der Logik einer immer intensiver voranschreitenden Ausdifferenzierung ausbrechen. Die Mythen oder Ursprungserzählungen, die in Autorschaftsinszenierungen aufgeführt werden, können sich nicht auf den Anfang der Ausdifferenzierung beziehen, sondern auf die Anlässe und Ziele des Schreibakts. Im Medium der Autorschaft kann der literarische Akteur die eigene literarische Operation aus der Perspektive anderer Felder beobachten. So kann die religiöse, politische oder auch rechtliche Signifikanz der Literatur inszeniert und auf Feldeffekte in anderen Feldern abgezielt werden. Für die politische Dimension von Autorschaftsmodellen zeigt sich hier ein weiterer wichtiger Aspekt, erlaubt es das Medium Autorschaft doch, den eigenen feldspezifischen Kontext zu überschreiten und eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu simulieren.Wird für die Differenzierungstheorie auch ein Gesellschafsbegriff fraglich, der die Einheit der gesellschaftlichen Teilsysteme voraussetzt, so kann ein solcher Blick auf die Gesamtgesellschaft durch die Literatur doch imaginiert werden.
6 Politische Autorschaft Die Frage, was als Spezifikum der politisch engagierten Literatur nach 1945 gelten kann, ist in der Forschung vorrangig mit Bezug auf den Begriff des Engagements beantwortet worden. Diese literaturwissenschaftliche Praxis spiegelt die Bedeutung der Person und Literatur Jean-Paul Sartres für das deutschsprachige literarische Feld nach 1945 wider, ignoriert jedoch die problematischen Aspekte dieser sehr oberflächlichen Rezeption, auf die ich in der Einleitung hingewiesen habe. Für die theoretische Durchdringung des Politischen in der Literatur hat diese Engführung auf den Begriff des Engagements schon allein deswegen nur wenige Resultate erbracht, weil Sartre in Was ist Literatur? diesen Begriff keineswegs nur auf politische Werke münzt, sondern auf das imaginative Potential der Literatur an sich abzielt. Die weniger theoretischen als vielmehr historisch konkreten Bestimmungen der Literatur, die Sartre im selben Essay vornimmt, weisen zwar deutliche Parallelen zu den Selbstverortungen der deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf, vermögen es aber nicht, das Phänomen der politisch ‚engagierten Literatur‘ theoretisch zu umreißen. So ist es wohl auch der Unbrauchbarkeit des Engagementkonzepts geschuldet, dass in den literaturhistorischen Darstellungen der politisch engagierten Literatur nach 1945 eine Konzentration auf die politischen Diskurse festzustellen ist, in die sich Autoren wie Böll, Grass und Enzensberger einschrieben. Als politisch engagierte Literatur qualifizieren sich so Texte, die zeitgenössische politische Diskurse aufnehmen, wie die Remilitarisierung, die De-
6 Politische Autorschaft
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batten um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit oder die Kriegsgefahr. Allerdings fehlt solchen Darstellungen ein theoretisches Instrumentarium, um festzustellen, wie sich die Art und Weise des Aufgreifens von politischen Diskursen durch die Literatur auf deren politischen Charakter auswirkt. Eine Analyse des Politischen in der Literatur, das werden die nächsten Kapitel am konkreten Material erweisen, muss sich nicht mit einer Rekonstruktion der politischen Diskurse, an denen die Literatur partizipiert, begnügen, sondern kann das Politische in den Texten selbst aufspüren. Das Verhältnis literarischer Texte zu anderen Feldern muss dabei berücksichtigt werden, denn die Grenzen des literarischen Felds sind nicht fixiert, sondern Resultat feldstrategischer Auseinandersetzungen. Die Inszenierung politischer Autorschaft verfolgt auch das Ziel, die Grenzen dessen,was noch als literarischer Text gilt, zu erweitern. Die Geschichte des deutschsprachigen literarischen Felds nach 1945 zeigt dies exemplarisch. Der Erfolg der Gruppe 47 musste gegen die Innere Emigration und eine an der Autonomieästhetik orientierte Literaturkritik, die die Politik aus der Literatur verbannt sehen wollten, erkämpft werden. Die Grenzen des literarischen Felds wurden dabei beständig erweitert, um politische Themen sowie Reflexionen zu inkludieren und den Autor bzw. die Autorin als politischen Akteur zu positionieren. Die räumliche Metaphorik der Feldtheorie sollte allerdings nicht in die Irre führen, denn damit ist keineswegs gemeint, dass hiermit vormals politisches Terrain vom literarischen Feld okkupiert würde. Im Gegenteil: Es handelt sich hierbei um eine Zunahme der Interdiskursivität der Literatur, die es ermöglicht, dass ein Text sowohl einen Effekt auf das literarische als auch auf das politische Feld haben kann. Diese doppelte Codierung der Texte soll in den nächsten Kapiteln in ihrer Relevanz für die Autorschaftsfrage nachgewiesen werden. Hier kann bereits hervorgehoben werden, dass es insbesondere das Medium der Autorschaft ist, in dem diese doppelte Codierung vorgenommen wird. Mit diesem Buch möchte ich nicht nur die Autorschaftsdebatte um eine literatursoziologische Stimme bereichern, sondern zugleich einen Beitrag zur Bestimmung des Politischen der Literatur leisten. Allerdings muss dieses Vorhaben zugleich eingegrenzt werden: Unterschieden werden muss zwischen dem Politischen literarischer Texte und der Inszenierung politischer Autorschaft durch literarische Texte. Politisch engagierte Literatur inszeniert Autorschaft nicht zwangsläufig. Beispielhaft können Anna Seghers Das siebte Kreuz (1942), Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963), Erik Neutschs Die Spur der Steine (1964) oder die Reportageliteratur der Weimarer Republik genannt werden. In Ernst Ottwalts Roman Denn sie wissen was sie tun (1931) und anderen Texten der Zwischenkriegszeit wird ganz auf den Sachverhalt fokussiert. Für all diese und viele weitere literarische Texte gilt, dass sie als politisch bezeichnet werden können, weil sie sich an einer politischen Kommunikation beteiligen bzw. einen politischen
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Kommunikationsraum konstituieren, in dem um die „Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt“⁷⁴ gestritten wird.⁷⁵ Ingrid Gilcher-Holtey hat in ihrer Analyse des literarischen Felds der Nachkriegszeit diesen Aspekt hervorgehoben und aufgezeigt, wie die Literatur der Gruppe 47 auf die „Veränderung von Denkund Wahrnehmungsstrukturen als Voraussetzung für eine neue politische Kultur“ setzte.⁷⁶ Die ‚engagierte Literatur‘ war aber nicht nur in diesem Sinne politisch. In der Inszenierung politischer Autorschaft wird der literarische Schaffensakt selbst als gesellschaftliche Praxis in Szene gesetzt. Trägt politisch engagierte Literatur auch generell dazu bei, das Soziale in einer bestimmten Weise zu deuten, so wird in der Inszenierung politischer Autorschaft ein Bild des sozialen Ganzen explizit entworfen und Autorschaft ins Verhältnis zu diesem Ganzen gesetzt. Am bereits in der Einleitung kurz angeführten Beispiel von Christa Wolfs Werk mag diese Differenz anschaulicher werden, ruft man sich die offensichtlichen Unterschiede zwischen Wolfs Debütroman Der geteilte Himmel (1963) einerseits und dem real existierenden Sozialismus gegenüber deutlich kritischer eingestellten Werken wie Nachdenken über Christa T. (1968), Kein Ort. Nirgends (1979), Kassandra (1983) und Was bleibt (1990) andererseits in Erinnerung. Auffällig ist, dass sich mit Wolfs zunehmender Distanz zur kommunistischen Partei und zur Arbeiterklasse die Thematisierung von Autorschaft in ihren Werken verstärkt.⁷⁷ Selbstverständlich kann man nicht ausschließen, dass dafür auch psychologische Gründe angeführt werden können. Die Abweichung von einem verordneten Literaturbegriff mag die Notwendigkeit mit sich gebracht haben, die eigene Praxis auch literarisch zu reflektieren. Dass Autorschaft jedoch Erzählungen und Romane so stark prägt, führt zu einer Positionierung der Autorin in Abgrenzung vom offiziellen Literaturverständnis der DDR, die gleichzeitig einen Zugewinn an literarischer Autonomie mit sich bringt. Am Beispiel von Christa Wolf lässt sich insofern zeigen, wie
Pierre Bourdieu: Die politische Repräsentation. In: Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001, S. 67– 114, hier S. 81. Dieses konflikttheoretische Verständnis von Politik liegt der ‚Neuen Politikgeschichte‘ zugrunde. Vgl. Heinz-Gerhard Haupt: Historische Politikforschung. Praxis und Probleme. In: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. (Historische Politikforschung 1.) Frankfurt am Main 2005, S. 304– 313, hier S. 309; Ute Frevert: Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen. In: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. (Historische Politikforschung 1.) Frankfurt am Main 2005, S. 7– 26. Auch Henning Marmullas Analyse des literarischen Felds um 1968 folgt diesem Politikkonzept. Vgl. Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin 2011, S. 277. Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, S. 136. Vgl. Frauke Meyer-Gosau: Lebensform Prosa. Eine Wegbeschreibung von der „Moskauer Novelle“ zu „Was bleibt“. In: Text + Kritik 11 (1994), H. 46, S. 23 – 34.
7 Literarische Texte und Konsekrationsinstanzen des literarischen Felds
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die Inszenierung von Autorschaft auf metafiktionale Strategien setzt. Indem der literarische Text sich selbst als Schöpfungsakt seines Autors bzw. seiner Autorin reflektiert, entwirft er zugleich den gesellschaftlichen Kontext, in dem diese Handlung situiert wird. Die Literatur als eine ausdifferenzierte soziale Praxis wird somit als Teil des gesellschaftlichen Ganzen imaginiert und die ‚Gesellschaft‘ aus einer simulierten entdifferenzierten Perspektive beobachtet.
7 Literarische Texte und Konsekrationsinstanzen des literarischen Felds Untersuchungsgegenstände der folgenden Kapitel sind sowohl Texte, die den Akt des Schreibens ästhetisch, politisch oder religiös reflektieren bzw. inszenieren, als auch operative Strukturen des literarischen Felds. Mit letzteren sind vor allem Vergabepraktiken von Literaturpreisen und Rezensionen von literarischen Texten durch die Literaturkritik gemeint. Beide Praktiken thematisieren nicht nur Form und Inhalt von Werken, sondern nehmen sowohl kritisch als auch affirmativ auf Autorschaftsmodelle Bezug. Mit Bourdieu können sie daher als Konsekrationsinstanzen des literarischen Felds bezeichnet werden. Die Literaturkritik und die Juroren maßgeblicher Literaturpreise sind für die Generierung und Tradierung von Autorschaftsmodellen von besonderer Bedeutung,weil sie weitaus häufiger als gewöhnliche Leserinnen und Leser Kommunikationsprozesse mit Autorinnen und Autoren generieren. Zudem kann der Schreibprozess, wie Barthes betont, nicht als intentionale Praxis begriffen werden. Geht man davon aus, dass Autoren etliche Aspekte und Dimensionen ihrer Werke unbekannt sind, dann kommt der professionellen Rezeption von Literatur eine essentielle Funktion bei der Generierung des Selbstverständnisses von Autoren zu. Das gilt für die Poetologie der Werke, denn es ist keineswegs so, dass einem Werk eine klar umrissene künstlerische Konzeption voranginge, die vom literaturkritischen Diskurs nur noch erkannt werden müsste: In Wahrheit ist dieser kritische Diskurs, den der Künstler kennt und anerkennt, weil er sich in ihm wiedererkennt, dem Werk gegenüber kein Pleonasmus, konstituiert er doch das künstlerische Projekt, indem er es beim Namen nennt und insofern herausfordert, der kritischen Besprechung zu entsprechen.⁷⁸
Bourdieu spricht hier die temporale Struktur von Autorschaft an, die ich mit Roland Barthes herausgearbeitet habe. Die Literaturkritik wird in diesen Zeilen nicht in ihrer kunstrichterlichen Funktion betrachtet, sondern als eine Objekti Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, S. 94.
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vierungsinstanz verstanden, durch die die scheinbar ursprüngliche Konzeption des Werks erst verstanden werden kann. Künstler seien gezwungen, sich zu dieser Objektivierung zu verhalten, da sie sich und ihr Werk in ihr wiedererkennen. Bourdieu macht so darauf aufmerksam, dass das Verhältnis von Autorinnen und Autoren zur Literaturkritik nicht allein taktisch geprägt ist, sondern dass sie hinsichtlich ihres Autorschaftsverständnisses auf Objektivierungen angewiesen sind. Hier bezeugt sich erneut die relationale Ausrichtung der Bourdieu’schen Literatursoziologie. Wird in der literaturwissenschaftlichen Analyse der Rezeptionsvorgang ignoriert, ist die Genese von Autorschaft nicht präzise fassbar, denn es ist nicht der Autor als Person, der Anerkennung erfährt, sondern ein bestimmtes Verständnis von Autorschaft, das, um von Akteuren verfolgt zu werden, benannt werden muss. In den nachfolgenden Kapiteln wird die Entwicklung von Autorschaftsmodellen seit 1945 daher nicht nur als Inszenierungsprozess in literarischen und poetologischen Texten analysiert, sondern wird auch ihre Relation zur Literaturkritik und zur Konsekration durch Literaturpreise dokumentiert werden.⁷⁹ Im Sinne von Bourdieus Literatursoziologie werde ich dabei jenen Autorinnen und Autoren besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, die sich im literarischen Feld durchsetzen konnten und damit hinsichtlich ihres Autorschaftsmodells normsetzend wurden.
Natürlich kann nicht behauptet werden, dass wirklich alle Rezensionen der einzelnen Werke hier berücksichtigt werden. Ich greife auf die Sammlung von Rezensionen im Archiv der Dortmunder Autorendokumentation zurück sowie auf zahlreiche anders ermittelte Besprechungen. Sicherlich fallen einige Besprechungen in Regionalzeitungen durch mein Raster. Berücksichtigt sind jedoch in jedem Fall die Rezensionen in den wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen sowie in populären Magazinen. Für die Analyse der Kräfteverhältnisse im literarischen Feld sind die Rezensionen in den maßgeblichen Printmedien ausschlaggebend. Nicht jedes Lokalblatt musste also ausgewertet werden. Der Dortmunder Autorendokumentation sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.
II Schreiben im Auftrag der ‚jungen Generation‘: Politische Autorschaft im literarischen Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit In der Literaturgeschichtsschreibung der unmittelbaren Nachkriegszeit dominiert die politische Terminologie. Es ist zu einem Gemeinplatz geworden, die Autorinnen und Autoren der ‚jungen Generation‘ von den weltabgewandten Verfechtern der Inneren Emigration und der konservativen Literaturkritik abzugrenzen. So spricht Jost Hermand in Kultur im Wiederaufbau davon, dass sich 1948 in der Literatur der „Rückzug ins Naturhafte, Religiöse und Mythisch-Magische“ vollzog und die Literaturkritik von einem kulturkonservativen „Triumvirat ‚Curtius-Rychner-Sieburg‘“ beherrscht wurde.¹ Gerd Müller zeichnet in Viktor Žmegačs Geschichte der deutschen Literatur ein ähnliches Bild: Befreit von den Zwängen eines total gelenkten Literaturbetriebs stürzte sich das Bildungsbürgertum zunächst blindlings auf alle Art von Literatur, die ihm grenzenlose Subjektivität und strenge Form zu versprechen schien, die symbolhaft Hintergründiges andeutete und das Elend des Augenblicks in ewige Dichtung transzendierte.²
Müller und Hermand spielen mit ihren Darstellungen auf einen Umstand an, der für das literarische Feld nach dem Krieg in der Tat von Bedeutung war: Die erfolgreichsten Publikationen,wie Elisabeth Langgässers Das unauslöschliche Siegel (1946) oder Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947), waren religiös geprägt und evozierten einen metaphysischen Sinn, der die Gegenwart vor dem Hintergrund religiöser Normen deutete.³ Diesen Symbolisierungs- und Stilisierungspraktiken wird in vielen literaturhistorischen Darstellungen die Kahlschlagparole der ‚jungen Generation‘ gegenübergestellt. Müller zitiert beispielsweise Hans Werner Richters rückblickende Selbsteinschätzung, dass die Gruppe 47 aus der „Romantisierung der
Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1965. München 1986, S. 152 u. 513. Viktor Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. (Bd. 3.2.) 2. Aufl. Weinheim 1994, S. 395. Vgl. Mathias Bertram: Literarische Epochendiagnosen der Nachkriegszeit. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945 – 1960). Berlin 2000, S. 11– 99, hier S. 11– 46; Ehrhard Bahr: Metaphysische Zeitdiagnose: Hermann Kasack, Elisabeth Langgässer und Thomas Mann. In: Hans Wagener (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stuttgart 1977, S. 133 – 162. DOI 10.1515/9783110528077-003
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Wirklichkeit heraus und ein neues Verhältnis zur Realität gewinnen“ wollte.⁴ Die Literaturgeschichtsschreibung skizziert so ein Bild des literarischen Felds, das durch binäre Strukturen Kontur gewinnt: Ästhetik oder Realität, Metaphysik oder Realismus, Religion oder Politik. Zweifel, ob dieses Bild der Komplexität literarischer Positionierungen gerecht wird, sind aber angebracht. Natürlich soll nicht bestritten werden, dass die oben angeführten Gegensätze für Positionierungen im literarischen Feld genutzt wurden. Wenn man jedoch, wie es im Folgenden geschehen soll, die Perspektive der literarischen Akteure analysiert, dann dürfen die Polemiken der sich politisch positionierenden Autorinnen und Autoren gegen die Innere Emigration nicht vorschnell für adäquate Selbstbeschreibungen genommen, sondern müssen als strategische Bezugnahmen auf das eigene, sozial situierte Handeln begriffen werden. Sich gegen die Inanspruchnahme der Religion oder die metaphysische Codierung eines literarischen Wirklichkeitsbezugs in den Texten der Inneren Emigration auszusprechen, bedeutet noch nicht, auf Religion und Metaphysik in eigenen Texten zu verzichten. Allein der positive Bezug einer Reihe von Autorinnen und Autoren der sich konstituierenden Gruppe 47 auf den ‚magischen Realismus‘ deutet das an. Zu Recht verweisen Axel Schildt und Detlef Siegfried auf die Dominanz des ‚magischen Realismus‘ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Autorinnen wie Ilse Aichinger und Ernst Kreuder prägte.⁵ Auch Alfred Andersch begrüßte in seiner auf dem zweiten Treffen der Gruppe 47 gehaltenen Rede Deutsche Literatur in der Entscheidung die Möglichkeit eines christlichen Existentialismus.⁶ Hans Werner Richter hob zudem hervor, dass den Realismus nicht nur der Bericht charakterisiere: „Es ist das blutige Erlebnis unserer Zeit und unseres Lebens, es ist die Fragwürdigkeit unserer geistigen Existenz und es ist die Unsicherheit unserer seelischen Verwirrung, die ihn [den Realismus – CS] aus der bloßen Wahrnehmung des Objektiven ins Magische erhebt.“⁷ Auch die erste geplante Ausgabe des Zeitschriftenprojekts Skorpion ist geprägt von Bekenntnissen zum ‚magischen Realismus‘. Hier ist es neben Richter vor allem Wolfdietrich Schnurre, der gegen Walter Kolbenhoff darauf beharrt, dass in jedem Menschen „Wirkliches und Unwirkliches, Fleischliches und Geistiges, Göttliches und Dämonisches sich überschneidet“.⁸ Zitiert werden kann
Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 416. Vgl. Axel Schildt und Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. München 2009. S. 76 f. Vgl. Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation. In: Andersch: Essayistische Schriften I. Hg. von Dieter Lamping. (Gesammelte Werke. Bd. 8.) Zürich 2004, S. 187– 218, hier S. 216. Hans W. Richter: Literatur im Interregnum. In: Der Ruf 1 (1947), H. 15, S. 10 – 11, hier S. 10. Wolfdietrich Schnurre: Für die Wahrhaftigkeit. Eine Antwort an Walter Kolbenhoff. In: Der Skorpion [Reprint] 1 (1948), H. 1, S. 43 – 46, hier S. 45.Von Kolbenhoff ist in dieser Nullnummer der
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ferner Heinrich Böll, der im Jahr 1949 in einer Umfrage der Zeitschrift Literarische Revue unter jungen Autorinnen und Autoren auf die Frage, worin die Bedeutung künstlerischen Schaffens liege, antwortete: „Den Dingen ihren Namen zu geben. Die Wirklichkeit einzuordnen in eine Symbolik, die der Welt innewohnt“.⁹ Wie diese programmatischen Aussagen zeigen, kann von einer generellen Abkehr von einem metaphysischen oder religiösen Autorschaftsverständnis seitens der ‚jungen Generation‘ nicht gesprochen werden. Dieses Kapitel analysiert, wie sich politische Autorschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit formierte. Von besonderer Bedeutung war dabei der Generationsbegriff. Denn diejenigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihre Autorschaft politisch verstanden, inszenierten sich als ‚junge Generation‘. Die Generationsrhetorik erlaubte es ihnen, sich einerseits in die von religiösen Normen mitgeprägte kulturelle Tradition zu stellen, andererseits jedoch starke Modifikationen derselben anzumahnen. Beobachtet werden kann diese Feldstrategie im Kontext der Nihilismusdebatte der Nachkriegszeit, in der sich die ‚junge Generation‘ mit dem Vorwurf des Nihilismus von Seiten der Inneren Emigration konfrontiert sah. Unterstellten die Ankläger ihr eine normative philosophische Position, die mit der Kultur des ‚christlichen Abendlandes‘ breche, so beriefen sich die Verteidiger auf einen „temporäre[n] Nihilismus“,¹⁰ der Ausdruck der eigenen Generationserfahrung sei. An die Bewahrer traditioneller Werte fragte die ‚junge Generation‘ in historisierender Absicht zurück, warum die so hochgeschätzten philosophischen und religiösen Werte den Nationalsozialismus nicht verhindert hätten. Nicht auf die Proklamation von ewigen Werten komme es an, sondern auf deren kritische Überprüfung unter dem Primat des Politischen. Bezogen auf das Autorschaftsmodell führte die ‚junge Generation‘ religiöse Normen durchaus fort, allerdings unter dem Aspekt ihres historischen Versagens. Dieser negative Bezug auf religiöse Traditionen bereitete die Kirchen- und Religionskritik vor, die zu einem zentralen Merkmal politischer Autorschaft in den 1950er- und 60er-Jahre werden sollte. Bevor sich die nächsten beiden Kapitel dieses Zeitraums annehmen, nicht lizensierten Zeitschrift ein offener Brief an Schnurre enthalten: Walter Kolbenhoff: An die Nebelrufer. Ein Brief an Wolfdietrich Schnurre. In: Der Skorpion [Reprint] 1 (1948), H. 1, S. 42– 43. Die Debatte hatte einen Vorlauf in der Zeitschrift Horizont im Jahr 1947: Wolfdietrich Schnurre: Kunst und Künstler. Unzeitgemäße Betrachtungen eines Außenseiters. In: Horizont 2 (1947), H. 1, S. 23; Walter Kolbenhoff: Kunst und Künstler – Eine Antwort. In: Horizont 2 (1947), H. 5, S. 8. Zu dieser Debatte vgl. Jürgen Engler: Die „Schizophrenie“ des Anfangs. Wolfdietrich Schnurre – ein Autor der „Trümmerliteratur“. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945 – 1949. Berlin 1996, S. 387– 438, hier S. 404– 410. Heinrich Böll: Antworten junger Autoren auf eine Umfrage. In: Literarische Revue 4 (1949), S. 245– 247, hier S. 245. Im dritten Kapitel wird auf Bölls Wirklichkeitsbegriff eingegangen. Vgl. S. 142– 144. Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 215 f.
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soll es hier um die Geburt politischer Autorschaft in der Nihilismusdebatte der unmittelbaren Nachkriegszeit gehen. Da Bourdieu zufolge literarische Felder agonal strukturiert sind und Autorschaftsmodelle daher als Medien der Distinktion begriffen werden müssen, werden im Folgenden auch die Gegenspieler der politischen Autorinnen und Autoren charakterisiert. Zuerst soll die religiöse Dimension des Autorschaftsmodells der Inneren Emigration dargestellt werden. Danach skizziere ich die Bemühungen der politisch engagierten Autorinnen und Autoren, sich als ‚junge Generation‘ zu inszenieren und damit von der Inneren Emigration und der Orthodoxie der Literaturkritik abzugrenzen. Ein Zwischenfazit hebt den Bezug auf die Generationserfahrung in seiner Funktion für die Autorschaftsinszenierung hervor. In der Nihilismusdebatte zeigten sich zum ersten Mal die Umrisse eines politischen Autorschaftsmodells, das sich durch die Abgrenzung von der Religion konstituierte und auf diese auch bezogen blieb. Die Herausbildung eines politischen Autorschaftsmodells in der Nachkriegszeit vollzog sich zudem in der Auseinandersetzung mit einer Literaturkritik, die autonomieästhetischen Prämissen folgte und gegenüber politischen Ambitionen kritisch eingestellt war. Daher sollen in diesem Kapitel abschließend auch die wichtigsten Literaturkritiker der Nachkriegszeit dargestellt und ihr Verhältnis zur politischen Autorschaft nachgezeichnet werden.
1 Die Innere Emigration als Gegner politischer Autorschaft Problematisiert werden soll hier die Dominanz der politischen Perspektive, aus der literarische Akteure der Inneren Emigration in literaturhistorischen Darstellungen oftmals beurteilt werden. Spricht man wie Hermand von einem „Rückzug“¹¹ in die Metaphysik oder wie Müller von einer ‚Flucht‘ in die „grenzenlose Subjektivität“,¹² dann verfährt man nicht nur selbst normativ, sondern reduziert apolitische Positionierungen auf Psychologisches. Die Legitimierungsstrategien einer solchen Feldstrategie geraten so aus dem Blick. Unverstanden bleibt der gesellschaftliche Kontext von Differenzierungsprozessen im literarischen Feld, denn der Inszenierung religiöser Autorschaft durch Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration lag eine Kampfansage an die Politik zugrunde. Gesellschaftliches Zusammenleben solle sich nicht mehr an der Politik, sondern an religiösen Werten orientieren. Verstanden wurde diese Position als eine Lehre aus Nationalsozialismus und Krieg. Die Legitimierungsstrategien der Inneren Emigration
Hermand: Kultur im Wiederaufbau, S. 152. Žmegač: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, S. 395.
1 Die Innere Emigration als Gegner politischer Autorschaft
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sollen im Folgenden nicht zuletzt deswegen dargestellt werden, weil sich die Inszenierung politischer Autorschaft vor diesem Hintergrund vollzog. Nur ein adäquates Verständnis der Inneren Emigration ermöglicht es, die Bedeutung der Religion für politische Autorschaft nach 1945 zu erfassen.
1.1 Religion in den Autorschaftsinszenierungen der Inneren Emigration Wie die Inszenierung religiöser Autorschaft in kulturpolitische Auseinandersetzungen eingriff, lässt sich besonders gut am Beispiel Ernst Wiechert demonstrieren. Der Autor, der im Nationalsozialismus verhaftet und 1938 einige Monate im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert worden war, wendete sich 1945 in stark religiöser Diktion und unter Berufung auf etliche Bibelstellen an die deutsche Jugend.¹³ Wiecherts am 11. November 1945 im Münchener Schauspielhaus gehaltene Rede, der auch deswegen kulturpolitische Bedeutung zukam, weil sie vom Kurt Desch Verlag in einer Auflage von 50 000 Exemplaren publiziert wurde, imaginiert die jüngste deutsche Geschichte in apokalyptischen Mustern.¹⁴ In einem dramatischen und schicksalhaften Ton stilisiert der Autor die Innere Emigration zum Wächter und Bewahrer der abendländischen Kultur. Den ‚Stillen im Lande‘, so die gängige Selbstbezeichnung der Inneren Emigration, sei nicht nur immer bewusst gewesen, dass der Krieg kommen würde, sondern auch, dass nach Rausch und Siegen das Gericht kommen würde. Sie wußten es mit einer unerschütterlichen Sicherheit, daß kein Zweifel sie mehr anrühren konnte. Und da sie nicht wußten, ob die Katastrophe auch sie verschlingen würde, so saßen sie nun Tag und Nacht über ihrem Werk, und kein anderes Ziel stand vor ihren Augen als ihre Hände und Herzen rein zu bewahren, um vor dem letzten Gericht bestehen zu können. Sie wußten, daß ihre Zeit nun kommen würde,vor oder nach ihrem Tode, und was sie hinterließen, sollte ein neuer Anfang sein […].¹⁵
Wiechert behauptet in diesen Zeilen nicht weniger als Einsicht in das Walten der Geschichte. Diese habe es den Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration Wiechert selbst sah in seinen Reden aus den Jahren 1933 bis 1935 den Grund für seine Inhaftierung. Dies wird von der Forschung bestritten. So verweist Waltraud Wende-Hohenberger auf Wiecherts Protest gegen die Inhaftierung Martin Niemöllers als Grund für seine eigene Inhaftierung. Vgl. Waltraud Wende-Hohenberger: Ein neuer Anfang? Schriftsteller-Reden zwischen 1945 und 1949. Stuttgart 1990, S. 18; Ernst Wiechert: Rede an die deutsche Jugend. (Europäische Dokumente 1.) München 1945, S. 32. Die Auflagenhöhe kann der folgenden Publikation entnommen werden, die zudem eine Schweizer sowie Ostberliner Lizenzausgabe erwähnt: Guido Reiner: Ernst-Wiechert-Bibliographie 1916 – 1971. 1. Teil. Paris 1972, S. 34. Wiechert: Rede an die deutsche Jugend, S. 26.
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ermöglicht, sich auf das Kriegsende vorzubereiten und ihr Werk von den politischen ‚Anfechtungen‘ der Nazizeit freizuhalten. Wiechert zufolge ist die Innere Emigration dazu legitimiert, einen gesellschaftlichen Neuanfang zu initiieren. Sich selbst sieht er als „Gewissen eines verstörten Volkes“.¹⁶ Auch christologische Figuren schmücken seine Rede. Mit Bezug auf die Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration heißt es: „Sie waren gehorsam und sie waren still, aber jeder Schritt ihres Lebens war ein Dornenweg“.¹⁷ Wiechert beschreibt sich und seine in Deutschland verbliebenden Kolleginnen und Kollegen als Bewahrer der christlichen Heilsbotschaft. Wie aus seinen 1949 publizierten Lebenserinnerungen Jahre und Zeiten ersichtlich wird, muss diese Selbststilisierung auch als Abgrenzung gegenüber der Exilliteratur verstanden werden, denn nicht die Exilierten dürften ihm zufolge gerühmt werden, sondern allein diejenigen, „die in der Hölle gewesen sind“.¹⁸ Der ‚Hausherr‘, so argumentiert Wiechert in einer metaphorischen Ausdrucksweise, in der sich die Hierarchie des literarischen Felds widerspiegelt, dürfe nach seiner Rückkehr die ‚Mieter‘ nicht einfach vor die Tür setzen: Sie dürfen auch nicht Moralgesetze vor uns aufrichten. Sie haben eine bessere Moral gehabt als wir, aber wir haben ein tieferes Unglück gehabt, eines, das niemand ermessen kann, der es nicht miterlebt hat. Und deswegen waren die tadelnden und verurteilenden Stimmen, die gleich nach dem Krieg zu uns herüberkamen, keine guten Stimmen. Zum mindesten waren sie nicht kluge Stimmen, denn sie urteilten über etwas, das sie nicht gesehen hatten.¹⁹
Durch seine Identifikation mit allen in Deutschland Gebliebenen entwirft Wiechert eine Schicksalsgemeinschaft, deren Leid den ins Exil Getriebenen fremd sei.²⁰ Den Autorinnen und Autoren des Exils mangele es nicht nur an Leidens-
Ebd., S. 38. Ebd., S. 35. Ernst Wiechert: Jahre und Zeiten. Erinnerungen. (Sämtliche Werke. Bd. 10.) München 1957, S. 748. Ebd. Neben der Distinktion im literarischen Feld dient diese Rhetorik auch als Identifikationsangebot an Wiecherts Leser. Der anerkannte Gegner der Nationalsozialisten, der selbst im Konzentrationslager gelitten hatte, erklärt so seine Solidarität mit allen in Deutschland Gebliebenen. Andere Stellen seiner Texte machen deutlich, dass dies eine Exkulpation einschließt. So schreibt Wiechert mit Bezug auf den Nationalsozialismus in Jahre und Zeiten: „Ich glaube nicht, daß dieses mein Volk von einem blinden Schicksal geführt und geschlagen wurde, wie etwa über ein unschuldiges Haus Krankheit und Not fallen können. Ich glaube vielmehr, daß das Gefährdete seiner Anlage und damit seiner Geschichte dieses Schicksal gerufen hat, und es darf uns nicht erbittern, dass dieses Schicksal über die Unschuldigen so dahingeht wie über die Schuldigen. Und vielleicht gibt es im Metaphysischen auch keine Unschuldigen neben denen, die gefehlt haben. Ja vielleicht liegt, wenn wir es zu Ende zu denken versuchen, schon im Begriff des Unschuldigseinwollens, ja des Unschuldigseins eine Verschuldung.“ Ebd., S. 756.
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erfahrungen, aus denen allein gute Literatur entstehe, sondern auch an lebensbejahenden Impulsen.Wiechert beklagt die „Entgötterung unseres Himmels“²¹ als Folge einer avantgardistischen und modernistischen Literatur, die allein auf den verneinenden Intellekt setze. Stilistisch kommt Wiechert der nationalsozialistischen Propaganda gegen Intellektuelle gefährlich nahe: „Hohn ist eine Erscheinung der Entartung, eine Degenerationsform sterbender Kulturen. Junge Völker höhnen nicht, sondern sie verehren.“²² Dennoch dominiert die Distanz zum Nationalsozialismus in seinen Texten. Im Rahmen seiner grundsätzlichen Kritik der Säkularisierung begreift Wiechert den Nationalsozialismus als eine säkulare politische Religion, die das Gotteswort, das am Anfang stehe, nicht geachtet habe.²³ Der Bezug auf den ersten Satz des Johannesevangeliums unterstreicht die religiöse Dimension seines eigenen Autorschaftsmodells, das in der Kritik von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die den Nationalsozialismus unterstützten, noch deutlicher wird: „Wo waren die, die das Bleibende stiften, die Dichter und Denker, berufen von Gottes Hand, um ein Licht zu sein in der tödlichen Nacht?“²⁴ Die Anspielung auf Hölderlins Hymne Andenken (ca. 1803), die in der Nachkriegszeit inflationär zitiert wurde, verdeutlicht Wiecherts Autorschaftsmodell: Das Licht, das die Dichter und Denker stiften sollten, ist religiösen Ursprungs. In seinen Erinnerungen wird Wiechert deutlicher: Alle Seher und Deuter der Zeit und der Geschichte haben zu erkennen vermeint, daß der abendländische Mensch seit zweihundert Jahren in die verhängnisvollste Sünde gefallen ist, in die des Intellekts. Des Intellekts, der aus der mittelalterlichen und der Urzeitgnade herausgetreten ist, um zu sein wie Gott.²⁵
Zu diesen Sehern und Deutern zählt Wiechert „die wahren Künstler“,²⁶ die naiv und unbewusst im christlichen Glauben schüfen. Autorinnen und Autoren werden so als eine Gegenkraft zum säkularen Zeitalter, mitunter zur sozialen Differenzierung von Religion und Politik, entworfen.²⁷ Werner Bergengruens Inszenierung von Autorschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit entspricht in vielen Aspekten dem durch Wiechert vertretenen
Ebd., S. 751. Ebd., S. 752. Vgl. Wiechert: Rede an die deutsche Jugend, S. 36. Ebd., S. 20. Wiechert: Jahre und Zeiten, S. 759. Ebd. Jost Hermand analysiert die in der Nachkriegszeit stark verbreitete These, dass der Nationalsozialismus als Kulminationspunkt der Säkularisierung angesehen werden müsse, und nennt etliche Autorinnen und Autoren. Vgl. Hermand: Kultur im Wiederaufbau, S. 77 f.
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christlichen Autorschaftsmodell. Ebenfalls mit Bezug auf den Anfang des Johannesevangeliums versteht Bergengruen in seiner Rede Im Anfang war das Wort, die er am 1. Juni 1947 auf einer Festversammlung des Börsenvereins der Buchhändler in der französisch besetzten Zone Deutschlands hielt, die nationalsozialistische Machtergreifung als Konsequenz einer gegen den abendländischen Geist gerichteten deutschen Mentalität. Schon die Privilegierung der Tat und die Kritik des Logos durch Goethes Faust seien höchst problematisch gewesen, so Bergengruen, der gleichzeitig seine Hochschätzung Goethes beteuert.²⁸ Wie der Bezug auf das Johannesevangelium vermuten lässt, verleiht Bergengruen den Begriffen ‚Geist‘ und ‚Wort‘ eine christliche Konnotation. Gegen das Lob der Praxis durch die nationalsozialistische Kriegspropaganda sowie den Sportkult der 1920er-Jahre konstatiert er: „Demgegenüber halten wir fest am johanneischen Primat des Wortes, das zuletzt jegliches Tun involviert; denn erst in der Verfleischlichung des Wortes ereignet sich aller Vollzug.“²⁹ In dieser christlichen Perspektive wird dann auch die Aufgabe des Dichters bzw. der Dichterin bestimmt. Bergengruen wendet sich in der Pointe seiner Rede direkt an sein Publikum: Der Dienst am Wort, Dienst am Geist und seiner Reinigung, Dienst am fruchtbringenden Leben, Dienst am Menschenbilde ist nun zu einem sehr wesentlichen Teile Ihnen, den Repräsentanten des Buchhandels, und uns, den Schreibenden, anvertraut, so daß wir uns in [sic] eine große, strenge und ehrenvolle Verantwortung zu teilen haben.³⁰
Ganz im Sinne Wiecherts beruft sich Bergengruen auf die autoritativen Schriften des Christentums, deren Geltung wiederhergestellt werden müsse. Hier zeigt sich der kulturkritische und ahistorische Charakter des von beiden Schriftstellern verfolgten Autorschaftsmodells, für das sich weitere Belege in Bergengruens Rede über Goethe finden. Bergengruen geht in dieser Rede auf die Erwartung seiner Leserschaft nach ‚weisenden Worten‘ ein und konstatiert mit Bezug auf Goethe und die Bibel: „[D]as Weisende ist ausgesprochen; wessen es bedarf, das ist die Entschlossenheit und die Kraft, sich seiner mächtig zu machen und dem eigenen Dasein als einen Zentralpunkt einzuverleiben.“³¹ Bergengruen zufolge mangelt es nicht an Texten, die der moralischen und religiösen Orientierung dienen könnten, sondern an der Bereitschaft, sich an diese zu halten. Auch seine 1945 erschienene Gedichtsammlung Dies Irae endet in diesem Sinne. Die letzte Zeile des letzten Gedichts An die Völker der Erde lautet wie folgt: „Völker, vernehmt mit uns allen
Vgl. Werner Bergengruen: Im Anfang war das Wort. Freiburg i. Br. 1948, S. 3 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Werner Bergengruen: Rede über Goethe. Marburg 1949, S. 22 f.
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das göttliche Metanoeite!“³² Mit diesem griechischen Wort, einer aus dem Matthäusevangelium entnommenen Wendung, die Bergengruen in einer Anmerkung auf der letzten Seite des Buchs erläutert, ruft er zu Umkehr und Buße auf. Mit der Einschätzung, dass die Kunst durch ihren Bezug auf die Religion einen zeitlosen Wert habe und sich gerade dadurch als Orientierungshilfe für die Nachkriegszeit empfehle, standen Wiechert und Bergengruen nicht allein. In vielen programmatischen Texten der damals aus dem Boden sprießenden Zeitschriften fand sich diese These. So konstatierte das Geleitwort zur ersten Ausgabe von Die Sammlung, einer Zeitschrift mit explizit pädagogischem Anspruch, in typischer Manier: „Unser Kompaß ist die einfache Sittlichkeit, ein standhafter Glaube an die Ewigkeit der geistigen Welt“.³³ Noch stärker religiös konnotiert ist das Geleitwort des Herausgebers der Zeitschrift Welt und Wort, das ebenfalls Bezug auf den Anfang des Johannesevangeliums nimmt: „Der WELT DES WORTES gilt unsere Verpflichtung. Läßt sich Höherem dienen? Im Anfang war das Wort, kündet das Evangelium.“³⁴ Dementsprechend kontrastiert dann auch Heinz Stolz in seinem Leitartikel mit dem programmatischen Titel Die Stillen im Lande die Welt der Parolen mit der des wahren Wortes: Wir sind nach außen gezogen, dicht gedrängt und in Scharen, über die Straßen des Kontinents, eine Welt uns zu Füßen zu werfen. Sie sind einzeln gegangen, den Weg nach innen, den geheimnisvollen, wie ihn der Dichter nennt, den Weg der Betrachtung, der Sammlung, der Einkehr in die eigene Brust.³⁵
Stolz charakterisiert in dieser Passage den Dichter als großen Einzelnen, der wie Novalis sich dem Weg der Masse verweigert, und schreibt sich damit in den in der Nachkriegszeit überaus populären Massendiskurs ein.³⁶ Der kulturkritische Blick auf die eigene Gegenwart zielt auf die Identifikation mit den ‚großen‘ Autorinnen und Autoren der Klassik, Romantik und des Realismus, wie es ein weiterer Beitrag aus Welt und Wort verdeutlicht. Die Hinwendung zu kanonischen Größen, so Friedrich Knapp, könne nicht verwundern, denn es sei eben nicht zu leugnen,
Werner Bergengruen: Dies Irae. Eine Dichtung. München 1946, S. 43. Herman Nohl: Geleitwort. In: Die Sammlung 1 (1945), H. 1, S. 1. Edmund Banaschewski: Geleitwort. In: Welt und Wort 1 (1946), H. 1, S. 1. Hervorhebung im Original. Heinz Stolz: Die Stillen im Lande. In: Welt und Wort 1 (1946), H. 1, S. 2– 5, hier S. 3. Vgl. Francisco Sánchez-Blanco: Ortega y Gasset: Philosoph des Wiederaufbaus? Anmerkungen zu einer unbedachten Rezeption. In: Walther Dieckmann, Jost Hermand (Hgg.): Autoren, Sprache, Traditionen. (Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 2.) Berlin 1984, S. 101– 111, hier S. 106 f.
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daß die wahrhaftig große Dichtung der deutschen Klassik, der Romantik, des deutschen Realismus mehr an Substanz, gültiger ‚Objektivierung‘, geistiger Bewältigung der großen Daseinsfragen bietet, als die zeitgenössische Literatur bieten kann, die ja ihr höheres Maß an unmittelbarer Lebendigkeit bitter zu bezahlen hat mit dem uns allen aufgeladenen Werteschwund, Mangel an Harmonie, reiner Größe der persönlichen Entfaltung.³⁷
Knapps emphatischer Bezug auf den Kanon, in dem auf die Gefahr des Nihilismus ja schon angespielt wird, mündet nur wenige Zeilen später in der für die Nachkriegszeit paradigmatischen Glorifizierung Goethes. Die Humanität der Weimarer Klassik fundierte für viele Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration ihre Autorschaft. Auch das Goethe-Jahr 1949, in dem Thomas Mann sowohl in West- als auch in Ostdeutschland mit Goethe-Preisen ausgezeichnet und das Goethe-Haus in Frankfurt wiedereröffnet wurde, hatte großen Einfluss auf die Positionierung von Autorinnen und Autoren. Jenseits des literarischen Felds ist vor allem der Vorschlag Friedrich Meineckes zu erwähnen, im ganzen Land Goethe-Gemeinschaften zu bilden: „Die Orte, wo wir uns seelisch wieder anzusiedeln haben, sind uns gewiesen. Sie heißen Religion und Kultur des deutschen Geistes.“³⁸ Meineckes Aufruf zur Bildung von Goethe-Gemeinschaften synthetisierte Religion und Kultur und wies der klassischen Literatur aufgrund ihres „religiösen Untergrund[s]“³⁹ eine religiöse Funktion zu. Versammlungen in Kirchen, in denen Goethe rezitiert und Musik von Bach oder Beethoven aufgeführt werden sollte, könnten Meinecke zufolge zu einer religiösen und kulturellen Erneuerung führen und zugleich den „deutschen Geist“⁴⁰ retten. In Meineckes Vorschlag zeigen sich erneut die charakteristischen Merkmale eines Autorschaftsmodells, das auch von Wiechert, Bergengruen und von vielen Zeitschriften der Nachkriegszeit vertreten wurde. Gemeinsam ist diesen Positionen erstens die Sakralisierung von Literatur und Autorschaft und zweitens der damit zusammenhängende ahistorische Bezug auf den literarischen Kanon. Der Literatur kommt damit gleichzeitig eine pädagogische Funktion zu.Von ihr gehe, so etwa Rudolf Lennert in seinem programmatisch überschriebenen Artikel Von der Kraft des dichterischen Wortes in der Sammlung, eine „erschütternde, reinigende Kraft“ aus.⁴¹ Das vehemente Eintreten für die
Friedrich Knapp: Die Jungen und ihr Verhältnis zur Literatur. In: Welt und Wort 2 (1947), S. 217– 219, hier S. 218. Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. 2. Aufl. Wiesbaden 1946, S. 164. Ebd., S. 175. Ebd., S. 176. Rudolf Lennert: Von der Kraft des dichterischen Wortes. In: Die Sammlung 1 (1945/46), S. 456 – 459, hier S. 457. Diese heilende Wirkung begründet nach Lennert die zeitgeschichtliche Signifikanz der Dichtung, der jedoch – darauf ist in der Forschung vielfach hingewiesen worden – nicht nur
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Distinktion der Kunst von der Politik beruft sich auf Moral und Religion als überpolitische Werte: Geistiges Leben und Ringen um geistige Werte trägt in sich selbst schon seine Rechtfertigung und wirkt am tiefsten, wo es am freiesten von politischer Tendenz sich bewegen kann. Ja, es wirkt sogar auf die politische Sphäre selbst am tiefsten und wohltätigsten ein, wenn es spontan und unreglementiert seine eigenen Wege geht.⁴²
Meinecke spitzt mit diesen Zeilen einen Sachverhalt zu, der für die Positionierung der politisch engagierten Autorinnen und Autoren von großer Bedeutung war. Denn es war insbesondere die uneingeschränkte Wertschätzung des geistigen Lebens, die ein politisches Autorschaftsmodell nicht teilen konnte. Die Glorifizierung des Geistigen durch Meinecke, Wiechert und Bergengruen wurde, wie in der Darstellung der Nihilismusdebatte deutlich wird, von politisch engagierten Autorinnen und Autoren mit einem Verweis auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des Geistes hinterfragt.
1.2 Preisgekrönte Autorschaften der Inneren Emigration Ein guter Indikator für die Verteilung des symbolischen Kapitals im literarischen Feld und die damit valorisierten Autorschaftsmodelle bietet die Vergabepraxis von Literaturpreisen. Wie aussagekräftig dieser Indikator für eine Rekonstruktion des westdeutschen Nachkriegsfelds ist, wird dadurch deutlich, dass Friedhelm Kröll die Literaturpreise der Nachkriegszeit als „Wegweiser in die Restauration“⁴³ bezeichnet. Kröll spielt damit auf die Tatsache an, dass es vor allem Vertreterinnen und Vertreter der Inneren Emigration waren, die in der ersten Dekade nach dem eine erzieherische, sondern auch eine tröstende Funktion zugesprochen wird. Die Literatur bewahre „in geheimen Kammern Schätze der Tröstung und Stärkung“ auf. Ebd., S. 459. Andere Autoren wie Rudolf Alexander Schröder betonen ebenfalls den Aspekt der Tröstung: „Steht dem Dichter in seinem Dichten wirklich […] solches Erhobensein aus dem Verfall und Verderb einer aus einem Tod unaufhaltsam in den anderen stürzenden Welt zu, so hat er in der Tat ein Trostamt, dem kein anderes irdisches gleichkommen würde“ Rudolf A. Schröder: Dichten und Trachten.Vortrag, gehalten am 30. Juli 1946 in Tübingen. Berlin 1947. Meinecke: Die deutsche Katastrophe, S. 171. Vgl. Friedhelm Kröll: Literaturpreise nach 1945. Wegweiser in die Restauration. In: Jost Hermand (Hg.): Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945– 49. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. (Argument-Sonderband 83.) Berlin 1982, S. 143– 164. Für eine Kritik des Restaurationsbegriffs, auf die auf den Seiten 83– 84 noch eingegangen wird,vgl. Helmuth Kiesel: Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung. In: Walter Erhart, Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997, S. 13– 45.
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Krieg für preiswürdig erachtet wurden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Hanna Leitgeb, die betont, dass die Literaturpreise der Nachkriegszeit einerseits der Würdigung der Inneren Emigration galten, andererseits die Wiedereinbindung exilierter Intellektueller unterstützten.⁴⁴ Eine Aufzählung der literarischen Auszeichnungen der Nachkriegszeit kann beide literaturhistorischen Darstellungen bestätigen: So wurde der Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig 1947 an Fritz von Unruh, 1948 an Werner Bergengruen und 1949 an Ina Seidel vergeben. Der Lessing-Preis der Stadt Hamburg ging 1947 an Rudolf Alexander Schröder und 1950 an Ernst Robert Curtius. Die Preisträger des Goethe-Preises der Jahre 1946 – 1949 waren Hermann Hesse, Karl Jaspers, Fritz von Unruh und Thomas Mann. Schließlich verlieh die 1949 gegründete Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den renommierten Georg-Büchner-Preis 1951 Gottfried Benn, 1952 Ernst Kreuder, 1954 Martin Kessel und 1955 Marie Luise Kaschnitz. Auch an der Verleihung des Preises im Jahr 1950 an die schon verstorbene Elisabeth Langgässer war die Akademie beteiligt.⁴⁵ Es zeigt sich also eine starke Präsenz der Inneren Emigration unter den Preisträgerinnen und Preisträgern der unmittelbaren Nachkriegszeit. Besondere Beachtung in der Analyse der Preisvergaben vor der Gründung der Bundesrepublik verdient die alliierte Besatzungspolitik, denn wie aus der von Leitgeb vorgenommenen Detailanalyse der städtischen Literaturpreisvergabe hervorgeht, war die Beachtung der alliierten Entnazifizierungsbestrebungen ein zentrales Kriterium der Preisvergabe. Hier zeigt sich erneut die nur relative Autonomie des literarischen Felds, die nicht mit einer heteronomen Einflussnahme verwechselt werden darf. Dass die städtischen Gremien und die von ihnen beauftragten Juroren ihren Spielraum selbst bemaßen, demonstriert die Verleihung des Wilhelm-Raabe-Preises des Jahres 1949 an Ina Seidel. Die Kritik eines Journalisten von Radio München, der auf die Verstrickungen Seidels mit dem Nationalsozialismus hinwies, beantwortete die Stadt Braunschweig mit dem Verweis auf einen positiven Spruchkammerbescheid und der Lizensierung ihrer Bücher durch die US-Militärregierung.⁴⁶ Die politische Signifikanz von literarischen Auszeichnungen zeigt sich in einer anderen Hinsicht an der ersten Verleihung des Raabe-Preises nach dem Krieg an Fritz von Unruh. Hier diente die Ehrung eines Exilschriftstellers auch dazu, zu signalisieren, dass die Stadt Braunschweig einen politischen Neuanfang vollzog. Die Änderung der Satzung verdeutlicht zudem, dass auch eine Exkulpation des deutschen Volkes angestrebt
Vgl. Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor. Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland 1926 – 1971. Berlin und New York 1994, S. 378. Vgl. Ernst Johann: Der Georg-Büchner-Preis. In: Michael Assmann (Hg.): Der Georg-BüchnerPreis 1951– 1987. Eine Dokumentation. 2. Aufl. München 1987, S. 13 – 40, hier S. 22. Vgl. Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor, S. 307– 312.
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wurde, denn dort ist zu lesen, dass der Preis einem Schriftsteller gilt, der „in seinem Werk das Denken und Empfinden des deutschen Volkes wiedergibt“.⁴⁷ Der Transfer von symbolischem Kapital fand also in beide Richtungen statt. Auch die Literaturpreise und die Institutionen, die sie vergaben, profitierten von politisch unbelasteten und renommierten Preisträgerinnen und Preisträgern.⁴⁸ Im Kontext dieser Studie ist es vorrangig von Interesse, welche Autorschaftsmodelle mit den Literaturpreisen prämiert wurden. Hinweise dafür liefern die Urkundentexte. So bezeichnet die Urkunde des Lessing-Preises Rudolf Alexander Schröder als „Hüter und Bildner der deutschen Sprache“.⁴⁹ Eine ähnlich traditionsbejahende Begründung der Preisvergabe zeigt sich anlässlich der Auszeichnung von Ernst Robert Curtius im Jahr 1950. Der Urkundentext hebt hier hervor, dass das Schaffen des Ausgezeichneten „aus einem umfassenden und lebendigen Wissen um die abendländische Kultur erwächst.“⁵⁰ Ganz ähnlich begründet sich die Verleihung des Goethe-Preises im Jahr 1946 an Hermann Hesse: In diesem Preis ehrt die Geburtsstadt Goethes einen Dichter, der über alle taggebundenen Strömungen hinweg den Klang der deutschen Sprache rein bewahrt und der, liebend vertraut mit den Formen und Geheimnissen der Natur, wissend um das Kulturerbe des Abendlandes und des Ostens, nie die Aufrichtigkeit gegen sich selbst vergaß und in Lied und erzählender Dichtung um echte Wirklichkeit gerungen hat. Insbesondere gilt die Ehrung dem Manne, der in der Zeit der Wirren und der Masken den Glauben an die ewigen Werte und an die Würde des Menschen unwandelbar festhielt.⁵¹
Etliche Topoi, die das bereits oben analysierte Autorschaftsmodell der Inneren Emigration charakterisieren, finden sich in diesen Zeilen: die Betonung der ‚bewahrenden‘ Aufgabe hinsichtlich des ‚Kulturerbes‘, der ‚ewigen‘ und nicht nur ‚taggebundenen‘ Werte, der Bezug auf das ‚Abendland‘ sowie die privilegierte Stellung der Dichtung, die allein ‚echte‘ Wirklichkeit erfahrbar mache. Die metaphorische Umschreibung der jüngst vergangenen Herrschaft des Nationalsozialismus mit den Worten ‚Wirren der Zeit‘ fügt sich nahtlos in das evozierte Dichterbild. Autorschaft Zitiert nach: Ebd., S. 303. Auch die im Folgenden angesprochene Vergabe des Goethe-Preises an Hermann Hesse im Jahr 1946 bezeugt diese Transferrichtung. Leitgeb zitiert aus der schriftlichen Danksagung des Dichters, der betont, dass er den Preis nur annehme, weil er von der „gut demokratischen und jüdisch kultivierten Stadt Frankfurt“ vergeben werde. Auch hier zeigt sich, dass die Annahme des Preises durch Autoren wie Hesse, die reich an symbolischem Kapital waren, auch die Institution auszeichnete, die den Preis vergab. Ebd., S. 241. Zitiert nach: Ebd., S. 294. Zitiert nach: Ebd., S. 300. Willi Emrich: Die Träger des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main von 1927 bis 1961. Frankfurt am Main 1963, S. 196.
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wird als ein Instrument kultureller Neuorientierung verstanden, die sich, wie gegenüber den Alliierten betont wird, aus der eigenen Tradition speisen soll. Der Urkundentext zur Verleihung des Goethe-Preises an Karl Jaspers im nachfolgenden Jahr liest sich ganz ähnlich. Gewürdigt wird ein Werk, „das inmitten des Verfalls und der durch die Dämonie der Macht aufgerichteten Barbarei die Forderung des Humanen frei von allen Giften der Zeit verpflichtend erweckte“.⁵² Passend zum Paulskirchenjahr 1948 wurde der Ton dann etwas kämpferischer und Fritz von Unruh, „dem kühnen dichterischen Gestalter wahren Deutschtums und dem entschiedenen Vorkämpfer für Demokratie und Geistesfreiheit“,⁵³ der Goethe-Preis verliehen. Den Raabe-Preis der Stadt Braunschweig hatte Unruh schon 1946 als „Repräsentant edelsten deutschen Gedankengutes“ erhalten.⁵⁴ Der Bezug auf einen reinen Raum des Geistigen, der, immun gegen die politischen ‚Wirren‘ der Nazizeit, die Möglichkeit einer eigenständigen kulturellen Neuorientierung biete, findet sich auch in der Proklamation zur Gründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die von Adolf Grimme verlesene Proklamation von namhaften Dichterinnen und Dichtern diagnostiziert einen Kultur- und Sprachverfall, der von der Dichtung aufgehalten werden müsse: Jahre des Unheils, in denen Unrecht Recht, Lüge Wahrheit, Knechtschaft Freiheit genannt wurde, in denen man zwischen Wahr und Falsch, zwischen Gut und Böse nicht mehr unterschied, in denen das Wort von seinem Sinn getrennt wurde,wenn es der Nutzen verlangte – diese Jahre des Unglücks haben unserer Sprache schweren Schaden getan. Das lange schon unsicher gewordene Sprachgefühl, das lange schon angekränkelte Sprachwissen droht gänzlich zu ermatten, der Sinn für Lauterkeit und Form ist stumpf geworden, Anspruch und Maßstab der Kritik auf niederster Stufe angelangt.⁵⁵
Die Verantwortung, diesen Sprachverfall zu stoppen, liege bei den Dichterinnen und Dichtern, so die Unterzeichnenden Stefan Andres,Werner Bergengruen, Marie Luise Kaschnitz, Elisabeth Langgässer, Oda Schaefer, Rudolf Alexander Schröder, Frank Thiess und andere. Mit Bezug auf Goethe skizziert die Proklamation Autorschaft als ein Amt, das die Sprache reinige und bereichere. Charakteristisch für die Position der Inneren Emigration ist die kulturkritische Dimension des Dokuments: Die jüngst vergangenen Jahre des Naziregimes werden in eine generelle Verfallsgeschichte integriert, die moderne Nivellierungstendenzen beklagt. Die Verlesung der Proklamation anlässlich der Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Goethes am 28. August 1949 in der Paulskirche verstärkte diesen Bezug auf die
Ebd., S. 208. Ebd., S. 213. Zitiert nach: Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor, S. 306. Die „Proklamation“. In: Michael Assmann (Hg.): Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Göttingen 1999, S. 252– 253, hier S. 252 f.
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deutsche Literatur- und Kulturgeschichte noch. In der Konsequenz dieser Logik lag es dann auch, dass der Georg-Büchner-Preis im Jahr 1950 an die schon verstorbene Elisabeth Langgässer ging, der im Urkundentext eine „wahrhaft abendländische Gesinnung“ attestiert wurde.⁵⁶ Die Verantwortung, die Sprache rein zu halten, wurde erneut 1955 in der Urkunde für Marie Luise Kaschnitz herausgestellt: „Kühn und voll Tröstung erklang inmitten des Krieges die reine Stimme ihrer Dichtung.“⁵⁷ Ernst Keuder wurde 1953 bescheinigt, für die „Souveränität der Kunst einzustehen“,⁵⁸ und Martin Kessel 1954 bestätigt, den „Glauben an den Menschen wachzuhalten“.⁵⁹ Auch die Verleihung des Büchner-Preises an Gottfried Benn, die politisch brisant war, bediente sich einer Rhetorik des Bewahrens und der Reinheit. Benn, so die Urkunde, wird dafür geehrt, „seine Form gegen die wandelbare Zeit“ zu setzen.⁶⁰ Der Überblick über die wichtigsten Literaturpreise der Nachkriegszeit verdeutlicht, dass nicht die Hinwendung zum Alltag des Nachkriegs und das Aufgreifen aktueller politischer Fragestellungen prämiert wurden, sondern ein Autorschaftsmodell, das sich der Bewahrung der kulturellen und literarischen Normen des ‚Abendlandes‘ verschrieb. Die Autorinnen und Autoren der ‚jungen Generation‘ waren daher unter den Preisträgerinnen und Preisträgern der unmittelbaren Nachkriegszeit bis auf eine Ausnahme nicht zu finden.⁶¹ Auch ihre Kritik an dem favorisierten Autorschaftsmodell der Nachkriegszeit verhallte vielfach ungehört.Wie sensibel die literarische Orthodoxie jedoch reagierte, wenn kritische Töne von renommierten Autorinnen und Autoren geäußert wurden,
Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin 2006, S. 138. Michael Assmann (Hg.): Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Göttingen 1999, S. 425. Ebd. Ebd. Ebd. Hans Werner Richter wurde 1951 der Fontane-Preis der Stadt Berlin und 1952 der nur einmal vergebene René-Schickele-Preis verliehen. Letztere Würdigung muss als eine Geste der Exilliteratur an die jungen Autorinnen und Autoren verstanden werden. Thomas Mann, Hermann Kesten und Alfred Neumann wirkten als Juroren des Preises. Die Urkunde betont zudem die Verbundenheit aller „freien und humanen Autoren deutscher Zunge“, ungeachtet ihres Aufenthaltsorts. Geehrt werden sollte der Roman „eines jüngeren Autors“. Jürgen Schutte (Hg.): Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Ausstellung der Akademie der Künste 18. Oktober bis 7. Dezember 1988. Berlin 1988, S. 203. Heftig kritisiert wurde die Auszeichnung von Hans Werner Richter durch Oskar Jancke, der in Richters Roman Sie fielen aus Gottes Hand kein Kunstwerk, sondern eine Reportage erkannte. Jancke schlug vor, lieber Autoren wie Stefan Andres, Ernst Kreuder und Rudolf Krämer-Badoni zu prämieren.Vgl. Oskar Jancke: Was würde René Schickele dazu sagen? In: Neue literarische Welt 3 (1952), H. 6, S. 1.
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zeigen die Reaktionen auf die von der Welt am Sonntag im März 1949 publizierten Auszüge aus der Preisrede von Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des GoethePreises im Jahr 1947. Insbesondere Ernst Robert Curtius reagierte erbost auf Jaspers Kritik der zeitgenössischen Verehrung Goethes und veröffentlichte in der Zeit eine Polemik gegen seinen Kollegen, die ein großes publizistisches Echo hervorrief.⁶² Die Zeit berichtete drei Wochen später von vielen empörten Zurückweisungen von Curtius’ Thesen, aber auch von „temperamentvolle[n] Zustimmung[en]“, die den Leserbriefen zu entnehmen seien.⁶³ An Jaspers ehemaliger Universität positionierten sich sieben Professoren zu seiner Verteidigung und veröffentlichten einen Artikel in der Rhein-Neckar-Zeitung. ⁶⁴ Der Göttinger Orientalist Hans Heinrich Schaeder stellte sich zudem in der Zeit schützend vor Jaspers. Wie schwierig es in der Nachkriegszeit war, ein kritisches Verhältnis zu Goethe zu vertreten, wird daran deutlich, dass Schaeder in seiner Verteidigung behutsam vorgeht und hervorhebt, dass der kritische Abschnitt in der ursprünglichen Rede Jaspers nur vier von zwanzig Seiten lang gewesen sei.⁶⁵ Offensiver verhielt sich Leo Spitzer, der Curtius deutlich widersprach und in der Wandlung den ‚Goethekult‘ in Deutschland kritisierte.⁶⁶ Die Gründe für die Vehemenz, mit der die Debatte von Seiten der Jaspers-Kritiker geführt wurde, sind vielfältig. Curtius’ harsche Polemik liefert zwei Anhaltspunkte. So wird Jaspers in ihr als „Basler Denker“ bezeichnet und betont, dass er den deutschen Universitäten „den Rücken kehrte“.⁶⁷ Beides spielt darauf an, dass Jaspers – unzufrieden mit der deutschen Situation – 1948 einen Ruf in die Schweiz annahm. Auch der letzte Absatz des Essays von Curtius atmet einen nationalistischen Geist. Curtius unterstellt Jaspers, dem „Ansehen des deutschen Geistes“ im Ausland zu schaden,⁶⁸ und verschärft die Brisanz der Debatte noch, indem er auf Jaspers’ Thesen zur Kollektivschuld Bezug nimmt.
Die Debatte wurde durch Curtius’ Artikel „Goethe oder Jaspers?“ in der Zeit vom 28.4.1949 ausgelöst. Der Artikel war zuvor schon in der Schweizer Zeitschrift Die Tat vom 2.4.1949 erschienen. Für eine ausführliche Analyse im Kontext der Philosophie Jaspers vgl. Hans Saner: Existenzielle Aneignung und historisches Verstehen. Zur Debatte Jaspers – Curtius um die Goethe-Rezeption. In: Bernd Weidmann (Hg.): Existenz in Kommunikation. Zur philosophischen Ethik von Karl Jaspers. Würzburg 2004, S. 151– 166; Helmut Fuhrmann: Sechs Studien zur Goethe-Rezeption. Würzburg 2002. Vgl. Hans H. Schaeder: Karl Jaspers und sein Kritiker. In: Die Zeit (1949), H. 19, S. 4. Vgl. Saner: Existenzielle Aneignung und historisches Verstehen, S. 162. Schaeder: Karl Jaspers und sein Kritiker. Vgl. Leo Spitzer: Zum Goethekult. In: Die Wandlung 4 (1949), S. 581– 592. Ernst R. Curtius: Goethe oder Jaspers? In: Karl R. Mandelkow (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. (Wirkung der Literatur 4.) München 1984, S. 304– 307, hier S. 305. Ebd., S. 307.
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Curtius zufolge hat Jaspers die Kollektivschuldthese akzeptiert.⁶⁹ Neben diesen politischen Gründen für die Debatte ist aber primär auf die grundlegende Differenz im Autorschaftsverständnis der beiden Kontrahenten zu verweisen.⁷⁰ Stein des Anstoßes war Jaspers’ Kritik des „Goethe-Kultus“⁷¹ in der Nachkriegszeit und seine These, dass die Distanz zwischen der Nachkriegszeit und Goethes Welt oftmals unterschätzt werde. Insbesondere Goethes ablehnende Haltung dem technischen Zeitalter gegenüber dürfe nicht in romantischer Absicht nachgeahmt werden.⁷² Deshalb ruft Jaspers in seiner Rede zu einer neuen Phase der Goetherezeption auf, die weder „in traditionalistische[] Dogmatik noch in relativistische[] Indifferenz noch in unverbindliche[] Ergriffenheit“ verfallen solle.⁷³ Curtius weist daraufhin den Philosophen in die Grenzen seiner Disziplin und bricht eine Lanze für eine autonome Kunst: „Unser Denker scheint zu vergessen, daß die Poesie Herrscherin in ihrem eigenen Reiche ist. Sie bedarf keiner philosophischen und moralischen Aufsicht.“⁷⁴ Stattdessen fragt Curtius rhetorisch: „Aber werden denn Geister vom Range Goethes durch fortschreitende Modernität überwunden? Werden Dichter wie Dante und Homer von Erkenntnisfortschritten überholt, deren Ewigkeitsgehalt noch lange nicht ausgemacht ist?“⁷⁵ Curtius setzt das Autonomiepostulat der Kunst und ein Bekenntnis zur kulturellen Tradition gegen Jaspers’ Versuch, am Goethebild seiner Zeit zu rütteln. Exemplarisch wurde so das Autorschaftsmodell vorgeführt, das in der Nachkriegszeit vielfach prämiert worden ist. Der Streit zwischen Jaspers und Curtius steht im Kontext der Nihilismusdebatte, auf die ich nun eingehen werde. Jaspers zufolge hielt Goethe Distanz zu allem, was er nicht bejahen konnte, drang er „auf Versöhnung aus Ausgleich“, doch verschloss er damit auch die Augen vor allem Entsetzlichen und Tragischen. Einen Nietzsche
Vgl. ebd., S. 305. Der Schweizer Literaturkritiker und Herausgeber der Tat, Max Rychner, bringt dies in einem privaten Brief an Curtius vom 16. 5.1949 auf den Punkt: „T. E. Lawrence’s Homerkritik in England verdaut der 3000jährige Altvater der Poesie spielend, Jaspers Goethekritik in Deutschland fällt beschwerlich. Trümmerhaufen, Auschwitz, Ostflüchtlinge: beständig die letzten Argumente sämtlicher Seifensieder, die mit Kunst nichts zu tun haben, diese aber unbedingt zertrümmern, vergasen und auf der Flucht vor ihnen noch erschießen wollen, weil das Ethos doch siegen muss“. Max Rychner, Ernst R. Curtius: Aus dem Briefwechsel Max Rychner – E. R. Curtius. (Marbacher Magazin. Bd. 41.) Marbach am Neckar 1987, S. 37. Karl Jaspers: Unsere Zukunft und Goethe. In: Jaspers: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München 1951, S. 26 – 49, hier S. 43. Vgl. ebd., S. 35. Ebd., S. 46. Curtius: Goethe oder Jaspers?, S. 307. Ebd.
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jedoch, der den Nihilismus mit offenen Augen durchschreitet, könne man „auf dem Weg zur Wahrheit“ nicht entbehren.⁷⁶
1.3 Der Nihilismusvorwurf an die ‚junge Generation‘ Die Nihilismusdebatte der Nachkriegszeit fand nicht nur in den engen Grenzen des literarischen Felds statt, sondern muss als eine grundsätzliche Debatte um die kulturelle Neuorientierung nach dem Krieg verstanden werden.⁷⁷ Der Begriff ‚Nihilismus‘ war zu einem „Modewort“⁷⁸ geworden. Von den einen wurde Nihilismus als die heraufziehende Gefahr nach dem gesellschaftlichen Zusammenbruch verstanden, von anderen als notwendige Geste angesehen, durch die der geistige Bankrott herkömmlicher Werte anerkannt wird. Spielten literarische Werke auch oftmals eine signifikante Rolle, so stand der Nachkriegsdiskurs selbstverständlich in der Kontinuität älterer Kultur-Debatten. Verhandelt wurde das Schicksal des ‚Abendlandes‘, das einigen Literatinnen und Literaten zufolge von einem beispiellosen Kulturverfall bedroht war. Anleihen an ältere Diskursschichten der Kulturkritik waren daher recht häufig. Die Namen Nietzsche und Spengler waren in aller Munde, die Atomisierung in der modernen Gesellschaft wurde beklagt und die Diagnose oftmals in ein Säkularisierungsnarrativ eingeflochten.⁷⁹ Die Nihilismusdebatte diente also nicht nur, aber auch den Positionierungskämpfen im literarischen Feld. So berichtete die Berliner Zeitschrift Horizont in mehreren Ausgaben von der Debatte und kontrastierte die Position der ‚jungen Generation‘, repräsentiert durch Alfred Andersch, mit der Position Alfred Döblins. Die Redaktion der Zeitschrift druckte Anderschs Beitrag Deutsche Literatur in der Entscheidung in Auszügen ab und kennzeichnete ihn in einem Kommentar als nihilistische Position, die der Einschätzung der literarischen Situation durch Döblin widerspreche. Letzterer sehe „eine neue Epoche der Metaphysik und
Jaspers: Unsere Zukunft und Goethe, S. 45. Es kann daher auch nicht verwundern, dass auch die alliierte Besatzungsmacht in die Debatte eingriff. So wurde die Zeitschrift Der Skorpion, die von Hans Werner Richter herausgegeben werden sollte, nicht lizensiert, weil sie nach Auffassung der amerikanischen Besatzungsmacht zu nihilistisch sei. In der Zeitschrift Horizont wird dieses politische Vorgehen der Alliierten gegen den Skorpion diskutiert.Vgl. Günther Birkenfeld: An die „temporären“ Nihilisten. In: Horizont 3 (1948), H. 7, S. 4– 5. Alexander Borelius: Der Nihilismus und die Wirklichkeit. In: Der Ruf 3 (1948), H. 3, S. 4. Vgl. Josef Walz: Nihilismus. Letzter Ausweg? In: Die Lücke 2 (1947), H. 9, S. 6 – 10; Heinrich Fries: Nihilismus des Herzens. Ein Beitrag zum Verständnis des heutigen Menschen. In: Die Lücke 2 (1947), H. 10, S. 6 – 11; Hanns Lilje: Nihilismus. In: Zeitwende 18 (1946/47), S. 577– 591.
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Religion“ anbrechen.⁸⁰ Aktiv nutzte seitens der Inneren Emigration Rudolf Alexander Schröder seine Rede auf dem Frankfurter Schriftstellerkongress im Jahr 1948 dazu, die Forderung eines literarischen Gegenwartsbezugs als nihilistisch zu desavouieren. An die Adresse der „Gegenwartsanbeter“⁸¹ richtete er eine Warnung: „Auch ihr Heute wird sehr bald ein Gestern sein, auch ihre Gegenwart sich als das Nichts enthüllen“.⁸² Elisabeth Langgässers Rede auf dem Frankfurter Kongress endet gar mit dem Aufruf, „der nihilistischen Schwermut entschlossen abzusagen“.⁸³ Langgässer bezieht den Nihilismusvorwurf dabei auf zwei Extreme der literaturhistorischen Entwicklung. Sie richtet sich sowohl gegen den Ästhetizismus als auch gegen die „ebenso sinnlosen Versuche“ der „Zweckschöpfungen“.⁸⁴ Dem entgegen setzt sie eine Dichtung, die der „Säkularisierung der christlichen Substanz“ widerstehe.⁸⁵ Rudolf Hagelstanges Rede auf dem gleichen Kongress deutet schon durch ihren Titel Die unveräußerlichen geistigen Grundlagen der Dichtung an, dass auch ihr Autor gegen nihilistische Positionen anschreibt. So heißt es dann auch, dass die Dichtung universale Geltung besitze und kein „zweckdienliches Mittel“ sei.⁸⁶ Gegen die „Forderungen des Tages“ setzt Hagelstange seine Maxime: „auf die dürftige Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anzulegen“.⁸⁷ Auch die literarische Publizistik der Nachkriegszeit sah im Nihilismus ein Grundübel der Zeit. Karl Jaspers drückt dies im Geleitwort zur Heidelberger Zeitschrift Die Wandlung wie folgt aus: „Wo wir angesichts der Grenzen des Menschlichen leben, vor dem Äußersten stehen, da gilt uns als das eigentlich Böse der Nihilismus.“⁸⁸ Gegen die Gefahren des Nihilismus setzt Jaspers den philosophischen Glauben „an die Möglichkeit in uns Menschen, wirklich
Zitiert nach den einführenden Worten der Redaktion des Horizonts zu: Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. In: Horizont 3 (1948), H. 7, S. 3 – 4. Döblins dort zitierte These lautet: „Eine neue Epoche der Metaphysik und Religion bricht an. Die Welt, vorher positivistisch und wissenschaftlich überklar, taucht wieder in das Geheimnis ein.“ Alfred Döblin: Die literarische Situation. Baden-Baden 1947, S. 48. Rudolf A. Schröder: Aufgaben der Dichtung in der Zeit. In: Waltraud Wende-Hohenberger (Hg.): Der Frankfurter Schriftstellerkongreß im Jahr 1948. Frankfurt am Main 1989, S. 23– 30, hier S. 30. Ebd. Elisabeth Langgässer: Die Sprache des Schriftstellers in Isolierung und dialogischer Begegnung. In: Waltraud Wende-Hohenberger (Hg.): Der Frankfurter Schriftstellerkongreß im Jahr 1948. Frankfurt am Main 1989, S. 31– 34, hier S. 34. Ebd., S. 33. Ebd. Rudolf Hagelstange: Die unveräußerlichen geistigen Grundlagen der Dichtung. In: Waltraud Wende-Hohenberger (Hg.): Der Frankfurter Schriftstellerkongreß im Jahr 1948. Frankfurt am Main 1989, S. 34– 38, hier S. 35. Ebd., S. 38. Karl Jaspers: Geleitwort. In: Die Wandlung 1 (1945), H. 1, S. 3 – 6, hier S. 4.
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miteinander zu leben, miteinander zu reden“,⁸⁹ und unterschied sich damit prinzipiell von der im Nachkriegsdeutschland hoch im Kurs stehenden Existenzphilosophie Sartres. Letztere, die in den Blättern der ‚jungen Generation‘ vielfach positiv besprochen wurde und insbesondere Alfred Andersch beeinflusste,⁹⁰ wurde aufgrund ihres Primats der Existenz vor jeglichen essentiellen Werten oftmals als relativistisch und damit politisch fragwürdig kritisiert.⁹¹ Kann in Bezug auf Jaspers, Schröder, Langgässer und Hagelstange auch nicht von einem einheitlichen Begriff des ‚Nihilismus‘ gesprochen werden, so ist allen vier Positionen doch gemein, dass sie sich gegen jedweden Werterelativismus aussprechen und die Bedeutung der abendländischen Tradition betonen. Carl August Weber, der Herausgeber der Fähre, macht indes die Rolle des Nihilismusvorwurfs im Generationskonflikt besonders deutlich. So betont er in seinem Geleitwort zu einer Sondernummer, die sich der jungen deutschen Dichtung widmete, seine Besorgnis um den Zustand der jungen Autorinnen und Autoren. Im Rückblick auf die ersten zwei Nachkriegsjahre konstatiert Weber: „Die Älteren enttäuschten uns durch ihre Sterilität, die Jungen schienen zwischen Nihilismus und Weltflucht vergreist zu sein“.⁹² Weitaus programmatischer, aber ähnlich kritisch gegenüber der „zeitgemäßen“ Dichtung der ‚jungen Generation‘, tadelt Bernt von Heiseler in Die Sammlung den Orest aus Sartres Drama Die Fliegen und zielt damit auf einen Autor, der zu den Vorbildern der ‚jungen Generation‘ zu zählen ist. Orest, der in Sartres Stück den allen Wertesystemen autonom gegenüberstehenden Menschen symbolisiert, klage über Gott aus eigener Unkenntnis: „Er wußte ja nicht, daß er [Jupiter – CS] so kläglich nur war, weil Orests Seele keine Ehrfurcht, kein wirkliches Fragen und Hören mehr vermochte. Anstatt zu ahnen, wie Gott ihn suche, deklamierte er Selbstständigkeit. Er gefiel sich darin.“⁹³ Anstatt die Welt und den Menschen als Schöpfung Gottes zu rühmen, wie es laut von Heiseler echte
Karl Jaspers: Der philosophische Glaube. München 1948, S. 135. Vgl. Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Etliche Beiträge in den Zeitschriften der jungen Generation könnten genannt werden. Hier eine Auswahl: Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht. In: Der Ruf 1 (1946), H. 1, S. 1– 2; Hans W. Richter: Warum schweigt die junge Generation? In: Der Ruf 1 (1946), H. 2, S. 1– 2; Hans Oster: Philosophische Gedanken für unsere Zeit. Entwicklung und Aussage der Existenzphilosophie. In: Horizont 2 (1947), H. 1, S. 3 – 4; Carl A. Weber: Die literarischen Strömungen in Frankreich und die junge Generation. In: Der Ruf 1 (1946), H. 5, S. 13– 14;Walter Mannzen: Albert Camus und das Absurde. Zum französischen Existentialismus. In: Der Ruf 1 (1946), H. 8, S. 11– 12. Einen Überblick liefert: Rahner: „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…“. Vgl. Emmanuel Mounier: Existenzphilosophie und Aktivismus. In: Merkur 1 (1947), H. 5, S. 679 – 696, hier S. 695 f. Carl A. Weber: Besorgnis um die junge Dichtung. In: Die Fähre 2 (1947), H. 6, S. 323 – 324. Bernt von Heiseler: Über den Dichter. Zeitalter und Aufgabe. In: Die Sammlung 3 (1948), S. 709 – 719, hier S. 711.
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Dichtung stets getan habe und weiterhin tun solle, scheine der „heutige Autor“ seine Bindungslosigkeit, die oftmals als Schwermut auftritt, „erträglicher zu finden, wenn er sie auf den Mitmenschen abgeladen hat.“⁹⁴
2 Autorschaft im Namen der ‚jungen Generation‘ Während die Autorinnen und Autoren des Exils und der Inneren Emigration zentrale Positionen im deutschsprachigen literarischen Feld einnahmen, waren Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Andersch, Hans Werner Richter oder Wolfdietrich Schnurre 1945 weitgehend unbekannt. Sie konnten sich weder einer literarischen Tradition zuordnen, noch auf eigene literarische Erfolge verweisen. Ihre Selbstbezeichnung als ‚junge Generation‘ unterstützte die Konstituierung einer „Generationsgemeinschaft“,⁹⁵ das „generation building“,⁹⁶ wie Ulrike Jureit in Anspielung auf die imaginären Prozesse, die der Nationenbildung dienen, formuliert. Die Generationsrhetorik beinhaltet ein Versprechen auf die Zukunft: Durch den Krieg seien die Jungen noch nicht zum Zuge gekommen, aber ihr Erfolg stehe unmittelbar bevor.⁹⁷ Zugleich muss die Identifikation vieler politisch engagierter Autorinnen und Autoren mit dem Generationenbegriff als Replik auf die
Ebd., S. 715. Sigrid Weigel: Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts. In: Lutz Musner, Gotthart Wunberg (Hgg.): Kulturwissenschaften. Forschung, Praxis, Positionen. 2. Aufl. Freiburg i. Br. 2003, S. 177– 208, hier S. 180. Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006, S. 41 f. Vgl. Hans W. Richter: Jugend und junge Generation. In: Der Ruf 1 (1946), H. 6, S. 7. Richter nimmt mit diesem Argument auch zu dem Vorwurf Stellung, dass er und andere, die sich der ‚jungen Generation‘ zurechnen, schon um die vierzig Jahre alt seien. Im Folgenden können nicht alle Aspekte dieser Generationsdebatte angesprochen werden. Aufgrund der zahlreich vorliegenden Forschungen zur Schuldfrage in der Nachkriegszeit verzichte ich auf eine Darstellung dieses Aspekts. An der Debatte zwischen Wolfdietrich Schnurre und Manfred Hausmann in der Berliner Zeitschrift Horizont. Halbmonatsschrift für junge Menschen wird exemplarisch deutlich, wie die Frage nach der Schuld an Krieg und Holocaust auch die Generationsdebatte bestimmte. Vgl. Manfred Hausmann: Jugend zwischen Gestern und Morgen. In: Aufbau 2 (1946), H. 7, S. 667– 674;Wolfdietrich Schnurre: Jugend und Schuld. Offener Brief an Manfred Hausmann. In: Horizont 1 (1946), H. 24, S. 9 – 10; Manfred Hausmann: Offene Antwort an Wolfdietrich Schnurre. In: Horizont 1 (1946), H. 27, S. 10; Wolfdietrich Schnurre: Schlußwort an Manfred Hausmann. In: Horizont 2 (1947), H. 1, S. 13; Manfred Hausmann: Noch einmal. In: Horizont 2 (1947), H. 4, S. 12. Zu dieser Debatte: Engler: Die „Schizophrenie“ des Anfangs.
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zahlreichen Ansprachen an die ‚Jugend‘ verstanden werden.⁹⁸ Schon in der ersten Ausgabe von Der Ruf – Unabhängige Blätter der Jungen Generation, der von Richter und Andersch herausgegebenen Zeitschrift, aus der die Gruppe 47 hervorging, findet sich eine Parodie auf Wiecherts Rede an die Jugend. ⁹⁹ In der zweiten Ausgabe konstatiert Hans-Werner Richter dann, dass sich eine ungeheure „Kluft“ zwischen der älteren und der jüngeren Generation aufgetan habe.¹⁰⁰ Sein Leitartikel dient der Rechtfertigung der noch schweigenden ‚jungen Generation‘, der von der älteren Generation „jede geistige und sittliche Fähigkeit mit professoraler Selbstverständlichkeit“ abgesprochen werde.¹⁰¹ Die Klage über die „zahlreiche[n] Ansprachen“¹⁰² an die Jugend wiederholt die sechste Ausgabe der Zeitschrift.¹⁰³ Kritische Reaktionen auf die Versuche arrivierterer Autorinnen und Autoren, die ‚Jugend‘ zu adressieren, druckte keineswegs nur Der Ruf. Auch andere Publikationsorgane der ‚jungen Generation‘ äußerten sich in diesem Sinne.¹⁰⁴ So heißt es in einer Rezension des Bandes Die Frage der Jugend in der Zeitschrift Ende und
Ansprachen an die Jugend wurden nicht nur im literarischen Feld gehalten, sondern fungierten als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung. Thomas Großbölting stellt diesen Zusammenhang für das religiöse Feld nach 1945 dar. Vgl. Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen 2013, S. 86 – 92. Vgl. 500. Rede an die deutsche Jugend. Eine Parodie, frei nach Ernst Wiechert. In: Der Ruf 1 (1946), H. 1, S. 12. Der Ruf übernahm die Parodie von der Berliner Tageszeitung Kurier.Weitere Informationen, auch über die heftigen Reaktionen auf diese Parodie, finden sich in: Jürgen Engler: „Geistige Führer“ und „arme Poeten“. Autorenbilder in der Nachkriegszeit. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945– 1949. Berlin 1996, S. 47– 87, hier S. 57 f. Richter: Warum schweigt die junge Generation?, S. 1. Ebd. Carl-Hermann Ebbinghaus: Wir wollen raus! In: Der Ruf 1 (1946), H. 6, S. 6 – 7, hier S. 6. Hier wird deutlich, dass die Debatte über ‚die Jugend‘ und die ‚junge Generation‘ in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht auf das literarische Feld beschränkt war. Etliche Intellektuelle wandten sich an ‚die Jugend‘ und zahlreiche Zeitschriften verstanden sich als Organ der ‚Jugend‘. Neben der Münchener Zeitschrift Der Ruf ist die Berliner Zeitschrift Horizont und die Freiburger Zeitschrift Die Kommenden zu nennen. Der Kurt Desch Verlag gab 1946 zudem einen Sammelband mit wichtigen Dokumenten zum Thema heraus.Vgl. Rudolf Schneider-Schelde (Hg.): Die Frage der Jugend. Aufsätze, Berichte, Briefe und Reden. (Europäische Dokumente 5.) München 1946. Auch in der SBZ war die Jugend ein großes Thema. Vgl. Karin Siegmund: „…etwas zu sagen haben, auch unter Dreißig“. Modelle der Förderung junger Autoren. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945 – 1949. Berlin 1996, S. 439 – 451. Jürgen Engler hat die im Horizont ausgetragene Debatte zwischen Wolfdietrich Schnurre und Manfred Hausmann (geb. 1898) im Kontext des Generationskonflikts analysiert. Vgl. Engler: Die „Schizophrenie“ des Anfangs, S. 391– 398. Für die Generationsrhetorik von Autorinnen und Autoren in Hamburg vgl. Hans-Gerd Winter: „Jugend“ und „junge Autoren“. Zuschreibungen und Selbstdefinitionen im Hamburger Raum. In: Hans-Gerd Winter (Hg.): „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hamburg 2002, S. 127– 154.
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Anfang – Zeitung der Jungen Generation beispielsweise, dass der Dialog mit der Jugend sich oftmals leider auf Aufforderungen beschränke, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten.¹⁰⁵ Die Weigerung, sich den Normen der älteren Generation gemäß zu verhalten, hatte einen politischen Kern, verstanden sich die Jungen doch als eine Generation, deren Bildungserlebnis der Krieg war. So erklärte beispielsweise Richter im oben angesprochenen Artikel die von ihm konstatierte „Kluft“ zwischen den Generationen damit, dass zwischen Jung und Alt das Kriegserlebnis liege und sich den Jungen insofern „jene vom Grauen umwitterte Frage nach der brüchig gewordenen Existenz des Menschen“ gestellt habe.¹⁰⁶ Während die ältere Generation ein gefestigtes Weltbild besessen habe, sei für die jüngere Generation der Krieg zum formativen Erlebnis geworden. Die ‚junge Generation‘ habe „mit dem Zusammenbruch der äußeren Welt den Zusammenbruch der inneren erlebt. Deshalb werden die jungen Kräfte von morgen nicht aus den schön restaurierten Hörsälen unserer Zeit kommen.“¹⁰⁷ Indem Richter das Kriegserlebnis gegen die traditionelle Bildung ausspielt, positionierte er sich sowohl gegen die Innere Emigration als auch gegen die Exilautoren.¹⁰⁸ Die Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs und nicht die universitären Hörsäle bilden ihm zufolge die Wirklichkeit bzw. generieren die Wirklichkeitswahrnehmung, auf deren Vermittlung es der Literatur ankommen müsse. Polemisch gegen traditionelle Bildung und Ästhetik verhielten sich zahlreiche Diskursbeiträge der ‚jungen Generation‘. Noch in Heinrich Bölls literarischer Standortbestimmung Bekenntnis zur Trümmerliteratur aus dem Jahr 1952 heißt es: „Den Zeitgenossen in die Idylle zu entführen würde uns allzu grausam erscheinen“.¹⁰⁹ Weniger polemisch, aber in der Sache ähnlich konstatierte Gustav René Hocke im November 1946 zur Dichtung der älteren Generation: „Wir bewundern die Fertigkeit, aber diese ebenso gepflegte wie gebildete Semi-
Vgl. Ernst Schumacher: Wir sprechen über… Die Frage der Jugend. In: Ende und Anfang 2 (1947), H. 2, S. 5 – 6. Die gleiche Sachlage beklagt: Heinz Hund: Die Alten und die Jungen. In: Die Lücke 1 (1946), H. 4, S. 24– 26. Richter: Warum schweigt die junge Generation?, S. 1. Richter: Literatur im Interregnum, S. 11. Zum Verhältnis der Gruppe 47 zu den Exilautoren vgl. Sabine Cofalla: Der soziale Sinn Hans Werner Richters. Zur Korrespondenz des Leiters der Gruppe 47. 2. Aufl. Berlin 1998, S. 19 – 28. Zur Auseinandersetzung mit Thomas Mann vgl. Hans-Ulrich Wagner: Autoren, Foren, Diskussionen. Die „junge Generation“ nach 1945. In: Hans-Gerd Winter (Hg.): „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hamburg 2002, S. 16 – 46, hier S. 29 – 33. Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. In: Böll: Werke. 1952– 1953. Hg. von Árpád Bernáth. (Kölner Ausgabe. Bd. 6.) Köln 2007, S. 58 – 62, hier S. 59.
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naristensprache spricht uns nicht mehr an. Sie ist zu artistisch.“¹¹⁰ Auch Hocke spielte in seinem Artikel, der der Inneren Emigration ein historisches Recht einräumte, ihr Weiterschreiben nach 1945 aber vehement kritisierte, die Wirklichkeit des Kriegs gegen ästhetische Bildung aus. Die Jugend sei „durch ungewöhnliche Erlebnisse ziemlich scharfhörig geworden“.¹¹¹ Hockes Bezug auf die außerordentliche Qualität der Erlebnisse gehörte zum Standartrepertoire der ‚jungen Generation‘. Der unlängst zurückliegende Krieg wurde als ein einschneidendes Ereignis markiert, nach dem nichts mehr sein könne wie vorher. Wolfdietrich Schnurre drückte dies im Ruf wie folgt aus: Wer heute noch schreibt, wie seine Väter schrieben, der belügt sich und uns. Wie dürfte es auch sein, daß eine Zeitwende größten Ausmaßes angebrochen ist und wir, die Kommenden, bedienten uns, unsere Freuden und Schmerzen, unsere Sehnsüchte und Zweifel auszudrücken, noch der gleichen Vokabeln, wie sie schon Generationen vor uns gebrauchten?¹¹²
Schnurre und Hocke verstanden Sprache und Ästhetik als Ausdrucksmittel für eine generationelle Erfahrung. Die Dringlichkeit des Anliegens und das Pathos, mit dem insbesondere Schnurre es ausdrückte, resultierten aus einer normativen Perspektive. Weiter im Stile der Väter zu schreiben, kam für ihn einer Lüge gleich. Alfred Andersch sprach im Leitartikel der ersten Ausgabe des Rufs in diesem Sinne auch von einem „religiösen Erlebnis, das die junge Generation aus dem Kriege mitbringt“ und sie dazu verpflichte, Kultur und Gesellschaft fundamental zu verändern.¹¹³ Nicht die „Stille der Studierzimmer“¹¹⁴ habe die ‚junge Generation‘ geprägt, sondern der Krieg. Die biografischen Folgen historischer Kontingenz, wie
Gustav R. Hocke: Deutsche Kalligraphie oder Glanz und Elend der modernen Literatur. In: Der Ruf 1 (1946), H. 7, S. 9 – 10, hier S. 9. Ebd. Wolfdietrich Schnurre: Alte Brücken – Neue Ufer. In: Der Ruf 1 (1947), H. 16, S. 12. Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, S. 1. Ebd. Anderschs Leitartikel macht zudem deutlich, dass die Generationserfahrung auch gegen nationale Differenzen ausgespielt werden konnte. Das jugendliche Alter verbürgt Andersch zufolge die gemeinsame Kriegserfahrung, die unabhängig von Fragen nach der politischen Verantwortung für den Krieg wertzuschätzen sei, denn die ‚junge Generation‘ charakterisiere, so Andersch pauschal in seinem Leitartikel, eine „Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler“. Die Generationsrhetorik verfolgte insofern mitunter auch das Ziel, die eigene Verantwortung für Krieg und Holocaust zu leugnen. In Anderschs Artikel Notwendige Aussage zum Nürnberger Prozess, der sich auf der gleichen Seite der Ausgabe des Rufs wie der hier besprochene Artikel befindet, wird diese Absicht noch deutlicher. Hier konstatiert der Autor: „Die Kämpfer von Stalingrad, El Alamein und Cassino, denen auch von ihren Gegnern jede Achtung entgegengebracht wurde, sind unschuldig an den Verbrechen von Dachau und Buchenwald“. Alfred Andersch: Notwendige Aussage zum Nürnberger Prozeß. In: Der Ruf 1 (1946), H. 1, S. 2.
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die Unmöglichkeit während des Kriegs zu studieren, wurden von der ‚jungen Generation‘ so als entscheidender Vorteil inszeniert und für eine Positionierung im literarischen Feld genutzt. Auf Seiten der arrivierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, also der ‚älteren Generation‘, wurde dies dann auch folgerichtig als Angriff auf die eigene Position verstanden. So jubilierte etwa Oskar Jancke, der Initiator der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, über die notwendig gewordene Einstellung der Zeitschrift Die Literatur, die als inoffizielles Organ der Gruppe 47 fungiert hatte, mit folgenden Worten: „Der ‚kalte Krieg‘, mit dem eine angeblich junge Generation eine angeblich sterile ältere überzog, war ohne zulängliche Ausrüstung nicht zu führen.“¹¹⁵ In der unmittelbaren Nachkriegszeit standen sich zwei verschiedene Figurationen des kulturellen Neuanfangs gegenüber. Während etliche Vertreter der Inneren Emigration häufig mit Bezug auf das Johannesevangelium für einen Neuanfang plädierten, als dessen Fundament sie die autoritativen Texte der christlichen Religion bzw. der abendländischen Kultur empfahlen, und Autorschaft damit in einer ahistorischen Gebundenheit an das Christentum inszenierten, bezogen sich die politisch engagierten Autorinnen und Autoren vorrangig auf die eigene historische Erfahrung. Den Nihilismusvorwurf aus den Reihen der ‚älteren Generation‘ konterte die ‚junge Generation‘ dementsprechend mit dem Hinweis darauf, dass alle traditionellen Werte im Lichte der historischen Erfahrung überprüft werden müssten. Dies gelte auch auf die Gefahr hin, „als Nihilist und ‚Saboteur am Wiederaufbau‘ verschrien zu werden“,¹¹⁶ wie Wolfdietrich Schnurre betonte. Im gleichen Sinne verteidigte sich Hans Werner Richter: „Nihilismus – ein Schlagwort unserer Zeit, mißbraucht, entstellt und verzerrt“.¹¹⁷ Die Positionierungsbestrebungen der ‚jungen Generation‘ sollen im Folgenden im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Politik enggeführt werden.Widerlegt werden soll dabei die in der Forschung verbreitete Annahme, dass die politische Positionierung der ‚jungen Generation‘ bzw. der Gruppe 47 durch eine areligiöse Haltung motiviert wurde. Die Analyse der Nihilismusdebatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit ermöglicht es, zu verstehen, wie sich die politisch engagierten Autorinnen und Autoren zu gesellschaftlich sanktionierten Normen und Werten verhielten. Lohnend ist ein genaueres Verständnis dieser Debatte auch, weil der Nihilismusvorwurf gegen die ‚engagierte Literatur‘ nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit erhoben wurde, sondern noch ein Jahrzehnt später in den Re-
Oskar Jancke: „Die Literatur“ ohne Publikum. In: Neue literarische Welt 3 (1952), H. 16, S. 1. Wolfdietrich Schnurre u. a.: Stimmen der Jugend. In: Horizont 2 (1947), H. 11, S. 4. Hans W. Richter: Skorpion. In: Der Skorpion [Reprint] 1 (1948), H. 1, S. 7– 9, hier S. 8.Vgl. auch: Borelius: Der Nihilismus und die Wirklichkeit.
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zensionen von Günter Grass’ Die Blechtrommel zum Repertoire der Literaturkritik gehörte. Der Nihilismusvorwurf richtete sich gegen Autorinnen und Autoren einer politischen und an der Gegenwart orientierten Literatur. Von diesen wurde diese Fremdzuschreibung aber nur bedingt anerkannt. Einerseits akzeptierten viele Vertreterinnen und Vertreter der ‚jungen Generation‘ die deskriptive Verwendung des Begriffs zur Beschreibung der literarischen und moralischen Situation der Nachkriegszeit, andererseits distanzierten sie sich von einer ahistorischen und normativen Verwendung desselben. Diese Ambivalenz liegt darin begründet, dass ein temporaler Aspekt für die ‚junge Generation‘ von Bedeutung war, der auch Parolen wie ‚Tabula rasa‘ oder ‚Kahlschlag‘ charakterisiert.¹¹⁸ Offensichtlich wird diese temporale Dimension in den Erinnerungen Hans Werner Richters an ein von Rudolf Alexander Schröder organisiertes Literaturtreffen in Altenbeuern. Das Treffen ging auf die Initiative Ingeborg Stahlbergs zurück, die sich mit dem neu gegründeten Stahlberg Verlag für junge Autorinnen und Autoren einsetzte, und stand in der Tradition der Inneren Emigration. Schröder hielt nicht nur die erste Ansprache, sondern auch die Morgenandacht am folgenden Tag.¹¹⁹ Im Rückblick kontrastiert Richter die verschiedenen Lesungen, die seiner Meinung nach die Literatur der Inneren Emigration perpetuierten, mit den Interessen der ‚jungen Generation‘. Anlässlich eines auf dem Treffen präsentierten literarischen Versuchs, mit der Tradition zu brechen, erklärt Richter emphatisch: „Ja, das war es, was wir wollten. Alles hinausschreien, was wir erlebt hatten, das ‚Nein‘ zu den Dingen von gestern, das was andere ‚Nihilismus‘ nannten. Ja, Nihilismus. Der Nihilismus eines neuen Anfangs.“¹²⁰ Diese temporale Dimension des von Richter positiv besetzten Nihilismusbegriffs wurde auch in der Zeitschrift Die Literatur hervorgehoben. Was als ‚Nihilismus‘ der ‚jungen Generation‘ vorgeworfen werde, sei in Wahrheit „der Niederschlag des Bemühens, ernst zu machen mit der Zeit, sich zurechtzufinden in der neuen, noch nicht bewältigten Situation, in der
Christian Ferber kritisiert in diesem Sinne die Polemik gegen die Kahlschlagliteratur, die den von Wolfgang Weyrauch geprägten Begriff missverstehe. Es sei eine willentliche Falschaneignung, den Begriff so zu deuten, als ob es sich um ein „Programm der planmäßigen Vernichtung der fruchtbaren, zeugenden und in Jahrhunderten der Entwicklung kultivierten Sprache“ handeln würde. Ferber macht so deutlich, dass der Begriff fälschlicherweise als Ausdruck nihilistischer Gesinnung interpretiert worden ist. Christian Ferber: Die Legende vom Kahlschlag. In: Die Literatur 1 (1952), H. 6, S. 1. Vgl. das Programm in: Jochen Meyer: Ruf der Jugend – Das Autorentreffen in Altenbeuern. Ein Vorspiel zur Gründung der Gruppe 47. In: Ralf Keller u. a. (Hgg.): Die Bücher des Stahlberg Verlages. Eggingen 1994, S. 14– 33. Hans W. Richter: Bruchstücke der Erinnerung. In: Nicolas Born, Jürgen Manthey (Hgg.): Nachkriegsliteratur. (Literaturmagazin 7.) Reinbek bei Hamburg 1977, S. 134– 138, hier S. 136.
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Schönfärberei nicht mehr verfängt“.¹²¹ Auch Alfred Andersch unterstrich in seiner Rede auf dem zweiten Treffen der Gruppe 47 in Ulm die temporale Dimension des Nihilismusbegriffs. In Deutsche Literatur in der Entscheidung hob er den „Zwang zur kritischen Untersuchung aller Wertesysteme“ hervor und konstatierte: Die Ablehnung aller Wertesysteme, die sich selbst als absolut begreifen,wird den Vorwurf des Nihilismus nach sich ziehen. Und um so stärker, je größer der Teil der schöpferischen Kraft sein wird, der sich in der Entlarvung dieser ‚absoluten Werte‘ verbraucht. […] Nun, ein temporärer Nihilismus wäre nicht das Schlechteste; die permanente Langweiligkeit unserer ‚werthaltigen‘ Literatur könnte ein solches reinigendes Gewitter schon gebrauchen.¹²²
Indem Andersch sich in diesen Zeilen mit einem „temporären Nihilismus“ identifiziert, hebt er hervor, dass er keine grundsätzliche Ablehnung von Werten vertrete, sondern eine Überprüfung anstrebe, die Begriffe wie ‚Tabula rasa‘ und ‚Kahlschlag‘ ebenfalls fordern. Gemeinsam ist allen drei Begriffen eine Rhetorik des Anfangs, die auf die Position der ‚jungen Generation‘ im literarischen Feld verweist. Das Bekenntnis zu einem temporären Nihilismus ist mit der Hoffnung auf dessen Überwindung gepaart. Es war insbesondere Alfred Andersch, der die temporäre Dimension des Nihilismusbegriffs herausstellte. So konstatierte er in seinem Vorwort zu einer Sammlung kulturpolitischer und philosophischer Essays, dass der Nihilismus auf eine konkrete gesellschaftliche Situation antworte. Er setze mit Emmanuel Mounier auf die Idee eines „schöpferischen und vorläufigen Nihilismus“¹²³ und auf „die Hoffnung, weil das Nichts gerade oben liegt“.¹²⁴ Der Einfluss des französischen Existentialismus auf Andersch wird hier mehr als deutlich. Anderschs Ablehnung von absoluten Wertesystemen entspricht dem Diktum Sartres, dass die Existenz der Essenz vorangehe.¹²⁵ Allerdings konzipiert Andersch anders als Sartre Freiheit durchaus positiv und spricht von der „absoluten Freiheit“ als dem „letzten Wert“.¹²⁶ Dem Christentum sei der Gedanke der existentiellen Freiheit ebenfalls immanent.¹²⁷ Tatsächlich akzentuiert Andersch in seiner schon angesprochenen programmatischen Rede an verschiedenen Stellen die „metaphysische Seite“ der literarischen Situation.¹²⁸ Schon deswegen kann
T. Schreiber: Falsch placierter Pessimismus. In: Die Literatur 1 (1952), H. 4, S. 3. Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 215 f. Alfred Andersch: Europäische Avantgarde. In: Alfred Andersch (Hg.): Europäische Avantgarde. Frankfurt am Main 1949, S. 5 – 11, hier S. 7. Ebd. Vgl. Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme. Paris 1946. Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung, S. 216. Vgl. ebd., S. 217. Ebd., S. 191, 206 u. 213.
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von einem antireligiösen Autorschaftsmodell nicht die Rede sein. Im Gegenteil: In seiner Replik auf eine Polemik Günther Birkenfelds im Horizont, einer weiteren Zeitschrift der ‚jungen Generation‘, betonte Andersch nicht nur, dass die existentielle Freiheit seiner persönlichen Ansicht nach von „Gott verliehen“ sei,¹²⁹ sondern wehrte sich auch dagegen, als Nihilist im ahistorischen und normativen Sinne verstanden zu werden: „Im Lager des Nihilismus aber stehen die ewig Unverbindlichen, die Schönschreiber, die aalglatten ‚Humanisten‘ und die Dogmatiker von links und rechts, die nichts gelernt haben“.¹³⁰ Andersch selbst wird in diesen Zeilen zum Ankläger. Nicht er sei Nihilist, sondern diejenigen, die aus der Geschichte nichts gelernt hätten und weiterhin an Werten festhielten, die von der Realität ihrer Unwirksamkeit überführt worden seien. Mit dieser Anklage reagiert Andersch nicht zuletzt auf Birkenfelds kritische Nachfrage, ob absolute Werte wirklich durch geschichtliches Fehlverhalten in Frage gestellt würden: Ich möchte Alfred Andersch mit einem Beispiel befragen: wurde und wird das Christentum in seinem ‚absoluten Wert‘, in seiner reinen Lehre dadurch in Frage gestellt, daß im Zeichen des Kreuzes Völker von alter Kultur ausgerottet, Freigeister bei lebendigem Leib verbrannt wurden oder weil die Schrift des Kopernikus bis heute auf dem päpstlichen Index blieb?¹³¹
Andersch hebt in seiner Replik die geschichtliche Realität des Christentums hervor und antwortet wie folgt: Allerdings wird das Christentum dadurch in Frage gestellt. Nicht die Werte der Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit und des Mitleids, nicht die Person Christi wird durch jene Diskrepanz von Theorie und Praxis in Frage gestellt, aber ‚das Christentum‘ ganz bestimmt.¹³²
Indem Andersch auf den Widerspruch zwischen überzeitlichen Normen und historischer Praxis aufmerksam macht, deutet er an, dass das ‚Christentum‘ nicht als reine Idee jenseits der geschichtlichen Realität betrachtet werden könne. Die kategorische Trennung zwischen einem transzendenten und ewig leuchtenden Ideenhimmel, der Birkenfeld zufolge „kaum je erreichte Zielbilder und unauslöschliche Wahrheiten“ enthalte,¹³³ und der finsteren, irdischen Realität will Andersch überwinden, weil Werte nur dann echt seien, „wenn sie sich mit dem lebendigen Inhalt ihrer Ver-
Alfred Andersch: Nihilismus oder Moralität? In: Horizont 3 (1948), H. 13, S. 8 – 9, hier S. 9. Ebd. Günther Birkenfeld: An die „temporären“ Nihilisten II. In: Horizont 3 (1948), H. 8, S.4–5, hier S.4. Andersch: Nihilismus oder Moralität?, S. 8. Birkenfeld: An die „temporären“ Nihilisten II, S. 4.
