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German Pages 416 Year 2011
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 22
BURKHARD TIEMANN
Die Einwirkungen des Rechts der Europäischen Union auf die Krankenversicherung, Gesundheitsversorgung und Freien Heilberufe in der Bundesrepublik Deutschland
Duncker & Humblot · Berlin
BURKHARD TIEMANN
Die Einwirkungen des Rechts der Europäischen Union auf die Krankenversicherung, Gesundheitsversorgung und Freien Heilberufe in der Bundesrepublik Deutschland
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 22 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.
Die Einwirkungen des Rechts der Europäischen Union auf die Krankenversicherung, Gesundheitsversorgung und Freien Heilberufe in der Bundesrepublik Deutschland
Von Professor Dr. Burkhard Tiemann
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Die Gesundheits- und Sozialpolitik sowie das Recht der Europäischen Union als das politische und ökonomische Zusammenwachsen Europas ergänzende und flankierende Dimensionen des Integrationsprozesses wirken zunehmend sowohl auf die Versorgungsstrukturen als auch die Freien Heilberufe mit ihren Organisationen und die Finanzierungsträger der Sozialen Sicherung ein, weil Gesundheitsleistungen in erhöhtem Maße grenzüberschreitend nachgefragt und erbracht werden. Durch europäische Gesundheits- und Sozialpolitik und das Unionsrecht werden vielfältige Impulse für Gesundheitsschutz und -vorsorge der Bevölkerung sowie für Qualitätsund Sicherheitsstandards der medizinischen Versorgung gesetzt und Förderprogramme für Zugangs- und Chancengleichheit initiiert. Der zwischenstaatliche Transfer von Gesundheitsleistungen innerhalb der EU eröffnet Perspektiven einer Europäisierung des Gesundheitswesens, die die Leistungserbringer und Finanzierungsträger vor neue Herausforderungen stellen. Mit dem Inkrafttreten des LissabonVertrages ist die EU in eine Phase erweiterter supranationaler Primärrechtsgrundlagen getreten, die für das Gesundheitswesen ebenso von Bedeutung sind wie die Weiterentwicklung der sekundärrechtlichen Koordinierungsinstrumente der Wanderarbeitnehmerverordnung und der Berufsanerkennungsrichtlinie. Die aktuellen Beratungen einer Patientenrechterichtlinie zeigen den zunehmenden Regelungsbedarf, um Rechtssicherheit bei grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme und -erbringung zu gewährleisten. Vor dem Hintergrund der Typenvielfalt nationaler Sozialschutz- und Rechtsstrukturen der EU-Mitgliedstaaten und eines unionsrechtlichen Kompetenzrahmens europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik, der die konkrete Ausgestaltung der Versorgungssysteme weitgehend in nationalstaatlicher Souveränität beläßt, geht von der Eigendynamik des Binnenmarktes, der zunehmenden Mobilität der Unionsbürger und der Vernetzung von ökonomisch-politischer Integration und deren sozialen Flankierung ein erheblicher Angleichungsdruck auf die in der EU vorherrschenden sozialen und gesundheitlichen Standards aus. Dieser Sogeffekt ist nur zum Teil durch die unmittelbare Steuerungswirkung unionsrechtlicher Legislativakte oder Gerichtsentscheidungen bedingt; er wird darüber hinaus auch ausgelöst durch die politischen Konsequenzen von EU-initiierten Systemvergleichen und -bewertungen, Empfehlungen und Aktionsprogrammen im Wettbewerb der Mitgliedstaaten um national rückgekoppelte politische Geltungsansprüche sowie gesellschaftliche und ökonomische Standortvorteile. Die soziale Dimension des Integrationsprozesses, die ausgehend vom Leitbild der Konvergenz Konturen eines Europäischen Sozialmodells erkennen läßt, basiert auf
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Vorwort
den Grundfreiheiten und sozialen Grundrechten des EU-Rechts, die auch die normativen Harmonisierungs- und Koordinierungsinstrumente der EU bezüglich des Berufsrechts der Heilberufe sowie die Koordinierungsregeln für die Soziale Sicherheit bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheits- und Sozialleistungen prägen. Die institutionell-organisationsrechtlichen Komponenten und Finanzierungsmodalitäten der Gesundheitsversorgung in Europa erfordern deren Überprüfung am Maßstab des europäischen Wettbewerbsrechts in seinen Auswirkungen auf die Stellung von Sozialversicherungsträgern im Verhältnis zu Privatunternehmen sowie im Hinblick auf die Binnenmarktposition berufsständischer Heilberufsorganisationen einschließlich ihrer berufsrechtlichen Normsetzungs- und kollektivrechtlichen Vertragskompetenzen. Für die europäische Zukunft des deutschen Gesundheitswesens wird auch die weiter fortschreitende Präformierung von Berufsqualifikation, Niederlassung und Berufsausübung der Heilberufe durch die europäische Rechtsordnung prägend sein, die gerade die Freien Berufe in ein Spannungsfeld zwischen marktförmiger Deregulierung und daseinsvorsorgender Gemeinwohlfunktion stellt. Dabei sind die besonderen Anforderungen, die das Gesundheitswesen schon im Hinblick auf die hohe Bedeutung, Sensibilität und Grundrechtsrelevanz der involvierten Rechtsgüter an professionelle Kompetenz, fachliche Unabhängigkeit sowie Patientenschutz stellt, bei der europarechtlichen und -politischen Entwicklung ebenso zu beachten wie die subsidiär-staatsentlastende, demokratisch-partizipatorische und zivilgesellschaftlich-freiheitssichernde Funktion freiberuflicher Selbstverwaltung. Die vorliegende Studie wurde im Auftrag des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht, Berlin, erstellt. Sie beruht auf langjähriger wissenschaftlicher wie berufspolitischer Befassung des Autors mit Fragen des Rechts und der Politik des deutschen und europäischen Gesundheitswesens in ihrer Bedeutung für das System der Sozialen Sicherung, die Gesundheitsversorgung und die Freien Heilberufe. Meiner Frau, Prof. Dr. Susanne Tiemann, ehemalige Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Europäischen Verbandes der Freien Berufe, habe ich für wertvolle Hinweise zu danken. Herrn Prof. Dr. Helge Sodan, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrechts und Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D, sei herzlich für die Förderung der Publikation und ihre Aufnahme in die Schriftenreihe zum Gesundheitsrecht gedankt. Köln, im September 2010