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wirklichung füllen“.¹³⁴ Andersch bringt daher die Literatur der ‚jungen Generation‘ als unverbrauchten Träger noch zu findender Werte ins Spiel: Diese Literatur ist […] nicht nihilistisch. Sie ist moralisch, sie versinkt manchmal aus Verzweiflung in einen sozialen und metaphysischen Determinismus, in dem sie sich in Frage und Anklage erschöpft, aber sie kommt aus dem moralischen Bewußtsein, aus dem Verlangen nach Unbedingtheit, das ihre Schöpfer erfüllt. […] In ihren Werken gewinnt das Wort zum ersten Male wieder seinen Wert zurück, weil es verbindlich gesprochen, weil es mit dem ganzen Einsatz der dichterischen Persönlichkeit auf den Menschen verpflichtet wird.¹³⁵
Die Echtheit der Literatur ergibt sich laut Andersch aus der Überprüfung der Werte an der Realität. Ihre Basis sei die Authentizität des Autors. Beachtenswert ist dabei, dass Andersch das literarische Ungenügen der ‚jungen Generation‘ durchaus anspricht. Ganz im Sinne der oben zitierten Passage deutet Andersch Wolfdietrich Schnurres Prosa als ästhetisch ungenügend, jedoch als Ausdruck einer echten „religiösen Verzweiflung“.¹³⁶ Die Entwertung der Werte wird von Andersch nicht als normatives Programm verfolgt, sondern als gesellschaftliche Faktizität diagnostiziert, deren Anerkennung für die Literatur notwendig sei, wenn diese die gesellschaftliche Realität nicht länger ignorieren wolle. Das Selbstverständnis der ‚jungen Generation‘ als ‚temporäre Nihilisten‘ fand zudem Ausdruck in der symbolischen Überhöhung der urbanen Trümmerlandschaften. In vielen Texten stilisierten junge Autorinnen und Autoren die realen Trümmer der Nachkriegszeit zu einem Symbol moralischer und kultureller Zerrüttung. So beschrieb Hans Werner Richter im Leitartikel der zweiten Nummer des Rufs die existentielle Situation der ‚jungen Generation‘ mit den Worten: Der moralische, geistige und sittliche Trümmerhaufen, den ihr eine wahrhaft ‚verlorene‘ Generation zurückgelassen hat, wächst ins Unermeßliche und erscheint größer als jener real sichtbare.Vor dem rauchgeschwärzten Bild dieser abendländischen Ruinenlandschaft, in der der Mensch taumelnd und gelöst aus allen überkommenen Bindungen irrt, verblassen alle Wertmaßstäbe der Vergangenheit.¹³⁷
Im Bild des durch die Trümmer irrenden, besitzlosen und daher ungebundenen Menschen illustrieren diese Zeilen die existentialistische Grundierung des Nihilismusbegriffs sowie seine temporale Modifikation. Die literarische Unproduktivität der ‚jungen Generation‘ wird mit einem Verweis auf das Versagen der älteren Generation, die den Trümmerhaufen hinterlassen habe, legitimiert und zugleich
Andersch: Nihilismus oder Moralität?, S. 9. Ebd. Ebd., S. 8. Richter: Warum schweigt die junge Generation?, S. 2.
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als Übergangsstadium markiert. Dass die ‚junge Generation‘ noch schweige, sei ihrer besonderen Empfindsamkeit für die „Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Wort und dem erlebten Leben“ geschuldet.¹³⁸ In Richters Geleitwort zur Nullnummer der geplanten Zeitschrift Der Skorpion, aus dessen Kreis sich die Gruppe 47 entwickeln sollte, wird das Bild der Trümmer ebenfalls auf den Nihilismusvorwurf bezogen: „Doch das Bekenntnis zu den Trümmern unserer Zeit hat nichts mit Nihilismus zu tun.“¹³⁹ Als ein weiteres Beispiel für den Versuch der ‚jungen Generation‘, die Trümmer der Nachkriegszeit in eine Metapher des notwendigen Neuanfangs zu transformieren, kann ein Zitat von Heinz Friedrich, einem weiteren Mitbegründer der Gruppe 47 und Mitarbeiter von Der Ruf, angeführt werden. Auch für Friedrich zeigt sich in der Trümmerlandschaft die Seelenlandschaft seiner Generation. Er erklärt in seinem Beitrag auf dem von Rudolf Alexander Schröder organisierten Schriftstellertreffen für die ‚junge Generation‘ in Altenbeuern: „Unser Dasein ist allen Flitters entkleidet. Wir machen uns nichts mehr vor. Wir stehen sozusagen nackt vor dem Ewigen da, klein und bescheiden.“¹⁴⁰ Dieser Beschreibung der eigenen Situation fügte er hinzu, dass der Nihilismus als normatives Programm der „ärgste Feind“ sei.¹⁴¹ In Hinsicht auf die temporäre Bestimmung des Nihilismusbegriffs standen Autoren wie Andersch, Schnurre, Friedrich und Richter, die zum Kern der frühen Gruppe 47 zu zählen sind, nicht allein. Die gleiche Position fand sich beispielsweise in der Freiburger Zeitschrift Die Kommenden – Zeitschrift der jungen Generation. Im Leitartikel der ersten Ausgabe, der den Charakter eines Manifests besitzt, fassen die Autoren das Verhältnis zum Nihilismus als das drängendste Problem ihrer Zeit auf und sehen sich vor eine Entscheidung gestellt: Übergeben wir uns diesen Kräften des Nihilismus unter Aufgabe unserer Existenz, so bedeutet das ein Ende. Betrachten wir den Nihilismus als ein notwendiges Durchgangsstadium, an dem sich als Gegenkraft entzünden soll ein neuer moralischer Mut, dann stehen wir in der Morgenröte einer aufsteigenden Kultur. Wir, die junge Generation, sollten uns zu dem letzteren entschließen.¹⁴²
Aber nicht nur etliche Beiträge in den zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften der ‚jungen Generation‘ verbinden die Nihilismusdiagnose mit der Hoffnung auf ihre
Ebd. Richter: Skorpion, S. 8. Heinz Friedrich: Meine Gedanken zur geistigen Lage der jungen Generation. In: Friedrich: Aufräumarbeiten. Berichte, Kommentare, Reden, Gedichte u. Glossen aus 40 Jahren. München 1987, S. 50 – 56, hier S. 53. Ebd., S. 55. Redaktion: Was heute nottut! In: Die Kommenden 1 (1946), H. 1, S. 1.
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Überwindung, nicht zuletzt Wolfgang Borchert, vielleicht der paradigmatische Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit,¹⁴³ unterstreicht die produktive Funktion eines temporären Nihilismus. In seinem den generationellen Plural verwendenden Text Das ist unser Manifest konstatiert er: „Unser Nein ist Protest. Und wir haben keine Ruhe beim Küssen, wir Nihilisten. Denn wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja bauen.“¹⁴⁴ Wirkungsmächtiger als dieser nachgelassene Text war natürlich Borcherts bekanntestes Werk Draußen vor der Tür, das ebenfalls den Nihilismusvorwurf provozierte.¹⁴⁵ Nach der Berliner Aufführung sah sich daher ein Artikel im Horizont zur Verteidigung genötigt und stellte fest: „Wolfgang Borcherts Stück ist nicht nihilistisch. Sein Stück ist eine große Frage – die Frage der jungen Generation, die draußen vor der Tür seht, buchstäblich vor der Tür steht.“¹⁴⁶ Anlässlich von Borcherts Stück wiederholte sich die Debatte um den Nihilismus. Während der Nihilismusvorwurf eine normative philosophische Position unterstellte, hoben Vertreter der ‚jungen Generation‘ die temporäre Dimension ihres Bekenntnisses zum Nihilismus hervor.
3 Zwischenfazit: Generation und Habitus Von einem Bekenntnis zum Nihilismus als normatives Programm politischer Autorschaft kann also nicht gesprochen werden. Die ‚junge Generation‘ identifizierte sich mit dem ‚Nihilismus‘ ausschließlich in einer genealogischen Perspektive. Indem sie ihn als eine Generationserfahrung begriff, schrieb sie dem Begriff eine temporale Dimension ein, die einerseits eine mögliche Überwindung zu denken erlaubte, andererseits auf die politische Geschichte der Gegenwart verwies. Der Generationsbegriff fungierte dabei als ein Medium, das Natur und Kultur aufeinander bezog, indem es die diskontinuierliche Generationenabfolge mit der Permanenz kultureller Setzungen vermittelte: Die Wahrheit der Kultur zeige sich am Zustand der Jugend, lautete das Argument. Die ‚junge Generation‘ nutzte die Nihilismusdebatte, um sich von den Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration abzugrenzen. Deren religiöse Identifizierung wurde jedoch nicht einfach in einer atheistischen Perspektive abge-
Vgl. Michael Töteberg: „Wo bleibt das Buch?“ Wolfgang Borchert – Eine literarische Karriere im Nachkrieg. In: Hans-Gerd Winter (Hg.): „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hamburg 2002, S. 95 – 109. Wolfgang Borchert: Das ist unser Manifest. In: Borchert: Das Gesamtwerk. Hamburg 1949, S. 308 – 315, hier S. 313. Vgl. Gordon J. A. Burgess: The Life and Works of Wolfgang Borchert. Rochester 2003, S. 219. Heinz Friedrich: Antworte, lieber Gott, antworte! Meinungsstreit um Wolfgang Borchert. In: Horizont 3 (1948), H. 8, S. 8.
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lehnt, sondern vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Ereignisse hinterfragt. Die Gegenwart spielte für die Autorschaft der ‚jungen Generation‘ eine besondere, formative Rolle.Verstanden wurde sie als Einspruchsinstanz, vor der sich kulturelle und religiöse Werte zu rechtfertigen hätten. In der Rekonstruktion der Kämpfe im literarischen Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Perspektive der Akteure bisher weitgehend unkommentiert dargestellt worden. Erst der Bruch mit diesem Standpunkt erlaubt es jedoch, die Berufung auf die Generationserfahrung als Naturalisierung der Kultur in den Blick zu nehmen. Spricht man von der eigenen ‚Generation‘, dann blendet man die Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Altersgruppe aus. Insbesondere nach Krieg und Holocaust stellt sich dieser homogenisierende Blick als äußerst problematisch heraus. Haben die Frontsoldaten und die Häftlinge in den Konzentrationslagern wirklich die gleiche Erfahrung gemacht? Haben die Anhängerinnen und Anhänger des Nationalsozialismus ihre Kriegsteilnahme genauso erlebt wie deren Gegnerinnen und Gegner? Man kann diese Fragen nur negativ beantworten und viele Untersuchungen der letzten Dekaden haben aufgezeigt, wie höchst problematisch der Umgang vieler Mitglieder der Gruppe 47 mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war. Sei es die soldatische Sprache in der Prosa des ‚Kahlschlags‘ und der Publizistik des Rufs, das Ressentiment gegenüber Exilierten sowie gegen Paul Celan oder die späte Enthüllung der eigenen Mitgliedschaft in der Waffen-SS durch Günter Grass¹⁴⁷ – die Berufung auf die Generationserfahrung wirkte daran mit, dass solche Kontinuitäten nicht in den Blick gerieten. Betrachtet man die Inszenierung von Generationserfahrungen als eine Erinnerungspraxis, die höchst selektiv zu verfahren vermag, dann zeigt sich auch hier, dass, was als Natur erscheint, kulturell konstruiert wird. Vor diesem Hintergrund sind einige Modifikationen des feldtheoretischen Ansatzes, dem diese Studie verpflichtet ist, vorzunehmen. Als Ausgangspunkt für eine feldtheoretische Verortung der Generationsrhetorik kann eine Passage aus Bourdieus Werk Sozialer Sinn dienen, auch wenn darin noch keine Aussage über die Bedeutung des Habitus für das literarische Feld erblickt werden darf. Dort werden Generationen als Gruppen von Menschen mit habituellen Gemeinsamkeiten verstanden:
Vgl. Urs Widmer: So kahl war der Kahlschlag nicht. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 328 – 335; Klaus Briegleb: Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Ihr (Nicht‐)Ort in der Gruppe 47 (1952– 1964/65). In: Bernhard Böschenstein, Sigrid Weigel (Hgg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 29 – 84.
3 Zwischenfazit: Generation und Habitus
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Bei Generationskonflikten stehen sich keineswegs Altersklassen gegenüber, die durch natürliche Eigenschaften voneinander getrennt wären, sondern Habitusformen, die verschieden entstanden sind, d. h. unter Existenzbedingungen, welche aufgrund verschiedener Definitionen des Unmöglichen, des Möglichen und des Wahrscheinlichen dafür sorgen, daß manche Leute Praktiken oder Bestrebungen als selbstverständlich oder sinnvoll erleben, die andere als undenkbar oder skandalös verübeln, oder umgekehrt.¹⁴⁸
Bourdieu ist in vielen Punkten beizupflichten. Die biologische Terminologie der Generationsrhetorik muss hinterfragt werden: Differenzen zwischen Generationen basieren nicht auf natürlichen Unterschieden, sondern auf veränderten soziokulturellen Bedingungen, unter denen sich Verhalten habitualisiert. Auch die These, dass Generationskonflikte aus vorbewussten Verhaltensdispositionen entstehen, indem Urteile im Medium des Selbstverständlichen getroffen werden, führt weiter, erklärt sie doch die Emotionalität, Schärfe und Unnachgiebigkeit von Parteien in Generationskonflikten. Jedoch reicht es für die Analyse der Kämpfe des literarischen Felds nicht aus, die kulturellen und sozialen Entstehungsbedingungen von Generationskonflikten in den Blick zu nehmen. Die Konflikte selbst übernehmen einen aktiven Part in der Gestaltung von Kultur. Sie dürfen nicht bloß als habituell motivierte Streitigkeiten, sondern müssen im gleichen Maße als kulturpolitische Auseinandersetzung verstanden werden, die Kultur nicht nur abbilden, sondern auf der Grundlage der genealogischen Dimension des Generationsbegriffs auch herstellen. Anstatt darin einen prinzipiellen Einwand gegen die Feldtheorie zu sehen, scheint mir aber gerade eine von Bourdieu inspirierte Literatursoziologie dazu in der Lage, die durch den Generationsbegriff angezeigte Scharnierstelle zwischen Natur und Kultur für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. In diesem Sinne ist der Vorschlag von Jérôme Meizoz weiterführend, auf dessen Bedeutung für die Inszenierung von Autorschaft schon im ersten Kapitel hingewiesen worden ist. Meizoz’ Überlegungen erlauben es, den aus der antiken Rhetorik stammenden Begriff des Ethos mit der Inszenierung von Autorschaft in Verbindung zu bringen. Meizoz definiert ‚Ethos‘ wie folgt: „Das Ethos liegt im Selbstbild begründet, das der Sprechende in seine Rede hineinprojiziert, um die Zustimmung der Zuhörer zu gewinnen.“¹⁴⁹ Konflikte im literarischen Feld lassen sich so als strategische Bezugnahmen auf den eigenen Standpunkt verstehen, als Inszenierungen der auktorialen ‚posture‘ (Meizoz), die sich nicht an der Richtigkeit oder Vollständigkeit bemisst, mit der der eigene Habitus abgebildet wird, sondern an den Zielen der Kommunikation. Der Generationsbegriff, wird er
Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993, S. 116 f. Meizoz: Die posture und das literarische Feld, S. 181.
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für die Inszenierung von Autorschaft funktionalisiert, bezieht sich daher nicht nur auf die habituellen Prägungen, sondern ist zugleich ein Produkt der Relationen, die das literarische Feld strukturieren. Bourdieu mag den Spielraum, der mit der Inszenierung des Habituellen gegeben ist, unterschätzt haben, einem kausalen Verhältnis von Habitus und Autorschaft hat er aber deutlich widersprochen. Die soeben angesprochene Dialektik wird von ihm selbst benannt: „Der Habitus, ein System von Dispositionen, verwirklicht sich als solcher tatsächlich nur in Beziehung auf eine bestimmte Struktur von Positionen“.¹⁵⁰ Ob habituelle Prägungen also zur Grundlage von Autorschaftsinszenierungen werden, entscheiden die jeweils historisch spezifischen Konstellationen des literarischen Felds. Der Rekurs auf das Deutungsmuster ‚Generation‘ in der Zeit zwischen dem Ende des Kriegs im Mai 1945 und der Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 exemplifiziert den agonalen Kontext, in dem der Generationsbegriff operiert. Weitgehend unbekannte Autorinnen und Autoren nutzten in dieser Zeit verstärkt die Generationsrhetorik, deren Funktion im Bereich der Literatur Alexander Honold präzise beschreibt: „Im Hinblick auf Traditionsbestände und die Geltung ästhetischer Normen akzentuiert der Generationsbegriff den Zeithorizont und die notwendige Pluralisierung jedweder kanonischen Verbindlichkeit“.¹⁵¹ Aus der Perspektive der Akteure kommt die Berufung auf die Generationserfahrung somit einer Geste gleich: „Le passé n’est plus la loi“.¹⁵² Hier bezeugt sich die diachrone Dimension des Generationsbegriffs. Entgegen der an sie herangetragenen Aufgabe, nun die Traditionspflege zu übernehmen, machen Akteure das Recht ihrer Generationserfahrung geltend. Die kulturelle Tradition, so ihr Argument, sei in Widerspruch zu den eigenen Lebenserfahrungen geraten und müsse deswegen an die gegenwärtigen Bedürfnisse angepasst werden. Plausibilität gewinnt das Deutungsmuster ‚Generation‘ vor allem dann, wenn es auf gesellschaftliche Ereignisse verweisen kann, denen Prägungskraft für den überwiegenden Teil einer Altersgruppe, unabhängig von kulturellem und sozialem Status, nur schwer abgesprochen werden kann. Hier kommen vor allem historische Großereignisse wie Kriege, Revolutionen und Revolten in Frage oder auch mediale Umbrüche, deren Folgen für die Lebenswelt sichtbar geworden sind. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass Generationen keine biologischen Größen sind, sondern in einem kulturellen Kommunikationsprozess konstruiert werden, der eigenen Regeln und Entste-
Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 420. Alexander Honold: „Verlorene Generation“. Die Suggestivität eines Deutungsmusters zwischen Fin de siècle und Erstem Weltkrieg. In: Sigrid Weigel u. a. (Hgg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie. München 2005, S. 31– 56, hier S. 39. Pierre Nora: La génération. In: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. Les Frances. Conflits et partages. (Bd. 3.1.) Paris 1992, S. 931– 971, hier S. 934.
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hungsbedingungen unterliegt. Die neuen Wahrnehmungsmuster und kulturellen Paradigmen, die mit der Berufung auf eine Generationserfahrung in Geltung gesetzt werden sollen, benötigen Lutz Niethammer zufolge „begünstigende Formierungsbedingungen“.¹⁵³ Das erklärt sich durch den agonalen Kontext, in dem sich die Inszenierung von Generationserfahrungen vollzieht. Das Generationskonzept bietet sich insofern für eine Integration in feldtheoretische Überlegungen an.¹⁵⁴ Sigrid Weigel zufolge kann es „als Medium der Genealogie betrachtet werden, das den Übergang zwischen einem biologisch beschriebenen Reproduktionsgeschehen und einem als Kultur verstandenen Überlieferungsprozeß reguliert.“¹⁵⁵ Begreift man das Generationskonzept als ein genealogisches Medium, dann wird deutlich, dass es sowohl für die Kontinuität als auch für den Bruch mit generationell vorgängigen Kulturen steht, auf diese insofern auch immer bezogen bleibt. Der Legitimierung von Autorschaft nach 1945 durch das Schlagwort der ‚jungen Generation‘ ist insofern ein zeitlicher Index eigen, der auf die Autorschaftsmodelle verweist, die als anachronistisch desavouiert werden. Spricht man mit Bourdieu vom ‚Habitus‘ oder mit Meizoz von der ‚posture‘, gemeinsam ist den beiden Begriffen, dass sie den systematischen Ort bezeichnen, an dem die Grenzen des literarischen Felds überschritten werden. Auch das ist eine Funktion der Berufung auf Generationserfahrungen, denn die Infragestellung der eingespielten kulturellen Routinen durch die ‚junge Generation‘, die den Nihilismusvorwurf provozierte, legitimierte sich durch Erfahrungen, die jenseits des literarischen Felds gemacht worden sind. Die ‚junge Generation‘ berief sich auf die eigenen Lebenserfahrungen, die sich nicht auf ein einzelnes, ausdifferenziertes Feld beschränken lassen. Ihr Versuch, die Grenzen des literarischen Felds zu verschieben, traf indes nicht nur auf die Ablehnung der bereits arrivierten Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration. Durchsetzen mussten sich die politisch engagierten Autorinnen und Autoren auch gegen die federführenden Akteure der Literaturkritik, die sich der Autonomieästhetik verschrieben hatten.
Lutz Niethammer: Die letzte Gemeinschaft. Über die Konstruierbarkeit von Generationen und ihre Grenzen. In: Bernd Weisbrod (Hg.): Historische Beiträge zur Generationsforschung. (Göttinger Studien zur Generationsforschung 2.) Göttingen 2009, S. 13 – 38, hier S. 21. Ralph Winter hat dies für die zwanziger Jahre demonstriert.Vgl. Ralph Winter: Generation als Strategie. Zwei Autorengruppen im literarischen Feld der 1920er Jahre. Göttingen 2012. Weigel: Generation, Genealogie, Geschlecht, S. 179.
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4 Die westdeutsche Literaturkritik nach 1945: Friedrich Sieburg, Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen Tonangebend im literarischen Feld nach 1945 waren neben den bereits etablierten Autorinnen und Autoren des Exils und der Inneren Emigration auch einige Literaturkritiker. Die Autorinnen und Autoren, die als politisch ‚engagierte‘ Literaten die Geschichte der Bundesrepublik prägen sollten, hatten 1945 noch kein oder sehr wenig symbolisches Kapital akkumuliert. Um Erfolg zu haben, mussten sie sich daher auch gegen die Literaturkritik durchsetzen. Meine Skizze des literarischen Felds der unmittelbaren Nachkriegszeit schließt daher die Literaturkritiker mit ein. Insbesondere das Kritikertrio Friedrich Sieburg, Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen wird im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Die herausgehobene Bedeutung der drei Kritiker steht außer Zweifel und ist häufig betont worden.¹⁵⁶ Sie zeigt sich nicht zuletzt am Erfolg ihrer Werke in den frühen 1950er-Jahren, die in einer deutlich höheren Auflage publiziert wurden als die Werke der ‚jungen Generation‘ wie beispielsweise die ersten Romane Heinrich Bölls.¹⁵⁷ Im Folgenden
Elisabeth Endres bezeichnet die Zeit zwischen 1956 und 1964, in der Sieburg den Literaturteil der FAZ leitete, als „Sieburg-Ära“. Elisabeth Endres: Die Literatur der Adenauerzeit. München 1983, S. 239. Von 1949 bis 1958 war Sieburg zudem Mitherausgeber von Die Gegenwart, einer zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift, in der er den Literaturteil prägte. Auch Sieburgs Gegner, wie der einstweilige Lektor von Günter Grass und Anhänger der Gruppe 47 Franz Schonauer, bestätigen die Bedeutung Sieburgs.Vgl. Franz Schonauer: Sieburg & Co. Rückblick auf eine sogenannte konservative Literaturkritik. In: Nicolas Born, Jürgen Manthey (Hgg.): Nachkriegsliteratur. (Literaturmagazin 7.) Reinbek bei Hamburg 1977, S. 237– 251, hier S. 243. Gustav Seibt hat Günter Blöcker, der 1958 für die Veröffentlichung gesammelter literaturkritischer Essays den Fontane-Preis der Stadt Berlin erhielt, als den neben Friedrich Sieburg „wirksamste[n] Literaturkritiker der frühen Bundesrepublik“ bezeichnet. Gustav Seibt: Strenger, kühler, still. Ein verspäteter Nachruf auf Günter Blöcker. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch (2007), S. 223 – 225, hier S. 224. Für Joachim Kaiser war hingegen Hans Egon Holthusen der wirkungsmächtigste Literaturkritiker der Nachkriegszeit: „In den fünfziger Jahren beherrschte er die deutsche Literatur, so weit ein Kritisierender sie beherrschen kann.“ Joachim Kaiser: Schriftsteller, Intellektueller, Präsident. Hans Egon Holthusen wird 60. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.04.1973. Während es für Böll durchaus ein Erfolg war, dass sein zweiter Roman Und sagte kein einziges Wort zwischen 1953 und 1955 eine Auflagenhöhe von 14 000 erreichte, wurden von Sieburgs Die Lust am Untergang innerhalb eines halben Jahres 21 000 Exemplare verkauft. Die Zahlen für Böll entnehme ich: Jochen Große Entrup: Die Werbemaßnahmen zu den frühen Werken Heinrich Bölls. München 1994, S. 152. Sieburgs Buch liegt mir in der vierten Auflage vor. 1954 zierte Sieburgs Porträt darüber hinaus das Cover des Spiegels, denn das Magazin beschäftigte sich in der Titelstory mit seinen literarischen und journalistischen Werken.Vgl. Sieburg. Im Spiegel und am Fenster. In: Der Spiegel (1954), H. 8, S. 24– 29. Blöcker erreichte mit seinen Büchern ähnlich hohe Auflagenzahlen wie Sieburg. Und Holthusen war nach dem Krieg nicht zuletzt durch seine gegen Thomas Manns Doktor Faustus gerichtete Streitschrift Die Welt ohne Transzendenz (1949) bekannt.Vgl. Hans E. Holthusen: Die Welt ohne
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soll skizziert werden,welches Autorschaftsmodell Sieburg, Blöcker und Holthusen favorisierten und wie sich diese Literaturkritiker sowohl gegenüber der ‚jungen Generation‘ als auch der Inneren Emigration positionierten. Es ist zu Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen worden, dass in den literaturhistorischen Darstellungen der Nachkriegszeit die politische Terminologie überwiegt. Die Nachkriegsliteratur wird in den meisten Überblicksdarstellungen in den Kontext der ‚restaurativen Tendenzen‘ gestellt, die laut Literaturgeschichtsschreibung die Zeit zwischen der Währungsreform und der Studentenbewegung politisch bestimmten.¹⁵⁸ Die Literaturpreise der 1950er-Jahre werden in dieser Logik als „Wegweiser in die Restauration“¹⁵⁹ bezeichnet oder es wird von der „konservativen Literaturkritik“¹⁶⁰ der frühen Bundesrepublik gesprochen, gegen die sich die Nonkonformisten unter den Literaten durchsetzen mussten. Will man mit einer solchen politischen Terminologie die Positionierungen im literarischen Feld fassen, läuft man Gefahr, politische Positionierungen vorschnell mit ästhetischen gleichzusetzen. Sieburgs, Blöckers und Holthusens Rückbezug auf die literarische Tradition der Moderne, die von den Nationalsozialisten 1933 gewaltsam unterbrochen worden war, kann aber nicht als konservativ bezeichnet werden. Autoren wie Faulkner, Hauptmann, Fontane, Thomas Mann oder Heine, auf die sich beispielsweise Sieburg positiv bezog, sind mit dem Attribut ‚konservativ‘ falsch oder nur unzureichend charakterisiert.¹⁶¹ Helmut Peitsch spricht daher auch vorsichtiger von einer „konservative[n] Rezeptionsweise“ der klassischen
Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns „Dr. Faustus“ und seinen Nebenschriften. Hamburg 1949. Starken Einfluss auf das literarische Feld übte er zudem durch seinen sehr erfolgreichen Essayband Der unbehauste Mensch (1951) aus, der schon im Titel die kulturkritische Dimension seines Denkens unmissverständlich ausdrückt. In der Forschung wird der Band als „epochenmachend“ charakterisiert. Dirk Kemper: Nullpunkt, Traditionswahl und Religion. Alfred Döblin und Hans Egon Holthusen zur deutschen Literatur nach 1945. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv (2010), H. 29, S. 113– 126, hier S. 114. Nicht nur dieser Titel Holthusens ist Klessinger zufolge zu den „Kennwörtern einer ganzen Generation“ zu rechnen. Hanna Klessinger: Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956. Göttingen 2011, S. 54. Holthusen gehörte darüber hinaus zu den erfolgreichsten Lyrikern der 1950erJahre. Als besonders wirkmächtig muss seine zusammen mit Friedhelm Kemp herausgegebene und in dreizehn Auflagen publizierte Gedichtanthologie Ergriffenes Dasein (1953) eingeschätzt werden. Aber auch mit seiner im Merkur veröffentlichten Lyrik und seinen Gedichten in Labyrinthische Jahre (1952) machte er von sich reden. Vgl. die Zusammenstellung von Kiesel: Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung. Kröll: Literaturpreise nach 1945. Schonauer: Sieburg & Co. Vgl. Friedrich Sieburg: Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene. Hamburg 1954, S. 330, 332, 337 u. 343.
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Moderne durch Kritiker wie Holthusen und Blöcker,¹⁶² weist aber zugleich auf die Gemeinsamkeit zwischen Holthusen und Walter Jens hin, die beide die klassische Moderne begrüßten.¹⁶³ Auch wenn politische Differenzen tatsächlich zu Kontroversen zwischen der Literaturkritik sowie politisch engagierten Autorinnen und Autoren führten, so bildeten diese keineswegs die Basis für die Gegnerschaft in ästhetischen Fragen. Zu unterscheiden ist also zwischen einer politischen Kritik an politisch engagierten Autorinnen und Autoren sowie einer ästhetischen Kritik am politischen Autorschaftsmodell. Eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Sieburg, Blöcker und Holthusen in ästhetischen Fragen zeigt sich bereits in der Tradition, in die sie sich alle demonstrativ stellten. Positiv und mitunter ehrfurchtsvoll erwiesen alle drei Kritiker Ernst Robert Curtius ihre Referenz. Dessen prägnante Definition von Literaturkritik – „Kritik ist die Form der Literatur, deren Gegenstand die Literatur ist“¹⁶⁴ – wurde sowohl von Holthusen als auch von Blöcker zustimmend zitiert,¹⁶⁵ und auch Sieburg, der Curtius einen „erleuchtete[n] Kritiker“ nannte,¹⁶⁶ hätte dieser These selbstredend zugestimmt. Als Sieburg von der Zeitschrift Akzente gebeten wurde, zum Verhältnis von Dichtung und Kritik Stellung zu nehmen, konstatierte er ganz in Curtius’ Sinne, dass er hinsichtlich des Stils und der Originalität keinen Unterschied „zwischen einem Stück kritischer Prosa und einem Stück Erzählung“ ausmachen könne.¹⁶⁷ Der Kritiker mache es sogar oftmals besser als der Epiker, insofern „seine Kritik besser geschrieben ist als das Buch, auf das sie sich bezieht.“¹⁶⁸ Curtius’ Renommee im Nachkriegsdeutschland war außerordentlich,wie nicht zuletzt seine Auszeichnung mit dem Lessing-Preis der Stadt Hamburg im Jahr
Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945 – 89. Göttingen 2009, S. 164. Auch aus der persönlichen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus, die insbesondere Sieburg und später auch Holthusen vorgeworfen worden ist, kann keinesfalls auf deren ästhetische Positionen geschlossen werden. Zu den Vorwürfen vgl. die Einträge zu Holthusen und Sieburg in: Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich.Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main 2007. Vgl. ferner: Schonauer: Sieburg & Co. Ernst R. Curtius: Goethe als Kritiker. In: Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur. 3. Aufl. Bern 1963, S. 31–56. Der Sammelband wurde 1950 in der ersten Auflage publiziert. Das Zitat, auf das sich Blöcker und Holthusen bezogen, ist dem Essay Goethe als Kritiker entnommen. Curtius versucht mit diesen Worten, den von Friedrich Schlegel geprägten Begriff der Literaturkritik zu fassen. Vgl. Günter Blöcker: Literaturkritik. In: Günter Blöcker, Friedrich Luft (Hgg.): Kritik in unserer Zeit. Literatur, Theater, Musik, Bildende Kunst. Göttingen 1960, S. 5 – 27, hier S. 22; Hans E. Holthusen: Einleitung. Über den Kritiker und sein Amt. In: Holthusen: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München 1954, S. 7– 15, hier S. 7. Friedrich Sieburg: Du sollst nicht töten. In: Akzente 2 (1955), H. 1, S. 22– 28, hier S. 27. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27.
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1950 bezeugt.¹⁶⁹ Die Nähe zwischen Sieburg, Holthusen und Blöcker in Fragen des Literaturverständnisses und des favorisierten Autorschaftsmodells bezeugt sich auch in der gegenseitig ausgesprochenen Anerkennung.¹⁷⁰ Die Übereinstimmung zwischen den drei Kritikergrößen betraf zudem die grundlegende Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Literatur. In seinem Essay Über den sauren Kitsch ließ Holthusen an der Nachkriegsliteratur und insbesondere an deren literarischen Vorbildern Wolfgang Borchert und Jean-Paul Sartre kein gutes Haar.¹⁷¹ Sieburg stimmte Holthusens Urteil, dass die Nachkriegsliteratur einen „sentimentale[n] Hang zur Verschlechterung der Wirklichkeit“ erkennen lasse,¹⁷² ausdrücklich zu. Ähnlich positiv verhielt er sich zur Ablehnung der zeitgenössischen Literatur durch Blöcker. Letzterer, so Sieburg, kenne die „Widerwertigkeiten des Literaturbetriebs in unserem Lande“.¹⁷³
4.1 Drei Gegenspieler der ‚jungen Generation‘ Die grundlegende Differenz zwischen der politisch engagierten Literatur der Nachkriegszeit und Friedrich Sieburgs Literatur- und Autorschaftsverständnis resultierte aus der uneingeschränkten Wertschätzung der Autonomieästhetik seitens des Kritikers. Sieburg weigerte sich schlichtweg, sein Literaturverständnis von Krieg und
Auch an der vorsichtigen Reaktion Sieburgs auf ein sehr negatives Pauschalurteil über die deutsche Literaturkritik aus der Feder Curtius’ lässt sich diese Hochschätzung ablesen. Wenn Sieburg Curtius auch nicht in allen Punkten zustimmt, so nutzt er doch selbst diese Gelegenheit zu einer „Huldigung“. Friedrich Sieburg: Quakende Frösche. In: Die Gegenwart 6 (1951), H. 16, S. 20. Vgl. Sieburgs Lob für Holthusen in: Friedrich Sieburg: Wo bist du, Erzpoet? In: Sieburg: Nur für Leser. Jahre und Bücher. Stuttgart 1955, S. 370 – 373, hier S. 371; Sieburg: Du sollst nicht töten, S. 25; Friedrich Sieburg: Unentbehrlich. In: Sieburg: Nur für Leser. Jahre und Bücher. Stuttgart 1955, S. 292– 294, hier S. 293. Blöcker wird ebenfalls von Sieburg gelobt. Vgl. Friedrich Sieburg: Kleists neuer Standort. In: Sieburg: Zur Literatur. 1957– 1963. Hg. von Fritz J. Raddatz. (Bd. 2.) Stuttgart 1981, S. 215– 218, hier S. 217 f. Sieburgs Lob seiner Kollegen blieb nicht unerwidert. Hymnische Töne dominieren Holthusens Artikel im Merkur zum 65. Geburtstag Sieburgs. Vgl. Hans E. Holthusen: Literatur als gesellige Pflicht. Dem 65 jährigen Friedrich Sieburg. In: Merkur 12 (1958), H. 6, S. 597– 600. Vgl. Hans E. Holthusen: Über den sauren Kitsch. In: Holthusen: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München 1954, S. 240 – 248. Sieburg: Unentbehrlich, S. 293. Sieburg zitiert nicht ganz korrekt. Bei Holthusen findet sich die folgende Passage: „Es gibt aber neben der unausrottbaren Lust an der schönen Illusion auch die entgegengesetzte Tendenz, nämlich den sentimentalen Hang zur Verschlechterung und Verlästerung der Wirklichkeit durch das Medium der künstlerischen Darstellung, es gibt neben dem süßen auch den sauren Kitsch.“ Holthusen: Über den sauren Kitsch, S. 242. Friedrich Sieburg: Freiheit in der Literaturkritik. In: Sieburg: Verloren ist kein Wort. Disputationen mit fortgeschrittenen Lesern. Stuttgart 1966, S. 294– 298, hier S. 294.
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Holocaust infrage stellen zu lassen. Den Vorwurf, literarische Restauration zu betreiben, nahm er dabei bewusst auf sich und stellte sich selbst als Märtyrer einer Sache dar, die viele nicht den Mut hätten, offen zu vertreten: „Wer wagt es? Wer unterfängt sich, etwas wiederherzustellen, was es schon einmal gegeben hat und was unter den Schlägen eindeutig böser Mächte zusammengebrochen ist?“¹⁷⁴ Kokettiert Sieburg hier mit seiner angeblichen Marginalisierung, so unternimmt er es doch auch, seine Position argumentativ abzusichern. Vorrangig weist er darauf hin, dass die zeitgenössische Kritik an einer Literatur für Gebildete die Kultur- und Intellektuellenfeindlichkeit der Nationalsozialisten perpetuiere: Wir haben unsere Geschichte eher vergessen als revidiert, wir haben die Verdrängung unserer Klassiker, die auf geringen Widerstand stieß, zu einem Programm gemacht, das sich in den alten Haß gegen Bildung und geistige Tradition reibungslos einfügte. Was ist da noch deutscher Geist!¹⁷⁵
Es ist diese grundsätzliche Affirmation von Tradition und Bildung, die Sieburg von den Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 unterscheidet und ihn die Bedeutung der Autonomieästhetik betonen lässt. Nicht die Politik, sondern die Kultur schaffe die Einheit, die den Deutschen fehle. Allerdings konnte auch eine solche Position nationalistische Töne generieren, denn Sieburg beklagte mitunter die Dominanz der ausländischen Literatur, die einer Entwicklung der deutschen Literatur im Wege stehe.¹⁷⁶ Sieburgs Essayistik, die sich nur am Rande mit der ‚jungen Generation‘ befasst und einen weiten kulturkritischen Themenkreis durchschreitet, zielt darauf ab, die Achtung vor den „großen Vorbildern“ zu restaurieren.¹⁷⁷ Sieburg inszeniert sich gleichsam als Psychoanalytiker, der das „panische Abrücken von allem, was vergangen ist“, als „nervöse Reaktion“ begreift.¹⁷⁸ In Hinblick auf die ‚junge Generation‘ konstatiert er: Alle bewegen sich auf schwankendem Boden, kaum einer ruht in seinem Werk, weil niemand wagt, im Geleisteten eine ausreichende Legitimation zu sehen. Andere Bezüge müssen heran. Aber welche? Man versucht es mit religiösen, den sozialen oder politischen.¹⁷⁹
Friedrich Sieburg: Kriechende Literatur. In: Die Zeit (1952), H. 33, S. 3. Sieburg: Die Lust am Untergang. Vgl. Klaus Deinet: Friedrich Sieburg (1893 – 1964). Ein Leben zwischen Frankreich und Deutschland. Berlin 2014, S. 545. Ebd., S. 326. Ebd., S. 312. Ebd.
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Sieburg wirft der ‚jungen Generation‘ vor, sich religiös, sozial oder politisch zu verorten, auf künstlerische Originalität aber gar nicht erst abzuzielen. Die künstlerische Autonomie verleugneten sie. Radikale Stilmittel seien nur von alten oder inzwischen verstorbenen Künstlerinnen und Künstlern, die allesamt schon vor dem ersten Weltkrieg tätig waren, erprobt worden: Picasso, Klee, Kokoschka, Schönberg, Kafka, Benn und Georg Heym.¹⁸⁰ Der schauerliche „Mittelweg der ‚sozialen Gesinnung‘ oder der ‚Aktualität‘“¹⁸¹ bestimme daher die literarische Produktion, der Sieburg deswegen auch abspricht, ‚nonkonformistisch‘ zu sein. Sieburgs vehementeste Angriffe gegen die politisch engagierte Literatur der Nachkriegszeit finden sich daher auch nicht in Rezensionen von Neuerscheinungen, sondern wurden durch programmatische Äußerungen der ‚jungen Generation‘ motiviert. Angriffspunkt war nicht der eine oder andere stilistisch oder sittlich fragwürdige Satz, sondern die politische Ausrichtung von Autorschaft selbst. Insbesondere in zwei Artikeln aus dem Spätsommer 1952 kritisierte Sieburg politische Autorschaft scharf und systematisch. Sowohl der im August des Jahres in der Zeit veröffentlichte Essay mit dem programmatischen Titel Kriechende Literatur als auch der einen Monat später in Die Gegenwart publizierte Artikel Literarischer Unfug wurden zudem in Die Lust am Untergang erneut publiziert.¹⁸² Vehement vertritt Sieburg in beiden Artikeln die These, dass es der Kardinalfehler der jüngsten Literatur sei, sich politischen Themen zuzuwenden: „Was die deutsche Literatur in die Sackgasse geführt hat, ist der Irrglaube, sich der Gegenwart dadurch aufzwingen zu können, daß man ‚aktuelle Fragen‘ behandele.“¹⁸³ Autorschaft an zeitgenössischen Fragen zu orientieren, führe mitnichten zu politischer Relevanz, sondern dazu, vor den Schlagwörtern der Zeit zu ‚kriechen‘. Sieburg bezieht sich mit dem Titel Kriechende Literatur auf Gottfried Benn, der sich 1949 im Merkur gegen „das hündische Kriechen der Intellektuellen vor den politischen Begriffen“ ausgesprochen hatte.¹⁸⁴ Des Weiteren stellt Sieburg seine Kritik in den Kontext des damals überaus populären Diskurses über die ‚Masse‘.¹⁸⁵ Die Orientierung an aktueller Politik sei nichts als „Dienst am Massenhaften“¹⁸⁶ und Vgl. ebd., S. 318. Ebd., S. 310. Vgl. Sieburg: Kriechende Literatur; Friedrich Sieburg: Literarischer Unfug. In: Die Gegenwart 7 (1952), H. 19, S. 594– 596. Die Zusammengehörigkeit der beiden Publikationen wurde durch das Buch weiter unterstrichen, da sie ineinander montiert abgedruckt wurden. Vgl. Sieburg: Die Lust am Untergang, S. 327– 337. Sieburg: Kriechende Literatur. Ebd. Sieburg bezieht sich auf Benns folgenden Beitrag: Gottfried Benn: Ein Berliner Brief. In: Merkur 3 (1949), H. 2, S. 203 – 206, hier S. 204. Vgl. Sánchez-Blanco: Ortega y Gasset: Philosoph des Wiederaufbaus? Sieburg: Kriechende Literatur.
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resultiere mitunter aus mangelnder Bildung.¹⁸⁷ Den „Menschen vor dem Aufgehen in der Masse zu retten“,¹⁸⁸ sieht Sieburg stattdessen als Aufgabe der Kunst an.¹⁸⁹ Sieburg ging auch auf die Selbstbezeichnung ‚junge Generation‘ ein, die, wie ich in diesem Kapitel aufgezeigt habe, für das Selbstverständnis der politisch engagierten Literatur in der Nachkriegszeit zentral war. Dem Literaturkritiker zufolge kann von einem „Generationskampf“¹⁹⁰ nicht die Rede sein und sei es verkürzt, den Krieg als „Generationserlebnis“¹⁹¹ zu begreifen. Schließlich habe der Krieg alle betroffen und könne er den Mangel an Bildung, unter dem die ‚junge Generation‘ leide, nicht rechtfertigen. In Sieburgs Kritik machen sich immer wieder die Prämissen der Autonomieästhetik bemerkbar. Widersprochen wird jeglichen Legitimationsstrategien von Autorinnen und Autoren, die auf das Sujet abzielen, statt von künstlerischer Gestaltung zu sprechen, denn, so Sieburg: „Ein großes Problem ergibt noch kein großes Werk“.¹⁹² Günter Blöcker bezog sich ebenfalls überaus positiv auf die Literatur der klassischen Moderne. So bilden Henry Miller, James Joyce und Jean Genet den Wertmaßstab für den Verriss von Günter Grass’ Die Blechtrommel, verletzt Ernst Schnabel, dem durchaus Talent bescheinigt wird, Blöcker zufolge die mythische Vorlage im Gegensatz zu André Gide und lasse Martin Walser anders als Raymond Queneau die gesellschaftskritische Distanz vermissen.¹⁹³ Umgekehrt lobt Blöcker Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob aufgrund der vielfältigen Formensprache, die an James Joyce erinnere.¹⁹⁴ Blöcker begründet seine literaturkritischen Urteile oftmals mit dem Hinweis auf die mangelhafte Form der rezensierten Werke. Diese zeichneten sich nicht durch Arbeit an der Form aus, sondern bezeugten ein willkürliches Verhältnis zum sprachlichen Material. Walser werde von seiner Detailversessenheit getrieben und verwechsele „Wiederholungs- und Variationszwang mit epischer Fülle“,¹⁹⁵ Schnabel pointiere, statt zu gestalten, und bewege sich damit in den Grenzen „einer gewissen Art von zeitgenössischer Literatur“¹⁹⁶ und Grass kapriziere sich willkürlich auf das Obszöne und gebe anders als Joyce
Vgl. Sieburg: Literarischer Unfug, S. 594. Sieburg: Kriechende Literatur. Der Begriff taucht in zahlreichen Essays immer wieder auf. Insbesondere für seine kulturkritische Schrift Die Lust am Untergang ist er zentral. Vgl. Sieburg: Die Lust am Untergang, S. 323. Sieburg: Kriechende Literatur. Sieburg: Literarischer Unfug, S. 596. Sieburg: Kriechende Literatur. Vgl. die jeweiligen Rezensionen in: Günter Blöcker: Kritisches Lesebuch. Literatur unserer Zeit in Probe und Bericht. Hamburg 1962. Vgl. ebd., S. 194. Ebd., S. 189. Ebd., S. 278.
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„keine Welttotale, sondern einen sehr subjektiven, sehr tendenziösen Ausschnitt“.¹⁹⁷ Aus gleichem Grund widerspricht Blöcker auch positiven Rezensionen von Bölls Billard um halb zehn und konstatiert, dass der „realistische Kleinkünstler Böll“¹⁹⁸ keineswegs an „Weltbesitz und Lebensbreite“¹⁹⁹ gewonnen habe, auch wenn er inzwischen besser zu erzählen vermöge. Blöcker bescheinigt politischen Autorinnen und Autoren ein begrenztes Sichtfeld. Anstatt der Zeit zum Ausdruck zu verhelfen, seien sie von ihr Getriebene. In der Rezension von Die Blechtrommel spekuliert Blöcker über die Gründe für dieses von ihm diagnostizierte Unvermögen. Es sei bezeichnend für den „engagierten Abrechnungsliteraten“,²⁰⁰ dass er sich nur an eines halten könne: „den Selbsthaß einer Generation, die sich für enterbt hält und – von Ressentiment vergiftet – zur Lebensrache schreitet“.²⁰¹ Grass offenbare ein instrumentelles Verhältnis zum sprachlichen Material. Ihm fehle die Rezeptivität, die ein Merkmal des wirklichen Künstlertums sei. Blöckers Valorisierung des Autorschaftsmodells der klassischen Moderne, dem zufolge der Autor oder die Autorin den Eigengesetzlichkeiten des künstlerischen Materials zum Durchbruch verhelfe, bestimmte nicht nur den Wertmaßstab seiner Literaturkritik, sondern auch sein eigenes Autorschaftsmodell als Kritiker. Der Kritiker, so Blöcker in einem programmatischen Vortrag aus dem Jahr 1959, dürfe nicht auf der Grundlage abstrakter Normen urteilen und werde eigentlich als Kunstrichter falsch bezeichnet. Literaturkritik sei ein eigenes literarisches Genre, das sich in seinen Gegenstand versenken müsse und für das Form und Stil durchaus Qualitäten seien. Die Überlegenheit der Kritik über das kritisierte literarische Werk drücke sich dadurch aus, dass sie besser gedacht und besser geschrieben ist als jener Roman, daß sie eine bedeutendere Welterfahrung und eine reichere Persönlichkeit offenbart als er, daß sie als Kritik das ist, was der Roman uns vielleicht schuldig geblieben ist: ein nach der Maßgabe des ihr innewohnenden Gesetzes vollendetes Gebilde.²⁰²
Sicherlich wird in dieser Passage auch der Einfluss der zeitgenössischen Germanistik deutlich, die eine werkimmanente Interpretation favorisierte, wichtiger jedoch ist zu erkennen, dass Blöcker die Welterfahrung zum Maßstab erhebt. Die Kritik könne, indem sie ihrem Gegenstand und sich selbst gerecht werde, die
Ebd., S. 213. Ebd., S. 288. Ebd., S. 289. Ebd., S. 213. Ebd., S. 214. Blöcker: Literaturkritik, S. 25.
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Wirklichkeit besser erfahrbar machen als ein ästhetisch fragwürdiger Roman. Blöcker folgt damit auch in seiner eigenen Autorschaft seiner programmatischen und sehr erfolgreichen Studie Die neuen Wirklichkeiten (1957), die der Literatur die Aufgabe zuspricht,Wirklichkeit erfahrbar zu machen. Die Gegenwart sei von einer Entwertung der Sinnlichkeit geprägt und nur die Literatur könne Abhilfe schaffen: „In einer so von Entwirklichung bedrohten Welt ist nun der Künstler der Mensch, der noch voll in der Realität steht. Für ihn gibt es keine Erkenntnis ohne sinnlichen Eindruck, Geist ist für ihn die Zeichensprache der Dinge.“²⁰³ Sprache steht für Blöcker nicht außerhalb der Wirklichkeit, vermittelt nicht nur einen Inhalt, sondern ist selbst als Wirklichkeit zu begreifen. Nicht Abbildung einer schon erkannten Realität sei die Aufgabe von Autorschaft, sondern vorerst die Erkenntnis der Wirklichkeit, der mit den Mitteln des alten Realismus nicht mehr beizukommen sei. Dieser emphatischen Affirmation der Autonomie von Kunst und Kritik entspricht Blöckers Polemik gegen die Gruppe 47. In der „prinzipienlose[n] Cliquenbildung“ der Gruppe 47 sieht er einen erfolgreichen Versuch, die Autonomie der Kritik zu umgehen, „literarische Meinungsbildung an sich zu reißen und das literarische Urteil zu präjudizieren“.²⁰⁴ Charakteristisch für Holthusens essayistisches und literaturkritisches Werk ist ein dezidiert christlicher Standpunkt, der sich „den Herausforderungen der Moderne“ nicht verschließt.²⁰⁵ Dementsprechend kulturkritisch liest sich der Titel seines sehr erfolgreichen Essaybands Der unbehauste Mensch (1951), der auf den Verlust der metaphysischen Ordnung anspielt. Bezieht sich Holthusen auch nicht explizit auf Georg Lukács’ Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“,²⁰⁶ so knüpft er doch offensichtlich an diese und andere kulturkritische Reflexionen der Moderne an. Paradigmatisch bezieht er sich auf Nietzsches Diktum, dass Gott tot sei.²⁰⁷ „Gott oder das Nichts, Christentum oder Nihilismus“,²⁰⁸ so positioniert sich Holthusen, ohne allerdings eine „leichtfertige christliche Zeitkritik“ propagieren zu wollen,²⁰⁹ die den Nihilismus als epochale Ausgangsposition ignoriere. Nicht
Günter Blöcker: Die neuen Wirklichkeiten. Linien und Profile der modernen Literatur. Berlin 1957, S. 10. Blöcker: Literaturkritik, S. 21. Stephen Brockmann: Der Nullpunkt und seine Überwindung. Hans Egon Holthusen. In: Peter U. Hohendahl, Erhard H. Schütz (Hgg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Essen 2009, S. 135 – 145, hier S. 135. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied 1971, S. 32. Vgl. Hans E. Holthusen: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. München 1951, S. 8. Ebd., S. 31. Ebd., S. 9.
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nur mit seinem Essay Die Bewußtseinslage der modernen Literatur schließt Holthusen an Autoren wie Kafka, Joyce, Camus und Valéry an. Er würdigt zudem das große Vorbild der ‚jungen Generation‘ und konstatiert zu Hemingways Büchern: [D]iese Bücher sind ein bedeutender künstlerischer Geländegewinn, sie sind hinreißend wahrhaftig, sie sind wahr, weil sie die abgewrackte Welt des europäischen Spätbürgertums und der Dekadenz dem Schweigen überantworten und die krasse und erbarmungslose, auf Hieb und Stich gestellte äußere Welt, in der wir uns heute orientieren müssen, mit adäquaten Stilmitteln ebenso kraß und erbarmungslos zur Anschauung bringen.²¹⁰
Holthusen lobt in diesen Zeilen Hemingways unsentimentale und illusionslose Darstellung der jeglicher Bürgerlichkeit und Metaphysik entkleideten Realität. Die Kälte und Verlorenheit von Kafkas fiktionalen Welten, die Banalität des von Joyce literarisch gefassten Alltags, die durch Camus in Szene gesetzte Absurdität oder eben die erbarmungslosen Abenteuer der Helden Hemingways skizzierten eine von Gott verlassene Realität. Lampart konstatiert daher zu Recht: „Der Krieg ist für Holthusen nur ein Teil der abendländischen Gesamtkatastrophe.“²¹¹ An dieser ‚Bewusstseinslage der modernen Literatur‘ maß Holthusen auch christliche Autorinnen und Autoren. Als Vorbild fungierte der Autor von The Waste Land (1922): „Auch als entschiedener Christ bewahrt sich Eliot die grenzenlose Offenheit des Horizonts, so daß es ihm gelingt, den modernen Nihilismus auf eigenem Felde zu überwinden.“²¹² Holthusen teilte mit der ‚jungen Generation‘ also durchaus die Nihilismusdiagnose, bettete sie aber in eine umfassende, kulturkritische Sicht auf die Moderne ein und erkannte im Christentum die Möglichkeit, das Wertevakuum zu überwinden. Ähnlich wie für Sieburg und Blöcker kam der Literatur der ‚jungen Generation‘ für Holthusen keine zentrale Bedeutung zu. Unmittelbar nach dem Krieg erklärt er Gottfried Benn und Ernst Jünger zu den bedeutendsten lebenden deutschen Autoren: „[S]ie stimmen bei aller Verschiedenheit doch in einer Beziehung überein: in ihrer Neigung, am Rande des Nichts intellektuell und künstlerisch zu operieren.“²¹³ Aus dieser Perspektive findet Holthusen auch lobende Worte für eine Autorin der Gruppe 47. Ingeborg Bachmann, so heißt es in einem 1954 publizierten Überblicksartikel zur Lyrik seit 1945, sei es in Die gestundete Zeit (1953) „gelungen, eine exklusiv elegische Sprache auszubilden, die das Erlebnis ‚Zeit‘ vor einem
Ebd., S. 21. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945 – 1960. Berlin 2013, S. 41. Holthusen: Der unbehauste Mensch, S. 37. Ebd., S. 145 f.
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nicht mehr christlichen Horizont in angstvollen Manövern meditiert.“²¹⁴ Auch Holthusen lehnt die Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 also nicht dogmatisch ab, sondern misst sie an seinen Wertmaßstäben. In diesem Sinne warnt er vor der Orientierung an politischer Aktualität und der Überbetonung des Zeitgenössischen. Lobende Worte findet er hingegen für Rudolf Hagelstanges und Friedrich Georg Jüngers Lyrik ob ihres Einhaltens „einer strengen Distanz gegen das bloß Aktuelle und Sensationelle, gegen die vordergründigen Aufregungen der geschichtlichen Welt.“²¹⁵ Wolfang Borcherts Drama Draußen vor der Tür (1949), auf das sich die ‚junge Generation‘ oft programmatisch bezog, wird von Holthusen hingegen als ein gescheiterter Versuch charakterisiert, der „zu falschen und künstlichen Motivballungen und theatralischem Geschrei“ geführt habe und lediglich ein soziologisches Dokument von „symptomatischen Wert“ sei.²¹⁶ Borchert könne die generelle Krise der westlichen Moderne ästhetisch nicht adäquat fassen und sich daher auch nicht an der „leidenschaftlichen Diskussion über den Sinn und die Chancen der menschlichen Existenz in dieser Zeit“ beteiligen.²¹⁷ Diese Haltung wurde von Holthusen, der bis in die 1980er-Jahre als Kritiker aktiv war, nie aufgegeben. Jedoch zeichnete sich gegen Mitte der 1960er-Jahre ein weniger kritisches Verhältnis zur politisch engagierten Literatur ab.²¹⁸ Sieburg, Blöcker und Holthusen, die Wortführer der Literaturkritik der Nachkriegszeit, huldigten einem autonomieästhetischen Literaturkonzept. An diesem Wertmaßstab prüften sie die Literatur und Autorschaftsmodelle der ‚jungen Generation‘ und stuften sie überwiegend als unbefriedigend ein. Primär muss zwischen den drei Kritikern und der ‚jungen Generation‘ eine ästhetische Differenz und keine politische festgestellt werden. Politische Autorschaft musste sich gegen die drei Kritiker durchsetzen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang
Hans E. Holthusen: Zwischen Naturlyrik und Metaphysik. In: Joachim Moras (Hg.): Deutscher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945. Stuttgart 1954, S. 349 – 360, hier S. 359. Holthusen: Der unbehauste Mensch, S. 163. Ebd., S. 167. Ebd., S. 168. So bezeichnete Holthusen im Jahr 1968 Böll als einen „Glücksfall“ für die Bundesrepublik, habe er doch die menschliche Wirklichkeit der Ära Adenauer erfasst. Hans E. Holthusen: Wirklichkeit beim Wort genommen. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): In Sachen Böll. Ansichten und Einsichten. Köln 1968, S. 43 – 51, hier S. 45. Ähnlich positiv hatte sich Holthusen schon zwei Jahre zuvor über das Werk von Günter Grass geäußert und mit Bezug auf die Bewältigung der deutschen Vergangenheit erklärt, dass „eine ganze Generation von Schriftstellern es als ihre Pflicht betrachtet, moralische Genugtuung zu leisten und die Vergangenheit nach Kräften auszuräuchern, das ehrt sie“. Hans E. Holthusen: Günter Grass als politischer Autor. In: Der Monat 18 (1966), H. 216, S. 66 – 81, hier S. 68.
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auf die in den 1950er-Jahren wachsende Bedeutung der Literaturkritiker aus den Reihen der Gruppe 47 selbst. In dem Maße, wie Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki, Hans Schwab-Felisch, Walter Höllerer und Joachim Kaiser zu anerkannten Kritikern der Bundesrepublik wurden, steigerte sich das Renommee politischer Autorschaft im literarischen Feld. Zu Recht hebt Ingrid Gilcher-Holtey hervor, dass „die Integration der professionellen Literaturkritik in die Gruppe 47 geradezu als genialer Schachzug“ betrachtet werden kann.²¹⁹ So konnte Aufmerksamkeit und symbolisches Kapital für ein politisches Autorschaftsmodell erzeugt werden.
4.2 Verhältnis zur Inneren Emigration Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Literaturkritiker nicht einfach als Parteigänger der verschiedenen Kraftzentren des literarischen Felds verstanden werden können. Ihre relative Unabhängigkeit von den zeitgenössischen Dynamiken des Felds ergibt sich nicht zuletzt aus der Autorität der Tradition, die insbesondere in der Nachkriegszeit die Maßstäbe der literarischen Kritik stark prägte. Es kann daher auch nicht verwundern, dass der als großer Widersacher der Gruppe 47 in die Literaturgeschichte eingegangene Sieburg mit seiner Kritik nicht vor denen haltmachte, die ebenfalls als Gegner der Gruppe 47 gelten: den Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration. So wendet sich Sieburg in einer Besprechung von Ernst Wiecherts Missa sine nomine (1950), die schon in ihrem Titel Zuviel Gott die Grundthese vorwegnimmt, gegen die „Wiechert-Sekte“.²²⁰ Sieburg mokiert sich nicht nur in dieser Rezension darüber, das Wiecherts epische Welten mit Bedeutung überladen seien: „Alles ist Symbol, jeder Begriff steht für einen anderen, jedes Ereignis birgt einen weiteren Sinn.“²²¹ Ähnlich kritisch bewertet Sieburg das 1960 erschienene Buch Zorn, Zeit und Ewigkeit von Werner Bergengruen, den er als einen weiteren „machtvolle[n] Repräsentant[en] der deutschen Innerlichkeit“ charakterisiert.²²² Polemisch stellt er fest: „Nicht alles, was mit den Sinnen nicht zu greifen ist, darf als übersinnlich genommen werden.“²²³ Sieburgs Einsprüche gegen Wiechert und Bergengruen besitzen weit mehr als anekdotischen Charakter, drückt sich in ihnen doch seine grundsätzliche Kritik einer religiösen Inanspruchnahme von Dichtung aus. Systematisch entwickelt
Gilcher-Holtey: Eingreifendes Denken, S. 150. Friedrich Sieburg: Nur für Leser. Jahre und Bücher. Stuttgart 1955, S. 121. Ebd., S. 122. Friedrich Sieburg: Verloren ist kein Wort. Disputationen mit fortgeschrittenen Lesern. Stuttgart 1966, S. 208. Ebd., S. 209.
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Sieburg diese Kritik in seinem längeren Essay zu Rilke bzw. zum „Rilke-Kult“,²²⁴ der sein Buch Die Lust am Untergang (1954) beschließt: „Wo ein Dichter – und sei er der größte – die religiösen Bedürfnisse der Menschen befriedigt, da ist es mit der Glaubenskraft nicht weit her.“²²⁵ Sieburgs Einspruch gegen die religiöse Rhetorik Wiecherts und Bergengruens erfolgt nicht aus einer atheistischen Position, sondern stellt in Rechnung, dass die Literatur in einer säkularisierten Welt nicht die Aufgaben der Religion übernehmen kann: Die Ersetzung der Religion durch die Poesie hat nicht erst mit dem Rilke-Kult begonnen. Schon die Wiederentdeckung Hölderlins zog bald dies Mißverständnis nach sich. Die aus der antiken Hymnenwelt entlehnte Gleichsetzung von Dichter und Seher (vates) leitet die Vermischung zweier Verkündungsformen ein, die heute allgemein hingenommen wird. Die religiöse Erfahrung sollte sich indessen dagegen sträuben, in der göttlichen Offenbarung, die ja für den überzeugten Christen eine Realität ist, nichts anderes zu sehen als eine Form der dichterischen Inspiration, und umgekehrt.²²⁶
Sieburg unterscheidet hier wie auch an anderen Stellen zwischen literarischer Autorschaft und religiöser Verkündung. Ermögliche die religiöse Rhetorik dem Dichter oder der Dichterin auch, einen Standpunkt einzunehmen, so vermöge die Poesie dem Leser jedoch keine religiöse Offenbarung zu ersetzen. Der Kult um Rilke überhöhe den Dichter religiös, könne die Sinnfrage aber im Gegensatz zur wirklichen Religion nicht lösen. Sieburg betrachtet den Rilke-Kult der Nachkriegszeit nicht nur vom religiösen Standpunkt, sondern auch vom politischen. Sein Unbehagen erklärt er mit den Worten: Denn viele Symptome beweisen, daß die Menschen sich bei dem Dichter über die politische Misere unserer Zeit zu trösten versuchen und sich vorbehalten, bei kommenden Wahlen zu den ‚Duineser Elegien‘, anstatt zum Stimmzettel zu greifen. […] Bedenklich ist weniger das untätige Mißbehagen gegenüber Politik als die sich abzeichnende Zweiteilung in solche, die wählen, und solche, die Gedichte lesen. Hier wird Feindschaft gesetzt zwischen dem Geist und den öffentlichen Dingen.²²⁷
Sieburg kritisiert ein Literatur- und Autorschaftsverständnis, das die Literatur abseits des öffentlichen Raums positioniert. Dies betrifft auch die literarische Sprache, wie an Sieburgs Essay zu Heinrich Heine aus dem Jahr 1956 deutlich wird. In Deutschland, konstatiert Sieburg dort mit Bedauern, erscheine, anders als in Frankreich, „jede Annäherung der Dichtung an die angewandte Sprache ernied
Sieburg: Die Lust am Untergang, S. 354. Ebd. Ebd., S. 346. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 350.
4 Die westdeutsche Literaturkritik nach 1945
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rigend“, da „wir unheilvoll und barbarisch zwischen dem ‚seherischen Dichter‘ und dem ‚Zivilisationsliteraten‘ unterscheiden“.²²⁸ Auch in anderen Publikationen verbreitet Sieburg diese These. So betonte er in seinem frühen programmatischen Essay Der Schrei nach Literatur (1948) in Die Gegenwart, dass die Trennung zwischen Dichtung und Literatur selbst barbarisch und Ausdruck einer verhängnisvollen deutschen Koketterie mit dem Abgrund sei: „Bücher sollten zunächst einmal Gegenstände des geistigen Gebrauchs sein und keine Offenbarungsquellen. Eine gesittete Gesellschaft braucht das gedruckte Wort, um sich ihrer selbst und ihrer Zusammengehörigkeit bewußt zu werden.“²²⁹ Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird mehr als deutlich, dass Sieburg, auch wenn er der politischen Autorschaft seitens der ‚jungen Generation‘ kritisch gegenüber eingestellt war, dennoch kein Parteigänger der Inneren Emigration war. Sieburgs affirmativer Bezug auf die literarische Tradition erlaubte es ihm, sich unabhängig im zeitgenössischen literarischen Feld der Nachkriegszeit zu orientieren. Gleiches gilt für Hans Egon Holthusen, dessen Verhältnis zur Inneren Emigration hier auch deswegen thematisiert werden soll, weil es oftmals zu einseitig dargestellt worden ist. Sehr häufig wird die folgende Passage aus Die Überwindung des Nullpunkts (1951) zitiert: Wenn die ‚grand old men‘ der deutschen Gelehrtenrepublik wie Schröder und Curtius einander über die Köpfe des profanum vulgus der literarischen Tagesproduktion hinweg zublinzeln und kleine kritische Blumensträuße überreichen, dann fällt gleichsam die ganze mittlere und jüngere Generation der heutigen deutschen Literatur als unerheblich unter den Tisch.²³⁰
In der Forschungsliteratur ist diese Passage als Beleg für die konservative Haltung Holthusens präsentiert worden. Schonauer zitierte sie in diesem Sinne in seinem Aufsatz Literaturkritik und Restauration (1962) und viele Interpreten sind ihm gefolgt.²³¹ Nun ist diese Bewertung der Passage sicherlich nicht ganz falsch. Holthusen spricht sich auch an anderer Stelle, anders als die ‚junge Generation‘,
Friedrich Sieburg: Heinrich Heine. In: Sieburg: Zur Literatur. 1924– 1956. Hg. von Fritz J. Raddatz. (Bd. 1.) Stuttgart 1981, S. 459 – 479, hier S. 461. Friedrich Sieburg: Der Schrei nach Literatur. In: Die Gegenwart 3 (1948), H. 21, S. 15– 17, hier S. 16. Holthusen: Der unbehauste Mensch, S. 155. Vgl. Franz Schonauer: Literaturkritik und Restauration. In: Hans W. Richter (Hg.): Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962. Sechsunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. München 1962, S. 477– 493, hier S. 487 f.; Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen, Peter Handke, Horst-Eberhard Richter. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 66.) Tübingen 1998, S. 57; Chunchun Hu: Vom absoluten Gedicht zur Aporie der Moderne. Studien zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland der 50er Jahre. Würzburg 2004, S. 90.
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für die Bewahrung der Tradition aus.²³² Allerdings distanziert er sich in der oben wiedergegebenen Passage zugleich von Schröder und Curtius, die er im gleichen Zusammenhang als „konservative Kräfte“ bezeichnet.²³³ Zitiert man die Passage weiter,wird deutlich, dass sich Holthusen in ihr nicht einfach der in diesem Kapitel dargestellten Position der Inneren Emigration anschließt: Denn wo noch der strenge erzene Kontur eines Vergil-Verses als unbedingt maßgebend angesehen wird, da ist ein moderner Romanschreiber nicht diskutabel. Andererseits dürfen die Jüngeren für sich in Anspruch nehmen, daß sie sich in einer unvergleichlichen und unvertretbaren inneren Situation befinden, die mit humanistischer Gelehrsamkeit allein nicht zu bewältigen ist.²³⁴
Holthusen übernimmt den Vergil-Vers also keinesfalls als ästhetisches Richtmaß, sondern erkennt dem modernen Roman sein Recht zu, eigene Maßstäbe zu entwickeln. Als Beispiel nennt er in der gleichen Schrift den auch von der ‚jungen Generation‘ positiv beurteilten Roman Die Stadt hinterm Strom (1947) von Hermann Kasack, den er in der Tradition des von ihm hochgeschätzten Franz Kafka verortet. Somit erweist sich auch mit Bezug auf Hans Egon Holthusen, dass das Attribut ‚konservativ‘ die Wertmaßstäbe seiner Ästhetik nicht zu fassen vermag. Sieburg, Blöcker und Holthusen identifizierten sich mit autonomieästhetischen Positionen, ohne diese jedoch ästhetizistisch zu reduzieren. Die sittliche, existentielle oder auch christliche Signifikanz der Kunst²³⁵ resultiert ihnen zufolge aus dem Primat des Ästhetischen, das durch eine Orientierung an aktuellen Fragen missachtet werde. Autorschaft solle sich folglich weder an der Politik noch an der Religion orientieren. Kritisch angesprochen waren damit sowohl Autorinnen und Autoren der ‚jungen Generation‘ als auch der Inneren Emigration.
Vgl. Hans E. Holthusen: Ja und Nein. Neue kritische Versuche. München 1954, S. 8. Eine ähnliche Wertung nimmt er gegen Ende des Überblicksartikels aus dem Jahr 1954 vor. Dort konstatiert er die Überlegenheit der Lyriker, die schon vor 1945 publizierten, und hält mit Bezug auf F. G. Jünger, Carossa, Bergengruen, Gan, Schröder und von der Vring fest: „Sie sind die Bewahrer von zuverlässigen Traditionen und insofern die dauerhafte Folie, vor der das dichterische Experiment erst Profil gewinnen kann.“ Holthusen: Zwischen Naturlyrik und Metaphysik, S. 360. Holthusen: Der unbehauste Mensch, S. 154. Ebd., S. 155. Dieser Zusammenhang kann hier nicht adäquat dargestellt werden. Verwiesen sei aber auf signifikante Textstellen der drei Literaturkritiker: Sieburg: Nur für Leser, S. 22; Sieburg: Der Schrei nach Literatur; Blöcker: Die neuen Wirklichkeiten, S. 13 u. 358; Holthusen: Der unbehauste Mensch, S. 37.
5 Fazit: Literaturkritik und Autonomieästhetik
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5 Fazit: Literaturkritik und Autonomieästhetik Der Siegeszug des politischen Autorschaftsmodells in der Nachkriegszeit hat zur Dominanz einer politischen Forschungsperspektive auf das literarische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit geführt. Gezeichnet wird ein Bild, in dem sich politisch progressive sowie konservative Schriftstellerinnen und Schriftsteller mitsamt den entsprechenden Vertretern der Literaturkritik gegenüberstehen. Ein solches Verständnis basiert nicht zuletzt auf den Positionierungen politischer Akteure selbst. So bezieht sich Jost Hermand in seiner Beurteilung der „betont konservative[n] Kritiker“²³⁶ Sieburg und Holthusen affirmativ auf einen Beitrag von Franz Schonauer in Hans Werner Richters Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962.²³⁷ Schonauer, der der Gruppe 47 nahestand, geißelt dort die „konservativ-reaktionäre[]“ Seite der Literaturkritik, namentlich die Kritiker Curtius, Rychner, Sieburg, Süskind, Holthusen und Blöcker.²³⁸ Seine politische Verurteilung der Literaturkritik rechtfertigt er durch den Verweis auf Sieburgs Wertschätzung von Gottfried Benn: „Das Lob des Ästhetischen fungiert hier nur als Tarnung für eine politische Ideologie; es ist die Hintertür, durch die eine reaktionäre politische Gesinnung sich einschleicht.“²³⁹ Ob die von Schonauer genannten Kritiker nun tatsächlich eine „restaurative politische Absicht“²⁴⁰ hatten, kann dahingestellt bleiben, wichtiger ist es zu erkennen, dass die Wertmaßstäbe, die diese Kritiker im literarischen Feld offen vertraten, auf autonomieästhetischen Prämissen basierten. Sieburg, Blöcker und Holthusen kritisierten den Gegenwartsbezug des politischen Autorschaftsmodells, in dem sie eine Instrumentalisierung der Literatur erblickten, die der Ästhetik abträglich sei. Richtiger charakterisiert werden können Sieburg, Blöcker und Holthusen deswegen durch ihren affirmativen Bezug auf die autonomieästhetische Tradition, gegen den sich Schonauer freilich auch wandte. Elitär und snobistisch sei es, sich auf die klassische Moderne zu berufen, die von der bildungsfernen Bevölkerung gar nicht mehr verstanden werde.²⁴¹ Diese kritische Haltung gegenüber einer allein am Ästhetischen orientierten Kunst entspricht dem Autorschaftsmodell der ‚jungen Generation‘, das in diesem Kapitel dargestellt worden ist. Gegen ein akademisches oder ästhetisches Traditionsbewusstsein und universitäre Bildung setzte dieses das ‚Bildungserlebnis Krieg‘. Waren die drei Literaturkritiker darauf bedacht, die Grenzen des literarischen Felds zu wahren und Orientierung in dessen historischen Tiefen zu finden, so er-
Hermand: Kultur im Wiederaufbau, S. 438. Vgl. ebd., S. 560. Vgl. Schonauer: Literaturkritik und Restauration, S. 485. Ebd., S. 486. Ebd. Vgl. ebd., S. 487.
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kannte das politische Autorschaftsmodell die Grenzen des literarischen Felds nicht an und bestimmte die Literatur im zeithistorischen Kontext. Das Wirken der drei prominenten Literaturkritiker ist in diesem Kapitel auch deswegen gesondert vorgestellt worden, weil diese zwar die Ablehnung der ‚jungen Generation‘ mit vielen Vertreterinnen und Vertretern der Inneren Emigration teilten, sie sich aber gleichfalls (insbesondere in der Person Sieburgs) auch von letzteren distanzierten. Das literarische Feld der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand aus verschiedenen Lagern, nicht allein aus der Gruppe 47 und ihren Widersachern. Die Kämpfe zur Durchsetzung eines politischen Autorschaftsmodells gegen die Autorinnen und Autoren der Inneren Emigration sind in diesem Kapitel exemplarisch anhand der Nihilismusdebatte dargestellt worden. Gezeigt werden konnte, dass nach dem Krieg mitnichten eine Gruppe politischer und daher areligiöser Akteure einer Gruppe religiöser und daher apolitischer Akteure gegenüberstand. Auch Autorinnen und Autoren, die ein dezidiert politisches Autorschaftsmodell verfolgten, knüpften vielmehr an religiöse Konzepte an, geschah dies auch im Modus der Negation. Eine religions- und traditionskritische Rhetorik half politisch engagierten Autorinnen und Autoren, sich als ‚junge Generation‘ in Szene zu setzen. Die genealogische Dimension des Generationsbegriffs bestimmte auch das Verhältnis zur Religion: Die Realität religiöser Normen und Glaubenssätze müsse sich am Zustand der Gegenwart erweisen. Die Generationserfahrung selbst wurde damit zum Fundament politischer Autorschaft erklärt. Geschrieben wurde im Auftrag der ‚jungen Generation‘.
III Schreiben, um zu mahnen: Heinrich Böll und Paul Schallück als ‚Gewissen der Nation‘ (1953 – 1963) Der Titel ‚Gewissen der Nation‘ verbindet sich mit Heinrich Böll wie mit keinem anderen Schriftsteller der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, auch wenn weniger prominente Akteure des literarischen Felds wie Paul Schallück ihre Autorschaft durchaus ähnlich inszenierten. Genutzt wurde er im Kampf um symbolisches Kapital sowohl in kritischer als auch in affirmativer Absicht. Sprach der damalige Vizepräsident des Internationalen PEN-Zentrums Robert Neumann wohlwollend vom Engagement Bölls, das auf dem „innersten Selbstverständnis als Mahner und Gewissen in Opposition zu dem sogenannten herrschenden Establishment“ beruhe,¹ so verstand Helmuth Schelsky eben diese Aussage als einen Beleg für das Bedürfnis nach einer „neue[n] ‚säkularisierte[n]‘ Religiosität“,² die einer ‚Priesterherrschaft‘ der Intellektuellen den Boden bereite. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sollten sich ihm zufolge nicht als „Heils- und Sinnvermittler“ missverstehen.³ Schelsky reagierte mit seiner vehementen Kritik im Jahr 1975 nicht nur auf den schriftstellerischen Erfolg Heinrich Bölls und anderer politischer Autorinnen und Autoren, sondern auch auf deren Einfluss auf das politische Feld der Nachkriegszeit. Als Ahnherr dieser Tradition kann Émile Zola gelten. Seine öffentliche Anklage in der Dreyfus-Affäre begründete eine Tradition intellektuellen Engagements, die für Böll und andere eine große Anziehungskraft besaß. Im Klappentext des von Martin Walser 1961 herausgegebenen Bandes Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? findet sich beispielsweise die folgende Selbstbeschreibung: „Die Schriftsteller, die hier ihre Stimme erheben – warnend, mahnend und sehr skeptisch – sehen sich in der Tradition Frankreichs, das von Voltaire über Zola bis Jean-Paul Sartre immer seine Männer der Feder auch als Gewissen der Nation wertete.“⁴ Walser identifiziert gewissenhaftes Handeln mit der politischen Aktion und legitimiert somit die Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Im Folgenden stehen jedoch nicht politische Aktivitäten im Mittelpunkt, sondern soll untersucht werden, inwiefern die Bezeichnung von Autorinnen und Autoren als ‚Gewissen der Nation‘ aus der Inszenierung von Autorschaft resul-
Zitiert nach: Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 345. Ebd., S. 15. Ebd. Martin Walser (Hg.): Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? Reinbek bei Hamburg 1961. DOI 10.1515/9783110528077-004
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tierte, wie sie in Texten betrieben wurde.⁵ Neben Reden und Essays von Böll und Schallück, in denen die Rolle des Schriftstellers bestimmt wird, sollen dafür hauptsächlich die literarischen Werke der Autoren analysiert werden. Marcel Reich-Ranicki behauptete schon 1963: „Bölls Auffassungen vom Sinn des Schreibens, vom Zweck der schriftstellerischen Betätigung gehen unmißverständlich aus allen seinen Büchern hervor.“⁶ Daraus resultiere, so der den künstlerischen Wert der Böll’schen Prosa eher gering schätzende Literaturkritiker, dass in Debatten um Böll fast immer auch um die Möglichkeiten der Gegenwartsliteratur gestritten würde. Böll steht insofern für ein Autorschaftsmodell ein, das grundsätzlich von anderen adaptierbar war und das Böll nicht zuletzt selbst adaptiert hatte. Als ‚Gewissen der Nation‘ wurden und werden bekanntlich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit bezeichnet. Der Titel weckt u. a. die Erinnerung an Thomas Mann, der aufgrund seiner essayistischen Interventionen und Radioansprachen vor und während des Nationalsozialismus oftmals so benannt worden ist.⁷ Im Diskurs der Nachkriegszeit findet sich dieser Bezug an prominenter Stelle im ersten Heft der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Texte und Zeichen. Andersch selbst präsentierte Thomas Mann, den er als Verbündeten im Kampf gegen die westdeutsche Restauration begriff, als einen Autor, der die „feine Grenzlinie, die das Gewissen nicht überschreiten“ dürfe,⁸ stets vor Augen gehabt habe. „Aus dem Gewissen“ stamme seine Kultur- und Gesellschaftskritik.⁹ Angeführt wurde in diesem Diskurs auch Heinrich Manns Diktum aus Was ist eigentlich ein Schriftsteller? So berief sich Erich Franzen gegen die Anpassungstendenzen unter Intellektuellen auf das Diktum Heinrich Manns: „Der Schriftsteller hat, ohne daß er handelte, Gewissen für die Handelnden.“¹⁰ Bölls Inszenierung des literarischen
Keith Bullivant gibt einen Überblick über das Engagement von Autorinnen und Autoren im politischen Feld der BRD. Vgl. Keith Bullivant: Gewissen der Nation? Schriftsteller und Politik in der Bundesrepublik. In: Ferdinand von Ingen, Gerd Labroisse (Hgg.): Literaturszene Bundesrepublik. Ein Blick von draußen. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 25.) Amsterdam 1988, S. 59 – 78. Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. Prosa seit 1945. München 1963, S. 122. Vgl. Frank D.Wagner: Appell an die Vernunft. Thomas Manns „Deutsche Ansprache“ und Arnolt Bronnens nationale Attacke im Krisenjahr 1930. In: Thomas Mann Jahrbuch 13 (2000), S. 43 – 56, hier S. 46. Alfred Andersch: Mit den Augen des Westens. Thomas Mann als Politiker. In: Texte und Zeichen 1 (1955), H. 1, S. 85 – 100, hier S. 99. Ebd. Heinrich Mann: Was ist eigentlich ein Schriftsteller? In: Mann: Sieben Jahre. Chronik der Gedanken und Vorgänge. Hg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 1994, S. 253 – 257, hier S. 257. Franzens Beitrag erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. November 1960. Wieder
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Autors als ‚Gewissen der Nation‘ steht insofern in einer längeren Tradition, an die sich auch Paul Schallück, der ebenfalls im Folgenden behandelt wird, gebunden fühlte. Insbesondere Schallücks 1959 publizierter und überaus erfolgreicher Roman Engelbert Reineke wird als ein weiteres Beispiel für ein Autorschaftsmodell herangezogen werden, das sich zwischen Religion und Politik bewegt. Sowohl in der antiken philosophischen Tradition als auch im Christentum wird das Gewissen als eine „versittlichende Stimme“ verstanden, die zur „Selbstbeurteilung“ drängt.¹¹ Für diese Beurteilung ist Wissen nötig, wie es die Etymologie des Begriffs nahelegt: Conscientia geht auf „das griechische Wort syneidesis zurück, beides bedeutet sinnvollerweise das ‚Mitwissen‘, das ‚Mitbewußtsein‘“.¹² Das Gewissen beobachtet und gibt sein Wissen kund, um zu mahnen. Dass der Begriff für professionelle Beobachter, wie es Autorinnen und Autoren sind, von Interesse ist, um ihre eigene Praxis zu beschreiben, kann nicht verwundern. Die Metapher ‚Gewissen der Nation‘, wie sie in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit genutzt wurde, bezieht sich auf eine schriftstellerische Praxis, die an die Schuld vieler Deutscher an Krieg und Holocaust erinnerte und damit Wissen um Vergangenheit und Gegenwart generierte. Der Begriff ‚Nation‘ in der Bezeichnung des Autorschaftsmodells lässt sich aus diesem spezifischen Erinnerungsdiskurs erklären. Er bezieht sich aber nicht nur auf eine national operierende Erinnerungspraxis, sondern zudem auf eine imaginäre Gemeinschaft,¹³ in der Autorinnen und Autoren eine herausgehobene Funktion innehaben: Schreiben, um zu mahnen. Die Rolle der Gemeinschaft für die Inszenierung politischer Autorschaft, so wird im Folgenden gezeigt, ist keinesfalls ein ausschließliches Rezeptionsphänomen. Vielmehr imaginieren die literarischen Texte selbst die Gemeinschaft, in der Autorschaft als Stimme des kollektiven Gewissens in Szene gesetzt wird. Autorinnen und Autoren wird eine privilegierte Rolle zugesprochen, insofern sich ihre Äußerung aus der Stimmenvielfalt gesellschaftlicher Kommunikation heraushebt. Reklamiert wird ein besonderes Wissen, das, so die Texte, ansonsten gesellschaftlich ignoriert und verdrängt werde. Nähert man sich aus der Perspektive des literarischen Felds dem Phänomen, so zeigt sich, dass die Grenzen desselben durch diese Autorschaftssemantik überschritten werden. Böll und Schallück, die hier exemplarisch für den Autor als ‚Gewissen der Nation‘
abgedruckt in: Erich Franzen: Die angepaßten Rebellen. In: Franzen: Aufklärungen. Frankfurt am Main 1964, S. 67– 75, hier S. 75. Hans Lenk: Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen. Stuttgart und Berlin 1997, S. 14. Ebd. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised ed. London 2006.
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untersucht werden, berufen sich nicht nur auf eine ästhetische Kompetenz, sondern profilieren ihre Autorschaft als Dienst an der Gesellschaft. Der Gewissensbegriff in der Metapher ‚Gewissen der Nation‘ reklamiert mehr für sich, als ein Instrument zur individuellen Lebenssteuerung zu sein. Er bezieht sich nicht auf ein Instrument zur „Selbstidentifikation der Persönlichkeit“,¹⁴ wie Luhmann die Funktion des Gewissens in der ausdifferenzierten Gesellschaft fasst, sondern transformiert ein individuelles Konzept in ein kollektives. Fungiert das Gewissen der Semantik des Individuellen zufolge immer schon in sozial ausdifferenzierten Kontexten, so geben sich Böll und Schallück dem hin, was Luhmann „gern gepflegte Illusionen“¹⁵ nennt: der Idee einer „personalen Kontrolle sozialer Systeme.“¹⁶ Allein die beißende Kritik an der Wirtschaftswundermentalität der 1950erJahre in den Werken beider Schriftsteller demonstriert, dass das Gewissen als ein Korrektiv für gesellschaftliche Felder verstanden wird, die ausschließlich ihrer eigenen Logik folgen. Luhmanns im Folgenden zitierte Apologie der sozialen Differenzierung wäre von Böll und Schallück sicherlich abgelehnt worden: „Die Verkäuferin kann nicht und wird nicht unter Berufung auf ihr Gewissen der armen Frau aus der Nachbarschaft das Brot zum halben Preis verkaufen.“¹⁷ Anders als Luhmanns Soziologie entwirft die Literatur nicht nur ein Bild der aktuellen Gesellschaft, sondern imaginiert auch eine Gemeinschaft, die der Stimme des Autors folgen und gewissenhaft handeln kann. Hier zeigt sich die politische Dimension des Autorschaftsmodells beider Schriftsteller. Wie Böll und Schallück die Normativität des Gewissens in ihren Werken begründen, wird im Folgenden von besonderer Bedeutung sein. Vorweggenommen werden kann, dass für beide Schriftsteller die Religion ein normatives Fundament bereitstellt. Allerdings gelten religiöse Normen und Narrative nicht unhinterfragt. Auch sie müssen sich beweisen. Böll und Schallück knüpfen insofern an die Autorschaftsinszenierung der ‚jungen Generation‘ an, die im zweiten Kapitel dargestellt worden ist. Sie setzen kein religiös fundiertes Weltbild voraus, sind in diesem Sinne auch keine religiösen Schriftsteller, sondern müssen die Religion als funktional zur sozialen Verhaltenssteuerung ausweisen. Die Bezeichnung ‚Gewissen der Nation‘ zeigt sowohl eine Affinität als auch eine Distanz zur Religion an, die sich aus der Rolle religiöser Normen in einer säkularen Umgebung erklären. Sie benennt die moralische Kommunikation als eigentlichen Ort dieser Autorschaftsinszenierung.
Niklas Luhmann: Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit. In: Franz Böckle, Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hgg.): Naturrecht in der Kritik. Mainz 1973, S. 223 – 243, hier S. 224. Ebd., S. 233. Ebd. Ebd.
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Politische Fragen stellen sich für Böll und Schallück daher aus einer spezifischen Perspektive, die, wie zu zeigen sein wird, zu einem nicht immer spannungsfreien Verhältnis zwischen Religion und Politik führt. Wie wurde die Funktion der Religion für Bölls und Schallücks Prosa in der Forschung bisher verstanden? Paul Schallück, so wiederholen es die Klappentexte und die wenigen Forschungsbeiträge zu seinem Werk, wollte eigentlich Missionar werden.¹⁸ In einem Nachwort zur Neuauflage seines dritten Romans erinnert Wilhelm Unger an diesen Umstand und bezieht ihn auf die Bedeutung des Gewissens in Schallücks Prosa, indem er den Autor als einen „Missionar des Gewissens“ bezeichnet.¹⁹ Religion und Politik scheinen also bei Schallück zusammengehörig. Forschungsanstrengungen, um diesen Zusammenhang aufzuhellen, wurden bisher allerdings nicht unternommen. Während Paul Schallück trotz seiner Popularität in den 1950er-Jahren ein heute auch in der Literaturwissenschaft nahezu vergessener Autor ist, liegen zu Bölls Werk zahlreiche Abhandlungen vor. Bölls Religiosität wird dabei oftmals zugunsten seines politischen Selbstverständnisses ausgegrenzt. Peter Demetz: „Man hat längst erkannt, daß Böll kein katholischer Schriftsteller im orthodoxen Sinn ist; seine Charaktere bewegen sich zwar in einer katholischen Welt, aber das Metaphysische und Transzendente ist ihre Sache nicht.“²⁰ Rainer Nägele, der die Forschungspositionen zu Bölls Katholizismus im Jahr 1976 zusammenfasst, erklärt im gleichen Sinne: „Es besteht ein allgemeiner und gerechtfertigter Konsensus, daß es bei Böll nicht so sehr um die Theologie des Katholizismus geht als um seine soziale Funktion.“²¹ In gleicher Absicht betont auch Heinz Hengst einige Jahre später, dass Böll die „säkularen Konsequenzen wieder zum Hauptkriterium für die Qualität des Glaubens macht“.²² Liegen Demetz, Nägele und Hengst auch mit vielen Beobachtungen richtig, so folgt ihre generelle Einschätzung doch einem Säkularisierungsbegriff, der ein adäquates Verständnis des Verhältnisses von Religion und
So auch der Klappentext seines erfolgreichsten Romans. Vgl. Paul Schallück: Engelbert Reineke. Frankfurt am Main 1959. So Unger im Nachwort zur Neuauflage von Schallücks drittem Roman. Paul Schallück: Die unsichtbare Pforte. Mit einem Nachwort von Wilhelm Unger. Frankfurt am Main 1977, S. 255. Peter Demetz: Die süße Anarchie. Deutsche Literatur seit 1945. Eine kritische Einführung. Berlin 1970, S. 231. Nägele: Heinrich Böll, S. 116. Heinz Hengst: Die Frage nach der „Diagonale zwischen Gesetz und Barmherzigkeit“. Zur Rolle des Katholizismus im Erzählwerk Bölls. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Heinrich Böll. (Text + Kritik 33.) 3. Aufl. München 1982, S. 99 – 113, hier S. 102.
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Politik in Bölls Werk verstellt.²³ Die Literaturwissenschaft hat zwischen religiösen und politischen Aspekten der Böll’schen Prosa bisher fast immer kategorisch unterschieden, anstatt ihr Zusammenspiel zu untersuchen. Sicherlich ist Demetz insofern zuzustimmen, als dass „Böll sich mehr um die irdischen Konsequenzen als um die transzendentalen Prämissen der Religion sorgt“.²⁴ Böll lag die soziale Dimension der Religion in einer säkularen Gesellschaft am Herzen. Das Soziale ist aber nicht das Andere der Religion. Die Bedeutung der Religion für Bölls Werk erkennt man erst, wenn man die Perspektive umkehrt: Böll kritisiert die sozialen Zustände einer säkularen Gesellschaft, die meint, Religion als Privatangelegenheit behandeln zu können. Nur wenn man die soziale Dimension des Christentums im Auge behält, erklären sich die vielen Jesusgestalten in Bölls Prosa. Letztere isoliert die Glaubenserfahrung nicht von der Gesellschaft, sondern akzentuiert die soziale Wirklichkeit der Religion. Der ostdeutsche Germanist und Kirchenhistoriker Günter Wirth, der die erste systematische Monographie zur Bedeutung der Theologie in Bölls Werk in den 60er-Jahren vorlegte, hat dies deutlich zum Ausdruck gebracht, als er darauf hinwies, dass die Mitmenschlichkeit unauflöslich zur christlichen Botschaft gehöre. Wirth zufolge wird diese „nicht mehr nur von der ‚Horizontalen‘ eines säkularen Humanismus, sondern […] unmittelbar von der ‚Vertikalen‘ zwingender göttlicher Forderungen, wie sie in den Seligpreisungen der Bergpredigt zusammengefasst sind, mitbestimmt.“²⁵ Auch wenn Wirths Analysen in großen Teilen durch die Dogmatik der DDR-Geisteswissenschaft verzerrt sind, so liefern sie doch wertvolle Hinweise. Die christliche Gemeinschaft, die immer einen Bezug auf das Transzendente aufweist, stellt eine politische Orientierung in Bölls Werk bereit. Auch Bölls Kirchenkritik ist diesem Umstand geschuldet, setzt sie der durch die Kirche organisierten christlichen Gemeinde doch eine Gemeinschaftsvorstellung entgegen, die sich auf die Bibel beruft. Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der Religion steht also gerade im Mittelpunkt von Bölls Prosa.Viele Einzeluntersuchungen akzentuieren deshalb völlig zu Recht den Geist der Bergpredigt, der durch Bölls Werke wehe, und machen so auf die theologische Bedeutung desselben aufmerksam.²⁶ Böll zu unterstellen, allein an der sozialen Funktion des Katholizismus interessiert zu sein, verkennt, dass der seinen Romanen zugrundliegende Begriff des Sozialen selbst theologisch inspiriert ist. Es
Ich habe auf diesen Zusammenhang schon in der Einleitung hingewiesen. Vgl. S. 7. Der Säkularisierungsbegriff wird prägnant dargelegt in: Casanova: Public Religions in the Modern World, S. 211. Demetz: Die süße Anarchie, S. 232. Günter Wirth: Heinrich Böll. Essayistische Studie über religiöse und gesellschaftliche Motive im Prosawerk des Dichters. Berlin 1967, S. 228. Vgl. ebd., S. 209 – 232.
1 Autorschaft in Bölls Romanen zwischen 1951 und 1963
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sind die Auswüchse einer säkularen Gesellschaft, die durch eine unsoziale Politik, dominante Wirtschaft und eine korrupte Kirche geprägt ist, gegen die Böll sein Idealbild einer christlichen Gemeinschaft entwirft, in der dem Autor eine besondere Funktion zukommt. Im Folgenden soll daher auch aufgezeigt werden, welche Spannungen sich zwischen Religion und Politik in Bölls Werk entfalten. Die folgenden drei Unterkapitel sind Bölls Werk gewidmet, das dann in einem vierten Schritt mit der Inszenierung von Autorschaft durch Schallück verglichen wird.Verfolgt werden soll Bölls schriftstellerischer Weg von der Publikation seines ersten Romans Wo warst du, Adam? im Jahr 1951 bis zum Erscheinen von Ansichten eines Clowns im Jahr 1963. Welches Autorschaftsmodell inszeniert Böll in Essays, Reden und in Prosa und welches Verhältnis von Religion und Politik charakterisiert seine Texte? Erstens untersuche ich, wie Böll in den Romanen seiner frühen Schaffensperiode die eigene Position als Autor in Szene setzt. Zweitens analysiere ich den Zusammenhang zwischen religiösen und politischen Aspekten in Bölls Werk auf der Basis seiner essayistischen Schriften und Reden der 1950er-Jahre und thematisiere insbesondere das dort inszenierte Autorschaftsmodell. Drittens widme ich mich der zeitgenössischen Rezeption, die bislang noch nicht systematisch untersucht worden ist. Dabei stelle ich einerseits dar, aus welchen Gründen Bölls Romane sowie sein Irisches Tagebuch gelobt oder getadelt wurden, und zeichne ich andererseits nach, wie die verschiedenen zeitgenössischen Rezensionen die religiöse Dimension seiner Werke zu ihrer politischen Wirkung ins Verhältnis setzten. Das abschließende Unterkapitel zu Paul Schallücks Werk in den 1950er-Jahren verfährt ebenfalls in diesen drei Schritten, konzentriert sich aber insbesondere auf den Unterschied zwischen Schallücks ersten drei Romanen, durch die der junge Schriftsteller nur Achtungserfolge erzielen konnte, und seinem Erfolgsroman Engelbert Reineke (1959), in dem Autorschaft ebenfalls zur Gewissensinstanz der Nation erklärt wird.
1 Autorschaft in Bölls Romanen zwischen 1951 und 1963 Bölls Romane und Erzählungen inszenieren selbstverständlich nicht alle gleichermaßen Autorschaft. So finden sich im 1951 veröffentlichten Roman Wo warst du, Adam? keine Figuren oder Metaphern, die sich auf die Position des Autors beziehen.²⁷ Böll wendet sich in seinem ersten Roman dem gerade vergangenen
Jedoch reflektiert Böll sehr wohl die Form seines Romans. Von den zwei dem Roman vorangestellten Zitaten bezieht sich das zweite auf das Genre der Kriegserzählung. Indem Böll Antoine de Saint-Exupéry zitiert, deutet er an, dass sich der Zweite Weltkrieg nicht in Form eines Aben-
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Krieg zu und stellt einen Bezug zur Gegenwart nicht explizit her.²⁸ Allerdings besitzen sowohl sein erster Roman als auch seine zuvor veröffentlichte Erzählung Der Zug war pünktlich (1949) eine theologische Dimension und zeigen sich in beiden Schriften Ansätze zu einer Kirchenkritik, die sich nicht nur auf Priester, Bischöfe und Kardinäle bezieht, sondern das katholische Milieu umfasst. Dabei bedingen sich Theologie und Kirchenkritik: Böll kritisiert Laien und Institution aus einer theologischen Perspektive. Seine Antwort auf eine Interviewfrage aus dem Jahr 1970, was Kirche ihm zufolge sein sollte, exemplifiziert dieses Vorgehen: „Die einzige Definition des Wortes Kirche, die mir jetzt einfällt, […] ist die: ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter euch‘“.²⁹ Mit den Worten Christi aus Mt 18,20 stellt Böll einen Kontrast zur Gegenwart der Kirche her und kritisiert die Verrechtlichung des ursprünglichen biblischen Gedankens. Der Bezug auf die Bibel fungiert als klassisches Autoritätsargument. Diese Form der Kirchenkritik spielt in Bölls Romanen eine zentrale Rolle. Gemeinsam ist den vier im Folgenden analysierten Romanen weiterhin, dass Künstlerfiguren dazu genutzt werden, Autorschaft in Szene zu setzen. Anhand ihrer werden sowohl Aufgaben als auch Probleme politischer Autorschaft erörtert. Bölls Prosa nimmt somit Teil an den „Kämpfen […], die über die Durchsetzung der gültigen Definition des Schriftstellers“ entscheiden.³⁰
1.1 Und sagte kein einziges Wort: Autorschaft im Namen der sozial und religiös Marginalisierten In Bölls 1953 publiziertem Roman Und sagte kein einziges Wort verweist schon der Titel auf Fragen von Kunst und Autorschaft, handelt es sich doch um die Übersetzung einer Zeile aus einem afroamerikanischen Spiritual. Der Titel der Anthologie, in der Böll die Zeile fand, bezeugt zudem die soziale Dimension des
teuerromans erfassen lasse. Vgl. Heinrich Böll: Wo warst du, Adam? In: Böll: Werke. 1951. Hg. von Robert C. Conard. (Kölner Ausgabe. Bd. 5.) Köln 2004, S. 180 – 329, hier S. 180. Die Rolle der Kunst im Nationalsozialismus wird allerdings reflektiert. Mit dem Porträt des KZKommandanten und Musikliebhabers Filskeit, der im KZ einen Lagerchor leitet, kommentiert Böll den Umstand, dass Kunstgenuss und Rassenhass sich gegenseitig nicht ausschlossen. Vgl. ebd., S. 270 – 287. So Böll in einem Interview mit Helmar Harald Fischer aus dem Jahr 1970. Zitiert nach: Viktor Böll, Renate Matthaei (Hgg.): Querschnitte. Aus Interviews, Aufsätzen und Reden von Heinrich Böll. Köln 1977, S. 193. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 355.
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religiösen Liedes: Auch ich bin Amerika (1948).³¹ Die soziale Randstellung der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA findet eine Entsprechung im sozialen Ort von Bölls Protagonistin. Für deren soziale Marginalisierung, die sie schweigend erträgt, macht der Roman eine katholische Mentalität verantwortlich, die sich im kleinbürgerlichen Idyll eingerichtet hat, die Augen vor sozialer Not verschließt und sich mit dem Leiden Christi nicht mehr zu identifizieren vermag. Durch den affirmativen Bezug auf den zugleich christlichen und sozialen Widerstand der afroamerikanischen Gemeinschaft nobilitiert der Titel des Romans die soziale und spirituelle Marginalisierung seiner Protagonistin. Deren Identifikation mit dem „sanften und heiseren Schrei des Niggers“³² kontrastiert den katholischen Wohlklang. Der afroamerikanische Gesang grundiert die existentiell intonierte Anklage Kätes, die zusammen mit ihrem Mann Fred den Roman homodiegetisch erzählt. Die Bedeutung des Romantitels wird im vierten Kapitel zusätzlich herausgestellt, als Käte im Inneren Monolog anmerkt, dass das aus dem Radio tönende Lied „als einziges mein Herz berührt“ (KeW 367). Im Anschluss an diese Aussage werden einzelne Passagen des Lieds auf Englisch und Deutsch abgedruckt – unter ihnen zweimal die Zeile „and he never said a mumbaling word“.³³ Kätes Identifikation mit dem Lied mündet zudem in einem kirchenkritischen Vergleich: „Immer noch höre ich den sanften und so heiseren Schrei des Niggers, höre ihn durch zwei wässrige Predigten hindurch“ (KeW 368). Das Spiritual, das von der Kreuzigung Christi berichtet, stellt so einen Kontrast her zwischen einem authentischen Christentum und dem wohlhabenden katholischen Milieu sowie dem Klerus im Deutschland der Nachkriegszeit. Diese Kirchenkritik hatte das Potential zum Skandal, denn Böll zeichnet u. a. ein überaus satirisches Bild eines Bischofs und Danteliebhabers, der – sehr bedacht auf seine Popularität und fotogenes Äußeres – die Fronleichnamsprozession im Stechschritt anführt. Viele Leserinnen und Leser konnten in dieser Romanfigur den Kölner Kardinal Joseph Frings erkennen.³⁴ Die zentralen Negativgestalten des Romans sind jedoch Käte Bogners Nachbarin und Vermieterin Frau Franke und die bei ihr verkeh Vgl. Stephan Hermlin (Hg.): Auch ich bin Amerika. Dichtungen amerikanischer Neger. Berlin 1948; Heinrich Böll: Werke. 1952– 1953. Hg. von Árpád Bernáth. (Kölner Ausgabe. Bd. 6.) Köln 2007, S. 830. Heinrich Böll: Und sagte kein einziges Wort. In: Böll: Werke. 1952– 1953. Hg. von Árpád Bernáth. (Kölner Ausgabe. Bd. 6.) Köln 2007, S. 333 – 472, hier S. 368. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle KeW zitiert. Vgl. KeW, S. 367. Vgl. Hans Küng: Ein heimatloser Katholik? Heinrich Böll und die Sehnsucht nach Humanität. In: Walter Jens, Hans Küng (Hgg.): Anwälte der Humanität. Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Böll. München 1989, S. 241– 317, hier S. 259. Die Szene wird im fünften Kapitel des Romans geschildert. Vgl. KeW, S. 373.
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renden kirchlichen Würdenträger. Frau Franke zeichnet sich nicht nur durch das fehlende Mitgefühl den Kindern der Bogners gegenüber aus, denen sie verbietet, während der in ihrer Wohnung abgehaltenen kirchlich-caritativen Versammlungen im Hausflur zu spielen, sondern ist als Vorsitzende der kirchlichen Wohnungskommission auch mitverantwortlich dafür, dass den Bogners aufgrund von Freds Alkoholproblem keine größere Wohnung zugesprochen wurde. Frau Franke und auch der Pfarrer werden von Böll als gut situierte und die Armut der Bogners ignorierende Katholiken beschrieben, deren Doppelmoral Käte sogar vom Besuch der Kirche abhält. Die äußerliche Bekundung ihrer Christlichkeit wird durch die fehlenden christlichen Tugenden im Alltag konterkariert. Böll macht hier, wie auch in den folgenden Romanen, das soziale Verhalten im Alltag zum Kriterium des echten Glaubens. Er trägt durch Käte und Fred aber nicht nur eine Kirchenund Milieukritik ausführlich vor, sondern entwirft in Käte zudem eine homodiegetische Erzählerfigur, die über die Folgen der sozialen und religiösen Ausgrenzung reflektiert. Bölls Roman schildert Kätes Versuche, dem kirchenkritischen Ressentiment nicht zu verfallen – gemäß dem christlichen Gebot, nicht zu richten.³⁵ Auch hier ist der Titel des Romans von entscheidender Bedeutung, bezieht er sich doch auf das Schweigen Christi angesichts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und des ihm zugefügten Leids. Kein Wort zu sagen und dem leidenden Christus so nachzueifern, setzt Käte sich zum Ziel. Die religiöse Dimension dieses Bestrebens wird in einer Beichtszene offensichtlich, in der Käte einem „Dreiminuspriester“ (KeW 357), der ähnlich wie sie in seinem Milieu marginalisiert ist, ihren Hass auf Klerus und Milieu gesteht. Als Antwort auf ihre Beichte zitiert dieser ein Jesuswort aus Joh 19,33, das wie schon der Titel irdisches Leid relativiert: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (KeW 398)³⁶ Gegen Ende des Romans wird dann, wiederum mit Bezug auf das afroamerikanische Lied, von Kätes Erfolg berichtet, die in einem Dialog mit Frau Franke ihren Hass überwindet.³⁷ Dass der Roman im Inneren Monolog erzählt wird, reflektiert die soziale und spirituelle Isolation der beiden Protagonisten. Diese finden keinen Gesprächspartner, dem sie ihr existentielles Leid klagen und mit dem sie eine christliche Gemeinschaft bilden könnten. Eine Ausnahme stellt der schon erwähnte Priester dar, der selbst sozial und institutionell marginalisiert ist. Ein weiterer Erzählstrang des Romans spiegelt diesen Vertrauensverlust in die offizielle christliche Gemeinschaft und wendet ihn zeitkritisch. Der Roman berichtet von einer Fachmesse
Vgl. Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Ökumenische Theologie 1.) 2. Aufl. Gütersloh 1978, S. 162 f. Zur Bedeutung dieses Priesters für Käte vgl. Wilhelm H. Grothmann: Die Rolle der Religion im Menschenbild Heinrich Bölls. In: The German Quarterly 44 (1971), H. 2, S. 191– 207, hier S. 193. Vgl. KeW, S. 460 f.
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der Drogisten und hebt in diesem Zusammenhang deren Werbespruch hervor: „Vertrau dich deinem Drogisten an!“ Böll kritisiert so die Kommerzialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Allerdings zeichnet er in Und sagte kein einziges Wort nicht nur eine Gesellschaft und eine Kirche, in der das gegenseitige Vertrauen gestört ist. Indem er das Schweigen seiner Protagonistin für die Leserinnen und Leser artikuliert, macht er darüber hinaus deutlich, dass er seine Aufgabe als Autor darin sieht, den marginalisierten Existenzen Gehör zu verschaffen und ihre soziale sowie spirituelle Isolation zu durchbrechen.³⁸ Der Roman exemplifiziert die Hoffnung auf eine wahrhaft christliche Kommunikation in der Darstellung einer Imbissbude, die eine wirkliche Gemeinschaft der Gläubigen ermöglicht und zudem das für Böll zentrale Thema der Mahlgemeinschaft akzentuiert.³⁹ In Und sagte kein einziges Wort zeigt sich so zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, dass die Marginalisierung, mit der Böll sich identifiziert, nicht nur eine soziale, sondern auch eine spirituelle Dimension besitzt. Käte gehört nicht zufällig zu den „inarticulate, who live out the silent suffering of Christ“,⁴⁰ sondern steht im Sinne von Léon Bloy, der Jesus als Bettler begreift, in der Nachfolge Christi.⁴¹ In einem Essay über Bloy, den Böll während der Niederschrift des Romans verfasste, übernimmt er dann auch dessen spirituelle Aufwertung der Armut: „Arm sein ist fürchterlich, weil es in dieser Gesellschaft keinen Platz mehr für die Armen gibt, sie keinen Rang mehr genießen, sie, denen der erste Rang zukommt.“⁴² Festzuhalten ist, dass Bölls zweiter Roman die Koordinaten seiner
Vgl. Heinrich Herlyn: Abfälligkeit. Kritik und Utopie. In: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll. 1917– 1985. Bern 1992, S. 117– 134. Vgl. Manfred Nielen: Frömmigkeit bei Heinrich Böll. Annweiler 1987, S. 66 f. David Hill: The Theme of Religion and Humanity in the Early Fiction. In: Michael Butler (Hg.): The Narrative Fiction of Heinrich Böll. Social Conscience and Literary Achievement. Cambridge 1995, S. 89 – 110, hier S. 102. Den Einfluss Léon Bloys auf Böll betont Gerhard Sauder, dem zufolge Böll in Bloys Schriften „den Kompass für seine Autorschaft gefunden“ habe. Gerhard Sauder: Heinrich Bölls Léon BloyLektüre. Ursprünge eines radikalen Katholizismus. In: Wilhelm Kühlmann, Roman Luckscheiter (Hgg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Freiburg i. Br. 2008, S. 307– 323, hier S. 317. Bölls Bezug auf Bloy wird auch in einigen zeitgenössischen Rezensionen betont, beispielsweise in der Besprechung von Haus ohne Hüter durch Rolf Schroers. Vgl. Rolf Schroers: Die enge Pforte. In: Neue literarische Welt vom 10.04.1954. Böll setzte sich in einem Radiofeature für den Hessischen Rundfunk, das am 29. 8.1952 ausgestrahlt wurde, mit Bloy auseinander und fertigte auch eine Druckfassung seiner Gedanken für die Frankfurter Hefte unter dem Titel Jenseits der Literatur an, die jedoch nie publiziert wurde. Für weitere Informationen vgl. den Stellenkommentar in: Heinrich Böll: Jenseits der Literatur. Über deutsche Ausgaben Léon Bloys. In: Böll: Werke. 1952– 1953. Hg. von Árpád Bernáth. (Kölner Ausgabe. Bd. 6.) Köln 2007, S. 92– 99. Ebd., S. 96.
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Autorschaft absteckt, indem er ein dualistisches Weltbild entwirft: Auf der einen Seite stehen die religiös und sozial randständigen Existenzen und auf der anderen Seite das orthodoxe Establishment. Indem der Roman dem orthodoxen Flügel, verkörpert durch Frau Franke und den Bischof, die Christlichkeit abspricht, positioniert sich Böll in den Kämpfen des religiösen Felds. Zugleich wertet er aus einer christlichen Perspektive die Armut auf, während die vom Wirtschaftswunderrausch erfasste Bevölkerung der 1950er-Jahre dieselbe zunehmend als Makel empfand. Durch seine klare Positionierung in den zeitgenössischen Konflikten des religiösen Felds inszeniert sich Böll als ein Autor, der den religiös und sozial Marginalisierten eine Stimme verleiht. Der Roman macht das Schweigen seiner Protagonistin vernehmbar, das schon der Titel christologisch figuriert, und setzt einen Autor in Szene, der gegen die Institutionalisierung des ursprünglichen christlichen Gedankens anschreibt.
1.2 Haus ohne Hüter: Vom Scheitern einer Autorschaft Bölls 1954 erschienener Roman Haus ohne Hüter nimmt das Motiv der Kirchenkritik wieder auf und verknüpft es ebenfalls mit der Autorschaftsfrage. Medium der Inszenierung von Autorschaft ist diesmal nicht der Titel, sondern eine zentrale Figur des Romans: ein Dichter. Rai Bach, dessen Gedichte in keiner zeitgenössischen Lyrik-Anthologie fehlen, ist im Weltkrieg gefallen und wird im Nachkriegsdeutschland von katholischer Seite verehrt. Böll siedelt auch in diesem Roman die Handlung im katholischen Milieu an und skizziert einen kulturbeflissenen Kreis, der sich um die Witwe des Dichters gebildet hat. Die führenden Köpfe dieses Kreises sind alle ehemalige Nazis, unter ihnen pikanterweise der Offizier, der den Tod des Dichters zu verantworten hat. Die Verstrickung in den Nationalsozialismus wird von den Romanfiguren verdrängt oder als menschliche Schwäche entschuldigt. Eine Aufarbeitung findet nicht statt. Der Roman zeichnet dieses ganz und gar nicht christliche Verhalten, das sich dennoch religiös kostümiert, in oftmals satirischer Art und Weise. So heißt es über ein Mitglied des Kreises beispielsweise: „Schurbigel hatte nach dem Krieg (Saulus wurde hier häufig als Beispiel zitiert) die ungeheuren Reize der Religion entdeckt“.⁴³ Andere Figuren des Romans werden ganz ähnlich charakterisiert. So will Pater Willibrord, der während des Kriegs Führer und Vaterland begeistert feierte, davon jetzt nichts mehr wissen. Allerdings kritisiert der Roman nicht nur die fehlende individuelle
Heinrich Böll: Werke. Haus ohne Hüter. Hg.von Jochen Schubert. (Kölner Ausgabe. Bd. 8.) Köln 2009, S. 35. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle HoH zitiert.
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Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern verbindet diese Kritik eines nur oberflächlich praktizierten Christentums mit der gesellschaftlichen Dominanz einer christlichen Doppelmoral. Aus der Perspektive zweier Kinder beschreibt Böll die wirtschaftlichen Zwänge, aufgrund derer sich verwitwete Frauen im Nachkriegsdeutschland vielfach dazu entschlossen, trotz moralischer Ächtung den neuen Partner nicht zu heiraten und lieber in ‚wilder Ehe‘ zu leben. Bölls Roman thematisiert damit die Witwenrenten der Nachkriegszeit, die nur bezogen werden konnten, wenn die Frauen nicht erneut heirateten. Diese Regelung zwang viele Witwen dazu, gegen die Normen ihres Glaubens zu handeln. Neben dieser Kritik einer fehlenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der zeitgenössischen ‚Onkelehen‘ rückt der Roman durch seine Erzählweise die sprachliche Dimension jeglicher Welterkenntnis in den Mittelpunkt. Die Autorschaft des oben erwähnten Lyrikers wird dadurch problematisiert. Bölls Roman wird heterodiegetisch erzählt. Wechseln auch die Fokalisierungsinstanzen, so doch keineswegs willkürlich: Berichtet wird nur aus der Perspektive sympathisch gezeichneter Figuren. Besondere Bedeutung kommt dabei der Fokalisierung durch die kindlichen Protagonisten Martin und Heinrich zu, ermöglicht diese doch einen weiteren poetologischen Kunstgriff. Böll hebt einige Wörter typografisch hervor und setzt sie in Majuskeln. Motiviert wird dieses Verfahren durch die Unverständlichkeit, die diese Wörter aus der Perspektive der Kinder besitzen: Wort und Welt scheinen für sie nicht aufeinander beziehbar. Durch die typografische Hervorhebung erscheinen Wörter wie „UNSCHAMHAFT“ und „UNMORALISCH“ auch den Lesern in der ganzen Fremdheit, die sie für die Kinder verkörpern. Allerdings belässt es der Roman nicht bei diesem Verfremdungseffekt, sondern berichtet auch davon, wie die beiden kindlichen Protagonisten schließlich über Sprache nachdenken. Illustriert werden kann dies mit einer Szene, in der Albert seinem Neffen das ehemalige Nazigefängnis zeigt, in dem er und Martins Vater gefoltert wurden. Martins im Inneren Monolog artikulierte Angst resultiert aus der Allgegenwärtigkeit einer gesellschaftlichen Fassade, deren Undurchdringlichkeit dazu führt, dass Kinder auf Gewalt nur durch Comics und Bibel aufmerksam werden,⁴⁴ die wirkliche Gewalt des erst gerade beendeten Kriegs aber ausgeblendet bleibt. Dass die in der Bibel dargestellte Gewalt sich auf die zeitgenössische oder historische Wirklichkeit beziehen lassen könnte, bleibt Martin verschlossen. Alberts Erziehungsmaßnahme erzeugt bei Martin schließlich eine Reflexion über die Sprache des Alltags: Die NAZIS hatten es getan: Wort, das keine klaren Vorstellungen hervorrief, Wort, das von Albert anders ausgelegt wurde als in der Schule. In der Schule wurde UNMORALISCH für
Vgl. HoH, S. 269.
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schrecklich gehalten […]. Albert fand die NAZIS schrecklich, aber in der Schule wurden sie NICHT SO SCHLIMM dargestellt; andere Schrecken überdeckten die der NICHT SO SCHLIMMEN NAZIS: die Russen. (HoH 270)
Martin erkennt durch diese Reflexionen das erste Mal, dass Sprache kein neutrales Medium, sondern integraler Bestandteil von Weltbildern ist. Die typografische Hervorhebung einzelner Wörter motiviert zur Sprachreflexion. Die Frage, wie Begriffe zu verstehen und Texte zu lesen sind, durchzieht Haus ohne Hüter. Neben dem Gebrauch von Majuskeln rückt der Roman auch durch andere literarische Verfahren und Motive Prozesse der Welterschließung in den Mittelpunkt: An erster Stelle sind hier die Fotografien von Martins und Heinrichs Vätern zu nennen, die im Roman immer wieder gedeutet werden müssen.⁴⁵ Des Weiteren ist Martins Verhältnis zu seiner Großmutter von Belang, das von einer rituellen Abfrage des Katechismus geprägt ist und so die sprachlichen Formeln ausstellt, die Weltbilder generieren. Eine bestimmte Sicht auf die Welt wird ferner durch Illustrationen aus dem Nibelungenlied, die Verpackungen der örtlichen Nudelfabrik schmücken, und Werbesprüche, die Rai Bach für die Marmeladenfabrik entwarf, thematisch.⁴⁶ Haus ohne Hüter muss daher als ein Roman gelesen werden, der die sprachlichen Prozesse der Welterschließung vielfach thematisiert. Religiösen Texten kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Deutlich wird dieser Zusammenhang im letzten Kapitel des Romans, in dem Martin die ausschließlich auf das Transzendente abzielende Antwort auf die erste Katechismusfrage anfängt zu hinterfragen. Denn während Martin seiner Großmutter auf die Frage „Wozu sind wir auf Erden?“ im Laufe des Romans immer wieder die richtige Antwort gibt, heißt es im letzten Kapitel: „WOZU SIND WIR AUF ERDEN? Und er dachte automatisch die Antwort hinzu: Um Gott zu dienen, ihn zu lieben und dadurch in den Himmel zu kommen. Aber dienen, lieben, in den Himmel kommen, diese Worte sagten NICHT ALLES.“ (HoH 301 f.) Martin erkennt im letzten Kapitel, in dem er seine kindliche Unschuld endgültig verliert, dass die christliche Botschaft interpretiert werden muss, um sich im Leben zu verwirklichen. Indem Haus ohne Hüter Interpretationsprozesse thematisiert, fragt der Roman zugleich nach den Bedingungen von Autorschaft. Die postume Verklärung des Lyrikers Rai Bach durch einen Kreis ehemaliger Nazis, Vgl. Wolfgang Fehr: Zeitgeschichte und Literatur. Möglichkeiten mentalitätsgeschichtlicher Unterrichtskonzeptionen am Beispiel von Heinrich Bölls „Haus ohne Hüter“. In: Der Deutschunterricht 53 (2001), H. 5, S. 12– 24. Die typografische Hervorhebung von einzelnen Wörtern und das Thema Werbung erinnern an die schon besprochene leitmotivisch wiederkehrende Werbephrase „Vertrau dich deinem Drogisten an!“ in Und sagte kein einziges Wort. Neben den alltäglichen Wörtern, die typografisch hervorgehoben werden, thematisiert der Roman auch die Sprache der Werbung. Wie in Und sagte kein einziges Wort steht auch hier die Sprache der Werbung in Konkurrenz zur Religion.
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die sich gegen jedes Bekenntnis zur eigenen Schuld wehren, steht in diesem Kontext. Denn die Begeisterung des katholischen Kreises für den Dichter demonstriert, wie Literatur und insbesondere Lyrik, wenn sie sprachliche Fassaden nicht einreißt und sich nicht konkret auf Gesellschaft bezieht, politisch entschärft und allein repräsentativen Zwecken dienstbar gemacht werden kann. Rai Bachs Witwe steht der Instrumentalisierung der Lyrik ihres Mannes hilflos gegenüber, weil sich dessen Antifaschismus nur privat und nicht in seiner lyrischen Sprache ausgedrückt hat. Die christliche Dimension seiner Dichtung konnte so sozial und politisch neutralisiert und damit vom kulturbeflissenen katholischen Kreis instrumentalisiert werden. Der Roman führt damit die Probleme eines unpolitischen Autorschaftsmodells vor. Umso deutlicher wird dadurch, dass gesellschaftlich wirksame Autorschaft den sozialen, politischen und religiösen Kontext der eigenen Praxis reflektieren und insbesondere die Rezeption antizipieren muss. Der Roman plädiert in diesem Sinne für eine literarische Sprache, die sich jeglicher Abstraktion verweigert, sprachliche Fassaden einreißt und sich konkreten gesellschaftlichen Fragen zuwendet.
1.3 Billard um halb zehn: Eine Rhetorik des Leidens Bölls 1959 publizierter Roman Billard um halb zehn zeichnet sich sowohl durch eine Radikalisierung der Kirchenkritik als auch durch die Zunahme selbstbezüglicher Elemente aus. Dies betrifft den Plot und die literarische Form in gleicher Weise. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Architektenfamilie: die Fähmels, deren männliche Mitglieder sich seit drei Generationen der Architektur verschrieben haben. Den Grundstein der Dynastie legt Heinrich Fähmel, der durch den Bau der Abtei St. Anton das Ansehen seiner Zunft gewinnt. Sein Sohn Robert sprengt die Abtei jedoch während des Kriegs, um sich für das Paktieren der Kirche mit den Nationalsozialisten zu rächen. Fortan arbeitet er als Statiker, wendet sich also der handwerklichen Seite der Architektur zu. Roberts Sohn Joseph, der die Restaurationsarbeiten an der Abtei nach dem Krieg betreut, findet sich am Ende des Romans unschlüssig, ob er in Zukunft bauen oder sprengen soll.Wie schon an dieser Skizze der Genealogie der Fähmels deutlich wird, handelt es sich um ein symbolträchtiges Schicksal. Insbesondere Roberts Entscheidung, das Lebenswerk seines Vaters zu zerstören und auch nach dem Krieg für den Abriss von Kulturdenkmälern zu plädieren, kann als Positionierung des Autors gelesen werden, hält sich der Roman hinsichtlich der Kommentierung und Bewertung einzelner Figuren und Aussagen derselben doch nicht zurück. Insbesondere die Kulturgutpflege wird im Roman persifliert, indem die kalkulierte Anteilnahme am Schicksal lang verstorbener Kinder in römischen Kindergräbern vor dem Hintergrund der an-
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sonsten herrschenden restaurativen Kälte als Kompensation und unverbindliche Kulturübung lesbar wird. „Siebzehn Jahrhunderte alte Trauer“⁴⁷ erreicht die überwiegende Anzahl der deutschen und ausländischen Besucher des abendländischen Erinnerungsortes eher als die Schrecken der unmittelbaren Vergangenheit. Dieser Gegensatz zwischen der Identifikation mit der kulturellen Tradition und der schweigenden Hinnahme des noch nicht lange zurückliegenden Kulturbruchs durch den Nationalsozialismus wird an vielen Stellen des Romans in Szene gesetzt. Die folgende Reflexion Robert Fähmels anlässlich der inständigen Bitte des amerikanischen Offiziers, ihm zu sagen, warum er die Abtei in die Luft gesprengt habe, sie sei doch ein Kulturgut ersten Ranges gewesen, kann als Beispiel dienen: Aber wenn er es aussprechen würde, stimmte es nicht mehr; aktenkundig gemacht wäre es am wenigsten wahr: […] ein Denkmal aus Staub und Trümmern wollte er denen setzen, die keine kulturgeschichtlichen Denkmäler gewesen waren und die man nicht hatte schonen müssen […]. (Bhz 157 f.)
Im Kontext der positiven Figurenzeichnung des Romans generieren solche Passagen Sympathie für Menschen wie Robert Fähmel, die die Opfer des Nationalsozialismus nicht vergessen wollen und anmahnen, dass die Kultur den Rückfall in die Barbarei verarbeiten müsse und nicht kaschieren dürfe. Der Umstand, dass Robert seine Gedanken verschweigt, legt nahe, dass seine Tat mehr der Verzweiflung entsprang, als dass sie als Widerstandsakt zu bezeichnen wären.⁴⁸ Eine weitere Passage, in der Böll auf die Bedeutung von Kulturgütern zu sprechen kommt, zeigt zudem, dass es nicht allein um ein deutsches Problem geht. In einem Gespräch zwischen Heinrich und Robert Fähmel berichtet ersterer davon, dass sich unmittelbar nach dem Krieg ein britischer Offizier bei ihm entschuldigte, dass seine Truppen „die Honoriuskirche bombardiert und die Kreuzigungsgruppe aus dem zwölften Jahrhundert zerstört“ (Bhz 165) hatten. Die Toten des Luftbombardements, unter ihnen Roberts Frau, bleiben unerwähnt. Böll kritisiert hier die kulturpolitische Seite der Restauration. Die Hervorhebung der kulturellen Tradition diene dazu, sich mit der nationalsozialistischen Katastrophe, die sich trotz dieser Tradition vollzog, nicht auseinanderzusetzen.
Heinrich Böll: Werke. Billard um halb zehn. Hg. von Frank Finlay und Markus Schäfer. (Kölner Ausgabe. Bd. 11.) Köln 2002, S. 256. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle Bhz zitiert. Die Schilderung der Vernehmung zeigt zudem sehr anschaulich, wie Böll versucht, die Interpretation seines Romans zu beeinflussen. Denn Robert selbst spekuliert über die Möglichkeit, dass, wenn er die wahren, d. h. politischen und religiösen Gründe für seine Tat nicht bekennt, der Offizier an einen „Vaterkomplex“ glauben könnte. Ebd., S. 161. Hervorhebung im Original.
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Die Kirchenkritik des Romans resultiert jedoch nicht nur aus einer kulturkritischen Sichtweise, sondern basiert primär auf der den Roman durchziehenden Leitmotivik, die biblisch fundiert ist. Durch die Leitmotive des Sakraments des Büffels und Sakraments des Lammes teilen sich die Romanfiguren in zwei Gruppen, die moralisch klar voneinander geschieden sind. Bevor ich auf den Unterschied zwischen ‚Büffeln‘ und ‚Lämmern‘ genauer eingehe, sei jedoch festgehalten, dass der Begriff des Sakraments selbst zentral ist. Der Sakramentsbegriff erlaubt es, einen Zusammenhang zwischen einer transzendenten und einer weltlichen Ordnung zu konstatieren, da das Ursakrament Jesus Christus ist, also die Menschwerdung Gottes. Weil die Wirkung der Sakramente in der „Vermittlung der Gemeinschaft mit dem in Jesus Christus offenbarten Gott“⁴⁹ besteht, wird die Kirche auch als „Grundsakrament“⁵⁰ bezeichnet. Wie schon in den zuvor behandelten Romanen widmet sich Böll also Sinn und Zweck der christlichen Gemeinschaft. Die Bezeichnung ‚Sakrament des Lammes‘ bezieht sich auf den pastoralen Auftrag der Kirche, der in Joh 21,15 von Jesus an Petrus mit den Worten „Weide meine Lämmer“ erfolgt. Böll bezieht sich an mehreren Romanstellen auf diese Worte. Zitiert werden sie im Kursivdruck, beispielsweise als Losungswort der religiösen Gruppe, der Robert Fähmel sich während des Nationalsozialismus anschließt,⁵¹ oder in der Gedankenrede desselben, der sich während des Verhörs durch den amerikanischen Offizier fragt, ob er ihm sagen solle, dass er die Abtei sprengte, weil die Mönche „die Weisung Weide meine Lämmer nicht befolgt hatten“ (Bhz 160). Die im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe wird durch dieses Leitmotiv zum religiösen Gegenspieler der katholischen Kirche, die mit dem Nationalsozialismus paktiert, wie es die Praxis der Mönche aus der Abtei St. Anton im Roman veranschaulicht. Kritisiert werden der politische Opportunismus und insbesondere die theologischen Konzessionen der Kirche, denn Robert Fähmels Rache wird durch eine Sonnenwendfeier motiviert, auf der die Mönche zusammen mit den Nazis Hans Baumanns nationalchauvinistisches Lied Es zittern die morschen Knochen intonieren, ein weiteres Leitmotiv des Buchs. Durch die Beteiligung an der heidnischen Sonnenwendfeier kompromittiert sich die Kirche dem Roman zufolge auch in religiöser Hinsicht. Die Vakanz des Hirtenamts wird deshalb an verschiedenen Stellen reflektiert und die Frage nach Alternativen aufgeworfen. Vorrangig ist hier wiederum Robert Fähmel zu nennen, der in der Szene, in der der Lämmer-Büffel-Dualismus eingeführt wird, nicht nur als potentieller Hirte bezeichnet wird, sondern sein Hirtenamt auch praktisch ausübt, indem er seinen Gunter Wenz, Henning Schröer: Sakrament. In: Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie. (Bd. 29.) Berlin 1998, S. 663 – 703, hier S. 691. Nielen: Frömmigkeit bei Heinrich Böll, S. 61. Vgl. Bhz, S. 57.
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Freund, der sich als Lamm erweist, vor den Büffeln in Schutz nimmt. Auch durch die Adoption Hugos, einer weiteren Figur, die als Lamm bezeichnet wird, profiliert sich Robert Fähmel gegen Ende des Romans als Hirte. Die biblische Herkunft des Hirtenmotivs ist insofern von Bedeutung, als sich Jesus Christus in Joh 10,11 als der „gute Hirte“ bezeichnet und die Schilderung der Folterung von Robert Fähmel an die Passion Christi erinnert. Angemahnt wird in Billard um halb zehn die Anwendung der christlichen Gebote und Werte im Alltag. Als Vorbilder dienen Robert Fähmel und die nicht genauer bezeichnete religiöse Gruppe. So wird Robert mit explizitem Verweis auf die praktische Dimension der biblischen Normen nach seiner Folterung der Rücken mit Wein und Öl gewaschen, wie es in der Geschichte vom barmherzigen Samariter geschieht.⁵² Ein weiteres Beispiel findet sich in einem Dialog zwischen Robert Fähmel und Schrella, die in der Nachkriegszeit gemeinsam beschließen, einen wegen seiner häufigen Bergpredigtbezüge in die Provinz versetzten Priester zu besuchen, weil es doch hieße, „man soll die Gefangenen besuchen“ (Bhz 270).⁵³ Dieser Bezug auf das Matthäus-Evangelium ist von besonderem Interesse, weil dort verkündet wird, dass es das Verhältnis zum Mitmenschen ist, in dem sich der christliche Glaube vollzieht: „Wahrlich, ich sage euch“, spricht Jesus, „was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Hinsichtlich der Inszenierung von Autorschaft ist insbesondere ein HölderlinZitat von Bedeutung, das den Roman ebenfalls leitmotivisch begleitet. Der kursiv gesetzte Vers Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest aus Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage (um 1800) bezieht sich nicht nur intertextuell auf Hölderlins Auseinandersetzung mit Autorschaftsmodellen, sondern steht überdies auch inhaltlich in Bezug zum Motiv des Hirten. Dies sogar in zweifacher Hinsicht, denn erstens wird der Vers Robert Fähmel zugeordnet und zweitens wird durch ihn betont, dass Mitleid zwar eine Voraussetzung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sei, dieses jedoch nicht das Handeln bestimmen dürfe.⁵⁴ Expliziert wird diese These u. a. am ökonomisch unvernünftigen und den eigenen wirtschaftlichen Konkurs beschleunigenden Verhalten von Schrellas Mutter, die Vgl. Bhz, S. 63. Für das Beispiel vom barmherzigen Samariter vgl. Lk 10,25 – 37. Vgl. Mt 25,36. Erhard Friedrichsmeyer zufolge vollzieht sich in Billard um halb zehn der Übergang von einer weichen zu einer harten Sentimentalität. Mit Bezug auf das Hölderlin-Zitat und der Leidensbefürwortung im frühen Werk Bölls schreibt er: „Das Motto hinterfragt dieses Verhältnis zum Leiden. Das ‚ewige Herz‘ bleibt ‚fest‘ im Mitleiden. Das Herz erschöpft sich nicht in der Identifikation mit dem Opfer – Pathos und Passivität sind nicht deckungsgleich – […]. Die Urteilsinstanz des moralischen Gefühls enthält die Vernunft.“ Erhard Friedrichsmeyer: Das weiche und das feste Herz. Sentimentalität und Satire bei Böll. In: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll. 1917– 1985. Bern 1992, S. 179 – 194, hier S. 184.
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hungrige Kinder in ihrer Imbissbude ohne Bezahlung bewirtet und von der es deswegen im Roman heißt, dass ihr Herz „mitleidend nicht fest“ (Bhz 211) geblieben sei. Auf ähnliche Art und Weise wird das Hölderlin-Zitat auch auf Ferdinand Progulske bezogen, der aufgrund eines missglückten Attentats auf einen Nazilehrer, das dem kindlichen Edelmut entsprang, hingerichtet wird. Ferdinand habe nicht Hölderlin, sondern Karl May gelesen und sei daher dieser „Torheit“ (Bhz 57) verfallen. Die Montage des Verses Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest kann an manchen Stellen auch ohne Bezug auf Hölderlin sinnvoll interpretiert werden. Allerdings erschließt erst der Bezug auf Hölderlin, der im Roman sehr deutlich herausgearbeitet wird, die Bedeutung des Verses für die Inszenierung von Autorschaft. Letztere, so möchte ich im Folgenden zeigen, wird durch die Hervorhebung der handlungsrelevanten Folgen eines Gefühls als gesellschaftliches Phänomen mit politischen Konsequenzen betrachtet. Der Name ‚Hölderlin‘ bezieht sich in Bölls Roman nicht nur auf den romantischen Dichter, sondern auch auf das Bild, das insbesondere die nationalsozialistische Rezeption von diesem zeichnete. Durch den Bezug auf Hölderlin wird also erneut das Verhalten zur kulturellen Tradition thematisiert – diesmal auf dem Terrain der Autorschaft. Böll spielt an zwei Stellen auf die Tatsache an, dass die Nazis Hölderlin für ihre Zwecke instrumentalisierten.⁵⁵ Insbesondere die Passage, in der der Dichter das erste Mal genannt wird, bezieht sich auf diesen Umstand. Denn dort wird konstatiert, dass die nationalsozialistisch gleichgeschalteten Mitschüler von Robert Fähmel den Dichter falsch verstanden hätten. Böll schlägt also eine Re-Lektüre vor, die ich im hermeneutischen Horizont des Romans nun vornehmen möchte. Ich zitiere die entscheidenden Zeilen der Hymne in der Fassung von Frank Zinkernagel, die sich in Bölls Nachlassbibliothek fand:⁵⁶ Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt Die Erdensöhne ohne Gefahr. Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigener Hand Zu fassen und dem Volk, ins Lied Gehüllt, die himmlische Gabe zu reichen. Denn sind nur reinen Herzens, Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände,
Vgl. Bhz, S. 42 u. 161. Christine Hummel verweist auf Wolfgang Borcherts Das ist unser Manifest, in dem Hölderlin „pars pro toto für die von den Nazis in Beschlag genommenen Klassiker“ einsteht. Christine Hummel: Intertextualität im Werk Heinrich Bölls. (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 59.) Trier 2002, S. 150. Vgl. Bhz, S. 397.
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Des Vaters Stral, der reine, versengt nicht, Und tieferschüttert die Leiden des Stärkeren, die hochherstür[zen]den in unaufhaltsamen Stürmen, Mitleidend, bleibt das ewige Herz doch fest.⁵⁷
Hölderlins Gedicht thematisiert die Rolle der Dichterinnen und Dichter. Versammelt sind hier Motive und Metaphern, die der vates-Tradition zugeordnet werden können. Dabei nimmt das Gedicht in der dem Zitat vorangehenden Strophe auf ein mythisches Narrativ Bezug. Erinnert wird an die Liebesgeschichte zwischen Semele und Zeus, die aufgrund des Begehrens der Semele, ihren Liebhaber in seiner wirklichen Gestalt zu sehen, tödlich endet. Semele kann den Anblick des Zeus, der sich als Blitz zeigt, nicht ertragen. Wie Peter Szondi jedoch bemerkt, ändert Hölderlin die mythische Vorlage ab. Er verschweigt den Tod der Irdischen und feiert stattdessen ihre Tat, denn erst der Blitz des Zeus zeugt den heiligen Bacchus.⁵⁸ In diesem Kontext werden dann auch die ersten zwei oben zitierten Zeilen verständlich: „Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt / Die Erdensöhne ohne Gefahr“. Bacchus/Dionysos fungiert hier als Autorschaftsmodell. Der Gott des Weines und der Ekstase – selbst halb Mensch, halb Gott – symbolisiert die dichterische Inspiration. Diese, so die anschließenden Zeilen, erfordert es, den Anblick der Wahrheit (anders als Semele) zu ertragen und als Mittler zwischen Göttern und Menschen, als Priester oder Prophet zu fungieren. Die fragmentarisch gebliebene Hymne stellt die emotionalen und nicht die epistemologischen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis heraus. Das Herz muss daher trotz der Leiden, die im Angesicht der Wahrheit generiert werden, fest bleiben.⁵⁹ Von hier aus zeichnet sich ein Bezug zu Bölls Protagonisten Robert Fähmel ab, dessen distanzierter Charakter einen Schutz gegen ein sich selbst verzehrendes Mitleiden bildet, das durch andere Romanfiguren verkörpert wird. Wichtiger jedoch als der Bezug zu den Figuren des Romans erscheint mir die Thematisierung der Autorschaft durch das Hölderlin-Zitat. In Bölls Roman ist allerdings nicht eine ewige
Friedrich Hölderlin: Das himmlische Feuer. In: Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg.von Franz Zinkernagel. (Kritisch-historische Ausgabe. Bd. 1.) Leipzig 1922, S. 319 – 321, hier S. 321. Peter Szondi: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils. In: Szondi: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt am Main 1967, S. 33 – 54, hier S. 36. Szondi bemerkt zudem, dass Hölderlin sich hinsichtlich des SemeleStoffs auf Euripides’ Tragödie Bacchantinnen bezieht, in der es heißt, dass Semele vom Gewitterfeuer geschwängert worden sei. Vgl. ebd. Peter Szondi hebt in einem Vergleich mit der Prosafassung des Gedichts zudem hervor, dass die Schuldlosigkeit des kindlichen Herzens die wahren Dichter auszeichnet. Hölderlin kontrastiere diese mit solchen, denen „von selbstgeschlagener Wunde“ das Herz blutet. Auch in der von Böll genutzten Fassung werden letztere als falsche Priester bezeichnet. Ebd., S. 43.
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Wahrheit zu erkennen, sondern eine gesellschaftliche Situation zu ertragen. Auf der Grundlage der im Roman geäußerten Kritik an der nationalistischen Fehlinterpretation Hölderlins generiert der Roman ein vorbildliches Autorschaftsmodell, das in einen praktisch-politischen Kontext gestellt wird. Dass das Leiden an Deutschland in Bölls Roman im Mittelpunkt steht, ist auch in der zeitgenössischen Rezeption bemerkt worden. So hat Marcel Reich-Ranicki dieses Moment in seiner Rezension herausgestellt: Dieses düstere und grausame Buch scheint öfter von alttestamentarischer Strenge als von neutestamentarischer Milde durchdrungen zu sein. Nicht zufällig wird immer wieder der Name Hölderlin genannt. Man muß bisweilen an den vorletzten Brief Hyperions an Bellarmin denken. Hier wie da wird dem Deutschen Bitteres aus liebenden Herzen gesagt.⁶⁰
Reich-Ranicki spielt hier auf Hyperions Leiden an den Zuständen in Deutschland an, wie sie Hölderlin im berühmten Scheltbrief beschreibt. „Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich’s“, so leitet Hyperion seine Klage über die Entfremdung von den Göttern und den Zustand der Künste in Deutschland ein und fährt fort: „[I]ch kann kein Volk mir denken, daß zerrißner wäre, wie die Deutschen, Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen“.⁶¹ Gegen die nationalchauvinistische Deutung Hölderlins setzt Bölls Roman also den kritischen Dichter, der an den Zuständen in seiner Heimat leidet und seiner Nation ins Gewissen redet. Erinnert man sich an den Kontrast, der im Roman zwischen Karl May und Hölderlin hergestellt wird, dann wird vollends offensichtlich, dass es hier um die Verantwortung der Literatur geht. Die richtige Hölderlin-Lektüre qualifiziert für das Hirtenamt, wie die folgende Passage, in der Robert Fähmel durch seine Mutter charakterisiert wird, belegt: „Liest Hölderlin, hat nie vom Sakrament des Büffels gekostet, er ist von Adel, kein Lamm, sondern ein Hirte“ (Bhz 151). Hölderlin steht als Garant für das Hirtenamt ein und fungiert als Bestärkung, die eigene gesellschaftliche Marginalisierung zu ertragen.⁶² Hölderlins Autorschaft wird also in Billard um halb zehn in zweifacher Hinsicht hervorgehoben. Einerseits wird nahegelegt, dass der Nationaldichter der Nationalsozialisten in Wahrheit ein Außenseiter war, der an den deutschen Zuständen litt. Andererseits wird das epistemologische Pathos der vates-Tradition,
Marcel Reich-Ranicki: Bitteres aus liebendem Herzen den Deutschen gesagt. Der neue Roman Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“, eine große Leistung unserer Jungen Literatur. In: Die Welt vom 08.10.1959. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hyperion. Hg. von Michael Knaupp und Dietrich E. Sattler. (Frankfurter Ausgabe. Bd. 11.) Frankfurt am Main 1982, S. 774. Vgl. Bhz, S. 216. Ein weiterer literarischer Außenseiter wird mit Kleist genannt.Vgl. ebd., S. 214.
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die exklusive Rolle des Dichters im Angesicht der Wahrheit, deakzentuiert und stattdessen die emotionale Befähigung desselben betont. Bezogen ist das Pathos nicht mehr auf eine schwer zu erkennende Wahrheit, die einer prophetischen Gabe zu ihrer Sichtbarwerdung bedarf, sondern auf eine schwer zu ertragende Wahrheit, die Standfestigkeit und Leidensfähigkeit erfordert. Autorschaft wird so in einem praktisch-politischen Bezug zur Gesellschaft inszeniert.⁶³ Als literaturhistorische Chiffren finden sich hierfür die Namen Hölderlin und Karl May im Roman. Ersterer als Beispiel für einen Wahrheitswillen, der die eigene Isolation erkennt und akzeptiert, letzterer für eine romantisierende Sicht auf die Gegenwart, die Abenteuer imaginiert, wo nur Schrecken zu finden sind. Bölls Hölderlin wird somit zum Vorbild, das die Rolle ‚Gewissen der Nation‘ antizipiert. Von einem Bezug des Autorschaftsmodells ‚Gewissen der Nation‘ zum vates-Konzept kann trotz des intertextuellen Bezugs auf Hölderlin nicht gesprochen werden.⁶⁴ Weder wird Autorschaft von Böll als epistemologische Herausforderung noch als Träger geschichtsphilosophischen Wissens inszeniert. Übernommen wird von Hölderlin die Rhetorik des Leidens an der Wahrheit, die jedoch nicht allein der vates-Tradition entstammt.
1.4 Ansichten eines Clowns: Der Autor als Ärgernis Auch wenn zwischen der Publikation von Billard um halb zehn (1959) und Ansichten eines Clowns (1963) ganze vier Jahre liegen, variiert Böll in letzterem zahlreiche Themen des früheren Romans. Diese Kontinuität betrifft insbesondere die Künstlerthematik. In beiden Romanen fungiert ein Künstler als Protagonist. Ist es in Billard um halb zehn ein Architekt, so im 1963 publizierten Roman ein Clown. Der Titel darf daher nicht nur auf den Protagonisten bezogen werden. Er benennt auch eine Profession. In der hitzigen Debatte, die dieser Roman auslöste, ist dieser Umstand zu wenig gewürdigt worden. Doch neben der Kirchen- und Milieukritik, die durch den Roman artikuliert wird, fragt Böll hier auch nach den Bedingungen von Künstler- bzw. Autorschaft. Dass er hierfür die Figur des Clowns nutzt, ist natürlich kein Zufall, verschränken sich in ihr doch religiöse und künstlerische Aspekte.
Wie wichtig der Bezug auf Hölderlins Hymne für Bölls Inszenierung von Autorschaft ist, lässt sich daran erkennen, dass Böll, wie Christine Hummel betont, sich in seiner Rede Poesie des Tuns im Jahr 1985 erneut auf sie bezieht. Vgl. Hummel: Intertextualität im Werk Heinrich Bölls, S. 153. Zu einer anderen Einschätzung kommen Hoffmann und Langer. Vgl. Hoffmann und Langer: Autor.
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Bölls Roman fragt aus der Perspektive des Clowns, was unter wahrer Katholizität zu verstehen ist. Für Bölls Protagonisten, Hans Schnier, gibt es allerdings neben seiner Freundin Marie Derkum nur drei wahre Katholiken, die alle eine Affinität zur Profession Schniers haben. Genannt werden Papst Johannes XXIII., Alec Guinness, ein Schauspieler, der in der Rolle des Hamlet berühmt wurde, und eine fiktive Figur namens Gregory, von dem mitgeteilt wird, dass er einst fast Boxweltmeister geworden wäre, sich jetzt jedoch in Varietés verdingen müsse.⁶⁵ Während der Bezug zur Figur des Clowns hinsichtlich der beiden letztgenannten Personen offensichtlich ist, fällt es schwer, die Gemeinsamkeit zwischen Clown und Papst zu erkennen. Sie wird jedoch durch den Roman explizit hergestellt. Denn dort konstatiert Hans Schnier, dass sowohl Papst Johannes XXIII. als auch die Figur des Harlekins in Bergamo geboren seien. Der Papst habe zudem etwas von „einem weisen, alten Clown“ (AeC 218). Der Roman spielt also deutlich auf die theologische Dimension der Figur des Clowns oder, um präziser zu sein, des Narren an. Günter Wirth hat deswegen auf 1 Kor 3,18 hingewiesen, wo geschrieben steht: „Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde.“⁶⁶ Angeführt werden kann auch eine weitere Passage aus dem ersten Korintherbrief, in der Paulus konstatiert: „Wir sind Narren um Christi willen“ (1 Kor 4,10). Beide Bibelzitate stellen die Weisheit der Welt in Frage und inszenieren die eigene Marginalisierung.⁶⁷ Die theologische Validation der Narrenrolle kann demnach als Hinweis gelesen werden, dass die Wahrheit nicht in der Mitte, sondern an den Rändern der Gesellschaft zu suchen ist. Dass auch Jesus Christus als Narr verspottet worden ist, verbiete es, scheinbar abseitige Positionen zu ignorieren. Volker Garske, der die Stellen der Bibel, in denen Jesus als Narr bezeichnet wird, in seiner theologisch ausgerichteten Monografie Christus als Ärgernis versammelt hat, betont daher, dass die Verkennung Jesu zur Vorsicht mahnt, da „der Geist Gottes offenbar nicht institutionell abgesichert werden kann“.⁶⁸ Nicht nur das Motiv des Clowns verweist auf die antiinstitutionelle Dimension des Romans. Auch das Motto, das dem Roman voran Heinrich Böll: Werke. Ansichten eines Clowns. Hg. von Árpád Bernáth. (Kölner Ausgabe. Bd. 13.) Köln 2004, S. 71. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle AeC zitiert. Vgl. Günter Wirth: Religiöse und gesellschaftliche Motive (1963) in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“. In: Manfred Brauneck (Hg.): Der deutsche Roman nach 1945. (Themen – Texte – Interpretationen 13.) Bamberg 1993, S. 102– 118. Für eine ausführliche Exegese des ersten Korintherbriefes unter diesem Gesichtspunkt vgl. Jacqueline Leonhardt-Aumüller: „Narren um Christi willen“. Eine Studie zu Tradition und Typologie des „Narren in Christo“ und dessen Ausprägung bei Gerhart Hauptmann. München 1993, S. 27– 43. Volker Garske: Christus als Ärgernis. Jesus von Nazareth in den Romanen Heinrich Bölls. (Theologie und Literatur 9.) Mainz 1998, S. 175.
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gestellt ist und das, in einer zentralen Passage, auf Hans Schnier bezogen wird, vermittelt die gleiche Botschaft. Zitiert wird von Böll abermals die Bibel: „Die werden es sehen, denen von Ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben.“ (AeC 10) Diese Worte aus Röm 15 stehen im Kontext der Missionarstätigkeit des Paulus und beziehen sich auf zu bekehrende Heiden. Im Roman wird die Stelle von Strüder zitiert, selbst ein als Narr verspottetes Mitglied des Konvikts, in dem sich Hans Schniers Bruder aufhält.⁶⁹ Die marginalisierte Stellung Strüders, der zudem ganz wie Hans Schnier den Reichtum der Kirche kritisch beäugt, stellt eine Parallele zwischen den beiden Außenseitern her.⁷⁰ Die Marginalisierten und noch Ungläubigen verkörpern die christliche Hoffnung, so deutet es der Roman an, nicht diejenigen, die sich ihrer Christlichkeit zu gewiss sind. Den Roman in diesem Sinne zu verstehen, bedeutet nicht, die Positionen des Ich-Erzählers mit denen des Autors zu identifizieren. Hans Schnier vertritt sicher nicht einfach Bölls Ansichten, sondern ist in die Figurenkonstellation des Romans eingebunden. Insbesondere seine Anklagen gegen den Kreis der fortschrittlichen Katholiken sind oftmals durch seinen Schmerz über den Verlust seiner Freundin Marie geprägt. Nicht zuletzt Hans Schnier selbst gesteht ein, dass seine Kritik subjektiv gefärbt ist.⁷¹ Dennoch stellt der Roman einen Kontrast her zwischen Hans Schniers sowie Marie Derkums Handeln, das sich an der Bergpredigt orientiert, und dem bigotten Verhalten führender Katholiken. Bölls Ansichten eines Clowns akzentuiert den Unterschied zwischen einem wahrhaft christlichen Verhalten und christlicher Selbstgefälligkeit insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit Geld. Böll knüpft hier nicht nur an seine durch Bloy inspirierte theologische Aufwertung der Armut an, die schon für Und sagte kein einziges Wort zentral war, sondern hebt auch hervor, dass Hans Schnier und Marie Derkum ungeachtet ihrer Armut hilfsbedürftige Menschen finanziell unterstützen.⁷² Dieses an der christlichen Nächstenliebe orientierte Verhalten unterscheidet sich deutlich von der ignoranten Haltung Kinkels, eines führenden Vertreters der katholischen Laien und ausgezeichneten Sozialpolitikers, der in einer Diskussion um das Existenzminimum durch eine Anekdote zu verstehen gibt, dass es leichter sei, mit 500 DM auszukommen, als mit einem Einkommen, das zwischen 500 und 3 000 DM liege. Erst jenseits der 3 000 DM Grenze lasse sich wieder vernünftig
Zu Strüders Bezug auf Jesaja vgl. Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 264. Im Roman wird die Außenseiterposition Strüders zweifach markiert. Einmal in der hier besprochenen Passage und ein weiteres Mal durch den Kommentar Leos. Vgl. AeC, S. 231. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 192.
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wirtschaften.⁷³ Als ein weiteres Beispiel für diese Ignoranz gegenüber den materiellen Sorgen nicht-wohlhabender Bevölkerungskreise kann der Vorwurf Frau Kinkels betrachtet werden, die Hans Schniers Kritik an der zu niedrigen Ansetzung des Existenzminimums kontert, indem sie ihn als Materialisten bezeichnet, der „kein Verständnis für Opfer, Leid, Schicksal, Größe der Armut“ (AeC 204) habe. Das Verhältnis zum Geld charakterisiert schließlich auch die Familie von Hans Schnier, die einerseits sehr vermögend ist, sich andererseits aber durch eine fast krankhafte protestantische Askese auszeichnet. Dies trifft insbesondere auf Hans Schniers Mutter zu, die den Speiseplan so konzipiert, dass Hans und seine Geschwister in ihren Kindertagen nie satt wurden und auf die subversive Fürsorglichkeit der Hausangestellten angewiesen waren. Auch der Patriarch des Hauses Schnier vermag es nicht, seinen notleidenden Sohn finanziell zu unterstützen. Die Ansichten des Vaters über Geld lesen sich dabei als Exempel der protestantischen Ethik, dessen asketischen Grundzug Max Weber hervorgehoben hat.⁷⁴ Die finanzielle Sorglosigkeit verbindet den Kreis der fortschrittlichen Katholiken mit der Familie Schnier, wie sich nicht zuletzt an gemeinsamen Abenden bei der HerrenUnion und dem Zusammentreffen anlässlich des von Hans Schniers Mutter ausgerichteten Jour fixe zeigt. Der Roman lässt insofern keinen Zweifel daran, dass in sozialökonomischer Hinsicht die katholischen Würdenträger und Laien zum Bürgertum zu rechnen sind. Dies fundiert auch die politische Kritik des Romans, der an vielen Stellen die Verschmelzung von Kirche und CDU anprangert. Entscheidend ist allerdings, dass im Roman die biblische Kritik des Mammons mit der Wohlhabenheit der katholischen Laien und Würdenträger kontrastiert wird.⁷⁵ Allerdings charakterisiert nicht nur das Geld die Doppelmoral des Kreises fortschrittlicher Katholiken. Mit zweierlei Maß wird auch gemessen, wenn der dort anwesende Prälat sich süffisant über das Verbot der Jagd durch kirchliche Würdenträger hinwegsetzt oder in Fragen der Sexualethik dem verdienten christlichen Dichter Besewitz sein „Konkubinat“ gegönnt wird.⁷⁶ Auch der zentrale theologische Disput zwischen Hans Schnier und dem Kreis der fortschrittlichen Katholiken betrifft dieses Thema. Schniers Ansicht, dass seine Verbindung zu Marie Derkum als Ehe bezeichnet werden könne, weil sich die Liebenden nach katholischem Recht das Sakrament der Ehe selbst spenden, rebelliert gegen eine zu starke Verrechtlichung zwischenmenschlicher Beziehungen. Bölls Roman ist jedoch kein theologisches Traktat und es darf nicht vergessen werden, dass der Clown weder
Vgl. ebd., S. 21. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hg. von Dirk Kaesler. München 2004. Vgl. AeC, S. 192. Vgl. ebd., S. 85.
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katholisch noch gläubig und zudem vom kirchenrechtlichen Standpunkt schlecht unterrichtet ist. Schnier sollte insofern auch nicht als Sprachrohr theologischer Positionen Bölls verstanden werden. Der Roman selbst markiert die scharfe Kritik Schniers am Kreis der fortschrittlichen Katholiken als Ausdruck seiner Trauer darüber, dass Marie ihn verlassen hat. Nicht nur betont Schnier, dass es ihm um eine sehr subjektive Sache gehe, er nimmt auch den Vorwurf, dass der Kreis ihm seine Frau geraubt habe, im Telefonat mit Sommerwild im Stillen zurück.⁷⁷ Dies einschränkend zu betonen, heißt nicht, die Kirchenkritik des Romans zu negieren, sondern daran zu erinnern, dass ein Roman anders als eine theologische Abhandlung Kritik formuliert. Der Roman zeichnet nicht nur ein wenig schmeichelhaftes Bild des katholischen Milieus, sondern generiert ungeachtet kirchenrechtlicher Argumentationsfehler Sympathie für seinen Helden. Insbesondere die Besewitz-Anekdote, die ein kirchenrechtliches Problem zur Grundlage hat, aber auch der Umstand, dass der einzig positiv gezeichnete katholische Würdenträger des Romans, Heinrich Behlen, der Kirche verlorengeht, weil er seine Liebe als Priester nicht legalisieren kann, problematisieren das katholische Eheverständnis im Kern. Denn wenn Prälat Sommerwild andeutet, dass die Duldung von Besewitz’ Beziehung zu einer geschiedenen Frau daraus resultiert, dass dieser ebenjene, weil sie geschieden ist, nicht kirchlich heiraten könne, zeigt sich ein pragmatischer Umgang mit dem Kirchenrecht, der dessen theologische Begründung unterläuft.⁷⁸ Implizit wird hier das ‚fleischliche Verlangen‘ von kirchlichen Würdenträgern anerkannt, solange das Kirchenrecht pro forma respektiert wird. Dieser rein taktische Umgang mit kirchlichem Recht wird mit Hans Behlens Verhalten kontrastiert, der sich gegen Bigotterie entscheidet. Behlen verlässt wegen einer Liebe die Kirche, während Prälat Sommerwild, wie Hans Schnier mutmaßt, sich das Zölibat durch eine „hübsche, blühende“ (AeC 230) Haushälterin erleichtert. Das Gesetz wird im Fall Besewitz und Sommerwild nur den Buchstaben nach befolgt, im Fall Schnier jedoch wird die Grundlage der Ehe, die Liebe, nicht geschützt, weil sie nicht legalisiert ist. Der formalen Befolgung des Kirchenrechts steht also die Nichtachtung des Geistes desselben entgegen. Denn von der ersten gemeinsam verbrachten Nacht bis zu rituellen Formeln folgt Hans Schniers und Marie Derkums Beziehung einem christlichen Eheverständnis. Die Formel „bis daß der Tod uns scheidet“ wird Marie sogar gleich zweimal zugeschrieben.⁷⁹ Als Konkubinat, darauf weist Jürgenbehring hin, kann die Verbindung zwischen Hans Schnier und Marie Derkum deswegen auch keinesfalls bezeichnet werden, denn
Vgl. ebd., S. 122. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 155 u. 226.
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sowohl eine dauernde Lebensgemeinschaft als auch die Ausschließlichkeit derselben sind intendiert.⁸⁰ Im Gegensatz zum Kreis der fortschrittlichen Katholiken, die sich über Hans Schniers Monogamie lustig machen,⁸¹ hält dieser dem Eheversprechen auch ohne formale Trauung die Treue. Die Profession des Clowns ist bisher nur hinsichtlich ihrer theologischen Bedeutung in den Blick genommen worden. Doch der Clown ist natürlich in erster Linie Künstler. Bölls Clown ist zudem ein scheiternder Künstler, der vielleicht sogar am Ende seiner Karriere steht. Insofern ist auch nicht zu erwarten, dass der Roman Bölls Autorschaftsverständnis durch Hans Schnier positiv illustriert. Vielmehr kommentieren die künstlerischen Probleme Schniers die Schwierigkeiten zeitgenössischer Künstlerschaft. Im Mittelpunkt steht dabei dessen Melancholie, auf die der Ich-Erzähler mehrfach Bezug nimmt und die sein Alkoholproblem erklärt, das durch den Verlust von Marie ausgelöst wird. Schniers Melancholie wird als ein Leiden an der Gesellschaft dargestellt und besitzt auch einen theologischen Aspekt, da Schnier sich selbst in die Tradition der Imitatio Christi stellt.⁸² Die Liste der im Roman verzeichneten Anlässe für sein melancholisches Leiden liest sich wie eine Aufstellung gesellschaftlicher Problemfelder: der geschäftsmäßige Briefstil seines Bruders, der Anblick des Industrieviertels Köln-Kalk, die schäbige Sozialbauwohnung eines Freundes und das protzige Villenviertel Bonns.⁸³ Günter Blamberger hat daher darauf hingewiesen, dass Böll hier mit der Tradition bricht: „Bölls Melancholiedarstellung verzichtet auch auf die geschichtstranszendente Metaphorik, auf die Fülle längst vorgeformter Bilder, welche Literatur der Melancholie über Jahrhunderte hinweg zugeordnet hat.“⁸⁴ Melancholie wird von Böll nicht als anthropologische Größe aufgefasst, sondern als Reaktion auf soziale Missstände verstanden. Dass Hans Schnier diese nicht ignorieren kann, ist aber zugleich die Grundlage seiner Künstlerschaft. Als Clown reagiert Schnier mimetisch auf die sozialen Verhaltensweisen, an denen er leidet. Seine Meisterschaft besteht in der überzeichnenden Wiederholung „alltäglicher Absurditäten“ (AeC 98) – insbesondere durch pantomimische Darstellungen. Der Vgl. Heinrich Jürgenbehring: Liebe, Religion und Institution. Ethische und religiöse Themen bei Heinrich Böll. (Religion und Ästhetik 2.) Mainz 1994, S. 130. Kinkel fordert beispielsweise Schnier auf, seine Kindereien zu überwinden und sich wie ein Mann zu verhalten. Er solle den Verlust Maries endlich überwinden. Vgl. AeC, S. 90. Dies geschieht im langen Diskurs über den Feierabend, in dem Schnier sein Leiden an der Tatsache ausdrückt, dass er keinen Feierabend kenne. Im Laufe des Gesprächs fragt er Marie, ob sie sich vorstellen könne, dass Jesus einen Feierabend gekannt habe. Vgl. AeC, S. 99. Günter Blamberger listet die Räume der Melancholie auf.Vgl. Günter Blamberger:Versuch über den deutschen Gegenwartsroman. Krisenbewußtsein und Neubegründung im Zeichen der Melancholie. Stuttgart 1985, S. 103. Ebd.
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Roman bezieht diese Fähigkeit Hans Schniers an mehreren Stellen auf seine Sozialisation, denn es sind die Verhaltensweisen seiner großbürgerlichen Umgebung, die Schnier als erstes erfolgreich parodiert. Bölls Roman akzentuiert jedoch beide Seiten der künstlerischen Praxis. Einerseits zeigt er auf, dass aus produktionsästhetischer Sicht nur das Leiden an der Gesellschaft deren satirische Entlarvung ermöglicht. Hans Schnier partizipiert nicht an der Gesellschaft, sondern zieht sich in eine Beobachtungsposition zurück. Andererseits wird im Roman an vielen Stellen von den Erfolgen und Misserfolgen Schniers berichtet, also eine rezeptionsästhetische Perspektive eingenommen. So feiert Hans Schnier seine ersten Erfolge im Umkreis der Familie. Anlässlich der regelmäßigen Zusammenkünfte seines Großvaters mit Geschäftsfreunden hatte er „kleine Nummern vorgeführt: Manager im Speisewagen. Und wie boshaft ich es auch zu machen versucht hatte, sie hatten sich totgelacht, ‚köstlich amüsiert‘“ (AeC 57). Applaus bekommt Hans Schnier also von denen, die er parodiert. Der Roman illustriert diesen Widerspruch zwischen Schniers Wirkungsabsicht, die auf eine Ablehnung bestimmter gesellschaftlicher Verhaltensweisen zielt, und der Aufnahme seiner Nummern, die als amüsante Unterhaltung verstanden werden. Eine Passage, in der Hans Schnier darüber nachdenkt, ob er, um seinen Hunger zu lindern, nicht zum Jour fixe seiner Mutter gehen solle, kann hier angeführt werden: Ich könnte hingehen, mir wenigstens vom Geld meiner Eltern die Taschen voll Zigaretten und Salzmandeln stecken, eine Tüte für Oliven mitnehmen, eine zweite für Käsegebäck, dann mit dem Hut rundgehen und für ein ‚notleidendes Mitglied der Familie‘ sammeln. […] Alle bei meiner Mutter versammelten Idioten würden mein Auftreten für einen herrlichen Witz erklären […] und keiner würde wissen, daß es todernst war. Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, daß ein Clown melancholisch sein muß, um ein guter Clown zu sein, aber daß für ihn die Melancholie eine toternste Sache ist, darauf kommen sie nicht. (AeC 180 f.)
Bölls Clown beklagt sich darüber, dass es allein der Unterhaltungsaspekt ist, unter dem seine Kunst wahrgenommen wird, und das Publikum sich gegen Kritik immunisiert habe. Bernd Balzer spricht aus diesem Grund davon, dass dies auch als eine Absage Bölls an die Satire verstanden werden muss, und verweist darauf, dass Böll, der insbesondere durch seine satirischen Erzählungen bekannt geworden ist, von 1957 bis 1975 keine Satiren mehr veröffentlichte.⁸⁵ Balzer macht ferner darauf aufmerksam, dass Hans Schniers Abwendung von der Satire nicht nur der verfehlten kritischen Wirkung geschuldet ist, sondern auch im Zusammenhang mit dessen Mitleidsempfinden steht. Einen Beleg für diese These bietet die Absetzung
Vgl. Bernd Balzer: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1995, S. 68.
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einer erfolgreichen Satire durch Hans Schnier, der nach seiner Nummer „Der General“ von einer Generalswitwe auf ihren verstorbenen Mann aufmerksam gemacht wurde, der sich anständig verhalten habe. Die Absetzung der Nummer resultiert also nicht aus politischen Überlegungen, sondern aus der Skepsis gegenüber der Generalisierung, die der Satire eigen ist: „Ich konnte die Nummer nicht mehr vorführen, weil ich immer an die alte kleine Frau denken mußte, die sich wahrscheinlich, von allen verlacht und verspottet, kümmerlich durchschlug.“ (AeC 209) Diese Mitleidsfähigkeit zeichnet Hans Schnier und auch seine Freundin Marie, wie schon erwähnt, aus. Der Roman erklärt mit dieser und anderen Stellen Mitleid zu einem zentralen Wert. So gründet die Unterstützung Hans Schniers und Marie Derkums durch Hans Behlen, den einzig positiv charakterisierten Katholiken des Romans, auf der Fähigkeit, sein Herz nicht zu verschließen. Auch als sich Marie nach einer Fehlgeburt Sorgen um das Seelenheil des tot geborenen Kindes macht, hilft dieser, indem er sich gegen die Theologen wendet und zu bedenken gibt, dass die Barmherzigkeit Gottes größer sei als „das mehr juristische Denken der Theologen“ (AeC 186). In dieser Episode formuliert Marie dann auch die Frage, aus der sich die theologische Dimension des Buchs speist, nämlich „wo denn die Diagonale zwischen Gesetz und Barmherzigkeit verlaufe“ (AeC 186). Auch Hans Schnier hat Mitleid mit Menschen wie Kinkel, die eigentlich eher zu seinen Kontrahenten zu zählen sind, oder mit einem christlichen Funktionär,vor dem ihm ansonsten graust.⁸⁶ Ähnliches widerfährt Hans Schnier, als sein Vater seiner asketischen Ideologie erliegt und ihm nur 200 DM für seinen Lebensunterhalt anbietet, dann aber über den Gesichtsausdruck des Sohnes, der dessen Reaktion verrät, selbst erschrocken ist: „Meine erste Regung war immer noch nicht Wut oder Verbitterung oder gar Haß; meine leeren Augen füllten sich langsam mit Mitleid“ (AeC 156). Die Abwesenheit von Mitleid wird hingegen im Roman klar negativ gekennzeichnet, wenn es etwa hinsichtlich des christlichen Kulturfunktionärs Kosterts heißt: „[U]m Mitleid mit mir zu bekommen, war er zu klein“ (AeC 15). Bernd Balzer sieht in Ansichten eines Clowns die Wende in Bölls Poetik antizipiert – weg von der Satire, hin zu einer ‚Ästhetik des Humanen‘.⁸⁷ In der Enttäuschung des Clowns über die gesellschaftlich wirkungslose Satire, spiegele sich ein Umdenken des Autors, wie es die Frankfurter Vorlesungen und die nachfolgenden poetologischen und literarischen Texte exemplifizierten. In Ansichten eines Clown, so muss Balzer gegenüber seinen Kritikern zugeben, bediene sich der Autor freilich noch selbst des literarischen Stilmittels der Satire, basiert die politische Kritik des Romans doch primär auf der kirchenkritischen Über-
Vgl. AeC, S. 89 u. 104. Vgl. Balzer: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns, S. 67– 73.
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zeichnung der katholischen Laien.⁸⁸ Balzer erkennt in Bölls literarischem Werk nach 1963 eine ‚Poetik des Humanen‘, die das Individuelle in den Mittelpunkt stelle und sich der generalisierenden Tendenz der Satire enthalte. Für die Inszenierung von Autorschaft in Ansichten eines Clowns muss jedoch festgehalten werden, dass die Kritik an der Satire nicht zu einer neuen poetologischen Positionierung führt. Der Roman vermittelt durch den Clown kein alternatives Programm politischer Autorschaft. Vielmehr zeigt er dezidiert auf, dass der Erregung von Mitleid, also theologisch gesprochen dem Appell an die Barmherzigkeit oder poetologisch gefasst der Hoffnung auf Katharsis, eine ebenso geringe gesellschaftliche Wirkung zugesprochen werden kann wie der Satire. Denn Hans Schnier spekuliert vergeblich auf das Mitleid sowohl in dem Gespräch mit seinem Vater als auch mit seinem Plan, sich vor den Hauptbahnhof zu setzen und zu betteln. Einige Stellen suggerieren zudem, dass alle gescheiterten Versuche, Marie wiederzugewinnen, auf Barmherzigkeit spekulierten. Von größter Bedeutung ist hier eine Reflexion Hans Schniers, die auf seinen Bühnenunfall Bezug nimmt, der „mitleidiges Geraune“ (AeC 13) erzeugt hatte: „[I]ch hatte so viel Mitleid gar nicht verdient, […] nicht einmal das Humpeln war ganz der Verletzung angemessen, obwohl ich tatsächlich verletzt war. Ich wollte Marie zurückhaben und hatte angefangen zu kämpfen, auf meine Weise“ (AeC 39). Bölls Roman beschreibt also nicht nur die Fallstricke der Satire, sondern zeigt auch, wie der Versuch, Mitleid zu erregen, ebenfalls scheitert. Anstatt in Ansichten eines Clowns eine positive poetische Positionierung zu entdecken, erscheint es daher adäquater, eine Problematisierung von künstlerischen Strategien zu erkennen, die auf gesellschaftliche Wirkung abzielen. In diesem Sinne muss Ansichten eines Clowns auch als eine Antwort auf Billard um halb zehn gelesen werden. Während Böll im Jahr 1959 mit Robert Fähmel eine Figur schafft, die sich den Hölderlin-Vers „Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest“ zum Wahlspruch nimmt, konzipiert er 1963 mit Hans Schnier einen Protagonisten, der die Distanz zur Gesellschaft nicht aufrechterhalten kann und insbesondere emotional involviert ist. Ansichten eines Clowns, das kann abschließend konstatiert werden, erkundet die Spannung zwischen emotionalen Reaktionen auf die Gesellschaft und politischem Veränderungswillen. Die Figur des Clowns vereint passive und aktive Aspekte. Fühlt sich der Clown einerseits zur Gesellschaft zugehörig, so will er sich andererseits von ihr distanzieren. Die Spannungen, die aus diesem komplexen Verhältnis resultieren, charakterisieren Bölls Autorschaft, die sich keinesfalls souverän in Szene setzt. In der Figur des Clowns bezieht sich Böll zugleich auf die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten politischer Autorschaft.
Vgl. ebd., S. 72.
1 Autorschaft in Bölls Romanen zwischen 1951 und 1963
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1.5 Bölls Autorschaft im Roman Die vier analysierten Romane Bölls kennzeichnet eine scharfe Kritik an der katholischen Kirche. Böll zeichnet ein deutlich kontrastiertes Bild: Katholischen Priestern und Laien, die wahre Religion vermissen lassen, stehen wahrhaft Gläubige, die sozial und spirituell marginalisiert sind, entgegen. Alle vier Romane ergreifen Partei für letztere. Dabei zeigt sich schon in Und sagte kein einziges Wort ein erzähltechnisches Muster, das die kirchenkritische Wirkung aller vier Romane fundiert. Jochen Vogt hat es wie folgt beschrieben: Bezeichnend für diesen Roman – und für die Position des katholischen Erzählers Böll – ist nun, daß solche Kritik an der Amtskirche durch die zentralen Handlungsfiguren selbst artikuliert wird, daß der Erzähler sie durch eine ätzende satirische Zeichnung kirchlicher Amtsträger und Rituale verschärft.⁸⁹
Auch wenn Vogt hier terminologisch unsauber argumentiert, da er zwischen Autor und Erzähler nicht trennt, hat er der Sache nach völlig Recht. Bölls Romane kritisieren die Kirche aus der Figurenperspektive, entweder durch einen homodiegetischen Erzähler oder durch Fokalisierungsinstanzen. Diese aus einer subjektiven Sicht artikulierte Kritik rechtfertigt sich im Kontext der Romane durch das Verhalten der Kirchenfunktionäre oder Laien, die oftmals satirisch gezeichnet werden. Ferner wird die Kritik in den meisten Romanen leitmotivisch legitimiert oder durch Mottos objektiviert. Die religiöse Polarisierung auf der Figurenebene der Romane wird durch die genannten Verfahren eindeutig bewertet. Am deutlichsten wird dieser Dualismus wohl in Billard um halb zehn durch die leitmotivische Gegenüberstellung von Büffeln und Lämmern, die schon von der zeitgenössischen Rezeption aufgrund ihrer plakativen Natur kritisch betrachtet wurde. Bölls Simplifizierungen arbeiten einem rigiden moralischen Schematismus sicherlich zu, unterscheiden sich jedoch in Details auch von einem solchen. Selbst in Billard um halb zehn verleiht Böll überwiegend positiv gezeichneten Figuren wie Robert Fähmel problematische Charakterzüge und deutet positive Eigenschaften bei überwiegend negativ gestalteten Figuren wie Nettlinger an. Unterliegen diese Figuren auch keinem Determinismus, so lässt das religiös-politische Normenkorsett jedoch keine ambivalente Bewertung ihrer Handlungen zu. Darüber, was gut und was schlecht ist, lassen Bölls Romane keine Zweifel. Sie entwerfen eine klare Handlungsalternative, die eine ethische Entscheidungsbrisanz evoziert. Bölls Darstellungen religiöser und sozialer Ungerechtigkeit arbeiten dem Begriff des Gewissens zu, der ohne klare Normdifferenzen nicht denkbar wäre. Seine Jochen Vogt: Heinrich Böll. 2., neubearb. Aufl. München 1987, S. 50.
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Romane können ihre ethische Sprengkraft nur deshalb entfalten, weil sie ein Bild von Gesellschaft und Kirche entwerfen, das durch klare Polarisierung Entscheidungen erfordert. Theodor W. Adorno stellt in seinem Essay Engagement die Dialektik von Wirkungsabsicht und Gesellschaftsanalyse in den Mittelpunkt seiner Kritik an der politisch engagierten Literatur.⁹⁰ Insbesondere sein dort artikulierter Zweifel an Brechts epischem Theater, dem er vorwirft, die politische Analyse zu simplifizieren, um die mobilisierende Kraft des Theaters zu steigern, kann auf Böll übertragen werden. Auch in Bölls Werk zeichnet sich ein Zusammenhang ab, den Adorno bei Brecht beobachtet: Die deskriptive Schärfe leidet unter der normativen Überzeichnung. Allerdings habe ich schon im ersten Kapitel darauf hingewiesen, dass Adornos Schlussfolgerung, der zufolge die politische Wirkung unter der simplifizierenden Gesellschaftsanalyse leidet, nicht zwingend ist. Hier kommt nun ein weiterer Aspekt zum Vorschein, den Adorno nicht in Rechnung stellt, denn Böll nutzt die moralische Polarisierung zur Inszenierung von Autorschaft. Bölls Versuch, die Autorität zum moralischen Einspruch, die er der Kirche abspricht, für die eigene Autorschaft zu reklamieren, zeigte sich als durchaus erfolgreich. Bis heute wird von Böll als ‚Gewissen der Nation‘ gesprochen. Der Transfer von Autorität bedient sich eben jenes simplifizierenden Blicks, der Adorno Teil des gesellschaftlichen Verhängnisses war. Böll nimmt für seine Autorschaft in Anspruch, im Namen der sozial und spirituell Marginalisierten zu sprechen. In Und sagte kein einziges Wort artikuliert er die Anklage einer wahrhaft christlichen Minderheit gegen die allgemeine gesellschaftliche Zufriedenheit mit dem Wirtschaftswunder. In Haus ohne Hüter zeichnet er ein Negativbild, aus dem deutlich hervorgeht, wie eine christlich fundierte Autorschaft in Szene gesetzt werden muss, um inmitten einer restaurativen Gesellschaft politische Wirkung zu erzielen. In Billard um halb zehn wird schließlich das Leiden an den Zuständen der deutschen Gesellschaft zum Kriterium politischer Autorschaft und auch in Ansichten eines Clowns findet sich der richtige Standpunkt auf Seiten der Marginalisierten. Bölls Bezug auf die eigene Autorschaft wird im Laufe der hier untersuchten Dekade immer stärker. Während Autorschaft in Und sagte kein einziges Wort allein über den intertextuellen Bezug auf das Spiritual und die Passionsgeschichte Christi inszeniert wird, stehen in den drei anderen hier behandelten Romanen Künstlerfiguren im Zentrum. Als wichtigster Intertext erweist sich in allen vier Romanen die Bibel. Der Bezug auf das Leiden Christi, die Erzählung von David und Goliath, den in der Bibel formulierten pastoralen Auftrag und Bibelstellen, die Christus als Narr bezeichnen, nutzt Böll, um den ursprünglichen Geist des Christentums gegen die
Vgl. Adorno: Engagement.
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zeitgenössische Kirche und ein selbstzufriedenes katholisches Milieu auszuspielen. Die Bibel fungiert für Böll als autoritativer Text, der richtiges von falschem Handeln zu unterscheiden vermag. Religion und Politik werden in Bölls Prosa als zwei Größen begriffen, die das Soziale prägen. Die Favorisierung der Religion ist dabei unmissverständlich: Als Alternative zur herrschenden Politik soll die Religion eine andere Form von Vergesellschaftung ermöglichen. Hieraus erklären sich die zahlreichen Gemeinschaftskonzepte, die in den vier Romanen gefunden werden konnten. Vor dem Hintergrund einer Kirchenkritik, die aufzeigt, dass die Kirche keine andere Form der Sozialität ermöglichen kann, sich in ihr im Gegenteil gesellschaftliche Tendenzen wie Gewinnstreben, Unaufrichtigkeit und Gleichgültigkeit fortsetzen, setzt Bölls Prosa andere Formen christlicher Gemeinschaft. Am prominentesten ist hier sicherlich der Bezug auf den pastoralen Auftrag an die Kirche in Billard um halb zehn zu nennen. Bölls Roman zufolge ist die Kirche diesem Auftrag nicht nachgekommen, wohl aber Gruppen und Gemeinschaften, die im Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben. Nicht weniger wichtige Gemeinschaftskonzepte finden sich in der Mahlgemeinschaft einer Imbissbude in Und sagte kein einziges Wort, der familiären Gemeinschaft zwischen Onkel und Neffen in Haus ohne Hüter und dem Sakrament der Ehe, wie es in Ansichten eines Clowns verstanden wird. Autorschaft wird in allen Romanen als Repräsentationsinstanz dieser Gemeinschaften inszeniert. Sie befolgt und propagiert die Normen, die durch die Romane als gesellschaftlich marginalisiert beschrieben werden. Die Autorität des Marginalisierten ergibt sich dabei durch den konstitutiven Bezug auf die Bibel. Schlecht ist das Gewissen, das Bölls Autorschaft zu artikulieren beansprucht, weil die biblischen Normen, denen sich seine Prosa verpflichtet zeigt, in der Gegenwart keine Geltung besitzen.
2 Bölls essayistische Schriften und Reden in den 1950er-Jahren Die in Bölls Romanen artikulierte Kirchenkritik imaginiert eine authentische christliche Gemeinschaft, die gleichsam als Alternative zu einer Gesellschaft in Szene gesetzt wird, die eine normative Integration vermissen lässt. Statt von christlichen Werten sieht Böll die Gesellschaft beherrscht von Egoismus, Snobismus und mitleidsloser Härte. Vor diesem Hintergrund inszeniert sich der Autor als Gewissen, dessen Ruf eine andere Form von Vergemeinschaftung verspricht. Bölls Essays und Reden aus den 1950er-Jahren sind Bestandteil dieser Inszenierung von Autorschaft. Stärker als in den Romanen argumentiert Böll in diesen Texten begrifflich und interveniert direkt in gesellschaftliche Diskurse. Bölls Es-
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says, Rezensionen, offene Briefe und Reden erlauben es daher, sein facettenreiches Autorschaftsmodell weitergehend zu analysieren. Dies gilt sowohl für den Gewissensbegriff als auch für den erinnerungspolitischen Diskurs, an dem Böll sich beteiligt, um eine andere ‚Nation‘ zu fordern.
2.1 Opfer überall! – Die Religion und Bölls Erinnerungspraxis Nicht nur in Billard um halb zehn, sondern auch in Essays und Reden der 1950erJahre inszeniert Böll Autorschaft als eine Erinnerungspraxis. Seinen Zeitgenossen wirft er vor, die unmittelbare Vergangenheit im Wirtschaftswunderrausch vergessen zu haben. Er wolle daher erinnern! Doch an was erinnert Böll? Wie stellt er die Vergangenheit dar, die er dem Vergessen entreißen will? Einen Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen liefert Allan Bance, der in einem kurzen Aufsatz Böll vorhält, in seinem Roman Wo warst du, Adam? zwischen den Toten des Kriegs nicht adäquat zu differenzieren.⁹¹ In Bölls Kriegsdarstellung gebe es vor allem Opfer. Der Roman entziehe sich damit der Frage nach der Verantwortung für Krieg und Holocaust. Bances These beruht auf einem Vergleich der Romankapitel sechs und sieben, in denen Böll zwei Lastwagenfahrten parallelisiert. Einmal werden verstreute deutsche Truppen wieder zurück an die Front gebracht, um dort dem sicheren Tod entgegen zu gehen, das andere Mal Juden in ein Konzentrationslager transportiert. Diese strukturelle Parallele ignoriere, so Bance, dass Wehrmachtsangehörige nicht im gleichen Sinne Opfer seien wie Juden und vernachlässige damit die Schuld der Wehrmacht am Holocaust: In other words, the link that is stressed here is between the sufferings of deported Jews and conscripted Germans, while one which is not is that between the Wehrmacht’s criminal conduct in the East and the extermination of the Jews, a relationship which is historically firmly established. […] It was not so much lack of documentary evidence that led to the tendency to overlook the real ties between the army, the regime, and its Final Solution, as the lack of will to consider the evidence.⁹²
Böll, so der hier erhobene Vorwurf, perpetuiere den Mythos der sauberen Wehrmacht, obwohl es, wie Bance nicht verschweigt, in politischer Hinsicht eine der großen Stärken des Romans sei, die Konzentrationslager und die Deportation der
Vgl. Alan Bance: Heinrich Böll’s „Wo warst du, Adam?“. National Identity and German War Writing – Reunification as the Return of the Repressed? In: Forum for Modern Language Studies 29 (1993), H. 4, S. 311– 322. Ebd., S. 320.
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ungarischen Juden überhaupt zu benennen.⁹³ Im Folgenden soll den Gründen für das fragliche Vorgehen Bölls nachgegangen werden. Fehlte Böll schlicht der Wille, den Zusammenhang zwischen Wehrmacht und Holocaust anzuerkennen, wie Bance es suggeriert? Anstatt über die Intention des Autors zu spekulieren, soll im Folgenden der religiöse Diskurs, der für Bölls Kriegsdarstellungen wesentlich ist, analysiert werden. Infrage steht, ob es dieser überhaupt ermöglicht, zwischen den ‚Opfergruppen‘ zu differenzieren. Die wenig differenzierende Darstellung der Opfer des Kriegs in Wo warst du, Adam? ist kein Einzelfall in Bölls Werk der 1950er-Jahre. Als ein weiteres Beispiel kann seine im März 1956 anlässlich der Woche der Brüderlichkeit gehaltene Rede Wo ist dein Bruder? angeführt werden. Wie schon die Verwendung des Personalpronomens in der zweiten Person erkennen lässt, spricht Böll das Publikum in dieser Rede direkt an. Er fordert dazu auf, nicht mit dem Strom zu schwimmen und „in eine der bereitstehenden Schablonen zu fallen“, sondern eine „aktive Nachdenklichkeit“ zu praktizieren.⁹⁴ Erneut fokussiert Böll die Opfer des Kriegs: „Wo ist denn dein Bruder? Ist er ermordet worden in Auschwitz, gefallen oder erhängt als Deserteur, kurz bevor die fünfte Minute nach zwölf sich vollendete?“⁹⁵ Bölls Frage differenziert nicht zwischen in Auschwitz ermordeten Juden, hingerichteten Deserteuren und gefallenen Wehrmachts- sowie SS-Angehörigen. Dass dies kein Missgeschick ist, wird im Verlauf der Rede deutlich. Das Reihenbilden hat nicht nur in der Darstellung der Opfer, sondern auch der Überlebenden System: „Wir, wir überlebten: Wir entkamen mit knapper Not der Ermordung in den Vernichtungsstätten, entflohen kurz bevor die Falle sich schloß – oder retteten unser Leben von einem Tag zum anderen durch die letzten Kriegsmonate“.⁹⁶ Wie schon bei den verschiedenen Opfergruppen differenziert Böll auch mit Bezug auf die Überlebenden nicht. Robert E. Sackett resümiert seine Analyse von Bölls Rede Wo ist dein Bruder? daher wie folgt: [H]is speech fails to meet the challenge of understanding why large numbers of Germans cannot be called ‚victims‘ in the way that Jews or Russian prisoners of war can, of seeing
Tatsächlich war Böll einer der Ersten, die an das Schicksal der europäischen Juden erinnerten. Nicht nur in Wo warst du, Adam?, sondern auch in anderen Schriften bezieht sich Böll auf den Holocaust. Die 1947 geschriebene und einer Zeitschrift zur Publikation angebotene Erzählung Todesursache: Hakennase behandelt zudem Massenerschießungen durch die Wehrmacht. Vgl. Robert E. Sackett: Germans, Guilt, and the Second Threshold of Heinrich Böll: A Study of Three Non-Fictional Works. In: The Modern Language Review 97 (2002), H. 2, S. 336 – 352, hier S. 345. Heinrich Böll: Wo ist dein Bruder? In: Böll: Werke. 1956 – 1959. Hg. von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 16 – 28, hier S. 16. Ebd. Ebd., S. 21.
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that between 1933 and 1945 most Germans were not targets of the Reich, but enjoyed an immense privilege compared to non-Germans […].⁹⁷
Sicherlich liegt Sackett hier richtig. Doch wie erklärt sich Bölls Scheitern an der Herausforderung? Während der amerikanische Historiker darauf aufmerksam macht, dass Bölls Texte auf eigener Erfahrung basieren und damit keine jüdische Perspektive einnehmen könnten, liefert die Rede auch andere Anhaltspunkte. Zuerst ist zu erwähnen, dass Böll zwar Trauer um die Toten einfordert, von Politik aber nichts wissen will. Gegen politisches Kalkül und parteipolitische Ranküne schreibt er mit Vehemenz an: „Im nackten Schweigen sollten wir uns versammeln, und niemand sollte sich anmaßen dürfen, die Toten in seine Taktik einzubeziehen“.⁹⁸ Ein Grund für Bölls Skepsis gegenüber der Politik ist seine Insistenz auf der Singularität des Todes. Die monströsen Zahlen der Geschichtsbücher, die das Ausmaß des Völkermords bemessen wollen, abstrahierten vom einzelnen Tod genauso wie die politische Suche nach Schuldigen, die den einzelnen Trauerfall mithilfe des politischen Weltbilds kompensiere. Aber auch diese Begründung scheint für Böll noch nicht bindend, denn er fundiert seine Ablehnung der Politik schließlich theologisch: Jeder Tod hat seine Hoheit, jeder Tote seine Würde, die Ehre eines Toten ist unantastbar, die des ermordeten jungen Juden aus Lemberg, die des gleichaltrigen jungen SS-Mannes, der irregeführt war. Wir wissen nichts, nichts wissen wir, wir sind nicht befugt über die Toten zu richten, ausgenommen die, die ihren Namen unbedingt in das einschreiben wollten, was sie das Buch der Geschichte nannten. Wir haben ihre Reden, ihre Briefe, ihre Bücher.⁹⁹
Lässt man den diese Passage prägenden Widerspruch, dass Böll erst jedem Toten seine Ehre zusichert, dann die Hauptverantwortlichen des Naziregimes aber doch zu richten gestattet, auch unberücksichtigt, so muss doch hervorgehoben werden, dass Böll hier die kreatürliche Solidarität höher schätzt als politische Kritik. Warum aus der Unkenntnis der Gründe, die einen gewöhnlichen Wehrmachtssoldaten oder SS-Offizier dazu veranlassten, sich aktiv am Holocaust zu beteiligen, die Ablehnung seiner moralischen Verurteilung folgen soll, bleibt entweder unverständlich oder muss theologisch interpretiert werden. Denn die Aussage, dass wir nichts wissen, kann auf den ersten Korintherbrief bezogen werden, in dem vom Stückwerk unseres Wissens gesprochen und die Liebe dem Wissen entgegenge-
Sackett: Germans, Guilt, and the Second Threshold of Heinrich Böll, S. 346. Böll: Wo ist dein Bruder?, S. 23. Ebd.
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halten wird. Festgehalten werden kann insofern, dass Böll hier keine politische Nachdenklichkeit, sondern ein religiöses Verhalten einfordert.¹⁰⁰ Bölls Skepsis gegenüber einer politischen Kategorisierung der Toten des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts findet sich auch in anderen Schriften des Autors. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang seine Rede Heldengedenktag zum Volkstrauertag 1958, lässt dieses Dokument doch ebenfalls erkennen, warum die Inkongruenz von Religion und Politik in Bölls Werk von der Forschung bisher so wenig wahrgenommen wurde. Die Rede kann als ein Paradebeispiel für die starke Kontextabhängigkeit politischer Äußerungen gelten. Böll vertritt dort die gleiche Position wie in seiner Rede zur Woche der Brüderlichkeit: „Die Toten gehören nicht mehr den Staaten und Parteien. Ihr Schweigen läßt sich nicht zu Parolen ausdeuten“.¹⁰¹ Der Kontext jedoch, in den Böll diese These stellt, verlieh ihr politische Brisanz. Böll griff in seiner Rede die bundesrepublikanische Erinnerungspraxis der 50er-Jahre an und mahnte, dass die Gefallenen des Kriegs nicht als Helden verehrt werden dürften. Jedoch versperrt die politische Interpretation der Rede die Einsicht, dass Böll auch in dieser Rede theologisch argumentiert: „Niemals wohl ist die Majestät des Todes so gering geschätzt worden.“¹⁰² Böll spricht sich dafür aus, dem Leiden der gefallenen Soldaten und ihrer Hinterbliebenen Ausdruck zu verleihen. Für ihn sind die Gefallenen aus folgenden Gründen keine Helden: Das Wort Held setzt ein anderes Wort voraus: Aktion. Helden handeln, opfern sich auf [sic] eigenen Entschluß für eine Idee, eine Sache, sie werden hingerichtet oder ermordet, sterben unter den Schüssen eines Pelotons und rufen der Nachwelt zu: Freiheit. […] Die Toten, deren heute gedacht wird, sind nicht in diesem Sinne Helden gewesen; die meisten vollzogen nicht Aktion, sondern Passion; sie erlitten den Tod […].¹⁰³
Deutlich fordern diese Zeilen eine andere Form der Erinnerung: Die Gefallenen sollen nicht als Helden, die sich aktiv und bewusst für eine Sache opfern (sacrificium), sondern als Opfer der Gewalt (victima) betrauert werden. Dass Böll von
Michael Serrer, der Bölls Verhältnis zum Holocaust untersucht hat, bezieht sich ebenfalls kritisch auf die fehlende Differenzierung zwischen den Opfern des Kriegs. Er analysiert die theologische Fundierung dieser Haltung Bölls jedoch nicht. Vgl. Michael Serrer: Das Sakrament des Büffels. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus im Frühwerk Heinrich Bölls. In: Stephan Braese (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt am Main 1998, S. 213 – 227, hier S. 217. Heinrich Böll: Heldengedenktag. In: Böll: Werke. 1956 – 1959. Hg. von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 514– 517, hier S. 515. Ebd., S. 516. Ebd., S. 515.
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Passion spricht, spielt auf einen religiösen Deutungshorizont an. Seine Rede Heldengedenktag verbindet diese fundamentale Betrachtung des Todes mit der Gewissensthematik, die für Bölls Inszenierung von Autorschaft von großer Bedeutung ist. Die Verknüpfung der Argumentationsstränge vollzieht sich auf zwei Ebenen. Böll richtet erstens die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die rein private Dimension des Todes und spricht damit eine irreduzibel individuelle Erfahrung an, die auch das Gewissen charakterisiert. Schon im ersten Satz ruft er dazu auf, sich zu hüten, „das befohlene Pathos mit jenem Schmerz zu verwechseln, der sich niemals öffentlich dartut“.¹⁰⁴ Gemeint ist hier nicht nur, dass sich hinter jedem Namen auf dem ‚Denkmal für die Gefallenen des Kriegs‘, das sich in fast jedem deutschen Dorf findet, ein individuelles Schicksal verbirgt, sondern dass der Tod sowohl für die Hinterbliebenen als auch für den Sterbenden eine existentielle Erfahrung von Schmerz bedeutet, die sprachlich nicht eingeholt werden kann. Daher empfiehlt Böll das Schweigen als einzig adäquate Reaktion auf die Vergänglichkeit. Seine Ablehnung der politischen Instrumentalisierung des Todes richtet sich aus prinzipiellen Gründen gegen politische Narrative, weil diese die fundamentale Dimension des Todes überdeckten: „Trauer ist eine unbekannte Größe, Schmerz hat keinen Kurswert“.¹⁰⁵ Hier kommt Böll zweitens auf das individuelle Gewissen zu sprechen, dessen Nichtexistenz er bei vielen Zeitgenossen ausmacht: Die fürchterliche Apparatur der Meinungsmaschinen wird auf die Feiern gerichtet: Presse, Funk, Film; Musik erklingt, die amtliche Träne, das bewegte Gesicht, die zuckende Hand, sie werden dem Zeitgenossen gezeigt, der im Klubsessel sitzt, am Bildschirm dem Trauerakt folgt; er fühlt sich zur Rührung verpflichtet und legt für einen Augenblick die Zigarre aus der Hand, nur für einen Augenblick, er, der mit größerer Schuld beladen ist als mit politischem Irrtum: mit Gleichgültigkeit.¹⁰⁶
Eine solche Passage ist typisch für Bölls essayistisches Werk, vermeidet sie doch begriffliche Argumente und arbeitet stattdessen leitmotivisch und szenisch. Die hier skizzierte Situation entwirft den Zeitgenossen als Snob: im Klubsessel sitzend, eine Zigarre in der Hand, dem Fernseher nur halb zugewandt. Diese Illustration der Gleichgültigkeit setzt Böll gegen die leitmotivisch wiederholte Formulierung von der „Majestät des Todes“.¹⁰⁷ Die weltliche Orientierung erklärt die Blindheit für religiöse und existentielle Fragen. Indem Böll die Medien als Sphäre des Uneigentlichen charakterisiert, arbeitet er zudem mit einer kulturkritischen
Ebd., S. 514. Ebd., S. 516. Ebd., S. 515. Ebd.
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Rhetorik, die bis in die 1920er-Jahre zurückgeht und die auch in seinem Roman Haus ohne Hüter von Bedeutung ist.¹⁰⁸ Die religiöse Bedeutung des Todes wird von Böll gegen die politische und gesellschaftliche Sphäre ausgespielt. Weil Schmerz und Trauer allein adäquat auf den Tod reagieren, will Böll der Politik das Gedenken entreißen. Auch hier dominiert die Religion über die Politik.
2.2 Schuldanerkennung als Beichte Die Religion prägte nicht nur Bölls Geschichtsdarstellung entscheidend, sondern auch sein Verhältnis zur historischen Schuld. Böll selbst wies auf die Bedeutung der christlichen Religion für sein Politikverständnis explizit hin. Die 1966 bei Kiepenheuer & Witsch herausgegebenen Frankfurter Vorlesungen sind in der Forschung stark beachtet worden.¹⁰⁹ Wenig Aufmerksamkeit wurde dabei allerdings Bölls dort erläutertem Politikbegriff geschenkt. Vor dem Hintergrund der soeben analysierten theologisch geprägten Opferdarstellungen des Autors lesen sich die folgenden Ausführungen wie ein Resümee, in dem im Rückblick auf die unmittelbare Nachkriegszeit die Ziele von Bölls Autorschaft Kontur gewinnen: Es laufen zu viele Mörder frei und frech in diesem Land umher, viele, denen man nie einen Mord wird nachweisen können. Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen. Vor diesem Hintergrund bildete sich etwas, das man inzwischen […] deutsche Nachkriegsliteratur nennen kann. Gebunden also an die Zeit und Zeitgenossenschaft, doch ohne Verbündete […]. ¹¹⁰
Böll skizziert hier sowohl die politische Isolation der engagierten Autorinnen und Autoren als auch die politische Zielvorstellung seiner Autorschaft. Die theologischen Implikationen seines Politikbegriffs sind dabei deutlich formuliert: Schuld, Reue und Buße, allesamt theologische Konzepte, seien entgegen seinen Hoffnungen und Bemühungen nicht zum Fundament der Politik geworden, sondern – so kann ergänzt
Die Parallele zu Heideggers Diskussion des Gewissens in Sein und Zeit (1927) ist auffällig, denn auch Heidegger setzt das Gewissen und die ethische Dimension des Daseins, die allein die Existenz ganz zu erschließen vermag,von den Massenmedien, dem ‚Man‘ und ‚Gerede‘ ab. In Haus ohne Hüter thematisiert Böll den Einfluss des Kinos auf alltägliches Verhalten und erzählt von dem Versuch seiner Protagonisten, ihre Authentizität nicht zu verlieren. Vgl.Vogt: Heinrich Böll, S. 92– 97. Als Interpretationshorizont für Bölls Ansichten eines Clowns dienen die Vorlesungen: Karl-Heinz Götze: Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“. München 1985, S. 67– 78; Balzer: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns. Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. In: Böll: Werke. 1963 – 1965. Hg.von Jochen Schubert. (Kölner Ausgabe. Bd. 14.) Köln 2002, S. 139 – 201, hier S. 139 f.
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werden – stecken das Feld des Politischen allein in seiner Prosa ab. Böll bemängelt einen gesellschaftlichen Zustand, in dem „das Politische nur die Oberfläche ist, die oberste, dünnste und auch verletzlichste von vielen Schichten.“¹¹¹ Es ist die Spannung zwischen diesem theologisch grundierten Politikverständnis und der pragmatisch orientierten Bonner Politik, durch die Bölls Autorschaft generiert wird. Böll inszeniert sich in den Frankfurter Vorlesungen als einen Autor, der den moralischen Imperativen der unmittelbaren Nachkriegszeit verpflichtet ist, und trauert um die vergebene Möglichkeit eines gesellschaftlichen Neuanfangs. Böll strickt dabei am Mythos von der ‚Stunde Null‘ mit. Gegen seine als restaurativ verstandene Zeit setzt er die Zeitspanne zwischen 1945 und 1950, in der es ihm zufolge eine „einmalige Situation der Gleichheit gab, daß, a posteriori betrachtet, alle Bewohner dieses Landes besitzlos waren“.¹¹² Aus diesem Verständnis der ‚Stunde Null‘ entwickelt Böll ein theologisch inspiriertes Gesellschaftsverständnis, in dem das Apolitische zum höchst Politischen wird. Auf das Ende des Kriegs und des Nationalsozialismus rückblickend konstatiert er: Wenn jemand um Brot bat, fragte man ihn nicht, ob er ein ehemaliger Nazi war oder Überlebender eines Lagers; es sah so aus, als wäre Deutschland ausersehen, unpolitisch zu bleiben […].¹¹³
Böll steht in diesen Zeilen einer zivilisationskritischen Kulturkritik durchaus nahe und spielt Gemeinschaft gegen Gesellschaft aus. Der Geist der Nächstenliebe, den Böll in seinen literarischen Texten mit Bibelstellen beschwört, wird in dieser Passage einer historischen Situation zugesprochen und so ein Neuanfang imaginiert. Das Pathos des Unpolitischen zehrt von der Imagination einer Gemeinschaft, die es wohl nie gegeben hat und die jeder gesellschaftlichen Neuordnung zum Opfer fallen musste. Die Absolutheit der gemeinschaftlichen Identifizierung widerspricht einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Es zeigt sich somit in den Frankfurter Vorlesungen, dass es der historische Moment des Zusammenbruchs des Nationalsozialismus ist, der für Böll die Aktualität der theologischen Gleichheitsvorstellung verbürgt. Dieser Zusammenhang prägt die Inszenierung von Autorschaft in Bölls Werk und erklärt die Imagination von Gemeinschaft, wie sie in Bölls Romanen bereits analysiert worden ist. Damit kann auch die von Peter Demetz 1970 aufgeworfene Frage, ob Bölls „moralisches Engagement für das Absolute nicht eigentlich einen fundamentalen Ekel an der unausweichlichen Politik der kleinen, täglichen, pragmatischen Schritte
Ebd., S. 167. Ebd., S. 184. Ebd.
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verbirgt“,¹¹⁴ beantwortet werden. Auch wenn nicht über die Gefühle des Autors spekuliert werden soll, so erklärt Bölls religiöse Perspektive auf gesellschaftliche und politische Probleme doch, warum es seinem Werk und seinen Autorschaftsinszenierungen an politischen Differenzierungen mangelt. Die religiösen Narrative und Begriffe, mit denen Böll seine Autorschaft auch in seinen Essays und Reden inszeniert, machen Böll für die pragmatische Dimension des Politischen blind. Die mit einer binären Logik operierenden Inklusions- und Exklusionsmechanismen von Gemeinschaften widersprechen jeglicher Ambiguität und kennen kein pragmatisches Sowohl-als-auch. Die zentrale Funktion, die theologischen Konzepten in Bölls Politikverständnis zukommt, verdeutlicht auch der 1960 publizierte Text Hierzulande. Er ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil Böll in ihm die erinnerungspolitische Dimension seiner Autorschaft herausarbeitet und den Schuldbegriff auf die Gegenwart bezieht. In Hierzulande kritisiert er die bundesrepublikanische Wirklichkeit vehement. Die Währungsreform wird als Enteignung kleiner Sparer und Bevorzugung der Grund- und Aktienbesitzer angeprangert. Es dominiert eine religiöse Perspektive: „Die Umkehrung der wunderbaren Brotvermehrung ist der wunderbare Brotraub.“¹¹⁵ Kritisiert Böll in Hierzulande in diesem Sinne auch die Politik von Regierung und Besatzungsmächten sowie den Reichtum der großen Konzerne, so richtet er sich noch schärfer gegen die Bevölkerung. Seinen Zeitgenossen wirft er vor, besinnungslos zu arbeiten, sich dem Konsum hinzugeben und sich gegen politische und ökonomische Ungerechtigkeiten nicht zu wehren sowie die jüngste Vergangenheit erfolgreich zu verdrängen. Diese Abrechnung mit Deutschland und den Deutschen wird in dem Text, der zwischen Essay und Erzählung changiert, erzählerisch vermittelt. Denn die Kritik äußert nicht Böll, sondern ein Ich-Erzähler, der von einer missglückten Kommunikation mit einem jüdischen Emigranten berichtet. Die Vehemenz der Kritik steht dabei in einem ursächlichen Verhältnis zum Scheitern des Gesprächs. Das Gespräch verstummt,weil der Besucher auf eine moralische Besserung derer hofft, die ihn vertrieben haben, der Ich-Erzähler diese Hoffnung aber brüsk als unrealistisch zurückweist: Eine Frage des Besuchers: ‚Was unterscheidet die Menschen hier eigentlich von denen im Jahre 1933?‘ hatte ich mit einem ‚Natürlich nichts‘ beantwortet, dann eine winzige Korrektur hinzugefügt: ‚Es geht ihnen wirtschaftlich besser als denen damals‘.¹¹⁶
Demetz: Die süße Anarchie, S. 235. Heinrich Böll: Hierzulande. In: Böll: Werke. 1959 – 1963. Hg. von Robert C. Conard. (Kölner Ausgabe. Bd. 12.) Köln 2008, S. 78 – 87, hier S. 87. Ebd., S. 78.
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Böll macht in Hierzulande nicht nur auf den Irrglauben historischer Periodisierungen aufmerksam, die Brüche in der Mentalität der Bevölkerung voraussetzen, sondern deutet durch den Zusatz des Ich-Erzählers zudem an, dass die Hoffnung des Emigranten auf eine Aufarbeitung der Vergangenheit durch den starken Gegenwartsbezug seiner Zeitgenossen enttäuscht werde. Anstatt das eigene Verhalten während des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, konzentrierten diese sich auf den Wiederaufbau. Der Ich-Erzähler vermag das volle Ausmaß seiner Wahrheiten dem Besucher nicht anzuvertrauen. Die Gesellschaftskritik des Essays entfaltet sich daher überwiegend im Inneren Monolog und das Gespräch verstummt.Womit die „Erinnerung verschüttet“,¹¹⁷ die „Trauer getötet“ worden ist,¹¹⁸ fragt sich der Ich-Erzähler, seinem Gesprächspartner begegnet er jedoch mit Schweigen. Bölls Erzähler schweigt, weil er einer neuen, noch frischen Schuld auf der Spur ist: Verständlich, so der Ich-Erzähler, sei der Eintritt in die Nazipartei im Jahr 1936 gewesen,wenn er aus der Angst resultierte, die eigene Familie nicht mehr ernähren zu können. Die zeitgenössische Angst vor dem sinkenden Umsatz sei vergleichsweise banal.¹¹⁹ Durch solche Reflexionen verschiebt der Text den Fokus: Die Schuld, von der er spricht, wird nicht mehr historisch, sondern zeitgenössisch verortet: „Wenn es Ansätze von Kollektivschuld in diesem Land gäbe, dann von dem Augenblick an, wo mit der ‚Währungsreform‘ der Ausverkauf an Schmerz, Trauer und Erinnerung anfing.“¹²⁰ Die ursprüngliche Schuld an Krieg und Holocaust gewinnt für Böll durch die Nichtauseinandersetzung mit derselben an moralischer Brisanz.Vermisst wird das Schuldanerkenntnis der Zeitgenossen, das die Voraussetzung für jegliche Form der Vergangenheitsbewältigung sei. Böll begreift das Verhältnis seiner Gegenwart zur nationalsozialistischen Vergangenheit analog zum Verhältnis von Sünde und Beichte. Für die Absolution sei auch auf kollektiver Ebene Gewissenserforschung und Reue notwendig. Böll überträgt hier also eine religiöse Praxis auf die Politik. Diese Dominanz einer religiösen Sichtweise erklärt auch, warum politische Identifikationen im Essay eine untergeordnete Rolle spielen. Es dominiert ein kulturkritischer Blick auf die Gesellschaft, deren Konsumkultur, Funktionalisierung religiöser Embleme und Karrierismus gegeißelt wird. Hierzulande ist kein Einzelfall: Auch die Rede Wo ist dein Bruder?, in der Böll die Kollektivschuld ebenfalls neu datiert,¹²¹ operiert mit einer kultur-
Ebd., S. 84. Ebd. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 87. „Unsere Kollektivschuld nahmen wir nicht am 30. Januar 1933 auf, nicht an einem der Daten bis zum 8. Mai 1945, eine Kollektivschuld gibt es erst seit den Tagen der Währungsreform, seit
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kritischen Rhetorik. Böll diagnostiziert auch dort seinen Zeitgenossen snobistische Gleichgültigkeit und verortet die Schuld in der Gegenwart: „Sind unsere Brüder gefallen, unsere Nachbarn ermordet worden, sind ganze Völker, ganze Generationen ausgerottet worden, damit wir eine Gesellschaft von Snobs werden, die sich in Sicherheit wiegen, es gehe uns allen gut genug oder zu gut?“¹²² Diese religiös konnotierte Rhetorik ignoriert politische Affiliationen, um gegen die Verlockungen des Wirtschaftswunders den ‚Ruf des Gewissens‘ in Szene zu setzen. Böll wendet sich dabei an ein nationales Publikum. Überaus deutlich wird dies im letzten Satz von Hierzulande, mit dem der Erzähler seine missglückte Kommunikation mit dem jüdischen Emigranten nicht nur erklärt, sondern auch zu rechtfertigen trachtet. Die Schuld, die der Emigrant aus der Ferne für alt hält, sei in Wahrheit, so der Erzähler, „erst so jung […], daß nur wir Deutschen selber von ihr wissen können.“¹²³ Bölls Essay Hierzulande sollte deswegen aber gerade nicht als Ausdruck einer Gesprächsverweigerung des Autors mit jüdischen Emigranten verstanden werden, sondern als ein literarisches Experiment, das die narrative Form dazu nutzt, das Ausmaß der deutschen Schuld bis in die Gegenwart hinein auszuleuchten.¹²⁴ Dass die Schuld nicht lediglich ein historisches Phänomen sei, sondern die deutsche Bevölkerung immer noch schuldig werde, muss das Wissen des Emigranten übersteigen und generiert Scham beim Ich-Erzähler; die These will aber zugleich die deutsche Bevölkerung in die Pflicht nehmen, gegen die Auslöschung der Erinnerung einzuschreiten. Das Scheitern der Kommunikation zwischen Ich-Erzähler und Emigrant wird durch die narrative Struktur des Textes hervorgehoben und damit problematisiert. Die letzten Absätze des Textes kommentieren diesen Umstand durch die Klage darüber, dass kollektive Schuldzuschreibungen dem Einzelnen nicht gerecht werden können, sondern allein dessen Engagement, die Vergangenheit aufzuarbeiten und über die eigene Schuld zu sprechen, ihn moralisch charakterisieren könne. Die Neudatierung der Schuldfrage ermöglicht es Böll, die Aufarbeitung der Vergangenheit als einen Prozess der
diesen Tagen stehen die Signale auf Grün für die Starken, immer auf Rot für die Schwachen, die den Dschungel nie durchqueren können.“ Böll: Wo ist dein Bruder?, S. 27. Ebd., S. 25. Böll: Hierzulande, S. 87. Robert E. Sackett moniert, dass der Erzähler nicht zu der Befindlichkeit seines Gastes zurückfindet und schlägt vor, psychoanalytische Konzepte zu verwenden, um „Böll’s withdrawal from his Jewish guest and his inability to concentrate on non-Germans as victims of the Reich“ zu erklären. Der amerikanische Historiker liest den Text als Gedächtnisprotokoll des Autors und unterscheidet nicht zwischen Autor und Erzähler. Beachtet man hingegen die narrative Struktur von Hierzulande, dann erkennt man, dass der Text sowohl das Verhalten des Ich-Erzählers als auch die von ihm vertretenen Positionen in Szene setzt und damit einer kritischen Überprüfung zugänglich macht. Sackett: Germans, Guilt, and the Second Threshold of Heinrich Böll, S. 345.
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Schuldanerkennung in Szene zu setzen, als dessen Modell die Beichte fungiert. Erst wenn der Zeitgenosse sich dem vollen Ausmaß seiner Schuld bewusst wird, auch sein gegenwärtiges Verhalten kritisch in den Blick nimmt, könne ein wirklicher Dialog mit den Überlebenden des Holocaust beginnen. Autorschaft übernimmt in diesem Szenario die Aufgabe, das Gewissen der Zeitgenossen zu wecken.
2.3 Realismus als religiöse Aufgabe Die christliche Religion prägt Bölls Autorschaft nicht nur vermittelt über seine Erinnerungspraxis und sein politisches Verständnis der Gegenwart. Vielmehr wirkt sie auch auf seine literaturprogrammatischen Äußerungen. ‚Realismus‘ kann bei Böll weder als Begriff für eine Epoche noch als lediglich ästhetisches Konzept verstanden werden. Böll nutzt den Begriff vielmehr, um seine Autorschaft ethisch und religiös zu bestimmen. Sein wohl bekanntester poetologischer Text wurde 1952 in der Zeitschrift Die Literatur, einem Organ der Gruppe 47, veröffentlicht. Schon der Titel Bekenntnis zur Trümmerliteratur deutet an, dass es sich um eine Positionierung im literarischen Feld handelt, und tatsächlich verkündet Böll in dem Text sein ‚realistisches‘ Credo. Wenig Beachtung hat bis heute die Rhetorik dieser Streitschrift erfahren. Dies verwundert umso mehr, als ja schon im Titel ein ‚Bekenntnis‘ angekündigt wird. In zweifacher Hinsicht ist dies von Belang. Erstens knüpft Böll an die Tradition autobiografischen Schreibens an, für die Augustinus’ Confessiones prägend waren, entwickelt er doch seine Position als Autor aus der eigenen, subjektiven Erfahrung. Durch diese für einen poetologischen Text ungewöhnliche Perspektive weitet Böll den Themenkreis aus, der für die Bestimmung seines Autorschaftsmodells von Bedeutung ist. Zweitens verkündet Böll einen moralischen Imperativ, der aus der Reflexion schriftstellerischer Schuld entsteht. Er überschreitet den Bereich der Ästhetik also gleich in zweifacher Hinsicht. Von Schuld spricht Böll dabei mit Bezug auf die höfische Kunst vor der Französischen Revolution, der er vorwirft, in die idyllische Abgeschiedenheit geflohen zu sein: „Die Schriftsteller, die sich schuldig daran machten, hatten tapfer blinde Kuh gespielt.“¹²⁵ Böll verknüpft hier die visuelle Metaphorik, die traditionell zur Rhetorik des Realismus gehört, mit einem ethischen Anliegen. Das Ende des Essays verstärkt diesen Zusammenhang, denn Böll grenzt dort den guten vom schlechten Schriftsteller ab, indem er auf das „Buch eines Mannes, dessen Augen nichts gesehen hatten“,¹²⁶ zu sprechen kommt. Gemeint ist Adolf Hitlers
Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur, S. 59. Ebd., S. 61.
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Machwerk Mein Kampf. Bölls visuelle Rhetorik bezieht sich allerdings nicht allein auf den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren: Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen.¹²⁷
Schon die Anspielung auf die Jesus zugeschriebene Aussage „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (Mk 4,9) macht deutlich, dass Bölls Bezug auf das Sinnliche mehrdeutig ist, denn Jesus kommentiert seine Aussage mit dem Hinweis, dass Gleichnisse einen verborgenen Sinn enthalten, der das Auditive und Visuelle übersteige.¹²⁸ Der Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten kehrt im obigen Zitat wieder, wenn Böll hervorhebt, dass sich ‚Sehen‘ nicht nur auf visuell Wahrnehmbares bezieht, sondern eine Durchdringung der Wirklichkeit erfordert.Visuelle Kategorien könnten für ein Verständnis des Wirklichkeitsbezugs der Literatur nur metaphorisch verwendet werden. Nicht die Beobachtung, sondern die Interpretation ermögliche adäquate Wirklichkeitserkenntnis. In Bekenntnis zur Trümmerliteratur und anderen Texten, die Bölls Autorschaftsmodell programmatisch verkünden, finden sich Warnungen davor, ‚Realismus‘ im Sinne von Widerspiegelung zu verstehen. In Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit (1954) schreibt der Autor: Aus dem Aktuellen das Wirkliche zu erkennen, dazu müssen wir unsere Vorstellungskraft in Bewegung setzen, eine Kraft, die uns befähigt, uns ein Bild zu machen. Das Aktuelle ist der Schlüssel zum Wirklichen.¹²⁹
Für Böll liegt die Wirklichkeit nicht einfach vor, sondern muss als Resultat eines Vorstellungs- bzw. Interpretationsprozesses verstanden werden.¹³⁰ Erkenntnistheoretisch sind Bölls Bestimmungen des Wirklichkeitsbezugs der Kunst wenig ergiebig. Böll führt nicht nur pausenlos neue Begriffe in seine Essays ein, wie den des ‚Aktuellen‘ in der hier zitierten Passage, er unterscheidet zudem lediglich zwischen einem richtigen und falschen Verhältnis zur Wirklichkeit, erklärt jedoch nicht, welches Kriterium über Wahrheit entscheidet. Allerdings sind für Bölls
Ebd., S. 61 f. Im Matthäus- und Lukas-Evangelium findet sich diese Aussage in fast gleicher Diktion. Heinrich Böll: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit. In: Böll: Werke. 1953 – 1954. Hg. von Ralf Schnell. (Kölner Ausgabe. Bd. 7.) Köln 2006, S. 379 – 383, hier S. 382. Vgl. Leonhardt-Aumüller: „Narren um Christi willen“, S. 62.
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Realismusbegriff auch nicht ästhetische oder erkenntnistheoretische, sondern ethische Bestimmungen ausschlaggebend. Diese Hinwendung zur Ethik zeigt sich auch in Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit, wenn Böll die Verantwortlichkeit des schriftstellerischen Wirklichkeitsbezugs herausstellt: Die Wirklichkeit ist wie ein Brief, der an uns gerichtet ist, den wir aber ungeöffnet liegenlassen, weil die Mühe, ihn zu öffnen, uns lästig ist – oder weil uns die Vorstellung quält, der Inhalt könne unerfreulich sein, eine Vorstellung, die uns fast gewiß erscheint. Die Wirklichkeit ist eine Botschaft, die angenommen sein will – sie ist dem Menschen aufgegeben, eine Aufgabe, die er zu lösen hat.¹³¹
Wirklichkeitserkenntnis als ethische Aufgabe werde, so Böll, nur von wenigen Zeitgenossen auf sich genommen, weil sie droht, beschwerlich und wenig erfreulich zu werden. Böll unterstellt dabei ein verdrängtes Wissen um die erteilte Aufgabe und illustriert dieses Verhältnis mit dem Besuch beim Zahnarzt, den man hinausschiebt, auch wenn man weiß, dass er unausweichlich ist. Wer diese Aufgabe an die Menschen gestellt hat, bleibt bei Böll jedoch unklar. Wie auch in seinen anderen Essays argumentiert Böll weniger, als dass er verschiedene Diskurse zusammenbringt und einzelne Thesen illustriert. So ist die Evokation der Kindheit existentialistisch geprägt, wenn er davon spricht, dass wir mit dem Ende der Kindheit „der Wirklichkeit ausgeliefert sind“¹³² und uns der Aufgabe stellen müssten. In Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit überwiegt allerdings eine christliche Rhetorik. Böll, der sich in diesem Essay mit der Atomrüstung auseinandersetzt, zitiert sowohl Papst Pius XII. als auch Robert Oppenheimer, der mit Bezug auf die Entwicklung der Atombombe davon sprach, dass die Physiker die Sünde kennengelernt hätten. Bölls Kommentar nimmt diese religiöse Rhetorik auf: „Damit ist die Physik in Bezirken angekommen, wo nicht mehr bloß wissenschaftliche, sondern theologische Begriffe gelten.“¹³³ Beide hier besprochenen Essays bezeugen, dass Bölls Realismusbegriff weder allein erkenntnistheoretisch noch ausschließlich ästhetisch definiert werden kann.Vielmehr wird er durch den theologischen Diskurs fundiert, der eine ethische Dimension akzentuiert. Es kann daher auch nicht verwundern, dass Bölls Realismusbegriff erst Kontur gewinnt, wenn er im Kontext seines religiös geprägten Autorschaftsmodells erörtert wird.
Böll: Der Zeitgenosse und die Wirklichkeit, S. 379. Ebd., S. 380. Ebd., S. 382.
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2.4 Böll als ‚Gewissen der Nation‘ Indem Böll seinen Realismusbegriff jenseits des ästhetischen Diskurses verankert, macht er deutlich, dass er sich nicht nur dem literarischen Feld verpflichtet fühlt. Bölls Rede Die Sprache als Hort der Freiheit, die er anlässlich der Entgegennahme des Wuppertaler Eduart-von-der-Heydt-Preises im Januar 1959 hielt, nimmt die soeben erörterten Gedanken zum Realismusbegriff auf und bezieht sie auf den Begriff des Gewissens.¹³⁴ Akzentuiert Böll in seiner Definition von ‚Realismus‘ die individuelle Verantwortung des Autors, so warnt er in seiner Rede davor, „auf dem Podium der öffentlichen Meinung sich wie eine Marionette“ zu bewegen.¹³⁵ Als letzte moralische Instanz müsse das Gewissen wirken. Böll verweist nicht nur erneut darauf, dass er sich als Schriftsteller allein seinem Gewissen verpflichtet fühle, sondern verdeutlicht auch, dass diese Bindung die weltliche Gerichtsbarkeit überschreite, indem er hinzusetzt, dass der Schriftsteller „keinen irdischen Herrn über sich“ dulde.¹³⁶ In seinem programmatischen Essay Kunst und Religion aus dem gleichen Jahr bestreitet Böll folgerichtig sogar die Kompetenz der Kirche bzw. der Theologie in Fragen christlicher Kunst.¹³⁷ Dem schriftstellerisch aktiven Christen komme die Aufgabe zu, selbst zu entscheiden, wie er das Dilemma löse, Christ und Künstler zugleich zu sein. Das Christliche in der Kunst entziehe sich der Kirche: „Solange das Geheimnis der Kunst nicht entziffert ist, bleibt dem Christen nur ein Instrument: sein Gewissen“.¹³⁸ Bölls positive Bezugnahme auf den Gewissensbegriff resultiert aus dem gleichfalls konstatierten Autoritätsverlust der Kirche – dem christlichen Künstler bleibt allein sein Gewissen.
Vgl. Heinrich Böll: Die Sprache als Hort der Freiheit. Rede, gehalten anläßlich der Entgegennahme des Eduard-von-der-Heydt-Preises der Stadt Wuppertal am 24.1.1959. In: Böll: Werke. 1956 – 1959. Hg.von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 536 – 541. Hier zeigt sich, dass Bölls schriftstellerisches Schaffen in den 1950er-Jahren nicht nur religiös begründet, sondern auch religiös verstanden worden ist, seine essayistischen Selbstverortungen also Gehör fanden. Denn in der Begründung der Jury heißt es: „Heinrich Böll bemüht sich in seinem umfangreichen Werk um die künstlerische Bewältigung der Gegenwart. Seinem eigenen Bekenntnis gemäß sieht er die Wirklichkeit als Aufgabe, die unsere aktive, nicht unsere passive Aufmerksamkeit erfordert. Religiöse Impulse sowie eine unkonventionelle Sozialkritik bestimmen sein Schaffen, das auch im Ausland stark beachtet wird.“ Zitiert nach dem Stellenkommentar der Kölner Ausgabe, der sich auf einen Artikel aus der Westdeutschen Rundschau vom 3.12.1958 beruft: Heinrich Böll: Werke. 1956– 1959. Hg. von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 805. Böll: Die Sprache als Hort der Freiheit, S. 540. Ebd. Heinrich Böll: Kunst und Religion. In: Böll: Werke. 1959 – 1963. Hg. von Robert C. Conard. (Kölner Ausgabe. Bd. 12.) Köln 2008, S. 12– 16, hier S. 15. Ebd., S. 16.
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Dieser kirchenkritischen Argumentation folgt Böll nun allerdings nicht nur auf dem Gebiet der Kunst. Böll spricht der Kirche nicht nur die Kunstkompetenz ab, sondern bezweifelt auch ihre religiöse Autorität – eine ungleich skandalträchtigere These. Insbesondere Bölls 1958 publizierter Brief an einen jungen Katholiken prangert das Handeln der katholischen Kirche in Vergangenheit und Gegenwart an: Die Kirche komme ihrer religiösen Verantwortung nicht nach. Der Text, der vorab in Werkhefte Katholischer Laien publiziert wurde, provozierte nicht nur eine heftige Replik in ebendieser Zeitschrift, sondern wurde als Rundfunkbeitrag vom Süddeutschen Rundfunk durch dessen neuen (katholischen) Intendanten abgesetzt.¹³⁹ Insbesondere letzterer Vorfall animierte wiederum den Spiegel, die Vorgänge aufzugreifen. In der Ausgabe vom 6. Mai 1959 wird ausführlich aus Bölls Text zitiert und das politisch-religiöse Ränkespiel im Süddeutschen Rundfunk kommentiert.¹⁴⁰ Bölls Brief an einen jungen Katholiken wurde darüber hinaus als Sonderdruck von Kiepenheuer & Witsch 1961 erneut publiziert und von einigen Zeitungen besprochen. Während die Ruhr-Nachrichten überwiegend positiv rezensierten,¹⁴¹ fiel die Rezension der Allgemeinen Sonntagszeitung, einem katholischen Organ, vernichtend aus. Hier wurden Böll theologische Unkenntnis sowie Blasphemie vorgeworfen und geschlussfolgert: „Böll kennt kein Maß in seiner Kritik.“¹⁴² Bölls Brief an einen jungen Katholiken ist als Antwort an einen Herrn M. konzipiert, der Böll dem Text zufolge von seinem Einkehrtag für Rekruten der Bundeswehr berichtet hatte. Dieses Setting erlaubt es Böll, das Verhältnis von katholischer Kirche und westdeutscher Armee kritisch zu betrachten und von seinen eigenen Erfahrungen anlässlich eines Einkehrtages für Wehrmachtssol Für eine ausführliche Darstellung der rundfunkpolitischen Auseinandersetzung vgl.: Nicolai Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945 – 1980. Göttingen 2010, S. 133 – 136. Vgl. Turnlehrertheologie. In: Der Spiegel (1959), H. 19, S. 52– 54. Dass Böll für seinen offenen Brief viel Kritik erfuhr, mag auch erklären, warum der anschließenden Publikation in einem Sammelwerk, für das der Beitrag ursprünglich geschrieben worden war, eine Druckseite beigegeben wurde, in der Böll eine Aussage seines Briefes zurücknahm. Es handelt sich um den Satz: „Die deutschen Katholiken […] haben seit Jahrzehnten kaum andere Sorgen gehabt als die Vervollkommnung der Liturgie und die Hebung des Geschmacks; das ist höchst lobenswert, doch frage ich mich, ob es als Alibi für eine oder zwei Generationen ausreicht.“ Heinrich Böll: Brief an einen jungen Katholiken. In: Böll: Werke. 1956 – 1959. Hg.von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 441– 458, hier S. 451. Laut Spiegel-Artikel widerruft Böll diesen Satz, weil er einer „Beleidigung der Toten“ gleichkomme.Vgl.Turnlehrertheologie. In: Der Spiegel (1959), H. 19, S. 52– 54, hier S. 52. Vgl. Ulrich Schwarz: Brief an einen jungen Katholiken. In: Ruhr-Nachrichten vom 11.11.1961. Ludwig Altenhöfer: Böller gegen die Kirche. Heinrich Böll und die Sittlichkeit. In: Allgemeine Sonntagszeitung vom 07.01.1962.
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daten zu berichten. Ausgangspunkt für Bölls Kritik ist die kirchliche Engführung von Moral auf Fragen der Sexualität und die daraus resultierende Ausrichtung des Einkehrtages auf die Warnung vor der Prostitution. Die eigentliche Gefahr, so Böll, bliebe auf diese Weise ungenannt: Die Kirche weigere sich, vor der Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen zu warnen.¹⁴³ Böll kritisiert in seinem Text jegliche theologische Rechtfertigung des Kriegs und erinnert an die Anerkennung des nationalsozialistischen Staats durch den Vatikan. In historischen Exkursen konstatiert er, dass die katholische Kirche durch ihr Verhalten im Nationalsozialismus ihr moralisches Kapital verspielt habe. Wirklich christlich hätten nur einige wenige gehandelt, die ihrem Gewissen folgten: Es ist üblich geworden, immer dann, wenn die Haltung der offiziellen katholischen Kirche in Deutschland während der Nazizeit angezweifelt wird, die Namen der Männer und Frauen zu zitieren, die in Konzentrationslagern und Gefängnissen gelitten haben und hingerichtet worden sind. Aber jene Männer, Prälat Lichtenberg, Pater Delp und die vielen anderen, sie handelten nicht auf kirchlichen Befehl, sondern ihre Instanz war eine andere, deren Namen auszusprechen heute schon verdächtigt geworden ist: das Gewissen.¹⁴⁴
Zeilen wie diese verdeutlichen, dass Böll der katholischen Kirche vorwarf, in ihrem Verhalten dem Nationalsozialismus gegenüber versagt zu haben. Die wirklich sittlichen Gefahren habe die Kirche damals ausgeblendet und blende sie im Nachkriegsdeutschland immer noch aus. Sich von kirchlicher Seite auf diejenigen zu berufen, die dennoch Widerstand geleistet hätten, sei nicht zulässig. Mit Bezug auf seinen eigenen Einkehrtag resümiert Böll: „Kein Wort über Hitler, kein Wort über Antisemitismus, über etwaige Konflikte zwischen Befehl und Gewissen.“¹⁴⁵ Bölls Kirchenkritik kulminiert also in der Forderung, das individuelle religiöse Gewissen zu stärken, und stellt damit einen Begriff ins Zentrum, dessen Signifikanz für Bölls schriftstellerisches und gesellschaftliches Engagement nicht zu hoch eingeschätzt werden kann.¹⁴⁶ Die hier vorgenommene Analyse von Bölls Kirchenkritik zeigt, dass der Autor den religiösen Gewissensbegriff gegen die Kirche, der er eine zu starke Nähe zur jeweils herrschenden Politik unterstellt, stark macht. Bölls literarische und essayistische Kirchenkritik positioniert den Autor zugleich im literarischen Feld: Indem die moralische Integrität der Kirche angezweifelt wird, die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Intervention von
Vgl. Böll: Brief an einen jungen Katholiken, S. 447. Ebd., S. 449. Ebd., S. 444. Auch Bölls Essay Das Brot, von dem wir leben thematisiert den Begriff in diesem Sinne. Vgl. Heinrich Böll: Das Brot,von dem wir leben. In: Böll: Werke. 1956– 1959. Hg.von Viktor Böll. (Kölner Ausgabe. Bd. 10.) Köln 2005, S. 508 – 513.
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christlicher Seite aber gleichsam betont wird, reklamiert Böll die frei gewordene gesellschaftliche Position der Kirche für seine Autorschaft. Böll ist von einer breiten Öffentlichkeit als ‚Gewissen der Nation‘ verstanden worden. Helmut Schelskys Publikation Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen aus dem Jahr 1975 kann hierfür als Beleg angeführt werden. Schelskys Studie ist ein polemischer Angriff auf die linken Intellektuellen der Bundesrepublik und endet mit einer vehementen Kritik des engagierten Schriftstellers Böll. Das Buch ist schon allein als publizistisches Ereignis von Interesse, da Schelskys fast 400 Seiten starke Studie zu einem Bestseller wurde. Noch wichtiger in Hinsicht auf Bölls Autorschaft ist jedoch der Umstand, dass Böll sich in einem im selben Jahr publizierten Interview mit Christian Linder ausführlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen äußerte.¹⁴⁷ Auch diese Publikation wurde zu einem Medienereignis. Schelsky reagiert mit seiner Studie auf die Studentenbewegung, indem er versucht, die fundamentalen marxistischen Kategorien, wie etwa den Klassenbegriff, in einer dialektischen Volte neu zu besetzen.¹⁴⁸ Verstanden sich viele Studenten als solidarisch mit dem nationalen oder internationalen Proletariat, ist Schelsky darum bemüht, die Intellektuellen selbst als Klasse zu begreifen, die primär ihre eigenen Herrschaftsansprüche verfechte und somit antagonistisch zur Arbeiterklasse stehe. Der Titel Die Arbeit tun die anderen verdeutlicht diese Strategie in polemischer Schärfe. Schelsky erklärt seinen Titel in den Grundthesen, die der Studie vorangestellt sind. Hinsichtlich des postulierten Gegensatzes zwischen Arbeitern und Intellektuellen konstatiert er: „Im Grunde genommen geht es hier wieder um den in der Geschichte Europas uralten Widerstreit von weltlicher und geistlicher Herrschaft in einem modernen Gewande.“¹⁴⁹ Der Untertitel Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen ist also keine bloße Rhetorik, sondern fundamentaler Bestandteil der These. Schelsky will die Bezeichnung der Intellektuellen als „Heils- und Sinnvermittler“ nicht ideologiekritisch verstanden wissen, sondern konstatiert, dass „Begriffe der längst überholt geglaubten ‚Metaphysik‘ als einzig angemessene Formen“ des
Heinrich Böll: Drei Tage im März. Gespräch mit Christian Linder. In: Böll: Werke. Interviews I. 1953 – 1975. Hg. von J. H. Reid und Ralf Schnell. (Kölner Ausgabe. Bd. 24.) Köln 2009, S. 461– 547. Eine kritische Betrachtung von Schelskys Begriffsverwendung und dessen theoretischen Bezug auf Max Weber findet sich in: Manfred Pirsching: Soziologische Anti-Soziologie. Eine kritische Übersicht über die Arbeiten Schelskys. In: Ota Weinberger, Werner Krawietz (Hgg.): Helmut Schelsky als Soziologe und politischer Denker. Grazer Gedächtnisschrift zum Andenken an den am 24. Februar 1984 verstorbenen Gelehrten. Stuttgart 1985, S. 57– 98. Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 13. Hervorhebung im Original.
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Verständnisses intellektuellen Engagements angesehen werden müssten.¹⁵⁰ Er spricht in diesem Sinne auch von einer neuen Religiosität: Die Einsicht, dass eine neue ‚säkularisierte‘ Religiosität, eine ‚gesellschaftliche Religion‘, sich ausbreitet, und nicht nur eine mit Glaubensbedürfnissen versetzte politisch-soziale Ideologie, ist erforderlich, um den breiten Rückhalt richtig einzuschätzen, den ein auf dieser neuen Sozialreligion aufbauender Herrschaftsanspruch und Klassenkampf für sich aufbieten kann.¹⁵¹
Schelsky versteht die neue Sozialreligion als ein Resultat der sozialen und technischen Strukturveränderungen, die ihm zufolge eine post-industrielle Gesellschaft ankündigen.¹⁵² Ob Schelskys These, dass sich soziale Heilsreligionen ausbreiten, empirisch fundiert war, darf wohl bestritten werden. Selbstverständlich konnten auch in den 1970er-Jahren nicht alle Intellektuellen mit den von Schelsky skizzierten sozialutopischen Positionen identifiziert werden.¹⁵³ Von Interesse sind die Positionen Schelskys jedoch nicht zuletzt, weil Böll auf die Polemik Schelskys antwortete. Neben Alexander Mitscherlich und Rudolf Augstein wird Böll von Schelsky in einem Exkurs abgehandelt und als „Kardinal und Märtyrer zugleich in der Gemeindebildung der neuen sozialen Heilsbewegung“¹⁵⁴ begriffen – wobei Schelsky betont, dass ihm nicht an einer ästhetischen Wertung, sondern an einer soziologischen Analyse gelegen sei. Dennoch macht seine Kritik auch vor literarischen Werken nicht halt, da ihm zufolge Bölls „Auffassung seiner Umwelt auch zur kritischen Substanz“ der Werke geworden sei.¹⁵⁵ Im Mittelpunkt des sehr emotional und polemisch geführten Exkurses über Böll steht die mediale Kontroverse, die Bölls Spiegel-Beitrag Will Ulrike freies Geleit oder Gnade? und andere Positionierungen des Autors zur RAF in den Jahren 1972 bis 1974 auslösten.¹⁵⁶ Die
Ebd., S. 15. Ebd. Vgl. ebd., S. 9 f. Schelsky bezieht sich im Resümee seines Buchs erneut auf das Ende der industriellen Gesellschaft.Vgl. ebd., S. 375. Ralf Dahrendorf konstatiert in seiner kritischen Replik auf Schelsky, dass dieser ähnlich, wenn auch nicht so fundiert wie Daniel Bell, von einer postindustriellen Gesellschaft ausgehe, und verweist auf das 1973 erschienene Werk Bells The Coming of Post-Industrial Society. Vgl.: Ralf Dahrendorf: Die Denunziation der Aufklärung. Schelsky und die Neue Rechte: Irrtümer und Gefahren der politischen Gegenreformation. In: Die Zeit (1975), H. 14, S. 3. Vgl. Pirsching: Soziologische Anti-Soziologie, S. 79. Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 342. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 343. Vgl. Heinrich Böll: Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und „Bild“. In: Der Spiegel (1972), H. 3, S. 54– 57.
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Vehemenz, mit der die damalige Debatte über Springerpresse, Polizeimaßnahmen und die ‚Bader-Meinhof-Bande‘ geführt wurde, wird in vielen Behauptungen Schelskys deutlich, die versuchen, Böll persönlich zu diskreditieren. So werden dem Schriftsteller „Publizitätshunger“,¹⁵⁷ „naive Ichbezogenheit“¹⁵⁸ und an verschiedenen Stellen geringe intellektuelle Kapazitäten attestiert. Substantieller wird Schelskys Argumentation, wenn er auf das religiöse Fundament von Bölls Engagement zu sprechen kommt. So weist er darauf hin, dass Bölls medialen und politischen Furor auslösender Artikel Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? mit einem religiösen Verständnis von Verfolgung und Gnade argumentiert. Schelsky führt die folgende Passage an, mit der Böll auf eine Entgegnung des damaligen nordrhein-westfälischen Justizministers Posser auf seinen kontrovers diskutierten Artikel reagierte: Ich gebe gern zu, daß ich das Wort ‚verfolgt‘ nicht mit dem juristischen Terminus ‚gesucht‘ gleichzusetzen vermag, daß ich es auch existentiell und mit einem Anhauch von Metaphysik verwende, und in diesem Zusammenhang ist ein verfolgter Nazi für mich auch ein Verfolgter […].¹⁵⁹
Natürlich sind Aussagen wie diese kein Beleg für Schelskys These, dass Böll die Priesterherrschaft anstrebe oder ausübe, sondern bezeugen allein das religiöse Fundament seines Politikverständnisses sowie die Spannung zwischen Religion und Politik, die ich schon angesprochen habe. Die Passage aus Schelskys Buch, auf die Böll in seiner Erwiderung Bezug nimmt, berührt ebenfalls das Selbstverständnis des Schriftstellers. Schelsky kritisiert in ihr den subjektivistischen Charakter von Bölls moralischen Interventionen. Er bezieht sich dabei auf eine wohlwollend intendierte Charakterisierung des Schriftstellers durch den Vizepräsidenten des Internationalen PEN-Zentrums Robert Neumann, dem zufolge Bölls Engagement auf dem „innersten Selbstverständnis als Mahner und Gewissen in Opposition zu dem sogenannten herrschenden Establishment“ beruhe.¹⁶⁰ Dieses Böll unterstellte Selbstverständnis ist für Schelsky der Stein des Anstoßes. Bölls Replik auf Schelsky ist von so großem Interesse, weil dieser Schelsky nicht einfach zu widerlegen versucht, sondern die Gelegenheit nutzt, um sein Selbstverständnis als politisch engagierter Schriftsteller zu präzisieren. In einem Interview mit Christian Linder, das unter dem Titel Drei Tage im März im Juni 1975 mit
Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 344. Ebd., S. 355. Heinrich Böll: Verfolgt war nicht nur Paulus. Heinrich Böll zum Böll-Kommentar Diether Possers. In: Der Spiegel (1972), H. 6, S. 60. Zitiert nach: Schelsky: Die Arbeit tun die anderen, S. 345.
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großer Resonanz publiziert wurde, betont Böll, dass er „Herrn Schelsky regelrecht dankbar“ dafür sei,¹⁶¹ sein öffentliches Image als ‚Gewissen der Nation‘ nicht zu akzeptieren. Dies ist keine rhetorische Taktik, denn wenig später ergänzt Böll, dass er in der Kritik zu großer moralischer Autorität auf Seiten der Schriftsteller „mit Herrn Schelsky überraschenderweise“ übereinstimme.¹⁶² Es beunruhige auch ihn, „daß die Autorität sich selbst zerstört hat, und daß relativ unzuverlässige Kräfte wie Schriftsteller, wie Intellektuelle überhaupt an die Stelle moralischer Autoritäten gelangt sind.“¹⁶³ Böll bestreitet gar nicht, dass seine Rolle als moralische Instanz problematisch sei. Gleichzeitig hält er aber an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer solchen Instanz fest und integriert Schelskys Vorwurf damit in seine Gesellschafts- und Kirchenkritik. Es reiche nicht aus, zu konstatieren, dass Schriftsteller zur moralischen Instanz geworden seien, Schelsky „sollte sich gleichzeitig überlegen, wie solche Bilder entstehen; wie ein Mensch, der eigentlich nur ein Schriftsteller ist, in eine solche Rolle gedrängt werden kann und warum er immer wieder von allen Seiten aufgefordert worden ist, diese Rolle zu übernehmen“.¹⁶⁴ Böll wirft Schelsky also vor, die sozialen Bedingungen der Nachkriegszeit, die das moralische Vakuum erst produziert hätten, das er nun ausfüllen müsse, nicht analysiert zu haben. Er kommt auch auf die Instanzen zu sprechen, die seiner Meinung nach moralisch intervenieren müssten: das Parlament, die Justiz und vor allem die katholische und evangelische Kirche. Mit Bezug auf den Freispruch eines an der Euthanasie beteiligten Arztes beklagt Böll, dass „noch nicht einmal die andauernd proklamierte Autorität der Kirchen“ zur gesellschaftlichen Intervention genutzt werde.¹⁶⁵ Hier stellt sich Bölls Autorschaftsmodell in nuce dar. Weil die Kirche ihrem christlichen Auftrag nicht nachkomme, müsse er (entgegen seinen Wünschen) im religiösen Sinne intervenieren.¹⁶⁶
Böll: Drei Tage im März, S. 538. Die mediale Präsenz dieses Interviews wird schon daran deutlich, dass Auszüge aus diesem im Spiegel publiziert wurden. Aber auch andere Zeitungen berichteten darüber. Vgl. Literatur. Versuch ein Image zu zerstören. In: Der Spiegel (1975), H. 30, S. 76 – 81; Dieter E. Zimmer: Bundesanstalt für Gewissen? Heinrich Böll rebelliert gegen sein Image. In: Die Zeit (1975), H. 33, S. 29. Böll: Drei Tage im März, S. 542. Ebd., S. 539. Ebd., S. 538. Ebd., S. 541. Diese Position Bölls bestätigt Enzensberger in einem Rückblick auf die Nachkriegszeit. Vgl. Hans M. Enzensberger: Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahr 1987 mit Hellmuth Karasek. In: Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1989, S. 227– 244, hier S. 238. Auch die zeitgenössische Rezeption Bölls äußerte Verständnis und festigte so Bölls Autorschaftsmodell. So schrieb Zimmer in Die Zeit: „Daß Böll sich gegen die ihm und einigen anderen abverlangte Rolle als Wächter, Weiser, Pro-
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2.5 Essays und Reden zwischen Religion und Politik In Bölls essayistischem Werk der 1950er-Jahre zeigt sich die fundamentale Bedeutung der katholischen Religion für die poetologischen, politischen und kirchenkritischen Positionierungen des Autors. Zugleich macht sich eine Spannung zwischen der religiösen und politischen Dimension von Bölls Autorschaft bemerkbar. Bölls Darstellung des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts vermeidet eine differenzierte Analyse der politischen Verhältnisse und betont stattdessen aus einer christlichen Weltsicht die ethische Verantwortung vor dem Nächsten; seine Interventionen im Erinnerungsdiskurs verteidigt das Gedenken an die Toten im christlichen Sinne gegen politische Instrumentalisierungen; sein Verständnis der ‚Stunde Null‘ verzichtet auf politische Differenzierungen und imaginiert mit christlicher Rhetorik eine apolitische Gemeinschaft. Die Dominanz einer ethischreligiösen Perspektive in Bölls Texten steht insofern oftmals einer genaueren politischen Analyse entgegen und begründet in einigen Fällen sogar die Ablehnung einer politischen Sichtweise. Das religiöse Fundament von Bölls Autorschaft zeigt sich zudem in seinem Realismusbegriff, denn dieser resultiert aus einer religiös verstandenen Verantwortung gegenüber Welt und Mitmenschen. Indem die Erkenntnis der Wirklichkeit zu einer ethischen Verpflichtung wird, zeigt sich die Relevanz des Gewissensbegriffs auch für Bölls poetologische Schriften. Systematisch entfaltet wird der Gewissensbegriff allerdings erst in der Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Kirche während des Nationalsozialismus und in der späteren Debatte mit Schelsky. Die kirchenkritische Funktion des Gewissensbegriffs erklärt seine politische Brisanz. Dies gilt sowohl in Hinblick auf die Kritik einzelner Verfehlungen der Kirche während des Nationalsozialismus als auch für Bölls Autorschaftsmodell. Böll zufolge resultiert die Notwendigkeit eines christlichen Einspruchs gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen durch Autorinnen und Autoren aus dem geschichtlichen und zeitgenössischen Versagen der Kirche, die ihren christlichen Auftrag nicht erfülle. Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass die politische Wirkung von Bölls essayistischem Werk nicht aus der Detailschärfe seiner politischen Analyse resultiert, sondern aus der Aneignung des Gewissensbegriffs im Kontext der Kirchenkritik. Indem Böll der katholischen Kirche abspricht, ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung im
testierer sträubt, ist nur zu verständlich. Eine gestörte, zum Quietismus neigende öffentliche Meinung herauszufordern, muß einen einzelnen überanstrengen, zumal dann, wenn ihm, wie Heinrich Böll und im Unterschied etwa zu Thomas Mann, dem die staatsmännische Geste und Rede geradezu ein Bedürfnis war, das diplomatisch belehrende Dreinreden gar nicht liegt.“ Zimmer: Bundesanstalt für Gewissen?
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christlichen Sinne gerecht zu werden, reklamiert er die vakante Repräsentationsinstanz für seine Autorschaft.
3 Dokumentation: Bölls Autorschaft im Urteil der Literaturkritik Böll avancierte in den 1950er-Jahren schnell zum profiliertesten Autor der ‚jungen Generation‘. Zeitgenössische Rezensionen seiner Werke belegen dies eindrucksvoll.¹⁶⁷ In der Wochenzeitung Die Zeit war schon 1954 in einer Besprechung neuer Romane zu lesen, dass Böll seit seinem ersten Roman als „der begabteste Erzähler unter den jungen deutschen Autoren“ gelte.¹⁶⁸ Gegen Ende des Jahrzehnts glaubte der Literaturkritiker Paul Hühnerfeld dann schon, sich für seine negative Rezension rechtfertigen zu müssen. Die Publikation von Billard um halb zehn kommentierte er mit den Worten: „Böll ist ja renommiert; man scheut sich zuzugeben, daß ausgerechnet ein Buch von ihm Erwartungen enttäuschen könnte.“¹⁶⁹ Als Meilensteine für Bölls Erfolg können der Preis der Gruppe 47, den er 1951 auf der Tagung in Bad Dürkheim zugesprochen bekam, sowie sein Wechsel vom Middelhauve Verlag zu Kiepenheuer & Witsch angesehen werden. Im Folgenden wird die zunehmende Anerkennung, die Böll im Laufe der fünfziger Jahre im literarischen Feld erfuhr, anhand der Rezensionen seiner wichtigsten Prosaveröffentlichungen dargestellt. Fokussiert werden dabei die Kontroversen, die sich aus dem von Böll inszenierten Autorschaftsmodell ergaben. Einerseits wird gezeigt, dass Böll entgegen seiner Kanonisierung als politischer Autor immer auch als religiöser Schriftsteller verstanden worden ist. Das Verhältnis zwischen Religion und Politik wurde zudem keinesfalls als konfliktfrei begriffen. Andererseits werden die oftmals artikulierten Zweifel an der künstlerischen Befähigung des Autors dargestellt, die vielfach ins Verhältnis zu seinem Autorschaftsmodell gesetzt wurden. Deutlich wird so die Bedeutung der Inszenierung von Autorschaft für die Rezeption von Bölls literarischen Werken, die bisher noch nicht detailliert erforscht ist.
Der folgenden Untersuchung der Rezeption von Bölls Frühwerk durch die Literaturkritik dienen neben den Rezensionen, die in der Kölner Ausgabe auszugsweise abgedruckt sind, die relevanten Zeitungsartikel der Dortmunder Autorendokumentation. Paul Hühnerfeld: Wir sind nicht verloren. Bemerkungen zu den neuen deutschen Romanen von Böll, Bender und Stahl. In: Die Zeit (1954), H. 38, S. 8. Paul Hühnerfeld: Heinrich Böll: „Billard um halb zehn“. Falsche Vorbilder, falsche Ambitionen beeinträchtigen auch den besten Erzähler. In: Die Zeit (1959), H. 41, S. 10.
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Auch wenn Bölls erster Roman Wo warst du, Adam? (1951) Autorschaft nicht inszeniert und hier deswegen nicht eigens analysiert worden ist, soll die Rezeption dieses Romans doch wenigstens in ihren Grundzügen dargestellt werden. Wie führte sich Böll ins literarische Feld ein und welche Rolle spielte dabei die Religion? Die Vorgeschichte der Romanpublikation ist nicht unwichtig: Böll erhielt im Mai 1951 den Preis der Gruppe 47 für die Lesung seiner satirischen Erzählung Die schwarzen Schafe. Der Preis nutzte der Reputation des Autors nicht nur innerhalb der Gruppe 47, deren Treffen er das erste Mal besucht hatte, sondern beeinflusste auch die Rezeption seines im gleichen Jahr publizierten Romans positiv. Die meisten Rezensionen stellten Böll als Preisträger der Gruppe 47 vor. Sie folgten damit der Werbung des Middelhauve Verlags, der den Preis in seinen Werbeanzeigen herausstellte.¹⁷⁰ Böll selbst berichtete nach der Tagung in Bad Dürkheim seinem Freund Ernst-Adolf Kunz, dass die Folgen des Preises sich schon bemerkbar machten: „Habe dort bei der Tagung in Bad-Dürkheim gleich eine Menge Dinge abschließen können, weiteres wird folgen und man ‚bittet‘ mich um Beiträge“.¹⁷¹ Die Rezensionen der beiden Veröffentlichungen im Jahr 1951 konzentrierten sich zumeist auf den Roman, der von dem erst sechs Jahre zurückliegenden Krieg handelt und an das Gewissen des Einzelnen appelliert. Besondere Beachtung erfuhr dabei die religiöse Dimension des Romans, die durch den Titel Wo warst du, Adam? angedeutet wird.¹⁷² Der Bezug auf das ‚Gewissen‘ wurde schon 1951 als Charakteristikum der Böll’schen Autorschaft gefasst: „Wenn man Heinrich Bölls Erzählungen liest, wird das Gewissen wach.“¹⁷³ Georg Ramseger bezeichnete den Autor in Die Welt als einen „Epiker unserer Zeit, die […] wähnt, ein Alibi zu haben vor Gott“.¹⁷⁴ Gert Kalow hob gleichfalls die religiöse Dimension des Romans Wieder abgedruckt im Materialband von: Große Entrup: Die Werbemaßnahmen zu den frühen Werken Heinrich Bölls. Ein weiteres Indiz dafür, dass aus dem Preis Kapital geschlagen werden sollte, sind die Bemühungen des Verlags um eine attraktive Buchgestaltung. So wurde die preisgekrönte Erzählung als Sonderdruck mit Illustrationen von Mirko Szewczuk herausgegeben, der für seine satirischen Zeichnungen in der Welt bekannt war. Vgl. Matthias Kretschmer: Der Bildpublizist Mirko Szewczuk. Eine kommunikationshistorische Studie über Leben und Werk. Münster 2001, S. 181 f. Des Weiteren eröffnete sich für Böll durch den Preis die Möglichkeit, das erste Kapitel seines Romans in den Frankfurter Heften vorab zu veröffentlichen.Vgl. Heinrich Böll: Durchbruch bei Roßapfel. In: Frankfurter Hefte 6 (1951), H. 8, S. 565 – 571. Heinrich Böll, Ernst-Adolf Kunz: Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Ernst-Adolf Kunz 1945 – 1953. Hg.von Herbert Hoven. Köln 1994, S. 269. Der Titel ist einer Passage aus Theodor Haeckers Tag- und Nachtbücher entnommen, die dem Roman als Motto vorangestellt ist. Der Bezug auf den bekannten katholischen Intellektuellen Haecker unterstreicht die religiöse Dimension des Titels. Kay Hoff: Bücher ohne Goldschnitt. Heinrich Böll – eine Stimme der jungen Generation. In: Michael vom 11.05.1952. Georg Ramseger: Wo warst du, Adam? In: Die Welt vom 08.12.1951.
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hervor, wenn er vom Krieg als „Tummelplatz der Sünde“ sprach.¹⁷⁵ Böll wurde als dezidiert katholischer Schriftsteller verstanden: „Des Autors eigene Position steht fest: er ist Katholik.“¹⁷⁶ Zwei Mitglieder der Gruppe 47 gingen noch einen Schritt weiter: Sowohl Alfred Anderschs Rezension Christus gibt keinen Urlaub als auch Ingeborg Bachmanns Der Krieg als Anlaß zur Prüfung des Menschen akzentuierten nicht nur im Titel die christliche Ausrichtung des Romans, sondern profilierten diese auch gegen seine politische Dimension. Andersch zufolge entwirft Böll sich als „christlicher Autor“ und ist es sein Anliegen, „die menschliche Person im christlichen Sinne sichtbar zu machen“.¹⁷⁷ Ein Kriegsbuch sei der Roman insofern nicht,vielmehr biete der Krieg nur „Anlaß zur Prüfung des Menschen“.¹⁷⁸ Ingeborg Bachmann nahm diese These auf und konstatierte: Bölls Bücher sind keine Kriegsbücher, denn der Krieg ist ihm nur Anlaß zur Prüfung des Menschen, sie sind unpolitisch, denn die historische Zeit ist reduziert auf die Zeit des einzelnen.¹⁷⁹
Bachmann spielt in diesen Zeilen die religiöse gegen die politische Dimension der Böll’schen Prosa aus. Sie hebt hervor, dass der Krieg weder in seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit in Szene gesetzt noch in Hinsicht auf seine Ursachen untersucht werde. Die zeitgeschichtliche Betrachtung trete zurück hinter die christliche Überzeugung, dass der Einzelne sich vor Gott zu rechtfertigen habe. Diesen Widerspruch zwischen Religion und Politik konstatierten die übrigen Rezensentinnen und Rezensenten nicht. Dass er jedoch von einem Autor und einer Autorin der Gruppe 47 hervorgehoben wurde,verdeutlicht, dass Bölls Rückgriff auf religiöse Narrative und Konzepte durchaus als Widerspruch zum politischen Sujet seiner Prosa verstanden wurde. Für Bachmann war Böll Anfang der 50er-Jahre jedenfalls ein primär religiöser Autor, dessen Fragestellung sie wie folgt benannte: „Wie soll Gott, dessen Altäre zerschlagen sind, wie die Welt, die ihn vergessen hat – und die darum ohne Trost ist –, wiedergewonnen werden?“¹⁸⁰
Gert Kalow: Wo bleibst du, Adam? In: Das ganze Deutschland vom 12.01.1952. Ebd. Alfred Andersch: Christus gibt keinen Urlaub. In: Frankfurter Hefte 6 (1951), H. 12, S.939 – 941. Ebd. Ingeborg Bachmann: Der Krieg als Anlaß zur Prüfung des Menschen. In: Wort und Wahrheit 7 (1952), H. 8, S. 624. Ebd.
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3.1 Und sagte kein einziges Wort Bölls Erfolg auf dem Treffen der Gruppe 47 in Bad Dürkheim ermöglichte es ihm, seinen zweiten Roman Und sagte kein einziges Wort (1953) bei Kiepenheuer & Witsch zu veröffentlichen. Alfred Andersch, der Hans Werner Richter vorgeschlagen hatte, Böll nach Bad Dürkheim einzuladen, unterstützte Bölls Suche nach einem neuen Verlag.¹⁸¹ Zwischen Sommer 1951 und Frühjahr 1952 erhielt Böll Angebote von diversen Verlagshäusern: Schneekluth, Suhrkamp und Insel, Holle, Rowohlt, Desch, Deutsche-Verlags-Anstalt, Piper & Co. und Kiepenheuer & Witsch.¹⁸² Bölls Wechsel zum renommierten Verlag Kiepenheuer & Witsch gestattete ihm, seine Familie zu ernähren und als Schriftsteller zu leben.¹⁸³ Er zahlte sich zudem in Hinsicht auf seinen neuen Roman aus. Nachdem die erste Auflage von 3000 Exemplaren schon nach drei Monaten vergriffen war, legte der Verlag eine zweite Auflage mit 6000 Exemplaren auf.¹⁸⁴ Neben den umfangreicheren Werbemaßnahmen des neuen Verlags sowie eines Vorabdrucks in der FAZ, wirkte sich auch der Adelsschlag positiv auf die Verkaufszahlen aus, den Böll von Karl Korn erhalten hatte.¹⁸⁵ Mit Bezug auf die Protagonistin des Romans schrieb Korn in der FAZ: „Man wird in moderner Literatur lange suchen müssen, bis man eine ähnlich tief angelegte weibliche Gestalt wiederfindet.“¹⁸⁶ Der Verlag zitierte dieses Lob in seinen Werbeanzeigen wiederholt. Korns Anerkennung gipfelte in der Aussage: „Wenn mich künftig einer fragt, was denn die Deutschen heute an Bü-
So schrieb Andersch an Böll am 25.11.1951, dass er lange mit Joseph Casper Witsch über ihn gesprochen habe. Vgl. Böll: Werke. 1952– 1953, S. 806. Für weitere Hinweise zur Bedeutung der Gruppe 47 für den jungen Böll vgl. J. H. Reid: „Diesem Böll der Preis…“. Heinrich Bölls problematisches Verhältnis zur Gruppe 47. In: Stephan Braese (Hg.): Bestandsaufnahme – Studien zur Gruppe 47. Berlin 1999, S. 103 – 114. Böll war mit dem Middelhauve Verlag unzufrieden – insbesondere aufgrund der wenigen verkauften Exemplare von seinen ersten beiden Veröffentlichungen, Der Zug war pünktlich (1949) und Wanderer, kommst du nach Spa… (1950). Den Misserfolg sah er durch die fehlenden Werbemaßnahmen des Verlags verursacht. Jochen Große Entrup zufolge wurden bis zum 30.6.1951 nur 356 Exemplare des ersten Titels und 468 Exemplare der zweiten Publikation verkauft. Vgl. Große Entrup: Die Werbemaßnahmen zu den frühen Werken Heinrich Bölls, S. 72– 74. Im Kommentar der Kölner Ausgabe finden sich andere Zahlen, die dennoch vergleichbar niedrig sind. Vgl. Heinrich Böll: Werke. 1951. Hg. von Robert C. Conard. (Kölner Ausgabe. Bd. 5.) Köln 2004, S. 399. Auch zwei von Middelhauve nicht publizierte Manuskripte (Das Vermächtnis und Der Engel schwieg) führten zu Spannungen zwischen Böll und seinem Verleger. Vgl. den Kommentar in: Böll: Werke. 1952– 1953, S. 806 f. Böll und Kunz: Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier, S. 288. Zwei weitere Auflagen mit 3000 und 5000 Exemplaren folgen bis Dezember 1955. Vgl. Große Entrup: Die Werbemaßnahmen zu den frühen Werken Heinrich Bölls, S. 152. Vgl. ebd. Karl Korn: Eine Ehe in dieser Zeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.04.1953.
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chern von wirklicher Kraft und Wahrhaftigkeit vorzuweisen hätten, werde ich den Böll nennen.“¹⁸⁷ Das Buch sei weder Thesenroman noch wolle sein Autor mit „Philosophie und Dialektik die Welt verändern“.¹⁸⁸ Er sei Christ und richte sich an den einzelnen Menschen. In diesem Sinne solle man seine Kirchen- und Gesellschaftskritik verstehen. Auch im Hinblick auf die Form betonte Korn das christliche Erbe: Der Innere Monolog des Buchs habe in Gott seinen „geheimen Gesprächspartner“.¹⁸⁹ Eine weitere wichtige Rezension des Romans findet sich in Die Gegenwart. Friedrich Sieburg, der der ‚jungen Generation‘ gegenüber ansonsten kritisch eingestellt war, beendete seine Besprechung mit den Worten: „Wie hoch steht dieses Buch über der selbstgefälligen Existenzdeutelei, mit der die Generation des Autors sich sonst so gern und geschickt aus der Affäre zieht!“¹⁹⁰ Sieburg verband seine preisenden Worte mit einem Seitenhieb gegen Autorinnen und Autoren der ‚jungen Generation‘, die sich vom Existentialismus beeinflusst zeigten. Vor dem Hintergrund der im zweiten Kapitel schon angesprochenen Nihilismusdebatte beklagte er die philosophische Sophisterei in den Reihen der ‚jungen Generation‘. Böll hingegen, so Sieburg, entziehe dem Nihilismus den Boden, wenn er das Sakrament der Ehe wertschätze. Die entscheidende Szene des Romans, in der der Protagonist zu seiner Ehefrau zurückkehrt, stelle „ein religiöses Ereignis [dar], das die Kraft des Menschen allein nicht herbeiführen kann“.¹⁹¹ Den Kern des Romans bilde, pflichtete auch Roland H. Wiegenstein bei, die „Integrität des Sakraments“.¹⁹² Diese religiöse Dimension des Romans hoben mitnichten nur ‚konservative‘ Literaturkritiker und christliche Redakteure hervor. Walter Jens, Mitglied der Gruppe 47 und einer ihrer später zu Prominenz aufsteigenden Literaturkritiker, unterstrich sie ebenfalls: Am wichtigsten aber ist, dass es Böll gelungen ist, […] auch jenen Bereich wieder in den Mittelpunkt zu rücken, der unter den Trümmern verschüttet schien: den Bereich der göttlichen Wahrheit. Bölls Roman ist ein ehrliches und gläubiges Buch. Es erwächst aus dem Grund und Boden katholischer Religiosität.¹⁹³
Ähnlich kommentierte Christian Ferber, ein weiteres Mitglied der Gruppe 47:
Ebd. Ebd. Ebd. Friedrich Sieburg: Zweistimmig. In: Die Gegenwart 8 (1953), H. 179, S. 247. Ebd. Roland H.Wiegenstein: …und sagte kein einziges Wort. In: Frankfurter Hefte 8 (1953), S. 474– 476. Walter Jens: „…und sagte kein einziges Wort“. Ein Nachkriegsautor setzt sich durch – Heinrich Böll schreibt den Roman einer zerrütteten Ehe. In: Welt am Sonntag vom 18.05.1953.
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Böll ist nicht Ankläger, sondern Gestalter. Er proklamiert nicht, er stellt dar. Darum ist sein Roman zwangsläufig nicht allein zu einer Warnung vor Übersättigung und Maschinenrausch geworden, sondern auch zum Zeugnis eines verhalten leidenschaftlichen religiösen Temperaments; er sucht den Erlöser und seine zeitlose Gewalt unter den Armen und Geschlagenen, er registriert die Fassade des Offiziellen, aber er findet Christus wie die Sucher aller Jahrhunderte häufig nicht mehr an den Stätten weltlichen Glanzes.¹⁹⁴
Auch Wolfgang Bächler sprach von einem sowohl sozialen als auch religiösen Roman.¹⁹⁵ Der auf den leidenden Christus verweisende Titel des Romans, Und sagte kein einziges Wort, auf den die meisten Rezensionen Bezug nahmen, förderte sicherlich die Aufmerksamkeit für die religiöse Perspektive des Textes.¹⁹⁶ Der Titel fungiert im Roman als Leitmotiv und identifiziert die das Schweigen erlernende Protagonistin als Nachfolgerin Christi. Böll wurde deswegen als zugleich sozial und religiös engagierter Autor verstanden, jenseits aller stilistischen Schwächen, die nicht nur in Wiegensteins Rezension reklamiert wurden: Was wichtig ist, bleibt von allen Einwänden unberührt. Und daß Christus kein einziges Wort sagt, daß aber der Autor viele sagt, weil er seine Figuren in der Nachfolge Christi das Kreuz tragen läßt und sie damit zum stellvertretenden Leiden – und Sagen – anhält, zwingt und verleitet, – das ist wichtig. Wichtig für uns, weil wir antworten müssen.¹⁹⁷
Die religiöse Rezeption des Romans folgte der Werbestrategie des Verlags. So war im Klappentext, der auf einen Entwurf des Autors zurückging, zu lesen: „Die Unauflöslichkeit der Ehe, sonst nur Gegenstand theologischer und juristischer Erwägungen, wird hier zum Gegenstand eines Romans.“¹⁹⁸ Und sagte kein einziges Wort wurde ein beachtlicher Erfolg. Nicht nur erwarben die Éditions du Seuil die Rechte für die französische Ausgabe und brachten die Übersetzung 1954 heraus, Böll erhielt im Jahr 1953 darüber hinaus drei Literaturpreise: den Kritikerpreis für Literatur, die Ehrengabe des Kulturkreises im BDI und den Erzählerpreis des Süddeutschen Rundfunks.
Christian Ferber: Elend und Kraft in unseren Tagen. Heinrich Bölls neuer Roman. In: Neue Zeitung vom 11.04.1953. Vgl. Wolfgang Bächler: Zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Zum neuen Roman von Heinrich Böll. In: Welt der Arbeit vom 08.05.1953. Vgl. KeW, S. 367. Wiegenstein: …und sagte kein einziges Wort, S. 476. Der Klappentext ist abgedruckt im Materialband von: Große Entrup: Die Werbemaßnahmen zu den frühen Werken Heinrich Bölls, S. 46.
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3.2 Haus ohne Hüter Nur ein Jahr nach Und sagte kein einziges Wort veröffentlichte Böll seinen dritten Roman. Haus ohne Hüter (1954) wurde in den meisten Rezensionen positiv besprochen, allerdings konnten auch kritische Töne vernommen werden. Auch wenn überwiegend anerkannt wurde, dass Böll versucht habe, an epischer Breite zu gewinnen, so wurde doch auch bemängelt, dass von einem homogenen Gebilde nicht zu sprechen sei. Christian Ferber, ein Kollege Bölls aus der Gruppe 47, äußerte sich beispielsweise in diesem Sinne: Und alles biegt sich irgendwie zusammen zu einem miteinander verbundenen Handlungsgebilde. Doch ein Roman ist das nicht. Es ist eine Serie von Schlaglichtern. Der Fluß der Erzählung stockt bei jedem Abschnitt.¹⁹⁹
Mit sichtlichem Unbehagen machte auch Friedrich Sieburg in seiner Rezension auf die „Verzwicktheiten und Unarten“ von Bölls „epische[m] Temperament[]“ aufmerksam.²⁰⁰ Andere Rezensenten gingen noch weiter und sprachen wie Fred Hepp in der Süddeutschen Zeitung von einer „sublimierte[n] Reportage“.²⁰¹ Dennoch überwog das Lob auch in Rezensionen, die den Roman als Reportage klassifizierten. Hepp beispielsweise pries die psychologische Raffinesse der kindlichen Figurenperspektive sowie die gesellschaftskritische Dimension des Werks. Letztere wurde von allen Rezensionen betont. Auch die christliche Ausrichtung der Gesellschaftskritik kam in den meisten Besprechungen zur Sprache. Die Rezensentinnen und Rezensenten bescheinigten dem Roman einen religiösen Grundtenor oder bezeichneten Böll als einen religiösen Autor. Die Besprechung der Süddeutschen Zeitung kommentierte die Darstellung der Kinder im Roman mit den Worten: „eine trostlose Kindheit, die das Bibelwort von den Mühlsteinen provokativ ins Gedächtnis ruft“.²⁰² Friedrich Sieburg stellte unterdessen fest, dass der Autor bei allen „verkorksten Existenzen“ seines Romans dennoch die „Leidensfähigkeit bloßlegt“.²⁰³ Wog für das Sonntagsblatt der Trost des mit „so unerbitt-
Christian Ferber: Heinrich Böll: „Haus ohne Hüter“. In: Evangelischer Literaturbeobachter 16 (1954), H. 12, S. 294. Friedrich Sieburg: Leidensfähigkeit. In: Die Gegenwart 9 (1954), H. 20, S. 623. Fred Hepp: Wenn der Vater fehlt, kommen die Onkels. In: Süddeutsche Zeitung vom 25.09. 1954. Auch Otto B. Roegele wies im Rheinischen Merkur darauf hin, dass das Buch kein Roman sei, sondern „eine mit literarischen Mitteln betriebene und recht anspruchsvolle Reportage“. Otto B. Roegele: „Haus ohne Hüter“. Ein neues Buch von Heinrich Böll. In: Rheinischer Merkur vom 06.08.1954. Hepp: Wenn der Vater fehlt, kommen die Onkels. Sieburg: Leidensfähigkeit.
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lichem Ernst geschriebenen“ Romans schwerer als „viele Kanzelreden“, so ging der Rheinische Merkur eher kritisch auf Bölls Geisteshaltung ein und bemängelte ein „kompliziertes Ressentiment politischer, sozialer und nicht zuletzt kirchlicher Natur“.²⁰⁴ Dass viele Rezensentinnen und Rezensenten Böll als einen religiösen Autor begriffen, mag durch die Kontinuität religiöser Themen in seinen bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Werken erklärt werden. Die Einigkeit unter den Kritikerinnen und Kritikern war jedenfalls groß: Helmut M. Braem, der schon Wo warst du, Adam? rezensiert hatte, sprach in seiner Besprechung in der Stuttgarter Zeitung davon, dass Böll ein „bewußt im christlichen Glauben lebender Autor“ sei.²⁰⁵ Ernst Glaeser bezeichnete ihn als „rebellischen Katholiken“.²⁰⁶ Karl Korn verglich ihn mit Elisabeth Langgässer und sprach von einem „Buch der Heilsgewißheit“.²⁰⁷ Roland H. Wiegenstein resümierte in seiner Rezension Bölls schriftstellerischen Werdegang und prognostizierte, dass dieser Autor den Roman der Nachkriegszeit schreiben könnte und die zeitgenössische Hoffnungslosigkeit damit „im Christlichen ihr Gericht und ihre Erlösung findet; im Christlichen, wie es von solchem Autor gesehen wird“.²⁰⁸ Paul Hühnerfeld, der in Die Zeit den „neuen deutschen Roman“ untersuchte, betonte schließlich, dass der „begabteste Erzähler unter den jungen deutschen Autoren“ zwar anklage, aber auch versöhne, „weil er Katholik“ sei.²⁰⁹
3.3 Irisches Tagebuch Bölls 1957 publiziertes Irisches Tagebuch ist gleich in mehrfacher Hinsicht von Interesse für eine literatursoziologische Analyse der literaturkritischen Rezeption seiner Werke und soll hier deswegen Beachtung finden. Einerseits war das Buch einem Literaturkritiker gewidmet, andererseits erhielt Böll zwar überwiegend Lob, nutzten die wohlwollenden Kritikerinnen und Kritiker dieses Lob aber gleichzeitig
Roegele: „Haus ohne Hüter“; Johann C. Hampe: Auf der Suche nach dem Vater. In: Sonntagsblatt vom 15.08.1954. Helmut M. Braem: Vaterlose Kindheit. Der neue Roman von Heinrich Böll. In: Stuttgarter Zeitung vom 23.10.1954. Ernst Glaeser: Die Flucht nach vorn. Theodor Plievier, Heinrich Böll, Erich Maria Remarque. In: Deutsche Zeitung vom 04.12.1954. Karl Korn: Bitteres Frühlingserwachen 1954. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.09. 1954. Roland H. Wiegenstein: Rechenexempel mit vielen Unbekannten. In: Frankfurter Hefte 9 (1954), S. 864– 868, hier S. 867. Hühnerfeld: Wir sind nicht verloren.
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zur Einflussnahme. Der Autor widmete sein erstes größeres nichtfiktives Werk Karl Korn, dem Literaturkritiker der FAZ. Die Widmung ist zum Teil aus der Entstehungsgeschichte des Buchs zu erklären, denn nachdem Böll einige Aufzeichnungen über Irland in der FAZ veröffentlicht hatte, forderte Korn ihn auf, weitere folgen zu lassen, und schlug vor, ein Buch daraus zu kompilieren.²¹⁰ Eine weitere Erklärung bieten sicherlich die positiven Kritiken Korns, auf die ich schon mehrfach Bezug genommen habe. Natürlich bedankte sich Böll nicht einfach für das Wohlwollen eines rezensierenden Journalisten, vielmehr war die Widmung Ausdruck seiner Wertschätzung für einen Mann, der wie er selbst der Gruppe der katholischen Intellektuellen angehörte. Korn hatte schließlich Bölls Werke nicht so sehr als Ausdruck politischen Engagements gewürdigt, sondern aufgrund der Einnahme einer auch literarisch überzeugenden christlichen Perspektive. Es war daher auch alles andere als Zufall, dass Böll nicht ein politisch kontroverses Werk für seine Widmung wählte, sondern ein sehr persönliches Buch, das zugleich überaus christliche Töne anschlug. Der Charakter des Buchs erklärt auch, warum Böll in den Rezensionen Lob erfuhr, das er nur schwer uneingeschränkt akzeptieren konnte. Die Zustimmung, auf die sein Irisches Tagebuch stieß, war oftmals an die Ablehnung seiner stärker politisch akzentuierten Romane geknüpft. So charakterisierte Curt Hohoff in seiner euphorischen Rezension im Rheinischen Merkur den Autor wie folgt: „In diesem Buch hat er das Ressentiment weitgehend überwunden; es riecht nicht mehr nach Waschküche und billigem Tabak.“²¹¹ Böll solle in den Kreis der ‚Dichter‘ aufgenommen werden. Die Zwischentöne der Sprache wurden gefeiert, der assoziative Reichtum gerühmt und die gebannte Gefahr klar benannt: „Böll drohte ein engagierter Autor zu werden.“²¹² Eine ähnliche Perspektive nahm Gerd Kalow in den Neuen Deutschen Heften ein, wenn er seine Hoffnung bestätigt sah, dass Böll sich mit seinem Irlandbuch vom Kriegserlebnis freigeschrieben habe. Kalow zufolge schien er mit seiner neuen Publikation „eine neue, zweite Schaffensperiode begonnen zu haben, die unter der Leitidee Versöhnung von Aufklärung und Katholizität steht“.²¹³ Auch Rudolf Walter Leonhardt, der 1957 das Feuilleton der Zeit übernahm und auf den Treffen der Gruppe 47 anwesend war, rezensierte Irisches Tagebuch positiv, weil es den engen Themenkreis der Romane verlasse und das, „was die literarische Kritik
Böll berichtet von dieser Entstehungsgeschichte in einem Brief an Korn, in dem er ihn bittet, ihm das Irische Tagebuch widmen zu dürfen. Das Antwortschreiben Korns vom 4. 3.1957 ist im Kommentar der Kölner Ausgabe abgedruckt. Vgl. Böll: Werke. 1956 – 1959, S. 702. Curt Hohoff: Bölls „Irisches Tagebuch“. Ein Autor hat sich freigeschrieben. In: Rheinischer Merkur vom 12.07.1957. Ebd. Gert Kalow: Irland als Exempel. In: Neue deutsche Hefte 4 (1957), S. 553 – 554, hier S. 554.
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zuweilen ‚Welthaltigkeit‘ genannt“ habe,²¹⁴ nun endlich manifest geworden sei. Selbst Günter Blöcker lobt den Autor in seiner kritischen Rezension für den Themenwechsel. Böll habe das „Kleben am deutschen Ärger“ überwunden.²¹⁵ Dass Böll in der Anerkennung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten durchaus problematische Aspekte erkannte, wird durch seinen Text Die Verteidigung der Waschküchen deutlich, den er im November 1959 verfasste und in dem er schon im Titel direkten Bezug auf die Rezension von Hohoff nahm.²¹⁶ Man kann nur darüber spekulieren, inwieweit sich Böll in seiner weiteren literarischen Produktion durch seine neuen Freunde beeinflussen ließ. Seine Skepsis gegenüber den lobenden Stimmen wird aus seiner Entgegnung jedoch mehr als deutlich.
3.4 Billard um halb zehn Konsultiert man literaturhistorische Darstellungen der Nachkriegszeit, so wird Bölls 1959 publizierter Roman Billard um halb zehn meistens als literaturhistorisches Ereignis gewürdigt. Insbesondere die Koinzidenz, dass im gleichen Jahr auch Günter Grass’ Die Blechtrommel und Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob erschienen, motiviert diese literaturhistorische Hervorhebung des Jahres.²¹⁷ Aber nicht nur die Literaturgeschichtsschreibung feiert das Jahr, schon in der zeitgenössischen Rezeption im Herbst 1959 zeigte sich enthusiastische Zustimmung. So bezeichnete Rolf Becker, der Bölls Roman für mehrere Printmedien rezensierte, in seinem programmatisch betitelten Artikel Ein Schritt nach vorn die Publikation der drei Romane als Ereignis. Nach einem Lamento über die schablonenhaften ‚Zeitromane‘ des letzten Jahrzehnts verkündet Becker die Wende: „[N]un auf einmal offenbart sich gleich in drei neuen deutschen Romanen eine die Realität,
Rudolf W. Leonhardt: Gibt es große deutsche Schriftsteller. In: Die Zeit (1957), H. 34, S. 8. Günter Blöcker: Heinrich Böll und Irland. In: Der Tagesspiegel vom 21.07.1957. Vgl. Heinrich Böll: Zur Verteidigung der Waschküchen. In: Böll: Werke. 1959 – 1963. Hg. von Robert C. Conard. (Kölner Ausgabe. Bd. 12.) Köln 2008, S. 37– 40. Vom „bundesdeutschen Literaturwunder“ spricht beispielsweise eine Ausstellung der Akademie der Künste. Vgl. Schutte: Dichter und Richter, S. 251. Auch die meisten literaturgeschichtlichen Darstellungen heben das Jahr hervor, sprechen von einem „Durchbruch“ von internationaler Bedeutung oder zitieren Enzensbergers Aussage, dass das „Klassenziel der Weltkultur“ in diesem Jahr endlich erreicht worden sei.Vgl. Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 172; Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 2003, S. 185; Hans M. Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch (1968), H. 15, S. 187– 197, hier S. 190.
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auch die aktuellste, unmittelbar meisternde poetisch-erzählerische Kraft.“²¹⁸ Bölls Roman nur im Kontext des ‚Literaturwunderjahres‘ zu rezipieren, verdeckt jedoch, dass die Reaktionen auf Billard um halb zehn mitnichten nur positiv ausfielen. Nur zwei Kritiker der Gruppe 47 schrieben durchweg positive Rezensionen: Marcel Reich-Ranicki besprach das Buch im hymnischen Tonfall in der Zeit und Joachim Kaiser lobte überschwänglich in der Süddeutschen Zeitung. Des Weiteren hob sich das positive Urteil Karl Korns in der FAZ von den kritischen Stimmen der meisten Rezensentinnen und Rezensenten ab.²¹⁹ Selbst Becker, der Bölls Roman zusammen mit denen von Grass und Johnson als Sensation feierte, betonte, dass Billard um halb zehn von sprachlichen und thematischen Idiosynkrasien nicht frei sei. In einer weiteren Rezension im Sonntagsblatt konstatierte er, dass die Marotte des Protagonisten, jeden Morgen um halb zehn Billard zu spielen, eine von mehreren „poetischen Skurrilitäten“ sei.²²⁰ Während Becker jedoch überwiegend positiv rezensierte, sprachen andere Kritiker vom „Versagen des Autors“²²¹ und bemängelten die „blumige Gleichnisrede“²²² des Romans – so etwa Günter Blöcker im Tagespiegel. Noch einen Schritt weiter ging Paul Hühnerfeld in der Zeit, der nicht nur konstatierte, dass sich Böll mit Billard um halb zehn am epischen Thema verhoben habe und das Buch schlecht konstruiert sei, sondern dem Autor auch generell die Befähigung als Romancier absprach. Böll, so lassen sich die Ausführungen Hühnerfelds zusammenfassen, solle sich lieber der von ihm meisterlich beherrschten Gattung zuwenden: der satirischen Erzählung.²²³ Auch für Franz Schonauer hielten sich positive und negative Aspekte die Waage. Die Frage, ob Bölls neuer Roman als Sackgasse oder neuer Weg seiner Schriftstellerkarriere zu
Rolf Becker: Ein Schritt nach vorn. Grass, Johnson, Böll – drei Ereignisse der jungen deutschen Literatur. In: Magnum – Die Zeitschrift für das moderne Leben (1959), H. 26, S. 62– 63. Von „Weltliteratur“ sprach beispielsweise eine Rezension in der Deutschen Volkszeitung. Vgl. -ens: Billard um halb Zehn. In: Deutsche Volkszeitung vom 20.11.1959. Vgl. Reich-Ranicki: Bitteres aus liebendem Herzen den Deutschen gesagt; Joachim Kaiser: Was ist ein Mensch ohne Trauer? In: Süddeutsche Zeitung vom 12.12.1959; Karl Korn: „Billard um halbzehn“. Unser neuer Roman – Der Autor: H. Böll. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07. 1959. Rolf Becker: „Aber sie züchten nur Wölfe“. Zu Heinrich Bölls neuem Roman. In: Sonntagsblatt vom 18.10.1959. Günter Blöcker: Das deutsche Unbehagen. Zu Heinrich Bölls neuem Roman. In: Der Tagesspiegel vom 06.12.1959. Ebd. Vgl. Hühnerfeld: Heinrich Böll: „Billard um halb zehn“. Auch die Rezension des Romans in der Allgemeinen Sonntagszeitung bemängelte, dass die ersten Bücher Bölls die Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ nicht verdienten, stellte aber auch heraus, dass das neue Buch zumindest einen richtigen Weg einschlage. Vgl. FM: „…so wenig reine Herzen“. Zu Heinrich Bölls neuem Roman „Billard um halbzehn“. In: Allgemeine Sonntagszeitung vom 20.12.1959.
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betrachten sei, bleibe offen.²²⁴ Schonauer bemängelte unter anderem die religiöse Leitmotivik des Buchs und formulierte damit einen Kritikpunkt, der von der überwiegenden Anzahl der Rezensentinnen und Rezensenten geteilt wurde. So sprach die Rheinische Post davon, dass sich das „Symbolhafte“ der Leitmotivik auf die „realistische Zeichnung des Geschehens“ störend auswirke,²²⁵ wurde in Christ und Welt moniert, dass Bölls Sakramentsbegriff zu „glatt“ sei,²²⁶ und bezeichnete Roland H. Wiegenstein in den Frankfurter Heften, einer Böll sehr zugetanen Zeitschrift, die Leitmotive des Sakraments des Lammes und des Büffels als „merkwürdig, ärgerlich und beunruhigend“.²²⁷ In ähnlich kritischer Absicht bemängelte die Allgemeine Sonntagszeitung, dass in Bölls Roman „leitmotivisch eingehämmert“²²⁸ werde und sprach Der Mittag von Manierismen, die sich im „leimotivisch[en] Hintupfen gewisser katholischer Reminiszenzen“ zeigten.²²⁹ Die meisten Besprechungen nahmen diese Kritik jedoch nicht zum Anlass, das gesamte Buch zu verreißen. Vorrangiges Bewertungskriterium war für sie nicht die ästhetische Qualität des Romans, sondern die ethische Dimension desselben. Hedwig Rohdes Rezension steht dafür exemplarisch. Sie kommentiert die Leitmotivik des Buchs mit den Worten: Kaum lockert sich die zielgerichtete Gewissenserforschung einmal zur offenen, auch von helleren Lichtern durchbrochenen Handlung, so schlägt der Hammer von neuem zu, begräbt persönliche Züge unter der Zuchtrute der größeren Absicht.²³⁰
Diese Zeilen lesen sich wie eine vernichtende Kritik. Jedoch folgt diesem Urteil ein Kompliment: Böll habe demonstriert, dass es den „heiligen Zorn“ auch heute noch gebe.²³¹ Der Autor sei ein Mitleidender, wie Swift vor ihm. Rohde legte an den Roman also nicht ästhetische, sondern ethische und religiöse Wertmaßstäbe an. Viele andere Rezensionen argumentierten ähnlich. So benannte die Besprechung im katholischen Hochland die ästhetischen Defizite des Romans zwar, konstatierte Vgl. Franz Schonauer: Eine Sackgasse oder ein neuer Weg? In: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung vom 28.11.1959. Paul Hübner: Wozuwozuwozu oder vom Sakrament des Büffels. In: Rheinische Post vom 30. 10.1959. Wilhelm Westecker: Architektendynastie Fähmel. Zu Heinrich Bölls Roman „Billard um halbzehn“. In: Christ und Welt vom 26.11.1959. Vgl. Roland H. Wiegenstein: Die Unversöhnten. In: Frankfurter Hefte 15 (1960), H. 2, S. 135– 138. FM: „…so wenig reine Herzen“. Brigitte Jeremias: Ein Bekenntnisroman aus unserer Zeit. Zu Heinrich Bölls neuem Werk „Billard um halb zehn“. In: Der Mittag vom 24.10.1959. Hedwig Rohde: Billard um halb zehn. In: Bücherkommentare 8 (1959), H. 3, S. 8. Ebd.
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aber anschließend: Es „handelt sich um eine Bußpredigt, die Stilelemente des Romans verwendet, nicht um einen solchen“.²³² Auch Ingeborg Drewitz bemerkte auf Sender Freies Berlin, dass man Böll „das Unbehagen an der Konstruktion“ verzeihe, „weil man fast auf jeder Seite herausliest, daß hier einer der Menschenbrüderlichkeit zugetan ist“.²³³ Ebenso bemängelte Helmut M. Braem, dass der Autor seinem epischen Thema nicht gewachsen sei und „sich in eine Symbolik geflüchtet“ habe, schloss dann seine Besprechung aber versöhnlich und lobte das Bestreben „des sich mit heiligem Ernst engagierenden“ Schriftstellers, an die immer noch blutenden Wunden des Kriegs zu erinnern.²³⁴ Stehen diese Kritiken auch nicht stellvertretend für die gesamte Rezeption des Romans, so zeigen sie doch eine Tendenz auf, politische und religiöse Gesichtspunkte für die Bewertung von Literatur verstärkt zu berücksichtigen. Zudem fällt auf, dass die politische Ausrichtung des Buchs nirgends explizit kritisiert wurde. Bölls Autorschaftsmodell, das sich nicht vorrangig auf ästhetische Normen berief, wirkte sich also positiv auf die Bewertung seiner Literatur aus. Eine große Gruppe von Rezensentinnen und Rezensenten fundierte ihr Urteil über den Roman auf religiösen Normen. Beobachtet werden kann hier ein Spannungsverhältnis von Religion und Politik. So hob Rohde in ihrer schon angesprochenen Rezension das Paradox hervor, dass Bölls neuer Roman „ein hochpolitisches Buch und zugleich eine Abkehr von aller Politik“ sei.²³⁵ Rohde begründete diese These mit der christlichen Ausrichtung des Romans, die auch in anderen Rezensionen für antipolitische Tendenzen verantwortlich gemacht wurde. Arnold Gehlen, der für die Neue Ruhr-Zeitung rezensierte, sicherte die These, dass es sich bei Billard um halb zehn keinesfalls um ein politisches Buch handele, mit dem Hinweis ab, dass Böll kein Politiker, sondern Moralist sei. Gehlens Konklusion hebt den christlichen Grundton des Buchs hervor: „Böll geht mit seinen Zeitgenossen ins Gericht, aber er führt sie nicht zum Schafott. Er ist kein Richter. Der Richter ist nicht von dieser Welt.“²³⁶ Rolf Becker vermerkte derweil, dass Böll seiner Autorschaft auch mit Billard um halb zehn treu bleibe, die „keineswegs eine politische ist: dem dichterischen Plädoyer für die Armen, Schwachen und Leidenden, für die ewigen Opfer, die ‚Lämmer‘ – nicht im Sinne eines
Wolfgang Grözinger: Zeichen an der Wand. In: Hochland 52 (1959/60), S. 173 – 182, hier S. 180. Ingeborg Drewitz: Heinrich Böll ‚Billard um halb zehn‘ (Sender Freies Berlin am 26.11.1959). Zitiert nach: Bhz, S. 386. Helmut M. Braem: Sakrament des Büffels und des Lammes. Heinrich Bölls Roman „Billard um halb zehn“. In: Stuttgarter Zeitung vom 10.10.1959. Rohde: Billard um halb zehn. Arnold Gehlen: Der neue Böll. „Billard um halb Zehn“. In: Neue Ruhr-Zeitung vom 31.10.1959.
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sozialen Programms, sondern im Geist der Bergpredigt“.²³⁷ Karl Korn, der den Roman anlässlich des Vorabdrucks in der FAZ rezensierte, betonte ebenfalls die Distanz der „schmerzlich schönen Elegie“ zur Politik:²³⁸ Das Buch hat Reife. Es ist aller Tendenz enthoben. Sein Klang ist voll, sein Sinn ist mild, seine Wahrheit ist entschieden und klar: die Wahrheit des Lammes, das geopfert wird, damit die Welt weiterleben kann.²³⁹
Korn, der Böll im gleichen Artikel auch einen „katholischen Fallada“ nannte, sprach nicht als einziger Rezensent davon, dass die Religiosität des Autors ein Antidot zur Tendenz sei. So erkannte auch der Schriftsteller Hans Hellmut Kirst im Münchener Merkur, dass das Buch jenseits aller Tendenz von einer „duldsamen, dunklen Gläubigkeit“ erfüllt sei.²⁴⁰ Die religiöse Dimension des Romans unterstrichen zudem Rezensionen, die keinen Widerspruch zwischen Religion und Politik ausmachten. Zu nennen sind hier an erster Stelle die schon angesprochenen positiven Besprechungen von zwei Kollegen aus der Gruppe 47. So behauptete Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung, dass die Leitmotive nicht Pointen seien, „die durch Wiederholung abgenutzt würden, sondern Symbole für den ewigen Zusammenhang zwischen Alltäglichstem, Schuld und Sühne“.²⁴¹ Marcel Reich-Ranicki machte sogar einen theologischen Unterschied aus, der für das neue Buch des „Moralisten“ bestimmend sei: „Dieses düstere und grausame Buch scheint öfter von alttestamentarischer Strenge als von neutestamentarischer Milde durchdrungen zu sein.“²⁴² Walter Widmer bemerkte unterdessen, dass Bölls „rebellische Katholizität“ ihn zum „Gewissen seiner Heimat“ gemacht habe,²⁴³ und Karl August Horst schrieb in der Neuen Züricher Zeitung, dass es dem Roman gelinge, „bis in die Sphäre des Sakramentalen vorzustoßen“.²⁴⁴ Auch Roland H. Wiegenstein hielt in den Frankfurter Heften die religiöse Ausrichtung des Buchs Becker: „Aber sie züchten nur Wölfe“. Auch eine weitere Rezension Beckers konstatierte einen Widerspruch zwischen der christlichen Perspektive des Buchs und seiner politischen Dimension.Vgl. Rolf Becker: Modell eines christlichen Nonkonformismus. Zu Heinrich Bölls „Billard um halbzehn“. In: Der Monat 12 (1959), H. 134, S. 69 – 74. Korn: „Billard um halbzehn“. Helmut M. Braem hob die „Stimmung der Elegie“ hervor, die den Roman durchziehe. Braem: Sakrament des Büffels und des Lammes. Korn: „Billard um halbzehn“. Hans H. Kirst: Unsentimentales Familienporträt. In: Münchner Merkur vom 24.10.1959. Kaiser: Was ist ein Mensch ohne Trauer? Reich-Ranicki: Bitteres aus liebendem Herzen den Deutschen gesagt. Walter Widmer: Die Bewältigung der unbewältigten Vergangenheit. Zu dem neuen Roman „Billard um halb zehn“ von Heinrich Böll. In: Die Kultur (1959), H. 142, S. 27. Karl A. Horst: Überwindung der Zeit. Zu dem neuen Roman von Heinrich Böll. In: Neue Züricher Zeitung vom 01.11.1959.
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fest. Besonders interessant sind seine Folgerungen aus dieser Beobachtung, denn der Literaturkritiker unternahm den Versuch, die ästhetischen Mängel des Buchs theologisch zu rechtfertigen. Die Passage soll daher in extenso zitiert werden: Hat also Böll das ‚große Werk‘ geschrieben, das man von ihm zu erwarten sich angewöhnt hat? Nein, denn die Erwartung selbst ist unbillig; das große Werk lebt ja von der Voraussetzung, daß es die Welt als Ganzes begreiflich machen könnte, weil es selbst Welt sein würde.Wie sollte so ein Werk aber einem Schriftsteller gelingen, der in einer ‚weltlichen Welt‘, um einen Ausdruck der neuen Theologie zu verwenden, Geistliches sinnt, dem das: ‚Stückwerk ist unser Wissen, und unser Weissagen Stückwerk…‘ als Essenz die Zeilen und Kapitel gebeizt hat […]. Zum ‚großen Werk‘ gehört das gute Gewissen, es würde etwas erklären; aber Böll erklärt nichts, er hat kein gutes Gewissen sondern ein verletztes, seine Unerbittlichkeit und Härte wollen Liebe herbeizitieren durch Irritation.²⁴⁵
Mit Bezug auf den ersten Korintherbrief macht Wiegenstein geltend, dass ein christlicher Autor sich eine olympische Perspektive nicht anmaßen könne. Allwissend sei nur Gott und dies limitiere notwendigerweise Bölls Epik. Ähnlich wie die oben aufgeführten Rezensionen von Rohde, Drewitz und Braem, die unter Berücksichtigung der ethisch-politischen Aussage des Romans über ästhetische Mängel wegsehen, führt Wiegenstein ein theologisches Argument an, um die fehlende literarische Qualität zu rechtfertigen. Es zeigt sich somit in den Rezensionen von Billard um halb zehn, dass Erfolg im literarischen Feld der Nachkriegszeit nicht allein durch ästhetische Brillanz zu erzielen war. Böll, der das Politische in seinem Werk nicht an den Rand drängte, wie es einige Rezensenten nach der Publikation von Irisches Tagebuch erhofft hatten, gelang es, aus politischen und religiösen Positionierungen symbolisches Kapital zu schlagen. Hilfreich dafür war sicherlich, dass er sich 1959 als eine feste Größe im literarischen Feld konsolidiert hatte. Dies zeigt sich nicht nur indirekt daran, dass Rezensenten wie Gehlen von „dem neuen Böll“ sprachen,²⁴⁶ sondern auch durch den schon eingangs angeführten Kommentar von Hühnerfeld, der die fehlende Kritik an Böll auf dessen Renommee zurückführte.²⁴⁷ Sicherlich sollte man bei Einschätzungen wie dieser im Blick behalten, dass Rezensenten durch eine solche Rhetorik auch ihre eigene Originalität inszenieren. Dennoch zeigt sich nicht nur durch den Artikel von Hühnerfeld, dass Böll 1959 zu den arrivierten Autoren des literarischen Felds gerechnet wurde.
Wiegenstein: Die Unversöhnten, S. 138. Gehlen: Der neue Böll. Vgl. Hühnerfeld: Heinrich Böll: „Billard um halb zehn“.
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3.5 Ansichten eines Clowns Intellektuelle Debatten prägten die Rezeption des im Mai 1963 publizierten Romans Ansichten eines Clowns deutlich stärker als die der vorherigen Romane von Böll. Der Grund dafür waren drei kirchenkritische Publikationen, die ein nachhaltiges Echo in den Medien fanden und die katholische Kirche herausforderten. Das Ausmaß der Irritation, die diese Publikationen hervorriefen, wird daran deutlich, dass die Katholische Bischofskonferenz im September des Jahres einen Hirtenbrief veröffentlichte, der die Kritik von Schriftstellerinnen und Schriftstellern an der Kirche scharf zurückwies. Von allen Kanzeln der Bundesrepublik und West-Berlins rief die katholische Kirche in diesem Hirtenbrief zur „ernste[n] Wachsamkeit“ gegenüber katholischen Schriftstellern und der Intelligenz auf, die teilweise einer „sogar häretischen Vorstellung von der Kirche“ anhingen, ein „wirklichkeitsfremdes Idealbild der Kirche“ propagierten und „stets aufs neue ihre scharfe Kritik an allem, was kirchliche Hierarchie und Ordnung in Vergangenheit und Gegenwart betrifft“, äußerten.²⁴⁸ Die skandalträchtigen Publikationen waren Carl Amerys Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute (1963), Karlheinz Deschners kritische Kirchengeschichte Abermals krähte der Hahn (1962) und Rolf Hochhuths Theaterstück Der Stellvertreter, das im Februar 1963 in Berlin von Erwin Piscator uraufgeführt wurde.²⁴⁹ Hochhuths „christliches Trauerspiel“, wie die Gattungsbezeichnung lautet, thematisiert das Nichteingreifen von Papst Pius XII. in den Holocaust und führte wochenlang die Spiegel-Bestsellerliste an.²⁵⁰ In diesem publizistischen Klima erschien Bölls Ansichten eines Clowns und provozierte erneut einen Skandal. Förderlich dafür erwies sich die Pressearbeit des Deutsche Bischofskonferenz: Die deutschen Bischöfe über einige Gefahren in unserer Zeit. In: Herder Korrespondenz 18 (1963/64), S. 25 – 27. Heinrich Böll schrieb das Nachwort zu Carl Amerys Buch und war mit diesem gut befreundet. Amery war zudem Mitglied der Gruppe 47 und stellvertretender Vorsitzender des von Hans Werner Richter angeführten Komitees gegen Atomrüstung. Karlheinz Deschner veröffentlichte 1957 den Sammelband Was halten Sie vom Christentum, in dem auch Böll einen Artikel publizierte. In der Bestsellerliste für das Jahr 1963, die der Spiegel im Heft 52 im Dezember 1963 veröffentlichte, findet sich in der Rubrik Belletristik Hochhuths Drama an erster Stelle, gefolgt von Bölls Ansichten eines Clowns und Grass’ Hundejahre. In der Rubrik Sachbuch belegt Carl Amery den ersten Platz. Es folgt auf dem zwölften Platz Fritz J. Raddatz’ Buch zur öffentlichen Kritik an Hochhuths Drama. Kirchenkritische Publikationen feierten also große Erfolge im Jahr 1963. Nicolai Hannig untersucht die durch Hochhuths Stück ausgelöste journalistische Katholizismuskritik und konstatiert, dass entgegen der kirchlichen Stimmen, die sich als Opfer einer medialen Kampagne inszenierten, die Rolle der Kirche im Nationalsozialismus in den Medien „bis etwa 1967 eher zurückhaltend“ kommentiert wurde und sich die moralische Integrität der Kirche nicht leicht infrage stellen ließ. Nicolai Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945 – 1980. Göttingen 2010, S. 243.
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Verlags. So organisierte Bölls Verleger J. C. Witsch einen Vorabdruck in der Süddeutschen Zeitung, der Anfang April 1963 mit einer Einführung von Joachim Kaiser startete und postwendend eine Protestnote der Katholischen Aktion hervorrief.²⁵¹ Diese appellierte an die Verantwortung, in der die Redaktion der Süddeutschen Zeitung stehe. Es sei redaktionelle Pflicht, die „stellenweise schamlosen Bettgeschichten“ des Buchs dem Zugriff Minderjähriger zu entziehen und die Veröffentlichung einzustellen.²⁵² Dem antiklerikalen Ressentiment des Autors dürfe kein Forum geboten werden. Auch die Bischöfliche Akademie Aachen reagierte auf Bölls neue Publikation und veranstaltete eine Tagung zu Buch und Autor, die allerdings, wie die Deutsche Zeitung berichtete, weniger polemisch verlief.²⁵³ Der Autor selbst war in der Auslieferungswoche seines Buchs zudem im Spiegel prominent vertreten, denn dort wurde anlässlich einer ausführlichen Berichterstattung zu Amerys Buch auch ein Auszug aus Bölls Nachwort abgedruckt, das den zu erwartenden Skandal antizipierte. Böll schrieb über das Buch seines Freundes: „[E]s steht fast allein gegen einen aufgeblähten, publizistischen Apparat, wie er dem deutschen Katholizismus zur Verfügung steht, […] einem Apparat gegenüber, dem Fairneß nicht die vertrauteste aller Vokabeln ist.“²⁵⁴ Es handelte sich also bei beiden Büchern um kalkulierte Skandale. J. C. Witsch sagte schon in der Aprilausgabe seiner Hauszeitschrift Die Kiepe voraus, dass Bölls Roman von vielen angegriffen werden würde.²⁵⁵ In dem auf seinem Artikel basierenden Klappentext von Ansichten eines Clowns hebt Witsch zudem die gesellschaftskritische Perspektive des Romans hervor. Dort heißt es über Böll: Seine Kritik an der Gesellschaft entbehrt jeder ideologischen Aufmachung oder ideologischen Rechtfertigung. Er ist skeptisch gegen alles, was den Menschen einfängt für Formeln,
Bölls gefestigte Position im literarischen Feld und wohl auch seine finanzielle Gesundung sind daran ersichtlich, dass Böll einen Vorabdruck im Magazin Der Stern ablehnte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lehnte hingegen ihrerseits einen Vorabdruck ab. Zitiert nach: SZ: Ansichten über Heinrich Böll. Ein Schlußwort zum Abdruck seines Romans. In: Süddeutsche Zeitung vom 17.05.1963. Der wohl von Joachim Kaiser geschriebene, aber nicht unterzeichnete Artikel zitiert diese und weitere Stellen aus einem vierseitigen Brief der Katholischen Aktion. Auf der Tagung hielt Professor Wilhelm Grenzmann das Hauptreferat, der Böll Ende der 50erJahre noch für den Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen hatte. Vgl. Friedhelm Baukloh: Kein Scheiterhaufen für Böll. Diskussion in der Bischöflichen Akademie Aachen. In: Deutsche Zeitung vom 28.05.1963. Grenzmann verbreitete seine Positionen auch schriftlich: Vgl. Wilhelm Grenzmann: „Ansichten eines Clowns“. Zu Heinrich Bölls neuem Roman. In: Echo der Zeit vom 16.07.1963. Heinrich Böll: Gute und schlechte Katholiken? Heinrich Böll über Carl Amerys Buch „Die Kapitulation“. In: Der Spiegel (1963), H. 19, S. 82. Vgl. J. C. Witsch: Heinrich Böll. Ansichten eines Clowns. In: Die Kiepe 11 (1963), H. 1, S. 3.
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die er nachleben soll,von denen angeblich sein Glück auf dieser Erde und in der anderen Welt abhängt, er glaubt an nichts als an den Menschen in seiner Schwäche, in seiner Einfältigkeit, und er glaubt daran, daß das Christentum nichts anderes ist als eine unendliche Barmherzigkeit.²⁵⁶
Für Witsch resultiert die politische Kritik des Romans aus Bölls religiöser Weltsicht. Nicht parteipolitische Ideologie treibe den Autor an, sondern die christliche Moral. Konnten Klappen- und Werbetext die Rezensentinnen und Rezensenten überzeugen? Entfaltete die christliche Perspektive des Romans die gewünschte gesellschaftskritische Wirkung? Die meisten Rezensionen verrissen den ‚neuen Böll‘ und auch viele Starkritiker der Republik hielten mit ihrer Kritik nicht zurück.²⁵⁷ Es entwickelte sich sogar eine Kontroverse zwischen den verschiedenen Rezensenten im Wochenblatt Die Zeit, das den Roman in zwei Ausgaben von Marcel Reich-Ranicki, Werner Ross, Walter Widmer, Reinhard Baumgart, Rudolf Walter Leonhardt und Rudolf Augstein besprechen ließ. Die Debatte der Starkritiker bezog sich sowohl auf den ästhetischen als auch auf den politischen Wert des Buchs. Vor dem Hintergrund des Versuchs von Witsch, Bölls christliche Perspektive als gesellschaftskritisch zu profilieren, ist es von besonderem Interesse, dass viele Rezensenten hier zu einem anderen Urteil kamen. Marcel Reich-Ranicki, der die Kontroverse mit seiner kritischen Rezension in der Zeit entfachte, konstatierte: „Der katholische Klüngel von Bonn und Köln verstellt dem Autor die Welt.“²⁵⁸ Sprach Witsch von der aufklärerischen Wirkung der christlichen Per-
Klappentext zu Ansichten eines Clowns von Joseph Casper Witsch. Zitiert nach: AeC, S. 351 f. In den wichtigsten Tageszeitungen rezensierten Joachim Kaiser, der den Vorabdruck des Romans in der Süddeutschen Zeitung mit einer Rezension einleitete, und Günter Blöcker für die FAZ positiv. Unterstützung fand Böll zudem bei Ivan Nagel und Walter Widmer, die sich beide an der Kritikerkontroverse in der Zeit beteiligten. Zwei Rezensionen in Zeitschriften, die Bölls Roman explizit nicht gesellschaftskritisch verstanden, müssen außerdem zu den positiven Rezensionen gezählt werden: die von Peter Härtling in Der Monat und Karl August Horst im Merkur. Einige späte Kritiken wie die Rudolf Walter Leonhardts und Joachim Günthers fassen die Kontroverse zusammen. Vgl. Joachim Kaiser: Bölls neuer Roman. In: Süddeutsche Zeitung vom 06.04.1963; Günter Blöcker: Der letzte Mensch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.05.1963; Ivan Nagel: Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“. Glaubwürdigkeit an Stelle von artistischer Mache. In: Die Zeit (1963), H. 23, S. 19; Walter Widmer: Ablenkungsmanöver oder Buchkritik? In: Die Zeit (1963), H. 23, S. 21; Peter Härtling: Ein Clown greift an. Zu Heinrich Bölls neuem Roman. In: Der Monat 15 (1963), H. 177, S. 75 – 78; Karl A. Horst: Die Ehrlichkeit des Clowns. In: Merkur 17 (1963), H. 6, S. 602– 605; Rudolf W. Leonhardt: Ein Roman stiftet verwirrende Ordnung. In: Die Zeit (1963), H. 25, S. 11; Joachim Günther: Meinungsstreit um den neuen Böll. „Ansichten eines Clowns“ – Gesellschaftskritik als Brillantfeuerwerk. In: Der Tagesspiegel vom 20.06.1963. Marcel Reich-Ranicki: Die Geschichte einer Liebe ohne Ehe. Heinrich Böll spann seinen jetzt erscheinenden Roman aus Fäden unterschiedlicher Qualität. In: Die Zeit (1963), H. 19, S. 20.
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spektive, in der Böll die Welt schildere, behauptete Reich-Ranicki, dass seine Kirchenkritik höchstens von regionaler Bedeutung und einer umfassenden Gesellschaftskritik hinderlich sei: So hat sich Bölls Sozialkritik totgelaufen. Die Themen und Objekte haben sich verändert und können nicht mehr so betrachtet und dargestellt werden wie vor etwa einem Jahrzehnt. Dem großen Chronisten der Nachkriegszeit, der einst mit Recht im Namen einer ganzen Generation sprach, ist es nicht gelungen, mit der Entwicklung Schritt zu halten.²⁵⁹
In diesen Zeilen wird deutlich, dass die Frage, ob Bölls Kirchen- und Milieukritik politische Einsichten generiere, wie es Witsch nahelegte, von großer Bedeutung für die politische Einschätzung des Romans war. Reich-Ranickis Skepsis gegenüber der politischen Bedeutung des Werks blieb jedenfalls nicht ungeteilt. So fragte Jost Nolte in der Tageszeitung Die Welt mit Blick auf Bölls Milieukritik: „Aber was sagt er denn, was nicht alle Welt ohnehin glaubt?“²⁶⁰ Jost schloss dann auch mit der These, dass der Autor der Mehrheit nach dem Mund schreibe. Im gleichen Sinne äußerten sich auch die Rezensenten des Rheinischen Merkur und der Stuttgarter Zeitung.Während ersterer davon sprach, dass der Roman Gemeinplätze verbreite, „wie man sie heute in jedem Kaffeehaus zu hören kriegt“,²⁶¹ gab Helmut M. Braem, der Böll zuvor immer positiv besprochen hatte, zu bedenken, dass die Fakten, die der Autor verbittert darstelle, allen bekannt seien.²⁶² Dass die politische Kurzsichtigkeit des Romans aus der Milieukritik resultiere, behauptete auch Werner Ross in der Zeit. Ross diagnostizierte einen „Familienkrach“ unter Katholiken und schlussfolgerte: „Der Roman versackt im Ressentiment.“²⁶³ Ähnliche Thesen waren in der Besprechung von Friedhelm Baukloh in Christ und Welt zu finden, in der es hieß: „Böll hat kein Auge für die wirklichen Störungen im gesellschaftlichen Organismus der Gegenwart. Er bleibt stecken in der bissigen Kritik von Schwächen des katholischen ‚Milieus‘.“²⁶⁴ Gerhard Schüler mutmaßte im gleichen Sinne im Göttinger Tageblatt, dass Böll „häßliche und üble Rander-
Ebd. Jost Nolte: Er schreibt der Mehrheit nach dem Mund. Heinrich Bölls neuer Roman „Ansichten eines Clowns“ ist erschienen. In: Die Welt vom 11.05.1963. Heinz Beckmann: Der Clown und die Katholiken. In: Rheinischer Merkur vom 17.05.1963. Helmut M. Braem: Ein verbitterter Heinrich Böll. Kritische Anmerkungen zu seinem Roman „Ansichten eines Clowns“. In: Stuttgarter Zeitung vom 25.05.1963. Werner Ross: Katholizismus als rotes Tuch. In: Die Zeit (1963), H. 22, S. 13. Friedhelm Baukloh: Fern den Konflikten, nahe den Fluchtgedanken. Ein Versuch über die Traumwelt des Heinrich Böll. In: Christ und Welt vom 14.06.1963.
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scheinungen frontal angreifen“ würde.²⁶⁵ Der Spiegel konstatierte, dass der Autor sein „persönlichstes Streitgespräch mit seiner Kirche“ auf eine Parabel verkürze.²⁶⁶ Schließlich bemängelte auch Rolf Schroers, wie Marcel Reich-Ranicki Mitglied der Gruppe 47, dass der Roman letztlich „Privates als Anklage gegen die Gesellschaft“ formuliere und vieles „nicht eben gesellschaftlich relevant zu sein“ scheine.²⁶⁷ Neben der Kritik der fehlenden politischen Relevanz finden sich in den Rezensionen von Ansichten eines Clowns immer wieder Einsprüche gegen die Ästhetik des Romans. So fragte die Neue Zürcher Zeitung in rhetorischer Absicht: „Soll man einräumen, dass die Botschaft des Buchs allein in schlecht gefügten Sätzen angemessen verkündet werden könne?“²⁶⁸ Die heftigste Kritik entzündete sich jedoch an der Poetologie des Romans, die in vielerlei Hinsicht kritisiert wurde. Widerspruch rief vor allem der homodiegetische Erzähler hervor. Es wurde nicht nur die fehlende Plausibilität angemahnt, dass ausgerechnet ein agnostischer Protestant den Katholizismus so interessiert und kenntnisreich kritisieren könne, sondern dem Erzähler auch jede Tiefe abgesprochen.²⁶⁹ Zudem wurde die Simplifizierung der anderen Romanfiguren beanstandet: Die den Roman dominierende Perspektive des Clowns verzerre diese zu Karikaturen. So kritisierte Arnim Eichholz im Münchner Merkur die politische Schematisierung, die aus der Sichtweise der Erzählerfigur resultiere: So aber müssen Vater, Mutter, Generaldirektor, protestantische Köchin, katholischer Funktionär samt den bekannten oder anonymen Randfiguren fast durchweg miese, irgendwo angeknackte Leute sein, bloß damit der simple Clownblick auch noch gesellschaftlich durchdringend wirkt.²⁷⁰
Gerhard Schüler: „Ansichten eines Clowns“. Bemerkungen zu Heinrich Bölls Roman. In: Göttinger Tageblatt vom 13.07.1963. Clownereien. In: Der Spiegel (1963), H. 20, S. 75 – 76. Rolf Schroers: Eine Maske mit Rissen. Neuer Roman von Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“. In: Vorwärts vom 19.06.1963. D. J.: Heinrich Bölls neuer Roman. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29.06.1963. Die Sprache des Romans wird auch in den folgenden Rezensionen gerügt: Hanns Gensecke: Ein moderner Bajazzo. Zu dem neuen Roman von Heinrich Böll. In: Telegraf vom 21.07.1963; Bernhard Gervink: Fragwürdiges Alibi der Clownsmaske. Der neue Roman von Heinrich Böll: „Ansichten eines Clowns“. In: Westfälische Nachrichten vom 08.06.1963. Vgl. Claus Pack: „Ansichten eines Clowns“. In: Wort und Wahrheit 18 (1963), H. 8/9, S. 562– 563. Achim Eichholz: Warum ist es am Rhein so fies? In: Münchner Merkur vom 11.05.1963.
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In der Tat hielten einige Rezensentinnen und Rezensenten fest, dass Bölls Clown keineswegs listig sei, sondern eher „tumb und plump“.²⁷¹ Auch eine zeitgenössische Rezension von Klaus Jeziorkowski hob die „Differenzierungsschwächen in der Polemik“ hervor und lastete diese Simplifizierung dem zur Identifikation einladenden Erzähler an.²⁷² Andere Literaturkritiker kommentierten die schematische Moral, die die Darstellung von Angehörigen verschiedener Klassen in Bölls Roman präge, weniger erzähltheoretisch als autorkritisch. Rudolf Augstein beispielsweise erklärte die Schwarz-Weiß-Zeichnung von Mitgliedern zahlungskräftiger Klassen mit den Worten: „Es scheint, daß Bölls Ausdrucksmittel für sein beherrschendes Thema, das Nichtvergessendürfen, sich allmählich erschöpfen.“²⁷³ Bölls Angriff ziele zwar auf die Stützen der CDU-Gesellschaft, aber verfehle diese aufgrund eines weltanschaulichen Schematismus: „Eher wird ein Kamel durchs Nadelöhr gehen, ehe Böll einen Angehörigen der ‚niederen Stände‘ unter die Heuchler und alten Nazis reiht.“²⁷⁴ Ähnlich hatte schon Reich-Ranicki die simplifizierte Gegenüberstellung der gesunden proletarischen Welt und des verwerflichen Großbürgertums beanstandet und gefragt: „Wann werden endlich die deutschen Schriftsteller aufhören, das einfache Leben zu preisen?“²⁷⁵ Auch Rezensionen in weniger bedeutenden Zeitungen erkannten eine „Schwarz-WeißKontrastierung“²⁷⁶ des Romans oder eine „Ansammlung von Gemeinplätzen“²⁷⁷ und viele sahen in dem Roman den Ausdruck von Bölls Ressentiment.²⁷⁸ Dass Böll
Jan Herchenröder: Der Weg zum Traualtar führt über die wilde Ehe mit einem Clown. Heinrich Böll zeigt, wie weit es mit einem Millionärssohn kommen kann. In: Abendpost vom 31.08.1963. Ähnlich: Manfred Moschner: Die Litaneien eines Außenseiters. Ansichten über Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“. In: Kölnische Rundschau vom 11.05.1963; Gensecke: Ein moderner Bajazzo. Klaus Jeziorkowski: Ansichten zu den „Ansichten“ – oder der neue Heinrich Böll. In: Diskus (1963), H. 11, S. 43. Rudolf Augstein: Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“. Potemkin am Rhein. In: Die Zeit (1963), H. 24, S. 13. Ebd. Im gleichen Sinne urteilt Baukloh: „Kein Angehöriger der höheren katholischen Hierarchie erreicht bei Böll die Charakterwerte, die der Autor schlichten Arme-Leute-Pfarrern zubilligt.“ Baukloh: Fern den Konflikten, nahe den Fluchtgedanken. Reich-Ranicki: Die Geschichte einer Liebe ohne Ehe. Peter Dannenberg: Die Leiden des jungen Schnier. In: Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 07.08.1963. Klaus U. Reinke: Zwischen Enttäuschung und Hoffnung. In: Der Mittag vom 25.05.1963. Vgl. die folgenden Verrisse: Winfried Henze: Literarischer Antikatholizismus. Heinrich Böll und die Katholiken – „Ansichten eines Clowns“. In: Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.06.1963; Grenzmann: „Ansichten eines Clowns“; Beckmann: Der Clown und die Katholiken; Walter Lennig: Der völlig gescheiterte Clown. Zu Heinrich Bölls neuem Roman. In: Sonntagsblatt vom 23.06.1963;
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den Erzähler als Medium eigener Positionen konzipiert habe, warf auch Rolf Schroers dem Autor im Vorwärts vor: „Bölls Clown ist Chiffre und nicht Clown. […] Der Clown ist eine Maske mit Rissen, die der Autor sich vorgebunden, aufgeschminkt hat, um seinen Essay erzählerisch vortragen zu können, auf Kosten der erzählerischen Glaubwürdigkeit dieser Konstruktion.“²⁷⁹ Reinhard Baumgart machte in seiner Rezension in Die Zeit auf die ästhetischen Konsequenzen des dominanten Engagements aufmerksam. Er konstatierte, dass Bölls Erzählerfigur zu viele Ansichten, Eigenschaften und Ressentiments in sich versammle und dadurch zu Scherben zerfalle, die ihr „unmöglich alle gleich plausibel zu Gesichte stehen“.²⁸⁰ Aber auch Bölls Kunstfertigkeit preisende Rezensenten, wie etwa Walter Widmer, betonten, dass es sich bei dem Werk um einen Angriff auf Politik und Kirche handele, nur eben im Gewand eines Romans: „Böll hat sich doppelt abgesichert: der Roman ist ein langer Monolog, der Bericht eines Clowns, in der Ich-Form erzählt; und dieser Clown ist zudem Protestant.“²⁸¹ Deutlich wird in der Analyse der Rezensionen von Ansichten eines Clowns somit, dass die künstlerische Qualität des Buchs und seine politische Wirkkraft stark angezweifelt wurden. Einige Rezensenten sprachen gar von einer Krise Bölls²⁸² oder suggerierten wie Marcel Reich-Ranicki, dass Böll der veränderten Wirklichkeit nicht mehr gewachsen sei. Dennoch wurde das Buch zum bis dahin meistverkauften Werk Bölls.
3.6 Rezeption im Spannungsfeld von Religion und Politik Die Analyse der Rezensionen von Bölls Werken zwischen 1953 und 1963 hat gezeigt, dass sich zwei Themenkomplexe durch die Rezeptionsgeschichte ziehen. Erstens stellten Rezensentinnen und Rezensenten immer wieder infrage, ob Böll wirklich als ein politischer Autor zu verstehen sei. Zweitens verstummten selbst nach Bölls großen Verkaufserfolgen mit den Romanen Billard um halb zehn und Ansichten eines Clowns die Stimmen nicht, die Bölls Prosa mit ästhetischen Mängeln behaftet sahen. Beide Aspekte sollen nun abschließend erörtert werden. Den Ausgangspunkt dafür bietet die fünfzigste Ausgabe des Spiegels aus dem Jahr
Jens Hoffmann: Bonner Litaneien eines Melancholikers. In: Christ und Welt vom 03.05.1963; Paul Hübner: Bölls Spekulationen auf die Banalität. In: Rheinische Post vom 11.05.1963. Schroers: Eine Maske mit Rissen. Reinhard Baumgart: Unglücklich oder verunglückt? In: Die Zeit (1963), H. 25, S. 12. Widmer: Ablenkungsmanöver oder Buchkritik? Vgl. Reinke: Zwischen Enttäuschung und Hoffnung.
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1961, deren Cover ein Bild von Böll zeigte.²⁸³ Dass Böll es im Jahr 1961 ohne Veröffentlichung eines neuen Romans auf die Titelseite des Spiegels schaffte, kann sicherlich als weiterer Beleg für den Erfolg des Romanciers verstanden werden. Böll führte, wie der Artikel vermerkte, auch ohne neuen Roman über Monate die Bestsellerliste an und verkaufte von Mai bis Dezember 1961 über hunderttausend Exemplare eines Bands, der schon veröffentlichte Erzählungen, Hörspiele und Aufsätze enthielt.²⁸⁴ Die Titelstory des Spiegels berichtete von einer bedeutenden Schriftstellerkarriere und bezeichnete Böll als erfolgreichsten Schriftsteller der Bundesrepublik sowie als deren repräsentativen Autor. Zudem brachte sie ihn als Nobelpreiskandidaten ins Gespräch. Berichtete der Artikel auch von einer Erfolgsgeschichte, so betonte er doch gleichzeitig die oben angesprochenen Zweifel hinsichtlich der dichterischen Qualität der Böll’schen Prosa. Bezug nahm er auf J. C.Witsch, der nach Information des Magazins die bisherigen Prosaarbeiten seines Autors nur als Vorstudien für den noch kommenden großen Roman ansah. Neben anderen Literaturkritikern führte der Artikel auch einen Vortrag von Hans Mayer aus dem Jahr 1959 an, der den Erfolg des Autors nicht auf seine Schreibkunst zurückführte, sondern in seinem moralischen Anspruch begründet sah. Böll sei seinen Leserinnen und Lesern sympathisch, weil er die Perspektive des ‚kleinen Mannes‘ einnehme. Der Spiegel griff also Positionen auf, die in den analysierten Rezensionen von Und sagte kein einziges Wort (1953) bis Ansichten eines Clowns (1963) eine Rolle spielten. Ästhetische Zweifel wurden dort, wie ich gezeigt habe, oftmals mit einem wohlwollenden Blick auf die engagierte Art der Prosa beiseitegeschoben. Doch worauf fußt dieses Engagement? Wurde Böll vorrangig als politischer Autor wahrgenommen oder als schreibender Christ? Der Spiegel beschrieb sein Werk wie folgt: Er schreibt realistisch, aber nicht zu kraß, und stets recht gefühlvoll. Er berichtet mit wackerem Abscheu vom Krieg, vom Militär, von den Nazis und von deutscher Schuld – was ihm gewiss nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch im Ausland gedankt wird –, aber er tut es ohne ideologische Tendenz und ohne kollektive Verdammungsurteile, was wiederum vielen deutschen Lesern angenehm auffällt.²⁸⁵
Hervorgehoben werden von diesen Zeilen ethische Aspekte und der Verzicht auf ‚ideologische‘ Positionierungen. Bölls Prosa, so fuhr der Artikel fort, sei der politischen Zuordnung, dem Rechts-Links-Schema, enthoben. Angeführt wurde in diesem Sinne auch die schon analysierte Einschätzung Ingeborg Bachmanns, die Vgl. Böll. Brot und Boden. In: Der Spiegel (1961), H. 50, S. 71– 86, hier S. 71. Das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur rechnet den Artikel Rolf Becker zu. Es handelt sich um: Heinrich Böll: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze. Köln 1961. Böll. Brot und Boden. In: Der Spiegel (1961), H. 50, S. 71– 86, hier S. 72 f.
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in ihrer Rezension von Bölls erstem Roman konstatierte, dass Böll eigentlich ein unpolitischer Autor sei. Der Spiegel spielte ganz auf der Argumentationslinie Bachmanns Religion gegen Politik aus: Der katholische Moralist Böll verspricht sich nichts von revolutionärer Programmatik, hingegen viel davon, daß die Christen wirkliche Christen wären, daß sie zum Beispiel das Gebot der Nächstenliebe tatsächlich befolgten.²⁸⁶
Der Spiegel-Artikel stellte genauso wie viele der zuvor besprochenen Rezensionen das katholische Fundament von Bölls Gesellschaftskritik in den Vordergrund. Ob diese religiöse Sichtweise apolitisch sei, wie es Ingeborg Bachmann behauptete, einem weichgespülten Politikbegriff entspreche, wie es der Spiegel-Artikel nahelegte, oder in einem noch anders zu begreifenden Verhältnis zum Politischen steht, darüber bestand kein Konsens. Das Verhältnis von Religion und Politik wurde aber keinesfalls als spannungsfrei angesehen. Festzuhalten ist, dass Böll als ein Autor begriffen wurde, der sich aus den politischen Grabenkämpfen heraushielt und eine an der christlichen Ethik orientierte Perspektive auf die Schuldthematik einnahm, durch die er einem weiten Leserkreis offenstand. Vom ‚Gewissen‘, das haben die hier angeführten Rezensionen demonstriert, wurde mit Bezug auf Böll seit seinem ersten Roman gesprochen. Die besondere Bedeutung von Billard um halb zehn für die Karriere des Autors im literarischen Feld erweist sich auch darin, dass er in einer Rezension dieses Romans zum ersten Mal von der Literaturkritik zum ‚Gewissen der Nation‘ erklärt wurde. Böll, so Walter Widmer, sei das „Gewissen seiner Heimat“.²⁸⁷
4 Schallücks Werk in den 1950er-Jahren im Vergleich Paul Schallück war in den 1950er-Jahren kein Unbekannter. Auch wenn Bölls noch junges Werk sicherlich mehr Beachtung zukam, so ruhten doch auch einige Hoffnungen auf Schallück, der in den Jahren zwischen 1951 und 1954 mit drei Romanen Achtungserfolge erzielte. Nicht zuletzt eine 1955 in Der Monat veröffentlichte retrospektive Würdigung seines Werks belegt seinen Erfolg.²⁸⁸ 1955 bekam Schallück zudem zusammen mit Walter Vollmer den Annette-von-DrosteHülshoff-Preis zugesprochen. Die Urkunde hob insbesondere den „realistischen
Ebd., S. 74. Widmer: Die Bewältigung der unbewältigten Vergangenheit. Vgl. Helmut Uhlig: Ein junger deutscher Erzähler. Zu den Romanen von Paul Schallück. In: Der Monat 7 (1955), H. 79, S. 79 – 81.
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Zugriff“ des Autors, seine „unbestechliche Kritik an den Zeitzuständen und die Gestaltung gleichnisstarker Bilder und Gestalten“ hervor.²⁸⁹ Unterstützt werden sollte mit dem Preis explizit ein „junger Autor“,²⁹⁰ der einen erfolgversprechenden Weg eingeschlagen hatte.²⁹¹ Hilfe erhielt Schallück auch von Böll selbst, der 1954 eine Radiosendung über den Autor und Weggefährten für den Süddeutschen Rundfunk herstellte.²⁹² Schallück machte sich aber vor allem als kritischer Kommentator des Zeitgeschehens einen Namen. Günter Dammann nennt Schallück daher auch einen „der führenden, SPD-nahen Linksintellektuellen der Ära Adenauer“.²⁹³ Insbesondere Schallücks zahlreiche Rundfunkbeiträge²⁹⁴ und sein Engagement in der Gruppe 47 können eine solche Einschätzung stützen.²⁹⁵ Hans Werner Richter zählte Schallück schon 1955 zum „feste[n] Kreis“ der Gruppe 47.²⁹⁶ Es war Schallück, der den ersten koordinierten politischen Protest von Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 initiierte, als die deutsche Botschaft in Paris 1956 dafür sorgte, dass Alain Resnais’ Film Nacht und Nebel aus dem Filmwett-
Erwin Sylvanus: Zwei westfälische Literaturpreisträger. In: Westfalenspiegel 4 (1955), H. 7, S. 12– 15, hier S. 14. Ebd. Werner Jung hat auf den Einfluss Benno von Wieses hingewiesen, der sowohl Mitglied der Jury für den Droste-Preis als auch der des Literaturpreises der Stadt Hagen war. Letzteren bekam Schallück 1962 zusammen mit Ernst Meister zugesprochen. Vgl. Werner Jung: Erinnerungsarbeit. Der Schriftsteller Paul Schallück. In: Bernd Kortländer (Hg.): Literaturpreise. Literaturpolitik und Literatur am Beispiel der Region Rheinland/Westfalen. Stuttgart 1998, S. 155 – 174, hier S. 168. Vgl. Heinrich Böll: Paul Schallück. Portrait eines Schriftstellers. In: Böll: Werke. 1953 – 1954. Hg. von Ralf Schnell. (Kölner Ausgabe. Bd. 7.) Köln 2006, S. 302– 307. Günter Dammann: Gegen „deutsche Vergesslichkeit“. Zur Entstehung und zu einigen Kontexten von Paul Schallücks Roman „Engelbert Reineke“ (1959). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 54 (2010), S. 430 – 458, hier S. 431. Grywatsch zufolge war Schallück einer „der meistbeschäftigten Kommentatoren des damaligen NWDR“. Jochen Grywatsch: Aufarbeitung – Dialog – Symbiose. Das Wirken Paul Schallücks für christlich-jüdische Verständigung. In: Hartmut Steinecke u. a. (Hgg.): Jüdische Literatur in Westfalen. Spuren jüdischen Lebens in der westfälischen Literatur. Bielefeld 2004, S. 213 – 236, hier S. 225 f. Die These findet sich bei Scheffler bestätigt, die zudem betont, dass die Rundfunkarbeit für Schallück bis in die 1960er-Jahre wesentlich zum Lebensunterhalt beitrug.Vgl. Ingrid Scheffler: Der Schriftsteller Paul Schallück im Hörfunk des NWDR/WDR. In: Walter Gödden, Jochen Grywatsch (Hgg.): „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Der Schriftsteller Paul Schallück (1922– 1976). Bielefeld 2002, S. 247– 259, hier S. 250. Sein Engagement zeigte sich auch in seiner publizistischen Mitwirkung an Buchprojekten. So beteiligte er sich beispielsweise am Sammelband von Wolfgang Weyrauch. Vgl. Paul Schallück: Zwölf Fragen – dreizehn Antworten. In: Wolfgang Weyrauch (Hg.): Ich lebe in der Bundesrepublik. Fünfzehn Deutsche über Deutschland. München 1960, S. 101– 109. So Richter in einem Rundfunkbeitrag zur Gruppe 47. Zitiert nach: Michael Davidis u. a. (Hgg.): Konstellationen. Literatur um 1955. (Marbacher Kataloge 48.) Marbach am Neckar 1995, S. 361.
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bewerb in Cannes zurückgezogen wurde.²⁹⁷ Schallück intervenierte im Namen seiner Kollegen „Heinrich Böll, Hans Werner Richter, Erich Kuby, Walter Dirks, Alfred Andersch, Eugen Kogon, Hans Georg Brenner, Ernst Kreuder, Wolfgang Hildesheimer und vieler anderer mehr“,²⁹⁸ als er am 22. Mai 1956 eine von ihm verfasste Erklärung im Radio verlas. Diese richtete sich gegen die Absetzung eines Films, der von den Gräueltaten in den Konzentrationslagern berichtete, und warf der deutschen Regierung vor, mit ihrer Intervention gegen den Film dem Vergessen zuzuarbeiten. Diese Episode vermag zu erklären, warum Hans Schwab-Felisch 1976 in seinem Nachruf auf Schallück zwar anmerkte, dass dieser inzwischen nicht mehr zur „erste[n] Reihe“ der Gegenwartsautoren zähle, aber in den 1950er-Jahren „einer der Sprecher der jungen Nachkriegsgeneration“ war.²⁹⁹ Schallücks publizistische Präsenz endete natürlich nicht mit dem Jahrzehnt. Auch in den 1960erJahren war Schallück beispielsweise in den beiden Sammelbänden vertreten, mit denen Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 in die Bundestagswahlkämpfe 1961 und 1965 eingriffen.³⁰⁰ Während seine ersten drei Romane bloße Achtungserfolge blieben, wurde sein 1959 veröffentlichter Roman ein wirklicher Erfolg. Engelbert Reineke, so Heinrich Vormweg im Jahr 1976, sei zu Unrecht vergessen, bilde er doch einen Höhepunkt im „frühe[n] realistische[n] Kapitel“ der Nachkriegsliteratur.³⁰¹ Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Schallücks Erfolgsroman. Sie sollen aber zugleich die Differenzen zwischen seinen ersten drei Romanen und Engelbert Reineke darstellen und aufzeigen, wie Schallück den Autor in seinem Erfolgsroman – ganz wie Heinrich Böll – als Gewissen der Nation inszeniert. Wie sehr Schallücks Autorschaftsmodell ab dem Jahr 1959 demjenigen Bölls ähnelte, wird an den folgenden Sätzen von Siegfried Lenz deutlich, die seiner Laudatio zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises an Schallück im Jahr 1973 entnommen sind. Lenz hob hervor, dass es „vornehmlich Gewissensaufgaben“ seien, die Schallück
Vgl. Helmut Peitsch: „Warum das offizielle Westdeutschland, das mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun haben wolle, einen KZ-Film nicht ertragen könne“. „Vergangenheitsbewältigung“ im Protest der Gruppe 47. In: Joanna Jabłkowska, Małgorzata Półrola (Hgg.): Engagement, Debatten, Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen. Łódź 2002, S. 341– 361. Paul Schallück: Nacht und Nebel und eine Erklärung. In: Frankfurter Hefte 11 (1956), S. 397. Hans Schwab-Felisch: Wenn man aufhören könnte zu lügen. Zum Tode von Paul Schallück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.03.1976. Vgl. Paul Schallück: Versteinerungen. In: Martin Walser (Hg.): Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung? Reinbek bei Hamburg 1961, S. 55 – 60; Paul Schallück: Der Graue (Fritz Erler). In: Hans W. Richter (Hg.): Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 56 – 61. Heinrich Vormweg: Ein Versuch, schreibend zu handeln. Zum Tode von Paul Schallück. In: Süddeutsche Zeitung vom 02.03.1976.
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als verbindlich ansehe, und konkretisierte: „Anerkennung der Leiden, Ermittlung der Wahrheit, Plädoyer für eine neue Brüderlichkeit“.³⁰² Und Lenz weiter: „Ich muß bekennen, mitunter kommt Paul Schallück mir vor wie ein missionierender Spezialist des Gewissens, der zur Selbstbezichtigung anstiftet, um den Traum von einer besseren Wirklichkeit einzulösen.“³⁰³ Wilhelm Unger bezog sich vier Jahre später zur Charakterisierung Schallücks auf diese Worte und sprach ebenfalls von einem „Missionar des Gewissens“.³⁰⁴ Von Böll hätten beide Schriftsteller gleiches formulieren können.
4.1 Die existentielle Thematik der drei Romane aus den Jahren 1951 – 1954 Schallücks erste drei Romane vereint eine existentielle Thematik. So verweist sein Debütroman Wenn man aufhören könnte zu lügen (1951) schon im Titel auf den existentialistischen Diskurs, der die Figurengestaltung und den Plot des Romans entscheidend prägt. Entnommen ist der programmatische Titel dem zentralen Inneren Monolog des Protagonisten Thomas, der Gesellschaft, Kultur, Politik und Christentum als bloße Institutionen des Selbstbetrugs kritisiert: „hinterhältige Konstruktionen, Rauschgift, Schlingen.“³⁰⁵ Zugleich deutet der Titel auf die Schwierigkeiten hin, sich diesen uneigentlichen Existenzmöglichkeiten zu entziehen. Thomas verlangt von sich, einen „unmenschlichen Mut“ (Azl 108) aufzubringen, und der Roman, der über weite Strecken den heterodiegetischen Erzähler verstummen lässt und die Geschichte von Thomas im Inneren Monolog erzählt, inszeniert dieses Pathos. Seine Motivation für den Wunsch, mit sämtlichen soziokulturellen Codes zu brechen, formuliert Thomas in philosophischer Terminologie: „[V]ielleicht würde man dann eines Tages auf den Fußboden der Existenz fallen“ (Azl 108). Der Plot plausibilisiert den Existentialismus des Protagonisten durch das Leid, das ihn seit früher Kindheit verfolgt und sich im Freitod seiner schwangeren Freundin dramatisch steigert. Für Thomas beweist sein Verlust erneut die Sinnlosigkeit des Daseins. Am Ende des Romans steht er auf dem Pfeiler einer Eisenbahnbrücke,von dem schon seine Freundin sprang und sich das
Siegfried Lenz: Laudatio. In: Paul Schallück. Ansprachen und Dokumente zur Verleihung des Kulturpreises der Stadt Dortmund Nelly-Sachs-Preis am 9. Dezember 1973. (Mitteilungen aus dem Literaturarchiv 4.) Dortmund 1973, S. 13 – 22, hier S. 20. Ebd. So Unger im Nachwort zur Neuauflage von Schallücks drittem Roman: Schallück: Die unsichtbare Pforte, S. 255. Paul Schallück: Wenn man aufhören könnte zu lügen. Frankfurt am Main 1963, S. 107. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle Azl zitiert.
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Leben nahm. Er selbst springt jedoch nicht. Meine etwas simplifizierende Synopsis unterstreicht die kulturkritischen Impulse des Romans: Die Mutter des Protagonisten interessiert sich allein für die Fortschritte im Studium ihres Sohnes, der etwas Besseres werden soll. Sein Stiefvater kompensiert die Banalität des Daseins mit einem feuchtfröhlichen wöchentlichen Kneipenabend. Der Freund des Protagonisten huldigt dem Materialismus. Institutionen wie Kino oder Kirche helfen dabei, die existentielle Leere auszufüllen.³⁰⁶ Und die Kommunistische Partei wird im gleichen Sinne als ein Kollektiv dargestellt, das den Beteiligten sagt, „was sie denken und glauben und tun“ (Azl 116) sollen. Der existentialistische Ekel vor Gesellschaft und Kultur wird in Schallücks Roman vor dem Hintergrund des vergangenen Kriegs in Szene gesetzt. Der Schmerz und das durch den Krieg zugefügte Leid tauchen immer wieder aus der Erinnerung verschiedener Romanfiguren auf.³⁰⁷ Die Figuren erscheinen als Opfer des Kriegs und Schallücks Protagonist begreift den Krieg als prägende Erfahrung seiner Generation: „Mein Gott, was müssen wir für Augen haben nach diesem Krieg. Soviel Mitleid gibt es auf der ganzen Welt nicht.“ (Azl 56) Der Roman verzichtet jedoch auf eine politische Perspektive auf den Krieg, sieht man von der impliziten Parteinahme für die deutschen ‚Opfer‘ ab, die dann offensichtlich wird, wenn davon gesprochen wird, dass ein Kamerad von „Partisanen hinterrücks erdolcht und ins Wasser geschmissen worden war“ (Azl 155). In Schallücks Roman illustrieren die Schrecken des Kriegs existentialistische Thesen. Zeigen sollen sie das „demaskierte Gesicht des Menschen“ (Azl 56). Wenn man aufhören könnte zu lügen inszeniert Autorschaft vorrangig in Abgrenzung zur Inneren Emigration. Schallück folgt dabei den Positionen der ‚jungen Generation‘, die im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt worden sind. Anlässlich einer Dichterlesung, die der Protagonist besucht, werden dementsprechend Schlagworte wie „die hohen Musen“, der „schöpferische Mensch“ und die „Kultur des Abendlandes“ (Azl 100) persifliert. Die freundliche Begrüßung durch die Dame des Hauses, die den Salonabend organisiert, spielt zudem auf die Hoffnungen etablierter Kulturträger der Nachkriegszeit an, die Pflege der Kultur nun in die Hände einer neuen Generation geben zu können: „Schönen Dank, daß Sie auch zu uns kommen. Jugend ist immer gern gesehen. Sie muß doch einmal unsere Kultur auf ihre Schultern nehmen, nicht wahr?“ (Azl 98) Schallücks Protagonist will ganz im Sinne der ‚jungen Generation‘ von der „wiedererwachenden Kultur“ (Azl 100) nichts wissen und vergleicht die „hinge-
Vgl. ebd., S. 48 u. 122. Insbesondere durch eine außerhalb der Haupthandlung angesiedelte Figur hält Schallück diese Deutungsfolie präsent. Carla will den Verlust ihres Mannes, der im Krieg fiel, nicht wahrhaben und klammert sich an die Illusion, dass er noch lebe. Sie exemplifiziert so die im Titel angesprochene psychische Herausforderung, die darin liegt, aufzuhören, sich selbst zu belügen.
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bungsvollen Gesichter“ (Azl 99), die der Dichtung lauschen, mit Pflanzen, die wie „künstliche Wasserrosen über dem faulen Teich schwimmen“ (Azl 99). Dieser satirische Blick auf eine epigonale Kultur variiert den existentialistischen Grundton des Romans. Zugleich legitimiert er die eigene Autorschaft, die auf jeden elaborierten Stil verzichtet und sich um einen saloppen Ton bemüht. Zwei Jahre nach seinem Debütroman veröffentlichte Schallück Ankunft null Uhr zwölf (1953). Sein zweiter Roman erzählt eine Geschichte, in der erneut der Tod im Zentrum steht: Eine erst neunzehn Jahre alte junge Frau liegt im Sterben und ihr Vater versucht, ihre Geschwister am Sterbebett zu versammeln. Schallück fokussiert in seinem Roman einerseits das spannungsreiche Verhältnis zwischen den Geschwistern und dem Verlobten der Sterbenden, andererseits die Vergangenheit der Romanfiguren, von der in vielen narrativen Rückblenden berichtet wird.³⁰⁸ Im Angesicht des Todes bekommt die oberflächliche Freundlichkeit zwischen den Protagonisten Brüche und zeigen sich vorher unterdrückte Aggressionen. Zurückgehalten vom moralischen Zwang, der Schwester in ihrer Sterbestunde beizustehen, wagen es Schallücks Protagonisten bis auf eine Ausnahme nicht, die Wohnung zu verlassen. Schallück porträtiert eine geschlossene Gesellschaft, wie Sartre in Huis clos, einem Stück, dessen prominente These – „die Hölle, das sind die anderen“ – in Schallücks Roman Ausdruck findet. Anders als bei Sartre sind die Protagonisten nicht bereits verstorben, sondern werden durch das Sterben ihrer Schwester bzw. Verlobten mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Explizit wird diese erzwungene Konfrontation mit dem Tod in einer Vision des Protagonisten Erich angesprochen, der das Fensterkreuz des Wohnzimmers als Gitter einer Gefängniszelle wahrnimmt, in der er und seine Geschwister eingesperrt sind und „verurteilt, auf etwas zu warten, auf ein Verhängnis, auf ein Urteil, das niemand kannte“.³⁰⁹ Diese namenlose Angst geht in der Wohnung um, wird aber verschwiegen und entfernt die Protagonisten daher immer mehr voneinander. Reflektiert wird sie von dem am positivsten gezeichneten Geschwister, Peter, der in existentialistischer Manier die Unmöglichkeit, die Die Rückblenden erzählen jeweils aus der Vergangenheit der Protagonisten und wurden von Schallück in Tageszeitungen sowie Zeitschriften auch als Kurzgeschichten separat veröffentlicht. Keele listet die zweiundvierzig Veröffentlichungen aus den Jahren 1952– 57 auf.Vgl. Alan F. Keele: Paul Schallück and the Post-War German Don Quixote. A Case-History Prolegomenon to the Literature of the Federal Republic. Bern 1976, S. 106 – 107. Wenig differenziert ist hingegen die These Kay Alexandra Bühlers, Schallück habe scheinbar „die Form von Böll übernommen“. Kay A. Bühler: Paul Schallück – ein vergessener Autor. In: Walter Gödden (Hg.): Literatur in Westfalen. (Beiträge zur Forschung 8.) Bielefeld 2006, S. 217– 241, hier S. 234. Bühler bezieht sich auf Bölls Roman Wo warst du Adam? (1951), der ebenfalls aus kleineren narrativen Einheiten komponiert ist. Das Kompositionsprinzip der Romane ist aber sehr unterschiedlich. Paul Schallück: Ankunft null Uhr Zwölf. Frankfurt am Main 1953, S. 166.
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Schwester auf ihrem letzten Gang zu begleiten, kommentiert: „Wir möchten alle nicht gern zugeben, daß wir nicht dabei sein können, und daß da einer ganz allein ist, das versteht man einfach nicht, zum ersten und zum letzten Male wirklich ganz allein.“³¹⁰ Deutlich wird an diesen Sätzen, dass Schallücks zweiter Roman die Notwendigkeit des Selbstbetrugs, von der schon Wenn man nur aufhören könnte zu lügen berichtet, erneut thematisch aufgreift. Der Tod wird in Ankunft null Uhr zwölf abermals zu einer existentiellen Herausforderung, die aus dem lügenbehafteten Netz des Alltags herausführen kann. Der Titel des Romans spielt auf einen zentralen Erzählstrang an, in dem der schon erwähnte Bruder im Mittelpunkt steht. Zeitgleich mit dem Tod der Schwester trifft Peters Freundin Charlotte ein. Das Warten auf den Tod wird damit von Peter zugleich als eine Zeitspanne erfahren, in der er sein Leben neu ordnen und sich zu seiner Freundin bekennen muss. Mit dem Vorsatz, dass sie nicht mehr allein sein wollen, finden die beiden am Ende des Romans zusammen, der dadurch die Geschichte von Peters Entscheidung besonders in den Vordergrund stellt. Ansonsten berichtet Schallück von scheiternden oder schon gescheiterten Beziehungen: die Ehefrau des Vaters und der Ehemann der Tochter Hilde sind beide bereits verstorben; Luise ist von ihrem Geliebten betrogen worden und leidet unter den Folgen einer brutalen Vergewaltigung; Georg vermeidet, sich zu binden; Erichs Ehe steht vor der Scheidung und schließlich befindet sich auch Roberts Ehe in der Krise. In diesen rückblickend erzählten Episoden werden zudem die gesellschaftlichen Gründe für dieses Scheitern betont: starben die Partner des Vaters, der Tochter Hilde sowie Luises im Krieg bzw. an den direkten Folgen des Kriegs, so leiden die Beziehungen Erichs und Roberts an deren Karrierebesessenheit, die kein Platz für Frau und Familie lässt. Zudem finden sich im Roman auch politische Spitzen gegen die Kontinuität nationalsozialistischer Ansichten,³¹¹ militaristischen Denkens³¹² und antisemitischer Gewalt³¹³ im bundesrepublikanischen Alltag sowie kulturkritische Charakterisierungen der medialen Werbestrategien³¹⁴ und der Presse.³¹⁵ Auch Schallücks zweiter Roman drückt eine „grundsätzliche Abneigung gegenüber Ideologien“
Ebd., S. 258 f. Vgl. ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 178 u. 228. Vgl. ebd., S. 311. Vgl. ebd., S. 68 f. Vgl. ebd., S. 106 f.
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aus.³¹⁶ Diese gesellschaftspolitischen Aspekte stehen aber deutlich im Hintergrund der existentialistischen Thematik des Romans. Auch in Die unsichtbare Pforte (1954) dominiert der existentialistische Diskurs. Im Zentrum steht die Entscheidung des drogenabhängigen Protagonisten, Ulrich Bürger, eine Entziehungskur anzutreten, bzw. sein innerer Kampf, diesen Entschluss gegen alle Hindernisse umzusetzen. Nach zahlreichen Rückfällen und etlichen Umwegen weist sich Schallücks Protagonist schließlich selbst in die Klinik ein. Der Klappentext spricht dementsprechend von einem „Weg in die innere Freiheit“ und intoniert somit das existentialistische Thema, auf das auch der Titel hindeutet. Der Weg in die Klinik wird von Schallück symbolisch codiert: ein Mensch findet den unsichtbaren Weg zu sich selbst und durchschreitet die ‚unsichtbare Pforte‘. Dass Schallück seinen Protagonisten den sprechenden Namen ‚Bürger‘ gegeben hat, deutet auf die Exemplarität hin, die ihm zukommen soll. Der Klappentext hebt zudem hervor, dass Ulrich Bürger als ein Vertreter der ‚jungen Generation‘ verstanden werden soll, indem er den Protagonisten als „ein[en] junge[en] Mann unserer Zeit“ vorstellt. Der Roman illustriert dies auf vielfältige Weise: Ulrich leidet,wie viele aus seiner Generation, an einer Verwundung aus dem Krieg. Er vermisst seinen Bruder, der im Krieg gefallen ist, und litt als Kind unter einem autoritären Vater, der ebenfalls verstorben ist. So wird Ulrichs Orientierungs- und Haltlosigkeit gleichsam als Generationserfahrung ausgewiesen. Auch spart der Roman nicht an Zeit- und Kulturkritik: Die Vergnügungsindustrie wird gegeißelt,³¹⁷ die Presse und der Rundfunk als Hort der Uneigentlichkeit kritisiert³¹⁸ und das Kino als illusionäres Ersatzleben verspottet.³¹⁹ Politische Kommentare finden sich an wenigen Stellen, die die Kontinuität des Militarismus im Nachkriegsdeutschland ansprechen³²⁰ und das Wissen um die Konzentrationslager und den Holocaust thematisieren.³²¹ Zudem wird eine leise Kirchenkritik geübt.³²² Diese Gesellschaftskritik des Romans bildet aber lediglich den Hintergrund, vor dem sich die existentielle Suche des Protagonisten vollzieht. Die vielen religiösen Termini des Romans deuten nicht wie bei Böll auf die soziale und politische Dimension des Christentums hin, sondern überhöhen den inneren Kampf des Protagonisten. Isoliert in der Gesellschaft flüchtet sich der Walter Gödden: Romane schreiben aus Passion. In: Walter Gödden, Jochen Grywatsch (Hgg.): „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Der Schriftsteller Paul Schallück (1922– 1976). Bielefeld 2002, S. 61– 125, hier S. 84. Vgl. Paul Schallück: Die unsichtbare Pforte. Frankfurt am Main 1954, S. 154. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 173. Gödden spricht dementsprechend davon, dass für eine Nebenfigur des Romans das Kino zur „Droge“ würde. Gödden: Romane schreiben aus Passion, S. 101. Vgl. Schallück: Die unsichtbare Pforte, S. 50 u. 65. Vgl. ebd., S. 49 u. 213 f. Vgl. ebd., S. 136.
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Protagonist in eine illusionäre Gemeinschaft, deren „Hostien“ die Tabletten sind.³²³ Aber Ulrich weiß auch, dass er dieser „Versuchung“³²⁴ widerstehen muss, er ansonsten der „Verdammung“³²⁵ nahe ist und sich ins falsche Paradies³²⁶ flüchtet. Die religiöse Diktion unterstreicht, dass die Tabletten nicht nur den Schmerz vergessen lassen, sondern auch Sinn stiften. Diesem zweifelhaften Sinn zu widerstehen und sich mit der eigenen Situation zu konfrontieren, dafür plädiert der Roman in existentialistischer Absicht.
4.2 Schallücks essayistische Positionsbestimmungen Poetologische Reflexionen der eigenen schriftstellerischen Praxis finden sich in Schallücks Essays und Reden zur Kunst nur wenige. Etwas ergiebiger ist in dieser Hinsicht das publizistische Werk des Autors. In ihm informierte Schallück ein breites Publikum über aktuelle Themen wie den Jazz, das Dokument in der Kunst oder die zeitgenössische Avantgarde. Seine Beiträge verwertete er oftmals mehrfach, geschrieben wurden sie primär für den WDR.³²⁷ Steht in ihnen auch Schallücks schriftstellerische Praxis nicht im Vordergrund, so fließen die Normen und Werte des engagierten Schriftstellers allerdings implizit ein: Schallück sieht im Jazz im Gegensatz zum Schlager einen Protest gegen die „verwaltete Welt der Väter“,³²⁸ verteidigt die Fiktion gegenüber den Verkaufserfolgen von „intime[n] Journale[n] berühmter Männer“³²⁹ und kritisiert nur scheinbar avantgardistische Kunst als „modische Masche“, der es nicht um den „aufreibenden Prozeß der Wirklichkeitserhellung“ gehe.³³⁰ Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht auch Schallücks Würdigung von William Faulkners Werk, die den amerikanischen Schriftsteller feiert und dessen Autorschaftsverständnis gegen die Stimmen verteidigt, die Faulkners Pessimismus bemängeln: „Das Tragische, das Leid und der Untergang sind der Raum, in dem Menschliches geschieht; und die Instanz, vor die
Ebd., S. 11 u. 68. Ebd., S. 26. Ebd. Vgl. ebd., S. 25. Einen Überblick über Schallücks Veröffentlichungen bietet: Keele: Paul Schallück and the Post-War German Don Quixote, S. 101– 126. Paul Schallück: Kunst als Protest am Beispiel des Jazz. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 98 – 107, hier S. 106. Paul Schallück: Der Glaube an das Dokument. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 92– 97, hier S. 93. Paul Schallück: Die falschen Avantgardisten. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 74– 78, hier S. 76.
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der Autor seine Figuren zieht, ist die unüberhörbare Stimme des Gewissens.“³³¹ Am deutlichsten propagiert Schallück das Autorschaftsmodell, dem er selbst folgt, in seinem Essay Müssen Dichter dumm sein? Hier spricht er sich gegen den ‚Dichter‘ als „orphischen Stammler“,³³² der von „Gesichten, Visionen und Kündungen überfallen wird“,³³³ und für den ‚Schriftsteller‘ aus. Gegen die Tradition des vates beruft sich Schallück explizit auf den „poeta doctus unserer Tage“.³³⁴ Der Schriftsteller müsse den Schreibtisch gegen das Podium eintauschen können: „Das Dunkel erhellen heißt, es erkennen und in ihm nach Erkenntnis trachten. Um das zu können, muß der Dichter gerade unserer Tage klug sein, intelligent, wissend.“³³⁵ In seinen der Kunst gewidmeten Essays, die sich in seiner einzigen eigenständigen Veröffentlichung von nicht-literarischen Texten finden, verlässt Schallück diese recht allgemeine Ebene des Räsonnements nicht.³³⁶ Konkreter auf sein eigenes Autorschaftsverständnis bezogen ist hingegen ein früher Essay, den Schallück in der Neuen Literarischen Welt veröffentlichte. Schallück nutzte die Zeitschrift der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ähnlich wie Böll, der in der gleichen Ausgabe publizieren durfte, um für eine Literatur in der Tradition Balzacs, Dickens’, Flauberts, Hebbels, Ibsens, Hauptmanns und Shaws zu plädieren. An dieses realistische Erbe, das der Gesellschaft den Spiegel vorhalte, wolle er anknüpfen. Seit jeher sei es die Funktion des Schriftstellers gewesen, „ein therapeutisch schlechtes Gewissen zu machen“.³³⁷ Allerdings, so beklagte sich Schallück, könne an diese Tradition nach Krieg und Holocaust nur unter erschwerten Bedingungen angeknüpft werden, sei die deutsche Gesellschaft doch schon ohne die Schriftsteller genug verunsichert: „Und nun kann sich die Gesellschaft das schlechte Gewissen nicht mehr leisten, nun sieht sie im Schriftsteller ihren Feind, der sie – ein Mißverständnis – endgültig hinabstoßen möchte.“³³⁸ Als Resultat dieser Situation sei der Schriftsteller isoliert, kenne sein Publikum nicht, sondern adressiere anonyme Leserinnen und Leser.Wie schon die Anspielung auf die Therapie verdeutlicht, wünscht sich Schallück ein intimeres Verhältnis zwischen Autor und Leserschaft. Wenn ein Publikum eine bestimmte
Paul Schallück: William Faulkner. In: Werden: Jahrbuch für die Gewerkschaften (1966), H. 9, S. 153 – 161, hier S. 158. Paul Schallück: Müssen Dichter dumm sein? In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 108 – 112, hier S. 108. Ebd. Ebd., S. 112. Ebd., S. 110. Vgl. Paul Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962. Paul Schallück: Literatur für wen? In: Neue literarische Welt (1953), H. 12, S. 5. Ebd.
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Erwartung an den Autor habe, könne sich letzterer daran orientieren. Der christliche Autor erscheint Schallück deswegen im Vorteil, denn er stehe zusammen mit seinen Leserinnen und Lesern in einem Traditionszusammenhang. Bezeichnet Schallück den christlichen Schriftsteller auch explizit als Ausnahme, so wird sein Verhältnis zum Publikum doch zum Wunschbild: „Und nun können wir endlich sagen, was dem Schriftsteller heute wesentlich fehlt: eine große, allumfassende Bewegung, vergleichbar einem Mythos, vergleichbar der großen, christlichen Überlieferung.“³³⁹ Hier wird deutlich, dass für Schallück gemeinsam geteilte Normen und Werte, wie sie Religionen generieren, die Gewissensprüfung durch den Autor erst ermöglichen. Schallück konnte diesen gemeinsamen Horizont nicht voraussetzen. Die Inszenierung von Autorschaft in Engelbert Reineke erklärt ihn aber zur Utopie, wie zu zeigen sein wird. Wie eng Schallücks politische Publizistik und sein literarisches Schaffen Ende der 1950er-Jahre aufeinander bezogen waren, zeigt seine Stellungnahme gegen das Fuldaer Manifest im Jahr 1958. Schallück intervenierte gegen eine Initiative katholischer Intellektueller, die sich über Anzeichen für eine etwas moderatere Ostpolitik der CDU besorgt zeigten und militärischen Schutz gegen einen Angriff der Sowjetunion forderten. Vor diesem Hintergrund erklärte Schallück die Förderung des Dialogs zwischen Ost und West zur Pflicht des Schriftstellers: „Die Sprache, die Beziehung schafft zwischen dem Du und dem Ich, das Hören und Antworten, das Gespräch sind vielleicht keinem so sehr in die Verantwortung gegeben wie dem Schriftsteller.“³⁴⁰ Schallücks Anspielung auf Buber und seine Betonung der ethischen Pflicht zum Dialog verweisen auf seine Inszenierung des Autors als Gewissen der Nation, die auch seinen zeitgleich entstehenden Roman Engelbert Reineke charakterisiert. Die politischen Koordinaten, in die Schallück dieses Autorschaftsmodell eintrug, berührten sich in vielerlei Hinsicht mit den Positionen Bölls. Spielte die Kirchenkritik in Schallücks essayistischem Werk auch keine tragende Rolle, so akzentuierte dieser sein kritisches Gesellschaftspanorama doch ganz ähnlich wie Böll. So richtete sich Schallück in einer grundsätzlichen Darstellung der Gesellschaft der Bundesrepublik, die er zusammen mit vierzehn anderen Intellektuellen in Wolfgang Weyrauchs Sammlung Ich lebe in der Bundesrepublik (1960) veröffentlichte, wiederholt gegen das Vergessen der jüngsten Vergangenheit. Nichts werde in der BRD so erfolgreich betrieben wie das Vergessen.³⁴¹ Grundlage dieser Praxis, so Schallück in zahlreichen Essays, sei der restaurative Zeitgeist. Dem-
Ebd. Paul Schallück: Das Fuldaer Manifest. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (1958), H. 1, S. 34– 47, hier S. 35. Vgl. Schallück: Zwölf Fragen – dreizehn Antworten, S. 103.
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entsprechend schreibe er an gegen „Konformismus“,³⁴² den „alte[n] deutsche[n] Autoritätskomplex“³⁴³ sowie den neuen „Konkurrenzkampf“,³⁴⁴ die Glorifizierung des „Heldentod[s]“,³⁴⁵ „Herzenskälte, Lieblosigkeit und Erfolgsdenken“.³⁴⁶ Ähnlich wie Böll sah auch Schallück in der fehlenden Aufarbeitung und Anerkennung der Vergangenheit ein „neues, großes Unrecht“.³⁴⁷ Zudem fürchtete er um die Zukunft: „Ein verdrängtes Gewissen und die Vergangenheit und die Toten lassen sich wohl kaum auf die Dauer durch neue Fabriken und gehobenen Lebensindex, durch blühenden Export, wiedererlangte Souveränität und materielles Wohlbefinden verdrängen.“³⁴⁸ Schallück warnte vor der Rückkehr des Verdrängten und erinnerte an die unmittelbare Nachkriegszeit, in der vielleicht wegen der wirtschaftlichen Misere noch eine Bereitschaft bestanden habe, „das Vergangene und die Toten heimzuholen“.³⁴⁹ Wirtschaftswunder und ‚deutsche Tüchtigkeit‘ förderten für Schallück genauso wie für Böll die Verdrängung. Hilfe fand auch er im Bibelwort. Schallück bezog sich auf Mt 16,26: „Was hülfe des dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“³⁵⁰ In Schallücks melancholischem Rückblick aus dem Wirtschaftswunderland zurück auf die unmittelbare Nachkriegszeit zeigt sich eine weitere Parallele zu Böll. Beide Autoren partizipierten am anti-restaurativen Diskurs, der nicht nur den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Gruppe 47 Orientierung bot. Die Ähnlichkeit in der Gesellschaftskritik von Schallück und Böll, die ihrer Gegenwart beide vorwarfen, die Vergangenheit auszublenden, bildete die Grundlage dafür, dass beide Schriftsteller den Autor als ‚Gewissen der Nation‘ inszenierten.
4.3 Endlich Erfolg: Engelbert Reineke Nach der Veröffentlichung von Die unsichtbare Pforte im Jahr 1954 vergingen fünf Jahre, bis ein neuer Roman von Paul Schallück erschien. In dieser Zeit veröf-
Ebd., S. 105. Paul Schallück: Von deutscher Resignation. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 17– 22, hier S. 21. Ebd., S. 19. Paul Schallück: Von deutscher Vergeßlichkeit. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 12– 16, hier S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 13. Paul Schallück: Von deutscher Tüchtigkeit. In: Schallück: Zum Beispiel. Frankfurt am Main 1962, S. 7– 11, hier S. 10.
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fentlichte Schallück kleinere Prosaarbeiten, erstellte Beiträge für den Rundfunk und veröffentlichte etliche Essays. Insbesondere beschäftigte sich Schallück mit der kulturellen und politischen Entwicklung der Bundesrepublik. Die Titel seiner Essays zeugen davon: Von deutscher Tüchtigkeit (1954), Von deutscher Vergesslichkeit (1956), Von deutscher Resignation (1957), Von deutscher Gemütlichkeit (1959). Diese und andere Beiträge Schallücks handelten nicht nur von der Nation, sondern erreichten auch ein großes Publikum, da sie vom NWDR bzw. WDR gesendet wurden. Schallücks 1959 veröffentlichter Roman Engelbert Reineke zeigt Spuren dieses politischen Engagements. Insbesondere die essayistische Kritik am Wirtschaftswunder und der fehlenden Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit spiegelt sich im Roman wider. Die zeitgeschichtlichen Motive wurden während Schallücks jahrelanger Arbeit am Roman verstärkt, die existentialistischen Themen hingegen weitgehend herausgenommen.³⁵¹ Auch wenn Engelbert Reineke durchaus noch auf den existentialistischen Diskurs Bezug nimmt, der die ersten drei Romane bestimmte, so lässt er doch gleichzeitig eine Distanz erkennen. Schallück nutzt nun existentialistische Motive und Narrative für die Inszenierung von Autorschaft als Gewissensinstanz der Nation. Anders als bei Böll, mit dem Schallück seit 1958 in der Kölnischen Gesellschaft für ChristlichJüdische Zusammenarbeit und seit 1959 in der Germania Judaica kooperierte,³⁵² sind es allerdings weniger christliche Intertexte, mit denen Autorschaft in Szene gesetzt wird, sondern Schriften des jüdischen Philosophen Martin Buber. Schallücks vierter Roman verweist schon durch den Titel auf die zentrale Stellung des Protagonisten, der zudem als homodiegetischer Erzähler fungiert. Engelbert Reineke kehrt nach Krieg und Studium an das Gymnasium seiner Vaterstadt zurück, an dem er während des Nationalsozialismus Schüler war und an dem auch sein Vater Leopold Reineke als Lehrer arbeitete. Engelbert, der auf den Wunsch seiner Mutter wieder in den Schoß der Familie zurückkehrt, will jedoch keinesfalls das Erbe seines Vaters antreten, der sich dem NS-Regime nicht unterordnete und seinen politischen Widerstand mit dem Leben bezahlte. Von der Vergangenheit, mit der sich durch seine Rückkehr insbesondere die Kollegen konfrontiert sehen, welche an der Verhaftung seines Vaters nicht unschuldig waren, will er anfänglich nichts wissen. Dennoch verschafft sich die Vergangenheit Präsenz und setzt der Roman die unwillkürlichen Erinnerungen des Protagonisten wiederholt in Szene. Immer wieder unterbricht die Erinnerung die Geschehnisse des Tages, an dem sich Engelbert vor die Entscheidung gestellt sieht, ob er sich der Vergangenheit stellen und sie mithilfe jüngerer Kollegen
Vgl. Dammann: Gegen „deutsche Vergesslichkeit“, S. 453. Vgl. Grywatsch: Aufarbeitung – Dialog – Symbiose.
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aufarbeiten soll, oder ob auch er in die Industrie wechseln und eine Karriere verfolgen soll, um zu vergessen. Engelbert entscheidet sich im Laufe dieses Tages schließlich dafür, das politische Erbe seines Vaters anzutreten. Damit wird er zum Autor. Denn den Mittelpunkt des Romans bildet ein von ihm geschriebener Einakter, der sein Gespräch über die Ursachen für die Verhaftung seines Vaters mit zwei weiteren Figuren des Romans, die am Schicksal seines Vaters Schuld tragen, wiedergibt. Dieses „Manuskript“³⁵³ wird im Roman zum Medium einer Verständigung mit jungen Kollegen, die sich ebenfalls gegen die Verdrängung der Vergangenheit zu Wehr setzen wollen und dafür plädieren, dass es „nicht in einer Schublade vermodern“ (ER 197) sollte. In Schallücks viertem Roman wird Autorschaft insofern an zentraler Stelle als politische Aufgabe inszeniert. Schallücks Engelbert Reineke setzt mit einer Meditation über die Zeit ein und schlägt damit ein existentialistisch grundiertes Thema an, das den Roman leitmotivisch begleitet. Engelbert erwacht und erkennt, dass seine ihm vom Vater vermachte Uhr stehengeblieben ist. Er zeigt sich irritiert und sieht in dem eigentlich banalen Umstand ein symbolisches Ereignis: Warum bleibt die Zeit ausgerechnet an dem Tag stehen, an dem er den Schatten der Vergangenheit entkommen und in eine ‚neue Zeit‘ vorwärtsschreiten wollte? Hatte sich nicht auch sein Vater in einer „Privat-Revolution gegen die Zeit“ (ER 11) geweigert, seine Uhr aufzuziehen? Ist er folglich im Begriff, sich gegen das Erbe seines Vaters zu wenden? Und schließlich: Ist die Vergangenheit überhaupt vergangen? Verstrickt in diese Fragen wagt es Engelbert nicht, die Uhr aufzuziehen: „Alles war gegenwärtig. Nichts war vergangen.“ (ER 39) Das Motiv der Uhr muss gleichsam als poetologische Metapher verstanden werden, verweist doch insbesondere ein Traum, in dem die Uhr abwechselnd vor- und zurückgeht, auf den stetigen Wechsel des Romans zwischen Erinnerung einerseits und Wahrnehmung der Gegenwart andererseits. Der Protagonist und Erzähler selbst spricht von einer „Versuchung“ (ER 16), die Uhr wiederaufzuziehen, und deutet so auf die zugleich existentielle und religiöse Dimension hin, die der Erinnerung im Roman zukommt: Hatte ich mich betrogen, als ich glaubte,Vaters Verstrickungen und seinen Tod vergessen zu können? Die Zeiger bewegten sich nicht und in ihre Stille schoß eine Vogelstraße hinein, und auf der Vogelstraße kamen von weit her Erinnerungen heran, Bilder, Szenen – fort, fort, ich will nicht – näherten sich, achtlos, unabhängig: hinsehen mußte ich, hinhören mußte ich […]. (ER 16)
Paul Schallück: Engelbert Reineke. Frankfurt am Main 1959, S. 93. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle ER zitiert.
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Die nicht aufgezogene Uhr generiert seitens des Protagonisten Fragen nach dem eigentlichen Leben. Das Vergessen wird in dieser existentialistischen Perspektive als eine Form der Unaufrichtigkeit erlebt. Es verdrängt die Erinnerungen, die vom Protagonisten immer wieder als Botschaften verstanden und so in einem dialogischen Rahmen verortet werden.³⁵⁴ Indem Schallücks Roman davon erzählt, wie Engelbert lernt, seine Vergangenheit anzunehmen und sich seiner Erinnerung gegenüber zu öffnen, erweitert er eine lediglich politische Perspektive auf das Vergangene und beantwortet die zugleich ethische und existentialistische Frage nach dem richtigen Leben. Die Erinnerungspraxis bekommt dabei auch eine therapeutische Funktion zugesprochen, denn Engelbert betont, dass er „alles noch einmal durchleben“ (ER 175) müsse. Vor der Erinnerung kann man nicht fliehen, ihr muss man sich stellen, so lernt es Engelbert und mit ihm die Leserinnen und Leser gegen Ende des Romans. Dennoch durchbricht der Erinnerungsdiskurs das existentialistische Schema, das in den ersten drei Romanen Schallücks tonangebend war. Schallück vollzieht diesen Bruch sogar explizit, indem er Engelberts Verzweiflung von einem generellen existentialistischen Ekel, wie er von Sartre beschrieben wird, abgrenzt. Das existentialistische Credo seiner Tante Louise, demzufolge „wir in einen leeren Raum der Freiheit geworfen“ seien und der Mensch „nichts anderes als das, was er aus sich macht“ (ER 82), sei, wird von Engelbert zumindest gedanklich verspottet. Seine Tante habe „ihren existentiellen Sartre-Tag“ (ER 82), formuliert er im Stillen. Gegen die philosophische Abstraktion des Existentialismus spricht Engelbert zufolge nicht so sehr die unmittelbare politische Relevanz der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust, als vielmehr die gesellschaftlichen Folgen eines nicht wahrhaftigen Sprechens. Engelbert sieht sich von Dunkelheit umgeben, einsam inmitten einer Nacht, „die Wege und Voraussetzungen, unter denen man miteinander sprechen und etwas klären kann“ (ER 82), verberge. Die in Schallücks Roman formulierte politische Kritik weist insofern über sich hinaus und mündet in einer umfassenden Kulturkritik, die, wie noch zu zeigen sein wird, religiöse Wurzeln besitzt.³⁵⁵ Die Missbilligung der westdeutschen Politik kommt dennoch nicht zu kurz. So kommentiert der Roman nicht nur die Vorgeschichte des Holocaust, indem er die Reichspogromnacht in der fiktiven Kleinstadt Niederhagen schildert und dabei die Beteiligung der Bevölkerung an den Übergriffen deutlich herausstellt.³⁵⁶ Er macht ferner auf die Verdrängung der Erinnerung an den Holocaust im Nachkriegsdeutschland sowie das gezielte Verschweigen des Vgl. ebd., S. 110 u. 187. Günter Dammann hat auf den Einfluss der Kulturtheorie von Jean Gebser für Schallücks Kulturkritik hingewiesen. Vgl. Dammann: Gegen „deutsche Vergesslichkeit“, S. 437. Vgl. ER, S. 65 – 69.
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antisemitischen Terrors in den bundesrepublikanischen Schulen aufmerksam.³⁵⁷ Mit einer Persiflage von Martin Heideggers Rede zur Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg im Jahr 1933 spielt Schallück sowohl auf die Verstrickung deutscher Bildungsinstitutionen in den Nationalsozialismus an als auch auf die Kontinuität der Wertschätzung von Philosophen wie Heidegger, der nach dem Krieg bekanntlich schnell rehabilitiert wurde.³⁵⁸ Ebenso sehr kritisiert der Roman die Wiederbewaffnung,³⁵⁹ die Lüge von der sauberen Wehrmacht³⁶⁰ und die ideologische Aufrüstung gegen den Kommunismus. An Brisanz gewinnt letztere Kritik dadurch, dass Schallück die Denunziation von Kommunisten in die Tradition des NS-Überwachungsstaates stellt und sie als ein Instrument erscheinen lässt, mit dem diejenigen eingeschüchtert werden können, die die Vergangenheit aufarbeiten wollen. Im Roman droht eben die Figur an, Engelbert als Kommunisten zu denunzieren, die schon mitverantwortlich für die Verhaftung seines Vaters durch die Gestapo war.³⁶¹ Als weiterer Akteur in diesem vom Roman entworfenen Panorama der Restauration tritt die katholische Kirche auf. Die Kleinstadt Niederhagen präsentiert eine „Ordnung im Schatten des Kirchturms“ (ER 41), in der die Worte des Pfarrers, der von der Kanzel bemerkt, dass einige „junge Lehrer“ (ER 139) die sonntäglichen Sakramente offenbar verschmähten, ihre Wirkung nicht verfehlen. Diskurshoheit erlangen im ‚Schatten des Kirchturms‘ die Ausfälle des ehemals national gesinnten Heimatdichters gegen „die entwurzelten jungen Lehrer“, hinter deren modernen Ansichten sich „Undankbarkeit gegenüber der Heimat und Haltlosigkeit, oder zersetzender Nihilismus“ (ER 122) verberge. Schallück vermeidet in seinem Roman allerdings weitgehend SchwarzWeiß-Zeichnungen. So verhielt sich der Pfarrer, der gegen Engelbert intrigiert, im Nationalsozialismus durchaus rechtschaffen und stellte sich sogar mutig gegen das Regime. Die Parole „Helm ab zum Gebet“ (ER 29), mit der Schallück auf die Rolle der Kirche im Krieg anspielt, wird keineswegs als verbindlich für alle Geistlichen dargestellt. Engelbert Reineke prangert nicht nur die personellen und institutionellen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik an, sondern stellt – ganz wie Böll – das westdeutsche Wirtschaftswunder als Ursache für das Vergessen und Verdrängen der nationalsozialistischen Vergangenheit dar. Fast schon programmatisch muten die Sätze an, mit denen Dr. Herbert
Vgl. ebd., S. 26 u. 65. Vgl. ebd., S. 17; Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. In: Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910 – 1976. Hg. von Hermann Heidegger. (Gesamtausgabe. Bd. 16.) Frankfurt am Main 2000, S. 107– 117. Vgl. ER, S. 27 u. 154. Vgl. ebd., S. 30 f. Vgl. ebd., S. 106 f.
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Ladegast, leitender Angestellter in der Automobilindustrie, seinem früheren Freund Engelbert die vergangenheitspolitische Dimension des wirtschaftlichen Pragmatismus erläutert: Glaubst du, ein solcher Betrieb könnte überhaupt funktionieren, wenn die leitenden Herren immer noch in ihrer Vergangenheit herumschnüffelten? Was glaubst denn du, wieviele alte Nazis bei UNS in führenden Stellungen beschäftigt sind! Aber was macht das schon? Es klappt. Und das ist die Hauptsache. (ER 123)
Mit Herbert Ladegast besitzt der Roman eine Kontrastfigur zu Engelbert Reineke, die aufzeigt, wie sich dessen Leben, entschlösse er sich, seinen Lehrerberuf aufzugeben und in die Industrie zu wechseln, veränderte. Auch wenn Engelbert durch Aussagen wie die soeben zitierte zunehmend Abstand von seinem früheren Freund nimmt und gegen Ende des Romans zynisch davon spricht, dass in den „hellen Räume[n]“ der Industrie „keine eingemauerten Erinnerungen“ (ER 168) lauern, so heißt das nicht, dass nicht auch für ihn beruflicher und finanzieller Erfolg Anreize darstellen. Projiziert Engelbert den Wunsch, an Aufschwung und Konsum teilzunehmen, auch auf seine Freundin,³⁶² so muss er sich seiner doch selbst erwehren. Dabei hilft ihm ein moralischer Code. Engelbert erkennt in den Produkten der Automobilindustrie „Verlockungen“ (ER 35) und grenzt sich dementsprechend ab. Seiner Freundin unterstellt er, ihm Gedanken wie den folgenden zuzutrauen: „Nur in einem solchen Werk kann ich unabhängig sein, nicht hier an der Schule. Da gibt’s keine Prinzipien und keine Gewissensinstanz, wenn ich mich nur der Betriebsgemeinschaft anpasse.“ (ER 168) Engelbert beruft sich hier im entscheidenden Gespräch mit seiner Freundin ex negativo auf das Gewissen als die Instanz, vor der seine Entscheidung für oder wider die Industrie letztlich standhalten muss. Zeichnet Schallück seinen Protagonisten also durchaus ambivalent, so lässt er ihn schließlich doch die richtigen Normen und Werte erkennen. Dem Gewissenskonzept kommt im Roman strukturierende Bedeutung zu: Engelberts ältere Lehrerkollegen nehmen ihn als „Gewissensbiß“ (ER 27) war, auch wenn er auf die „biblische Frage: Wo ist dein Bruder Abel?“ (ER 83) verzichtete; ein ehemaliger Gegenspieler seines Vaters bekennt ihm sein „schlechtes Gewissen“ (ER 34) und schließlich will auch der ehemalige Direktor seiner Schule, Wolfgang Sondermann, sich das „von der Seele karren […] können, was er seit Jahren in sich angestaut hatte“ (ER 89). Wolfgang Sondermanns Verlangen, mit Engelbert über die Vergangenheit zu sprechen, führt zu einer weiteren religiös konnotierten Gesprächssituation. Engelbert erkennt in Wolfgang Sondermanns Wunsch, sein Gewissen zu erleichtern, Vgl. ebd., S. 168.
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das Interesse an einer „Beichte“ (ER 90), spricht gar von „Beichtgeflüster“ (ER 91), konstatiert aber zugleich Sondermanns Unaufrichtigkeit: „Denn er beichtete und sagte zugleich: Ich bin unschuldig.“ (ER 90) Aber auch seine eigene Rolle missfällt Engelbert: „Wer ließ mich im Beichtstuhl ausharren? Ich hätte aufspringen und sagen müssen: verzeiht, ich bin nicht der richtige Richter.“ (ER 90) Aus dieser Unaufrichtigkeit beider Figuren folgt, dass es ausgerechnet die eindeutig am negativsten gezeichnete Figur des Romans ist, Paul Sondermann, der Bruder des ehemaligen Direktors, welcher auszusprechen wagt, dass es sich um eine „imitierte Beichte“ (ER 97) handelt. Der Dialog zwischen Engelbert,Wolfgang und Paul Sondermann, an dem auch Engelberts Freundin Hildegard teilnimmt, die Tochter Wolfgangs, dokumentiert nicht nur die Verstrickung der beteiligten Brüder in den Tod Leopold Reinekes, sondern reflektiert auch den Umgang mit der Vergangenheit. Signifikant ist in dieser Hinsicht, dass Engelbert zwar an der Aufklärung der Vergangenheit gelegen ist, er sich aber weigert zu verurteilen. Die Anschuldigungen von Paul Sondermann, der von einem Verhör der Inquisition spricht, treffen insofern nicht zu. Vielmehr zeigen sie sich als ein Versuch, das Vergessen der Vergangenheit zu rechtfertigen. An den im Folgenden zitierten Beschuldigungen Paul Sondermanns verhandelt Schallück sein eigenes Autorschaftsmodell: Jede Generation scheint irgendwann mal darauf erpicht zu sein, als verloren zu gelten. Und dann ist sie’s wahrscheinlich auch. Aber täuschen wir uns nicht. In dieser Verlorenheit steckt viel Bitteres, das uns den Teig versauern möchte. Aber wir werden den Appetit nicht verlieren. Jung, bieder und anständig, todanständig, aus Mangel an Gelegenheit. Das ist das Gesicht der Inquisition. Die neue Masche. (ER 98)
Diese Zeilen überschreiten die Diegese und beziehen sich auf die Anschuldigungen, denen sich Schallück, Böll und andere Autorinnen und Autoren der ‚jungen Generation‘ ausgesetzt sahen, wenn sie die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit anprangerten. Indem Schallück zeigt, dass das von Paul Sondermann skizzierte vitalistische Bild, das eine junge Generation zeichnet, der die Moral nur zum Machterhalt dient, ein Zerrbild ist, verteidigt er zugleich sein Autorschaftsmodell. Paul Schallück ist in einer Rezension und auch in der Forschung vorgeworfen worden, dass die entscheidende Figur, die Engelbert schließlich davon überzeugt, in der Schule zu bleiben und die Vergangenheit aufzuarbeiten, deutlich religiös gezeichnet sei.³⁶³ Auffällig ist in der Tat, dass die beiden Figuren mit Vorbild-
John Klapper zufolge versagt der Roman darin „to encompass the social and political aspects of the evil and corruption Engelbert is fighting“. Klapper stellt den Roman vor dieser Deutungsfolie
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charakter, Leopold Reineke und August Lehmköster, sich durch eine religiöse Diktion auszeichnen bzw. als religiöse Akteure beschrieben werden. So spricht Engelbert Reineke mehrfach von der „Prophezeiung“ (ER 43 u. 47) seines Vaters. Bezeichnet wird damit ein Bibelzitat, das Leopold Reineke während des Kriegs nutzt, um auf dessen Konsequenzen hinzuweisen: Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängstigen, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. (ER 42)
Es hat auch taktische Gründe, dass Leopold Reineke hier Lk 19,43 – 44 zitiert, kann er sich doch nicht offen gegen die Nazimachthaber aussprechen. Die Bibel fungiert als Medium politischer Opposition: Leopold Reineke vergleicht die Sünden der Deutschen unter dem Nationalsozialismus mit denen der Bewohner des dem Untergang geweihten Jerusalems. Er ruft damit einen religiösen Code zur Beurteilung des politischen Zeitgeschehens auf. Und auch die zweite vorbildhaft gezeichnete Figur des Romans, August Lehmköster, zitiert gerne aus der Bibel. Dabei verleiht letzterer den vielen Zitaten besonderen Nachdruck durch seine Stimme, die Engelbert Reineke irritiert und fasziniert, da sie sich anhört, „als spräche ein anderer aus seinem Munde“ (ER 137). Wie ein Prophet scheint Lehmköster für Engelbert die Wahrheit zu verkünden: Es war anders als bei meinem Vater, mehr, umfassender, er war triftiger, es kam von weiter her. Allem, was Herr Lehmköster sagte, war etwas beigegeben, das nichts mit dem Manne zu tun haben konnte, der unser Zeichenlehrer war. Er diente, er war nur ein Mittel, ein Durchgang. Er war entrückt. (ER 138)
Engelbert fasziniert diese Entrücktheit. Doch ist es schließlich Lehmköster selbst, der seine prophetische Rede zurücknimmt, ohne die Autorität der biblischen Worte zu widerrufen. Er habe die Bibelstellen bei einer früheren Begegnung nur vor sich hin gesagt, so Lehmköster, weil Engelbert nicht wirklich mit ihm sprechen wollte: „Du warst ja nicht gekommen, um dich mir zuzukehren, wie sich ein
in die Tradition der Inneren Emigration, insbesondere weil die Figur Lehmköster suggeriere, dass allein „supernatural intervention“ das Böse (den Nationalsozialismus) erfolgreich bekämpfen könnte. John Klapper: The Paradox of Simultaneity. „Vergangenheitsbewältigung“ in Paul Schallück’s „Engelbert Reineke“. In: Michael Butler, Robert Evans (Hgg.): The Challenge of German Culture. Essays presented to Wilfried van der Will. Basingstoke 2000, S. 99 – 109, hier S. 108. Vgl. ferner Alexander von Cube: Das Ziel ist sichtbar. Offener Brief an den Autor des Romans „Engelbert Reineke“. In: Geist und Tat 14 (1959), H. 8, S. 244– 247.
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Mensch dem anderen zukehren kann, nicht gekommen, um mich zu hören“ (ER 153).Widerruft Lehmköster hier seine Mahnung mittels der Bibelzitate auch nicht, so gibt er doch zu verstehen, dass es den Monolog zu überwinden gelte. Schallück gestaltete die Figur Lehmköster auf der Grundlage der Philosophie Martin Bubers, dem er ein Jahr vor der Veröffentlichung des Romans in einem Essay zum 80. Geburtstag seine Reverenz erwies.³⁶⁴ In Ich und Du – Die Welt Martin Bubers hebt er hervor, dass Buber auf die „Neubegründung der Gemeinschaft im Gespräch“ abziele, und charakterisiert diese utopische Gemeinschaft mit einer Reihe von Imperativen: „Du sollst dich nicht vorenthalten, du sollst dich nicht verschließen, vor der Welt und den Menschen, du sollst dich nicht zurückziehen.“³⁶⁵ Schallück entnimmt diese drei Imperative Bubers Was ist zu tun? (1919), einer kleinen programmatischen Schrift, in der sich Buber gegen das „Sich-Verschließen, das Sich-Zurückziehen, das Sich-Gegenüberstellen“³⁶⁶ mit expressionistischer Emphase ausspricht und das Gebot „Du sollst dich nicht vorenthalten“³⁶⁷ mehrfach wiederholt. Die drei Gebote, die Schallück im Essay hervorhebt, finden sich auch in Engelbert Reineke. Schallücks Essay zeigt zudem, dass er sich mit der 1954 erschienenen Sammlung zentraler Essays von Buber, die unter dem Titel Die Schriften über das dialogische Prinzip veröffentlich wurde, auseinandergesetzt hat. Lehmkösters Apologie des Dialogs variiert eine Stelle aus Bubers Ich und Du. Der dem Judentum durch seine Frau verbundene Lehrer konstatiert: „Wo kein Gegenüber und keine Teilnahme ist, da ist keine Wirklichkeit, sondern Leere, die nicht antwortet und zu nichts verpflichtet.“ (ER 154) Bei Buber heißt es dementsprechend: „Wo keine Teilnahme ist, ist keine Wirklichkeit“.³⁶⁸ Der dialogische Imperativ, den Lehmköster auf der Grundlage der Philosophie Bubers vertritt, verweist also einerseits auf die Normativität der (jüdischen) Religion, andererseits wird er in Engelbert Reineke als ein säkularer Verhaltenskodex verstanden,³⁶⁹ der seinen religiösen Ursprung zwar nicht verleugnet, religiöse Gehalte jedoch in eine säkulare Sprache übersetzt, wie man es mit Habermas ausdrücken könnte.³⁷⁰ Dass
Vgl. Dammann: Gegen „deutsche Vergesslichkeit“, S. 455. Paul Schallück: Ich und Du. Die Welt Martin Bubers. In: Martin Buber. Reden und Aufsätze zum 80. Geburtstag. (Schriften des Zentralrats der Juden in Deutschland 2.) Düsseldorf 1958, S. 38 – 40, hier S. 39. Martin Buber: Was ist zu tun? In: Buber: Hinweise. Gesammelte Essays. Zürich 1953, S. 290 – 293, hier S. 291. Ebd., S. 290 f. Martin Buber: Die Schriften über das dialogische Prinzip. Heidelberg 1954, S. 65 f. Vgl. Dammann: Gegen „deutsche Vergesslichkeit“, S. 456. Vgl. Jürgen Habermas: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger. In: Habermas: Zwischen Na-
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es sich hier tatsächlich um eine Übersetzung religiöser Normen in säkulare Verhaltensregeln handelt, wird im Roman mehr als deutlich. Denn ungeachtet der religiösen Riten, denen Lehmköster folgt, und der Worte des Ersten Testaments, die er im Munde führt, ist es Leopold Reineke, den er zu seinem Vorbild macht. Die pyramidal angeordneten fünf Portraits von Leopold Reineke, die im Zimmer Lehmkösters an der Wand hängen, kommentiert letzterer gegenüber Engelbert wie folgt: „Dort hängen seine Bilder, fünfmal. Denk nach. […] Und dann sage mir, ob ich diesen Platz über der Tür richtig ausgenutzt habe, oder ob du meinst, ich hätte ihn besser einem Moses vermachen sollen, oder Christus, einem Paulus oder wer dir sonst in den Kopf kommt.“ (ER 154) Lehmköster profiliert Leopold Reineke hier gegen religiöse Akteure und betont damit, dass sich religiöse Gehalte im sozialen Verhalten zeigen müssen. Das dialogische Prinzip wird zwar vom gläubigen Lehmköster propagiert, exemplifiziert wird es aber durch den Nichtgläubigen Leopold Reineke. Schallück greift zur Charakterisierung dieser Figur auf Termini zurück, die Bubers Schriften entnommen sind. Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang das zentrale Gespräch zwischen Vater und Sohn, in dem Leopold Reineke seinen Sohn Engelbert in der Diktion Bubers fragt: „Darf ich mich vorenthalten?“ (ER 165) Der Roman ruft damit eben den dialogischen Imperativ auf, den Schallück in seinem oben zitierten Essay über Buber wortgleich hervorhebt. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn ist außerdem aus dem Grunde signifikant, als in ihm über die Autorität ethischer Imperative gestritten wird. Nachdem Leopold Reineke seinem Sohn erklärt hat,welche Verhaltensmaxime er für sich als bindend anerkennt, fragt dieser: „Wer sagt dir, daß du es nicht darfst?“ (ER 164) und wiederholt damit eine etwas salopper formulierte Frage, die aber den gleichen Sachverhalt berührt: „Was hast du mit der Bibel zu schaffen?“ (ER 164) Leopold Reineke erklärt darauf seinem Sohn, dass auch wenn es stimme, dass er sein Verhalten auf „keinen Glauben“ (ER 165) zurückführen könne, er doch sich selbst gegenüber und seiner Rolle als Pädagoge verantwortlich sei. Dem Verweis auf Bubers dialogischen Imperativ folgt dann ebenfalls im Sinne Bubers ein Plädoyer, „ohne Vorbehalt und Täuschung“ (ER 165) zu leben. Engelberts Vater verteidigt gegenüber seinem Sohn mit diesen Worten seine oppositionelle Haltung, die er trotz geringer Erfolgsaussichten und großer Gefahren beibehalten will. Weder will er aus taktischen Gründen in die NSDAP eintreten, um sich so zu schützen, noch will er sich aus dem Schuldienst zurückziehen. Schallück skizziert auch Erinnerungspraktiken in seinem Roman als Anwendungsfälle des dialogischen Prinzips: Das Gedächtnis bestehe aus ‚Bot-
turalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, S. 119 – 154, hier S. 146.
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schaften‘, die nicht ignoriert werden dürften. Als Beispiel präsentiert Engelbert, der sich gegen Ende des Romans der Vergangenheit zuwendet, seine Freundin Hildegard, die „sich nicht mehr gegen die Botschaften“ (ER 187) wehre. Die Bedeutung der Philosophie Bubers für Schallücks Inszenierung von Autorschaft wird ferner durch den Gesprächskreis junger Lehrer unterstrichen, der sich am Ende des Romans konstituiert. In diesem Raum des Dialogs vollzieht sich Engelberts Autorschaft. Sein Einakter Der Dialog unter der Stehlampe dient nicht vorrangig der Bestrafung der älteren und in NS-Machenschaften verstrickten Lehrer, sondern soll „klare Fronten“ (ER 197) schaffen, also politische Bekenntnisse fördern und damit einen Zustand beenden, in dem die jungen Lehrer voneinander isoliert sind. Engelbert entscheidet sich am Ende nicht einfach dafür, einen politischen Standpunkt zu beziehen, sondern primär will er durch den Dialog ein psychisches Trauma überwinden und eine Gemeinschaft konstituieren. Auslöser seines Traumas war die Erkenntnis, dass sein Vater keinesfalls an „Herzschwäche“ (ER 80) starb, wie es offiziell hieß und wie es auch Engelberts Mutter und Tante glauben, sondern im KZ zu Tode geprügelt wurde. Engelbert verheimlicht diese Wahrheit vor seinen nächsten Verwandten und seiner Freundin, weil er sie als so entsetzlich begreift, dass er sie nicht mitteilen kann. Deswegen lebt er in einem psychischen Zustand, den er als „dunkel, kalt und still“ (ER 80) beschreibt. Seiner Tante gegenüber, der er endlich die Wahrheit berichtet, klagt er: „In der Nacht erkennen wir die Gesichter nicht und wissen nicht, wo der andere steht, wenn er spricht. Wie kann es also Gemeinsamkeit geben?“ (ER 81) Am Ende des Romans endet diese Nacht und beginnt sich die Gemeinsamkeit der Sprechenden zu realisieren, die Engelbert hier einfordert. Seine Autorschaft bekommt vor diesem Hintergrund eine ethische Dimension, die sich mit der politischen Funktion nicht ganz deckt: Die politische Vergangenheitsaufarbeitung diene nicht nur der Wahrheitsfindung oder Gerechtigkeit, sondern auch einem dialogischen Prozess, aus dem erst Gemeinsamkeit entstehen könne. Dem Gewissen zu folgen und die verdrängte Erinnerung in einen Dialog münden zu lassen, liege im existentiellen Interesse des Einzelnen, der so aus seiner „gesprächslosen Einsamkeit“ (ER 155) heraustreten könne. Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘ bekommt von Schallück somit die Aufgabe übertragen, den Dialog der Nation zu fördern, eine neue Gemeinsamkeit zu ermöglichen, auch in seinem eigenen Interesse.
4.4 Dokumentation: Schallücks Romane im Urteil der Literaturkritik Engelbert Reineke wurde von der Literaturkritik sehr positiv aufgenommen und Schallück als politischer Autor gefeiert. Ganz unterschiedlich war die Rezeption seiner ersten drei Romane verlaufen. Wenn die politischen Aspekte seiner frühen
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Prosa mitunter auch angesprochen worden waren, so hatte die Literaturkritik Schallück doch vorwiegend als einen existentialistischen und wenig überzeugenden Autor verstanden. Von Schallücks erstem Roman Wenn man aufhören könnte zu lügen (1951) liegen mir nur wenige Rezensionen und zeitnahe Würdigungen vor.³⁷¹ Sie alle sind sehr kritisch, auch wenn Schallück hier und da Talent bescheinigt wird. So verstand Christian Ferber in den Frankfurter Heften den Roman als ein typisches Produkt der Nachkriegszeit, die „erste verzweifelte und unausgegorene Berichte junger Menschen“³⁷² befördert habe. Ferbers Resümee liest sich wie eine paternalistische Geste des Wohlwollens: „Dennoch: eine Talentprobe, deren Urheber mit weiser Zucht, mit Nachdenken und Bemühen um einen Maßstab vielleicht später einmal zu wirklichen Ergebnissen kommen könnte.“³⁷³ Die Rezensionsnotiz des Spiegels konnte sich nicht einmal zu einem solchen Paternalismus aufschwingen. Sie verriss den Roman gänzlich und warf ihm vor, mit „angeblich allseitiger Verkommenheit“³⁷⁴ zu kokettieren. Vorbehalte meldete auch Helmut Uhligs Artikel über Schallück aus dem Jahr 1955 im Monat an. Kritisiert wurde dort der „chaotische[] Inhalt des Buches“ und die „verworren[e] Charakterzeichnung“.³⁷⁵ Es handele sich jedoch um ein Debüt: Wenn man aufhören könnte zu lügen sei „kein Roman im herkömmlichen Sinne“, Schallück ein „tastender Autor“, der mit dem Roman vor allem für sich selbst etwas erreicht habe: „die Erkenntnis des Ursprungs der Lüge und ihre Überwindung“.³⁷⁶ Der Autor habe sich durch den Schreibprozess in einen Moralisten gewandelt. Autorschaft wurde so als Selbsttherapie begriffen. Auch spätere Würdigungen von Schallücks Werk, wie etwa der von Wolfgang Grözinger im Jahr 1963 verfasste Artikel im Sammelband Schriftsteller der Gegenwart, blieben kritisch gegenüber dem Romanerstling. Grözinger sprach von „Schwulst“ und davon, dass Schallück ein „eher philosophisches als dichterisches Weltgefühl“ von den Menschen trennt.³⁷⁷ Von Politik war die Rede auch hier nicht.
Beachtet wurden Rezensionen, die in der Bibliografie von Munzinger Online sowie in der folgenden Publikation verzeichnet sind: Walter Gödden, Jochen Grywatsch (Hgg.): „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Der Schriftsteller Paul Schallück (1922– 1976). Bielefeld 2002. Christian Ferber: Apokalypsen und Apokalyps’chen. In: Frankfurter Hefte 7 (1952), H. 1, S. 61– 63, hier S. 62. Ebd. Bücher. Neu in Deutschland. In: Der Spiegel (1952), H. 2, S. 30. Uhlig: Ein junger deutscher Erzähler, S. 79. Ebd. Wolfgang Grözinger: Paul Schallück. In: Klaus Nonnenmann (Hg.): Schriftsteller der Gegenwart. Deutsche Literatur. Dreiundfünfzig Porträts. Olten und Freiburg i. Br. 1963, S. 274– 279, hier S. 276.
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Schallücks zweiter Roman Ankunft null Uhr zwölf (1953) wurde deutlich positiver besprochen. Positive und negative Rezensionen hielten sich die Waage. Auch kritische Besprechungen lobten insbesondere die sichere Beherrschung schriftstellerischer Techniken. Fast alle Rezensionen hoben die Form des Romans hervor. Viele verglichen die Erzählweise mit Techniken des Films und sprachen von einer „eher filmische[n] als epische[n] Komposition“³⁷⁸ oder von einer „modernen, weitgehend vom Film inspirierten Romantechnik“.³⁷⁹ Schallück wurde in diesem Sinne auch als „sensibler Kameramann“ und „kluger Cutter“ bezeichnet.³⁸⁰ Oder ihm wurde eine „sichere Hand bei der Charakterzeichnung“ attestiert.³⁸¹ Andere Rezensionen gestanden dem Autor eine „reiche Skala des Ausdrucks“³⁸² und Szenen „voll dramatischer Wucht“³⁸³ zu. Allerdings mischte sich Kritik in das Lob von Schallücks handwerklichen Fähigkeiten: „Schallück beherrscht die Technik filmschnittartiger Übergänge zwischen den Schauplätzen und Zeiten allerdings fast allzu gut.“³⁸⁴ Eine andere Rezension erkannte „Monotonie“.³⁸⁵ Im Merkur kritisierte Karl August Horst im gleichen Sinne: „Doch immer wieder zerschneidet die Schere des Romantechnikers den immanenten Fluß der Handlung.“³⁸⁶ Schallück, so Roland H.Wiegenstein, bewege sich schriftstellerisch auf der „Höhe der Zeit“, aber „Dichtung ist es nicht“.³⁸⁷ Die politischen Aspekte des Romans wurden von einigen Rezensionen ebenfalls hervorgehoben, allerdings meistens negativ. Schallück sei der „Verführung zur Kolportage nicht immer entgangen“.³⁸⁸ Besonders kritisch rezensierte die FAZ, die eine aggressive „Zeitund Gesellschaftskritik“ beanstandete und im Resümee Schallück zusammen mit Böll sowie Köppen vorwarf, keine Kunst, sondern „politische Publizistik“ zu
Heinz Beckmann: Fahrlässiger Ernst. Preis für Warsinsky und sauberes Handwerk bei Paul Schallück. In: Rheinischer Merkur vom 16.10.1953. Helene Rahms: Vor einem Sterbezimmer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.12.1953. Vom Film spricht auch: Roland H. Wiegenstein: Realismus und sein Widerspiel. In: Frankfurter Hefte 9 (1954), S. 297– 300. L. Z.: „Ankunft Null Uhr Zwölf“. Vorschau auf einen neuen Roman von Paul Schallück. In: Kölnische Rundschau vom 02.08.1953. Uhlig: Ein junger deutscher Erzähler, S. 80. S-e: Fünf Stunden aneinander vorbei. Zu Schallücks neuem Roman „Ankunft null Uhr zwölf“. In: Hamburger Anzeiger vom 16.10.1953. W. B.: Ankunft null Uhr zwölf. In: Neue Tagespost vom 30.11.1953. Bücher. Neu in Deutschland. In: Der Spiegel (1954), H. 4, S. 33. Axel Kaun: Das Drama des Durchschnittsmenschen. In: Bücherkommentare (1953), H. 4, S. 76. Karl A. Horst: Neue Nachkriegsromane. In: Merkur 8 (1954), H. 2, S. 187– 190, hier S. 189. Wiegenstein: Realismus und sein Widerspiel. Salzburger Nachrichten vom 03.11.1953: „Ankunft null Uhr zwölf“.
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produzieren.³⁸⁹ Jedoch finden sich auch positive Bezugnahmen auf die politische Dimension des Romans. Sie betonten, dass Schallück sich zum „Anwalt der Menschen, nicht aber zum Ankläger der Menschheit berufen fühlt.“³⁹⁰ Die meisten Rezensionen verstanden den Roman jedoch nicht als politische Aussage. Der Roman berühre „die Probleme der Gegenwart nur am Rande“ und bleibe im „privat familiären Bereich“ stecken, so etwa die Deutsche Volkszeitung. ³⁹¹ Schallück sei in seinem zweiten Roman „reifer“ geworden und seine Figuren seien „gläubiger gestaltet“.³⁹² Die religiöse Dimension des Romans wurde sogar als „heimliche[s] Credo“ des Autors verstanden.³⁹³ In Hochland hob Wolfgang Grözinger dementsprechend hervor, dass in Schallücks Roman „dem Tode die Majestät zurückgegeben“ werde.³⁹⁴ Auch der Verriss in Die Gegenwart hob die Metaphysik des Romans hervor: Schallück zeige sich einer Literatur zugehörig, die „sich mit symbolischen Wünschelruten aufgemacht hat, die ‚wahre Wirklichkeit‘ zu entdecken“.³⁹⁵ Schallücks dritter Roman Die unsichtbare Pforte (1954) enttäuschte das Feuilleton. Wenige positive standen einer etwas größeren Anzahl negativer Rezensionen sowie Besprechungen gegenüber, die zwar auch Gutes über den neuen Roman zu sagen hatten, jedoch vorrangig ihrer Ernüchterung Ausdruck verliehen.³⁹⁶ Die Enttäuschung erklärt sich auch aus den gestiegenen Erwartungen an Schallück:Viele Rezensionen erwähnten Schallücks Roman Ankunft null Uhr zwölf aus dem Vorjahr äußerst positiv³⁹⁷ und sprachen von Schallück als „große[r] Hoffnung der deutschen Literatur“.³⁹⁸ Andere Besprechungen spekulierten über die Gründe, warum der Autor mit seinem neuen Roman nicht überzeugen könne:
Rahms: Vor einem Sterbezimmer. L. Z.: „Ankunft Null Uhr Zwölf“. Joachim Cronmayer: Der leere Griff ins Menschenleben. Zwei Versuche Paul Schallücks zur deutschen Gegenwart. In: Deutsche Volkszeitung vom 30.06.1956. S-e: Fünf Stunden aneinander vorbei. Kaun: Das Drama des Durchschnittsmenschen. Wolfgang Grözinger: Erzähler, Denker und Träumer. Bemerkungen zu neuen Romanen. In: Hochland 46 (1953/54), S. 181– 191. r. h.: Albtraum. In: Die Gegenwart vom 10.10.1953. Mir liegen sieben negative, vier positive und fünf ausgewogene Besprechungen vor. Nur in einer Rezension wird Ankunft null Uhr zwölf als misslungen bezeichnet und der neue Roman davon positiv angehoben. Vgl. Hans Schwab-Felisch: „Die unsichtbare Pforte“. In: Die Neue Zeitung vom 03.10.1954. Willibald Omansen: Die Verlassenheit des Menschen. Zu den neuen Romanen von Schallück und Steinbeck. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 18.12.1954.
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„Wahrscheinlich ist der neue Roman seinem Vorgänger zu rasch gefolgt.“³⁹⁹ Kritisiert wurde einerseits die Distanz des Erzählers zu seinem Protagonisten⁴⁰⁰ und andererseits der Versuch des Autors, aus dem Schicksal desselben ein Sinnbild der gegenwärtigen Situation des Menschen in der Gesellschaft zu gestalten. Der Verlag hatte einer allegorischen Interpretation, für die der Roman selbst natürlich auch Gründe liefert, durch den Klappentext Vorschub geleistet. Dort hieß es, dass der Weg des Protagonisten „unser aller Weg ist“. Die allermeisten Rezensentinnen und Rezensenten wollten dies nicht gelten lassen. „Allgemeingültigkeit erfüllt die Fabel nicht“,⁴⁰¹ war beispielsweise im Spiegel zu lesen. Viele Rezensionen komplementierten dieses Urteil mit einer Kritik am Stil des Romans: Die „überdeutliche und direkt ausgesagte Sinnbildlichkeit seiner Figur“ sei das „Ungekonnteste an dem Buch“.⁴⁰² Der Versuch, ein „Spiegelbild unserer Zeit“ zu schaffen, bleibe im „Klischeehaften stecken“.⁴⁰³ Schallück scheitere mit den „einfältigen Mitteln der Reportage“,⁴⁰⁴ es fehle „eine überzeugende Gestaltung“,⁴⁰⁵ ja die ganze Handlung scheine aus der „Illustriertenreportage“⁴⁰⁶ entnommen und komme über einen „Entwurf am Reißbrett“ nicht hinaus.⁴⁰⁷ Mitunter wurde dem Buch sogar abgesprochen, ein Roman zu sein, es lese sich wie ein „zeitgeschichtlicher Beitrag“,⁴⁰⁸ dessen Figuren „über den Weg der Reflexion entworfen“ seien.⁴⁰⁹ Schallücks Kulturkritik, die „mutig und offen die Erscheinungen der Vermassung, der Verflachung und Verödung unseres Daseins angeht“,⁴¹⁰ wurde aber auch positiv hervorgehoben. Insbesondere die positiven Besprechungen bescheinigten dem Roman, ein individuelles Schicksal in den Mittelpunkt zu stellen,von dem aus „sich doch immer wieder fast symbolhafte
Herbert Schütte: Im Strohfeuer der Entschlüsse. In: Hamburger Anzeiger vom 23.10.1954. Einen ähnlichen Verdacht äußert: H. J.: Eine Enttäuschung. Schallück schrieb „Die unsichtbare Pforte“. In: Hamburger Echo vom 09.04.1955. Vgl. Schütte: Im Strohfeuer der Entschlüsse; Helmut M. Braem: Ruf nach der Ordnung. In: Deutsche Rundschau (1955), H. 1, S. 87– 88, hier S. 88. Bücher. Neu in Deutschland. In: Der Spiegel (1954), H. 50, S. 46. Helene Rahms: Entschluß zur Entwöhnungskur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.09.1954. H. J.: Eine Enttäuschung. Günther Rühle: Dichterische Entwöhnungskur? Bemerkungen zum neuen Roman von Paul Schallück. In: Frankfurter Neue Presse vom 28.10.1954. rhw: Hinter der glänzenden Fassade. In: Deutsches Volksblatt vom 08.10.1954. Paul Hübner: Pillen-Literatur und Kloaken-Phantasie. In: Rheinische Post vom 13.11.1954. Braem: Ruf nach der Ordnung, S. 87. Omansen: Die Verlassenheit des Menschen. Erich Kock: Tablette, Zelle und „Balsam“. In: Wort und Wahrheit 10 (1955), H. 1, S. 63 – 64. elwe: Griff in die Zeit. Zwei beachtenswerte Romane aus unserer Gegenwart. In: Mannheimer Morgen vom 15.12.1954.
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Vergleichsmöglichkeiten zu unserem eigenen Leben und Erleben“ ergäben.⁴¹¹ Das Individuelle habe durchaus allgemeine Geltung: „Schallück sucht die Grenzbereiche zwischen sehr genauer Realität und tieferer Bedeutung auf.“⁴¹² Schallücks Roman Die unsichtbare Pforte wurde also als kulturkritisch aufgenommen. Eine politische Anklage konnten die meisten Rezensentinnen und Rezensenten in dem Roman aber nicht entdecken. Vielmehr wurde dem Autor zugestanden, für das Leiden der Nachkriegsgeneration literarischen Ausdruck zu suchen. Schallück akzentuiere „seine Geschichte nicht ausdrücklich gesellschaftskritisch“,⁴¹³ so etwa das Deutsche Volksblatt. Helmut M. Braem besprach Schallück in der Deutschen Rundschau als einen Autor der ‚jungen Generation‘. Die Doppelrezension verglich Die unsichtbare Pforte mit Heinrich Bölls im gleichen Jahr publizierten Roman Haus ohne Hüter wie folgt: „Auch Paul Schallück, der mit Recht schon längst zu dem kleinen Stamm der Nachwuchsautoren zählt, entwirft ein Panorama – jedoch kein soziologisches wie Heinrich Böll, sondern das einer gefährdeten Seele.“⁴¹⁴ Verschwiegen die Rezensionen die zeitkritischen Aspekte von Schallücks drittem Roman auch nicht, so nahmen sie Schallück dennoch erneut nicht als politischen Autor wahr. Die Rezensionen von Engelbert Reineke entwarfen dann ein komplett neues Bild von Schallück. Schallücks Achtungserfolge als Romancier in den frühen 1950er-Jahren und seine vielfach anerkannte politische Publizistik mag erklären, warum Friedrich Sieburg, der wohl profilierteste Kritiker der Nachkriegszeit, seinen 1959 erschienenen Roman Engelbert Reineke rezensierte. Dass das weit verbreitete Bild von Sieburg als Widersacher der Gruppe 47 zu einseitig ist, zeigt sich u. a. an eben dieser Besprechung. Sieburg nutzte in ihr genau das Argumentationsmuster, das in vielen wohlwollenden Rezensionen von Bölls Billard um halb zehn bereits aufgezeigt werden konnte. Er benannte die künstlerischen Schwächen, betonte aber die moralische Bedeutung des Romans. Sieburg griff dabei die zeitgenössische Debatte über die ‚unbewältigte Vergangenheit‘ auf und gab zu bedenken, dass an die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Tat zu wenig erinnert werde: Auf die Verdrängung ist die Ignorierung gefolgt. Das Verschweigen und Vergessen sind die ersten Stufen zur Entwirklichung. Sache des Schriftstellers ist es, die Wirklichkeit so wiederherzustellen, daß sie vom Verleugnen nicht mehr erreicht werden kann. Der Autor
Dieter Krusche: Die unsichtbare Pforte. In: Welt der Arbeit vom 03.12.1954. Rolf Bongs: Neue Namen in der deutschen Literatur. Zu Schallücks Roman „Die unsichtbare Pforte“. In: Düsseldorfer Nachrichten vom 24.12.1954. rhw: Hinter der glänzenden Fassade. Braem: Ruf nach der Ordnung, S. 87.
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Schallück hat sich also eine Aufgabe gestellt, deren Aktualität jede Kritik entwaffnet. Der Leser kann ihm nur recht geben, auch wenn ihn das Buch als Roman nicht völlig überzeugt.⁴¹⁵
Sieburg stellt hier die Grenzen einer ästhetischen Bewertung des Romans heraus. Lässt sich bei genauer Lektüre seines Artikels auch das Bedauern über die ästhetischen Mängel erkennen, so schloss der Artikel doch unmissverständlich mit dem Lob des Autors, dessen Leidenschaft, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, vorbildlich sei: „[D]as moralische Phänomen, dem der Autor hier zu Leibe geht, ist so überwältigend, daß in seinem Schatten die Frage, ob er damit auch einen guten Roman geschrieben hat, ihre Dringlichkeit verliert.“⁴¹⁶ In diesem Maße war Schallücks Autorschaft zuvor weder herausgestellt noch politisch verstanden worden. Auch eine weitere große überregionale Tageszeitung, die Welt, stellte den Roman in den Kontext der vergangenheitspolitischen Debatte. Schallück wurde dort nicht nur als Romanautor vorgestellt, sondern auch als ein Intellektueller, der sich im WDR leidenschaftlich und fundiert gegen das Vergessen der deutschen Schuld ausgesprochen habe: „Schallück ist mutig und schreckt vor keinem Tabu zurück. Was immer in diesem Roman steht – gerade das Unbequeme, das was jeder weiß, aber niemand gerne ausspricht –, es ist richtig und gut.“⁴¹⁷ Auch der Rezensent der Welt gestand die künstlerischen Schwächen des Romans ein. Er hob aber zugleich hervor, dass wenn auch aus der moralischen Ausrichtung des Romans ästhetisch fragwürdige Konsequenzen resultierten, die „Moral von der Geschichte […] nicht intensiv genug gepredigt werden“ könne.⁴¹⁸ Die Besprechung endete dann auch mit der Empfehlung an die Adresse junger Leserinnen und Leser, denen die Vergangenheit verschwiegen werde, das Buch zu lesen. Die Süddeutsche Zeitung urteilte ähnlich. Deutete der Rezensent auch einige handwerkliche Schwächen an, so hob er doch die politische Signifikanz des Romans hervor: „Wir brauchen solche Bücher – heute noch brauchen wir sie!“⁴¹⁹ Die ausführliche Besprechung von Roland H. Wiegenstein in den Frankfurter Heften konkludierte im gleichen Sinne. In Hinsicht auf das „eminent politische[] Buch“ Schallücks konstatierte Wiegenstein: „Über seinen literarischen Rang mag
Friedrich Sieburg: Die Schuld der anderen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.06. 1959. Ebd. Rolf Bongs: Unvergeßbare Schuld. Paul Schallücks so notwendiger Protest. In: Die Welt vom 18.07.1959. Ebd. Roland Ziersch: Vom fortzeugend Bösen. In: Süddeutsche Zeitung vom 08.08.1959.
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man diskutieren […], über seine moralische Würde gibt es keine Diskussion.“⁴²⁰ Ähnlich resümierte die Rezension des Industriekuriers: „Paul Schallück hat mit diesem Zeitroman einer geschichtsmüden und geschichtsfeigen Gesellschaft ein fast dichterisches Lehrstück geschrieben.“⁴²¹ In der Zeitschrift Wort und Wahrheit wiederholte der Rezensent dieses Urteil. Beobachtete er auch ein „Fieber im Stil“,⁴²² so besprach er den Roman aufgrund seiner politisch-moralischen Dimension doch wohlwollend. Positiv wurde die politische bzw. moralische Dimension des Romans auch von einigen Besprechungen hervorgehoben, die keine ästhetischen Bedenken anmeldeten. Engelbert Reineke, so die Rezension in Die Andere Zeitung, „bohrt auch das verschüttete Gewissen wieder frei“.⁴²³ Mit dem Buch, schrieb die Deutsche Volkszeitung, stelle sich der Autor einer Frage von „brennende[r] Aktualität“.⁴²⁴ Den Begriff des Gewissens bemühten fast alle Rezensionen. Einige stellten darüber hinaus die religiöse Dimension des Romans heraus. So war in der Deutschen Rundschau zu lesen: „Schallück, der einst ein katholischer Missionar werden wollte, ist jetzt Missionar unter seinem eigenen vergeßlichen Volke.“⁴²⁵ Wiegenstein erkannte in der Geschichte von der Versuchung des Heiligen Antonius sogar ein Grundmuster des Romans: „Schallücks Engelbert hat mit dem Einsiedler außerdem gemein, daß er sich bewähren muß in Kategorien, die der Theologie angehören: Umkehr, Einsicht und Buße, Geständnis, Reue und Wiedergeburt.“⁴²⁶ Schallücks Roman wurde zudem von Rezensenten positiv besprochen, die bezweifelten, dass eine ausschließlich moralische Erörterung des bundesrepublikanischen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit weiterführend sei. So bemängelte die DDR-Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, dass die „realen gesellschaftlichen Kräfte, die für die Refaschisierung des westdeutschen Schulsystems verantwortlich“ seien, nicht dargestellt würden, hob aber auch hervor, dass Schallück seiner „humanistischen Verantwortung“ gerecht werde.⁴²⁷ Auch die sozialdemokratisch orientierte Zeitschrift
Roland H.Wiegenstein: Es gibt kein Ausweichen. In: Frankfurter Hefte 14 (1959), H. 6, S. 451– 453, hier S. 453. J. O. Zöller: Zwölf Stunden Monolog. Zeitroman von Format: Paul Schallücks „Engelbert Reineke“. In: Industriekurier vom 05.07.1959. J. O. Zöller: Im Schatten der Schuld. In: Wort und Wahrheit 14 (1959), H. 12, S. 800 – 801, hier S. 801. alt.: Monolog über die verdrängte Schuld. In: Die Andere Zeitung vom 26.08.1959. gobe: Die Buchkritik. In: Deutsche Volkszeitung vom 12.02.1960. J. Lesser: Die vergessene Schuld. In: Deutsche Rundschau 85 (1959), H. 9, S. 848 – 850, hier S. 850. Wiegenstein: Es gibt kein Ausweichen, S. 451. Werner Liersch: Zur Verantwortung bekennen. In: Neue deutsche Literatur 8 (1960), H. 1, S. 128 – 130, hier S. 130.
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Geist und Tat kritisierte, dass Schallück nur die „Geschichte eines Gewissenskonflikts“ erzähle und damit allein auf das „Individuelle-Moralische“ abziele.⁴²⁸ Der Vorwärts beanstandete schließlich die politische Bestandsaufnahme des Romans: Den Leserinnen und Lesern werde ein Zerrbild geliefert, weil der Roman den Eindruck erwecke, dass „die Nazis das Geschick der Deutschen noch immer bestimmen, und daß die Deutschen ihrerseits vor diesem Schicksal ergeben den Kopf senken wie das Kaninchen vor der Schlange.“⁴²⁹ Die negative Rezension des Vorwärts blieb die Ausnahme: Die Literaturkritik urteilte über Schallücks Engelbert Reineke nahezu einhellig positiv. Die Besprechungen schätzten den Appell an das Gewissen der Leserinnen und Leser und Schallück selbst wurde nun als politischer Autor wahrgenommen. Für die Inszenierung des Autors als ‚Gewissen der Nation‘ ist eine Debatte in Geist und Tat wichtig, weil in ihr das vielschichtige Verhältnis von Religion und Politik, das auch Bölls Autorschaft charakterisiert, angesprochen wurde. Ausgangspunkt für die Debatte zwischen Alexander von Cube und Paul Schallück war die Rezension von Engelbert Reineke in Geist und Tat. Dort hieß es kritisch an den Romancier gewandt: „Der Kampf gegen das Böse und Faule läßt sich nicht nur auf der moralischen Ebene führen, er muß auf der gesellschaftlichen, politischen aufgenommen werden.“⁴³⁰ In der nächsten Ausgabe von Geist und Tat knüpfte Alexander von Cube an diese These mit einem offenen Brief an Paul Schallück an, auf den Schallück schließlich reagierte. Die kleine Debatte konzentrierte sich auf eine religiös gezeichnete Figur des Romans, die Alexander von Cube zufolge einem „Propheten aus dem Alten Testament“ gleiche.⁴³¹ Dem Kritiker missfällt dabei nicht vorrangig die religiöse Gestaltung einer Romanfigur, sondern ihre Funktion im Plot, der durch diese eine entscheidende Wende nimmt. Die Figur Lehmköster überzeugt den Protagonisten Engelbert Reineke davon, der Vergangenheit nicht mehr zu entfliehen, sondern gegen sie Stellung zu beziehen. Von Cube zufolge entrückt Schallück so das gesellschaftliche „Übel in metaphysische Bereiche“.⁴³² Auf den offenen Brief reagierte Schallück mit einem Antwortschreiben, das von Geist und Tat ebenfalls veröffentlicht wurde. In ihm bestätigte Schallück, dass es sich bei Lehmköster um eine religiöse Romanfigur handele: um einen sich mit der jüdischen Religion identifizierenden Lehrer, aus dem die „gesammelte Lebenserfahrung eines uralten Volkes“ spreche.⁴³³ Schallück wies von Cube jedoch darauf hin,
S. M.: „Engelbert Reineke“. In: Geist und Tat 14 (1959), H. 7, S. 223. U. H.: „Engelbert Reineke“. In: Vorwärts vom 12.11.1959. S. M.: „Engelbert Reineke“. Cube: Das Ziel ist sichtbar, S. 245. Ebd., S. 246. Paul Schallück: Auf den Kopf gestellt. Offene Antwort auf Alexander von Cubes Offenen Brief. In: Geist und Tat 14 (1959), H. 9, S. 277– 279, hier S. 278.
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III Schreiben, um zu mahnen: Heinrich Böll und Paul Schallück
dass er keinesfalls eine religiöse Konversionsgeschichte geschrieben habe und „Engelbert das ‚uralte Wort‘ nicht als religiöses, transzendentales Stimulans erfährt“,⁴³⁴ sondern durch dieses moralisch motiviert werde, sich gegen die Fortdauer der nationalsozialistischen Vergangenheit an seiner Schule zu wehren: Nichts da von Transzendenz, Erzengeln oder Wundern, wohl aber Lehmkösters Bemühen, Engelberts Vorhaben als eine Flucht aus der Solidarität zu verurteilen, und das bisweilen mit Worten, die aus Martin Bubers Gedanken über das ‚dialogische Prinzip‘ stammen.⁴³⁵
Schallück beruft sich in dieser Entgegnung darauf, dass er nicht die transzendente Dimension der Religion in den Vordergrund stelle, sondern ihre Funktion für das politische Gemeinwesen. In der Analyse von Bölls Inszenierung von Autorschaft konnte ein solcher Zugriff auf religiöse Semantik bereits nachgewiesen werden.
5 Fazit: Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘ Sowohl Bölls hier analysierte literarische und essayistische Werke als auch Schallücks Essays und sein Roman Engelbert Reineke imaginieren Gemeinschaften. Autorschaft figurieren sie, indem sie dem Schreiben eine Funktion innerhalb dieser imaginären Gemeinschaften zusprechen. Die Fiktion fungiert damit als ein Medium der Selbstbeschreibung. Sie weist darauf hin, wie die Autoren ihre schriftstellerische Praxis verstanden wissen wollen, legitimiert diese Form von Autorschaft und spricht ihr normatives Potential zu. Bölls und Schallücks Gemeinschaften beschränken sich allerdings nicht auf die Assoziation literarischer Akteure, sondern stehen stellvertretend für die Nation. Hier liegt das politische Potential der Inszenierung von Autorschaft, trägt sie doch dazu bei, „kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten.“⁴³⁶ Und noch in einem weiteren Sinne muss die Imagination des nationalen Kollektivs als eminent politisch angesehen werden. Die Inszenierung des Autors als ‚Gewissen der Nation‘ bringt zugleich eine „adressierbare Kollektivität“ hervor und beteiligt sich somit an der „Herstellung und Bereitstellung von gesellschaftlicher Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit“, auf der das Politische ba-
Ebd. Ebd., S. 279. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000, S. 254.
5 Fazit: Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘
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siert.⁴³⁷ Indem Böll und Schallück mit ihrer Autorschaft nicht ausschließlich auf das literarische Feld wirken wollen, sondern die politische Funktion für die nationalstaatlich gefasste Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen, definieren sie die Grenzen des literarischen Felds neu.⁴³⁸ Um diese ‚Grenzarbeiten‘⁴³⁹ genauer in den Blick zu bekommen, darf man der räumlichen Metaphorik Luhmanns oder Bourdieus allerdings nicht unkritisch folgen. Literarische Akteure können sich durchaus zeitgleich in zwei Feldern aufhalten bzw. können – um es weniger paradox zu formulieren – Feldeffekte in verschiedenen Feldern hervorrufen.⁴⁴⁰ Politische Autorschaft macht sich diesen Umstand zunutze. Feldgrenzen markieren keinen wirklichen Raum, sondern begrenzen einen Beobachtungs- und Wahrnehmungsraum. Grenzarbeiten können als Praktiken verstanden werden, in denen Akteure eines Felds ihr Handeln in Bezug auf die Wirkung in einem anderen Feld bestimmen. Zur Präzisierung dieses Gedankens hilft erneut ein Seitenblick auf die Systemtheorie, die aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive ähnliche soziale Phänomene wie die Feldtheorie begrifflich fasst. Folgt man den Bestimmungen von Peter Fuchs, dann sind Grenzarbeiten für ausdifferenzierte Sozialsysteme durchaus üblich. Moderne Gesellschafen entwickeln Fuchs zufolge eine „Beobachtungskultur“⁴⁴¹ zwischen den differenzierten sozialen Systemen. Die Grenze zwischen diesen beschreibt Fuchs als Input/Output-Differenz: „Die Grenze des Systems wird in dieser reduzierten Fassung spürbar: Input und Output erscheinen als Zonen der Grenzüberschreitung, des Transfers von Umweltleistungen in das System und der Abgabe von Leistungen durch das System an die Umwelt.“⁴⁴² Übertragen in die feldtheoretische Terminologie: Politische Autorschaft ruft Feldeffekte nicht nur im literarischen Feld hervor, sondern auch im Feld Armin Nassehi: Politik des Staates oder Politik der Gesellschaft? Kollektivität als Problemformel des Politischen. In: Kai-Uwe Hellmann, Rainer Schmalz-Bruns (Hgg.): Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie. Frankfurt am Main 2002, S. 38 – 57, hier S. 45. Für die Bedeutung von ‚Grenzbildungen‘ für den differenzierungstheoretischen Diskurs vgl. Georg Kneer: Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich. In: Armin Nassehi, Gerd Nollmann (Hgg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt am Main 2007, S. 25 – 56, hier S. 48 – 51. Ich übernehme den Begriff von Astrid Reuter. Vgl. Astrid Reuter: Grenzarbeiten am religiösen Feld. Religionskonflikte und -kontroversen im Verfassungsstaat. In: Jamal Malik, Jürgen Manemann (Hgg.): Religionsproduktivität in Europa. Markierungen im religiösen Feld. Münster 2009, S. 101– 115. Das haben Luhmann und Bourdieu natürlich gesehen. Systemtheoretisch hebt Peter Fuchs diesen Umstand hervor: Ereignisse konvergieren darin, „daß sie beobachtet werden, nicht aber darin, wie oder als was sie beobachtet werden.“ Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit. Frankfurt am Main 1992, S. 183. Ebd., S. 109. Ebd., S. 103.
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III Schreiben, um zu mahnen: Heinrich Böll und Paul Schallück
der Politik, weil sie in der Lage ist, Funktionen in letzterem zu übernehmen. Grenzarbeiten zwischen Literatur und Politik, aber auch zwischen anderen Feldern,vollziehen sich „auf der Ebene der Systemleistungen.“⁴⁴³ Wie stellt sich dieser Vorgang nun aus der Sicht von Autorinnen und Autoren dar? Um über den Sinn der literarischen Praxis aus der Perspektive der Akteure zu sprechen, schlägt Bourdieu den Terminus illusio vor: „Der kollektive Glaube an das Spiel (die illusio) und den geheimen Wert dessen, was auf dem Spiel steht, ist Voraussetzung und Ergebnis des funktionierenden Spiels zugleich“.⁴⁴⁴ Bourdieu hat mit dem Begriff der illusio implizite und habituell vermittelte Normen des Operierens im Sinn. Die illusio ist dabei von den Kämpfen um die „legitime[] Definition des Schriftstellers“ abhängig,⁴⁴⁵ die den nomos des literarischen Felds bestimmen. Auf dieser normativen Ebene des literarischen Felds, auf der sich die Inszenierung von Autorschaft vollzieht, bringt sich das Feld „gegenüber den Beteiligten zur Erscheinung“ und wirkt so „verhaltensdirigierend“ auf Akteure ein.⁴⁴⁶ Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich nun, dass die Verhaltensdirektiven des literarischen Felds nicht mehr alle Akteure überzeugen können, weil die illusio an Glaubenskraft verloren hat. Sowohl Böll als auch Schallück grenzen sich daher von Autorschaftsmodellen ab, die ihnen zufolge nicht mehr zeitgemäß sind. Insbesondere Bölls Bekenntnis zur Trümmerliteratur ist in diesem Sinne analysiert worden, aber auch Schallück kritisiert in seiner Essayistik den ‚Dichter‘ als „orphischen Stammler“.⁴⁴⁷ Böll und Schallück präsentieren sich in ihren essayistischen Texten und literarischen Werken als Angehörige der ‚jungen Generation‘ und setzen damit auf die im zweiten Kapitel analysierte Autorschaftssemantik. Die Kriegserfahrung, die in allen in diesem Kapitel analysierten literarischen Werken eine Rolle spielt, legitimiert den Bruch mit der literarischen Tradition. Die etablierte Kunst hat an symbolischem Kapital verloren und auch die Kirchenkritik der beiden Autoren wendet sich gegen einen Religionsbegriff, der die historische Erfahrung von Krieg und Holocaust nicht in sich aufnimmt. Die Kirchenkritik beider Autoren darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Religion als normatives Potential von ihnen genutzt wird. Die Gemeinschaft, die beide Romanciers imaginieren, steht auf einem religiösen Fundament. Fragt man nach den Gründen für diesen Umstand jenseits biografischer Narrative, dann gerät die
Ebd., S. 100. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 363. Ebd., S. 354. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 190. Schallück: Müssen Dichter dumm sein?, S. 108.
5 Fazit: Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘
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Religion als gemeinschaftsstiftende Praxis in den Blick.⁴⁴⁸ Differenzierungstheoretisch ausgedrückt fungiert sie als Einheitssemantik, d. h. als eine Semantik, die es erlaubt, die Differenzierung der Gesellschaft imaginär aufzuheben. Peter Fuchs präzisiert diesen Zusammenhang: „Es gibt keine Gemeinschaft, sondern nur eine sozial fungierende Semantik, die bereitsteht und genutzt wird dazu, die Einheit der Gesellschaft (und wieder: punktuell) in […] Kommunikationen zu repräsentieren.“⁴⁴⁹ Die Semantik der Gemeinschaft, wie sie die Religion bereitstellt, nutzen Böll und Schallück, um ihre Autorschaft funktional zu inszenieren. Gemeinschaftssemantiken setzen auf Interaktion als fundamentalen Modus der Soziabilität. In der Gemeinschaft kennt man sich und können die einzelnen Interaktionen pars pro toto auf das Ganze bezogen werden.⁴⁵⁰ Exemplarisch kann hier an Bölls schon angesprochene Historisierung von Gemeinschaftssemantiken erinnert werden. Böll beschreibt die Zeit des Zusammenbruchs im Jahr 1945 wie folgt: „Wenn jemand um Brot bat, fragte man ihn nicht, ob er ein ehemaliger Nazi war oder Überlebender eines Lagers; es sah so aus, als wäre Deutschland ausersehen, unpolitisch zu bleiben“.⁴⁵¹ Auf die Spannung zwischen Religion und Politik, aus der Bölls positiver Bezug auf das Unpolitische resultiert, bin ich schon eingegangen. Hier soll dieser Befund abschließend auf die Imagination von Gemeinschaft bezogen werden, denn Böll erinnert Mitte der 1960er-Jahre an eine Interaktion, in der um Brot gebeten wird, imaginiert also eine fundamental christliche Szene. Evoziert wird hier, wie auch an vielen anderen Stellen in Bölls Werk, in dem Mahlszenen häufig vorkommen, die Eucharistie. Erneuern die Christen im Abendmahl ihre Gemeinschaft mit Christus, so nutzt Böll die Szene, um eine weltliche Vergemeinschaftung zu imaginieren. Indem der Autor an die historische Chance erinnert, redet er zugleich seinen Zeitgenossen ins Gewissen, in Zeiten des Wirtschaftswunders die Imperative der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht zu vergessen. So mag sich erklären, warum Böll, wie es Christian Linder für die 1980er-Jahre betont, „immer noch alles am Zusammenbruch 1945“ maß.⁴⁵² Auch in Schallücks Engelbert Reineke wird die Gemeinschaft, aus der eine neue Gesellschaft erwachsen soll, als eine Interaktion zwischen Anwesenden verstanden. Vor dem Hintergrund von Bubers Dialoggedanken imaginiert Schallück einen Gesprächskreis, in dem die gesellschaftliche Unaufrichtigkeit überwunden
Religionssoziologisch wird dieser Befund seit Émile Durkheim diskutiert. Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 1981. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 177. Vgl. ebd., S. 193. Böll: Frankfurter Vorlesungen, S. 184. Christian Linder: Heinrich Böll. Leben & Schreiben. Köln 1986, S. 127.
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III Schreiben, um zu mahnen: Heinrich Böll und Paul Schallück
ist und wahrhafte Beziehungen kultiviert werden können. Auch hier ersetzt die Gemeinschaftssemantik die ausdifferenzierte Gesellschaft. Religionsgemeinschaften unterscheiden sich von der Familie, von Freundeskreisen oder auch von rassisch begründeten Volksgemeinschaften insbesondere durch ihre explizit normative Integration. Kollektive Handlungsfähigkeit wird in ihnen auf der Grundlage von Normen hergestellt, die allen Mitgliedern der Gemeinschaft ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Es ist diese Gleichgesinntheit der Mitglieder einer Gemeinschaft, die „exponierte Repräsentationsinstanzen“⁴⁵³ überhaupt erst ermöglicht. Hier setzt Bölls Kirchenkritik an, die den offiziellen Repräsentationsinstanzen der katholischen Kirche vorwirft, versagt zu haben. In Bölls Auseinandersetzung mit Schelsky konnte gezeigt werden, wie Böll aus diesem Versagen eigene Repräsentationsansprüche für eine Gemeinschaft ableitet, die sich wirklich christlich verhalte. Erst die religiöse Gemeinschaftssemantik, die sich auch in seinen literarischen Texten findet, stellt Repräsentationsfiguren bereit, als die Autorinnen und Autoren inszeniert werden können. Ein Titel wie Haus ohne Hüter exemplifiziert diese doppelte Strategie: Er konstatiert sowohl die Notwendigkeit als auch die Vakanz einer Instanz, die Werte repräsentiert und sichert. Noch offensichtlicher wird der Zusammenhang zwischen der Kritik an den offiziellen Repräsentationsinstanzen der christlichen Gemeinde und der Inszenierung von Autorschaft in Billard um halb zehn. In diesem Roman wirft Böll der katholischen Kirche vor, den ihr anvertrauten pastoralen Auftrag (Joh 21,15) verraten zu haben. Der Roman inszeniert Autorschaft vor dem Hintergrund dieser Kritik. Schallücks Engelbert Reineke knüpft nicht an eine existierende Gemeinschaft wie die der katholischen Kirche an, sondern imaginiert eine Gemeinschaft, die sich an den Normen des von Martin Buber propagierten dialogischen Prinzips orientiert. Autorschaft wird auch von Schallück in ihrer Funktion für eine aufrichtige Kommunikation in Szene gesetzt. Indem sie als Gewissen fungiert, ermöglicht sie, mit der Vergangenheit zu brechen und eine neue Gemeinschaft zu gründen. Nur weil Gemeinschaften exponierte Repräsentationsinstanzen haben, können sich Böll und Schallück als ‚Gewissen der Nation‘ inszenieren. Setzt man systemtheoretische Prämissen voraus, dann ist eine „personale Kontrolle sozialer Systeme“⁴⁵⁴ natürlich nicht möglich. Der Erfolg, mit dem sich Böll als ‚Gewissen der Nation‘ inszenierte, zeigt jedoch, dass Einheitssemantiken, die Persönlichkeiten einen herausgehobenen gesellschaftlichen Stellenwert zuschreiben,
Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 223. Luhmann: Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 233.
5 Fazit: Der Autor als ‚Gewissen der Nation‘
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durchaus gewünscht waren und Effekte im politischen Feld generieren konnten. Hans Magnus Enzensberger historisiert diesen Befund: Eine Person wie Böll war ja kein historischer Zufall. Böll war die Gegenfigur zu Adenauer. Die Gesellschaft hat damals solche Erscheinungen benötigt und hervorgebracht: Autorität und Gegen-Autorität. Daß solche Figuren heute nicht mehr vorhanden sind, muß nicht unbedingt an Talentmangel liegen oder an Charakterlosigkeit. Vielleicht liegt es daran, daß sie in gewisser Weise überflüssig geworden sind. Ich glaube, es ist eine Vergesellschaftung solcher Rollen eingetreten. Wir haben Heinrich Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace.⁴⁵⁵
Enzensberger stellt hier Amnesty und Greenpeace als Symptome einer Krise dar, in die das Autorschaftsmodell ‚Gewissen der Nation‘ geraten ist. Was er als Vergesellschaftung versteht, kann differenzierungstheoretisch auf den Status von Akteuren wie Amnesty oder Greenpeace bezogen werden. Denn im Gegensatz zu Autoren haben wir es bei beiden Gruppierungen mit stark spezialisierten Akteuren des politischen Felds zu tun, die mit der Rolle des universalen Intellektuellen (Foucault) brechen. Beide Akteure verzichten darauf, „sich als Repräsentant des Universalen Gehör zu verschaffen“ und „ein wenig das Gewissen aller zu sein“.⁴⁵⁶ Die schwindende Bedeutung starker Persönlichkeiten, als die zumindest Böll von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, kann insofern mit der steigenden Bedeutung politischer Akteure erklärt werden, die sich spezialisiert und ihre Aktionsformen einem sozial differenzierten Bereich der Gesellschaft angepasst haben. Enzensbergers lineares Narrativ ist jedoch nicht unproblematisch, atmet es doch einen modernisierungstheoretischen Geist. Allein die prophetischen Inszenierungen von Autorschaft vor dem Hintergrund der Friedens- und Umweltbewegung in den 1980er-Jahren bezeugen, dass Einheitssemantiken kein einfach zu überwindendes Instrument der Vergangenheit sind, sondern integraler Bestandteil der Semantik sozial differenzierter Gesellschaften. Böll mag seine Zeit gehabt haben, die Imagination gesellschaftlicher Einheit findet damit jedoch sicher nicht zu einem Ende. Sind Böll und Schallück demnach als religiöse Schriftsteller zu klassifizieren? Durch die Analyse der Schriften beider Autoren ist deutlich geworden, dass sie keinesfalls den genuin religiösen Code Immanenz/Transzendenz prozessieren. In der Literaturwissenschaft ist deswegen oftmals behauptet worden, dass „es bei Böll nicht so sehr um die Theologie des Katholizismus geht als um seine soziale Enzensberger: Das empfindliche Ungeheuer, S. 238. Michel Foucault: Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Foucault: Dits et Ecrits. 1976 – 1979. Hg. von Daniel Defert und Michael Bischoff. (Schriften in vier Bänden. Bd. 3.) Frankfurt am Main 2003, S. 145 – 152, hier S. 145.
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Funktion.“⁴⁵⁷ Aber die Unterscheidung von Religion und Gesellschaft trennt kategorisch, was in Bölls Werk doch gerade aufeinander bezogen wird. Die Systemtheorie bietet sich an, um den Befund neu zu formulieren: Bei Böll und Schallück geht es nicht um eine Kommunikation des Codes Transzendenz/Immanenz, sondern vollzieht sich die Zweitcodierung religiöser Kommunikation im moralischen Code gut/schlecht. Moralische Kommunikation steht Luhmann zufolge quer zu den ausdifferenzierten sozialen Systemen und kann im literarischen Feld daher prozessiert werden.⁴⁵⁸ Die Autonomie des Felds erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit moralischer Kommunikation, in der über Achtung/Missachtung gestritten wird, enthebt sie die Akteure doch von Entscheidungszwängen, die wie in der Politik möglicherweise rein pragmatische Lösungen verlangen. Moralische Kommunikation birgt das Risiko der Reziprozität: „Wer moralisch kommuniziert und sich als Autor kenntlich macht, muß akzeptieren, daß seine Kriterien auch auf ihn selbst angewandt werden.“⁴⁵⁹ Luhmann spricht hier in einem nicht künstlerischen Kontext von Autorschaft und verdeutlicht damit, dass moralische Kommunikation Verantwortung generiert, den Sprecher an seine Aussage bindet und so nicht nur im literarischen Feld Autorschaft ins Spiel bringt. Die Person des Sprechers rückt in den Vordergrund, ganz so, wie es bei Böll und Schallück tatsächlich der Fall war. Bekanntlich firmierte Böll nicht nur als ‚Gewissen der Nation‘, sondern wurde er häufig auch als ‚guter Mensch von Köln‘ bezeichnet.⁴⁶⁰ Die moralische Kommunikation erweist sich so als ein Mittel, dem Autor Präsenz zu verschaffen. Aus der Sicht der Religion reagiert die moralische Kommunikationsform auf die soziale Differenzierung: „Offensiv vermag Religion mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung in ihrer Umwelt nur noch in diesem Medium zu wirken.“⁴⁶¹ Mit Nassehi und Luhmann lässt sich die Funktion der Religion im Werk von Böll und Schallück begrifflich genauer fassen: Ihre Texte wirken keinesfalls an einem Säkularisierungsprozess mit, sondern beziehen sich in einer sozial ausdifferenzierten Gesellschaft aus der Perspektive der Literatur auf die normative Kraft der Religion. Der mora-
Nägele: Heinrich Böll, S. 116. Vgl. Niklas Luhmann: Politik, Demokratie, Moral. In: Luhmann: Die Moral der Gesellschaft. Hg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main 2008, S. 175 – 195, hier S. 184 f. Ebd., S. 188. Vgl. Bernd Balzer: Das mißverstandene Engagement. Der angebliche Realismus Bölls. In: Bernd Balzer (Hg.): Heinrich Böll. 1917– 1985. Bern 1992, S. 89 – 115, hier S. 89; Jochen Schubert: „Der gute Mensch von Köln“. In: Marcel Korolnik, Annette Korolnik-Andersch (Hgg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch: Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. München 2008, S. 182– 191. Armin Nassehi: Religion und Moral. Zur Säkularisierung der Moral und der Moralisierung der Religion in der modernen Gesellschaft. In: Gert Pickel, Michael Krüggeler (Hgg.): Religion und Moral. Entkoppelt oder verknüpft? (Veröffentlichungen der Sektion „Religionssoziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 6.) Opladen 2001, S. 21– 38, hier S. 31.
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lische Code, den Böll und Schallück nutzen, steht also weiterhin in Beziehung zur Religion,wie es die vielen religiösen Zitate und Anspielungen, die analysiert worden sind, vermuten lassen. Der Titel ‚Gewissen der Nation‘ weist ferner darauf hin, dass Autorschaft nicht auf individuelle Glaubensfragen, die in den Bereich psychischer Systeme gehören, sondern auf soziales Verhalten abzielt. Durch den Gewissensbegriff, so Luhmann, werde „die Autonomie subjektiver Verhaltenssteuerung anerkannt – und zugleich wieder zurückgenommen […], indem nur die Faktizität, nicht aber die Normativität des Gewissens subjektiviert und individualisiert wird.“⁴⁶² Religiöse Normen werden durch den Gewissensbegriff in ihrer Funktion von Interesse, Verhalten normativ zu orientieren. Die Romane und Essays der beiden in diesem Kapitel behandelten Autoren haben dies bestätigt. Indem Böll und Schallück Autorschaft als ‚Gewissen der Nation‘ inszenieren, knüpfen sie im literarischen Feld an religiöse Kommunikation an.
Luhmann: Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 236.
IV Schreiben, um zu lästern: Arno Schmidt und Günter Grass als Blasphemiker (1953 – 1963) In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren hatte der Blasphemievorwurf Konjunktur. Eine populärwissenschaftliche Publikation aus dem Jahr 1962 erkannte in den zahlreichen Anklagen und Prozessen wegen Gotteslästerung sogar ein „Zeichen unserer Zeit“.¹ Von den acht Fällen, die das Buch mit dem Titel Gotteslästerung? aus dem Zeitraum 1955 bis 1960 aufgriff, betrafen sieben die Literatur. Genannt wurden die Strafanzeigen gegen Arno Schmidt aufgrund der Publikation von Seelandschaft mit Pocahontas (1955), gegen Reinhard Döhl wegen der Veröffentlichung von Missa Profana (1959) und gegen die Verfasser einer Persiflage des Vater Unser in konkret (1960). Angesprochen wurden zudem die juristischen Auseinandersetzungen um eine literarische Zeitung aus Berlin und Anschuldigungen gegen diverse Studentenzeitschriften. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsstreitigkeiten wird ersichtlich, dass nicht nur die in diesem Kapitel im Zentrum stehenden Autoren Arno Schmidt und Günter Grass als Gotteslästerer kritisiert und angegriffen wurden. Der Blasphemievorwurf muss vielmehr als gebräuchliches Mittel der politischen Auseinandersetzung in den 50er- und 60erJahren gewertet werden. Erhoben wurde er von Anklägern, die der angeführten Publikation zufolge oftmals der CDU nahestanden.² Aber auch die Autorinnen und Autoren religionssatirischer oder kirchenkritischer Texte waren sich oftmals darüber bewusst, dass ihre Werke provokativ aufgefasst und als Blasphemie verurteilt werden konnten. In der Ära Adenauer konnte sich die Religionskritik der Aufmerksamkeit sicher sein. Mit Arno Schmidt und Günter Grass stehen zwei sehr unterschiedlich erfolgreiche Schriftsteller im Zentrum dieses Kapitels. Während Grass sich mit der Publikation der Danziger Trilogie in den Jahren 1959 bis 1963 an die Spitze des literarischen Felds setzte und fortan zur Orthodoxie gehörte, avancierte Schmidt niemals zu einer tonangebenden Stimme des Felds. Sicherlich hatte und hat Schmidt seine Leserschaft, gewann auch er einige literarische Preise, jedoch war die Wirkung des Grass’schen Werks auf das literarische Feld und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ungleich stärker. Dessen ungeachtet zeigen sich signifikante Parallelen zwischen beiden Autoren: Sowohl Schmidt als auch Grass stellten ihre Autorschaft in die Tradition der literarischen Avantgarde und identifizierten sich insbesondere mit Alfred Döblin. In den 1950er-Jahren wirkte dieses
Ansgar Skriver: Gotteslästerung? (das aktuelle thema 11.) Hamburg 1962, S. 5. Vgl. ebd. DOI 10.1515/9783110528077-005
1 Günter Grass: Der „Hai im Sardinentümpel“
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avantgardistische Selbstverständnis als Distinktionsmerkmal und musste mit dem Unverständnis breiter Leserschichten rechnen. Rezensentinnen und Rezensenten griffen, um ihre Autorschaft zu charakterisieren, mitunter zu sehr ähnlichen Metaphern.Wurde Schmidt als „provozierender Hecht im Karpfenteich der jungen deutschen Literatur“ bezeichnet,³ so Grass als „Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur“.⁴ Grundlage für solche Charakterisierungen waren auch die zahlreichen Invektiven gegen den Katholizismus und die christliche Religion, die sich durch das Werk beider Autoren ziehen. Schmidt und Grass inszenierten sich als Blasphemiker und wurden als solche wahrgenommen. Sie wurden als Gotteslästerer gebrandmarkt, der Verbreitung pornografischer Schriften bezichtigt und mussten sich juristischer Angriffe erwehren. Für die frühe Bundesrepublik gilt, was Gert Schwerhoff als Charakteristika der Blasphemie in der Moderne bestimmt: Sie wurde zu einem Code, mit dem „über grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, ja über die Verletzung und den Schutz grundlegender Werte, Autoritäten und Tabuzonen verhandelt werden konnte.“⁵ Grass und Schmidt strebten genau solche Verhandlungen an und folgten daher der Maxime: Schreiben, um zu lästern! Von ‚Verhandlungen‘ kann dabei durchaus auch im wörtlichen Sinne gesprochen werden, denn eine so codierte Autorschaft zog mitunter strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Das in diesem Kapitel zu analysierende Modell des blasphemischen Autors zeichnet sich durch eine Radikalisierung der Kirchenkritik aus, deren Bedeutung für das Werk von Böll und Schallück bereits dargestellt worden ist. Für Grass’ Erfolg im literarischen Feld war dieser Zusammenhang nicht unwesentlich. Daher bricht die folgende Darstellung mit der Chronologie und knüpft an das vorherige Kapitel systematisch an: Behandelt wird im Folgenden zuerst Grass und anschließend Schmidt.
1 Günter Grass: Der „Hai im Sardinentümpel“ Als Günter Grass Mitte der fünfziger Jahre die literarische Bühne betrat, hatte sich das westdeutsche literarische Feld im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit stark verändert. Die Gruppe 47 war zu einer Institution geworden. Ingeborg
E-t.: Eine neue Literaturzeitschrift. In: Kölner Stadt Anzeiger vom 17.02.1955. Hans M. Enzensberger:Wilhelm Meister auf Blech getrommelt. In: Frankfurter Hefte 14 (1959), H. 11, S. 833 – 836, hier S. 834. Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200 – 1650. (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 12.) Konstanz 2005, S. 317.
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IV Schreiben, um zu lästern: Arno Schmidt und Günter Grass
Bachmann, Günter Eich, Alfred Andersch, Walter Höllerer und Heinrich Böll gehörten zur literarischen Prominenz und das Modell des politisch engagierten Autors hatte sich etabliert.⁶ Tagungen der Gruppe 47 waren inzwischen zu Medienereignissen geworden. Die Frühjahrstagung im Jahr 1955 in West-Berlin, auf der Günter Grass zur Gruppe 47 stieß, wurde vom Tagesspiegel dementsprechend angekündigt und anschließend ausführlich besprochen.⁷ Die Etablierung der Gruppe 47 wurde im eigenen Umfeld aber durchaus kritisch gesehen. Fritz J. Raddatz beobachtete in Berlin eine „Lethargie der Zufriedenen“⁸ und Hans Schwab-Felisch warnte ein Jahr später in der FAZ davor, dass die „stabilisierte Gesellschaftsordnung mit ihrem gesättigten Klima“ auch auf die Literatur abfärben könne.⁹ Zum zehnjährigen Jubiläum im Jahr 1957 war die Gruppe von einem Sammelbecken junger und unerfahrener Autorinnen und Autoren zu einer Institution geworden, in der die Prominenz den Ton angab.¹⁰ Die erfolgreiche Lesung des jungen Günter Grass auf der 1958er-Tagung in Großholzleute wurde vor diesem Hintergrund als Ausweg aus der Krise verstanden: „Die Gruppe 47 lebt auf“,¹¹ titelte Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung. Gefeiert wurde die neue Stimme, die das Konzert der politisch engagierten Romanciers bereichern sollte, vorrangig aufgrund ihrer neuen Qualitäten: Marcel Reich-Ranicki zufolge glückte die Wiederbelebung der Gruppe durch eine „unkonventionelle, kräftige, ja sogar
Das zeichnet sich auch an der Preisvergabe ab: Den deutschen Kritikerpreis gewann Heinrich Böll im Jahr 1953 und Alfred Andersch 1958. Der Eudard-von-der-Heydt-Kulturpreis der Stadt Wuppertal wurde 1958 an Böll verliehen und Wolfdietrich Schnurre erhielt im gleichen Jahr den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf zugesprochen. 1959 setzte schließlich mit der Verleihung des Büchner-Preises an Günter Eich eine Welle von Literaturpreisvergaben an Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 ein. Vgl. W. J. S.: Die Gruppe 47 in Berlin. In: Der Tagesspiegel vom 14.05.1955; Charlotte Stephan: Junge Autoren unter sich. Zur Berliner Tagung der „Gruppe 47“ im Haus am Rupenhorn. In: Der Tagesspiegel vom 17.05.1955. Auch Christian Ferber betont die zahlreiche und positive Berichterstattung über das erste Treffen in Berlin.Vgl. Christian Ferber: Die Gruppe 47 und die Presse. In: Hans W. Richter (Hg.): Almanach der Gruppe 47. 1947– 1962. Reinbek bei Hamburg 1962, S. 37– 43, hier S. 41 f. Fritz J. Raddatz: Wiedersehen mit der Gruppe 47. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 110 – 113, hier S. 112. Hans Schwab-Felisch: Dichter auf dem „elektrischen Stuhl“. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 116 – 120, hier S. 116 f. So jedenfalls Joachim Kaiser im Jahr 1957: Joachim Kaiser: Zehn Jahre Gruppe 47. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 123 – 125, hier S. 124. Joachim Kaiser: Die Gruppe 47 lebt auf. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 137– 139, hier S. 137.
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wilde Prosa, deren Rhythmus schon jetzt unverwechselbar ist“.¹² Die Gruppe 47, so drückte sich Joachim Kaiser aus, kapitulierte vor der „wilde[n] Energie“ des jungen Autors.¹³ Diese frühen Charakterisierungen der Grass’schen Prosa wurden in den folgenden Besprechungen der Danziger Trilogie vielfach wiederholt und variiert. Selbst Hans Egon Holthusen zeigte sich in einem resümierenden Artikel aus dem Jahr 1966 beeindruckt und feierte Grass mit ähnlichen Worten. In seiner Prosa sei die Vermählung von Kunst und Politik geglückt: [E]s handelt sich im Falle Grass um eine vollsaftige Künstlernatur von staunenerregender Vielseitigkeit, um einen Romanschreiber vor allem, dessen Vitalität aus allen Nähten platzt, um das wahrscheinlich bedeutendste Prosa-Talent, das seit 1945 in Deutschland aufgetaucht ist.¹⁴
Holthusens Lob verdeutlicht zweierlei: Erstens hatte sich politische Autorschaft soweit etabliert, dass selbst Kritiker wie Holthusen über die Kompatibilität von Politik und Literatur nicht mehr grundsätzlich negativ urteilten. Zweitens wurde der Prosa des jungen Autors eine hohe künstlerische Qualität zugesprochen. Grass, so wird es dieses Kapitel belegen, wurde als ein politischer Autor wahrgenommen, dessen Prosa sich deutlich von Bölls Romanen und Erzählungen, denen immer wieder künstlerische Defizite attestiert wurden, unterschied. Grass’ Inszenierung von Autorschaft beschäftigt Feuilleton und Literaturwissenschaft schon seit geraumer Zeit. So hat Franz Josef Görtz bereits 1978 die Rezensionen der Danziger Trilogie und des Romans Örtlich betäubt mit Hilfe datenverarbeitender Methoden systematisch erforscht, veröffentlichte Heinz Ludwig Arnold einen Überblick über die Besprechungen der Grass’schen Werke von 1956 bis 1995 und liegen neue Arbeiten von Mathias Mertens und Rebecca Braun zum Thema vor.¹⁵ Die Beschäftigung mit Grass’ Autorschaft im Bereich der Literaturkritik geht sogar noch weiter zurück. 1969 konstatiert Hans Krüger in der Zeit: Grass – das ist die perfekte Identität von Individualität und Image. Ein Reklamebild, das immer stimmt. Er sieht tatsächlich so aus, wie ihn die Massenmedien reproduzieren. Sehr
Marcel Reich-Ranicki: Eine Diktatur, die wir befürworten. In: Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht, Kritik, Polemik. Ein Handbuch. Neuwied 1967, S. 139 – 142. Kaiser: Die Gruppe 47 lebt auf, S. 138. Holthusen: Günter Grass als politischer Autor, S. 66. Vgl. Franz J. Görtz: Günter Grass – zur Pathogenese eines Markenbilds. Die Literaturkritik der Massenmedien 1959 – 1969. Meisenheim am Glan 1978; Heinz L. Arnold (Hg.): Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik. Göttingen 1997; Mathias Mertens: Figurationen von Autorschaft in Öffentlichkeit und Werk von Günter Grass.Weimar 2005; Rebecca Braun: Constructing Authorship in the Work of Günter Grass. Oxford 2008.
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individuell, etwas fremdartig, und in beidem ungemein einprägsam,wie ein Wappentier. Fast hat er etwas von der Ausgereiftheit eines hervorragenden Markenartikelzeichens. Nationale Repräsentanz schwingt da mit, etwa wie bei dem Mercedes-Stern. Den kennt man auch überall in der Welt und weiß, was man hat.¹⁶
Krüger spricht mit dieser Passage Aspekte an, die für die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen von Grass’ Autorschaft zentral werden sollten: Welches Autorenbild vermitteln die Medien in ihren Rezensionen der Grass’schen Werke? Wie kann das Verhältnis zwischen dem empirischen Autor und seinem medial verbreiteten Image bestimmt werden? Mertens und Braun gehen darüber hinaus auch darauf ein, wie Grass’ literarische Texte seine Autorschaft inszenieren und auf das Medienecho reagieren. Braun zufolge zeichnet sich das Grass’sche Werk sogar dadurch aus, das Verhältnis von Autor und Öffentlichkeit zu reflektieren. Den Fokus ihrer Untersuchung bestimmt die Literaturwissenschaftlerin wie folgt: „The author is not just examined as a largely literary construct, but also as a product of the media-led public sphere.“¹⁷ Während Braun sich in ihrer Analyse auf das Grass’sche Werk seit 1965 beschränkt und untersucht, wie Grass sich in seinem Werk spielerisch mit seinem Image auseinandersetzt, versteht Mertens die Figurationen von Autorschaft in Grass’ Texten als „Ermöglichungsbedingungen für das Schreiben“¹⁸ und spricht im Klappentext von einer „autopoetischen Autorschaft“, die er wie folgt charakterisiert: „Grass redet mit sich über sich, während er sich selbst dabei zuhört.“¹⁹ Auch wenn die Ergebnisse der genannten Studien hier berücksichtigt werden, so basiert meine Untersuchung doch auf literatursoziologischen Fragestellungen. Aufgezeigt werden soll, welche Funktionen das von Grass favorisierte und inszenierte Autorschaftsmodell im literarischen Feld der ersten Hälfte der 1960er-Jahre erfüllte. Dass Günter Grass noch immer als ‚der Autor der Blechtrommel‘ bezeichnet wird und böse Zungen sogar behaupten, dass sein Debüt auch den Höhepunkt seines Schaffens bildet,²⁰ bezeugt die Vehemenz und Nachhaltigkeit, mit der sich Grass durch seine ersten Prosaveröffentlichungen positionierte. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf die Jahre 1959 bis 1963 – von der Publikation von Die Blechtrommel (1959) über Katz und Maus (1961) bis zu Hundejahre (1963). Neben einer Analyse der literaturkritischen Repliken auf die Danziger Trilogie liegt der Schwerpunkt der folgenden Seiten auf den Figurationen
Horst Krüger: Das Wappentier der Republik. Augenblicke mit Günter Grass. In: Die Zeit (1969), H. 17, S. 56. Braun: Constructing Authorship in the Work of Günter Grass, S. 5. Mertens: Figurationen von Autorschaft in Öffentlichkeit und Werk von Günter Grass, S. 10. Ebd., S. 248. Vgl. Graß: Urlaub vom Weltuntergang. In: Der Spiegel (1984), H. 19, S. 194.
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von Autorschaft in den drei Prosatexten. Ausgangspunkt ist der bisher nur ungenügend erforschte Umstand, dass es sich bei allen Erzählern der drei Texte um Schriftsteller handelt und Autorschaft immer wieder im Hinblick auf Religion und Politik thematisiert wird – wobei insbesondere die Invektiven gegen das Christentum auffallen. Grass debütierte 1956 mit seiner ersten eigenständigen Veröffentlichung als Lyriker. Der Band Die Vorzüge der Windhühner, der heute nur noch einigen Germanistinnen und Germanisten bekannt sein dürfte, erschien bei Luchterhand.Viel Aufsehen erregte er schon damals nicht – trotz des „Spottpreis[es] von 4,80 DM“,²¹ wie Kurt Lothar Tank 1965 bemerkte. Drei Rezensionen erschienen und 700 Exemplare wurden verkauft.²² Dem zweiten Lyrikband Gleisdreieck, den Grass ein Jahr nach Die Blechtrommel veröffentlichte, erging es nicht besser.²³ Dennoch bereitete die Lyrik den Erfolg des Romanciers vor. So führte der dritte Preis beim Lyrikwettbewerb des Süddeutschen Rundfunks für das Gedicht Lilien aus Schlaf dazu, dass Grass 1955 zu dem Treffen der Gruppe 47 nach Berlin eingeladen wurde und dort seine Lyrik vortrug. Hier ergab sich nicht nur der Kontakt zum Luchterhand Verlag, der zur Publikation seines ersten Lyrikbands führte, sondern auch die Bekanntschaft mit Walter Höllerer, der seinem Schützling fortan lukrative Publikationsmöglichkeiten in der Zeitschrift Akzente bot und so die Arbeit an Die Blechtrommel ermöglichte.²⁴ Grass’ Gedichte und Dramen, die er zwischen 1956 und 1963 mit Achtungserfolgen veröffentlichte, können hier nicht untersucht werden.²⁵ Festgehalten werden muss aber, dass sie das Image des Autors mitprägten, der als ein vielseitiger Künstler, der nicht nur Prosa schreiben könne, wahrgenommen wurde. Kurt L. Tank: Günter Grass. (Köpfe des XX. Jahrhunderts 38.) Berlin 1965, S. 20. Vgl. Benedikt Engels: Das lyrische Umfeld der „Danziger Trilogie“ von Günter Grass.Würzburg 2005, S. 27. Erst der Ruhm durch die Danziger Trilogie führte dazu, dass 1963 eine zweite Auflage herausgegeben wurde. Vgl. die Darstellung der zeitgenössischen Rezensionen in: Arnold: Blech getrommelt. Vgl.Volker Neuhaus: Schreiben gegen die verstreichende Zeit. Zu Leben und Werk von Günter Grass. München 1997, S. 57. So äußerte sich der prominente Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft sehr wohlwollend über die Premiere von Noch zehn Minuten bis Buffalo im Jahr 1959. Vgl. Petra Kohse, Friedrich Luft: Gleiche Stelle, gleiche Welle. Friedrich Luft und seine Zeit. Berlin 1998, S. 201. Peter Rühmkorf fand 1962 lobende Worte für die Grass’sche Lyrik, die sich durch „Offenheit gegenüber Weltstoff und Wirklichkeit“ auszeichne. Peter Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen. In: Hans W. Richter (Hg.): Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962. Sechsunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. München 1962, S. 447– 476, hier S. 472. Karl Krolow lobte nach der Publikation der Gesammelten Gedichte im Jahr 1971 Grass’ lyrische Begabung.Vgl. Karl Krolow: Günter Grass in seinen Gedichten. In: Manfred Jurgensen (Hg.): Grass. Kritik, Thesen, Analysen. Bern 1973, S. 11– 20, hier S. 19.
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Grass inszenierte zudem auch in Lyrik und Drama Autorschaft. So huldigt beispielsweise das titelgebende Gedicht von Die Vorzüge der Windhühner der Phantasie, indem es die Kunst von den pragmatischen Anforderungen des Alltags abgrenzt.²⁶ Das Gedicht Die Vogelscheuchen aus der Sammlung Gleisdreieck stellt ein Motiv vor, das drei Jahre später in Hundejahre zu einer zentralen Autorschaftsmetapher werden sollte. Beide Texte sind daher mit Recht als poetologische Gedichte bezeichnet worden.²⁷ Abschließend sei noch auf ein Gedicht aus Gleisdreieck verwiesen, dessen Motive für die Inszenierung von Autorschaft in der Novelle Katz und Maus von Bedeutung sind. In Racine läßt sein Wappen ändern wird davon berichtet, dass der französische Dichter aus seinem Wappen die Ratte tilgte und fortan nur den Schwan gelten ließ. Mit der schäbigen Seite des menschlichen Lebens verlor Racine dem Gedicht zufolge jedoch auch die Muse und musste folglich dem Theater entsagen. In Katz und Maus bezieht sich Grass auf diesen Zusammenhang im Kontext der Autorschaftsfrage. Der Erzähler Pilenz hebt in einer Passage der Novelle hervor, dass in seiner Geschichte niemand, kein „Schicksal oder ein Autor“, die negativen Aspekte menschlichen Zusammenlebens „wie Racine“ ausblenden wolle.²⁸ Dieser intertextuelle Zusammenhang macht zweierlei deutlich. Erstens zeigt er die Eigenständigkeit der Motive auf, die Grass für die Inszenierung von Autorschaft nutzt, denn der Bezug auf Racine erfolgt in der Novelle völlig unmotiviert. Zweitens zeigt sich hier eine produktionsästhetische Dimension der Grass’schen Literatur. Motive, mit denen Autorschaft inszeniert wird, finden sich in allen Texten des Autors. Grass schreibt keineswegs intuitiv und unkontrolliert, wie es das Bild des Naturtalents nahelegt, das die Literaturkritik von ihm zeichnete. Im Folgenden werde ich mich der Inszenierung von Autorschaft in den drei Prosatexten der Danziger Trilogie zuwenden. Meine Analyse greift damit einen Aspekt dieser komplexen Texte heraus und vernachlässigt andere.²⁹ So werde ich auf die gesellschaftsdiagnostische Dimension und auf die geschichtsphilosophischen Aspekte der drei Prosatexte, also auf zwei Themenbereiche, die in der Vgl. die Interpretationen bei: Neuhaus: Schreiben gegen die verstreichende Zeit, S. 59. Vgl. Engels: Das lyrische Umfeld der „Danziger Trilogie“ von Günter Grass, S. 30. Günter Grass: Katz und Maus. Hg. von Volker Neuhaus. (Werkausgabe. Bd. 4.) Göttingen 1997, S. 146. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle KuM zitiert. Als Einstieg für die Interpretation der drei Texte eignet sich Volker Neuhaus’ Monografie Günter Grass immer noch hervorragend. Vgl. Volker Neuhaus: Günter Grass. Stuttgart 1979. Zusätzlich bieten die von Neuhaus herausgegebenen Kommentarbände zu den drei Prosatexten wertvolle Informationen.Vgl.Volker Neuhaus: Günter Grass – Die Blechtrommel. Kommentar und Materialien. Göttingen 2010; Volker Neuhaus: Günter Grass – Katz und Maus. Kommentar und Materialien. Göttingen 2010; Volker Neuhaus: Günter Grass – Hundejahre. Kommentar und Materialien. Göttingen 2010.
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Forschung einen großen Stellenwert besitzen, nur insoweit eingehen, wie es die Analyse der durch die Werke inszenierten und problematisierten Autorschaftsmodelle erfordert.³⁰ Auch ein methodischer Hinweis ist an dieser Stelle angebracht: Wie schon in seiner Lyrik und in seinen Dramen findet sich auch in der Grass’schen Prosa eine lustvolle Überdeterminierung einzelner Zeichen, Begriffe, Szenen und Geschichten. Versuche einer allegorischen Auslegung seiner Prosa sind zum Scheitern verurteilt, weil sie einzelne Aspekte verabsolutieren.³¹ Oskar kann beispielsweise weder ausschließlich als Künstler noch als Christus-Nachfolger aufgefasst werden, Mahlke ist nicht einfach der Messias und Amsels Vogelscheuchen sind sowohl Gebrauchsgegenstände als auch Kunst. Die Danziger Trilogie erfordert mehrere Lesarten. Im Folgenden fasse ich die Texte daher nicht als Werkeinheiten auf, sondern analysiere einzelne Diskurse.
1.1 Die Blechtrommel: Dissonante Töne gegen das Vergessen Seit der Veröffentlichung seines Debütromans wird Günter Grass als vielseitiger Künstler verstanden. Schon die ersten Rezensionen der Blechtrommel verwiesen auf seine lyrische, dramatische und bildhauerische Tätigkeit. Dieses Autorschaftsbild wurde nicht nur durch die Publikationsgeschichte des Autors erzeugt,
Vgl. zu den hier vernachlässigten Aspekten: Scott H. Abbott: Günter Grass’ „Hundejahre“: A Realistic Novel about Myth. In: Patrick O’Neill (Hg.): Critical essays on Günter Grass. Boston 1987, S. 123 – 131; Hanspeter Brode: Die Zeitgeschichte im erzählenden Werk von Günter Grass. Versuch einer Deutung der „Blechtrommel“ und der „Danziger Trilogie“. Frankfurt am Main 1977; Gertrude Cepl-Kaufmann: Günter Grass. Eine Analyse des Gesamtwerkes unter dem Aspekt von Literatur und Politik. Kronberg/Ts. 1975; Edward Diller: A mythic journey. Günter Grass’s Tin drum. Lexington 1974; Silke Jendrowiak: Günter Grass und die „Hybris“ des Kleinbürgers. „Die Blechtrommel“ – Bruch mit der Tradition einer irrationalistischen Kunst- und Wirklichkeitsinterpretation. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 19.) Heidelberg 1979; Helmut Koopmann: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. In: Volker Neuhaus (Hg.): Die „Danziger Trilogie“ von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt am Main 1991, S. 200 – 222; Sabine Moser: „Dieses Volk, unter dem es zu leiden galt“. Die deutsche Frage bei Günter Grass. Frankfurt am Main 2002; Jürgen Rothenberg, Günter Grass: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung; Zeitgeschichte als Thema und Aufgabe des Prosawerks. Heidelberg 1976. Klaus Wagenbach hat schon früh darauf hingewiesen, dass Grass’ Texte „prinzipiell interpretationsfeindlich“ seien. Richtiger wäre es jedoch, davon zu sprechen, dass sie sich verschiedenen Interpretationen öffnen.Vgl. Klaus Wagenbach: Günter Graß. In: Klaus Nonnenmann (Hg.): Schriftsteller der Gegenwart. Deutsche Literatur. Dreiundfünfzig Porträts. Olten und Freiburg i. Br. 1963. Zur Vieldeutigkeit der Grass’schen Prosa vgl. Marc Silberman: Schreiben als öffentliche Angelegenheit. Lesestrategien des Romans „Hundejahre“. In: Manfred Durzak (Hg.): Zu Günter Grass. Geschichte auf dem poetischen Prüfstand. Stuttgart 1985, S. 80 – 95, hier S. 81.
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auf die ich schon eingegangen bin, sondern verdankt sich auch dem Umstand, dass Grass die Umschläge seiner Bücher selbst gestaltete. Den Umschlag der Erstausgabe von Die Blechtrommel zierte beispielsweise eine in schwarz und rot gehaltene Zeichnung des Autors, die den Protagonisten des Romans beim Trommeln zeigt. Als 1962 eine Taschenbuchausgabe bei Fischer erschien, überraschte der Verlag die Leserinnen und Leser mit einer neuen Umschlaggestaltung, die ebenfalls der Autor bewerkstelligte (vgl. Abbildung 1).
Abb. 1: Taschenbuchausgabe von Die Blechtrommel (Fischer Verlag, 1962)
Zieren auch bei Fischer die Umrisse eines Blechtrommlers den Umschlag, so handelt es sich doch um eine Montagearbeit, die den Protagonisten des Romans vor allem aus den Zeitungsüberschriften der Romanrezensionen zusammensetzt. Insbesondere der Titel des Buchs und der Name des Autors finden in diesen Zeitungsschnipseln häufig Erwähnung. Die Zeitungsmontage bezieht sich auf das Presseecho, das die Die Blechtrommel auslöste. Erinnert wird an die heftigen Reaktionen auf das Buch ferner dadurch, dass über der rot eingefärbten Trommel das Wort „Bremen“ gut lesbar platziert ist. Die Montage verweist so auf den durch das Buch ausgelösten Skandal, über den noch zu sprechen sein wird. Intensiviert wird die Evokation des Skandals durch die ebenfalls verwendete skandalträchtige Umschlagszeichnung der inzwischen veröffentlichten Novelle Katz und Maus, die eine dickleibige Katze mit einem Ritterkreuz am Hals zeigt. Die Montagearbeit drückt visuell aus, was Enzensbergers Rezension, an der sich der Klappentext orientiert, dem Roman attestierte: Er überschreite die Grenzen, „hinter denen die
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Tabus unserer Gesellschaft liegen“.³² Indem der Erzähler in provokanter Pose abgebildet wird, verstärkt die grafische Gestaltung der Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags zudem die Gleichsetzung des Erzählers mit dem Autor, denn nur letzterem kann die Provokation von Presse und Gesellschaft zugeschrieben werden. Die skandalöse und provokante Wirkung des Buchs wird somit personalisiert. Die Montagearbeit demonstriert ein temporales Charakteristikum blasphemischer Autorschaft: Als Blasphemiker tritt der Autor erst durch die Verdikte seiner Leserinnen und Leser in Erscheinung. Diese Skandalisierung wird durch die Texte antizipiert. Der Blechtrommler will Ärgernis erregen! Wie in der Analyse des literaturkritischen Echos noch aufgezeigt werden wird, verstanden viele Rezensionen Die Blechtrommel als Widerlegung einer kulturkritischen Literaturtheorie, die das Erzählen selbst an ein Ende gekommen sah. Diese Einschätzung basierte nicht nur auf einer Interpretation des Romans, sondern wurde direkt aus dem Roman übernommen, denn schon auf den ersten Seiten positioniert der Erzähler Oskar Matzerath das Werk seines Autors im romantheoretischen Diskurs der 1950er-Jahre.³³ Auch andere Passagen des Romans verweisen auf den ästhetischen und soziokulturellen Kontext, in dem der Roman entstand, und können nicht rein werkimmanent gedeutet werden. Den Leserinnen und Lesern wird suggeriert, dass sie nicht nur eine Geschichte lesen, sondern sich die Art und Weise des hier praktizierten Erzählens selbstbewusst über die apodiktischen Aussagen skeptischer Literaturtheoretiker hinwegsetzt. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass der Erzähler des Romans sein Erzählen immer wieder vor dem Hintergrund der poetologischen, erinnerungstheoretischen und religiösen Diskurse der Nachkriegszeit in Szene setzt. Dabei kommt es zu einem komplexen Zusammenspiel zwischen dem Erzähler und seinem Erzählmedium, als welches die Trommel durch den Roman charakterisiert wird. Es ist insofern auch kein Zufall, dass durch die Umschlaggestaltung der Fischer-Taschenbuchausgabe gerade das Motiv der Blechtrommel auf Autorschaft bezogen wird. Deutet schon der Romantitel auf die zentrale Bedeutung des Instruments hin, so wird diese durch den Erzähler noch weiter verstärkt. Die Narration des Romans, so verlautbart es der Erzähler, verbalisiert die Bilder, die die Trommel evoziert. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Trommel im Roman zum Symbol einer Autorschaft wird, die den durch sie vollzogenen Normbruch legitimiert und den Blasphemievorwurf antizipiert. Im Motiv der Trommel bündeln sich die politischen und religiösen Aspekte des Romans, die auf die Autorschaftsfrage bezogen sind. Dabei schlägt
Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834. Vgl. Günter Grass: Die Blechtrommel. Hg.von Volker Neuhaus. (Werkausgabe. Bd. 3.) Göttingen 1997, S. 12. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle DB zitiert.
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die Trommel nicht nur Krach, um dem Verschweigen der nationalsozialistischen Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland etwas entgegenzusetzen und die erstarrten Rituale des Katholizismus zu dekonstruieren, sondern bilden die dissonanten Töne und kindlichen Rhythmen des Blechs einen Kontrast zu den Harmonien eines Beethovens.³⁴ Sie weisen der Kunst ihren Weg aus einer dem Roman zufolge selbstgefälligen Ästhetik. Angesichts der Leiden der Welt, die der Roman bilderreich in Szene setzt, spricht sich Grass mit der Blechtrommel gegen ein Kunstverständnis und eine Religionspraxis aus, die sich im Ornament gefallen. Grass reißt die Grenzen zwischen Gut und Böse ein und positioniert seinen Trommler in einer indifferenten Zone, von der aus die herrschenden Moralkoordinaten dekonstruiert werden. Die Trommel wird so zum Symbol blasphemischer Autorschaft.
1.1.1 Autor und Erzähler Die Umschlaggestaltung der Taschenbuchausgabe des Fischer-Verlags wirft Fragen auf, die für die Analyse der Inszenierung von Autorschaft in der Blechtrommel zentral sind. Auf dem Umschlag steht der trommelnde Erzähler pars pro toto für das ganze Buch. Unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten muss der Erzähler eines narrativen Textes jedoch vom Autor unterschieden werden. Inszeniert Grass den Erzähler dennoch als Ausdruck der intentio operis? Der Roman wird bekanntlich fast ausschließlich von Oskar Matzerath erzählt, d. h. von einem homodiegetischen Erzähler, der zugleich der Protagonist der fiktiven Autobiografie ist.³⁵ Gérard Genette spricht in einem solchen Fall auch von einem autodiegetischen Erzähler.³⁶ Ein solcher ist in hohem Maße am Romangeschehen beteiligt und gewinnt durch den Roman Kontur, sowohl als erzählendes als auch als erzähltes Ich. Schon der Umstand, dass Oskar in einigen Rezensionen als Monstrum charakterisiert worden ist, verrät zudem, dass es sich bei ihm keineswegs um eine durchweg sympathische Figur handelt. Der Roman verhindert eine Identifikation mit Oskar sowohl durch ironische Brechungen als auch durch die Darstellung von Oskars Handlungen, die moralisch dubios erscheinen: seine sexuellen Obsessionen, seine Beteiligung an Bebras Fronttheater und schließlich seine undurchsichtige Rolle bei der Ermordung seiner beiden ‚Väter‘. Im Gegensatz zu vielen Protagonisten Bölls kann Oskar nicht als unschuldiges Opfer der Gesellschaft begriffen werden. Er stellt keinen mit einer weißen Weste ausgestatteten Vgl. ebd., S. 145 f. Einige wenige Seiten des Romans werden von Oskars Pfleger Bruno und von Gottfried von Vittlar erzählt. Vgl. ebd., S. 552 f. u. 745 f. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl. München 1998, S. 176.
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Ankläger dar, sondern zeigt unverkennbar die Prägung der Gesellschaft, die sich von ihm provoziert fühlte. Oskar ist in die Tradition des Pikaro-Romans gestellt worden, aber es ist auch darauf verwiesen worden, dass er sich entgegen den Gattungskonventionen freiwillig in diese Position begibt. Indem sich Oskar seinen Mitmenschen überlegen fühlt, unterläuft er das Schelmenparadigma und schwächt sein Identifikationspotential.³⁷ Abstoßend wirken auf viele Leserinnen und Leser die Geschehnisse, in denen Oskar als Protagonist seiner eigenen Erzählung – als erzähltes Ich – vorkommt. Doch wie ist es um das erzählende Ich bestellt? Dient dieses als ‚Sprachrohr‘ des Autors? Sicherlich liefert der Erzähler oftmals schonungslose Einsichten in das von ihm dargestellte Milieu und nimmt unter Umständen auch eine kritische Sicht auf sich selbst ein, jedoch finden sich im Roman auch etliche Aussagen, die Zweifel an der Aufrichtigkeit des erzählenden Ichs aufkommen lassen. Festgehalten werden kann deswegen schon hier, dass auch der Erzähler, der ja als Romanautor auftritt, keinesfalls als vorbildhafter Autor inszeniert wird.³⁸ Auch wenn grundsätzlich zwischen Äußerungen des Autors und des Erzählers unterschieden werden muss, so charakterisiert den Roman jedoch ein Diskurs über das Erzählen, in dem ein bestimmtes Autorschaftsverständnis deutlich valorisiert wird. Jenseits aller anthropomorphen Gleichsetzungen von Erzähler und Autor muss konstatiert werden, dass der Roman sich reflexiv immer wieder dem eigenen Erzählen zuwendet, dieses bewertet und damit eine differenzierte Vorstellung von Autorschaft ermöglicht. Dies gilt auch und insbesondere hinsichtlich der Frage, ob Oskar als ein zuverlässiger Erzähler einzustufen ist. Die Forschung hat diese Frage mit guten Gründen verneint und auf die Widersprüchlichkeiten hingewiesen, die den Bericht des Erzählers oftmals charakterisieren.³⁹ Glauben die Leserinnen und Leser Oskar, dann hat er seine Geburt bewusst erlebt, sich selbst dazu entschlossen, nicht mehr zu wachsen und diesen Entschluss später revidiert. Die erste Behauptung kann natürlich nicht überprüft werden und gehört zu den phantastischen Elementen des Romans, die durch die diegetische Welt Einflussreich für das Verständnis Oskars als Pikaro war: Wilfried van der Will: Pikaro heute. Metamorphosen des Schelms bei Thomas Mann, Döblin, Brecht, Grass. Stuttgart 1967, S. 63 – 69. Die Kritik findet sich bei: Manfred Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart. Stuttgart 1971, S. 118 – 128. Just spricht von der „Kunstfigur“ Oskar, die mit realistischen Erzählkonventionen und Identifikationsangeboten bricht. Vgl. Georg Just: Darstellung und Appell in der „Blechtrommel“ von Günter Grass. Darstellungsästhetik versus Wirkungsästhetik. (Literatur und Reflexion 10.) Frankfurt am Main 1972, S. 76. Vgl. Volker Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel. Interpretation. (Oldenbourg-Interpretationen.) 2., überarb. und erg. Aufl. München 1988; John Reddick: The „Danzig Trilogy“ of Günter Grass. A Study of „The Tin Drum“, „Cat and Mouse“ and „Dog Years“. London 1975.
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selbst nicht hinterfragt werden. Jedoch weckt der Roman selbst durchaus Zweifel, ob der Kellertreppensturz wirklich nur inszeniert wurde. Der vierwöchige Krankenhausaufenthalt nach dem Sturz von der Kellertreppe widerspricht Oskars Aussage, dass der Unfall lediglich vorgetäuscht und eigentlich harmlos war.⁴⁰ Verstärkt werden diese Zweifel noch dadurch, dass Oskar seine Aussage, er hätte sich während der Beerdigung seines Vaters Matzerath dazu entschlossen, wieder zu wachsen, später revidiert und als Ursache seines erneuten Wachstums nun den Steinwurf Kurts angibt.⁴¹ Der Roman spielt hier die phantastischen Elemente gegen medizinische Erklärungen aus, ohne jedoch die Ambiguität aufzulösen. Zugleich wird auch auf die symbolische Ebene abgehoben, in deren Logik es plausibel erscheint, dass der Tod von Oskars Vater ihm den Grund für seine Wachstumsverweigerung entzieht. Oskar ist nun davon entlastet, die Nachfolge seines Vaters im Geschäft anzutreten.⁴² Ob diese Logik jedoch das erzählte Ich dazu motiviert, zu wachsen, oder das erzählende dazu bringt, sich selbst in der Retrospektive übernatürliche Fähigkeiten zuzusprechen, bleibt ambig. Weitere Zweifel weckt der Roman durch die zweifache Schilderung der Ereignisse, die zum Tod Matzeraths und Jan Bronskis führten. Widerruft der Erzähler seinen Bericht auch hinsichtlich dieser entscheidenden Ereignisse, so kann man doch von der Wahrhaftigkeit der korrigierten Erinnerungen nicht mit Sicherheit ausgehen. Vielen Interpreten zufolge zerstört der Erzähler durch seine Revisionen das Vertrauen seiner Leserinnen und Leser.⁴³ Die Ambiguität des Romans kann als eine Erzählstrategie begriffen und in dieser Funktion untersucht werden. Es wird dann deutlich, dass Oskars Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit im Kontext etlicher Reflexionen über das Erzählen stehen. Der Roman nutzt die Zweifel an der Aufrichtigkeit des Erzählers dazu, Autorschaftsfragen zu thematisieren. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, wie Grass dem nicht immer aufrichtigen Erzähler ein authentisches Erzählmedium an die Seite stellt. Kann Oskar auch nicht immer vertraut werden, so schafft der Roman mit der Trommel ein Medium, das für ein unabhängiges und aufrichtiges Erzählen steht.⁴⁴ Die Trommel motiviert ein Er Vgl. Reddick: The „Danzig Trilogy“ of Günter Grass, S. 83. Vgl. DB, S. 538. Vgl. ebd. So fragt Volker Neuhaus: „[W]arum sollte man dem, der einmal gelogen hat, die nächste Version mehr glauben?“ Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel, S. 25. Auch Jahnke und Lindemann sprechen von einer weiteren Erzählinstanz. Allerdings betonen sie entgegen der folgenden Argumentation, dass Oskar sich auch der Trommel gegenüber als Meister zeigen würde.Vgl.Walter Jahnke, Klaus Lindemann: Günter Grass: Die Blechtrommel. Acht Kapitel zur Erschließung des Romans. 2., erg. Aufl. Paderborn 1997, S. 11.Vgl. auch die instruktiven Ausführungen in: Just: Darstellung und Appell in der „Blechtrommel“ von Günter Grass, S. 142– 149.
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zählen von einem abseitigen Standpunkt, welches nicht der individuellen Rechtfertigung des Erzählers, sondern allein der Wiedergabe der Geschehnisse verpflichtet ist. Charakterisiert die Differenz zwischen erzählendem und erzähltem Ich auch jede Ich-Erzählung, so wird diese in Die Blechtrommel doch auf vielfältige Weise episch illustriert und rhetorisch hervorgehoben. Als besonders effektiv kann der Bruch mit den Konventionen der Autobiografie angesehen werden: Oskar bezieht sich sowohl in der ersten als auch in der dritten Person auf sich selbst. Der Roman verdeutlicht auf diese Weise, dass das erzählende Ich vom erzählten Ich zu unterscheiden ist. Diese Dekonstruktion der Vorstellung eines kohärenten Subjekts hinterfragt zugleich ein anthropomorphes Verständnis des Erzählvorgangs. Oskar kann weder als erzählendes noch als erzähltes Ich eindeutig charakterisiert werden. Zudem ist die temporale Struktur des Romans hier von Belang. Durch die ausführliche Erörterung der Umstände, unter denen erzählt wird, unterscheidet der Roman die Zeit, in der die Handlung erzählt wird, von der Zeit der Handlung. Erzählt wird also nicht von einem ahistorischen und unpersönlichen – letztlich transzendentalen – Standpunkt aus, sondern aus einer historisch und sozial eindeutig charakterisierbaren Situation. Das erzählende Ich befindet sich in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt und berichtet mittels seiner Trommel in der Zeit zwischen 1952 und 1954 von seinem früheren Leben. Während sich der Zeitraum, in dem erzählt wird, für die Leserinnen und Leser erst sukzessive erschließt, charakterisiert schon der erste Satz die soziale und psychische Situation des Erzählers: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt […].“ (DB 9) Mit diesen Worten setzt der Roman ein und charakterisiert zugleich seinen Erzähler. Durch die besondere Lebenssituation des Erzählers schafft der Roman Distanz zwischen diesem und den Leserinnen und Lesern. Seine Situation wird dabei nicht negativ bewertet, sondern affirmativ in Szene gesetzt. Georg Just hat als Erster darauf hingewiesen, dass durch das Fehlen des syntaktisch erwarteten ‚Aber‘ der Konzessionscharakter des Zugebens zugleich zurückgenommen und „von vornherein ein unvermittelter Gegensatz zweier Wertsysteme geschaffen“ wird.⁴⁵ Während einem ‚Aber‘ für gewöhnlich eine Auflistung der Gründe folgt, die die Autorität des Sprechers wiederherstellen, verzichtet Grass auf dieses syntaktische und argumentative Muster. Der erste Satz akzentuiert so, dass das folgende Buch aus einer Perspektive erzählt wird, die den Maßstäben des common sense nicht genügen will und sich doch demonstrativ jeder Rechtfertigung enthoben sieht. Der Erzähler stellt seine Sichtweise darüber hinaus explizit als epistemologischen Vorteil dar, wenn er nur wenig später konstatiert, dass er für Leserinnen
Just: Darstellung und Appell in der „Blechtrommel“ von Günter Grass, S. 44.
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und Leser schreibe, die „außerhalb meiner Heil- und Pflegeanstalt ein verworrenes Leben führen müssen“ (DB 12). Diese Valorisierung der Erzählerposition wird im Roman an etlichen Stellen durch verschiedene Konstruktionen verstärkt. Oskar bemerkt beispielsweise, dass er „weder im Sakralen noch im Profanen beheimatet“ sei, „dafür etwas abseits in einer Heil- und Pflegeanstalt hause“ (DB 187). Autorschaft wird durch diese Erzählerkommentare exterritorial verortet: Der abseitige Standpunkt ermögliche einen Blick, der von gesellschaftlichen Regeln und Tabus nicht beeinträchtigt sei. Auch durch die Interpretation seiner Lebensgeschichte reklamiert der Erzähler diese epistemologische Kompetenz für sich. Seine Weigerung, erwachsen zu werden, schaffe ihm den Freiraum, sich seiner Trommel zu widmen: Kleine und große Leut’, Kleiner und Großer Belt, kleines und großes ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich, um Unterscheidungen wie kleiner und großer Katechismus enthoben zu sein, um nicht als einszweiundsiebzig großer, sogenannter Erwachsener einem Mann, der sich selbst vor dem Spiegel beim Rasieren mein Vater nannte, ausgeliefert und einem Geschäft verpflichtet zu sein, das, nach Matzeraths Wunsch, als Kolonialwarengeschäft einem einundzwanzigjährigen Oskar die Welt der Erwachsenen bedeuten sollte. Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel […]. (DB 71)
Die Trommel wird in dieser Passage als ein Instrument der Entgrenzung inszeniert. Sie symbolisiert das Durchbrechen der engen Grenzen, die die durch Arbeit geprägte Welt der Erwachsenen umschließen. Man fühlt sich durch Oskars Entscheidung für die Kunst unwillkürlich an die emphatische Ablehnung der prosaischen Verhältnisse durch Goethes Wilhelm Meister erinnert, der der Arbeitswelt seines Vaters, in der er seinen Freund Werner eingesperrt sieht, entfliehen will und die Kunst sucht. Tatsächlich spielt Grass nicht nur mit dieser Stelle auf den Bildungsroman an.⁴⁶ Die oben zitierte Passage erschöpft sich allerdings nicht in der Ablehnung des kleinbürgerlichen Milieus, das der Roman ausführlich darstellt. Wenn Oskar konstatiert, dass er Unterscheidungen wie der zwischen dem kleinen und großen Katechismus enthoben sei, dann spielt er auf die normative Verfasstheit der Welt an, der er sich als Trommler nicht verpflichtet fühlt. Seinen Standpunkt verortet er jenseits der Dichotomien. Oskar beobachtet nicht nur von
Insbesondere im Kontext von Oskars Vorbildern Rasputin und Goethe wird von Bildung gesprochen. So bezeichnet sich Oskar in diesem Zusammenhang auch als „bildungsbeflissen“ (DB 112). Das Theater wird an anderer Stelle als „Bildungstempel“ verspottet und so ein weiterer Kontrast zu Wilhelms anfänglicher Hochschätzung der dramatischen Kunst hergestellt. Vgl. ebd., S. 130.
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einem sozial abseitigen, sondern auch von einem normativ nicht lokalisierbaren Standpunkt aus. Diese amoralische, aber nicht unmoralische Erzählperspektive charakterisiert das Erzählen in Die Blechtrommel. Die abseitige Erzählperspektive charakterisiert auch den Blick auf die Geschichte des Protagonisten selbst. Autodiegetisch erzählte Romane sind üblicherweise individuell motivierte Erzählungen. Weil der Erzähler seine eigene Geschichte erzählt, steht er generell unter Verdacht, die Vergangenheit vom Standpunkt seiner Gegenwart aus in ein für ihn günstiges Licht zu rücken. In diesem Sinne spielt der Roman auf Goethes Dichtung und Wahrheit an: Ganz wie Goethe deutet auch Oskar die Planetenkonstellation während seiner Geburtsstunde. Der Roman demonstriert so gleich zu Beginn, dass sich hier jemand an sein Leben in überaus schmeichelhafter Weise erinnert.⁴⁷ Die Motive und Bedingungen, die die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte beeinflussen, sind natürlich vielfältig. Ist auch an erster Stelle darauf zu verweisen, dass jeder Konstruktion narrativen Sinns ein Auswahlprozess vorausgeht, so sind es doch spezifische Werte und Normen, vor denen sich Individuen verantworten. Von besonderer Bedeutung für die Autobiografie ist die christliche Religion, denn zu den konstituierenden Büchern der Gattung zählen die Confessiones des Augustinus, die von seiner Bekehrung zum Christentum berichten.⁴⁸ Das Schreiben in der Verantwortung vor Gott spielt auch für Die Blechtrommel eine zentrale Rolle, bekennt sich Oskar doch an entscheidenden Stellen zu seiner Schuld. Schon der Anfang des Romans exponiert diesen Schuldkontext. Oskar beschreibt dort seine Wahrnehmung eines Falters, der sich kurz nach seiner Geburt einer Glühbirne nähert: Der Falter schnatterte, als hätte er es eilig, sein Wissen loszuwerden, als käme ihm nicht mehr Zeit zu für spätere Plauderstunden mit Lichtquellen, als wäre das Zwiegespräch zwischen Falter und Glühbirne in jedem Fall des Falters letzte Beichte und nach jener Art von Absolution, die Glühbirnen austeilen, keine Gelegenheit mehr für Sünde und Schwärmerei. Heute sagt Oskar schlicht: Der Falter trommelte. (DB 53)
Für Oskar ist der Falter fortan sein künstlerisches Vorbild und wird „Oskars Meister“ (DB 54) genannt. Besonders signifikant ist dabei die religiöse Dimension, die in der Passage dem Trommeln zugesprochen wird. Das Trommeln wird als eine Beichtform charakterisiert, die nicht auf die Absolution spekuliert und nichts verschweigt. Die blasphemische Profanisierung der religiösen Lichtmetaphorik
Vgl. ebd., S. 54. Ich folge der Deutung in: Jahnke und Lindemann: Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 41. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2. Aufl. Stuttgart 2005, S. 107 f.
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durch den Glühbirnenvergleich betreibt Oskar auch an anderer Stelle. Im späteren Leben, so betont er, habe er den performativen Sprechakt Gottes, dass es Licht werde, von dem in Mose 1,3 berichtet wird, immer mit der Firma Osram in Verbindung gebracht.⁴⁹ Verdeutlicht wird so, dass Oskars elektrifizierte Welt keine Rechtfertigung vor einer höheren Instanz kennt. Damit fehlt Oskars Bekenntnissen, als die der Roman zu verstehen ist, das Telos. Indem der Roman als ein Bekenntnis um des Bekenntnisses willen in Szene gesetzt wird, erzeugt die Passage zudem einen Kontrast zur Beichtpraxis von Oskars Mutter. Der Zusatz, dass es nach einer durch die Glühbirne ausgeteilten Absolution keine „Gelegenheit für Sünde und Schwärmerei“ mehr gebe, spielt auf die Doppelmoral von Oskars Mutter an, von der es heißt, dass „die süße Mühsal eines ehebrecherischen Frauenlebens […] sie fromm und lüstern nach Sakramenten“ (DB 172) gemacht habe. Die Instrumentalisierung der Beichte, die im Fall von Oskars Mutter dazu dient, der Affäre mit ihrem Cousin weiter nachzugehen, steht im Gegensatz zu Oskars getrommelten Bekenntnissen, die nicht auf die Absolution abzielen. Erst dieser Verzicht erklärt den Amoralismus von Oskars Kunst, die das christliche Normenkorsett sprengt und mit den Trommelrhythmen „im dunkelsten Afrika“ (DB 53) verglichen wird, also mit einer durch das Christentum nicht beeinflussten Kunst. In diesem Sinne rückt die oben zitierte Passage die Quantität der Trommelschläge in den Vordergrund. Der Falter will alles loswerden. Er hat es eilig und unterwirft das Erzählte nicht der Absicht seiner Erzählung. Als Urbild des Trommlers symbolisiert der Falter die epische Fülle des Romans, die explizit reklamiert wird, wenn Oskar von seiner Trommel behauptet, dass ihr „bei geschicktem und geduldigem Gebrauch alles einfällt, was an Nebensächlichkeiten nötig ist, um die Hauptsache aufs Papier bringen zu können“ (DB 23). Beschworen wird mit dem Symbol der Trommel also eine erzählerische Wahrhaftigkeit. Alles zu erzählen bedeutet, vom eigenen Standpunkt abzusehen und auf keine Absolution zu spekulieren. Dass diese propagierte Wahrhaftigkeit auf phantastische Mittel wie die Trommel nicht verzichten kann, muss als Anspielung auf die übermenschliche Herausforderung verstanden werden, die ein allein der Wahrheit verpflichtetes Erzählen darstellt. Eifert Oskar dem Falter auch nach, so nimmt er es doch an zentralen Stellen seiner Autobiografie mit der Wahrheit nicht so genau. Es reicht jedoch nicht aus, hier die Erzähltheorie zu bemühen und einen unzuverlässigen Erzähler zu diagnostizieren. Wichtiger ist der Umstand, dass die epistemologischen Probleme, die durch Oskars gelegentliche Revisionen seiner Erzählungen hervorgehoben werden, in grundsätzlichen Reflexionen über das Schreiben münden. So verkündet Oskar, nachdem er von der Verteidigung der
Vgl. DB, S. 52.
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polnischen Post berichtet hat, dass er seiner Feder, der es gelungen ist, „dann und wann im Sinne einer bewußt knapp zusammenfassenden Abhandlung zu übertreiben, wenn nicht zu lügen“ (DB 318), nun in den Rücken fallen müsse. Oskar bekennt sich dementsprechend zu seiner Schuld und räumt ein, seinen Onkel bzw. Vater an die deutsche Heimwehr verraten zu haben. Er fährt jedoch fort: Doch wie jedermann halte ich mir an Tagen, da mich ein unhöfliches und durch nichts aus dem Zimmer zu weisendes Schuldgefühl in die Kissen meines Anstaltbettes drückt, meine Unwissenheit zugute, die damals in Mode kam und noch heute manchem als flottes Hütchen zu Gesicht steht. (DB 320)
Oskars Schwierigkeiten, in seinem autobiografischen Bericht bei der Wahrheit zu bleiben, werden hier verallgemeinert und in den erinnerungspolitischen Kontext der Nachkriegszeit gestellt. Angespielt wird so auf die Aufgabe der Literatur, mit der Bagatellisierung der NS-Vergangenheit zu brechen. Die Trommel fungiert als Symbol für eine von persönlichen Absichten befreite Darstellung, denn als Oskar das Krankenhaus, in das er nach der Verteidigung der polnischen Post eingeliefert wurde, verlässt, erkennt er die Trommel als Hindernis, das ihm verwehrt, sein unrühmliches Verhalten gegenüber den deutschen Heimwehrleuten zu verdrängen. Oskar bezeichnet die Trommel als „letzten Zeugen seiner Schmach“, die er „vernichten“ wolle, und fährt fort: „Aber die hielt stand, gab mir Antwort, schlug, wenn ich draufschlug, anklagend zurück.“ (DB 334) Die Sprache des Romans lässt an dieser Stelle keinen Zweifel an der Gewalt, die den Versuch auszeichnet, die eigene Vergangenheit „auszuradieren“ (DB 334), und inszeniert die Trommel als authentisches Medium der Erinnerung. Grass gelingt es, mit dem Symbol der Trommel die narrative Instanz zu verschieben. Oskars Erzählung folgt immer wieder den Direktiven der Trommel. Er wird zur Aufrichtigkeit gezwungen.⁵⁰ Allerdings fungiert nicht nur die Trommel als Autorschaftsmodell, sondern werden auch einige Eigenschaften Oskars deutlich herausgestellt. Die fehlende Identifikation sowohl mit dem sakralen als auch profanen Bereich der Gesellschaft prädestiniert Oskar zum Tabubruch. Da er nirgendwo zuhause ist, unterliegt Oskar nicht dem Zwang zur Loyalität und kann folglich alles zur Sprache bringen. Er entzieht sich dem herrschenden Normenkorsett, dem großen und kleinen Katechismus, wie ja schon dargestellt worden ist.
Im Gegensatz zu Arker, der nahelegt, in der Trommel einen Ausdruck des ‚abstrakten Autors‘ zu sehen, der mit Link als ein Integrationspunkt sämtlicher Eigenschaften des Textes verstanden wird, begreife ich diese als ein rhetorisches Mittel für die Inszenierung von Autorschaft.Vgl. Dieter Arker: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. Untersuchungen zu Günter Grass’ „Blechtrommel“. Heidelberg 1989, S. 61 u. 147.
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Am deutlichsten wird der amoralische Status des Erzählers angesichts seiner Taufe markiert: Oskar widerruft die von ihm verlangte Widerrufung des Satans. Es sei gegen seinen Willen in seinem Namen gesprochen worden.⁵¹ Indem der Roman Oskar zum Symbol des Amoralismus macht, plausibilisiert er, warum dieser von seinen Verfehlungen und denen seiner Umgebung zumeist offen berichten kann. Inszeniert wird dieser Status insbesondere in Hinsicht auf das katholische Milieu. Der Erzähler betont seine katholische Prägung und spricht die Leserinnen und Leser in dieser Sache direkt an: „Sie werden zugeben müssen, daß ich mir einen gewissen katholischen Tonfall bewahrt habe.“ (DB 176) Herausgestellt wird so der erkenntnistheoretische Wert eines Erzählers, der sich auf seine eigene Prägung beziehen kann, ohne Tabus fürchten zu müssen. Die anschließenden Zeilen demonstrieren dann auch ganz im Sinne Döblins, dass der Erzähler dem aus seiner katholischen Prägung resultierenden Ansturm der Worte unterliegt: Früher konnte ich nicht auf Straßenbahnen warten, ohne gleichzeitig der Jungfrau Maria zu gedenken. Ich nannte sie liebreiche, selige, gebenedeite, Jungfrau der Jungfrauen, Mutter der Barmherzigkeit, Du Seliggepriesene, Du, aller Verehrung Würdige, […]. (DB 176)
Grass folgt hier einer Prämisse, die Döblin in seinen poetologischen Schriften vertritt. Dem Autor von Berlin Alexanderplatz zufolge soll die Sprache und nicht der Autor Sieger bleiben, da „jedem Sprachstil […] eine Produktivkraft und ein Zwangscharakter inne[wohnt], und zwar ein formaler und ideeller.“⁵² Indem Oskar auf die milieuspezifische Signifikanz seines Erzählens hinweist, beansprucht er kollektive Autorschaft: An seinem Bericht schreibe gleichsam das Milieu mit, das ihn geprägt habe. Das Vorbild Döblin, zu dem sich Grass später bekannte,⁵³ muss als konstitutiv für die Grass’sche Inszenierung von Autorschaft erkannt werden, denn die Fabulierkunst, die dem Autor schon in den ersten Rezensionen bescheinigt wurde, basiert auf einem Erzählprinzip, das sich dem imaginativen Potential der Sprache immer wieder überlässt; das mit Hilfe von Geschichten und Bildern charakterisiert und nicht mit einer psychologisch verfeinerten Sprache der Introspektion. Der Bezug auf Döblin ist auch insofern weiterführend, als Sprache von beiden Autoren als semantisch gesättigtes Material verstanden wird. Oskar erkennt die Zwänge seiner katholischen Verwurzelung an, wenn er konstatiert,
Vgl. DB, S. 174 f. Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks. In: Döblin: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden.) Olten 1989, S. 215 – 245, hier S. 243. Vgl. Günter Grass: Über meinen Lehrer Döblin. In: Grass: Essays und Reden I. 1955 – 1969. Hg. von Daniela Hermes. (Werkausgabe. Bd. 14.) Göttingen 1997, S. 264– 284.
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dass „der Katholizismus mir Lästerungen eingibt, die immer wieder verraten, daß ich, wenn auch vergeblich, dennoch unabänderlich katholisch getauft bin“ (DB 176). Der Roman formuliert damit zugleich ein amoralisches Credo, denn der Erzähler gibt mit diesen Verlautbarungen jede Verantwortung ab. Für die Lästerungen sei nicht er, sondern der Katholizismus verantwortlich. Diese Weigerung, Verantwortung zu akzeptieren, korrespondiert mit der Weigerung des Erzählers und Protagonisten, erwachsen zu werden. Stellt der Roman die Erfahrungen und die Sprache Oskars als repräsentativ für ein kleinbürgerliches katholisches Milieu dar, so generiert die Trommel den Diskurs des Romans, ohne durch die individuellen Darstellungsabsichten und Ziele des Erzählers beeinflusst zu sein.⁵⁴ Das Motiv des Falters ist in diesem Sinne dargestellt worden und auch die Revision des autobiografischen Berichts über Oskars Verhalten anlässlich der Verteidigung der polnischen Post folgt diesem Muster. Das erzählende Ich tritt in seiner Individualität zurück und überlässt das Erzählen der Trommel. Durch verschiedene Motive, intertextuelle Bezüge und Schreibweisen inszeniert der Roman ein Autorschaftsmodell und versinnbildlicht es figurativ durch Oskars Blechtrommel. Um die politische und religiöse Dimension dieser Autorschaftsmetapher zu erkennen, sollen nun die verschiedenen Diskurse skizziert werden, auf die der Roman Bezug nimmt.⁵⁵ Bevor ich mich dem Zusammenhang zwischen Religion und Literatur zuwende, soll gezeigt werden, wie der Roman Autorschaft im erinnerungspolitischen Diskurs der Nachkriegszeit verortet.
1.1.2 Der erinnerungspolitische Kontext Grass’ Debütroman kontrastiert auf vielfältige Art und Weise Oskars Erinnerungsvermögen, das durch die Trommel symbolisiert wird, mit der Verdrängung der Vergangenheit in der Nachkriegszeit. So wird letztere zweimal als Biedermeier bezeichnet, verkündet Oskar im ironischen Ton, dass es nach dem Krieg strategisch besser gewesen wäre, die eigene Schuld schnell anzuerkennen, um sich ungestört dem Wiederaufbau widmen zu können, und werden die Vorteile der sich Zur Darstellung des Kleinbürgertums liegt eine umfangreiche Forschung vor.Vgl. Jendrowiak: Günter Grass und die „Hybris“ des Kleinbürgers; Frank-Raymund Richter: Günter Grass. Die Vergangenheitsbewältigung in der Danzig-Trilogie. Bonn 1979; Koopmann: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde; Brode: Die Zeitgeschichte im erzählenden Werk von Günter Grass, S. 17– 25. Auffenberg konstatiert, dass der Roman im Verhältnis von Oskar und seiner Trommel sein Erzählen reflektiert. Ich möchte darüber hinaus aufzeigen, dass Autorschaft hier thematisch wird, und damit einen Aspekt systematisch darstellen, der bei Auffenberg nur punktuell angesprochen wird. Vgl. Christian Auffenberg: Vom Erzählen des Erzählens bei Günter Grass. Studien zur immanenten Poetik der Romane „Die Blechtrommel“ und „Die Rättin“. Münster 1993, S. 60 – 67.
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aufdrängenden Gegenwart hervorgehoben, durch die die unbequeme Vergangenheit schnell zur ‚Historie‘ erklärt werden könne.⁵⁶ Auch die Figurenzeichnung des Romans akzentuiert die Vergangenheitsverdrängung. Oskars Künstlerfreund Lankes „pflegt die Welt in aktuell und passé einzuteilen“ (DB 718)⁵⁷ und Marias Erinnerungslücken machen deutlich, dass es üblich ist, die Vergangenheit, wenn sie die bürgerliche Fassade bedroht, zu verleugnen.⁵⁸ Der Roman konterkariert dieses bereitwillige Vergessen und bezieht sich an vielen Stellen auf die verdrängten historischen Ereignisse, die er mit der autobiografischen Erinnerung des Erzählers verknüpft. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welche Rolle das durch Die Blechtrommel inszenierte Autorschaftsmodell im erinnerungspolitischen Kontext der Nachkriegszeit spielt. Angesichts der politischen Brisanz, die die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit damals besaß, kann es nicht verwundern, dass in der Rezeption des Romans Fragen gestellt wurden, die erinnerungspolitisch motiviert waren. Wie verhalten sich individuelles Schicksal und historischer Kontext im Roman? Kann oder soll Oskar Matzeraths Schicksal den Aufstieg oder die Niederlage des Nationalsozialismus erklären? Welche Rolle spielt das Kleinbürgertum für die nationalsozialistische Herrschaft und wie wird es dargestellt? Die Blechtrommel antizipiert diesen Fragenhorizont und nimmt so am erinnerungspolitischen Diskurs teil. Die literarische Darstellung des Nationalsozialismus war in der Nachkriegsgesellschaft von politischer Bedeutung, weil sie sich der Verdrängung dieses Themas widersetzte. Eine Analyse des Romans kann daher nicht ignorieren, welche gesellschaftlich verdrängten Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft literarisch dargestellt werden und welche nicht. Wird der Holocaust dargestellt? Wird vom Antisemitismus gesprochen? Findet die Euthanasie Erwähnung? Im Kontext meiner Fragestellung müssen diese Fragen nicht detailliert beantwortet werden, auch wenn es in Hinsicht auf den politischen Gehalt des Romans nicht unwichtig ist, zu erwähnen, dass all dies in Grass’ Die Blechtrommel geschieht. Wichtiger für die Analyse des inszenierten Autorschaftsmodells ist es, zu untersuchen, wie der Roman den autobiografischen Bericht des Erzählers mit dem historischen Narrativ verknüpft. Wie wird das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Romanerzählung bestimmt? Den Ausgangspunkt hierfür kann eine Passage aus dem zweiten Kapitel bieten, in der die Zeugungsgeschichte von Oskars Mutter mit folgenden Worten rekapituliert wird: „Jedenfalls sagt meine Trommel: An jenem Oktobernachmittag des Jahres neunundneunzig, während in Vgl. DB, S. 350, 444, 570 u. 604. Zur Lankes als Künstlerfigur vgl. Auffenberg: Vom Erzählen des Erzählens bei Günter Grass, S. 45 – 50. Vgl. DB, S. 370 f.
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Südafrika Ohm Krüger seine buschigen englandfeindlichen Augenbrauen bürstete, wurde […] meine Mutter Agnes gezeugt.“ (DB 23) Oskars Trommel korreliert hier biografische und weltgeschichtliche Daten. Welcher Zusammenhang zwischen den beiden Narrativen jedoch besteht, bleibt unklar. Der historiografische Hinweis wird nicht weiter verfolgt und Oskar fährt biografisch fort. Auffällig an der zitierten Passage ist der ironische Gestus, mit dem die weltgeschichtlichen Ereignisse referiert werden; er charakterisiert alle Passagen, in denen historiografische Informationen gegeben werden. Während die oben zitierte Anspielung auf den burischen Politiker und Offizier Paul Krüger durch den NS-Propagandafilm Ohm Krüger motiviert sein mag, werden andere Passagen, die weltgeschichtliche Ereignisse vermitteln, explizit als Sondermeldungen des Radios ausgewiesen. Oskar charakterisiert sich selbst als fleißiger und bildungsbeflissener Rundfunkhörer, der dem Radio seine Geografiekenntnisse verdankt: „So lernte ich also im Januar dreiundvierzig, daß die Stadt Stalingrad an der Wolga liegt, sorgte mich aber weniger um die sechste Armee, vielmehr um Maria, die zu jener Zeit eine leichte Grippe hatte.“ (DB 416) Wolfgang Preisendanz hat mit Blick auf Die Blechtrommel davon gesprochen, dass solche Passagen einen komischen Kontrast herstellen, der auf die „Differenz zwischen unmittelbarer Geschichtserfahrung und historiografischer Geschichtskonzeption“ hindeutet.⁵⁹ Dem kann nur zugestimmt werden: Etliche Stellen des Romans evozieren den Unterschied zwischen individuellem Erleben der Geschichte, das Autobiografien bemüht sind zu vermitteln, und dessen, was im Roman als Historie bezeichnet wird.⁶⁰ Diese Stellen wurden, darauf hat John Reddick hingewiesen, alle erst in die Letztfassung des Romans eingefügt. Die vorherigen Fassungen hingegen interpretierten Weltgeschichte vorrangig in geschichtspessimistischer Weise als fatalistische Wiederkehr des Gleichen.⁶¹ Der Unterschied zwischen den Fassungen verdeutlicht, wie systematisch Grass den von Preisendanz analysierten Kontrast zwischen individueller Geschichtserfahrung und historiografischer Geschichtskonstruktion gestaltet. Grass weigert sich, die individuellen Erlebnisse in ein politisches Narrativ einzuweben. Weltgeschichte und persönliche Geschichte werden nicht harmonisiert. Porträtiert der Roman in der Figur von Oskars Vater auch einen typischen Mitläufer, der sich von der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie be-
Wolfgang Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit. In: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hgg.): Das Komische. (Poetik und Hermeneutik 7.) München 1976, S. 153 – 164, hier S. 162. Vgl. insbesondere das Kapitel „Sondermeldungen“, aber auch: DB, S. 334, 399, 405, 505 u. 520. Vgl. John Reddick: Vergangenheit und Gegenwart in Günter Grass’ „Die Blechtrommel“. In: Bernd Hüppauf (Hg.): „Die Mühen der Ebenen“. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945 – 1949. (Reihe Siegen 17.) Heidelberg 1981, S. 373 – 397, hier S. 380.
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geistern lässt, so steht die Entstehung des Nationalsozialismus doch in keiner Weise im Mittelpunkt. Die allegorische Überzeichnung eines individuellen Schicksals, wie sie etwa Thomas Mann in Doktor Faustus vornimmt, findet im Grass’schen Debütroman nicht statt. Jost Hermand, der offensichtlich sozialwissenschaftliche Analysen von Romanen erwartet, hat dies dazu veranlasst, zu konstatieren, dass es sich bei dem Roman um „keine wirkliche Faschismusanalyse, die klar umrissene Erkenntnisse zum Wesen dieser Bewegung und ihrer verschiedenen Ideologiekomplexe erlaubt“, handele, denn dieser „bleibt immer wieder im Privaten, Persönlichen stecken.“⁶² Ignoriert man die normative Dimension dieser These, kann dem nicht widersprochen werden. Grass’ Roman will in der Tat keine Analyse des Nationalsozialismus sein.⁶³ Liest man den Roman gründlich, stößt man sogar auf Motive, die solche Interpretationsmuster explizit parodieren. Im Kapitel „Madonna 49“ verweist Grass beispielsweise auf die Tücken symptomatischer Kunstinterpretation und einer Autorschaft, die ihren Stoff allegorisch überformt. Das Kapitel führt einen Professor der Kunstakademie vor, der Kunst als politische Anklage definiert und verkündet, dass Oskar das „zerstörte Bild des Menschen anklagend, herausfordernd, zeitlos“ (DB 606) ausdrücke. Der Kontrast zwischen dieser Charakterisierung von Oskar und der durch den Grass’schen Roman könnte stärker nicht sein. Der Professor führt genau die allegorische Lektüre vor, die der Roman nicht leisten will. Dieser komische Kontrast kann mit Preisendanz als „provozierende[r] Gestus“⁶⁴ gegenüber einer bestimmten Rezeptionsweise verstanden werden. Grass antizipiert und persifliert Interpretationen, die die Geschichte der Matzeraths beispielhaft verstehen und durch sie die Entstehung des Nationalsozialismus allegorisch verdichtet sehen.Während Bölls Billard um halb zehn solche Rezeptionshaltungen erfüllt, betont Grass die Diskrepanz zwischen den weltgeschichtlichen Schrecken und der individuellen Erfahrung.⁶⁵ Diese Diskrepanz mitsamt ihrer komischen Wirkung darf allerdings
Jost Hermand: Das Unpositive der kleinen Leute. Zum angeblichen skandalösen ‚Animalismus‘ in Grassens „Die Blechtrommel“. In: Hans Adler, Jost Hermand (Hgg.): Günter Grass. Ästhetik des Engagements. New York 1996, S. 1– 22, hier S. 13. Ähnlich kritisch (und ebenfalls auf starke normative Voraussetzungen gestützt) setzt sich eine andere Arbeit aus den 1970er-Jahren mit Grass’ Politikverständnis auseinander. Vgl. Cepl-Kaufmann: Günter Grass. Helmut Koopmann hat in diesem Sinne konstatiert, dass Grass nicht die Grundlagen des Nationalsozialismus erforsche, sondern den Akzent auf das Nachleben desselben in der Gegenwart lege. Vgl. Koopmann: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde, S. 211. Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit, S. 164. Dies geschieht an einer Stelle sogar explizit: In den ersten Zeilen des Kapitels „Fünfundsiebenzig Kilo“ parallelisiert Oskar seine sexuellen Erfolge bei Frau Greff mit denen der Heeresgruppe
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keinesfalls als Exkulpation verstanden werden. Preisendanz spricht von einem ‚provozierenden Gestus‘, weil diese Komik den Schrecken der geschichtlichen Ereignisse nicht unterdrückt, ihn auch durch Erklärungen nicht mildert, sondern als ungelöste Hypothek der Geschichte erfahrbar werden lässt: Aber diese Komik will nicht einfach nachvollzogen werden. Indem sie ihre eigene Fragwürdigkeit ausspielt, indem sie sich selbst als etwas Ausgrenzendes und Verdrängendes nimmt, veranlaßt sie den Leser, sie nicht auf sich beruhen zu lassen, sie nicht als Auffassungsnorm zu akzeptieren, sondern eine andere Einstellung zu finden, als sie der Komik zur Verfügung steht. Das Komische des Schrecklichen hat dann das Schreckliche der Komik als Kehrseite.⁶⁶
Diese Dialektik legitimiert die Amoral des Romans, die ich zuvor als Chiffre der Grass’schen Autorschaft interpretiert habe. Oskars Trommel ist der Chronik verpflichtet, die gesellschaftliche Ereignisse nicht in Plotstrukturen einbindet, sondern sie schlicht auflistet.⁶⁷ Die narrative Bändigung der Ereignisse hingegen, so suggeriert es der Roman, nimmt ihnen den Schrecken und macht sie als Bestandteile kollektiven Wissens konsumierbar. Diese politische Dimension historiografischer Autorschaft rückt insbesondere dann in den Vordergrund, wenn Erinnerungsprozesse der Nachkriegszeit thematisiert werden. So findet sich im Roman der Hinweis, dass die Nachkriegszeit „alles zur Historie erklärt, was uns gestern noch frisch und blutig als Tat oder Untat von der Hand ging“ (DB 571). Oskar trommelt gegen diese retrospektive Entschärfung der Vergangenheit an und verwehrt sich gegen Deutungen seiner Berichte, die den Historienschleier über seine Erlebnisse legen wollen. Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang das Kapitel „Die Tribüne“, in dem Oskar berichtet, wie er unter einer Tribüne stehend eine Nazi-Kundgebung aufmischte, indem er seine eigenen Trommelrhythmen gegen die offizielle Marschmusik der Nazis ertönen ließ. Das Kapitel ruft nicht nur zur Wachsamkeit gegen „jegliche Zauberei“ (DB 150), d. h. jede Inszenierung politischer und religiöser Macht auf, sondern antizipiert auch eine mögliche Deutungsweise. Oskars Treiben unter der Tribüne, so will es der autodiegetische Erzähler, sei keineswegs als Widerstandsakt zu deuten und folge auch nicht dem Beispiel des von Gott gegen die Sünder der Stadt Ninive ausge-
Mitte und betont, dass sein epischer Atem ihm erlaube, „Fronterfolge und Betterfolge in einem Satz zu nennen“ (DB 399 f.). Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit, S. 164. Vgl. Hayden White: The Value of Narrativity in the Representation of Reality. In: White: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore 1990, S. 1– 25, hier S. 5 f.
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sandten Propheten Jona, sondern sei rein ästhetisch motiviert gewesen.⁶⁸ Zum Thema Widerstandskämpfer reflektiert das erzählende Ich der Nachkriegszeit: „Das Wort ist reichlich in Mode gekommen. Vom Geist des Widerstands spricht man, von Widerstandskreisen. Man soll den Widerstand sogar verinnerlichen können, das nennt man dann: innere Emigration.“ (DB 157) Passagen wie diese machen deutlich, dass Grass mit seinem Roman auf Geschichtsbilder und Geschichtskonstruktionen der Nachkriegszeit reagiert und sich so im politischen und literarischen Feld positioniert. Die Erinnerungsthematik des Romans ist daher eng auf die Autorschaftsfrage bezogen. Oskars Blechtrommel, die am Anfang des Romans als Symbol seiner Künstlerschaft eingeführt wird, erweist sich im Laufe des Romans immer mehr als ein Instrument der Erinnerung. Denn wenn auch schon im zweiten Kapitel die Trommel als Medium der Erinnerung vorgestellt wird, durch das allein die Geschehnisse des ersten Kapitels aufgezeichnet werden konnten, so entfaltet doch erst das Kapitel „Im Zwiebelkeller“ die Erinnerungsthematik ausführlich. Das Kapitel des dritten Buchs berichtet von Oskars Beschäftigung als Musiker in der Nachkriegszeit. Es spielt im Zwiebelkeller, einer Kneipe, die durch die Verabreichung von Zwiebeln ihre Gäste zu Tränen rührt. Grass nimmt hier die ‚Unfähigkeit zu trauern‘, wie es Alexander und Margarete Mitscherlich einige Jahre später ausdrücken werden, aufs Korn. Im Zwiebelkeller verschafft sich das „tränenlose Jahrhundert“ (DB 693) Erleichterung und weint hemmungslos. In diesem Etablissement findet Oskar zu seinen Trommelkünsten zurück und ersetzt bei erstbester Gelegenheit die Zwiebeln durch seine Trommelrhythmen. Mit Erfolg: Das Publikum fühlt sich in die eigene Kindheit zurückversetzt und weint „kindlich runde Kullertränen“ (DB 704). Schließlich gibt es sogar dem Bedürfnis nach, sich einzunässen. Der Zwiebelkellerepisode folgt Oskars Solokarriere, in der er ganze Konzertsäle füllt und sein betagtes Publikum „Lallen und Babbeln“ (DB 734) lässt. Wie schon in der Beschreibung des Fronttheaters, dem sich Oskar kurzzeitig anschließt, stellt Grass durch Oskars Musikerkarriere die Kompensationsfunktion der Kunst dar, die dem emotionalen Erleben einen sicheren und zeitlich begrenzten Platz zuweist und die politischen Wirrnisse auszublenden hilft. Der Roman persifliert hier die Erinnerungsverweigerung der Nachkriegszeit. So beschwert sich Oskar: „Die trieben einen Kult mit mir, sprachen mir und meiner Trommel Heilerfolg zu. Gedächtnisschwund könne sie beseitigen, hieß es“ (DB 735).⁶⁹ Vorbereitet wird Oskars Solokarriere von, aus seiner Sicht, „schändlich Vgl. DB, S. 155 – 158. Die Religion wird nicht nur in dieser Passage angesprochen, sondern auch hinsichtlich Oskars zweiter Tournee, die in die Adventszeit fällt und einen „kindlichen Glaubenseifer“ (DB 736) erweckt, der von protestantischen und katholischen Zeitungen bejubelt wird.
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wirksamen Plakate[n]“, die seinen Auftritt „wie den Auftritt eines Zauberers, Gesundbeters, eines Messias“ (DB 733) ankündigen. Hier verknüpft der Roman Kunst und Religion und parodiert die Hoffnung, die sich in beiden Diskursen ausdrückt. Sieht sich Oskar durch die Plakate in die Rolle des „Gesundbeters“ versetzt, so ist diese Rolle im Selbstverständnis des Protagonisten eigentlich Rasputin zugedacht.⁷⁰ Der Roman verweist damit im Kontext des Erinnerungsdiskurses auf das so unterschiedliche Paar Rasputin und Goethe, durch das an etlichen Stellen die Bandbreite von Autorschaftsmodellen ausgemessen wird. Im Falle des russischen Predigers parodiert der Roman die Biografie von René FülopMiller, die von Oskars Mutter und Frau Scheffler verschlungen wird und sie kurzzeitig ihr beschwerliches Leben vergessen lässt.⁷¹ Steht Rasputin für Charisma und Sexualität, so verkörpert Goethe die verklärende Vernunft.⁷² Aber auch in der Vernunft vermag Oskar nur Ignoranz der unvernünftigen Welt gegenüber zu erblicken. Der „lichte Dichterfürst“ (DB 112), so spekuliert er, hätte in ihm nur Unnatur gesehen und ihn „mit einem dicken Band seiner Farbenlehre erschlagen“ (DB 112). Goethe, Rasputin und die Religion signifizieren eine Sphäre des Heilen und Gesunden; Rasputin wird als „athletischer Gesundbeter“ (DB 114) und Jesus als „süßer Vorturner“ (DB 177) bezeichnet. Kontrastiert wird diese Sphäre mit der Wirklichkeit des Kriegs. Angesichts des durch Nationalsozialismus und Krieg verursachten Leidens spricht der Roman nicht nur dem christlichen Gott jede Güte ab, sondern stellt sich auch gegen jede Kunst, die das Leiden schlicht ignoriert.⁷³ Sehr anschaulich geschieht dies in Oskars Fiebertraum, der von dem Erfahrungsbericht einer Ärztin ausgelöst wird. Diese berichtet von viertausend Kleinkindern, die einen russischen Fluss nicht überqueren konnten und schließlich erfroren, weil sie warten mussten, bis die sich zurückziehenden deutschen
Vgl. ebd., S. 112. Vgl. das Kapitel „Rasputin und das ABC“. Die beiden Frauen lesen dort die benannte Biografie: René Fülop-Miller: Der heilige Teufel. Rasputin und die Frauen. Berlin 1927. Eberhard Mannack hat den Verweis auf die Biografie detailliert untersucht und die religiöse Schwärmerei für die zwielichtige Figur in Beziehung zur politischen Religion des Nationalsozialismus gesetzt.Vgl. Eberhard Mannack: Oskars Lektüre. Zum Verweisungszusammenhang in Günter Grass’ „Blechtrommel“. In: Dennis H. Green u. a. (Hgg.): From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in literature in honour of Leonard Forster. Baden-Baden 1982, S. 587– 602, hier S. 590. Der Roman vergleicht beide Autoren vor dem Hintergrund des Gegensatzes zwischen dem Dionysischen und Apollinischen. Vgl. DB, S. 423. Ann L. Mason zufolge dekonstruiert Grass die dialektische Kunstkonzeption des frühen Nietzsche. Vgl. Ann L. Mason: The Skeptical Muse. A Study of Günter Grass’ Conception of the Artist. (Stanford German Studies 5.) Frankfurt am Main 1974, S. 34 f. Zur Kritik einer ästhetizistischen Kunstauffassung durch den Roman vgl. Richter: Günter Grass, S. 87– 90.
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Truppen den Fluss überquert hatten. Oskar erlebt in diesem Traum die Weltgeschichte als Karussellfahrt, die auch angesichts des tausendfachen Todes nicht angehalten wird, weil Gott, personifiziert im Karussellbesitzer, dem Treiben kein Ende machen will. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Religion wird durch den Identitätswechsel des Karussellbesitzers thematisiert. Stellt dieser erst Gott dar, so erkennt der fiebernde Oskar nun abwechselnd seine beiden Bildungsgrößen: „Ein bißchen Wahnsinn mit Rasputin, danach aus Vernunftgründen Goethe.“ (DB 542) Irrationalismus, Rationalismus und Erlösungsversprechen werden durch diese Szene als Prinzipien erkennbar, die den schrecklichen Kreislauf der Weltgeschichte erklären wollen, anstatt ihn zu unterbrechen. Die Erinnerungspraxis des Romans, die sich im Symbol der Trommel verdichtet, inszeniert Grass daher im Stil der Chronik und grenzt sie gegen moderne Geschichtsnarrative und Meistererzählungen ab.
1.1.3 Autorschaft und Religionskritik Oskars Karusselltraum kann als ein Beispiel dafür gelten, wie sich die Kirchenkritik des Romans radikalisiert und in Religionskritik umschlägt. Auch andere Stellen des Romans stellen christliche Deutungsmuster durch das Insistieren auf die Grausamkeit der zeitgeschichtlichen Vorgänge infrage.⁷⁴ Zudem wird das Christentum selbst als Ideologie verstanden, die dabei geholfen habe, die Augen vor der nationalsozialistischen Barbarei zu verschließen.⁷⁵ Die Parodie des Romans macht dementsprechend vor der christlichen Religion nicht halt.⁷⁶ Zentral ist die religionskritische Perspektive für das letzte Kapitel des ersten Buchs, das schon durch den Titel „Glaube Hoffnung Liebe“ auf den ersten Korintherbrief anspielt. Das Kapitel erzählt, wie Oskar nach der Reichspogromnacht aus den Ruinen der jüdischen Spielzeughandlung drei Trommeln rettet und auf eine Gruppe religiöser Frauen trifft, deren Transparent die drei Begriffe des ersten Korintherbriefs zitieren. Die Platzierung der christlichen Botschaft im Kontext des Vgl. Regina Ammicht-Quinn: Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage. (Studien zur theologischen Ethik 43.) Freiburg, Schweiz 1992. Im Folgenden steht die Religions- und Kirchenkritik des Romans im Mittelpunkt. Selbstverständlich dekonstruiert der Roman nicht nur christliche Deutungsmuster. Vgl. Jahnke und Lindemann: Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 18 – 29; Jendrowiak: Günter Grass und die „Hybris“ des Kleinbürgers, S. 112– 147. Dies geschieht teilweise auch durch kurze Hinweise, die sich nur bei genauer Lektüre verstehen lassen. So etwa,wenn Oskar mit seiner religiös entflammten Maria auf dem Weg zur Beichte lapidar feststellt, dass auf dem Bahndamm Zwangsarbeiterinnen beschäftigt sind.Vgl. DB, S. 464. Jahnke und Lindemann sprechen hinsichtlich der Darstellung von Oskars Mutter und seiner Geliebten Maria von einer „Persiflage auf die jungfräuliche Gottesgebärerin“. Jahnke und Lindemann: Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 26.
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antisemitischen Terrors generiert einen bizarren Kontrast zwischen der positiven Aussage des Transparents und der offenbaren Wirkungslosigkeit seiner Botschaft. Der Roman stellt so infrage, ob das Propagieren christlicher Tugenden in dieser historischen Situation ausreicht, und demonstriert in dadaistischer Manier, wie Begriffe ihres Inhalts beraubt werden: ‚Glaube – Hoffnung – Liebe‘ konnte Oskar lesen und mit den drei Wörtchen umgehen wie ein Jongleur mit Flaschen: Leichtgläubig, Hoffmannstropfen, Liebesperlen, Gutehoffnungshütte, Liebfrauenmilch, Gläubigerversammlung. Glaubst du, daß es morgen regnen wird? (DB 261)
Was hier als blasphemische Profanisierung der christlichen Botschaft kritisiert oder als eine weitere Skurrilität des Erzählers abgetan werden könnte, muss als eine Antwort auf die Zeitgeschichte verstanden werden: Begriffe, die keinen Bezug mehr zur gesellschaftlichen Wirklichkeit herzustellen vermögen, verlieren an Bedeutung. Auch Sprache ist gesellschaftlichen Deformationsprozessen unterworfen. Hans-Gernot Jung hat folgerichtig konstatiert: „Frömmigkeit, die derart beziehungslos ist, pervertiert ihre Grundlagen.“⁷⁷ Die dadaistische Verspieltheit der oben zitierten Passage verliert sich dann auch abrupt und macht dem Entsetzen Platz, wenn es in thesenhafter Form anschließend heißt: „Ein ganz leichtgläubiges Volk glaubte an den Weihnachtsmann. Aber der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit der Gasmann.“ (DB 261) Diese Zeilen verweisen auf die Pervertierung der christlichen Heilsbotschaft durch die politische Religion des Nationalsozialismus.⁷⁸ Sie stehen am Anfang einer dreiseitigen Passage, die zwischen stream of consciousness und politischer Reflexion oszilliert und das Versagen der christlichen Ethik vor dem nationalsozialistischen Antisemitismus auf vielfältige Weise thematisiert. Auch die Nachkriegszeit wird in dieser Passage angesprochen, wenn der Erzähler auf die Instrumentalisierung des dem Korintherbrief entnommenen Begriffs der Hoffnung anspielt: „Und als dann Schluß war, machten sie schnell einen hoffnungsvollen Anfang daraus“ (DB 263). Die Absicht der Hoffenden sei es, so legt es die Passage nahe, mit einer wirklichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht belästigt zu werden. Konsequent endet das nur scheinbar sinnlose Sprachspiel mit den Begriffen ‚Schluss‘ und ‚Anfang‘, indem es das zentrale Konversionsereignis des Urchristentums infrage stellt: „[E]s gibt keinen Paulus, der Mann hieß Saulus“ (DB 264). Mit diesem
Hans-Gernot Jung: Lästerungen bei Günter Grass. In: Manfred Jurgensen (Hg.): Grass. Kritik, Thesen, Analysen. Bern 1973, S. 75 – 85, hier S. 79. Vgl. Hans D. Zimmermann: Spielzeughändler Markus, Lehrer Zweifel und die Vogelscheuchen. Die Verfolgung der Juden im Werk von Günter Grass. In: Herbert A. Strauss (Hg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985, S. 295 – 306.
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Verweis auf den Verfasser des Korintherbriefes rücken Fragen der Autorschaft in den Mittelpunkt. Der religiösen Autorschaft des Apostels wird jede Authentizität abgesprochen, wenn die religiöse Botschaft des urchristlichen Briefeschreibers in der Sprache des Kommerzes persifliert wird: „[D]er Mann […] war ein Saulus und erzählte als Saulus den Leuten aus Korinth etwas von ungeheuren preiswerten Würsten, die er Glaube, Hoffnung und Liebe nannte“ (DB 264). Diese Diskrepanz zwischen religiöser Sprache und profanem Leben wird im Kapitel „Glaube Hoffnung Liebe“ auch dadurch thematisiert, dass Oskar im ebenfalls überhöhten Sprachstil des Märchens die brutale Geschichte des SS-Musikers Meyn erzählt, der sich bei den Ausschreitungen der Reichspogromnacht besonders hervortut. Grass verbindet so Religions- und Sprachkritik. Die Religionskritik der Blechtrommel radikalisiert die Kirchenkritik Bölls. Sie weist aber auch Gemeinsamkeiten mit Böll auf. Gemeinsam ist den beiden Romanciers, dass sie die christliche Doppelmoral beanstanden: Die Kirche und viele Laien hielten eine christliche Fassade aufrecht, um ihr im Kern unchristliches Verhalten zu kaschieren. Das instrumentale Beichtverhalten von Oskars Mutter ist als ein Beispiel für eine solche Kritik schon angeführt worden. Zitieren lassen sich aber auch andere Passagen von Die Blechtrommel. So heißt es während der Schilderung eines Braunkohlereviers inmitten der Wirtschaftswunderlandschaft der Nachkriegszeit: „Bete und arbeite – Industrie und Religion Hand in Hand.“ (DB 599) Der Religion wird so eine funktionale Rolle für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugesprochen, durch die die Vergangenheit verdrängt wird. Die christliche Doppelmoral wird verstärkt im elften Kapitel des ersten Buchs angeklagt, das mit „Kein Wunder“ überschrieben ist. Dort wird durch die Analyse der neugotischen Architektur der Herz-Jesu-Kirche die Kritik an der Bigotterie von Oskars Mutter verallgemeinert: Da man schnelldunkelnden Backstein vermauert hatte und der mit Kupfer verkleidete Turmhelm flink zum traditionellen Grünspan gekommen war, blieben die Unterschiede zwischen altgotischen Backsteinkirchen und der neueren Backsteingotik nur für den Kenner sichtbar und peinlich. (DB 175)
Dieser Schilderung der Anstrengungen, eine traditionelle Fassade zu errichten, folgt eine Beschreibung des Beichtprozesses, die ebenfalls in einer Kritik der Bigotterie mündet: Gebeichtet wurde in alten und neuen Kirchen auf die gleiche Weise. Genau wie Hochwürden Wiehnke hielten hundert andere Hochwürden am Sonnabend nach Büro- und Geschäftsschluss das haarige Priesterohr im Beichtstuhl sitzend gegen ein blankes, schwärzliches Gitter, und die Gemeinde versuchte, durch die Drahtmaschen hindurch jene Sündenschnur
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dem Priesterohr einzufädeln, an welcher sich Perle um Perle sündhaft billiger Schmuck reihte. (DB 175)
Der Beichtvorgang wird in dieser Passage seines geistigen Gehaltes beraubt und als ein von Sinn befreites Ritual geschildert. Dem billigen Glanz der Perlen entspreche die nur gespielte Reue. Während Böll in Billard um halb zehn die tragischen Konsequenzen der Anpassungsbereitschaft der Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus ausbuchstabiert, herrscht in Die Blechtrommel ein satirischer Ton. Oskar klagt nicht so sehr an, als dass er verspottet und sich in seiner Hybris gefällt. Diese blasphemischen Gesten können als religionskritisches Pendant zur Erinnerungspolitik des Romans verstanden werden. Oskars Insistieren auf der partikularen Geschichtserfahrung des Individuums ähnelt der Hervorhebung des Leidens in seiner nächsten Umgebung. Denn auch dieses spielt Oskar gegen die religiösen Formen aus, durch die das irdische Leiden ja eigentlich Erlösung finden sollte. Beispielhaft kann hier Oskars Vergleich des erstarrten Osterrituals mit dem Leiden und Sterben seiner Mutter zitiert werden: „Zwar war der Karfreitag für Oskar zu Ende, aber die Passionszeit sollte erst nach Ostern beginnen.“ (DB 204) Im Kontext des Romans legitimiert sich diese blasphemische Rede, denn Oskars Mutter bricht mit ihrer Doppelmoral, erkennt die Realität ihres ehebrecherischen Treibens an und büßt nach der Aalepisode für ihre Sünden, ohne sich weiterhin der katholischen Kirche anzuvertrauen.⁷⁹ Auf der Handlungsebene des Romans finden sich mehrere Beispiele für Oskars blasphemische Intentionen. Besonders bedeutsam ist sicherlich Oskars Betätigung als teuflischer Versucher, die zum Ziel hat, arglose Passanten dadurch in Gewissensnöte zu bringen, dass sie plötzlich vor einem entglasten Juwelierschaufenster stehen und der unerschwingliche Schmuck in greifbare Nähe rückt. Hier zeigt sich erneut, dass moralische Ambiguität ein zentrales Thema des Romans ist. Oskar zufolge ist die Übertretung moralischer Grenzen der menschlichen Selbsterkenntnis verpflichtet und daher moralische Pflicht: Manch solid elegante Dame, manch braver Onkel, manch ältliches, im Religiösen frischbleibendes Fräulein hätte niemals in sich die Diebesnatur erkannt, wenn nicht deine Stimme zum Diebstahl verführt hätte, obendrein Bürger gewandelt hätte, die zuvor in jedem kleinen und ungeschickten Langfinger einen verdammenswerten und gefährlichen Halunken sahen. (DB 166)
Silke Jendrowiak hat darauf hingewiesen, dass die Zeit, in der die Leidensgeschichte der Mutter sich vollzieht, christlich datiert ist (Karfreitag, Ostern, Pfingsten). Vgl. Jendrowiak: Günter Grass und die „Hybris“ des Kleinbürgers, S. 115.
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Indem Grass diese These mit Reflexionen über die Natur des Bösen umrahmt, macht der Roman geltend, dass eindeutige moralische Bewertungen oftmals unmöglich sind. Er wendet sich gegen die inszenierte Moral des Bürgertums und setzt die Anerkennung moralischer Ambiguität gegen zeitgenössische Moralfassaden. Die Übertretung moralischer und religiöser Grenzen, so kann man die Botschaft der Passage zusammenfassen, generiert einen adäquateren Blick auf die menschliche Natur und kann daher dabei helfen, aggressive Verurteilungen gesellschaftlicher Randgruppen zu vermeiden. Erkennt die Blasphemie auch an, dass in der Welt heillos gesündigt wird, so heißt sie es doch nicht gut. Diese Dialektik charakterisiert auch die Christusparodie. Oskars schon angesprochene Titulierung Jesu als „süßer Vorturner, […] Sportler aller Sportler, Sieger im Hängen am Kreuz unter Zuhilfenahme zölliger Nägel“ (DB 177) legitimiert sich im Kontext des Romans dadurch, dass ihm genau in dem Moment die Nachfolge Christi angetragen wird, in dem er die kirchliche Glaubenspraxis als ästhetisches Ritual verspottet. Auf die dreifache Nachfrage Jesu, ob Oskar ihn liebe, entgegnet dieser: „Ich hasse dich, Bürschchen, dich und deinen ganzen Klimbim!“ (DB 470) Daraufhin erwidert die sprechende Jesusskulptur: „Du bist Oskar, der Fels, und auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen. Folge mir nach!“ (DB 470) Volker Neuhaus hat diesen Wortwechsel wie folgt kommentiert: Nur der kann der neue Messias sein, der allen ‚Klimbim‘ haßt, der allen Erlösungslehren, woher auch immer sie kommen, dem Christentum wie dem Marxismus, dem Nationalsozialismus wie dem polnischen Nationalismus, der Wohlstandsreligion wie allen Sektierern das Besserwissen seiner Trommel entgegensetzt […].⁸⁰
Neuhaus betont hier ganz zu Recht die ideologiekritische Dimension des Trommelns, das jegliche Normen und Werte hinterfragt, nicht nur die des Christentums. Die christliche Religion und insbesondere der Katholizismus stehen in Die Blechtrommel für die Ignoranz religiöser Heilsversprechen gegenüber den Leiden in der Welt. Gleichzeitig richtet sich die Kritik gegen charismatische Erlösungsversprechen à la Rasputin und die „olympische Ruhe“ (DB 769) Goethes. Eingeschlossen in die Kritik des Romans ist insofern auch Kunst, die sich im Angesicht der Leiden der Welt ganz der Schönheit widmet. In der Bildersprache des Romans kann in dieser Hinsicht an das Wohnzimmer der Familie Matzerath erinnert werden, in dem während des Nationalsozialismus die Porträts Beethovens und Hitlers in friedlicher Koexistenz an der Wand hängen.⁸¹ Mit Max Frisch gesprochen
Neuhaus: Günter Grass, Die Blechtrommel, S. 103. Vgl. DB, S. 145 f.
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stellt sich Grass gegen das „Genie als Alibi“.⁸² Anders als Böll vertraut Grass den christlichen Normen und Werten allerdings nicht mehr, sondern stellt sie mit blasphemischer Geste infrage. In der zeitgenössischen Rezeption ist Die Blechtrommel als amoralisch oder gar unmoralisch bezeichnet worden. Der Autor kenne keine Tabus. Was ist von diesen Urteilen der Literaturkritik zu halten? Folgen die erinnerungspolitischen Aussagen und die Religionskritik des Romans tatsächlich einer durch Nietzsche inspirierten Moralkritik? Lehnt der Roman folglich jegliche Normen und Werte ab? Offensichtlich ist das nicht der Fall. Auch wenn der satirische Impetus des Romans die nur scheinbare Verwirklichung vieler Normen und Werte beklagt und sich um die Befindlichkeiten gläubiger Katholiken wenig sorgt, so kann doch nicht von einer grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Moral gesprochen werden. Grass steht hier in der Tradition des Bekenntnisses zu einem ‚temporären Nihilismus‘, das ich im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt habe. Über diesen literatursoziologisch wichtigen Zusammenhang hinaus kann das von Grass verfolgte Modell des blasphemischen Autors auch als eine Form moderner Religionskritik aufgefasst werden, deren Thesen Michael Weinrich in der folgenden Passage zusammenfasst: Was die Religion anbietet, sind in erster Linie Ersatzhandlungen, deren Lösungen die Probleme nicht wirklich angehen, sondern vor allem dazu dienen, die von ihr nicht tatsächlich bearbeiteten, sondern nur umgangenen bzw. unkenntlich gemachten Defizite gleichsam auf Dauer zu stellen.⁸³
Die von der Religion erkannten Problemlagen werden von Grass keinesfalls ignoriert, lediglich mit den Lösungsvorschlägen erklärt sich der Autor nicht einverstanden. Die von Grass inszenierte Autorschaft distanziert sich also nicht nur von der Religion, sondern steht durchaus auch in der Tradition religiösen Denkens.Viele Motive, Szenen und Figurenzeichnungen des Romans sind zudem alles andere als amoralisch zu nennen. So finden sich keine Parodien der Opfer des Nationalsozialismus im Roman, sondern werden Figuren wie der ehemalige Häftling eines Konzentrationslagers Fajngold und der jüdische Spielzeugladenbesitzer Sigismund Markus überaus positiv gezeichnet.⁸⁴ Bruce Donahue, der Max Frisch: Tagebuch 1946 – 1949. Frankfurt am Main 1950, S. 327. Michael Weinrich: Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch. 2., durchges. Aufl. Göttingen 2012, S. 177. Wird der polnische Nationalismus auch ironisiert, so erweckt die ironische Darstellung gleichfalls Sympathie mit der Tragik der polnischen Nation. Denn auch wenn Grass sich über die romantische Darstellung der polnischen Kavallerie lustig macht, so stellt er Polen auch als sich erfolgreich wehrendes Opfer der „schlesischen und ostpreußischen Landsmannschaften“ (DB 324) dar.
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überzeugend dargestellt hat, dass die beiden jüdischen Figuren aus den überwiegend problematischen Charakteren des Romans herausragen, ist deswegen auch zuzustimmen, wenn er knapp und präzise schlussfolgert: „Markus and Fajngold have fully developed moral consciences and mature feelings.“⁸⁵ Es ist höchst symptomatisch, dass es Fajngold ist, der Oskar aus seinem Karusselltraum erlöst und der Spielzeughändler Markus sich überaus fürsorglich gegenüber Oskar und seiner Mutter verhält. Grass’ Die Blechtrommel überschreitet sehr sorgfältig ausgewählte moralische Grenzen und spricht sich ausschließlich gegen Verhaltensweisen oder Weltanschauungen aus, die entweder darauf abzielen oder dem Roman zufolge objektiv daran beteiligt sind, gesellschaftliche Wirklichkeit zu verdunkeln. Insbesondere der Katholizismus wird in diesem Sinne nicht nur satirisch überzeichnet, sondern auch mit bewussten Normverstößen provoziert. Diese kritische Strategie generiert immer wieder blasphemische Gesten, die signalisieren, dass der Dienst an der Wahrheit keine Normverletzungen scheuen darf, sondern Autorschaft sich gerade durch den Normbruch auszeichne. Der Roman vollzieht den Tabubruch nicht einfach, sondern inszeniert ihn. Die blasphemische Rede zeigt sich als solche und wird durch den Romankontext gerechtfertigt. Der Religion kommt nicht nur deswegen eine besondere Bedeutung zu, weil sie für den Plot des Romans eine zentrale Rolle spielt, sondern Fragen der Schuld genuin religiöser Natur sind. Die Grass’sche Religionskritik verweist somit darauf, dass der gesellschaftlichen Schuld von dieser Seite nicht genüge getan worden ist und die Literatur die Aufgabe hat, an die nicht abgegoltene Schuld immer wieder zu erinnern. Auch für die zwei Jahre später veröffentlichte Novelle Katz und Maus sollte die Schuldfrage eine zentrale Rolle spielen.
1.2 Katz und Maus: Vom Scheitern eines Autorschaftsmodells Mit seinem Debütroman positionierte sich Grass eindrucksvoll im literarischen Feld. Während Böll immer noch darum zu kämpfen hatte, als Romanautor anerkannt zu werden, bescheinigten nahezu alle Rezensentinnen und Rezensenten dem Autor der Blechtrommel einen epischen Atem. Als Grass seinem ausufernden Roman 1961 mit Katz und Maus eine Novelle folgen ließ, war die Überraschung
Bruce Donahue: The Alternative to Goethe: Markus and Fajngold in „Die Blechtrommel“. In: Germanic Review 58 (1983), H. 3, S. 115 – 120, hier S. 119. Prawer liefert darüber hinaus eine detaillierte Analyse des jüdischen Spielzeugladenbesitzers Markus.Vgl. Siegbert Prawer: The Deaf of Sigismund Markus. The Jews of Danzig in the Fiction of Günter Grass. In: Isadore Twersky (Hg.): Danzig, between East and West. Aspects of Modern Jewish History. (Harvard Judaic Texts and Studies 4.) Cambridge 1985, S. 95 – 108.
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dementsprechend groß. Hier repräsentierte sich der Autor von einer anderen Seite, auch wenn er betonte, dass es sich um einen aus seinem aktuellen Romanprojekt ausgegliederten Stoff handele.⁸⁶ Dem giftigen Gnom und selbstbewussten Gotteslästerer Oskar Matzerath, der den Ton der Blechtrommel bestimmte, folgte ein zweifelnder und unsicherer Erzähler; dem chaotischen und abschweifenden Erzählen folgte eine kompakte und organisierte Erzählung. Unverkennbar reklamierte Grass so auch das Gebiet der kleineren Prosaformen für sich. Jedoch präsentierte er sich nicht als ein ganz anderer Autor, sondern knüpfte unter den Bedingungen einer anderen Gattung genau an die Themen an, die Die Blechtrommel zum Skandal hatten werden lassen. Auch Katz und Maus berichtet ohne jede Romantik von sexuellen Praktiken, durchbricht das Schweigen über den Holocaust, thematisiert den Krieg und die kirchliche Unterstützung desselben, kritisiert katholisches Milieu sowie Kirche und findet schließlich im Militarismus das zentrale Ziel seines Spottes. Der Klappentext erwähnt daher nicht nur, dass der Autor sich mit seinem neuen Buch auf dem Feld der Novelle beweise, sondern hebt darüber hinaus hervor, dass erneut „in provozierender Absicht“ geschrieben worden sei.⁸⁷ Stellt man diese Kontinuität zu Die Blechtrommel in Rechnung, dann wird offensichtlich, dass Grass sich auch mit Katz und Maus im religionskritischen und politischen Diskurs positioniert. Allerdings verbindet die Novelle diese feldfremden Positionierungen nur indirekt mit Motiven und Metaphern der Autorschaft. Während Grass’ Debütroman mit der titelgebenden Trommel auf Autorschaft metaphorisch Bezug nimmt und die als blasphemisch inszenierte Autorschaft durch verschiedene Motive und intertextuelle Verweise legitimiert, fehlt in Katz und Maus der positive Bezug zur eigenen Autorschaft. Das erklärt sich jedoch nicht aus der fehlenden Relevanz der Autorschaftsfrage für die Novelle, sondern dadurch, dass der Text ein problematisches Autorschaftsmodell dekonstruiert und sich somit nur ex negativo positioniert. Katz und Maus ist ein Experiment, das demonstriert, wie der subjektive Drang des Erzählers bzw. fiktiven Autors der Novelle, sich der Vergangenheit und insbesondere der eigenen Schuld zu stellen, ein Bild der Geschichte zeichnet, das aufgrund seines eingeschränkten Blickwinkels als Einspruch gegen den Nationalsozialismus wenig taugt, sondern die Weltsicht perpetuiert, aus der die geschichtliche Katastrophe resultierte. Indem sich Grass dieses Autorschaftsmodells jedoch nicht nur bedient, sondern es
Diese Information verbreitete der Spiegel.Vgl. Dingslamdei. In: Der Spiegel (1961), H. 42, S. 88 – 91. Zitiert nach: Arnold: Blech getrommelt, S. 27.
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in seinem Scheitern inszeniert, rückt er die Frage ins Zentrum, wie man sich der Vergangenheit schreibend nähern kann.⁸⁸
1.2.1 Keine Heldengeschichte Neben den schon angesprochenen thematischen Parallelen ist durch den Handlungsort eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Katz und Maus und Die Blechtrommel gegeben. Nur weil Grass auch seine Novelle in Danzig spielen lässt und darüber hinaus Figuren aus dem Debütroman auftreten, konnte man sie als Teil der Danziger Trilogie bezeichnen. Während Die Blechtrommel jedoch ein weites Panorama des Alltags zeichnet, konzentriert sich die Novelle auf einen Protagonisten und dessen problematisches und tragisch endendes Verlangen nach Bewunderung. Mahlkes problematisches Heldentum steht im Zentrum der Novelle und stellt mit dem Ritterkreuz, das Mahlke zum Ziel seiner Anstrengungen macht, auch das Dingsymbol bereit, das der durch Hermann Pongs modifizierten Falkentheorie zufolge eine echte Novelle charakterisiert.⁸⁹ Weil Mahlke sich, um die militärische Auszeichnung zu verdienen, im nationalsozialistischen Krieg beweisen muss, thematisiert die Novelle, weitaus stärker als es der Debütroman tat, auch die Attraktivität des Nationalsozialismus für zeitgenössische Jugendliche. Die Novelle nimmt also Teil am Versuch, die nationalsozialistischen Verbrechen zu erklären. Grass’ Novelle berichtet von der Pubertät und Adoleszenz des „Große[n] Mahlke“ (KuM 98), wie der Protagonist von dem ihn bewundernden Erzähler genannt wird. Naturgemäß hat die Sexualität daher einen großen Anteil an Mahlkes Lebenswirklichkeit. Wie insbesondere an der Darstellung kollektiven Onanierens deutlich wird, überblendet die Novelle sexuellen und sportlichen Ehrgeiz. Mahlke gewinnt nicht nur bei der Onanie-Olympiade und hat den größten Penis, sondern schwimmt am schnellsten, taucht am längsten und sticht selbst im Bodenturnen heraus. Der Wettkampfgedanke charakterisiert zudem die Wahrnehmung des Kriegs, der für die Heranwachsenden nur in der Gestalt von
Literarische Selbstreflexivität wird hier dazu genutzt, die Aufgabe der Literatur in einer bestimmten historischen Situation zu thematisieren. Sie spiegelt nicht einfach Schreibhemmungen des Autors wider bzw. überwindet diese, wie es Mertens konstatiert.Vgl. Mertens: Figurationen von Autorschaft in Öffentlichkeit und Werk von Günter Grass, S. 210 – 216. Vgl. Sascha Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln 2010, S. 197. Ausführlich zur Kritik des Heldentums durch die Novelle: Frank F. Plagwitz: Die Crux des Heldentums. Zur Deutung des Ritterkreuzes in Günter Grass „Katz und Maus“. In: Seminar 32 (1996), H. 1, S. 1– 14; Robert Robertson: The Cult of the Hero. An Interpretation of „Katz und Maus“. In: German Life and Letters 29 (1976), H. 3, S. 307– 322.
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hochdekorierten Generälen zur Realität wird. Die Zusammensetzung der Kriegsflotten und die Eigenschaften der einzelnen Kriegsschiffe bilden zudem den Inhalt eines Wissensquiz, das in Mahlkes Freundeskreis eifrig gespielt wird. Das Quiz erweist sich so als Ritualisierung eines alltäglichen Militarismus. Durch seine Integration in den katholischen Ritus, den zwei jugendliche Messdiener begehen, wird es zudem in einen Zusammenhang mit den Ritualen des Katholizismus gebracht: Introibo ad altare dei – In welchem Jahr lief der Kreuzer ‚Eritrea‘ vom Stapel? – Sechsunddreißig. Besonderheiten? – Ad Deum, qui laetificat juventutem meam. – Einziger italienischer Kreuzer für Ostafrika. Wasserverdrängung? – Deus fortitudo mea – Zweitausendeinhundertzweiundsiebzig. (KuM 58)
Krieg und Katholizismus verschmelzen hier durch die technische Sprache zweier Rituale. Findet die Verschmelzung in diesem Fall auch gegen den Willen des Priesters statt, so verschont die Religionskritik der Novelle die Amtskirche doch nicht. Berichtet wird von einem versuchten Missbrauch an einem Messdiener und von der Einladung des Ritterkreuzträgers Mahlke durch einen Priester. Mahlke möge doch, so letzterer, über seine soldatischen Heldentaten vor der Gemeinde sprechen und „damit der Vortrag einen der Kirche gemäßen Rahmen erhält, anfangs etwas über den heiligen Georg“ (KuM 152) sagen. Reklamiert wird das Heldentum also nicht nur von den pubertären Jugendlichen, sondern auch von der Kirche. Religiöse und sportliche Rituale verlieren so aus der Sicht der Jugend ihre Differenz.⁹⁰ Ein weiteres Symbol für die Annäherung dieser gesellschaftlichen Bereiche findet die Novelle in der architektonischen Hybridität zweier Gebäude. Als Kirche fungiert eine geweihte Turnhalle und als Turnhalle ein neugotischer Bau: Während in der Marienkapelle Opfer, Wandlung und Kommunion vollausgeleuchtete zauberlose und umständliche Betriebsvorgänge blieben […], wirkte im mystischen Licht unserer Turnhalle das simple Auslosen jener beiden Korbballmannschaften, die mit zügigem Zehnminutenspiel die Turnstunde beendeten, feierlich und ergreifend, ähnlich einer Priesterweihe oder Firmung […]. (KuM 89)
Das Sakrale und das Profane verlieren in der Wahrnehmung der Jugendlichen ihre Differenz. Darüber hinaus wird sportlichen Wettkämpfen durch den Vergleich mit religiösen Ritualen eine Wichtigkeit zugesprochen, die sich in der Novelle nicht nur aus der Sicht des Erzählers und seiner Freundesgruppe ergibt. Den Pennä-
Dies gilt auch für die Ehrung der Gefallenen. So betont Pilenz, dass seine Mutter seinem gefallenen Bruder einen Altar im Wohnzimmer errichtete. Vgl. KuM, S. 137.
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lerblick auf den Leistungssport nimmt auch noch der Offizier der Luftwaffe ein, der aufgrund seiner Auszeichnung mit dem Ritterkreuz in der Schulaula sprechen darf. Das Abschießen feindlicher Flugzeuge wird von diesem mit seinen Würfen auf das Handballtor des Pausenhofs verglichen.⁹¹ Der Parteifunktionär der NSDAP und Direktor der Schule hat insofern nicht ganz Unrecht, wenn er anlässlich der Feierlichkeiten betont, dass die Heldentaten aus dem Geist der Schule hervorgegangen seien. Allerdings ist der schulische Geist hier nicht Ausdruck des Humanismus, an den eine vergessene Lessingbüste erinnert, sondern der Geist einer Schulform, die den Leistungsgedanken schon früh in die Kinder einpflanzt. Ganz in diesem Sinne berichtet dann auch der zweite Ritterkreuzträger davon, dass er nach seinem ersten Abschuss eines feindlichen Bootes anfing, lateinisch zu deklinieren.⁹² Non scholae, sed vitae discimus – könnte man im sarkastischen Humor der Novelle hinzusetzen. In Katz und Maus verschwimmen die Grenzen zwischen katholischen, schulischen und pubertären Ritualen. Schule und Kirche unterstützen eine libidinöse Bewunderungsökonomie und insbesondere die kirchlichen Würdenträger müssen hilflos zusehen, wenn Mahlke nicht an Christus und die Bergpredigt glaubt, sondern einen Marienkult betreibt, der deutlich sexuelle Dimensionen annimmt.⁹³ Mahlke will sich vor der Jungfrau und Gottesmutter auszeichnen. Der christliche Geist der Nächstenliebe ist ihm fremd. In Mahlke spiegeln sich also die Normen und Werte der Gemeinschaft, die ihn zu ihrem Held macht. Er wird in der Novelle aus der Sicht einer heranwachsenden Gruppe dargestellt, als deren Sprecher der Erzähler Pilenz fungiert. Allerdings zeichnet Pilenz nicht nur das Leben seines Freundes Mahlke nach, sondern versucht auch, die Ursache für dessen pathologischen Erfolgsdrang zu erkunden. Die Novelle beginnt mit einer Szene, auf die im Laufe der Erzählung immer wieder rekurriert wird: Während eines Schlagballspiels springt dem schlafenden Mahlke eine Katze an die Gurgel, weil sie diese fälschlicherweise für eine Maus hält. Die Szene ist symbolisch komplex und soll hier nicht in allen Aspekten analysiert werden. Hervorheben möchte ich allein, dass es Mahlkes übergroßer Adamsapfel ist, der von Pilenz als Ursache für seinen Siegeswillen ausgemacht wird. Das Ritterkreuz erscheint in dieser Perspektive als Kompensationsobjekt und wird daher auch als „Gegengewicht“ (KuM 104) bezeichnet. Angespornt wird Mahlke durch eine physiognomische Anomalie, die durch die Anspielung auf den Sündenfall religiös codiert ist. Dass es sich hierbei nicht allein um die Einschätzung des Erzählers handelt, wird sowohl dadurch deutlich, dass der gereifte Mahlke
Vgl. KuM, S. 62. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 43.
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diesen Verdacht bestätigt, als auch durch den Umstand, dass der ansonsten getriebene und unruhige Protagonist durch das umgehängte Ritterkreuz wenigstens zeitweise innere Ruhe findet.⁹⁴ Der Tapferkeitsorden kompensiert also eine kreatürliche Schwäche, die durch die metaphorische Bezeichnung der Gurgel als Maus sowie den Titel der Novelle, der ja auf die allegorisch zu deutende Anfangsszene Bezug nimmt, noch unterstrichen wird. Der Titel Katz und Maus, der in der Novelle zusätzlich hervorgehoben wird, wenn von der „ewige[n] Katze“ und der „ewigen Maus“ (KuM 25) gesprochen wird, deutet zudem auf ein aggressives Moment hin, das für die Dynamik des Plots zentral ist. Mahlke will genau von der Gemeinschaft ausgezeichnet und bewundert werden, vor der er sich aufgrund seiner physiognomischen Charakteristik fürchtet. Diese beiden dialektisch verschränkten Momente – Bewunderung und Aggression von Seiten der Gemeinschaft – lösen sich auch durch Mahlkes Erfolge niemals auf. Pilenz notiert erbarmungslos, dass Mahlkes kreatürliche Anstrengungen seine Errungenschaften stets begleiten. So relativiert Pilenz Mahlkes Bestleistungen, wenn er sein wildes Schwimmen beanstandet und die hässliche Figur hervorhebt, die er beim Bodenturnen macht.⁹⁵ Die folgende Reflexion des Erzählers bestätigt die Verschränkung von Bewunderung und Ablehnung: Zwar bewunderten wir Mahlke; doch mitten im verquollenen Getöse schlug die Bewunderung um: wir fanden ihn widerlich und zum Weggucken. Dann tat er uns […] mäßig leid. Auch fürchteten wir Mahlke, er gängelte uns. (KuM 78 f.)
Pilenz’ Bericht vertieft sich in die Lebensumstände und die Psychologie der Gruppe von Heranwachsenden, der er und Mahlke angehörten. Die Novelle findet hiermit ihr Zentrum und erscheint streng komponiert. Doch auch wenn einzelne Forscher und viele zeitgenössische Rezensionen Grass dafür loben, das strenge Formkorsett der Novelle gemeistert zu haben, so dient es doch gleichsam dazu, Anfang und Ende der Novelle offenzulassen.⁹⁶ Weder können Leserinnen und Leser mit Sicherheit sagen, ob Mahlke gestorben oder geflohen ist, noch den Widerspruch auflösen, dass Pilenz in seinem Vergehen gegen seinen Freund den Anfang der tragischen Entwicklung Mahlkes ausmacht, Mahlkes Freischwimmen und damit der Beginn der fatalen Leistungsspirale aber chronologisch vor der Anfangsszene liegt.
Vgl. ebd., S. 104 u. 117. Vgl. ebd., S. 13 u. 25. Vgl. die Arbeit von Reddick, die jedoch einen anderen Grund hierfür angibt: Reddick: The „Danzig Trilogy“ of Günter Grass, S. 90.
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Während die politische und religionskritische Dimension von Katz und Maus offensichtlich sind, werden Fragen der Autorschaft in der Novelle nicht direkt thematisiert. Leicht übersehen werden kann, dass es in der Novelle des Öfteren zu einem Perspektivwechsel kommt. Stand in meinen bisherigen Erörterungen Mahlke im Mittelpunkt, so möchte ich mich nun den Passagen zuwenden, in der Pilenz als Autor in den Vordergrund rückt, denn wie schon in Die Blechtrommel ist der Erzähler der Novelle ein Autor. Pilenz’ Schreibmotivation ist dabei ausschließlich persönlicher Natur. Er scheint von seiner Mitschuld an Mahlkes Schicksal besessen, untersucht den Werdegang seines Freundes detailliert, aber verschließt die Augen vor Krieg- und Naziherrschaft damit nur umso fester. Pilenz’ Sorge um das eigene Seelenheil erscheint daher problematisch.⁹⁷ Sie wird darüber hinaus von Pilenz’ religiösem Mentor mit Mahlkes Verhalten parallelisiert. In seiner Aufforderung „schreiben Sie sich frei“ (KuM 126) gebraucht Pater Alban genau die Formulierung, die Pilenz nutzt, um Mahlkes Eintritt in den Leistungswettkampf zu bezeichnen, denn auch dieser „schwamm sich frei“ (KuM 9). Problematisch erscheint damit nicht nur Mahlkes Versuch, die Bewunderung einer Gemeinschaft zu erheischen, sondern auch Pilenz’ Anliegen, die Vergebung von der Gemeinschaft der Leserinnen und Leser zu erhalten. Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, wie Autorschaft in Katz und Maus thematisiert wird. Die autoreflexiven Elemente des Textes sind dabei weder allein Hinweise auf den Kunstcharakter der Novelle noch demonstrieren sie vorrangig, dass Grass seine Schreibschwierigkeiten durch die „narratological therapy“⁹⁸ Katz und Maus überwinden konnte. Vielmehr verorten sie Autorschaft im Spannungsfeld von Religion und Politik. Sie zielen auf die Distinktion im literarischen Feld ab.
1.2.2 Über eine problematische Autorschaft Auf die Bedeutung von Autorschaft für die Darstellung des Kriegs macht in Katz und Maus nicht nur Pilenz aufmerksam. Auch die zwei Reden der Ritterkreuzträger Für eine Mitschuld am möglichen Tod Mahlkes spricht vieles.Vgl. die Zusammenstellung bei: Julian Preece: The Life and Work of Günter Grass. Literature, History, Politics. Basingstoke 2001, S. 54 f. K. F. Hilliard: Showing, Telling and Believing. Günter Grass’s „Katz und Maus“ and Narratology. In: The Modern Language Review 96 (2001), H. 2, S. 420 – 436, hier S. 421. Auch andere Forschungsbeiträge verstehen die autoreflexiven Elemente des Textes und insbesondere Pilenz, den „Erzähler wider Willen“, als einen Ausdruck der produktionsästhetischen Schwierigkeiten, die Grass beim Schreiben ereilten. Detlef Krumme: Der suspekte Erzähler und sein suspekter Held. Überlegungen zur Novelle „Katz und Maus“. In: Manfred Durzak (Hg.): Zu Günter Grass. Geschichte auf dem poetischen Prüfstand. Stuttgart 1985, S. 65 – 79, hier S. 68. Vgl. Mertens: Figurationen von Autorschaft in Öffentlichkeit und Werk von Günter Grass, S. 210 – 216.
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vor der Schulgemeinschaft sind hier von Interesse. So studierte der wortgewaltige Marinekapitän vor seiner Militärzeit Theologie und Germanistik und machte er sich in der Schule durch seine Schulaufsätze einen Namen. In der Aula geizt er daher nicht mit metaphorischem Schmuck und spricht von „dem Boot, das gleich einer festlich geschmückten Braut, übersprüht von Gischtschleiern, der todbringenden Hochzeit entgegenzieht“ (KuM 85). Allerdings gelingt es dieser mit Sexualphantasien unterlegten Romantik nicht, die einen sachlichen Stil favorisierenden männlichen Schüler zu überzeugen. Empfänglich für die ästhetizistische Einlage ist vielmehr der ehemalige Deutschlehrer des U-Boot-Kommandanten, der „als Eichendorffschwärmer galt“ (KuM 85). Mit der von Metaphern durchzogenen Rede des Marinekommandanten rückt die Novelle Autorschaft in den Vordergrund. Die Darstellung des Kriegs ist dabei von besonderer Bedeutung. Anders als der Kommandant schreibt Pilenz selbst in einem nüchternen Stil, der die Realität von Krieg und Holocaust jedoch nicht weniger ignoriert. Drei kurze aber effektive Einschübe erinnern an diese Seite der Pilenz’schen Autorschaft. Sie alle verweisen unmittelbar auf ästhetische Fragen und zeichnen sich durch ihre Beiläufigkeit aus. So erfahren die Leserinnen und Leser, während sie von Pilenz über die neuste Mode unter den Pennälern informiert werden, ganz nebenbei, dass der Eichendorffschwärmer Brunies aus politischen Gründen suspendiert und ins Konzentrationslager Stutthof gebracht wurde. Pilenz spricht hier von einer „dunkle[n] verzweigte[n] Geschichte“ und betont, dass sie nicht von ihm „und auf keinen Fall im Zusammenhang mit Mahlke“ (KuM 49) niedergeschrieben werden soll. Das Ausblenden des politischen und rassistischen Naziterrors in Danzig wird also von Pilenz damit begründet, dass er der falsche Autor für eine solche Darstellung und die Novelle Mahlke gewidmet sei. Ein Hinweis auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und insbesondere den Holocaust wird dennoch gleich auf der ersten Seite unfreiwillig gegeben, wenn es inmitten der Beschreibung des für Pilenz traumatischen Schlagballspiels heißt, dass das Krematorium bei Ostwind arbeite. Dieser unmotivierte Bezug transzendiert die Alltagsszene und verweist schon auf den „vorherrschenden Leichengeruch“ (KuM 121), der, wie es später heißt, in ganz Deutschland ignoriert und durch einen Zwiebelgeruch überdeckt worden sei. Pilenz selbst identifiziert sich mit dieser Ignoranz, wenn er erwägt, seine „Schreibmaschine oberflächlich mit Zwiebelsaft“ (KuM 121) einzureiben. Auch seine Schilderungen verdrängen den nationalsozialistischen Massenmord. Die Evokation des historischen Kontextes muss dennoch nicht als grundsätzliche Anklage gegen das vom Erzähler verfolgte Autorschaftsmodell verstanden werden, denn die Novelle generiert auch Verständnis für Pilenz, indem sie die persönliche Motivation für sein Schreiben hervorhebt. Sie kritisiert Pilenz’ Autorschaft nicht fundamental, sondern markiert ihre Grenzen.
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Warum sich Pilenz einer rein individuellen Geschichte zuwendet, wird in der Novelle doppelt motiviert. Folgt man Pater Alban, dann muss Pilenz’ Befassung mit dem persönlichen Stoff erstens als ein wichtiger Versuch gewertet werden, seinen epigonalen kafkaesken Stil zu überwinden.⁹⁹ Pilenz, so sein Mentor, verfüge „über eine eigenwillige Feder“ (KuM 126), der er gerecht werden müsse, anstatt sich in kafkaesken Allegorien zu verlieren. Grass verteidigt mit dieser Szene die Individualität des Erzählens gegen die in der Nachkriegszeit unter existentialistischen Vorzeichen stehende Kafka-Rezeption. Sein Erzähler wendet sich nicht nur einem persönlichen Stoff zu, sondern zugleich einem für ihn mit Schuld behafteten Thema. Die Novelle muss daher zweitens als Versuch gelesen werden, diese Schuld schriftstellerisch zu bewältigen.¹⁰⁰ Seine Autorschaft ersetzt dem Atheisten Pilenz die Beichte, als die das Gespräch mit Pater Alban begriffen werden kann. Wie aus diesem Beichtgespräch unmittelbar die schriftstellerische Tätigkeit resultiert, zeigt die folgende Passage, in der der Erzähler den Umstand beklagt, dass Mahlke den gestohlenen Orden nicht in seiner Funkkabine versteckte, sondern seinen Diebstahl gestand: Denn hätte Mahlke das Ding unter Deck verstaut; oder besser noch, wäre ich nie mit Mahlke befreundet gewesen […] – dann müßte ich jetzt nicht schreiben, müßte nicht zu Pater Alban sagen: ‚War es nun meine Schuld, wenn Mahlke später…‘ – Aber ich schreibe, denn das muß weg. (KuM 106)
Die orale Beichtkommunikation wird hier von der Schreibszene abgelöst. Pilenz erfährt seine Autorschaft als Notwendigkeit. Sein Schreiben folgt seiner Schuld und zielt auf Vergebung. Auch andere Passagen deuten darauf hin, dass die Novelle als Bekenntnis gelesen werden muss. So stellt Pilenz sein Schuldbewusstsein deutlich heraus, wenn er berichtet, dass ihn in seiner Jugend jede Katze an seine Schuld erinnerte und ihn diese Episode seines Lebens noch immer quäle.¹⁰¹ Pilenz ist zudem darum bemüht, seine Schuld zu verdrängen. So revidiert er seinen Bericht über das schicksalhafte Schlagballspiel mit den Worten: „So jung war die Katze, so beweglich Mahlkes Artikel – jedenfalls sprang sie Mahlke an die
K. F. Hilliard ignoriert in seinem luziden Artikel, der Katz und Maus als „narratological fiction“ fasst und daher viele auch hier besprochene Zusammenhänge thematisiert, dass Grass seinen Erzähler als einen Autor charakterisiert. Er kommt daher über eine psychologische Deutung der Novelle nicht hinaus und erkennt in der Autorschaft des Erzählers nur die Absicht, seine innere Leere zu füllen. Vgl. Hilliard: Showing, Telling and Believing. Vgl. Johannes Roskothen: Religion als Skandalon und Stimulans. Theologische und ästhetische Aspekte in Günter Grass’ Werk. In: Literatur für Leser (2001), H. 4, S. 251– 266, hier S. 261. Vgl. KuM, S. 129 f. Weitere Beispiele finden sich bei: Klaus Stallbaum: Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass. Köln 1989, S. 117.
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Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnschmerz, packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus“ (KuM 6). Während hier auf die Schuld des Erzählers nur angespielt wird, kann an dieser im Laufe der Novelle kein Zweifel mehr bestehen. Die Schuld erst erklärt die Bereitschaft des Erzählers, sich jemandem anzuvertrauen und zu beichten. Aber auch die schriftliche Form seiner Bekenntnisse wird so motiviert. Ganze Nächte diskutiert Pilenz mit Pater Alban über das Sakrament der Gnade und liest immer wieder „oft betroffen in des guten alten Augustinus Bekenntnissen“ (KuM 102). Der Kirchenvater wird so zum Vorbild seiner Autorschaft. Jedoch bleibt Pilenz’ Autorschaft gebrochen und verfehlt die theologische Dimension. Während Augustinus sich direkt an Gott wendet, kann der atheistische Pilenz sich in der zweiten Person immer nur an Mahlke wenden.¹⁰² Nur Mahlke könnte ihm vergeben, doch Mahlke ist unauffindbar oder sogar tot. Seine säkulare Autorschaft kann daher nicht erfolgreich sein. Pilenz ist sich dieser Aporie durchaus bewusst und lamentiert anlässlich seiner Bemühungen, die Gründe für Mahlkes Verhalten zu erforschen, darüber, dass ihm die Möglichkeiten eines Romanautors nicht zuständen: „Womöglich lag alles nur an dem Knorpel. Aber das Ding hatte seine Entsprechungen. Auch kann man nicht alles mit Proportionen beweisen wollen. Und seine Seele wurde mir nie vorgestellt. Nie hörte ich, was er dachte. Am Ende blieben sein Hals und dessen vielen Gegengewichte.“ (KuM 37) Anders als Romanautoren hat Pilenz keinen Einblick in die Gedanken seines Protagonisten und muss mit dem Wahrnehmbaren vorlieb nehmen. Die vielen Vermutungen, die er im Laufe der Novelle anstellt, zeugen von diesem epistemologischen Dilemma. Die Gründe für das tragische Schicksal seines Freundes bleiben dem Erzähler verschlossen und somit auch die Möglichkeit, schriftstellerisch seiner Schuld zu entkommen. Warum jedoch schreibt Pilenz dann? Ein Hinweis findet sich in folgendem Zitat: Ich aber, der ich Deine Maus einer und allen Katzen in den Blick brachte, muß nun schreiben. Selbst wären wir beide erfunden, ich müßte dennoch. Der uns erfand, von berufswegen, zwingt mich […]. (KuM 6)
Mit diesen Sätzen setzt der zweite Absatz der Novelle ein und verunsichert die Leserinnen und Leser fundamental. Der Modus wechselt vom Indikativ in den Konjunktiv und zurück. Der Irrealis des zweiten Satzes wird vom Indikativ des dritten aufgehoben: Der fiktive Erzähler weiß um seine Fiktionalität. Die Sätze
Dieser Zusammenhang wird überzeugend dargestellt in: John R. Pfeiffer: „Katz und Maus“. Grass’s Debt to Augustine. In: Papers on Language and Literature 7 (1971), H. 3, S. 279 – 292, hier S. 283 f.
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brechen mit der realistischen Fiktion bzw. der Fiktion des Realismus und beziehen sich direkt auf Günter Grass als den Autor der Novelle. Pilenz schreibt also nicht nur aus Gründen, die in der diegetischen Welt zu finden sind. Es ist nicht nur seine Schuld, die ihn antreibt, sondern ein extradiegetischer Zwang. Der Autor Grass, so suggeriert es diese Passage, zwingt den Erzähler zur literarischen Produktion. Die Novelle stellt Pilenz damit als einen Autor wider Willen dar und deutet schon im zweiten Absatz an, dass hier ein Autor scheitern wird. Ganz in diesem Sinne spielt der Erzähler dann auch am Ende der Novelle ein zweites Mal auf die diegetische Grenze an und fragt: „Wer schreibt mir einen guten Schluß?“ (KuM 178) Katz und Maus berichtet von einer scheiternden Autorschaft. Dem Erzähler, der vom Text als Autor inszeniert wird, gelingt es weder, seine Schuld zu minimieren, indem er sich in auktorialer Art und Weise Einsicht in die Gedanken des Protagonisten verschafft, noch findet er eine Instanz, die ihm die Schuld vergeben könnte. Die Obsession, mit der er die unmittelbaren Ereignisse seiner Jugend verfolgt, führt dazu, dass der nationalsozialistische Schrecken ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Die Novelle inszeniert so die Inkongruenz von individueller und geschichtlicher Erfahrung, die schon durch einige Passagen der Blechtrommel herausgestellt wurde. Die eigene Verstrickung des Erzählers in die Geschichte seines Protagonisten wird zum Hindernis, die Biografie Mahlkes als Lehrstück zu inszenieren, das den Aufstieg des Nationalsozialismus erklären könnte. Gerhard Kaiser hat daher konstatiert, dass Katz und Maus aus diesen Gründen als eine „Selbstkritik der Kunst“ gelesen werden müsse,¹⁰³ die die Unsicherheit darüber verrät, ob die Gesellschaft mit der Kunst wirklich verändert werden könne. Diese Einschätzung basiert auf Adornos Skepsis gegenüber der engagierten Kunst. Sie lässt jedoch unberücksichtigt, dass durch Katz und Maus nicht das Erzählen überhaupt kritisiert wird, sondern der Versuch, durch schriftstellerische Produktion individuelle Vergebung zu erlangen. Ein engagierter Autor ist Pilenz nicht! Es ist daher auch kein Zufall, dass die Novelle im Zusammenhang mit der Verschleppung des Lehrers Brunies ins Konzentrationslager Stutthof auf ein anderes erzählerisches Werk verweist, das besser geeignet wäre, diese komplexe Geschichte zu erzählen. Dieses Werk folgte 1963 mit Hundejahre. Grass verdeutlicht mit diesem Hinweis, dass die Novelle als Zwischenspiel zu verstehen sei. Selbstkritisch gegenüber der Kunst verhält sich Katz und Maus aber dennoch, denn Grass demonstriert, dass die „unerhörte Begebenheit“,¹⁰⁴ die Goethe zufolge den Kern einer jeden Novelle bildet, die wahrlich monströse Un Gerhard Kaiser: Katz und Maus. München 1971, S. 43. Goethe im Gespräch mit Eckermann, Donnerstagabend, den 29. Januar 1827. Johann P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Eckermann: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurt am Main 1999, S. 221.
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erhörtheit des Zeitalters nicht fassen kann. Pilenz’ Novelle ist um den Diebstahl des Ritterkreuzes zentriert. Von dort aus erhält sie ihre strenge Symmetrie, in der der Leichengeruch, der über dem nationalsozialistischen Deutschland lag, keinen Platz finden konnte. Die Reaktion des Schuldirektors Klohse auf den Diebstahl des Ritterkreuzes, seine Worte, dass sich „Unerhörtes“ (KuM 109) zugetragen habe, müssen daher als ein autoreflexives Element des Textes gelesen werden.Verspottet wird hier nicht nur der nationalsozialistische Direktor, sondern auch eine Gattung, die den wahren Schrecken nicht abzubilden vermag.
1.3 Hundejahre: Ein Kranz für den Nihilismus Im dritten Teil der Danziger Trilogie treten nicht nur erneut der Lehrer Brunies, Tulla, Mahlke, Pilenz und Oskar auf, sondern finden sich auch thematische und stilistische Gemeinsamkeiten mit den von Grass zuvor veröffentlichten Prosaarbeiten. Ganz wie in seinem Debütroman berichtet Grass von fiktiven Ereignissen, die vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einsetzen und bis in die Nachkriegszeit verfolgt werden. Die Handlung verschiebt sich zudem wie schon in Die Blechtrommel geografisch von Osten nach Westen. Sie beginnt an der Weichselmündung und endet im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Gemeinsam ist allen drei Prosatexten, dass die Erzählinstanzen personalisiert sind. Alle Erzähler sind zudem Künstlergestalten. Informiert werden die Leserinnen und Leser sowohl über den gegenwärtigen Zustand der Erzähler als auch über deren Vergangenheit. Wie in Die Blechtrommel und Katz und Maus wird auch in Hundejahre aus der Erinnerung erzählt. Allerdings lässt Grass nun drei Erzähler berichten. Es erzählt ein Autorenkollektiv, das sich aus Eddi Amsel, der auch als ‚Goldmäulchen‘ und ‚Haseloff‘ sowie unter dem Namen ‚Brauxel‘ auftritt, Harry Liebenau und Walter Matern zusammensetzt. Der Roman wird mit einer Erzählerfiktion eröffnet: „Erzähl Du. Nein, erzählen Sie! Oder du erzählst.“¹⁰⁵ Herauszufinden, wer hier angesprochen wird, bleibt den Leserinnen und Lesern aufgegeben. Die im zweiten Absatz gegebene Information über den Schreibenden verstärkt die Neugierde: „Der hier die Feder führt, wird zur Zeit Brauxel genannt“ (H 7). Diese Zeilen irritieren nicht nur, weil die Namensnennung in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt wird, sondern auch, weil auf der ersten Seite zudem die Schreibweisen ‚Brauksel‘ und ‚Brauchsel‘ eingeführt werden. Die Identität der Erzähler, die sich im Autorenkollektiv zusammengefunden haben, wird so in den Mittelpunkt gerückt. Au-
Günter Grass: Hundejahre. Hg. von Volker Neuhaus. (Werkausgabe. Bd. 5.) Göttingen 1993, S. 7. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle H zitiert.
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torschaft wird zum Thema. Albrecht Goetze hat als Erster darauf hingewiesen, dass es sich bei den drei Erzählern um ein Opfer (Amsel), einen Zeugen (Harry) und einen Täter (Matern) handelt.¹⁰⁶ Selbst wenn damit die moralische Integrität der einzelnen Erzähler noch nicht endgültig festgeschrieben ist, da es einen unschuldigen Erzähler auch in diesem Teil der Trilogie nicht gibt,¹⁰⁷ bleibt es doch wichtig festzuhalten, dass durch diesen Rahmen die Schuldfrage erneut mit der Autorschaftsfrage verbunden ist. Brisanz gewinnt das Opfer-Täter-Verhältnis zwischen Amsel und Matern zudem dadurch, dass hier eine Freundschaft verraten wird, die seit Kindestagen besteht.¹⁰⁸ Als Deutungshorizont evoziert der Roman die biblische Geschichte von Kain und Abel.¹⁰⁹ Amsel, der als Autor charakterisiert wird, akzeptiert den Verrat nicht und versucht im dritten Buch des Romans, seinen ehemaligen Freund Matern zur Reue zu bewegen. So arrangiert er eine Diskussionsrunde im Radio, in der Matern mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird, trifft ihn anschließend in Berlin und führt ihm schließlich seine Vogelscheuchenproduktion unter Tage vor. Weil Amsels Bemühungen pädagogischer Natur sind und der Aufarbeitung der Vergangenheit dienen, illustriert Grass hier zugleich das Verhältnis von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus im Deutschland der Nachkriegszeit.¹¹⁰ Erleichtert wird diese Generalisierung dadurch, dass Matern als Typ eingeführt wird, wenn er im dritten Satz des Buchs als „Schauspieler“ bezeichnet wird. Matern verkörpert den Mitläufer und ähnelt vielen weniger wichtigen Figuren des Buchs, die von ihrer Rolle im Nationalsozialismus nichts mehr wissen wollen. Amsels pädagogische Mission besitzt daher eine politische Dimension. Indem Grass Amsel als Künstler porträtiert, thematisiert er Autorschaft im Kontext der Aufarbeitung der Vergangenheit. Eberhard Lämmert hat darauf hingewiesen, dass die „an Stationen reiche Rundreise“ zum unverrückbaren Bestand des satirischen Romans gehöre,¹¹¹ und damit eine weitere Gattung benannt, in deren Tradition sich Grass mit dem Roman
Albrecht Goetze: Pression und Deformation. Zehn Thesen zum Roman Hundejahre von Günter Graß. Göppingen 1972, S. 28. Vgl. den Einwand in: Eberhard Lämmert: Phantastisch inszenierte Zeitgeschichte. „Die Hundejahre“ von Günter Grass in einer europäischen Tradition. In: Martin Liebscher (Hg.): The racehorse of genius. Literary and cultural comparisons. München 2009, S. 120 – 138, hier S. 135. Vgl. für die Bedeutung des Taschenmessers als zentrales Motiv des Romans: Gertrude CeplKaufmann: Der Deutschen unauslöschliche Vergangenheit. Günter Grass’ Roman „Hundejahre“. In: Gerhard Rupp (Hg.): Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Würzburg 1999, S. 273 – 300, hier S. 281 f. Vgl. H, S. 312. Der Roman spricht auf der letzten Seite in diesem Sinne von einer Lesebuchgeschichte. Vgl. dazu: Moser: „Dieses Volk, unter dem es zu leiden galt“, S. 108. Lämmert: Phantastisch inszenierte Zeitgeschichte, S. 129.
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einschreibt. Materns Rundreise, von der derselbe im dritten Buch berichtet, bildet den satirischen Höhepunkt des Romans. Grass nimmt hier die bundesrepublikanische Wirtschaftswunderlandschaft aufs Korn und zeigt, wie das Vergessen den aufkommenden Wohlstand begleitet.War es in Die Blechtrommel die Trommel Oskars, die sich gegen das Vergessen aussprach, so setzt Grass im dritten Teil der Trilogie ein anderes fantastisches Instrument ein: Durch die von Brauxel produzierten Wunderbrillen erscheint die Vergangenheit in ihrer wahren, mitunter schockierenden Gestalt. Matern jedoch will einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen: Das Gedächtnis sollte von angenehmen Erinnerungen bewohnt sein und nicht von quälenden Garstigkeiten. Es ist schwer, sich positiv zu erinnern. Deshalb muß jeder etwas haben, woran er glauben kann: Gott zum Beispiel; oder wer nicht an den kann, der soll an die Schönheit, an den Fortschritt, an das Gute im Menschen oder an sonst eine Idee. ‚Wir, hier, im Westen, wir glauben ganz fest an die Freiheit, immer schon.‘ (H 606)
Die Passage kann als ein Beispiel dafür gelten, wie Grass sich in satirischer Manier sowohl gegen Religionen als auch politische Ideologien ausspricht, die als totalisierende Weltanschauungen fungieren. Sie führt vor, wie jeglicher Glaube dabei hilft, die Vergangenheit zu verdrängen. Die „Materniaden“ schreiben sich in diesem Sinne ähnlich wie das dritte Buch von Die Blechtrommel in den erinnerungspolitischen Diskurs der Nachkriegszeit ein. Auch sie profilieren die Kunst gegen Versuche, zu vergessen.¹¹² Die Erzählerfiktion, mit der der Roman Hundejahre einsetzt, muss als ein Instrument der Lesesteuerung verstanden werden. Erzählt wird nicht nur von drei Erzählern, sondern von drei Standpunkten, die sich keinesfalls synthetisieren lassen. Bereits der schon zitierte erste Satz demonstriert Uneinigkeit. Wer soll beginnen? Dieser Dissens wird auch auf den folgenden Seiten hervorgehoben. Harry, der Erzähler des zweiten Buchs, und Matern, der das dritte Buch schreibt, bekommen von Brauxel Vorgaben.¹¹³ Matern verlangt einen Vorschuss, er „macht Schwierigkeiten“ (H 60) und Brauxel wird als Chef porträtiert, der sich um den Abgabetermin Sorgen macht und mit den anderen Erzählern „um die Wette“ (H 34) schreibt. Unterschiedliche Meinungen der drei Erzähler werden darüber hinaus explizit für möglich erklärt.¹¹⁴ Dass diese drei Perspektiven sich nicht verein-
Auf die geschichtsphilosophischen Motive, die insbesondere im titelgebenden Hundemotiv anklingen, kann im Folgenden nicht eingegangen werden. Vgl. dazu: Abbott: Günter Grass’ „Hundejahre“: A Realistic Novel about Myth. Vgl. H, S. 55. Vgl. H, S. 34. Dass es durch die unterschiedlichen Sichtweisen zu Konflikten kommt, wird an anderer Stelle deutlich. Vgl. ebd., S. 66 f.
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heitlichen lassen, wird durch das Verhältnis zwischen Amseln und Matern, das ich schon angesprochen habe, besonders deutlich. Perspektiven von Tätern und Opfern sind selten kongruent. Für den dritten Teil der Danziger Trilogie wird somit überdeutlich, was auch auf die beiden ersten Teile zutrifft: Keine Erzählerstimme verkörpert eine intentio operis. ¹¹⁵ In den Rezensionen ist der fragmentarische Charakter des Romans oftmals bemängelt worden. Walter Jens hat die Erzählerfiktion als einen untauglichen Versuch bezeichnet, die Brüche in der Konzeption des Romans zu kaschieren und auch Hans Magnus Enzensberger bemängelte die fehlende Einheit des Romans.¹¹⁶ Eine Analyse der Art und Weise, wie sich der Roman am Autorschaftsdiskurs beteiligt, muss sich dieser normativen Betrachtung enthalten. Stattdessen kann hier schlicht konstatiert werden, dass die Differenzen zwischen den drei Büchern, mag man sie als Wechsel des Erzählmediums verstehen oder als Bruch in der poetologischen Konzeption, Aufmerksamkeit für den Erzählvorgang generieren. Wie diese Dynamisierung des Erzählens verstanden wird, bleibt allerdings nicht den Leserinnen und Lesern allein überlassen. Indem der Roman die Wechsel in der Erzähldisposition kommentiert, bezieht er im Autorschaftsdiskurs Stellung.
1.3.1 Harry Liebenau und das Autorenkollektiv Bisher ist vor allem auf die Erzähler des ersten und dritten Buchs, Brauxel (alias Amsel) und Matern, eingegangen worden. Harry Liebenaus Rolle als Erzähler ist aber keineswegs unwichtig und seine Charakterisierung als Zeuge deutet schon einen wichtigen Aspekt seiner Autorschaft an. Auch wenn von einer Zeugenschaft nur in Hinsicht auf Amsel und Matern gesprochen werden kann, da Harry keinesfalls nur passiv, sondern ebenso als Handelnder in Erscheinung tritt, ist es doch dieser Aspekt, der durch die Erzählerfiktion hervorgehoben wird.¹¹⁷ Harry stößt als Außenstehender zum Autorenkollektiv. Nicht seine eigene Geschichte, die sich mit der von Amseln und Matern im Danzig der Zwischenkriegszeit überschneidet, sondern seine schriftstellerische Eignung ist der Grund für die Zusammenarbeit. Allerdings interessiert sich der Chef des Autorenkollektivs nicht für seine hochgelobte Lyrik. Aus der Schilderung seines Einstellungstests geht
Oskar wird zudem als Vorbild für die drei Erzähler benannt. Vgl. ebd., S. 128. Vgl.Walter Jens: Das Pandämonium des Günter Grass. In: Die Zeit (1963), H. 36, S. 18; Hans M. Enzensberger: Günter Grass „Hundejahre“. In: Der Spiegel (1963), H. 36, S. 70 – 71. Katharina Hall hat überzeugend dargestellt, dass der Roman „the political and ethical implications of his [Harry’s – CS] passivity“ herausstellt. Katharina Hall: Günter Grass’s „Danzig Quintet“. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from „Die Blechtrommel“ to „Im Krebsgang“. Oxford 2007, S. 118 f.
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vielmehr hervor, dass es primär die Vertrautheit mit der Danziger Lokalgeschichte ist, d. h. der Kenntnisse von Geografie und Politik des Ortes in der Zwischenkriegszeit, auf die es Brauxel ankommt. Harry wird aufgrund seines Erinnerungsvermögens eingestellt: als Zeuge. Diese Funktion wird noch dadurch verstärkt, dass Harry nicht Amsels und Materns Generation angehört, sondern den beiden jungen Männern im Danzig der Vorkriegszeit als Junge begegnete. Das zweite Buch des Romans trägt den Titel „Liebesbriefe“, entspricht dieser Form aber nur zum Teil. Die Briefe sind nachträglich geschrieben, sodass es zu der für den Briefroman typischen Form der eingeschobenen Narration nicht kommt.¹¹⁸ Zudem gibt Harry gleich im ersten Satz zu erkennen, dass er zu dieser Form von Brauxel verpflichtet wurde, sie aber nur als einen „formale[n] Spazierstock“ (H 151) ansieht, auf den er lieber verzichten würde. Doch auch ohne diese Reflexionen auf den Erzählvorgang erkennen Leserinnen und Leser die Künstlichkeit dieser Form bald, da sich die Erzählung offensichtlich nicht primär an Tulla richtet.¹¹⁹ Warum also die Formvorgabe von Seiten Brauxels? Sicherlich generiert sie Aufmerksamkeit für den Erzählvorgang.Wichtiger jedoch ist, dass die Form den Inhalt der Erzählung bedingt. Harry ist angehalten, Liebesbriefe zu schreiben und sich somit ganz auf seine privaten Erlebnisse zu konzentrieren. Sein Nachname ‚Liebenau‘ hebt diesen Aspekt hervor. Indem er seiner alten Liebe schreibt,versetzt er sich in seine Kindheitsperspektive: ‚Weißt du noch, damals als (…)‘. Es kann daher nicht überraschen, dass es in Hundejahre wie schon in Die Blechtrommel zu einer dramatischen Diskrepanz zwischen privatem Erleben der Zeit, in der der Nationalsozialismus herrscht, und den politischen Geschehnissen kommt. Dieses Missverhältnis, das in der Analyse von Die Blechtrommel erörtert und auch für Katz und Maus akzentuiert wurde, zeigt sich in Formulierungen wie der Folgenden, die Harrys damaligen Gemütszustand in der dritten Person festhält: „Geschichte ereignet sich im Januar Februar März; er aber sucht nach zeitlosen Worten für Tulla.“ (H 447 f.) Die Dominanz der Kinderperspektive verhindert es, dass die Gegenwart des Erzählers das Erzählte zu sehr beeinflusst. Auch die Lesesteuerung funktio-
Der Terminus wird von Genette vorgeschlagen: Genette: Die Erzählung, S. 155. Für eine Diskussion des Briefromans als historiografisches Erzählmedium vgl. Christian Sieg: Briefe aus der Nach-Wende-Zeit. Zur Poetik der Erinnerung in Ingo Schulzes „Neue Leben“. In: Gerhard J. Lüdeker, Dominik Orth (Hgg.): Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film. (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 7.) Göttingen 2010, S. 163 – 175. So weicht Harry schon nach wenigen Briefen von der Anrede ab und berichtet von seinen und Tullas damaligen Überzeugungen.Vgl. H, S. 157. Eine detaillierte Analyse der Figur Tulla findet sich in: Volker Neuhaus: Belle Tulle sans merci. In: Volker Neuhaus (Hg.): Die „Danziger Trilogie“ von Günter Grass. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt am Main 1991, S. 181– 199.
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niert in diesem Sinne, wie Volker Neuhaus betont: „Dadurch, daß der Harry Liebenau des Jahres 1962 nur selten in den Blick kommt […], orientiert sich der Leser, anders als bei Brauksel oder Oskar,vorwiegend am erlebenden Harry.“¹²⁰ Im Unterschied zu Pilenz, der sich in und mit Katz und Maus direkt an Mahlke wendet, motiviert Harry jedoch kein Schuldgefühl. Pilenz’ Schwierigkeiten, bei der für ihn unbequemen Wahrheit zu bleiben, sind Harry fremd. Seine Liebe zu Tulla zwingt ihn, genau hinzuschauen. Harry wird so zum Chronisten der Vorgänge, die zur Internierung des Lehrers Brunies im Konzentrationslager Stutthof führten. Er kann erzählen, was Pilenz in Katz und Maus nicht nachzuzeichnen vermochte. Nicht zuletzt berichtet er im Auftrag des Autorenkollektivs, das beabsichtigt, Brunies „ein Denkmal zu bauen“ (H 118). Eine mögliche Mitschuld an der Verhaftung des Lehrers verschweigt er nicht.¹²¹ Im Mittelpunkt der Schilderung steht jedoch Harrys geliebte Cousine Tulla, deren Anzeige und Mitarbeit bei der Vernehmung zur Verhaftung des Lehrers führt. Aus der Perspektive des Kindes schildert Harry, wie sich die Erwachsenen des aggressiven Kindes bedienen, um Gegner des Nationalsozialismus auszuschalten.¹²² Auch der latente Antisemitismus der Kinder wird durch die Ermunterung der Erwachsenen gefördert.¹²³ Der Nationalsozialismus erscheint so nicht vorrangig als politische Ideologie, der man sich anschließen kann oder nicht, sondern als Lebenswirklichkeit, die in die keineswegs unschuldige Welt der Kinder langsam eindringt. So gewinnt er an Bedeutsamkeit für Tullas Umfeld allein deswegen, weil der Deckrüde ihres Onkels einen Hund zeugt, den der Danziger Gauleiter dem ‚Führer‘ schenkt. Aus Dankbarkeit werden Tullas Vater und ihr Onkel Parteimitglieder. Materns Verrat an Amsel wird ebenfalls aus der Kinderperspektive vermittelt. Mit der gleichen kindlichen Brutalität, mit der Tulla Jenny traktiert, überfällt Matern seinen Freund Amsel. Dennoch kommt es zum Stilbruch im zweiten Buch des Romans. Harry erhält ein Telegramm Brauxels, das ihn dazu auffordert, das Erzähltempo zu steigern und schnell abzuschließen. Die Folge ist das „Schlußmärchen“ (H 338), das sich über 78 Seiten erstreckt. Harry ersetzt die postalische Anrede nun durch ein „Es war einmal“. Die letzten Seiten des zweiten Buchs bezeugen eine stilistische Parallele zu Die Blechtrommel, denn dort wird von den Vorgängen in der Reichspogromnacht im Märchenton berichtet. In Hundejahre nutzt Grass dieses Stilmittel, um
Neuhaus: Günter Grass, S. 84. Vgl. H, S. 368. Richter stellt in diesem Sinne fest, dass Oskar nicht in der Person Harry weiterlebt, sondern an die Kinderperspektive Oskars in den Berichten Harrys angeknüpft wird.Vgl. Frank Richter: Die zerschlagene Wirklichkeit. Überlegungen zur Form der Danzig-Trilogie von Günter Grass. Bonn 1977, S. 32. Vgl. für beide Punkte die Analyse in: Hall: Günter Grass’s „Danzig Quintet“, S. 112 f.
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vom Leben einer militärischen Luftabwehreinheit zu berichten, die nahe dem Konzentrationslager Stutthof unmittelbar neben einem Knochenberg stationiert ist. Ich habe in der Analyse der Darstellung der Reichspogromnacht in Grass’ Debütroman hervorgehoben, dass der Märchenton mit den brutalen und erschütternden historischen Ereignissen stark kontrastiert. Dies ist auch in Hundejahre der Fall. Der Roman nutzt den Märchenstil für die Darstellung der Kriegszeit. Harry wird der angesprochenen militärischen Einheit zugeteilt und berichtet nicht nur von seinen dortigen Erlebnissen, sondern auch von Tullas Fehlgeburt und dem streunenden Führerhund Prinz im Modus des Es-war-einmal. Krieg und Holocaust werden durch den Märchenton in eine ferne Vergangenheit gerückt. Der Roman gemahnt so an die Bewusstseinslage nach Kriegsende und spielt auf die Verdrängungsstrategien an, von denen im dritten Buch berichtet wird.Verdrängung ist hier allerdings nicht nur in stilistischer Hinsicht von Belang, sondern auch thematisch. Denn im Märchenton wird auch die Heideggerparodie angestimmt, auf die ich später noch eingehen werde.
1.3.2 Nationalsozialismus und Schauspielkunst: Walter Matern Verglichen mit Die Blechtrommel spielt die Politik im Plot von Hundejahre eine deutlich größere Rolle. Insbesondere Walter Materns politische Aktivitäten werden umfangreich geschildert.¹²⁴ Matern tritt als junger Mann in die SA ein, schimpft seinen ‚halb-jüdischen‘ Freund „Itzig“, mischt bei Saalschlachten und Parteiversammlungen mit,wird schließlich aus der SA entlassen, findet sich an der Front wieder, gerät in Kriegsgefangenschaft und wandelt sich dort zum Antifaschisten. Typisch für Grass ist jedoch auch in diesem Roman, dass der Nationalsozialismus nicht die Ursache für die Gewaltausbrüche Materns ist, sondern für diese schlicht die Gelegenheit bietet. Schon als Kind rauft sich Matern gern und bevor er Amsel zum Freund erwählt, hat auch letzterer unter ihm zu leiden. Während ihrer ‚Freundschaft‘¹²⁵ sind Matern und Amsel jedoch unzertrennlich: Wer aber macht über rieselnde Dünenkämme hinweg seine Runde und erhält der vogelscheuchenden Arbeit des Freundes den notwendigen Frieden? Diese Fäuste gehören Walter Matern. Sieben Jahre ist er alt und blickt grau über die See, als gehöre sie ihm. (H 49)
Richter spricht dementsprechend von einem komplementären Verhältnis zwischen Die Blechtrommel und Hundejahre. Konzentriere sich der Debütroman auf den intimen Lebensbereich des Kleinbürgertums, stelle der dritte Teil der Trilogie die Politik des Kleinbürgertums in den Mittelpunkt. Vgl. Richter: Günter Grass, S. 47. Gertrude Cepl-Kaufmann hat richtigerweise darauf verwiesen, dass diese Freundschaft zuweilen einem Herr-Knecht-Verhältnis ähnelt, d. h. Amsel Matern als „Paslack“ hält, wie sich Grass ausdrückt. Vgl. Cepl-Kaufmann: Der Deutschen unauslöschliche Vergangenheit, S. 287.
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Matern beschützt Amsel nicht nur, sondern spielt die Rolle des Beschützers. Er gefällt sich in der heroischen Pose, die ihn durch sein Leben begleitet. Ob als Faschist oder Antifaschist, Matern reklamiert das Heldentum für sich und seine Familie, die ihm zufolge vom „berühmten Freiheitshelden Simon Materna“ (H 473) abstammt. In die Wand einer Toilette ritzt er: „DREHT EUCH NICHT UM, DER KNIRSCHER GEHT UM.“ (H 487)¹²⁶ Angespornt von diesem im Kinderreim ausgedrückten Rachebedürfnis macht sich Matern nach Kriegsende auf, um die zu richten, die ihm seiner Meinung nach übel mitgespielt haben. Matern lebt seine schauspielerische Disposition nicht nur hier voll aus. Die Forschungsliteratur verweist darauf, dass Amsel und Matern grundsätzlich verschiedene Charaktere sind: „Amsel und Matern sind als bewußte Gegensätze konstruiert: Künstler und Täter, Beobachter und Handelnder.“¹²⁷ Auf der Handlungsebene treibt dieser Gegensatz die Geschichte voran.¹²⁸ Aber auch der Autorschaftsdiskurs ist von ihm geprägt, denn indem Matern als Schauspieler charakterisiert wird, partizipiert er an der Sphäre der Kunst, der auch Amsel zugeordnet ist. Eine Episode aus dem ersten Buch, in der die beiden noch jugendlichen Freunde ein Skelett samt Schädel finden, macht deutlich, welche Bewandtnis das Theater für Matern hat.¹²⁹ Eingeleitet wird die Episode von Amsel mit den Worten: „Theaterluft Hamletgerede Schauspielergesten.“ (H 96) Sie berichtet von einem Abenteuer, das die beiden Freunde in der Kanalisation der mittelalterlichen Stadtanlagen erleben. Jugendliche Abenteuerlust und schauspielerische Disposition verbinden sich in ihr: „Kellermief Theaterluft!“ (H 97) Im Mittelpunkt der unterirdischen Streifzüge steht ein Disput über das von beiden Jungen gefundene Skelett. Amsel will den Schädel vom Knochengerüst lösen und „sachlich in seinen Schultornister“ (H 101) verstauen, Matern jedoch knirscht mit den Zähnen und verspürt Ehrfurcht: Der Knirscher spricht nicht. Das Zähneknirschen soll deutlich genug sein. Es besagt: Amsel darf kein Fingerchen spreizen. Amsel darf nicht mitnehmen. Der Schädel ist nicht zum Mitnehmen. Stör ihn nicht. Rühr nicht dran. Schädelstätte. Golgatha. Hünengrab. (H 101 f.)
Materns Assoziationen zeigen, dass das, was Amsel mit der Sphäre des Theaters in Verbindung bringt, von Matern als geschichtliche Größe wahrgenommen wird. Abendländische und germanische Mythen verschmelzen für Matern und er er-
Hervorhebung im Original. Neuhaus: Günter Grass, S. 88. Rothenberg weist allerdings darauf hin, dass ihr Verhältnis kein statisches ist. Vgl. Rothenberg und Grass: Günter Grass, S. 97 f. Vgl. Richter: Die zerschlagene Wirklichkeit, S. 50. Vgl. auch die Analyse von Reddick: Reddick: The „Danzig Trilogy“ of Günter Grass, S. 225 – 227.
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kennt kurze Zeit später in dem Toten einen Vorfahren. Ehrfürchtig verkündet er: „Hiä is daas Raich der Dooten.“ (H 103) Materns Gesten verraten, wie sehr er eine Rolle auf der Bühne seiner Imagination spielt. Er „hebt den Schädel zu sich und seinen Gedanken hoch, betrachtet ihn“ (H 103) und handelt so seinen eigenen Anweisungen zuwider. Der Erzähler kommentiert diese Hamlet-Szene wie folgt: „Wer starrt einen blanken Schädel an und will sich erkennen?“ (H 103) Amsel hingegen möchte den Schädel zeichnen und für seinen Vogelscheuchenbau verwenden. Dieses analytische Interesse an einem ästhetischen Phänomen provoziert Matern, da es den sakrosankten Status des Schädels infrage stellt. Er beleidigt daraufhin seinen Freund erneut in antisemitischer Manier und schimpft ihn „Itzich!“ (H 102) – schließlich schlägt er zu. Die Szene ist auch daher von Bedeutung, weil sie einen Vorfall antizipiert, der einige Jahre später den Bruch zwischen Matern und Amsel herbeiführt. Auch im späteren Disput zwischen den Freunden verwehrt sich Matern gegen die künstlerische Nachahmung einer für ihn sakrosankten Sache. Als Amsel die von Matern besorgten SA-Uniformen dazu nutzt, eine Gruppe SA-Männer nachzubilden, gibt ihm Matern zu verstehen, dass „irgendwo für ihn der Spaß aufhöre“ und in der SA echte „Pfundskerle“ (H 259) anzutreffen seien. Amsel missachtet diese Warnung und setzt seine Studien über die SA fort. Daraufhin schlägt Matern gemeinsam mit acht SA-Kameraden Amsel erneut zusammen. Die Kritik an Materns theatralen Lebensauffassung zeigt nicht nur auf, dass sich Materns Weltanschauungen seinen wechselnden Lebensumständen anpassen. Neben dem Opportunismus Materns wendet sich Grass gegen die eingeschränkte Weltsicht, die allen Ideologien, die nur vorfabrizierte Rollen kennen, eigen ist. Die Grass’sche Ideologiekritik operiert dabei meistens im satirischen Modus, d. h. sie verzichtet größtenteils auf Kommentare, die die ideologische Verblendung eines Protagonisten reflektieren. Höhepunkt dieser satirischen Entlarvungsstrategie ist Materns Rachefeldzug durch Nachkriegsdeutschland, auf den ich schon verwiesen habe. Jedoch finden sich auch einige wenige Passagen, die Materns wechselnde politische und religiöse Identitäten interpretieren. So heißt es im dritten Buch, dass Matern „immerzu Gott sucht und allenfalls Exkremente findet“ (H 478). Angesprochen ist hier einerseits Materns Wunsch nach einer quasi-religiösen Bindung, der auch durch seine kurze katholische Phase angedeutet wird. Andererseits bezieht sich die Szene auf den Streit um den Schädel. Denn während es in der Streitszene Amsel war, der sich hinhockte und sich erleichterte, hockt sich nun Matern auf das Feld und betrachtet anschließend seine Exkremente. Blieb der Schädel in der früheren Szene seine Antwort schuldig, vermag Matern nun die eigene Realität zu erkennen: „Wer hat sich aufs Feld gehockt, hat eine harte Wurst geworfen und betrachtet nun seine Losung? Jemand, der sie nicht fressen will und sich dennoch in ihr erkennt: Matern“ (H 478).
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Drastischer könnte der Kontrast zwischen Hochkultur, d. h. der Anspielung auf Hamlet, und banaler Realität nicht sein. Diese Szene aus der ersten „Materniade“ ist beispielhaft dafür, wie Grass Materns Verblendung immer wieder herausstellt und Weltanschauungen jeglicher Couleur zum Ziel seines Spotts macht.Viel Platz räumt Grass dabei einer Heideggerparodie ein, die von der zeitgenössischen Rezeption überwiegend abgelehnt wurde.Vorweggeschickt werden kann, dass Grass der Philosophie Heideggers wohl tatsächlich nicht gerecht wird.¹³⁰ Ob dies jedoch seine Absicht war, mag bezweifelt werden, denn insbesondere die Grass’sche Prosa eignet sich schlecht für philosophische Argumentationen.¹³¹ Sicherlich vernachlässigt Grass in seiner Parodie den philosophischen Kontext der Neologismen und der etymologischen Rhetorik Heideggers.¹³² Im Horizont des Romans ist es aber entscheidend zu sehen, dass sich die Parodie von Heideggers Philosophie in die Kritik der Matern’schen Verblendungszusammenhänge einreiht. In ihrem Zentrum steht die Sprache von Heideggers Philosophie: Indem Heidegger mit der Alltagssprache breche, trage er zur Verdunklung der Realität bei. Der Kontext, in dem die Philosophie Heideggers thematisiert wird, entbehrt dabei nicht der Drastik. Denn dem Heidegger’schen Sprachstil verfallen neben Matern auch die jugendlichen Soldaten einer Luftabwehrbatterie in der Nähe des Konzentrationslagers Stutthof, die zudem direkt neben einem Knochenberg liegt. Sascha Kiefer hat gezeigt, dass Heidegger hier als Verführer angeklagt wird, der in der Tradition des Rattenfängers von Hameln willenlose Gefolgschaft generiert.¹³³ Selbst als Tulla das offene Geheimnis lüftet, indem sie einen Schädel vom Knochenberg holt, bekommt sie von Matern Prügel und antwortet ihr ein anderer Soldat wie folgt: „Wir müssen das Zuhaufliegen in der Offenheit des Seins, das Austragen der Sorge und das Ausdauern zum Tode als das volle Wesen der Existenz denken.“ (H 403) Deutlich wird in dieser Replik, die den Stil Heideggers parodiert, die Weigerung, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Von Offenheit kann nicht die Rede sein. Die abstrakte Sprache der Philosophie verhilft dazu, die sinnlich wahrnehmbare Realität zu ignorieren. Der Knochenberg ist nicht nur Vgl. im gleichen Sinne die kurze Auseinandersetzung in: Michael Harscheidt: Wort, Zahl und Gott bei Günter Grass. Der „phantastische Realismus“ in den „Hundejahren“. Bonn 1975, S. 189 – 194. Sowie die Ausführungen in: Cepl-Kaufmann: Der Deutschen unauslöschliche Vergangenheit, S. 14. Auch Sascha Kiefers ausführlicher und instruktiver Artikel konstatiert diesen Umstand. Vgl. Sascha Kiefer: Frühe Polemik und späte Differenzierung. Das Heidegger-Bild von Günter Grass in „Hundejahre“ (1963) und „Mein Jahrhundert“ (1999). In: Weimarer Beiträge 48 (2002), H. 2, S. 242– 259, hier S. 247. Kiefer zufolge stützte sich Grass auf Paul Hühnerfelds Buch In Sachen Heidegger. Vgl. ebd., S. 250. Vgl. ebd., S. 246. Vgl. ebd., S. 248.
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gut sichtbar, sondern erzeugt auch einen Geruch, den alle wahrnehmen: „Niemand sprach vom Knochenberg. Aber alle sahen rochen schmeckten ihn.“ (H 402) Indem Grass hier drei Verben der Wahrnehmung aneinander reiht, bezieht er sich zugleich auf sein Literaturverständnis, das gegen blutleere Abstraktionen die Imagination einer sinnlich erfahrbaren Welt setzt. Durch die phrasenhafte Antwort des Soldaten wird jedoch nicht nur der Abstraktionsgrad einer Philosophie bemängelt, die sich der empirischen Tradition ganz entziehen will,¹³⁴ sondern ebenso der Heroismus persifliert, der der Philosophie des frühen Heideggers eigen ist. Das ‚Sein zum Tode‘, wie Heidegger es in Sein und Zeit nennt, begründet einen Dezisionismus, der dem Philosophen zufolge erst eigentlich zu leben befähigt.¹³⁵ Die Kritik des Heroismus setzt sich fort, wenn drei Seiten später Heideggers Begriffe als personifizierte Bestandteile einer Theaterkulisse geschildert werden, die den Hintergrund für die Theaterposen Materns bilden. Der Knochenberg hingegen verweist auf einen Tod, der für heroische Gesten unempfindlich machen sollte. Harry, der Erzähler dieser Episode und selbst früher Heideggerianer, spricht dies deutlich aus, wenn er nach der Aufzählung seiner Vorbilder, die von Hitler über Napoleon zu Heidegger führen, über sich selbst feststellt: „Mit Hilfe dieser Vorbilder gelang es ihm, einen tatsächlich aus menschlichen Knochen erstellten Berg mit mittelalterlichen Allegorien zuzuschütten.“ (H 409) Wenn einige zeitgenössische Rezensionen des Romans Grass für eine philosophisch ungenügende Heidegger-Lektüre kritisierten, verkannten sie folglich die Komplexität des Romans. Hundejahre kann nicht als eine umfassende philosophische Auseinandersetzung mit den Thesen Heideggers verstanden werden, sondern zeigt, dass Heidegger’sche Sprachschöpfungen das Rollenarsenal von Mitläufern wie Matern und Harry zu bestücken vermögen. Das Skandalon, das der Text selbst benennt, indem er auf die Rektoratsrede Heideggers explizit Bezug nimmt,¹³⁶ besteht in der politischen Instrumentalisierung der Phänomenologie, die Heidegger selbst zeitweise betrieb. In diesem Sinne ist hier auch Autorschaft thematisch, denn während die Philosophie Heideggers dem Roman zufolge den Tod verklärt und den Massenmord zu ignorieren hilft, steht Amsel für eine Kunst, die auf die Schockwirkung setzt, sich aber einem mimetischen Vorgehen verpflichtet fühlt.
Deutlich wird diese Dimension in der verärgerten Replik des oben zitierten Soldaten Störtebeker, der Tullas Kritik des Philosophendeutschs mit den Worten abfertigt: „Quatscht doch nicht immer mit euren abgeklapperten naturwissenschaftlichen Begriffen“. H, S. 403. Vgl. Anton Hügli, Byung C. Han: Heideggers Todesanalyse. In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger. Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 133 – 148. Vgl. H, S. 517.
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1.3.3 Von Kunst und Vogelscheuchen Ähnlich wie in Die Blechtrommel fungiert auch in Hundejahre die zentrale Erzählergestalt keinesfalls als vorbildhaftes Rollenmodell für Autorinnen und Autoren. Stattdessen erzeugt der Roman eine Distanz zu Amsel. Autorschaft wird durch den Roman insofern auch problematisiert. Sicherlich steht Amsel in mancherlei Hinsicht für eine normativ legitimierte Autorschaft ein, insbesondere als Erzähler. So verkündet er sein poetologisches Credo ganz im Sinne von Grass: „Spieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nicht.“ (H 7) Amsels Probleme und Defizite als Figur der Erzählung sind aber unübersehbar. Geschildert wird er als eine singuläre Figur, die mehr ist als ein Bedeutungsträger für ästhetische Konzepte. Ihr eignet eine irreduzible Mehrdeutigkeit. Allein der Umstand, dass Amsel nicht nur als Künstlerfigur eingeführt wird, sondern ebenso als Jude, muss als Warnung verstanden werden, in ihm einfach ein generalisierbares Modell für Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit zu sehen. Auch sein Verhältnis zur Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit bezeugt den Unterschied zu seinem Autor. Beschrieben wird er als ein „nüchterner Mann der freien Marktwirtschaft“ (H 30), der nach dem Krieg einem Bergwerk vorsteht und in phantastischer Manier als Drahtzieher des Wiederaufbaus fungiert. Verweist das Motiv der Vogelscheuche auch auf die Kunst, so sind die Vogelscheuchen doch auch simple Gebrauchsgegenstände, die Amsel industriell fertigt. Amsel kann insofern ebenso wenig wie Oskar mit seinem Autor gleichgesetzt werden. Neben dieser Parallele zwischen den beiden Romanen der Trilogie darf ein grundsätzlicher Unterschied nicht übersehen werden. Während Oskars Autorschaft, symbolisiert durch die Trommel, das Erzählen unmittelbar prägt, baut Amsel primär Vogelscheuchen. Seine Kunst zeigt sich deswegen im Vergleich mit Die Blechtrommel weniger in der Art und Weise, wie er das erste Buch erzählerisch gestaltet, als dass von ihr berichtet wird. Autorschaft wird daher in Hundejahre nicht vorrangig im Modus der Selbstreflexion des Erzählens thematisiert, sondern durch die Figur Amsel und die Beschreibung seiner Vogelscheuchen.¹³⁷ Ich zeige im Folgenden, wie Grass damit seine Autorschaft kritisch reflektiert und die Probleme der Nachkriegsautorschaft in der Figur Amsel exemplarischen Ausdruck finden.¹³⁸ Der
Des Weiteren muss beachtet werden, dass Amsel auch als Chef des Autorenkollektivs für die Autorschaftsfrage relevant ist. Cepl-Kaufmann hat deswegen konstatiert, dass er „auf besondere Art ein bisher [bei Grass – CS] nicht gekanntes Verhältnis zum Autor selbst“ gewinnt, da er die Funktion der Organisation und thematischen Festlegung des Erzählten“ übernimmt. Cepl-Kaufmann: Der Deutschen unauslöschliche Vergangenheit, S. 279. John Reddick hat die positive Bezugnahme auf Amsel herausgestellt: „[T]here can be no doubt at all that Grass’s protagonist mirrors more lucidly and precisely than any other of his characters to date his understanding of the artist’s function and scope within the particular society
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ganze Roman muss als eine Reflexion über die Bedingungen und Aufgaben zeitgenössischer Autorschaft aufgefasst werden, stellt er doch in der Erzählerfiktion ein „Handbuch über den Bau wirksamer Vogelscheuchen“ (H 42) dar. Die Schwierigkeiten der Kunst darf er daher nicht verschweigen. In der Analyse des fiktiven Autorenkollektivs bin ich schon darauf eingegangen, dass Amsel als Opfer des Nationalsozialismus porträtiert wird. Seine Leidensgeschichte reicht jedoch bis in seine Kindheit zurück. Amsel avanciert schon früh zum Prügelknaben, nicht nur aufgrund antisemitischer Ressentiments, sondern auch wegen seiner Fettleibigkeit und seiner Sommersprossen. Sein kunstvoller Vogelscheuchenbau wird dabei mit seinem Opferstatus verknüpft: Zwar weinte Klein-Amsel, […] aber durch die Tränen hindurch, die bekanntlich eine verschwommene und dennoch übergenaue Optik vermitteln, wollten seine in Fett verpackten grüngrauen Äugelchen das Beobachten, Abschätzen, das sachliche Wahrnehmen typischer Bewegungen nicht aufgeben. Zwei drei Tage nach einer solchen Prügelei […] fand sich im Strandwald, zwischen den Dünen oder direkt am Strand, dieselbe Prügelszene in einer einzigen vielarmigen Vogelscheuche abgebildet. (H 45)
Amsels Kunst wird durch diese Zeilen als eine Reaktion auf die gegen ihn verübte Gewalt in Szene gesetzt. Amsel zieht sich, noch während er verprügelt wird, auf eine reine Beobachterposition zurück. Aktiv wird er erst, wenn er seinem Erlebnis einen künstlerischen Ausdruck gibt. Dass diese Passage seine Wahrnehmung als sachlich charakterisiert, verweist auf die bereits analysierte Skelettszene, in der Amsels Sachlichkeit ebenfalls betont wird. Auch dort ist Amsel mit dem mimetischen Nachvollzug der Gewalt beschäftigt und abstrahiert so von seinem eigenen Schmerz. Amsel, dem von Materns Schlägen die Tränen kommen, grinst „gutmütig bis spöttisch“ (H 102) und imitiert anschließend einen Ausspruch seines Englischlehrers. Der Erzähler kommentiert wie folgt: „[D]enn immer, auch während Tränen fließen, muß er jemanden, notfalls sich selber imitieren“ (H 102). Amsels Kunst wird durch beide Szenen als Bewältigungsstrategie lesbar. In ihr verarbeitet Amsel die gegen ihn verübte Gewalt. Das gutmütige bis spöttische Grinsen wird so zur Maske des Ironikers, der sich der Welt schutzlos ausliefert. Amsels Kunst wird im Roman jedoch nicht nur politisch kontextualisiert und psychologisch plausibilisiert, sondern auch kunstphilosophisch gedeutet. Grass bezieht sich an mehreren Stellen auf das Nachahmungstheorem. Die psycho-soziale Position Amsels wird so mit dem ästhetischen Diskurs korreliert. Dabei fällt vor allem auf, dass Amsel sich aufgrund seiner Fixierung auf die Kunst der Politik
that he deliberately opted to stay in – the Federal Republic of Germany.“ Reddick: The „Danzig Trilogy“ of Günter Grass, S. 239.
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gegenüber gleichgültig verhält. Er überredet seinen Freund Matern, in die SA einzutreten, die er als sogenannter Halbjude objektiv zu fürchten hätte; er nimmt selbst an Spendensammlungen für das Winterhilfswerk und an Parteiaufmärschen teil und gibt August Pokriefke gegenüber an, den Namen Hitler noch nie gehört zu haben.¹³⁹ Aus dieser Ignoranz der Politik gegenüber resultiert aber keineswegs eine apolitische Kunst: Zielt seine Kunst auch nicht auf politische Wirkung ab, so wirkt sie dennoch höchst politisch. Amsel weiß um diese Wirkung seiner Kunst. Er kann auf die Erfahrung seiner Kindheit zurückblicken, in der er rein auf die naturgemäße Nachbildung konzentriert nicht nur Tiere, sondern auch Menschen mit seinen Vogelscheuchen irritierte. Der Roman stellt dieses Wissen heraus und deutet es vor dem Hintergrund des ästhetischen Diskurses: „Es hatte also ein Künstler zum erstenmal begreifen müssen, daß seine Werke, wenn sie nur intensiv genug der Natur entnommen waren, […] die ländlich ruhige Gangart stören konnten.“ (H 66) Amsels hier formuliertes künstlerisches Selbstverständnis wiederholt der Roman an anderer Stelle mit den Worten: „Die Vogelscheuche wird nach dem Bild des Menschen erschaffen.“ (H 42) Vom Nachahmungsdiskurs darf allerdings nicht vorschnell auf den Begriff des Realismus geschlossen werden. Vogelscheuchen übertreiben bekanntlich und verzerren ihr nachgeahmtes Objekt, ganz so wie die groteske Grass’sche Prosa. Überdies wird der Naturbegriff von Grass weit gefasst: „Alles, was sich Ausstopfen läßt, gehört der Natur an: die Puppe etwa.“ (H 57) Amsels Kunst kann also gerade nicht mit der Spiegelmetapher verstanden werden, sondern basiert darauf, Aspekte der Realität wahrnehmbar zu machen, die für gewöhnlich nicht auffallen.¹⁴⁰ Amsels Absicht mag gänzlich apolitisch sein, seine Kunst bringt das Abschreckende und Irritierende zur Erscheinung. Ihr wird eine Schockwirkung zugesprochen. Grass thematisiert hier eine zentrale Frage im Diskurs über die engagierte Kunst. Muss Kunst, um politisch zu wirken, politisch motiviert sein? Theodor W. Adorno hat diese Frage ein Jahr vor der Veröffentlichung von Hundejahre apodiktisch verneint. In einem Beitrag, den Radio Bremen im März 1962 sendete und der im gleichen Jahr in Die Neue Rundschau unter dem Titel Die Dialektik des Engagements veröffentlich wurde, konstatiert er, dass es keine unwesentliche Schwäche der Debatte über das En-
Vgl. H, S. 215, 246 u. 259 f. Amsels bühnenbildnerische Arbeit für das Danziger Stadttheater bringt ihn auf den „Amselschen Einfall, nicht waschechte Waisenkinder, sondern mechanische Waisen auf die Bühne zu stellen“ (H 268). Begründet wird diese Idee von ihm damit, dass „nichts auf der Welt tiefer zu rühren vermöge als eine zittrig laufende Mechanik“ (H 268). Die Mechanik überreizt einen bestimmten Aspekt des Nachzubildenden und eröffnet so eine neue Perspektive auf das Nachgebildete. Favorisiert wird also eine Orientierung an der Realität, wie es der Kommentar zu einer Schaffenskrise Amsels deutlich macht. Vgl. ebd., S. 245.
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gagement sei, „daß sie nicht auch über die Wirkung reflektiert,welche von solchen Werken ausgeübt wird, deren eigenes Formgesetz auf Wirkungszusammenhänge keine Rücksicht nimmt“.¹⁴¹ Adornos Beitrag zu dieser Debatte stellt sich unmissverständlich auf die Seite der autonomen Kunst. Allein die Verpflichtung der Kunst gegenüber vermöge noch politische Wirkung zu erzielen. Kafka und Beckett werden als Kronzeugen gegen Brecht und Sartre aufgerufen, von deren Kunst es heißt: „Dem politischen Engagement zuliebe wird die politische Realität zu leicht gewogen: das mindert auch die politische Wirkung.“¹⁴² Gegen die engagierte Kunst setzt Adorno auf die Schockwirkung autonomer Kunstwerke von Kafka und Beckett. Grass schreibt diesen Effekt Amsels Kunst zu. Zeigt sich in der Prosa des Romanciers und dem Essay des Theoretikers auch die gleiche Problemkonstellation, so findet sich bei Grass jedoch keine eindeutige Positionierung in der Debatte, sondern zeichnet sich der Roman dadurch aus, dass er die Ambiguität des Schocks nicht ignoriert. Während Adorno der Dekonstruktion von Wahrnehmungsmustern und Selbstbildern eine politisch progressive Wirkung zuspricht, vermeidet der Roman eindeutige Zuweisungen. Exemplarisch kann hier die Wirkung von Amsels Kunst auf seinen Freund Matern angeführt werden. Denn einerseits überzeugt Amsel Matern – ohne es intendiert zu haben – durch die Nachbildung einer Prügelei, ihn künftig zu beschützen. Andererseits bewirkt ein erneutes Kunstwerk mimetischer Natur das Gegenteil: Matern fühlt sich provoziert und bricht mit Amsel. Auch die Führung durch das Bergwerk, in dem Amsel seine Vogelscheuchen produziert, hat ein ambivalentes Ergebnis. Denn auch wenn Matern schockiert ist, lässt sich eine Verhaltensänderung nicht erkennen.¹⁴³ Matern ist ausschließlich emotional affiziert und will fliehen, kognitive Prozesse, wie sie die ‚Bildungsreise‘ unter Tage anregen sollte,¹⁴⁴ werden nicht angestoßen. Amsels pädagogische Hoffnung wird so enttäuscht. Auch wenn,wie die Forschung bemerkt hat, andere Stellen darauf hindeuten mögen, dass Matern sich vielleicht doch noch wandelt, so bleibt ein Scheitern von Amsels Kunst nicht nur im Bereich
Adorno: Zur Dialektik des Engagements, S. 96. Überarbeitet wieder abgedruckt in: Adorno: Engagement, S. 412. Adorno: Zur Dialektik des Engagements, S. 100; Adorno: Engagement, S. 418. Vgl. die gegenteilige These in: Rothenberg und Grass: Günter Grass, S. 111. Auch Stallbaum kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis, belegt seine These jedoch nur rudimentär. Vgl. Stallbaum: Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass, S. 144. Vgl. H, S. 710. Arker verweist darauf, dass im Gegensatz zur Blechtrommel durch die Bergwerksführung Geschichte als etwas imaginiert wird, aus dem prinzipiell gelernt werden könne. Vgl. Dieter Arker: „Die Blechtrommel“ als Schwellenroman? Stichworte zur inneren Diskontinuität der „Danziger Trilogie“. In: Heinz L. Arnold (Hg.): Günter Grass. 6. Aufl., Neufassg. München 1988, S. 48 – 57, hier S. 54.
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des Möglichen, sondern sehr wahrscheinlich.¹⁴⁵ Der Roman erkennt die Möglichkeit des Scheiterns jedenfalls an und reagiert mit Trotz: Laßt den Faden nicht abreißen, Kinder! Denn solange wir noch Geschichten erzählen, leben wir. Solange uns etwas einfällt, mit und ohne Pointe, Hundegeschichten, Aalgeschichten […] Lesebuchgeschichten, solange uns Geschichten noch zu unterhalten vermögen,vermag keine Hölle uns unterhaltsam sein. (H 699)
Indem hier sowohl auf den Romantitel als auch auf die beiden anderen Romane der Danziger Trilogie angespielt wird, durchbricht die Passage die diegetische Grenze der Fiktion. Was kann Literatur gesellschaftlich bewirken? Auf diese Frage findet sich in Hundejahre keine prinzipielle Antwort. Muss mit ihrer Wirkungslosigkeit auch gerechnet werden, so ist Wirkung doch auch nicht ausgeschlossen. Im letzteren Sinne gibt Harry zu Protokoll, welche Wirkung Amsels Einfall, mechanische Waisenkinder auf die Bühne zu stellen, für ihn und Tulla hatte: „Manchmal glaubten wir die Mechanik zu hören. Wir faßten uns an die Bäuche und suchten die Mechanik in uns“ (H 269). Amsel rechnet jedenfalls auch nach der Bergwerkstour noch mit dem Freund und stellt ihn als Erzähler an. Auch dies muss als eine Geste verstanden werden, die den Glauben an die Wirkung der Literatur unterstreicht.¹⁴⁶ So differenziert und mitunter skeptisch sich der Roman auch mit der politischen Wirkung von Kunst auseinandersetzt, so eindeutig spricht er sich doch für eine politische Kunst aus. Im literarischen Feld positioniert er sich überaus polemisch. Materns Flucht aus der politischen Geschichte identifiziert der Roman mit der Unterhaltungskultur der 1950er-Jahre und dem Verhalten der Inneren Emigration. In seinem poetologischen Diskurs hält Matern zu Amsels Kunst fest: Da sagt der bergfremde Matern, diese Art Humor gäbe sich für seinen Geschmack zu zynisch. Für ihn habe der Humor befreiende, heilende, ja oftmals erlösende Wirkung. Er vermisse die menschliche Wärme oder auch Güte, das Humane. (H 722)
Textpassagen wie diese müssen als Positionierungen des Satirikers Grass im Autorschaftsdiskurs gelesen werden, die den grotesken Witz des Buchs gegen den gemütvollen Humor der 1950er-Jahre verteidigen. Zugleich attackiert Grass die Innere Emigration, die in der dreiundzwanzigsten Firstenkammer als „äußerst
Neuhaus stellt diese Kontroverse dar: Neuhaus: Günter Grass, S. 104. Vgl. auch: Roskothen: Religion als Skandalon und Stimulans, S. 257. Klaus Stallbaum ist jedenfalls zuzustimmen, wenn er diesen Schachzug des Erzählers als „pädagogische Erwägung“ charakterisiert. Stallbaum: Kunst und Künstlerexistenz im Frühwerk von Günter Grass, S. 126.
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athletische Disziplin“ (H 735) vorgeführt wird. Hier verteidigt sich Amsel gegen Materns Angriffe mit den Worten: „Man emigriert noch immer nach innen. Da ist es warm, da kennt man sich aus, dort ist man für sich.“ (H 735) Gegen dieses Autorschaftsmodell setzt der Roman das Bekenntnis zur politischen Funktion der Literatur.
1.3.4 Autorschaft und Nihilismus Vergleicht man Hundejahre mit den beiden ersten Teilen der Danziger Trilogie, fällt auf, dass die Kirchenkritik keinen so großen Raum einnimmt. Anders als im Debütroman und in der Novelle spielen Funktionsträger der Kirche keine zentrale Rolle. Dennoch ist die Religion in Hundejahre nicht abwesend. Insbesondere in den genealogischen Partien des ersten Buchs wird sie als Konfliktpotential charakterisiert und werden Kontinuitäten zwischen christlichen Antijudaismus und rassistischen Antisemitismus angedeutet. Auch Materns kurze religiöse Phase ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, wird die Religion durch sie doch als eine Ideologie unter vielen charakterisiert.¹⁴⁷ Wichtiger jedoch ist eine andere Gemeinsamkeit zwischen den Texten der Danziger Trilogie: Auch in Hundejahre wird der Blasphemievorwurf provoziert. So orientieren sich Materns Rachefeldzüge an den Orakelinschriften der „heilige[n] katholische[n] Männertoilette des Hauptbahnhofs Köln“ (H 486), lässt Matern seinen Hund ausgiebig an den Kölner Dom urinieren,¹⁴⁸ gibt er an, „regelmäßig mit der Jungfrau Maria verkehrt“ (H 644) zu haben, kommt es zu einer sexuellen Begegnung in einem Beichtstuhl¹⁴⁹ und wird von Gott als „Urvogelscheuche“ (H 731) gesprochen.¹⁵⁰ Auch die wiederholte Darstellung des Stammbaums von Prinz, auf den ja schon der Titel des Romans anspielt, muss als blasphemische Parodie des biblischen Stils verstanden werden. Quantitativ können diese Nadelstiche gegen den konservativen Katholizismus der Nachkriegszeit jedoch nicht das Niveau von Die Blechtrommel erreichen. Neben diesen blasphemischen Gesten zeigt sich eine religiöse Dimension des Romans vorrangig in der Thematisierung der politischen Wirkung der Kunst. Zwei zentrale Episoden des letzten Buchs, die Bergwerksbesichtigung und die öffentliche Diskussionsrunde, sind hier von Bedeutung. Der religiöse Kontext der unterirdischen Besichtigung wird nicht nur deutlich durch die intertextuellen Bezüge zu Dante und der Romantik sowie der Apostrophierung des Bergwerks als Hölle. Das
Vgl. H, S. 311. Vgl. ebd., S. 560. Vgl. ebd., S. 529. Darüber hinaus zeigt sich in der Gleichsetzung sportlicher, militärischer und religiöser Rituale die Kontinuität zur Novelle. Vgl. ebd., S. 725.
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Bergwerk wird darüber hinaus als ein sakraler Raum geschildert. Es wird von einer „kirchenschiffgroß[en] Halle“ (H 715) gesprochen, einer Stirnwand, die „einen Altarraum vermuten lässt“ (H 715) und von einem „säulenbewaldeten Dom“ (H 721). Michael Harscheidt hat zudem darauf hingewiesen, dass der Roman mit einem Wannenbad endet und dieses Romanende an einen Taufritus erinnert.¹⁵¹ Auch wenn eine eindeutige Interpretation des Schlusses nicht möglich ist, wird doch durch die Waschung und die abschließende Nacktheit ein Kontrapunkt zum Schmutz gesetzt, der unter Tage besichtigt worden ist. Die Nacktheit vor dem Sündenfall, die hier evoziert wird, schafft einen Kontrast zur Schuld, von der der Roman berichtet. Wird der Kunst dadurch eine kathartische Funktion zugesprochen? Wendet man sich der ,öffentlich diskutierten Materniade‘ (H 614– 622) zu, dann zeigt sich erneut Grass’ Skepsis gegenüber einer übersteigerten Erwartungshaltung an die Kunst. Die ritualisierte Diskussion mit Matern, die der Hoffnung der Veranstalter auf „Exegese und Katharsis“ (H 621) entspringt, wird mit der katholischen Beichte verglichen und als billiger Ideologieersatz verspottet. Die Beichte fungiert hier jedoch nicht nur als Negativfolie. Zwar heben die Diskussionsteilnehmer hervor, dass es keine Absolution mehr geben könne, aber die ins Auge gefasste Alternative, einfach kontinuierlich zu diskutieren, wird stark ironisiert: Denn im Grunde, wenn man Geduld hat, lösen sich alle Probleme wie von selbst, zum Beispiel die Judenfrage. Das hätte unserer Generation nicht passieren können.Wir hätten mit den Juden solange diskutiert, bis sie freiwillig und vollkommen überzeugt ausgewandert wären. Wir verachten alle Gewalt. (H 647)
Mit beißendem Spott macht sich Grass über eine Generation lustig, die sich nur scheinbar von den Eltern emanzipiert hat und die Kontinuitäten im Weltbild (hier: die Existenz der ‚Judenfrage‘) nicht wahrhaben will. Die Diskussion endet mit einem Amen, das Problem der Schuld kann sich dennoch nicht lösen. Stattdessen bringt sie mit Walter Matern einen Einzelnen zu Fall. Wie fragwürdig dieses Ergebnis ist, macht der Text überdeutlich, indem er von einer „Fallgrubenkonstruktion“ (H 621) spricht und damit die religiösen Erwartungen an eine öffentliche Diskussion als illusionär darstellt.Weder die Besichtigung des Bergwerks noch die Teilnahme an der öffentlichen Diskussion ändern Matern. Endet der Roman auch mit einem leichten Hoffnungsschimmer, so propagiert er doch kein Erfolgsrezept für eine politisch engagierte Kunst. Religiös grundierten Erwartungen an Kunst oder Öffentlichkeit wird eine Absage erteilt. Wie sehr diese Positionen in die diskursiven Kämpfe über das richtige Autorschaftsmodell eingreifen, zeigt auch Vgl. Harscheidt: Wort, Zahl und Gott bei Günter Grass, S. 682 f.
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Grass’ demonstrative Verteidigung des Nihilismus durch eine stark satirische Passage des Romans. Parodiert wird in ihr die Romanfigur Dr. phil. Rolf Zander, der im Deutschland der Nachkriegszeit als Kulturkritiker für Radio und Zeitungen arbeitet und dort gegen ein „[e]ntmenschtes Theater“ (H 607) eintritt. Die Passage entwirft die Figur als einen dem Humanismus zugetanen Kritiker, der dem Theater eine mitunter religiöse Funktion zuspricht und der von seiner Vergangenheit im Nationalsozialismus nichts mehr wissen will. Sein Kunstprogramm steht im diametralen Gegensatz zu dem Roman, dessen Figur er ist: Es kann nicht genügen, dem Menschen die Katastrophe zu zeigen; alle Erschütterung bleibt Selbstzweck, mündet sie nicht in die Exegese, bis der Katharsis reinigende Wirkung dem Nihilismus den Kranz entreißt und dem Chaos einen Sinn gibt. (H 607)
Die Dichterkrone wird von Zander für eine Kunst reklamiert, die gegen den Grass und der politisch engagierten Literatur attestierten Nihilismus zu Felde zieht. Zentral für die Kunst ist ihm zufolge das Sinnversprechen, das nicht nur Amsel, sondern auch sein Autor nicht zu geben bereit ist. Das Bekenntnis zum Nihilismus, das diese Parodie implizit enthält, zeigt erneut,wie wichtig die Nihilismus-Debatte der unmittelbaren Nachkriegszeit für ein politisches Autorschaftsverständnis war. Es legitimiert die als blasphemisch gescholtene Autorschaft des Günter Grass.
1.4 Dokumentation: Grass’ Autorschaft im Urteil der zeitgenössischen Rezeption Görtz hat in verschiedenen Untersuchungen aufgezeigt, dass das perfekte ‚Reklamebild‘ Grass letztlich auch ein Produkt der Literaturkritik war, die den Autor mit stereotypen Attributen belegte.¹⁵² In der Tat fielen die Charakterisierungen von Stil und Autor schon im Jahr 1959 überraschend homogen aus. Bereits ein Vorabdruck eines Kapitels aus Die Blechtrommel in der von Rolf Schroers herausgegebenen Anthologie Auf den Spuren der Zeit attestierte Grass eine „raubtierhafte Vitalität“.¹⁵³ Die Rezensionen des Romans konstatierten dann eine „wilde, un-
Vgl. Görtz: Günter Grass – zur Pathogenese eines Markenbilds. Rezensionen der Danziger Trilogie wurden in folgenden Publikationen erneut abgedruckt: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984; Gert Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied und Berlin 1968. Ich beziehe mich in meiner Analyse zudem auf Rezensionen, die die Dortmunder Autorendokumentation archiviert hat. Rolf Schroers (Hg.): Auf den Spuren der Zeit. Junge deutsche Prosa. München 1959, S. 64.
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gestüme und hart rhythmische Diktion“,¹⁵⁴ eine „wilde[] (sich gelegentlich überschlagende[]) mitreißende[] Diktion“,¹⁵⁵ eine „wilde[] erbarmungslose[] Darstellungskraft“,¹⁵⁶ „Wortkaskaden von außerordentlicher Vehemenz“,¹⁵⁷ eine „Raserei“¹⁵⁸ der Fabulierkunst, eine „urtümliche erzählerische Kraft“,¹⁵⁹ einen „rhythmischen Furor“¹⁶⁰ und sprachen von der „berserkerhaften Art“ des Erzählers,¹⁶¹ der „atemberaubend“ fabuliere.¹⁶² Diese Charakterisierungen tauchten in den Besprechungen von Hundejahre wieder auf. Festgehalten wurden 1963 erneut die „rabelaissche Fülle“¹⁶³ des Romans und die „Fabulierkunst“ seines Autors.¹⁶⁴ Gründe für diese einheitliche Charakterisierung des Grass’schen Stils liegen nicht nur in der Sache, sondern auch, wie Görtz herausstellt, in den Praktiken des Medienbetriebs selbst. In Rechnung gestellt werden muss sowohl der inhaltliche und stilistische Einfluss der großen Tageszeitungen auf die Provinzblätter als auch das geschickte Marketing des Verlags. Der Klappentext von Die Blechtrommel, der Zitate des schon angesprochenen Artikels von Hans SchwabFelisch verarbeitete, und ein im Monat veröffentlichter Artikel von Walter Höllerer, der als Waschzettel mit den Rezensionsexemplaren verschickt wurde, beeinflusste Ausdrucksweise und Urteil vieler kleinerer Zeitungen:
Hans Schwab-Felisch: Talente und Stilfragen bei der „Gruppe 47“. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 29 – 34. Helmut M. Braem: Narr mit dem Janusgesicht. Zu dem Roman „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. In: Stuttgarter Zeitung vom 24.10.1959. -lm: Oskar schlägt die Trommel. Zu dem neuen Roman von Günter Grass: Die Blechtrommel. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 21.11.59. Marcel Reich-Ranicki: Auf gut Glück getrommelt. Spielereien und Schaumschlägereien verderben die Zeitkritik des Günter Grass. In: Die Zeit (1960), H. 1, S. 9. Kurt L. Tank: Der Blechtrommler schrieb Memoiren. In: Welt am Sonntag vom 14.10.1959, S. 39. Rolf Becker: Auf Grimmelshausens Spuren. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 57– 60. Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 836. Enzensbergers Beitrag wurde wortgleich im Süddeutschen Rundfunk gesendet.Vgl. Hans M. Enzensberger: Wilhelm Meister auf der Blechtrommel. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 62– 69. gh.: In die Ohren getrommelt. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 42– 45, hier S. 45. Joachim Kaiser: Oskars getrommelte Bekenntnisse. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 52– 57, hier S. 53. Otto Kuhn: Ei wai, schalle machai! oder: Wie Grass auf den Hund kam. In: Ruhr-Nachrichten vom 28.09.1963. Urs Jenny: Günter Grass: Alles und Nichts und noch mehr. In: Die Weltwoche vom 13.12.1963.
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Wer also im Zusammenhang mit der Blechtrommel, ihrem Helden Oskar Matzerath oder ihrem Schöpfer Günter Grass die Wörtchen ‚bizarr‘ und ‚deftig‘, ‚vital‘ und ‚virtuos‘, ‚phantastisch‘ und ‚farbig‘, ‚skurril‘ und ‚sarkastisch‘ oder auch ‚provozierend‘ und ‚pornographisch‘ verwenden mochte, hatte verläßliche Gewährsleute genug […].¹⁶⁵
Görtz hebt hier auf die Autorität der vom Verlag verschickten Informationen ab. Die Verlagswerbung sorgte dafür, dass auch nach der Publikation von Die Blechtrommel Berichte über deren Erfolg nicht abrissen. Schon im November 1959 schaltete der Luchterhand Verlag eine Anzeige im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, in der, noch vor den üblichen Lobeshymnen aus positiven Rezensionen, in dicken Lettern zu lesen war: „Die Blechtrommel: Ein Welterfolg“.¹⁶⁶ Des Weiteren vermerkte die erste Seite der Anzeige, dass in England, den USA, Frankreich, Italien, Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland und Holland Übersetzungen des Buchs erscheinen werden. Nach der Publikation der französischen Übersetzung im November 1961 vermeldete der Luchterhand Verlag im Börsenblatt erneut einen „überwältigende[n] Erfolg“ und zitierte den Figaro Litteraire, dem zufolge das Buch „Einzug in die Weltliteratur“ gehalten habe.¹⁶⁷ Die Pressearbeit des Luchterhand Verlags hatte insofern sicherlich Anteil am Erfolg ihres Autors, jedoch darf die Sehnsucht der Literaturkritik, endlich wieder einem deutschen Autor Weltformat zusprechen zu können, nicht außer Acht gelassen werden. In zahlreichen Rezensionen der Danziger Trilogie und insbesondere von Die Blechtrommel drückte sich die Euphorie aus, dass der Nachkriegsliteratur nun endlich der lang ersehnte große Roman geglückt sei. Kurth Lothar Tank rief beispielsweise in einer der ersten Rezensionen aus dem Oktober 1959 in der Welt am Sonntag enthusiastisch aus: „Ein Glückstreffer! Eine hinreißende Zeitsatire, neben der die bisherigen Wunderkinderromane in Deutschland wie Schablonenprodukte unterernährter Normalverbraucher erscheinen.“¹⁶⁸ Hans Dollinger feierte das Weltniveau mit folgenden Worten: „Grass sprengt formal wie thematisch den herkömmlichen, provinziellen Rahmen und stößt in literarisches Neuland vor.“¹⁶⁹ Der Hinweis auf die Quantität der Grass’schen Prosa findet sich in zahlreichen Rezensionen. Auch Enzensberger betonte die Fülle von „drei Büchern, sech-
Franz J. Görtz:Vorwort. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 9 – 27, hier S. 12. Luchterhand Verlag: Ein Welterfolg. Günter Grass. Die Blechtrommel. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 20.11.1959. Luchterhand Verlag: Le tambour. Die Blechtrommel. In Frankreich ein überwältigender Erfolg. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 10.11.1961. Tank: Der Blechtrommler schrieb Memoiren. Hans Dollinger: Hamlet mit der Narrenkappe. Zu dem Roman „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. In: Die Kultur vom 15.10.1959.
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sundvierzig Kapiteln und 750 Seiten“¹⁷⁰ und erklärte zur Grass’schen Autorschaft: „Dieser Mann ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur“.¹⁷¹ Eine Metaphorik der Fülle prägte auch Joachim Kaisers Lobeshymne in der Süddeutschen Zeitung: „In der deutschen Literatur ist seit langer Zeit nicht mehr so atemberaubend, aus solcher Fülle der Gesichter und Geschichten, der Figuren und Begebenheiten, der Realitäten und Sur-Realitäten erzählt worden.“¹⁷² Das Hervorheben der epischen Qualität von Die Blechtrommel zeugt von einer Konkurrenz zwischen den Autorinnen und Autoren der Gruppe 47, denn die politisch engagierte Literatur wurde stark mit Heinrich Böll identifiziert, der bei vielen Rezensentinnen und Rezensenten im Ruf stand, eigentlich vorrangig ein Autor von kürzeren Erzählungen zu sein, blieben seine Romane verglichen mit dem Umfang von Grass’ Debütroman doch in der Tat überschaubar.¹⁷³ Indem Kaiser in der oben zitierten Passage zudem typographisch hervorhob, dass Grass zu erzählen vermöge, positionierte er sich sowohl gegen die Poetologie des Nouveau Roman als auch gegen die kulturkritischen Thesen seines eigenen Lehrers Adorno und dessen wirkungsmächtiges Diktum, dass das Erzählen selbst in die Krise geraten sei.¹⁷⁴ Die Blechtrommel wurde nicht nur von Kaiser als Gegenbeweis zur These, dass sich nicht mehr erzählen lasse, ins Feld geführt. Auch Theodor Wieser konstatierte im Merkur, dass die Grass’sche Fabulierkunst die These der „Kulturdiagnostiker“¹⁷⁵ widerlege. Vom Tod der Fabel könne die Rede nicht sein. Ähnlich im Tenor resümierte Rolf Becker seine emphatischen Ausführungen zu den Neuerscheinungen von Böll, Johnson und Grass im Jahr 1959 mit den Worten: Ihre drei Bücher enthalten etwas – ja, sind voll davon – was es nach der Meinung und dem Willen mancher Theoretiker des modernen Romans in diesem doch eigentlich gar nicht mehr geben sollte: individuelle Farben spezifischer, konkreter Landschaften und Milieus und die
Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834. Ebd. Kaiser: Oskars getrommelte Bekenntnisse. Hervorhebung im Original. Vgl. beispielsweise die Rezension von Billard um halb zehn in Die Zeit: Hühnerfeld: Heinrich Böll: „Billard um halb zehn“. Die These findet sich an zahlreichen Stellen im Werk Adornos. Prominent vertreten wurde sie in dem Essay Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, der in der von Walter Höllerer herausgegebenen Zeitschrift Akzente 1954 veröffentlicht wurde.Vgl. Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Adorno: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1981, S. 41– 48; Theodor W. Adorno: Form und Gehalt des Zeitgenössischen Romans. In: Akzente 1 (1954), H. 5, S. 410 – 416. Theodor Wieser: Die Blechtrommel – Fabulierer und Moralist. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 82– 89, hier S. 83.
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individuelle, letzten Endes unauflösbare Wirklichkeit einzelner, einmaliger, ‚besonderer‘ Menschen.¹⁷⁶
Kaisers, Wiesers und Beckers Stellungnahmen gegen die These vom Ende des Erzählens wurden von Grass’ Roman selbst provoziert, denn dort bezieht sich der Erzähler Oskar Matzerath bereits auf den ersten Seiten auf den literaturtheoretischen Diskurs: Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heute unmöglich einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn. Auch habe ich mir sagen lassen, daß es sich gut und bescheiden ausnimmt, wenn man anfangs beteuert: Es gibt keine Romanhelden mehr, weil es keine Individualisten mehr gibt, weil die Individualität verloren gegangen, weil der Mensch einsam, jeder Mensch gleich einsam, ohne Recht auf individuelle Einsamkeit ist und eine namen- und heldenlose einsame Masse bildet. Das mag alles sein und seine Richtigkeit haben. Für mich, Oskar, und meinen Pfleger Bruno möchte ich jedoch feststellen: Wir beide sind Helden […]. (DB 12)
Erweckte die Literaturkritik mit ihren Charakterisierungen der Grass’schen Prosa auch den Eindruck, als ob hier jemand frei und ungehemmt drauflos schreibe, so zeigt sich schon auf den ersten Seiten von Die Blechtrommel, dass von fehlender Reflexion nicht die Rede sein kann.¹⁷⁷ Die Literaturtheorie möge behaupten, was sie will, den Autor, so suggeriert es die Passage, störe das wenig. Der ironischen Paraphrase der literaturtheoretischen Krisendiagnose folgt die Ankündigung des Erzählers, das Buch nach Art und Weise des Bildungsromans mit einem Bericht über seine Vorfahren beginnen zu wollen. Die Passage demonstriert somit, dass das in den Rezensionen verbreitete Image, der Autor Grass sei ein erzählerisches Naturtalent, durch den Roman selbst inszeniert wird.¹⁷⁸ Der Häresie gegen das Becker: Ein Schritt nach vorn. Hans Magnus Enzensberger korrigiert diese durch die Besprechungen der Blechtrommel generierte Wahrnehmung des Autors in seiner Rezension von Katz und Maus. Vgl. Hans M. Enzensberger: Trommelt weiter. In: Frankfurter Hefte 16 (1961), H. 12, S. 860 – 862. Grass schrieb Die Blechtrommel u. a. in Paris und war daher mit den Diskussionen um den Nouveau Roman bestens vertraut. Vgl. Uwe Neumann: Robbe-Grillet und der „Nouveau Roman“ im Spiegel der Kritik deutschsprachiger Schriftsteller. In: Karl A. Blüher (Hg.): Robbe-Grillet zwischen Moderne und Postmoderne. Nouveau roman, nouveau cinéma und nouvelle autobiographie. Tübingen 1992, S. 101– 138, hier S. 101 f. In seiner Untersuchung der Figuration von Autorschaft im Grass’schen Werk ignoriert Mertens diesen Zusammenhang, weil er Autorschaft ausschließlich produktionsästhetisch fasst. Stellen wie die oben zitierte werden von Mertens daher als Reflexionen über die Möglichkeitsbedingungen des Schreibens gedeutet. Vgl. Mertens: Figurationen von Autorschaft in Öffentlichkeit und Werk von Günter Grass, S. 209.
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literaturtheoretische Dogma entsprechen viele Passagen der Danziger Trilogie, die sich gezielt über politische und religiöse Normen hinwegsetzen. Durch diese Provokationen rückt die Person des Autors in den Vordergrund. Grass fand Bewunderung für den Bruch mit Konventionen, aber auch Ablehnung. Ausschlaggebend dafür waren die ästhetischen, politischen oder religiösen Positionen der Kritiker. Die folgenden Zeilen von Walter Widmer, die auf Die Blechtrommel und Katz und Maus Bezug nehmen, können hier als Beispiel dienen: Was gesagt werden muß, damit der Mief der frommen Denkart, der heute allenthalben die klare Luft durchdünstet, ausgelüftet werde, das sagt Grass, deutlich und unmißverständlich. Er tut dies im vollen Bewußtsein des Schocks, den er damit bewirkt; er will ihn erzwingen, diesen Heilschock […].¹⁷⁹
Während Widmer den Normbruch als einen heilsamen Schock begriff, empfanden andere Rezensentinnen und Rezensenten denselben als skandalös und blasphemisch. Grass’ Prosa zwang zur Positionierung. Indifferenz ist in den Rezensionen der drei Teile der Danziger Trilogie, denen ich mich nun gesondert zuwende, jedenfalls nicht zu finden.
1.4.1 Die Blechtrommel Grass’ Debüt als Romanschriftsteller ist ein außerordentlich ergiebiger Fall für die Analyse von Autorschaft im literarischen Feld der Nachkriegszeit. Mehrere Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Erstens bezeugen die Rezensionen des Romans das gestiegene Prestige der Gruppe 47. Der Preis der Gruppe, der Grass 1958 für seine Lesung aus dem Manuskript von Die Blechtrommel verliehen wurde, fand in den meisten Rezensionen Erwähnung. Selbst Verrisse nahmen auf ihn Bezug. Offensichtlich fühlten sich die Kritiker gezwungen, sich vom Urteil der inzwischen prominenten Literaturgruppe abzusetzen.¹⁸⁰ Zweitens handelte es sich bei dem
Urs Widmer: Baal spielt Katz und Maus. In: National-Zeitung vom 09.12.1961. Zitiert nach: Loschütz: Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik, S. 34. Sowohl Blöcker als auch die Verrisse in Christ und Welt, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, dem Oberbayrischen Volksblatt, den Ruhr-Nachrichten, dem Aufstieg und der Kölnischen Rundschau erwähnen den Preis. Letzterer Artikel bezeugt schon in der Überschrift eine gegen das ästhetische Establishment gerichtete Rhetorik: „Es muß einmal gesagt werden: Die Blechtrommel. Notwendige Bemerkungen zu einem preisgekrönten Roman.“ Aussagekräftig ist auch, dass der Autor als Dr. med. zeichnet und versucht, das Buch als Krankengeschichte zu desavouieren. Die Rezensionen zu Die Blechtrommel sind gesammelt in: Görtz: „Die Blechtrommel“. Die Überschrift der Kölnischen Rundschau wird von Görtz jedoch nur verkürzt wiedergegeben. Vgl. H. MüllerEckhard: Die Brechtrommel. Notwendige Bemerkungen zu einem preisgekrönten Roman. In:
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Roman um eine kalkulierte Häresie gegen die avancierte literaturkritische Theoriebildung, wie der soeben diskutierte Seitenhieb des Romans gegen die Literaturtheorie und den Nouveau Roman beweist. Hier legte sich ein Debütant mit dem ästhetischen Establishment an. Drittens reagierte die Literaturkritik vorwiegend wohlwollend auf Grass’ Romanerstling. Die von Arnold vorgenommene Auswertung ergibt, dass fast die Hälfte der Rezensionen eindeutig positiv war und nur ein Viertel als Verrisse gewertet werden kann.¹⁸¹ Stellt man in Rechnung, dass für die Wertschätzung im literarischen Feld vor allem die Besprechungen in den Wochenmagazinen, Kultur- und Literaturzeitschriften sowie den großen überregionalen Tageszeitungen von Bedeutung sind, dann kommt man zu einem noch schmeichelhafteren Ergebnis für den debütierenden Romancier. Negativ rezensierten Marcel Reich-Ranicki für Die Zeit und Günter Blöcker in der FAZ sowie Westdeutschen Allgemeinen Zeitung; positiv hingegen äußerten sich Hans SchwabFelisch in der FAZ, Walter Höllerer in Der Monat und später im Tagespiegel, Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung, Kurt Lothar Tank in der Welt am Sonntag, Jost Nolte in der Welt, Helmut Braem in der Stuttgarter Zeitung, Hans Magnus Enzensberger in den Frankfurter Heften, Reinhard Baumgart in den Neuen Deutschen Heften, Theodor Wieser im Merkur und schließlich lobte auch der Spiegel. Der Skandal, den Enzensberger prophezeit hatte, als er mutmaßte, dass Die Blechtrommel von einigen als „satanisches Ärgernis verschrien“ werden würde,¹⁸² blieb also auf der Ebene des Feuilletons aus. Damit komme ich zu meinem vierten Punkt, denn für eine Analyse politischer Autorschaft ist es bedeutsam, dass es andere Akteure waren, die das Buch als blasphemisch brandmarkten. Es waren die Senatorinnen und Senatoren der Hansestadt Bremen, die für den Literaturskandal sorgten. Die Publikation der Blechtrommel verdeutlicht somit, dass die Positionierung im literarischen Feld im Fall politischer Autorschaft auch vermittelt über das politische Feld vollzogen werden kann. Grass’ blasphemische und politische Invektiven sprengten die Grenzen des literarischen Felds, schufen jedoch zugleich ein Autorschaftsmodell, das sich nicht nur auf Grass’ Position im literarischen Feld auswirkte und die Rezeption seiner nachfolgenden Werke nachKölnische Rundschau vom 13.12.1959. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Originalartikel. Auch die Rezension der Blechtrommel von Hornung in der Deutschen Tagespost bestätigt die Bedeutung der Gruppe 47: „Vor Jahresfrist erhielt sein Schöpfer Günter Grass (Jahrgang 1927) den Preis der Gruppe 47. Offenbar war das der Blankoscheck dafür, daß sein 700 Seiten umfassender Roman ein Meisterwerk wurde. Als dann eine epileptische Kapriole draus wurde, übersah man das großzügig. Das Urteil der Mannen der Gruppe 47 ist ja unfehlbar. Seit über zehn Jahre wissen wir das zu genüge.“ Peter Hornung: Oskar Matzerath – Trommler und Gotteslästerer. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 49 – 52, hier S. 50. Vgl. Arnold: Blech getrommelt. Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834.
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haltig prägte, sondern auch Eingang in sein Werk fand.Wie Rebecca Brauns luzide Studie über Grass’ Autorschaft nach der Danziger Trilogie aufzeigt, charakterisiert den Autor der Blechtrommel „the explicit manner in which he engages with popular constructions of his own public persona.“¹⁸³ Die Reaktionen der Literaturkritik auf Grass’ Debütroman belegen, dass der nach 1945 gegen die junge Generation erhobene Nihilismusvorwurf, dessen konstitutive Funktion für die Gruppenbildung bereits im zweiten Kapitel dargestellt worden ist, noch im Jahr 1959 zum Standartrepertoire der Kritiker des politischen Autorschaftsmodells gehörte. Als erster sprach Günter Blöcker davon, dass Grass ein „Programm eines totalen, höchst mit sich zufriedenen, höchst vergnügten Nihilismus“ verfolge,¹⁸⁴ der Wiesbadener Aufstieg erkannte dann einen „hämischen Nihilismus“,¹⁸⁵ Christ und Zeit den anomalen Hang, „jeden Glauben zu parodieren“¹⁸⁶ und der General-Anzeiger der Stadt Wuppertal ein „Panorama einer entgötterten Zeit“.¹⁸⁷ Auch das Oberbayrische Volksblatt und die Wochenzeitschrift Echo der Zeit stimmten in den Nihilismusvorwurf ein.¹⁸⁸ In Hochland wurde von einem „zynischen Nihilismus“¹⁸⁹ gesprochen und die Vermutung geäußert, dass Grass in Paris mit dem französischen Satanismus in Verbindung gekommen sei. In ähnlich religiöser Diktion konstatierte die Kölnische Rundschau, dass sich Grass der „Blasphemie nicht enthalten kann“,¹⁹⁰ und beklagte Peter Hornung, der schon in seinem Titel Oskar als „Gotteslästerer“ bezeichnete, dass der Autor „zu diesen Ungeheuerlichkeiten sein Einverständnis“ erteile.¹⁹¹ Auch das Deutsche Pfarrerblatt monierte die „Anhäufung des OffenObszönen“¹⁹² und Blöcker vermutete, dass Grass das Obszöne brauche, um pro-
Braun: Constructing Authorship in the Work of Günter Grass, S. 5. Günter Blöcker: Rückkehr zur Nabelschnur. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 71– 76. ohne Titel. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 127– 128, hier S. 128. Werner Wien: Trauermarsch auf der Blechtrommel. Ist Günter Grass ein Weltautor? In: Christ und Welt vom 17.12.1959. Ni.: Günter Grass: „Die Blechtrommel“. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 130 – 131, hier S. 131. Vgl. Ludwig Steinkohl: Ein Trommler geht auf die Nerven. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 139 – 141; Herbert Becher: Die Blechtrommel – und ihre Kritiker. In: Echo der Zeit vom 13.03.1960. Grözinger: Zeichen an der Wand, S. 176. Müller-Eckhard: Die Brechtrommel. Hornung: Oskar Matzerath – Trommler und Gotteslästerer, S. 51. Wilhelm Horkel: ohne Titel. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 137– 138, hier S. 136.
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duktiv zu werden.¹⁹³ Am vehementesten kritisierte Karl August Horst den Roman, der mit Bezug auf die Literatur der Nachkriegszeit konstatierte: „Zwar fehlte es auch bisher gewiß nicht an blasphemischen Äußerungen, aber hier wird das Metaphysische konsequent auf Physisches reduziert, wird aus der Höhe eine umgekehrte Tiefe gemacht.“¹⁹⁴ Als geschmacklos wurden solche Passagen von der WAZ und von Reich-Ranicki in der Zeit bezeichnet.¹⁹⁵ Allerdings verstanden manche Kritiker Charakterisierungen von Passagen als obszön oder blasphemisch nicht als Tadel.¹⁹⁶ So fühlte sich der Rezensent des Darmstädter Echos durch die „bewußte Herausforderung durch Lästerung und Obszönität“¹⁹⁷ an Rabelais erinnert und erkannte der Evangelische Digest in den Lästerungen Oskars die Suche nach dem „unbekannten Gott“.¹⁹⁸ Auch Theodor Wieser betonte im Merkur, dass es die Bindungen an die katholische Kirche seien, die dem Helden und Erzähler die Lästerungen eingäben.¹⁹⁹ Theoretisch fundierter verteidigten Enzensberger und Becker die als blasphemisch oder obszön bezeichneten Passagen. Schuld sei nicht der Autor, sondern die Welt, die er demaskiere. Grass sei eine realistische Darstellungsweise eigen, die Enzensberger zufolge keine Tabus kenne und die Welt in ihrem eigenen Licht darstelle.²⁰⁰ Auch Becker konstatierte den Sieg des Realismus über die Wirtschaftswunderwelt, die davon nichts wissen wolle: „Das Drastische, das Eklige, ja, das Obszöne und selbst die Blasphemie werde so zu, wenn auch rüden, Trotzgebärden der Wahrhaftigkeit.“²⁰¹ Ganz auf dieser Linie verteidigten auch Kaiser, Höllerer und Baumgart die Amoralität des Autors, die, wie Kaiser hervorhob, keine Unmoralität sei. Auch wenn Grass alles berühre, als sei es
Vgl. Blöcker: Rückkehr zur Nabelschnur, S. 74 f. Karl A. Horst: Blasphemische Reduktion. In: Wort und Wahrheit 15 (1960), H. 1, S. 76 – 77, hier S. 76. Vgl. -lm: Oskar schlägt die Trommel. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 70 – 71; Marcel Reich-Ranicki: Auf gut Glück getrommelt. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 116 – 121, hier S. 118. In Die Welt bezieht Jost Nolte die These, dass in dem Roman „Situationen der Hybris, auf die keine Nemesis folgt“ geschildert werden, auf den Erzähler und Helden, nicht auf den Autor. Vgl. Jost Nolte: Oskar, der Trommler, kennt kein Tabu. Eine Geschichte, die Grimmelshausen hätte erfinden können – Ein pralles Stück Prosa: Günter Grass’ „Die Blechtrommel“. In: Die Welt vom 17. 10.1959. Helmut Braem argumentiert wenig später in der Stuttgarter Zeitung ganz ähnlich. Vgl. Braem: Narr mit dem Janusgesicht. gh.: In die Ohren getrommelt. sb.: Das Ärgernis der „Blechtrommel“. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 149 – 150, hier S. 151. Vgl. Wieser: Die Blechtrommel – Fabulierer und Moralist, S. 87. Vgl. Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834. Becker: Auf Grimmelshausens Spuren, S. 59.
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„antastbar“,²⁰² treibe er diesen „Tastbildern“ jedoch,²⁰³ anders als die Pornografie, alles Genüssliche aus. Hielt sich die Erregung des Feuilletons also in Maßen, zum Skandal kam es schließlich doch. Ausschlaggebend hierfür war eine Entscheidung des Senats der Freien Hansestadt Bremen. Nachdem die vom Senat bestellte Jury sich dafür ausgesprochen hatte, nach Ilse Aichinger, Ernst Jünger, Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Rolf Schroers den Bremer Literaturpreis im Jahr 1960 an Günter Grass zu vergeben, ließ der Bremer Senat die Juroren wissen, dass er der Empfehlung nicht nachkommen wolle. In dem Brief an die Juroren heißt es: Der nach eingehender Beratung getroffene negative Beschluß findet insbesondere darin seine Begründung, daß eine Auszeichnung durch die Landesregierung, wie sie der Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen darstellt, eine Diskussion in der Öffentlichkeit hervorrufen würde, welche nicht den unbestrittenen literarischen Rang des Buches, wohl aber weite Bereiche des Inhalts nach außerkünstlerischen Gesichtspunkten kritisieren würde.²⁰⁴
Diese Begründung vermag noch heute Erstaunen hervorzurufen. Sie akzeptiert nicht nur außerkünstlerische Gesichtspunkte für die Beurteilung von Literatur, sondern gibt die bloße Vermutung, dass die Auszeichnung kritisiert werden könnte, als Grund dafür an, den Vorschlag der Juroren abzulehnen.Wie schon bald bekannt wurde brach die Polemik gegen das Buch schon in der Senatssitzung los und vertrat dort insbesondere die Senatorin für das Jugendwesen die Meinung, dass einige Kapitel von Die Blechtrommel auf den Index jugendgefährdender Schriften gesetzt werden müssten.²⁰⁵ Allerdings zeigt die Begründung des Senats auch, dass die aus politischen, moralischen und religiösen Überlegungen resultierenden Verurteilungen des Romans im Feuilleton als Indizien für eine ablehnende Haltung der Öffentlichkeit interpretiert werden konnten. Beurteilungen des Romans als obszön, blasphemisch oder unmoralisch fanden so ihre Würdigung. Die Skandalisierung des Romans durch den Senat blieb natürlich nicht unwidersprochen, sondern setzte eine Dynamik in Gang, die aus den Skandalisierern die Skandalisierten machte. Waren die Bremer Senatorinnen und Senatoren der Meinung, der Roman sei ein Skandal, so wurde nun die Verweigerung der
Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834. Walter Höllerer: Roman im Kreuzfeuer. In: Franz J. Görtz (Hg.): „Die Blechtrommel“. Attraktion und Ärgernis. Darmstadt 1984, S. 108 – 112. Zitiert nach: Hans Schwab-Felisch: Ein Tauerspiel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.12.1959. Vgl. dr.: „Die Blechtrommel“. Äußerungen aus dem Bremer Senat. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.01.1960.
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Preisvergabe zum Skandal. Die FAZ konstatierte in einem Bericht mit dem Titel „Ein Trauerspiel“: Der Senat der Freien Hansestadt Bremen hat mit einer nicht mehr diskutablen Entscheidung ein Präjudiz geschaffen, das der Freiheit der Literatur einen empfindlichen Schlag versetzen müßte, würde es jemals Schule machen.²⁰⁶
Dementsprechend forderte Die Welt die Stadt Bremen dazu auf, ihren Preis aufzugeben: Denn welcher Dichter, der auf sich hält, könnte sich nach diesem beschämenden staatspolitischen Beschluß, der die Freiheit der Jury und damit die Freiheit der Kunst so brüskiert, noch dazu hergeben, einen Bremer Literaturpreis anzunehmen?²⁰⁷
War zuvor Grass der Skandalisierte, wurde es nun der Bremer Senat. Es reagierte aber nicht nur die Presse. Nachdem die Juroren vom Senat über die Nichtverleihung des Preises informiert worden waren, legten drei der sieben Preisrichter ihre Ämter nieder: der Literaturwissenschaftler Benno von Wiese, der Schriftsteller und Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel Erhart Kästner sowie Rudolf Hirsch vom Fischer Verlag. Die ehemaligen Preisträger Paul Celan und Ingeborg Bachmann drückten dem Senat gegenüber ihr Befremden aus.²⁰⁸ Manfred Hausmann, der auch Mitglied der Jury war, jedoch an der Sitzung, die sich einstimmig für Grass aussprach, krankheitsbedingt nicht teilnahm, ließ hingegen verlauten, dass er Grass den Preis nicht zugesprochen hätte und die Entscheidung des Senats unterstütze.²⁰⁹ Hausmann berief sich auf den von ihm verehrten Rudolf Alexander Schröder, den Namenspatron des Preises, und reproduzierte damit die Spannungen zwischen der Inneren Emigration und der ‚jungen Generation‘, die im zweiten Kapitel analysiert worden sind.²¹⁰ Bücher wie Die Blechtrommel, so
Schwab-Felisch: Ein Tauerspiel. Die Welt, 30.12.1959. Zitiert nach: Wolfgang Emmerich (Hg.): Der Bremer Literaturpreis 1954– 1998. Reden der Preisträger und andere Texte. Bremerhaven 1999, S. 91. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 90. Ein privater Brief Rudolf Alexander Schröders an den Bremer Senator Dehnkamp lässt erkennen, dass Hausmann durchaus im Sinne des Namenspatrons gehandelt hat. Letzterer erklärt dort, dass er aufgrund einer zunehmenden Sehschwäche Die Blechtrommel nicht gelesen habe, konstatiert dann aber: „Ich habe mich aber eigentlich darüber gefreut, daß einmal eine kräftige Reaktion seitens der Preisstifter erfolgt ist.Wir leben seit längerem in einer Zeit, in der die Dichter, Musiker und Maler usw. sich gebärden als hätten sie allein das Sagen in der Welt, was doch eben nun nicht stimmt“. Zitiert nach: Ebd., S. 94. Grass selbst nutzte dreizehn Monate später eine Rubrik
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Hausmann, zerstörten die „menschliche Seele“.²¹¹ Die anschließenden Verhandlungen zwischen dem Senat und den verbliebenen Juroren dauerten 15 Monate und führten dazu, dass auch 1961 der Preis nicht vergeben werden konnte. Schließlich erfolgte die Gründung der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung, die den Preis ohne Vetorecht des Senats vergeben sollte.²¹² Angesichts dieses Resultats kann davon gesprochen werden, dass sich das literarische Feld hier mit dem Anspruch auf Autonomie gegenüber der Politik behauptete. Der Versuch, die Grass’sche Prosa zu skandalisieren, ihr Blasphemie und Pornografie zu unterstellen, sollte sich anlässlich der Veröffentlichung von Katz und Maus allerdings wiederholen.
1.4.2 Katz und Maus Grass’ Debütroman wurde als ein Bruch mit den moralischen und religiösen Normen der Zeit verstanden, für den der Autor die Verantwortung trage. Mit diesem Autorschaftsmodell wurde Grass nach der Veröffentlichung von Katz und Maus in vielen Rezensionen erneut konfrontiert. So konstatierte der Spiegel über Grass: „[S]ein durch die ‚Blechtrommel‘ begründetes Renommee als Spezialist für Unappetitlichkeiten und Obszönitäten hat er nicht aufs Spiel gesetzt“.²¹³ Auch Walter Widmer stellte in der National-Zeitung aus Basel den Autor in den Mittelpunkt: „Baal, der hemmungslose, rücksichtslose, amoralische Daseinsgenießer, tritt wieder auf und schert sich einen Dreck um die Gefühle der Prüden, der Äs-
der Zeit, in der Autorinnen und Autoren eigentlich ihr Lieblingsgedicht vorstellen, dazu, mit der Lyrik Schröders abzurechnen. Vgl. Günter Grass: Mein Gedicht. In: Die Zeit (1961), H. 7, S. 12. Wk: Der Schlag auf die „Blechtrommel“. Die Bremer Literaturpreis-Jury ist zerfallen. In:Weser Kurier vom 30.12.1959. Zitiert nach: Heinz L. Arnold, Franz J. Görtz (Hgg.): Günter-Grass-Dokumente zur politischen Wirkung. Stuttgart u. a. 1971, S. 272. Allerdings war ein Vetorecht auch in der Urkunde über die Stiftung eines Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen aus Anlaß des 75. Geburtstages von Rudolf Alexander Schröder nicht vermerkt. Im Passus, auf den sich die Senatoren beriefen, hieß es, dass der Preis „alljährlich möglichst ungeteilt auf Vorschlag des Preisrichterkollegiums am 26. Januar vom Senat verliehen“ werde. Emmerich: Der Bremer Literaturpreis 1954– 1998, S. 525. Wie ein ausführlicher Artikel im Weser-Kurier konstatierte, sind die Statuten unklar, hätte man aber zu der Ansicht kommen können, „es sei allein Sache der Jury, den jeweiligen Preisträger auszuwählen. Der Senat nehme dann lediglich die Verleihung vor; er habe also im Wesentlichen eine ausführende und repräsentative Funktion.“ Wk: Der Schlag auf die „Blechtrommel“. Zitiert nach: Arnold und Görtz: Günter-Grass-Dokumente zur politischen Wirkung, S. 272. Keine Erwähnung fand im Presseecho hingegen der Passus der Stiftungsurkunde, in dem es heißt, dass die Auswahl „nach künstlerischen Gesichtspunkten“ erfolge, obwohl die explizit auf außerkünstlerischen Kriterien fußende Ablehnung des Romans durch den Bremer Senat hierzu im Widerspruch stand. Dingslamdei. In: Der Spiegel (1961), H. 42, S. 88 – 91.
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theten, der Frommen.“²¹⁴ Der Tabubruch verschob die Aufmerksamkeit vom Text zum Autor, auch in der Rezension von Joachim Kaiser: „Im Zirkus unserer Literatur hat Grass die Unbefangenheit eines Raubtieres; er scheut weder den Marienkultus, noch das äußerste, pornographische Wagnis.“²¹⁵ Die Welt sprach ebenfalls von einem „Anschlag auf das Tabu“,²¹⁶ der die Novelle als Nachfolger des Debütromans ausweise. Jedoch zeigten sich die meisten Rezensenten von dieser Provokation nicht mehr schockiert: „Man kennt das alles schon.“²¹⁷ Marcel Reich-Ranicki zeigte sich auch aus diesem Grund enttäuscht: „Der Erzählung Katz und Maus haftet nichts Sensationelles an, sie ist nur ein kleines Nebenwerk.“²¹⁸ Mit dieser These traf Reich-Ranicki den Tenor der literaturkritischen Reaktionen auf Katz und Maus: Die Novelle stand im Schatten von Die Blechtrommel. Der starke Eindruck, den Grass’ Romanerstling hinterlassen hatte, lässt sich auch an der Verwunderung ablesen, mit der viele Rezensentinnen und Rezensenten auf die Kürze des neuen Prosatextes reagierten. Dass der Autor des über siebenhundert Seiten zählenden Romans Die Blechtrommel nun eine Novelle von nicht mal zweihundert Seiten vorlegte, verwunderte viele Literaturkritiker. Ein quantitativer Vergleich der beiden Werke fand sich daher in zahlreichen Besprechungen und führte manchmal zu negativen Urteilen, wie im Spiegel, der von Katz und Maus als „Art Nachtrag zu seinem großen Erstlingsroman, einem Beispiel literarischer Resteverwertung“ sprach.²¹⁹ Des Weiteren fällt auf, dass die meisten Rezensionen sich mit dem Novellenbegriff auseinandersetzten. Der Verlag hatte mit seinem Klappentext dazu angeregt. Den Anfang machte Karl Korn, der in der FAZ ausführlich auf die Novellentheorie rekurrierte.²²⁰ Es folgte eine Besprechung Hellmuth Karaseks in der Stuttgarter Zeitung, die auf die Falkentheorie Paul Heyses einging, und eine Rezension in Bücherkommentare, die der Novellendefinition ebenfalls viel Platz einräumte.²²¹ Letztere bezog sich aber nicht auf Heyse, sondern auf Goethe, dessen Novellendefinition der Verlag im Klappentext erwähnte. Dieser Bezug mag provoziert haben, denn einige Rezensenten verwehrten
Widmer: Baal spielt Katz und Maus. Zitiert nach: Loschütz:Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik, S. 34. Joachim Kaiser: Die Unbefangenheit des Raubtiers. In: Süddeutsche Zeitung vom 07.10.1961. Jost Nolte: „Ich schreibe, denn das muß weg“. Ein neuer Günter Grass. In: Die Welt vom 19.10. 1961. Kaiser: Die Unbefangenheit des Raubtiers. Marcel Reich-Ranicki: Die Geschichte des Ritterkreuzträgers. In: Die Zeit (1961), H. 46, S. 19. Dingslamdei. In: Der Spiegel (1961), H. 42, S. 88 – 91. Vgl. Karl Korn: Epitaph für Mahlke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.10.1961. Vgl. Hellmuth Karasek: Der Knorpel im Hals. Zu der Novelle von Günter Grass. In: Stuttgarter Zeitung vom 11.11.1961; G. D. Schlossarek: Eine Novelle von Günter Grass. In: Bücherkommentare vom 15.11.1961.
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dem Buch die Gattungsbezeichnung ‚Novelle‘. Marcel Reich-Ranicki widersprach in der Zeit ²²² und auch Jost Nolte legte in der Welt energisch sein Veto ein: Grass hat, laut Untertitel, eine Novelle schreiben wollen, die Darstellung einer ‚unerhörten Begebenheit‘, wie Goethe diese Form genannt hat, und soweit der Verlag die Definition im Klappentext anführt, trifft sie auf Katz und Maus auch zu; eine Novelle ist trotzdem nicht entstanden, denn dazu gehört noch anderes: vor allem ein geschlossener Bau und ein nahezu objektiver Berichtstil, aus dem sich der Erzähler heraushält.²²³
Nolte urteilt hier nicht abwertend, sondern wehrt sich gegen die Identifikation mit einer Gattung, die ihm zufolge zu den charakteristischen Zügen der Grass’schen Prosa im Widerspruch stehe: „Günter Grass ist bei seinen Leisten geblieben, er hat einen schmalen, aber nichtsdestoweniger wildwuchernden Roman geschrieben.“²²⁴ Nolte besprach Katz und Maus also vor dem Hintergrund von Grass’ Image, das durch seinen Debütroman geschaffen wurde. Das traf auf Reinhard Baumgart ebenfalls zu, der in Neue deutsche Hefte jedoch ungleich kritischere Worte fand. Habe sich Grass’ Stil auch „aus den Üppigkeiten der Blechtrommel herausgemausert“, so vermisse man trotz der thematischen Kontinuität die grellen Dissonanzen des Debütromans: „Jetzt hört sich das gleiche an wie einstudiert.“²²⁵ Aufschlussreich ist das Bild aus der Botanik, mit dem der Rezensent sein Urteil rhetorisch plausibilisiert. Das wilde Wachstum von Die Blechtrommel habe zu Seitentrieben geführt: „Einen solchen Seitentrieb hat Günter Grass jetzt zurechtgeschnitten und herausgegeben als ‚Novelle‘.“²²⁶ Auch Baumgart sieht in der Novelle demnach eine Gattung, die den Autor Grass zu stark beschneide. In Baumgarts Rezension drückt sich zudem ein gewisser Paternalismus aus, denn im letzten Satz kontextualisiert er sein negatives Urteil wie folgt: „Vielleicht ist es aber ganz im Sinne des Autors, der diesen Lückenbüßer lässig zwischen zwei großen Romanen ausgesetzt hat, wenn wir auf sein drittes erzählendes Buch weiter warten als auf sein eigentliches zweites.“²²⁷ Baumgart bezieht sich auf Grass’ Aussage im Spiegel, dass er die Novelle aus seinem neuen Romanprojekt, aus dem Hundejahre hervorgehen sollte, ausgekoppelt habe.²²⁸ Mit seinem Kommentar, der sowohl Hoffnung auf die weitere schriftstellerische Entwicklung eines jungen Autors als
Vgl. Reich-Ranicki: Die Geschichte des Ritterkreuzträgers. Nolte: „Ich schreibe, denn das muß weg“. Ebd. Reinhard Baumgart: Günter Grass: Katz und Maus. In: Neue deutsche Hefte (1962), H. 85, S. 153 – 154, hier S. 153. Ebd. Ebd., S. 154. Vgl. Dingslamdei. In: Der Spiegel (1961), H. 42, S. 88 – 91.
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auch den Versuch der Einflussnahme auf eben diese Entwicklung ausdrückt, stand Baumgart nicht allein. Zuvor hatte schon Humbert Fink in der Deutschen Zeitung mit den folgenden Worten geschlossen: „Bei allem aber ist das Werk wohl nur eine Ouvertüre, vielleicht ein Atemholen zwischen zwei großen Leistungen, das uns auf den kommenden Roman nur noch neugieriger macht.“²²⁹ Entrüstung und Empörung drückte sich nur selten in den Rezensionen von Katz und Maus aus. Eine Ausnahme bildeten die Publikationsorgane der Soldatenverbände und Zeitschriften, die sich der Pflege des Soldatentums verschrieben hatten. So sprach ein Artikel in Das Ritterkreuz vom April 1962 davon, dass sich Grass der „Diskriminierung des Soldatischen“ schuldig mache und die Darstellung des Ordens in der Novelle skandalös sei.²³⁰ Auch Leserbriefe im Spiegel dokumentieren die Empörung, die das Buch unter Verteidigern der soldatischen Ehre auslöste.²³¹ Dennoch blieben Skandalisierungen die Ausnahme.²³² Das gilt selbst für Besprechungen, die dem Autor eine „Besessenheit in der Akribie des Sexuellen“ attestierten,²³³ da sie sich gleichzeitig betont gelassen gaben: „Man ist des Themas langsam müde.“²³⁴ Empörung signalisierte auch der Rezensent der Zeitschrift Die Kultur nicht, obwohl er pornografische Elemente zu erkennen vermochte. Stattdessen vermutete er marktwirtschaftliches Geschick: „Das sind 178 Seiten Tröpfelbier Danziger Assoziationen, von Autor und Verleger ins kommerzielle Kielwasser der Blechtrommel gehängt, schnell noch, bevor es verrinnt.“²³⁵ Kann also analog zur Rezeption von Die Blechtrommel davon gesprochen werden, dass das Werk von der Literaturkritik nicht skandalisiert wurde, so verursachte doch auch Grass’ zweite Prosaveröffentlichung einen Skandal. Das hessische Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen stellte am 28.9.1962 einen Antrag an die Bundesprüfstelle auf Aufnahme in die Liste der jugendgefährdenden Schriften, da die Novelle nach Ansicht des Ministeriums „zahlreiche Schilderung von Obszönitäten, die geeignet sind, Kinder und Ju-
Humbert Fink: Gut, besser, fast am besten. In: Deutsche Zeitung vom 25.11.1961. Nur mit der Zange anzufassen! In: Gert Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied und Berlin 1968, S. 48 – 50. Vgl. Dingslamdei. In: Der Spiegel (1961), H. 42, S. 88 – 91. Für einen weiteren Skandal sorgte die Verfilmung der Novelle im Jahr 1966. Vgl. Preece: The Life and Work of Günter Grass, S. 48 f. Schlossarek: Eine Novelle von Günter Grass. Ebd. Richard R. Roth: Im kommerziellen Kielwasser der „Blechtrommel“. In: Die Kultur (1961), H. 168, S. 86.
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gendliche sittlich zu gefährden“,²³⁶ enthalte. Dieser Antrag wurde jedoch schon zwei Monate später zurückgezogen und das Verfahren der Bundesprüfstelle eingestellt. Der hessische Minister teilte dem Luchterhand Verlag schließlich im Januar 1963 auf Anfrage mit, dass der Antrag ohne sein Wissen gestellt worden sei.²³⁷ Vermutlich hatte die Ankündigung des Verlags, zahlreiche Fachgutachten für die kommende Verhandlung bereitzustellen, Einfluss auf die Rücknahme des Antrags. Jedenfalls bescheinigten die nach der Einstellung des Verfahrens dem hessischen Ministerium zugeschickten Gutachten der Professoren Walter Jens und Fritz Martini, des Präsidenten der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Kasimir Edschmid, und das Gutachten von Hans Magnus Enzensberger der Grass’schen Novelle einen künstlerischen Charakter. Für eine Analyse des Autorschaftsmodells kann auf eine genauere Erörterung der Gutachten und des Schriftwechsels mit Ministerium und Prüfstelle verzichtet werden. Der Umstand jedoch, dass durch diesen Angriff auf die Autonomie der Kunst Grass die Medienöffentlichkeit weiterhin als ein Autor beschäftigte, dessen Kunst vor Obszönem und Blasphemischem nicht zurückschrecke, verdient es, festgehalten zu werden. Katz und Maus empörte nicht nur das hessische Ministerium, sondern auch Kurt Ziesel, der als Publizist schon zuvor gegen die Gruppe 47 sowie gegen Arno Schmidt gewettert hatte und 1962 mit seinem Buch Die Literaturfabrik zum Rundumschlag gegen die politisch engagierte Literatur ausholte. Ziesel zeigte Grass am 23. Juni 1962 wegen ‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘ an, hatte aber ähnlich wie das hessische Ministerium keinen Erfolg. Das Verfahren wurde mit dem Verweis auf die Freiheit der Kunst eingestellt.²³⁸ Dennoch beschäftigte Ziesel Gerichte und Medien noch für einige Jahre. Nachdem ihm Grass gerichtlich untersagen wollte, ihn weiterhin einen „Verfasser übelster pornographischer Ferkeleien und Verunglimpfungen der katholischen Kirche“ zu nennen, konnte Ziesel 1969 einen juristischen Erfolg vor dem Münchener Oberlandesgericht erlangen, welches ihm gestattete, eben diese Bezeichnung im literaturkritischen Kontext weiterhin zu verwenden.²³⁹ Das juristische Nachspiel von Katz und Maus demonstriert die politische Sprengkraft der Grass’schen Autorschaft. Gestritten wurde nicht nur um das literaturkritische Urteil, sondern auch darum, ob die
Volkswohlfahrt u. G. Hessischer Minister für Arbeit: Antrag auf Aufnahme in die Liste der jugendgefährdenden Schriften. In: Gert Loschütz (Hg.): Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied und Berlin 1968, S. 51– 52, hier S. 51. Vgl. für meine Rekonstruktion der Vorgänge die von Loschütz zusammengestellten Dokumente: Loschütz: Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik, S. 51– 69. Vgl. Arnold und Görtz: Günter-Grass-Dokumente zur politischen Wirkung, S. 305 f. Vgl. Marcel Hepp: Unangenehm für Grass. In: Gert Loschütz (Hg.):Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Eine Dokumentation. Neuwied und Berlin 1968, S. 323.
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Grass’sche Prosa überhaupt als Kunst anzusehen sei. Für Ziesel jedenfalls war Grass kein Künstler, sondern ein „linksintellektueller Pornograph“.²⁴⁰ Grass’ Image als ein Autor, der sich mit seiner Kunst gesellschaftspolitisch und religiös positionierte, wurde so noch gestärkt. Über Grass sprachen nicht nur seine Leserinnen und Leser.
1.4.3 Hundejahre Dass Grass mit seinen beiden ersten Prosatexten weit über die Grenzen des literarischen Felds bekannt wurde, mag das Medieninteresse an seinem 1963 publizierten Roman Hundejahre erklären, der später als dritter Teil der Danziger Trilogie ²⁴¹ bezeichnet wurde. Zusammenfassend sprach der Industrie Kurier Ende Oktober 1963 jedenfalls von einem „Presseecho ohnegleichen“²⁴² und stellte Paul Hübner im gleichen Monat in der Rheinischen Post fest, dass sich die deutsche Literaturkritik ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert habe.²⁴³ Grass’ zweiter Roman markierte in der Tat den Endpunkt eines Literaturjahres, in dem die bundesrepublikanischen Autorinnen und Autoren von sich Reden machten. Ich habe schon in meinen Ausführungen zu Böll darauf hingewiesen, dass Grass’ Hundejahre, Bölls Ansichten eines Clowns und Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter die Bestseller des Jahres waren und allesamt für reichlich Konfliktstoff sorgten. Anlässlich des Erscheinens von Hundejahre inszenierte Die Zeit dann auch wie schon bei Böll eine Debatte unter Kritikern: Walter Jens verriss den ‚neuen Grass‘, Klaus Wagenbach verteidigte ihn in der gleichen Ausgabe und Ivan Nagel pries den Roman drei Wochen später im gleichen Wochenblatt.²⁴⁴ Arnold verweist zudem auf das neue Niveau der Medienpräsenz: Grass las aus seinem Roman schon vor
Kurt Ziesel: Die Literaturfabrik. Eine polemische Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb im Deutschland von heute. Wien 1962, S. 73. Enzensberger sprach in seiner Rezension schon von der „Danzig-Saga“. Enzensberger: Günter Grass „Hundejahre“, S. 70.Von einem Autor der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung wurde dieser Begriff sofort aufgenommen. Vgl. Erich Brost: Die Danzig-Saga des Günter Grass. Zu dem Roman „Hundejahre“, erschienen bei Luchterhand. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 21.09.1963. Fr. E. Lüdtke: Triumph der Pornographie. Die „Hundejahre“ des Günter Grass. In: Industrie Kurier vom 19.10.1963. Vgl. Paul Hübner: Am Fall Grass und am Fall des Vogelscheuchengelächters der „Hundejahre“. In: Rheinische Post vom 05.10.1963. Vgl. Jens: Das Pandämonium des Günter Grass; Klaus Wagenbach: Jens tadelt zu unrecht. In: Die Zeit (1963), H. 38, S. 17; Ivan Nagel: Günter Grass’ „Hundejahre“. Breit ist der Strom der Erinnerung. In: Die Zeit (1963), H. 39, S. 19.
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dessen Erscheinen im Fernsehen.²⁴⁵ Die Marketingarbeit des Verlags tat ihr übriges: „Man raunte Erstaunliches von diesem Buch. Verlagspropaganda reizte die Erwartungen mächtig an“.²⁴⁶ Die Publikationsgeschichte von Hundejahre demonstriert einen Mechanismus, der in der Konsumforschung als ‚Erfolgsdeterminismus‘ bezeichnet wird: Der anfängliche Verkaufserfolg eines Bestsellers erhöht die weitere Nachfrage und wirkt wie eine „sich selbst erfüllende[] Prophezeiung“.²⁴⁷ Der Luchterhand Verlag nutzte diese Markt- und Mediendynamik geschickt, als er im Juli 1963 in einem Verlagsprospekt der Presse und interessierten Öffentlichkeit mitteilte, dass die ersten beiden Auflagen des in sechs Wochen erscheinenden Romans schon vergriffen, die dritte und vierte Auflage aber in Vorbereitung seien. ‚Grass‘ war zu einem Markennamen geworden, wie der Verlag auf der Rückseite des Prospekts betonte: „Grass, dem es in diesem Punkt ähnlich wie Heinrich Böll geht, kann heute sicher sein, ein Lesepublikum zu finden, gleichgültig was er schreibt.“²⁴⁸ Klaus Rainer Röhl sprach in konkret aufgrund der immensen Vorbestellungen des Buchhandels daher von einem „Bestseller auf Vorschuß“.²⁴⁹ Wie ich schon am Anfang meiner Darstellung der literaturkritischen Rezeption der Danziger Trilogie ausgeführt habe, tauchten in den Rezensionen von Hundejahre die Attribute wieder auf, die schon für die Charakterisierung von Die Blechtrommel genutzt worden waren. Dies gilt sowohl für positive als auch für negative Urteile. Gelobt wurde erneut die „unerschöpfliche[] Fabulierkunst“,²⁵⁰ die „Synthese von überquellender Phantastik mit peinlichstem Realismus“,²⁵¹ die „rabelaissche Fülle“²⁵² und „barocken Wortkaskaden“²⁵³ des Buchs sowie der
Vgl. Arnold: Blech getrommelt, S. 32. Roland H.Wiegenstein: Noch ein Vorschlag, Günter Grass zu verstehen. In: Frankfurter Hefte 18 (1963), H. 12, S. 870 – 873. Marc Keuschnigg: Das Bestseller-Phänomen. Die Entstehung von Nachfragekonzentration im Buchmarkt. Wiesbaden 2012, S. 109. Die Information und das Zitat entnehme ich: Jürgen P. Wallmann: Die „heiser geheulten Hundejahre“. Zum neuen Buch von Günter Grass. In: Echo der Zeit vom 22.09.1963. Eine sehr ähnlich lautende Einschätzung findet sich dann auch in einer Rezension im Mittag: „Böll hat seinen Leserkreis, der kauft Bölls Namen, nicht seine Literatur. Und es ist berechtigter Anlaß gegeben zu der Befürchtung, daß es sich bei dem neuen Buch von Günter Grass […] ähnlich verhalten wird.“ Klaus U. Reinke: Leider ein Ballon, dem die Luft ausgeht. In: Der Mittag vom 14.09.1963. Klaus-Rainer Röhl: Bestseller auf Vorschuß. In: Konkret (1963), H. 9, S. 23 – 24. Jenny: Günter Grass: Alles und Nichts und noch mehr. Johann Siering: Günter Grass: Hundejahre. In: Neue deutsche Hefte (1963), H. 16, S. 131– 134, hier S. 133. Kuhn: Ei wai, schalle machai! oder: Wie Grass auf den Hund kam.
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„Einfallsreichtum“²⁵⁴ des Autors. Bezeichnet wurde Grass als „bedeutende[r] Epiker“ und „Nimmersatt der Fabulierlust“²⁵⁵ sowie als „wahrer Großmeister an Fabuliersucht“.²⁵⁶ Der Roman sei „voller barocker, saft- und kraftvoller Bilder“²⁵⁷ und kein anderer Autor der Nachkriegszeit vermöge „so bildhaft zu schildern“.²⁵⁸ Aber auch die kritischen Töne erinnern an die Einwände gegen Die Blechtrommel. Beanstandet wurden wieder einmal die „kleinbürgerliche[n] Plüsch-Obszönitäten“,²⁵⁹ „eine fast pathologische Vorliebe für die exakte Beschreibung unappetitlicher Vorgänge“,²⁶⁰ die „monströse[n] Schweinigeleien“²⁶¹ und „zotigen Geschmacklosigkeiten“²⁶² des Buchs sowie eine durch dieses verbreitete „Fäkalienatmosphäre“.²⁶³ Der Autor lasse keine Gelegenheit aus, das Leben „bis in seine Scheußlichkeiten bloßzulegen“.²⁶⁴ Große Teile des Romans, pflichteten andere Besprechungen bei, spielten sich im „Bereich des Unappetitlichen“²⁶⁵ ab und überschritten die „Grenze zur Blasphemie“.²⁶⁶ Andere Rezensenten erkannten ein „unkünstlerisches Versinken im Morast“²⁶⁷ und einige wenige warnten gar vor der die Sitten gefährdenden Wirkung des Romans. „Gift“ seien Grass’ „Bücher für alle unreifen Leser“, hieß es in einer Besprechung der Hundejahre mit dem be-
HB: Des Danziger Spötters dritter Streich. Günter Grass beschreibt mit Wortkaskaden die deutschen „Hundejahre“. In: Weser Kurier vom 07.09.1963. Heinz Brüdigam: Geschichten, Legenden, Erzählungen. Ein Roman, der keiner ist: Die „Hundejahre“ von Günter Grass. In: Die Andere Zeitung vom 19.09.1963. Rolf Michaelis: Höllenfahrt mit Günter Grass. Das Buch der Saison: „Hundejahre“ – der zweite große Roman des Autors. In: Stuttgarter Zeitung vom 07.09.1963. Bernhard Häußermann: Ein Buch, in dem es päsert und funkert. Zu Günter Grass’ neuem Roman „Hundejahre“. In: Hannoversche Allgemeine vom 07.09.1963. Gottlieb Betzner: „Hundejahre“ oder ein Volk von Vogelscheuchen? Das neue Buch von Günter Grass im Luchterhand-Verlag. In: Deutsche Volkszeitung vom 11.10.1963. Brost: Die Danzig-Saga des Günter Grass. Jens: Das Pandämonium des Günter Grass. M. E.: Günter Grass: Hundejahre. In: Bücherblatt 27 (1963), H. 12, S. 34. Reinke: Zwischen Enttäuschung und Hoffnung. Hübner: Am Fall Grass und am Fall des Vogelscheuchengelächters der „Hundejahre“. Bernhard Gervink: Vor die Hunde gegangen. „Hundejahre“ – der neue Roman von Günter Grass. In: Westfälische Nachrichten vom 26.10.1963. Hans Gensecke: Die „Hundejahre“. Das vierte Buch von Günter Grass. In: Telegraf vom 08.09. 1963. Heinz Mudrich: Dreht euch nicht um! Der Knirscher geht um! Günter Grass: „Hundejahre“ – ein deutsches Panorama? In: Kölnische Rundschau vom 13.09.1963. Wallmann: Die „heiser geheulten Hundejahre“. Hübner: Am Fall Grass und am Fall des Vogelscheuchengelächters der „Hundejahre“.
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zeichnenden Titel „Triumph der Pornographie“.²⁶⁸ Auffällig ist allerdings, dass viele Rezensionen, die den Roman weder eindeutig positiv noch ausschließlich negativ besprachen, ein sehr gelassenes Verhältnis zu den hier angesprochenen Tabubrüchen einnahmen. So kam Curt Hohoff im Rheinischen Merkur zu einem ausgewogenen Urteil und schlug Grass, dem er „Vitalität“ und erzählerisches Talent bescheinigte, einfach vor, doch die „knabenhaften Blasphemien und die billigen Parodien“ zu unterdrücken.²⁶⁹ Walter Jens kritisierte die „BürgerschreckReprisen“²⁷⁰ und Rolf Michaelis bemängelte die „blasphemische[] Parodie biblischer Sprache“ und andere Angriffe auf den Geschmack, verwehrte sich aber gegen Reaktionen, die aufgrund von „Blasphemie, Gotteslästerung, Obszönität, Beleidigung der katholischen Kirche“ nach der Staatsanwaltschaft riefen.²⁷¹ Überwiegend positiv urteilende Rezensionen ließen erst recht Nachsicht gegenüber Grass walten, wenn sie lediglich konstatierten, dass auch in Hundejahre „jene kleine[n] Ferkeleien nicht fehlen“.²⁷² Heinrich Vormweg sprach den Tabubruch unumwunden an: „Es ist ein obszönes, ungerechtes und dazu auch noch ein blasphemisches Buch.“²⁷³ Jedoch, so der Rezensent, sei Hundejahre zugleich „ganz ohne Zweifel ein großer Roman“.²⁷⁴ Andere dem Autor zugetane Rezensenten betonten, dass die blasphemischen Gesten eigentlich nicht nötig seien. „Warum diese Angst vor dem Anstand?“,²⁷⁵ fragte etwa Kurt Lothar Tank, der 1965 die erste Monografie über den Shootingstar der deutschen Literaturlandschaft vorlegte.²⁷⁶ Über die Gründe für eine größere Gelassenheit dem satirischen Spott gegenüber spekulierte der Rezensent der Weltwoche: Liegt es an Grass oder an mir, dass ich die ‚Hundejahre‘ nicht mit der gleichen Erregung und Aufregung lese wie einst ‚Die Blechtrommel‘? Zum Teil liegt es wohl einfach daran, dass man
Lüdtke: Triumph der Pornographie. Für einen weiteren Versuch, den Roman aufgrund seiner Amoralität zu skandalisieren vgl. Hübner: Am Fall Grass und am Fall des Vogelscheuchengelächters der „Hundejahre“. Curt Hohoff: Die Welt der Vogelscheuchen. In: Rheinischer Merkur vom 15.11.1963. Jens: Das Pandämonium des Günter Grass. Michaelis: Höllenfahrt mit Günter Grass. Kuhn: Ei wai, schalle machai! oder: Wie Grass auf den Hund kam. Heinrich Vormweg: Apokalypse mit Vogelscheuchen. Des Günter Grass imposante „Hundejahre“. In: Deutsche Zeitung vom 31.08.1963. Ebd. Das gleiche Argument findet sich in: W. F.: Grass trommelt weiter. Das literarische Inferno der „Hundejahre“. In: Stuttgarter Nachrichten vom 05.10.1963. Kurt L. Tank: Der „neue Grass“ ist da! Wird der Roman „Hundejahre“ das Buch des Jahres? In: Welt am Sonntag vom 18.08.1963. Vgl. Tank: Günter Grass.
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diese grotesk-böse Weltsicht nicht mehr bestürzend und neu findet, dass man sich heimisch fühlt in Danzig-Langfuhr und in den Grassischen Wirtschaftswunder-Szenarien.²⁷⁷
Hier zeigt sich erneut die Bedeutung von Die Blechtrommel für die Wahrnehmung der Grass’schen Prosa, auf die ich schon in der Analyse des Presseechos von Katz und Maus hingewiesen habe. Auch die Rezensionen von Hundejahre erwähnten den erfolgreichen Debütroman des Autors oftmals am Anfang und verglichen die beiden Romane mehr oder weniger ausführlich.²⁷⁸ Viele Rezensionen gaben zu verstehen, dass sie von Grass den Tabubruch inzwischen erwarteten, indem sie ihn beispielsweise einen „skandalumwitterten Erfolgsautor“²⁷⁹ oder den „zornige[n] junge[n] Mann“ der deutschen Literatur nannten.²⁸⁰ Günter Blöcker konstatierte sogar: „Wer mit einem literarischen Gebilde wie der ‚Blechtrommel‘ vor die Öffentlichkeit getreten ist, hat ein für allemal die Verpflichtung zum Skandal auf sich geladen, und wehe, wenn er sie nicht einhält.“²⁸¹ Gegenüber der Blechtrommel, so der Rezensent des Bücherblatts ganz unaufgeregt, biete der Roman nicht viel Neues, sei der Autor „seiner sich als erfolgreich erwiesenen Manier treu geblieben“.²⁸² Dennoch prophezeiten einige Besprechungen einen Skandal. So schrieb Enzensberger, der schon anlässlich des Debütromans einen Skandal vorausgesagt hatte, dass man einigen Teilen des Romans „getrost eine skandalöse Berühmtheit prophezeien darf“,²⁸³ und konstatierte Tank: „Es wird um den neuen Roman von Günter Grass ‚Hundejahre‘ Streit geben wie um den ersten Roman ‚Die Blechtrommel‘.“²⁸⁴ Zu einem solchen Streit um den Roman kam es jedoch nicht. Noch weniger als Die Blechtrommel wurde Hundejahre vom Feuilleton skandalisiert.
Urs Jenny: Ein Hundetorso aus Kartoffelschalen. In: Die Weltwoche vom 04.10.1963. Die meisten Rezensionen, die in dem Vergleich der beiden Romane zu einem Werturteil kamen, bevorzugten Die Blechtrommel. Nur einige wenige Ausnahmen bewerten Hundejahre positiver. Vgl.Vormweg: Apokalypse mit Vogelscheuchen; Rainer Kabel: Grotesk ist zugleich auch moralisch. Die galligen Vogelscheuchen-Värtellchens von Günter Grass. In: Vorwärts vom 02.10. 1963. Kabel: Grotesk ist zugleich auch moralisch. gsch.: Bestseller des Jahres. In: Dortmunder Nord-West-Zeitung vom 18.12.1963. Günter Blöcker: Im Zeichen des Hundes. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.09.1963. M. E.: Günter Grass: Hundejahre. Enzensberger: Günter Grass „Hundejahre“. Kurt L. Tank: Die Diktatur der Vogelscheuchen. „Hundejahre“ – neuer Roman von Günter Grass. In: Sonntagsblatt vom 21.09.1963. Auch Urs Jenny äußerte sich in diesem Sinne: „Die Diskussion, ob Grass ein verzweifelter Moralist, oder ein amoralischer Zyniker, ein lästerlicher Ketzer oder ein heimlicher Katholik sei, wird so bald nicht enden.“ Jenny: Günter Grass: Alles und Nichts und noch mehr.
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Stattdessen bezog sich die Kritik der großen Mehrzahl der Rezensionen auf einen anderen Aspekt: Bemängelt wurde auch von positiv gestimmten Rezensenten die mangelnde Geschlossenheit des Romans. Allen voran kritisierte Enzensberger das Auseinanderfallen der verschiedenen Bücher des Romans und schlussfolgerte: „das Ganze, das der Singular Roman verspricht, sind sie nicht“.²⁸⁵ Viele Rezensionen beklagten die fehlende Geschlossenheit des Romans und sprachen von einem „Torso“.²⁸⁶ Es fehle dem Roman die „ordnende Kraft“²⁸⁷ und dem Autor die „Disziplin“.²⁸⁸ Die Erzählerfiktion des Romans wurde, wenn sie erwähnt wurde, fast ausschließlich negativ bewertet. Sie trage dazu bei, dass der Roman zerfalle.²⁸⁹ Anders als noch in den Rezensionen von Die Blechtrommel, bezog sich die stärkste Kritik am Roman diesmal also nicht auf die Übertretung moralischer Grenzen, sondern auf einen rein literarischen Aspekt. Für weiteren Unmut unter den Rezensenten sorgte das dritte Buch des Romans, in dem sich Grass verstärkt der zeitgenössischen Politik zuwendet.²⁹⁰ Auch bei dieser Kritik scheint es sich um eine Reprise zu handeln, denn schon in den Rezensionen des Debütromans findet sich die These, dass es Grass zwar vorzüglich verstehe, seine verlorene Heimat Danzig erzählerisch zu vergegenwärtigen, seine erzählerische Gabe aber vor der Gesellschaft Nachkriegsdeutschlands versage. Ging es in dieser Kontroverse wirklich nur um ästhetische Differenzen, wie mitunter vermutet wird? Arnold zitiert in seiner Analyse der Rezensionen von Hundejahre in diesem Sinne jedenfalls Walter Jens und Günter Blöcker, die beide behaupten, dass sich die
Enzensberger: Günter Grass „Hundejahre“. Vgl. Jenny: Ein Hundetorso aus Kartoffelschalen; Häußermann: Ein Buch, in dem es päsert und funkert; Betzner: „Hundejahre“ oder ein Volk von Vogelscheuchen? In der Terminologie verschieden, doch in der Sache gleich: Brüdigam: Geschichten, Legenden, Erzählungen; HB: Des Danziger Spötters dritter Streich; Hohoff: Die Welt der Vogelscheuchen; Gensecke: Die „Hundejahre“; Reinke: Leider ein Ballon, dem die Luft ausgeht; Lüdtke: Triumph der Pornographie; Claus Pack: Cave Canem. In: Wort und Wahrheit 18 (1963), H. 11, S. 714– 716. Joachim Kaiser: Walter Materns Hundejahre. In: Süddeutsche Zeitung vom 21.09.1963. Betzner: „Hundejahre“ oder ein Volk von Vogelscheuchen? Vgl. auch: Wallmann: Die „heiser geheulten Hundejahre“; M. E.: Günter Grass: Hundejahre. Vgl. Jost Nolte: Der Zeit in den schmutzigen Rachen gegriffen. Günter Graß’ neuer Roman „Hundejahre“ ist erschienen. In: Die Welt vom 07.09.1963; Blöcker: Im Zeichen des Hundes; Jens: Das Pandämonium des Günter Grass; Wallmann: Die „heiser geheulten Hundejahre“; Rudolf Hartung: „Hundejahre“. In: Neue Rundschau 74 (1963), H. 4, S. 652– 658. Noch einstimmiger als gegen die Parodie der bundesrepublikanischen Zustände im dritten Romanabschnitt wandten sich die Rezensionen gegen die satirischen Angriffe auf einen in der Bundesrepublik wieder zu Ehren gekommenen Philosophen. Die Heideggerparodie des Romans fand kaum einen Fürsprecher. Auch wenn viele den Angriff auf den rehabilitierten Philosophen nicht ganz ernst nahmen, zeigt die Erwähnung dieser satirischen Spitzen in den aller meisten Rezensionen doch ihre Brisanz.
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Mängel des dritten Buchs der Hundejahre daraus erklärten, dass Grass nur durch Danzig inspiriert werden könne.²⁹¹ Allerdings bemühen beide Rezensenten nicht nur, wie Arnold es nahelegt, den ästhetischen Diskurs, sondern insbesondere Blöcker hebt die politische Dimension ebenfalls hervor: Grass ist, wie mancher seiner Generation, ein Wutkranker. Sobald er den Blick von den Paradiesen der Kindheit wendet, sieht er nur noch Schiefheit und Verderbnis, wird aus dem Poeten ein blindwütiger Paukant. […] Daran krankt das letzte Drittel des Romans […].²⁹²
Blöcker greift in diesen Zeilen nicht vorrangig auf ästhetische Argumente zurück, sondern konstatiert, dass Wut und Hass dem Autor die Feder diktierten. Kritisiert wird also die politische Ausrichtung des Romanteils. Auch andere Rezensionen vertraten diese Ansicht. So wurde beispielsweise behauptet, dass es die „Bestandsaufnahme“ der eigenen Zeit sei, an der Grass scheitere. Grass liefere nur „satirisches Feuilleton“.²⁹³ Das dritte Buch bestehe aus reinem „Pappmaché von Schlagworten“;²⁹⁴ die Leserinnen und Leser würden mit „kabarettistischen Effekte[n]“ abgefertigt;²⁹⁵ nur „Kabarettfreunde werden den Aufmarsch prominenter Politiker […] wie einen hochkarätigen Jux auf die Großen der Nachkriegszeit genießen.“²⁹⁶ Jost Nolte beanstandete, dass die „Ära Bonn mit allzu billigem Ulk aufgekocht“ werde, und erkannte ein generelles Problem der zeitgenössischen Literatur: „Das Unvermögen unserer Autoren, mit der Gegenwart fertig zu werden.“²⁹⁷ Es waren seine zeitpolitischen Positionierungen, für die Grass angegriffen wurde: „Was im letzten Drittel, von Seite zu Seite fortschreitend Oberhand gewinnt, ist die Antipathie, die Grass befällt, wenn er sich jetzt in unserem Land umsieht.“²⁹⁸ Im dritten Teil, pflichtete Rolf Michaelis bei, „stürzt sich Grass in ein Pamphlet, in eine wüste, wilde Attacke gegen alle und gegen alles.“²⁹⁹ Der Roman, so Curt Hohoff, würde „im letzten Teil diskursiv zerredet werden“.³⁰⁰ Selbst die Kritik von links, wie die Buchbesprechung in konkret, bemängelte die politische Dimension des Romans. Er könne sich, notierte Klaus-Rainer Röhl, über die
Vgl. Arnold: Blech getrommelt, S. 41. Blöcker: Im Zeichen des Hundes. Häußermann: Ein Buch, in dem es päsert und funkert. Mudrich: Dreht euch nicht um! Der Knirscher geht um! Gervink: Vor die Hunde gegangen. HB: Des Danziger Spötters dritter Streich. Nolte: Der Zeit in den schmutzigen Rachen gegriffen. Karl A. Wolken: „Bis zum Anbruch der Müdigkeit“. Der Wurm im Grass – Ende eines großartigen Stückwerks. In: Christ und Welt vom 11.10.1963. Michaelis: Höllenfahrt mit Günter Grass. Hohoff: Die Welt der Vogelscheuchen.
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„antirestaurativen“ Stellen des Buchs nicht freuen, da sie nur „kabarettistisch witzig, ohne Puste, ohne satirischen Ernst“ seien.³⁰¹ Die überwiegende Ablehnung des dritten Buchs in den Rezensionen von Hundejahre bezog sich also vorrangig auf die politische Ausrichtung. Ob hierfür schlicht eine andere politische Position der Rezensenten verantwortlich war, muss dahingestellt bleiben, kann aber natürlich auch nicht ausgeschlossen werden. Belegt werden kann, dass autonomieästhetische Präferenzen hier eine Rolle spielten. Der Roman missglücke, so die Argumentation der Kritiker, weil er nur Satire, Ulk, Kabarett sei, d. h. allein Wirkung erzielen wolle. Gute Literatur, so lässt sich die Norm weiter ausbuchstabieren, dürfe niemals Ausdruck von Ablehnung oder gar Hass sein, sondern unterstelle sich allein ästhetischen Kriterien.
1.4.4 Rezeption in Erwartung des Skandals Die Blechtrommel, Katz und Maus und Hundejahre etablierten Günter Grass fest im deutschsprachigen literarischen Feld. Die drei Texte generierten mitunter euphorische Lobgesänge unter Kritikerinnen und Kritikern, die die zeitgenössische deutsche Literatur endlich auf Weltniveau angekommen sahen. So rief Wiegenstein in seiner Rezension der Hundejahre begeistert aus, dass die Stadt an der Weichsel nun zur literarischen Topografie des 20. Jahrhunderts gehöre und „Dublin, Combray, Jefferson/Miss.“³⁰² hinzugefügt werden müsse.Wie wichtig das Abschneiden auf internationalem Parkett war, demonstrierte auch ein Artikel des Spiegels, der pünktlich zum Erscheinen von Hundejahre den „Bestseller-Autor Grass“ auf der Coverseite abbildete und einen neunseitigen Artikel folgen ließ.³⁰³ Der Leitartikel hob nicht nur gleich zu Anfang die deutsche Publikationshöhe hervor, sondern zählte auch die Verkaufszahlen der Blechtrommel im Ausland auf. Wohlwollende US-amerikanische und französische Rezensionen wurden zudem zitiert. Was sich hier zeigte, war weniger eine Internationalisierung des literarischen Felds, denn mit der zeitgenössischen amerikanischen und britischen Literatur konkurrierte Grass nicht, als vielmehr die Rückwirkung internationalen Erfolgs auf das deutschsprachige literarische Feld. Das international erworbene symbolische Kapital konnte Grass im deutschsprachigen Kontext mit Gewinn verwerten. Dies gilt auch für die Literaturwissenschaft. So konstatiert Manfred Durzak in seiner Bestandsaufnahme des deutschsprachigen zeitgenössischen Romans im Jahr 1971, dass man Bölls Geltung bereits historisch zu sehen beginne. Röhl: Bestseller auf Vorschuß. Wiegenstein: Noch ein Vorschlag, Günter Grass zu verstehen, S. 870. Die gleiche Einschätzung findet sich in: Tank: Der „neue Grass“ ist da! Vgl. Zunge heraus. Grass. In: Der Spiegel (1963), H. 36, S. 64– 78.
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Als Autor der 1960er- Jahre müsse Grass gelten. Als Beleg zitiert Durzak eine Ausgabe des englischsprachigen Magazins Time aus dem April 1970: „At 42, Grass certainly does not look like the world’s or Germany’s greatest living novelist, though he may well be both.“³⁰⁴ Der Artikel im Spiegel feierte aber nicht nur den internationalen Erfolg eines deutschen Autors, sondern trieb auch die Differenzierung des deutschsprachigen literarischen Felds voran. Ich habe schon in der Analyse der Rezensionen von Die Blechtrommel darauf hingewiesen, dass Grass’ epischer Atem oftmals den eher kurzen Romanen Bölls gegenübergestellt wurde. Diese Unterscheidung wurde durch den Spiegel-Artikel weiter popularisiert, der Enzensbergers Urteil über Hundejahre zitiert: „Ein Hagelschauer voll Einfällen und Provokationen.“³⁰⁵ Dem Lob der epischen Fülle folgt eine weitere Distinktion gegenüber Böll, die auf der oftmals diagnostizierten Amoralität des Autors Grass basiert. Diesmal fungiert Reich-Ranicki als Kronzeuge: „Ein Bravourstück liefert der ‚Zigeunervirtuose unter den jungen deutschen Erzählern‘ (Marcel Reich-Ranicki über Graß) mit einem Kapitel, in dem das Wirtschaftswunder einmal nicht sozialkritisch bejammert, sondern grotesk veralbert wird.“³⁰⁶ Während Böll und andere lamentierten, weil sie ihre moralischen Standards unterschritten sähen, stelle sich Grass über die Dinge und bliebe souverän. ³⁰⁷ Grass, „dem der epische Einfall und die realistische Präzision über alles gehen“,³⁰⁸ sei eben selbst in keiner Moral gefangen. Als Beleg zitiert der Spiegel Grass selbst: „Bei Böll kommen die Jungen mit roten Köpfen hinter den Büschen hervor – das ist doch lächerlich.“³⁰⁹ Böll wird als Moralist charakterisiert, Grass als Naturbursche inszeniert. Im Geiste dieses Widerspruchs kommt der Artikel dann schließlich auf das Grass’sche Autorschaftsmodell zu sprechen. Zitiert wird erneut der Autor selbst: „Der Schriftsteller […] hat die Funktion des Erzählens, Unterhaltens, Zeitvertreibens, jedenfalls ist er nicht das ‚Gewissen der Nation‘“.³¹⁰ Der Spiegel-Artikel grenzt zwei Autoren voneinander ab, die wir heute oftmals nicht in ihrer Verschiedenheit, sondern als gemeinsame Anwärter auf den Titel ‚Gewissen der Nation‘ verstehen. Unmittelbar nach der Publikation der Danziger Trilogie wurde Grass jedoch anders wahrgenommen. Das
Durzak: Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 108. Zunge heraus. Grass. In: Der Spiegel (1963), H. 36, S. 64– 78, hier S. 66. Ebd. Grözinger stellt in Hochland die gleiche Diagnose, die er jedoch anders bewertet: „Das Leiden an der Zeit, das wir bei Grass vermißten, ist bei Böll zum eigentlichen Gegenstand geworden, und eben deshalb hat seine Kritik wirkliches Gewicht.“ Grözinger: Zeichen an der Wand. Zunge heraus. Grass. In: Der Spiegel (1963), H. 36, S. 64– 78, hier S. 74. Ebd., S. 77. Ebd.
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gilt nicht nur für den Spiegel, denn auch Ivan Nagel lobte Grass in der Zeit in einer Art und Weise, die deutlich machte, dass Distinktionsprozesse zwischen den beiden vielleicht wichtigsten westdeutschen Autoren der 1950er- und 60er-Jahre verhandelt wurden: Grass ist der künstlerischste unter den jungen deutschen Schriftstellern. […] Das epische Unvermögen seiner Generationsgenossen entsprang wohl ihrer Absicht, die Vergangenheit nicht Vergangenheit werden zu lassen. Sie wollten die Entscheidungen von einst als Entscheidungen festhalten, den Leser und sich zur Antwort des Gewissens zwingen – sie schrieben Dramen in Romanform. Der Epiker Grass nimmt die Erinnerung in Kauf, er nimmt in Kauf das Vergessen.³¹¹
Auch wenn Böll hier nicht explizit genannt wird, so konnte den Leserinnen und Lesern doch nicht entgehen, dass er zu der von Nagel kritisierten Gruppe gehört. Nagels These, dass das ethische Versagen während des Nationalsozialismus von einigen Autorinnen und Autoren literarisch dazu genutzt werde, Gewissensentscheidungen zu erzwingen, erinnert unmissverständlich an Bölls Billard um halb zehn. In den Rezensionen von Die Blechtrommel, Katz und Maus und Hundejahre wurde immer wieder von Blasphemie gesprochen. Fundierte dieses Verständnis der Grass’schen Prosa im Fall des Debütromans jedoch noch ablehnende Urteile, so drückte sich in der Zuschreibung von Blasphemie im Fall von Hundejahre nicht unbedingt mehr Empörung aus. Schon in den Rezensionen der zuvor publizierten Novelle zeigte sich, dass Grass’ blasphemische Autorschaft kaum noch zu provozieren vermochte. Bei Hundejahre fiel der prophezeite Skandal dann endgültig aus und wurden die blasphemischen Gesten des Textes mitunter ganz gelassen dem Autorimage zugeschrieben. Die Analyse der Rezensionen der Danziger Trilogie hat zudem gezeigt, dass es in erster Linie nicht das Feuilleton war, das auf die blasphemische Autorschaft skandalisierend reagierte, sondern die Politik. Aber auch zu einem Skandal, wie ihn der Bremer Senat oder das Land Hessen ausgelöst hatte, kam es nach der Publikation von Hundejahre nicht mehr.
1.5 Grass’ Autorschaft und die Dynamik des Skandals Die christliche Religion und insbesondere der Katholizismus spielen sowohl bei Grass als auch bei Böll eine entscheidende Rolle für die Inszenierung von Autorschaft. Die Analyse der Danziger Trilogie unter diesem Gesichtspunkt hat je-
Nagel: Günter Grass’ „Hundejahre“.
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doch gezeigt, dass Grass – anders als Böll – seine Kirchenkritik nicht durch einen positiven Rückbezug auf ein wahres Christentum plausibilisiert. Aufgerufen werden christliche Normen bei Grass allein in einem satirischen Modus, der das Scheitern des Christentums an den selbst vertretenen Normen konstatiert. Hier zeigt sich das provokative Potential der Danziger Trilogie: Indem Grass die Realität der Sünde gegen die gottgefällige Fassade ausspielt, die Instrumentalisierung des Glaubens anspricht und eine von Gott verlassene Welt zeichnet, in der die klare Trennung zwischen Gut und Böse permanent unterlaufen wird, provoziert er den Blasphemievorwurf, der dann auch in der Tat gegen ihn erhoben wurde. Insbesondere die beiden hier analysierten Romane zeugen davon, wie bewusst der Tabubruch inszeniert wird. Autorschaft wird sowohl in Die Blechtrommel als auch in Hundejahre als eine Lizenz zur Irritation verstanden. Blechtrommel und Vogelscheuchen sind Motive und Reflexionsmedien einer prosaischen Kunst, die darauf abzielt, als Ärgernis wahrgenommen zu werden. Für sie gilt, was Adorno zur Satire Juvenals konstatiert: „Das Negative trifft sie dadurch, daß sie das Positive mit seinem eigenen Anspruch auf Positivität konfrontiert.“³¹² Insbesondere das Versagen des Christentums im Nationalsozialismus legitimiert die Lästerung als Autorschaftsmodell. Anders als bei Böll wird dieses Versagen nicht darauf zurückgeführt, dass die Kirche ihrem an sich richtigen pastoralen Auftrag nicht gerecht geworden ist, sondern werden religiöse Praktiken und Dogmen selbst zum Gegenstand des Spotts. In Grass’ Übertretung religiöser Normen und in den Versuchen, die Grass’sche Prosa zu skandalisieren, konzentrierten sich die Streitigkeiten des literarischen Felds um die Bestimmung literarischer Autorschaft. Schon die erste Rezension von Die Blechtrommel bezeugte, wie sehr die Frage, wem die Verantwortung für den Skandal zukommt, mit einem normativen Begriff von Autorschaft verknüpft war. Hans Magnus Enzensberger sagte in seiner Besprechung den Skandal voraus, beeilte sich aber zu ergänzen, dass Grass den Skandal nicht verantworte und schon gar nicht intendiere, sondern nur an der Wahrheit interessiert sei: Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts; er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen. Diese Absicht setzt er freilich um jeden Preis und ohne die geringste Rücksicht durch. Der Skandal, der darin liegt, ist letzten Endes an keinen Stoff gebunden: es ist der Skandal der realistischen Erzählweise überhaupt.³¹³
Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 23. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 280. Enzensberger: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt, S. 834.
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Die Verantwortlichkeit für den Skandal wird hier den Skandalisierenden zugeschrieben, die Enzensberger zufolge die Wahrheit nicht akzeptieren wollen. Grass stelle lediglich die ‚Realität‘ dar. Enzensbergers Argumentation macht besonders deutlich, dass in Literaturskandalen immer auch darüber gestritten wird, ob die Provokation eines Autors oder einer Autorin gerechtfertigt ist, weil sie auf reale Probleme verweist. Nicht nur bei Enzensberger wird mittels des Realismusbegriffs um die Wahrheit des Dargestellten gestritten. Auch Kritiker der ‚engagierten Literatur‘ bezogen sich auf ein ‚realistisches‘ Darstellungsgebot. Angeführt werden kann hier der nur drei Jahre nach der Publikation von Hundejahre ausgetragene Zürcher Literaturstreit. Emil Staiger zufolge behauptet die politisch engagierte Literatur fälschlicherweise, dass „Zuhälter, Dirnen und Säufer Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit“ seien.³¹⁴ Die Grass’sche Prosa kann mit dem Realismusbegriff jedoch weder kritisch noch affirmativ adäquat begriffen werden. Sie misst sich nicht daran, ob sie gesellschaftliche Realität richtig darstellt (imitatio), sondern muss als ein Kommunikationsprozess verstanden werden, der zuweilen durch Übertreibungen gesellschaftliche Probleme adressiert. Ob Romane wie Die Blechtrommel ein ein subjektives Problem des Autors ausdrücken oder ein objektives Problem der Welt thematisieren, darüber stimmen politisch oder religiös motivierte Literaturskandale ab. Damit zeigt sich aber auch, wie sehr die Kämpfe anderer Felder in das literarische Feld hineinspielen. Ob ein literarischer Text als eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen verstanden wird, hängt immer auch von den politischen, religiösen, soziologischen und philosophischen Diskursen ab, vor deren Hintergrund literarische Texte gelesen werden. Die Veränderungen im religiösen und politischen Feld der Nachkriegszeit, vor allem das zunehmende Gewicht kirchen- und restaurationskritischer Positionen, hatten den Boden dafür bereitet, dass die Grass’sche Enthüllungsrhetorik wirken konnte. Natürlich spielte hier auch die Literatur selbst eine Rolle. Ohne die Kirchenkritik Bölls und anderer hätte es Grass sicherlich schwerer gehabt, mit seiner weitaus radikaleren Kritik des Katholizismus Gehör zu finden. Die feldtheoretische Sichtweise erlaubt es, den Einfluss politischer und religiöser Diskurse auf das literarische Feld anzuerkennen, ohne einen deterministischen Standpunkt einzunehmen. Im literarischen Feld positionieren sich Autorinnen und Autoren auch politisch oder religiös. Diese Positionierungen können – wie im Fall Grass – Skandale hervorrufen, in denen sich neben politisch und religiös argumentierenden Akteuren des literarischen Felds auch Akteure des politischen oder religiösen Felds zu Wort melden. Das literarische Feld ist insofern
Emil Staiger: Literatur und Öffentlichkeit. In: Sprache im technischen Zeitalter (1967), H. 22, S. 90 – 97, hier S. 95.
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durch heteronome Ereignisse und Akteure affizierbar. Ob eine politische und religiöse Positionierung eines Autors oder einer Autorin sich im Feld jedoch durchsetzen kann, wird letztlich autonom ausgehandelt und in den Kämpfen des Felds entschieden.³¹⁵ Die Affinität blasphemischer Autorschaft zum Skandal erklärt sich aus der Komplexität blasphemischen Sprechens. Eine sich am Modell der Blasphemie orientierende Autorschaft antizipiert die eigene Verurteilung, setzt aber zugleich auf die Dynamik des Skandals, durch die sich der Normbruch legitimieren kann. Ihr politisches Moment liegt nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen, zu denen sie Anlass bietet.
2 Arno Schmidt: Der „Hecht im Karpfenteich“ Grass’ blasphemische Autorschaft radikalisiert die Kirchenkritik Bölls und stellt sich in die Tradition der Religionskritik. Ähnlich wie Böll legitimiert Grass seine Autorschaft vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Arno Schmidts blasphemische Invektiven, die im Jahr 1955 einen Skandal provozierten, verzichten hingegen auf solche Legitimierungsstrategien. Wie Schmidt schon Mitte der 1950er-Jahre Autorschaft blasphemisch in Szene setzt und welche Gemeinsamkeiten sowie Differenzen zu den Grass’schen Autorschaftsinszenierungen zu verzeichnen sind, steht im Zentrum der folgenden Ausführungen. Aus dem Leben eines Fauns (1953), Seelandschaft mit Pocahontas (1955) und Das steinerne Herz (1956) reihen antichristliche Äußerungen aneinander, heben aber anders als die Grass’sche Prosa die Distanz ihres Autors zu Religion und Politik hervor. Schmidts Autorschaft, so wird zu zeigen sein, inszeniert Marginalität als genuin politischen Standort. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die teilweise wütenden Reaktionen auf Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas (1955), publiziert im ersten Heft der von Alfred Andersch herausgegebenen Texte und Zeichen, sowie der sich anschließende Rechtsstreit. Schon die Publikationsge-
Im Gegensatz zu Hans-Edwin Friedrich, dem Herausgeber des Sammelbands Literaturskandale, bezweifele ich, dass es vorteilhaft ist, auch Skandale als heteronom zu bezeichnen, die aus dem „Konfliktpotential von Kunst und Religion“ oder auch von Kunst und Politik resultieren. Hier versagt meines Erachtens Friedrichs räumliche Metaphorik. Der Skandal um Die Blechtrommel tritt sowohl ‚innerhalb‘ als auch ‚außerhalb‘ des literarischen Felds auf, d. h. wird von verschiedenartigen Akteuren hervorgerufen und hat Feldeffekte in verschiedenen Feldern. Das literarische Feld ist Bourdieu zufolge relativ autonom. Es wird daher durchaus von außen affiziert, gestaltet aber sein Verhältnis zu äußeren Faktoren selbstständig.Vgl. Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt am Main 2009, S. 16.
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schichte der Erzählung bezeugt ihr skandalträchtiges Potential. Kiepenheuer & Witsch, die Frankfurter Verlagsanstalt und Fischer hatten abgelehnt, letzterer Verlag mit dem Hinweis, dass man sich vor der Veröffentlichung „scheue[]“.³¹⁶ Eugen Kogon begründete die Ablehnung für die Frankfurter Verlagsanstalt mit einem ähnlichen Argument und beklagte den „sexuellen Aggregatzustand“ der Erzählung.³¹⁷ Nach der Publikation zeigten dann auch tatsächlich zwei Anwälte den Autor, den Herausgeber Alfred Andersch und den Verleger an. Sie sahen in Schmidts Erzählung ein Vergehen gegen § 166 StGB (Beschimpfung von Religionsgesellschaften) und § 184 StGB (Verbreitung unzüchtiger Schriften). Die Strafanzeige des Kölner Anwalts Dr. jur. K. Panzer listete vierzehn Stellen aus Schmidts Text auf, die ihm zufolge „hinreichend klarstellen, dass der Verfasser öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, die christlichen Kirchen, ihre Einrichtungen, ihre Gebräuche und ihre Mitglieder in unerhörter Weise beschimpft“.³¹⁸ Darüber hinaus sei durch einige Stellen der Tatbestand des § 184 StGB erfüllt, verbreite der Autor also Pornografie. Viele Textstellen aus dieser Strafanzeige führte auch eine zweite Anzeige durch einen ebenfalls in Köln niedergelassenen Anwalt an.³¹⁹ Die Staatsanwaltschaft Berlin übergab das Verfahren schließlich nach Trier, wo der Oberstaatsanwalt im März 1956 Anklage gegen Alfred Andersch und Arno Schmidt wegen Gotteslästerung und der Verbreitung unzüchtiger Schriften erhob, die Anklage aber wegen des inzwischen erfolgten Umzugs Schmidts zurücknahm. Schließlich übernahm die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren und stellte es im Juli 1956 ein. Seelandschaft mit Pocahontas sei ein literarisches Werk und damit durch die im Grundgesetz garantierte Freiheit der Kunst geschützt.³²⁰ Das Gericht fundierte sein Urteil auf einem Gutachten des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hermann Kasack, und bezog sich auch auf Äußerungen Hermann Hesses, Ernst Jüngers und Gottfried Benns. Zu einem Prozess kam es also nicht. Dennoch zeigten die Strafanzeigen Wirkung. So war der überstürzte Umzug Schmidts nach Darmstadt der Angst vor der Rechtsprechung des katholisch geprägten Triers geschuldet. Der Autor fühlte sich existentiell bedroht.³²¹ Eberhard Schlotter, der Zitiert nach: Hermann Rasche: Gotteslästerliches am Dümmer. Arno Schmidts „Seelandschaft mit Pocahontas“. In: Hermann Rasche, Christiane Schönfeld (Hgg.): Denkbilder … Festschrift für Eoin Bourke. Würzburg 2004, S. 210 – 221, hier S. 215. Zitiert nach: Wolfgang Martynkewicz: Arno Schmidt. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 71. Jan P. Reemtsma (Hg.): In Sachen Arno Schmidt. Prozesse 1 & 2. Zürich 1988, S. 101. Vgl. ebd., S. 103 – 105. Vgl. ebd., S. 184. Vgl. Arno Schmidt: Brief an Wilhelm Michels vom 24. 8.1955. In: Schmidt: Der Briefwechsel mit Wilhelm Michels. Hg. von Bernd Rauschenbach. Zürich 1987, S. 28 – 30, hier S. 28.
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Schmidt beim Umzug half, berichtet unter Bezugnahme auf einen Bericht von Ernst Keuder, dass sogar der Pfarrer von der Kanzel gegen den Autor gehetzt und seine Gemeinde dazu aufgerufen habe, den Gotteslästerer zu meiden. Anschließend hätten Arno und Alice Schmidt vor Ort keine Lebensmittel mehr kaufen können.³²² Diese reaktionäre Stimmung bezeugt auch ein Brief Schmidts, auf den Timm Menke verweist. Schmidt schrieb nach der Vernehmung durch einen Amtsrichter an Werner Steinberg, dass der Richter ihm vor der eigentlichen Vernehmung mitgeteilt hatte, dass er einen solchen Schmutz noch nie gelesen habe.³²³ Die Parallelen zwischen Grass und Schmidt scheinen auf den gleichen Konflikt der Adenauer-Ära zu verweisen: Die politisch engagierte Literatur erregte das Ärgernis konservativer Personen und Institutionen. Ob „das politische und gesellschaftliche Engagement nun geradezu eine Grundvoraussetzung“ der Autorschaft Schmidts in den 1950er-Jahren war,³²⁴ wie es Timm Menke behauptet, ist in der Schmidt-Forschung jedoch umstritten. Das Missverstehen Schmidts, so Dieter Kuhn im Jahr 1982, müsse endlich ein Ende haben. Der Autor sei niemals links, schon immer konservativ gewesen.³²⁵ Das Thema hat seither die Forschung nicht zu Ruhe kommen lassen.³²⁶ Noch fünfzehn Jahre später beschäftigten sich gleich drei Aufsätze in Zettelkasten, dem Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-SchmidtLeser, mit der Politik im Werk und Leben des Autors.³²⁷ Zwei Jahre später, 1999,
Vgl. Eberhard Schlotter: 1955, oder: Sein Mädchen nennt er Pocahontas. In: Bargfelder Bote (2003), H. 267/68, S. 11– 16, hier S. 11. Vgl. Timm Menke: Gotteslästerung und Pornographie oder Kunst? Arno Schmidts Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“ im ideologischen Kontext der fünfziger Jahre. In: Germanic Notes and Reviews 23 (1992), H. 2, S. 57– 63, hier S. 59. Timm Menke: Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Ein westdeutscher Ost-West Roman aus den fünfziger Jahren. In: Der Deutschunterricht 42 (1990), H. 4, S. 48 – 55, hier S. 50. Vgl. Dieter Kuhn: Das Mißverständnis. Polemische Überlegungen zum politischen Standort Arno Schmidts. München 1982, S. 4. Die umfangreichste Arbeit zu dem Thema, Joachim Kleins Arno Schmidt als politischer Schriftsteller, geht auf die Kontroverse leider nur sehr oberflächlich ein. Klein erklärt die Widersprüchlichkeit der politischen Positionierungen Schmidts durch sein Selbstverständnis als Intellektueller. Warum damit die von Kuhn und anderen diagnostizierten Probleme gelöst sein sollten, wird nicht erläutert, zumal Klein Zweifel am inszenierten Selbstverständnis Schmidts betont.Vgl. Joachim Klein: Arno Schmidt als politischer Schriftsteller. Tübingen 1995, S. 203 – 205. Vgl. Freimut Duve: Arno Schmidt als politischer Autor der Adenauer-Ära. In: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts (1997), H. 16, S. 11– 20; Bernhard Sorg: „Ich kenne die Maßnahmen der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie!“. Arno Schmidt und das Politische. In: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts (1997), H. 16, S. 21– 42; Pasquale Memmolo: Die Politik des Erzählens im Frühwerk Arno Schmidts. In: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts (1997), H. 16, S. 43 – 73.
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thematisierte das Jahrbuch Schmidts Politik erneut in drei Aufsätzen. So wiederholt Gregor Strick die These Kuhns mit den Worten: „Einen ‚politischen Autor Arno Schmidt‘ hat es niemals gegeben.“³²⁸ Arno Schmidt sei schon in den 1950erJahren allein durch ein selektives Lesen als linker Autor missverstanden worden, pflichtet Marius Fränzel in einem weiteren Artikel der gleichen Ausgabe bei.³²⁹ Die Schuld für diese Fehllektüre wird auch bei Schmidt gesucht, dessen politische Äußerungen als „Schall und Rauch“³³⁰ tituliert werden und dem ein „Etikettenschwindel“ vorgeworfen wird.³³¹ Hat Arno Schmidt seine Leserinnen und Leser arglistig getäuscht? Muss man seinen „Egozentrismus“³³² als Gefahr für die Demokratie (oder den Sozialismus) geißeln, wie es Kuhn unternimmt? Weiterführend ist es hier nach dem Politikbegriff der Kritiker Schmidts zu fragen. „[W]irklich politische Arbeit“, so Strick, sei durch „politisch-gesellschaftliche Inhalte veranlaßt“.³³³ Fränzel sekundiert, indem er bezogen auf das Werk Schmidts fragt, ob „seine Bücher auf die Durchsetzung bestimmter Ziele im staatlichen Bereich oder auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens“³³⁴ zielende Handlungen waren. Die offensichtliche Antwort findet man kompakt formuliert bei Strick: „Seine Bearbeitung politischer Themen war von jeher an persönlichen Unverträglichkeiten orientiert, etwa einem rigorosen Atheismus und Antimilitarismus.“³³⁵ Ähnlich argumentiert Bernhard Sorg, der Schmidts Äußerungen aufgrund fehlender Differenzierungen ihren politischen Gehalt abspricht: Aus Schmidt spreche allein das Ressentiment!³³⁶ Doch warum soll Schmidts in der Tat plakativer Atheismus und Antimilitarismus nicht politisch sein? Diese sich aufdrängende Frage bezeugt den problematischen Politikbegriff der Forschungsbeiträge von Fränzel und Strick. Die Intention des Akteurs, in diesem Fall des Autors, reicht keinesfalls aus, um eine Handlung, fällt sie auch in den Bereich des sprachlichen Handelns, als politisch oder unpolitisch zu kategorisieren. Ob Schmidts Prosa politisch war, kann nicht
Gregor Strick: „Ein garstig Lied!“. Zehn Thesen zum Thema „Arno Schmidt und die Politik“. In: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts (1999), H. 18, S. 269 – 291, hier S. 279. Vgl. Marius Fränzel: Ions neue Kleider. Politischer Autor Arno Schmidt. In: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts (1999), H. 18, S. 225 – 245, hier S. 238. Ebd., S. 242. Strick: „Ein garstig Lied!“, S. 279. Kuhn: Das Mißverständnis, S. 64. Strick: „Ein garstig Lied!“, S. 279. Fränzel: Ions neue Kleider, S. 232. Strick: „Ein garstig Lied!“, S. 279. Vgl. Bernhard Sorg:Vom Elend des Politischen. Anmerkungen zu einigen Ressentiments Arno Schmidts. In: Michael M. Schardt (Hg.): Arno Schmidt. Das Frühwerk III – Interpretationen von „Die Insel“ bis „Fouqué“. Aachen 1989, S. 271– 277, hier S. 271.
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mit einem Verweis auf den „fundamental unpolitischen Charakter des Denkens von Arno Schmidt“³³⁷ beantwortet werden. Vielmehr ist doch gerade im Fall Arno Schmidt zu konstatieren, dass ein grundsätzlich polemisches Schreiben, auch wenn es politisch nicht eindeutig zu klassifizieren ist, dennoch klar identifizierbare politische Wirkungen entfalten kann. Nicht zuletzt die Folgen der Anzeige wegen Gotteslästerung und Pornografie sowie das Presseecho auf Schmidts Prosa beweisen das. Schmidts Aussagen über die intendierte Wirkung seiner Literatur sollten daher mit Vorsicht behandelt werden. Der Hinweis der angesprochenen Forschungsbeiträge, dass Schmidts Texten kein einer politischen Partei oder Richtung eindeutig zurechenbares Programm zugrunde liege, sie vielmehr als persönliche „Aversion[en]“ erscheinen,³³⁸ kann dennoch produktiv aufgenommen werden. Tatsächlich sind die vielfältigen politischen und philosophischen Äußerungen, die in Schmidts Werk zu finden sind, auf keinen parteipolitischen Nenner zu bringen.³³⁹ Damit ist über die politische Dimension der Texte aber noch nicht abschließend geurteilt. Fragt man nach der Art und Weise, wie Schmidt sich als Autor inszeniert, dann bezeugen die sich in ihrer politischen Programmatik widersprechenden Positionierungen der Texte eine spezifisch politische Funktion. Erst als Medien der Autorschaft, so meine These, zeigt sich die politische Dimension der Textpassagen aus Schmidts Prosa, die auf den politischen oder religiösen Diskurs Bezug nehmen. Für die Rekonstruktion des literarischen Felds der 1950er-Jahre kann die Frage, ob das juristische Nachspiel der Publikation von Seelandschaft mit Pocahontas ein Akt der Willkür war oder die Erzählung in der Tat den Bruch mit gesellschaftlichen Normen forcierte, nicht unwesentlich sein. Natürlich steht hier nicht zur Debatte, ob die Anzeigen berechtigt waren. Jenseits einer solchen normativen Fragestellung muss aber festgestellt werden, ob Schmidts Texte überhaupt Angriffe auf Religion und Sitte enthielten, die von bestimmten Parteien als Rechtsverletzungen ausgelegt werden konnten. Ferner ist von Interesse, ob sich solche nur in Seelandschaft mit Pocahontas (1955) finden oder auch in anderen literarischen Texten des Autors. Im Folgenden sollen daher auch Schmidts zuvor publizierter Roman Aus dem Leben eines Fauns (1953) sowie sein nach der Erzählung publiziertes Buch Das steinerne Herz (1956) untersucht werden. Antizipierte Schmidt die von Grass in der Danziger Trilogie so erfolgreich inszenierte blasphemische Autorschaft? Wie wurden Schmidts literarische Werke in den
Sorg: „Ich kenne die Maßnahmen der Regierung nicht, aber ich mißbillige sie!“, S. 38. Strick: „Ein garstig Lied!“, S. 283. Insbesondere seit der Publikation von Zettel’s Traum (1970) ist eine Abnahme politisch als links zu klassifizierender Äußerungen zu konstatieren und „traten in den Typoskript-Romanen vermehrt jene der reaktionären Richtung in den Vordergrund.“ Fränzel: Ions neue Kleider, S. 235.
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Rezensionen wahrgenommen und welchem Autorschaftsmodell folgten sie? Die Inszenierung von Autorschaft in den drei Prosa-Texten Schmidts, die im Folgenden genauer untersucht werden, basiert nicht zuletzt auf deren Erzählweise. Die drei Texte sind mit einem homodiegetischen Erzähler ausgestattet und stellen ein Ich in den Mittelpunkt, dem auch dem Autor wohlgesonnene Kritiker einen „terroristisch[en]“ Charakter bescheinigen.³⁴⁰ Die Präsenz dieses Ichs steigert Schmidt, indem er die Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die für Memoiren und Autobiografien zentral ist, minimiert. Erzählt wird nicht zu einem späteren Zeitpunkt, sodass Anfang und Ende teleologisch aufeinander bezogen werden könnten, sondern zeitnah, indem Vorgänge lediglich registriert werden. Josef Huerkamp hat die angestrebte Simultanität von Erzählen und Erzähltem schon 1981 als ein Charakteristikum der Prosa Schmidts bezeichnet.³⁴¹ Schmidts Erzählweise ist von Huerkamp mit dem Tagebuch verglichen worden,³⁴² einer Form der eingeschobenen Narration,³⁴³ in der der Erzählzeitpunkt dem Fortgang der Handlung eng folgt. Im Gegensatz zum Tagebuch, in dem das erzählende Ich in den Vordergrund zu treten vermag, verzichtet Schmidt allerdings in den hier zu behandelnden Werken auf die fiktive Ausgestaltung des erzählenden Ichs. Weder erfährt der Leser mehr über den Schreibzeitpunkt sowie die Befindlichkeiten des Schreibenden, noch stößt er auf Reflexionen über die vergangene Handlung, die eine zeitliche Distanz evozieren könnten. Auch wenn im Präteritum erzählt wird, erscheint die Handlung doch gegenwärtig. Schmidt nähert erlebendes und erzählendes Ich einander an. Dorrit Cohn hat sich einer solchen Erzählweise in ihrem Buch Transparent Minds gewidmet und sie als „consonant first-person narration“ bezeichnet.³⁴⁴ Cohn lokalisiert die konsonante Ich-Erzählung in der poetologischen Tradition, führt aber auch Knut Hamsuns Roman Hunger als paradigmatisches Beispiel an. Ihre These über Hamsun gilt auch für Arno Schmidt: „[H]e evokes the past as though it were present“.³⁴⁵ Ein Vorbild für diese Erzählweise könnte der sich mit dem Expressionismus identifizierende Schmidt in expressionistischen Ich-Erzählungen gefunden haben, die sich ebenfalls ganz
Jan P. Reemtsma: Arno Schmidts poetische Sendung. In: Reemtsma: Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Frankfurt am Main 2006, S. 167– 191, hier S. 179. Vgl. Josef Huerkamp: „Gekettet an Daten & Namen“. Drei Studien zum „authentischen“ Erzählen in der Prosa Arno Schmidts. München 1981, S. 174. Vgl. ebd., S. 223. Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 154 f. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1983, S. 155. Ebd., S. 157.
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dem erlebenden Ich verschreiben.³⁴⁶ Die erzähltechnische Autonomie des erlebenden Ichs, das bei Schmidt in keine narrative Ordnung gepresst wird, wie es etwa in Konversionserzählung geschieht, unterstützt zudem den fragmentarischen Charakter der Schmidt’schen Prosa. Weil der Entwicklungsweg des Protagonisten diese Prosa nicht strukturiert, können Gedanken des Ich-Erzählers, Äußerungen gegenüber anderen Romanfiguren, Traumprotokolle oder auch Exkurse in ein bestimmtes Thema einfach aneinandergereiht werden. Diesen erzählerischen Freiraum nutzt Schmidt in allen drei Texten für die Inszenierung von Autorschaft. Immer wieder stoßen Leserinnen und Leser auf Passagen, die nicht vorrangig der Logik des Plots folgen, dem Ich-Erzähler nicht wirklich zugeordnet werden können, sondern autonome, aphoristische Qualitäten besitzen. Auffällig ist zudem, dass sich diese Passagen, die oftmals literaturhistorische Themen abhandeln, in allen drei Texten ähneln. Die intertextuelle Dimension dieser Erzählweise dominiert somit eindeutig gegenüber der narrativen Logik der einzelnen Werke. Zu sprechen scheint nicht der jeweilige Erzähler, sondern der Autor selbst.
2.1 Seelandschaft mit Pocahontas: Keine Theodizee Wer Schmidts skandalumwitterte Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas nicht kennt, den mag es überraschen, dass es sich um eine Liebesgeschichte handelt. Schmidts homodiegetischer Erzähler Joachim berichtet von einer Reise an den Dümmer und seinen Liebesabenteuern mit seiner Urlaubsbekanntschaft Selma, von ihm Pocahontas genannt. Die Erzählung endet mit einem angesichts des Abschieds von der Geliebten depressiv und melancholisch gestimmten Erzähler, der trotz Selmas Bereitschaft, die Beziehung zu verstetigen, die Trennung forciert. Für die Inszenierung von Autorschaft in Seelandschaft mit Pocahontas ist dieser Plot nicht unwesentlich, will man die politischen und antireligiösen Äußerungen des Erzählers nicht unmittelbar auf den Autor beziehen, wie es in der Forschung oftmals geschehen ist. Erst vermittelt über die Figur des Erzählers und vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen lässt sich Schmidts Autorschaftsinszenierung bestimmen. Die Spezifik der Religionskritik zeigt sich deutlich an einer derjenigen Passagen, auf die sich beide Strafanzeigen bezogen. Es handelt sich um eine Reflexion des homodiegetischen Erzählers Joachim gleich auf der ersten Seite. Charakteristisch ist die Stelle, weil sie eine spontane Reaktion des Erzählers in Szene setzt,
Exemplarisch sei hier das kurze Prosastück Der Letzte (1914) des von Schmidt so geschätzten August Stramm genannt.
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die mit dem Plot nur schwach verbunden ist und dadurch eine gewisse Autonomie gewinnt. Unwillkürlich fragt man sich, ob hier noch der Erzähler spricht oder schon der Autor. Die Erzählung beginnt mit einer Zugfahrt zum Dümmer. In Trier steigt eine Nonne in das Abteil des Erzählers, der gedanklich wie folgt reagiert: Die Bibel: iss für mich n unordentliches Buch mit 50.000 Textvarianten. Alt und buntscheckig genug […] und natürlich ewig merkwürdig durch den Einfluß, den es dank geschickter skrupelloser Propaganda und vor allem durch gemeinsten äußerlichen Zwang, compelle intrare, gehabt hat. Der , ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden : das müßte schon ne merkwürdige Type sein – wenn’s ihn jetzt gäbe !³⁴⁷
Der provokative Gestus dieser Passage ist offensichtlich. Mit dem Hinweis auf die Textgeschichte der Bibel weckt der Erzähler Zweifel an der semantischen Eindeutigkeit der biblischen Botschaft und mit den Worten der Vulgata spielt er auf die biblische Legitimierung von Gewalt gegen Atheisten und Häretiker an. Noch wichtiger ist aber der Bezug auf Mt 10,29, da diese Bibelstelle mit dem Bild der Sperlinge die Allmacht Gottes verkündet. Der Erzähler nutzt die Anspielung, um die jüngste Geschichte im Kontext der Theodizee zu thematisieren. Für die Leserinnen und Leser erscheint die Reflexion durch den Zustieg der Nonne zwar motiviert, jedoch bleibt sie abstrakt. Die Nonne wirkt lediglich als Auslöser des gedanklichen Exkurses. Auf welchen individuellen Erfahrungen diese Thesen basieren, bleibt unklar. Anders als bei Grass handelt es sich nicht vorrangig um die Thematisierung der Mitschuld der christlichen Kirchen am Nationalsozialismus, sondern um ein an die Theodizee erinnerndes atheistisches bzw. anti-theistisches Credo. Wenn auf Erden nichts gegen den Willen Gottes geschehen könne, so das Argument, dann eben auch nicht der Holocaust. Ergo: Einen guten Gott könne es nicht geben! Der Erzähler inszeniert sich nicht als Atheist, sondern als Anti-Theist. Denn tatsächlich stimmt auch für diese Stelle,was Georg Guntermann zu Schmidts Religionskritik generell ausführt. Schmidt sei im Grunde jemand, „der die Existenz eines göttlichen Wesens als Sinngeber auch weltlicher Ordnung nicht rundherum leugnet, sondern (‚nur‘) all seine (positiven) Eigenschaften radikal negiert“.³⁴⁸
Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. In: Schmidt: Enthymesis [u. a.]. Hg. von Arno Schmidt Stiftung. (Bargfelder Ausgabe. Bd. 1.1.) Zürich 1987, S. 391– 437, hier S. 393. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle SmP zitiert. Guntermann: „In unserer Bestjen der Welten …“, S. 226. Aus diesem Grund wird Schmidt in einigen Forschungsbeiträgen auch als Gnostiker verstanden. Vgl. Madel, der vom „gnostischen Weltbild Arno Schmidts“ spricht. Madel: Solipsismus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 140. Noering betont ebenfalls, dass Schmidts Werke „die Existenz des Leviathan als boshaften Weltschöpfer nicht in Frage“ stellen. Noering: Der „Schwanz-im-Maul“, S. 6. Kritisch dazu: Dunker:
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Die zeitgeschichtliche und politische Dimension, die durch den Bezug auf den Holocaust gegeben ist, wird in der oben zitierten Passage zum bloßen Mittel einer theologischen Argumentation. Der Verzicht auf die narrative Entfaltung des geschichtlichen Zusammenhangs erklärt sich durch die von Schmidt erläuterte Poetik von Seelandschaft mit Pocahontas. In der gleichen Ausgabe von Texte und Zeichen, in der die Erzählung erscheint, finden sich unter dem Titel Berechnungen I poetologische Thesen, mit denen der Autor die hermeneutische Kontrolle über seinen literarischen Text festigen möchte. Wichtig ist vor allem Schmidts Absage an ein episches Erzählen. Anstatt der Illusion eines episch dahinfließenden Lebens anzuhängen, solle sich jeder sein „eigenes beschädigtes Tagesmosaik“³⁴⁹ vor Augen führen: Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht.³⁵⁰
Seelandschaft mit Pocahontas setzt dieses poetologische Diktum um. Schmidt reiht die Erinnerungen und Reflexionen seines homodiegetischen Erzählers aneinander und entwirft so einen fragmentarischen Text, der auf die narrative Entfaltung einzelner Motive verzichtet. Es dominieren die Erlebnisse des Erzählers. Insbesondere das erste Kapitel demonstriert, wie die an sich bedeutungslose Bahnfahrt Reflexions- und Erinnerungsprozesse in Gang setzt, auf die Schmidt in seinem oben zitierten poetologischen Text als innere „Erlebniseinheiten“ Bezug nimmt. Bleibt die theologische Reflexion auch abstrakt, so ist der Bezug auf den Nationalsozialismus keinesfalls ohne Zusammenhang zum Plot. Erinnerungen an den Krieg durchziehen nicht nur das erste Kapitel. Schmidts Erzähler Joachim ist nicht zuletzt auf dem Weg zum Dümmer, um den aus Kriegszeiten befreundeten Erich zu treffen. Die Signifikanz der gemeinsamen Zeit als Frontsoldaten wird im Text immer wieder betont. Nachdem sich die Männer begrüßt haben, ist beispielsweise zu lesen: „Dann ganz schnell die ersten Kriegserinnerungen: […].“ (SmP 396) Auch auf der Zugfahrt ist der Krieg anwesend: Ein vorbeischießendes Schild : erschienen Flammenpanzer zwischen seidenroten Mauern, und ich wieder mitten drin als VB der Artillerie : Schlacht im Teutoburger Walde, 1945 nach Christie. (SmP 394)
Den Pessimismus organisieren. Eschatologische Kategorien in der Literatur zum Dritten Reich. Bielefeld 1994, S. 140 – 149. Arno Schmidt: Berechnungen I. (Ein Werkstattbericht) In: Texte und Zeichen 1 (1955), H. 1, S. 112– 117, hier S. 115. Ebd.
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Der Erzähler erinnert hier seine eigenen Kriegserlebnisse und setzt diese gleichsam vom nationalistischen Mythos der Hermannsschlacht ab. Selbst das „Rattatá Rattatá Rattatá“ (SmP 393), mit dem Seelandschaft mit Pocahontas einsetzt, kann auf den Krieg bezogen werden. Der Schmidt-Forschung zufolge wird hier nicht nur dem fahrenden Zug onomatopoetisch Ausdruck verliehen, sondern erinnert das Geräusch auch an die Salven von Maschinengewehren.³⁵¹ Die Invektiven gegen das Christentum werden so durch die Kriegserfahrung des Erzählers motiviert, jedoch keinesfalls, wie bei Grass, durch Narration oder Argumentation legitimiert. Das Verhalten der Kirche im Nationalsozialismus wird bei Schmidt narrativ nicht entfaltet. Stattdessen werden antireligiöse Affekte als persönliche Reaktion in Szene gesetzt. Nicht nur Schmidts angesprochene poetologische Abhandlung, sondern auch die Erzählung selbst erklärt diese Poetologie. Der Erinnerung an die eigenen Kriegserlebnisse folgt in der Erzählung eine Reflexion des Erzählers über das Wesen der Zeit: Nur die falsche Veranschaulichung der Zeit als Zahlengerade erzeuge die Distanz zur Vergangenheit, begreife man Zeit hingegen als Fläche, dann zeige sich, dass das Vergangene durchaus gegenwärtig und damit wahrnehmbar sei.³⁵² Der blasphemische Angriff auf das Christentum folgt also (im wörtlichen Sinne) angesichts der Kriegsereignisse und wird als spontane Reaktion des Erzählers in Szene gesetzt. Zugleich müssen die Reflexionen über Zeit als metadiegetischer Kommentar verstanden werden. Angesprochen ist hier ein wichtiger Intertext der Erzählung: Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766). Denn während Lessing die Darstellung der schönen Natur der Malerei vorbehalten wollte, da diese sich des Mediums Raum bediene, zielt Schmidts „Fotoalbum“³⁵³, so die Bezeichnung der Erzählung in Berechnungen I, darauf ab, das räumliche Nebeneinander der Zeitformen abzubilden. Die gegen das Christentum gerichtete Invektive auf der ersten Seite findet im Laufe der Erzählung viele Echos. Sie reichen von antichristlichen Witzen – „ich
Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Die ersten zwei Fotos. Zur Poetologie der „Umsiedler“ und der „Seelandschaft mit Pocahontas“. In: Michael M. Schardt (Hg.): Arno Schmidt. Leben – Werk – Wirkung. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 3 – 10, hier S. 6 f.; Sven Behnke: Das Scheitern des patriarchalen Gestus. Zu Arno Schmidts Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“. In: Bargfelder Bote (2010), H. 327/28, S. 3 – 20, hier S. 6. Auch wenn diese These durchaus spekulativ ist, kann sie nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Immerhin huldigt Schmidts Erzähler später Alfred Döblin, dessen Kritik an Marinettis Erzählung Schlacht, in der das Knattern eines Maschinengewehrs ebenfalls onomatopoetisch nachgeahmt wird, Schmidt sicherlich bekannt war. Vgl. Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F.T. Marinetti. In: Döblin: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden.) Olten 1989, S. 113 – 119. Vgl. SmP, S. 393. Schmidt: Berechnungen I, S. 114.
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kannte mal einen, der antwortete auf >Grüß Gott< grundsätzlich >Wenn d’n siehst