Burkhard Tiemann
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Der vertragsrechtliche und institutionelle Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
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I. Das Gesundheits- und Sozialwesen in der europäischen Unionsstruktur . . . . . . . . . . . 21 1. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen und sozialen Union . . . . . . . . . 21 a) Die soziale Dimension des EU-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b) Die Wurzeln des „Europäischen Sozialmodells“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 c) Die europäischen Rechtskreise der Gesundheits- und Sozialpolitik . . . . . . . . . 26 2. Die Institutionen der EU als Akteure der Gesundheits- und Sozialpolitik . . . . . . 28 a) Die Funktionen der EU-Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Die „Beratenden Ausschüsse“ der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Der institutionelle Reformprozeß der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Die Evolution der EU als „Staatenverbund“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Die Erweiterung der sozialen Dimension der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 c) Das Gesundheits- und Sozialwesen in einer geplanten europäischen Verfassungsarchitektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Das Gesundheitswesen im Lissabon-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Institutionelle und kompetenzielle Kernpunkte des Reformvertrages . . . . . . . . 45 b) Die künftige unionsrechtliche Verortung des Gesundheitswesens . . . . . . . . . . 47 c) Das Verhältnis von nationalem Verfassungs- und supranationalem Unionsrecht 50 d) Die Vereinbarkeit unionsrechtlicher Sozialkompetenzen mit deutschem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
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Inhaltsverzeichnis
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses in ihren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Die gesundheits- und sozialpolitische Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Die originären Zuständigkeiten der Union im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . 57 b) Mittelbare Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedstaatliche Gesundheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Die Offene Methode der Koordinierung als „prozeßgesteuerte Konvergenz“ . 66 2. Die Strukturvielfalt der europäischen Gesundheitssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Typen der Sozialen Sicherung in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Absicherung des Krankheitsrisikos in den Mitgliedstaaten der EU . . . . . . . . . 72 c) Gesundheitspolitische Strategien der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Instrumente und Schwerpunkte der EU-Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Die gesundheitspolitischen Aktionsprogramme der EU für Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) EU-Initiativen zu Qualität, Transparenz und Finanzierbarkeit der Versorgung . 92 c) Verbesserung der Kompatibilität von Bedarfs- und Versorgungsstrukturen . . . 96 d) Gesundheitspolitische Problemstellungen durch die EU-Erweiterung . . . . . . . 98 4. Erleichterung des Versorgungszugangs und Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit als Gemeinschaftsaufgabe nationaler und europäischer Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Schichten- und gruppenspezifische Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Medizinische Bedarfsdeckung durch die sozialen Hilfesysteme . . . . . . . . . . . . 107 c) Interventionsstrategien zielgruppen- und lebensweltorientierter Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 d) Europäische Initiativen zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit . . . . 116 III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten in ihrer Bedeutung für die Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Die EU-Grundrechtecharta und ihre soziale Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Der Anwendungsbereich und Schutzumfang der Grundrechtecharta . . . . . . . . 122 b) Soziale Grundrechte zwischen Handlungszielen und subjektiver Verbürgung . 124
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2. Umfang und Grenzen europarechtlicher Grundrechtsansprüche auf Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Spezifische Grundrechtsrelevanz des Zugangs zu Gesundheitsleistungen . . . . 126 b) Grundrechtsschranken und mitgliedstaatliche Regelungsvorbehalte . . . . . . . . 127 3. Die unionsrechtlichen Grundfreiheiten in ihren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Die sozialen Implikationen der Unionsbürgerschaft, der Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Die Warenverkehrsfreiheit für gesundheitsrelevante Produkte . . . . . . . . . . . . . 133 4. Die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf die transnationale Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Die Anwendung der Grundfreiheiten auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen . . . . . . . . 135 b) Die Legitimation von Genehmigungsvorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Die Bedeutung des Sachleistungsprinzips und der Steuerfinanzierung für Genehmigungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Voraussetzungen und Umfang des Kostenerstattungsanspruchs bei Auslandsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Zweites Kapitel Einwirkungen des Unionsrechts auf die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und die Rechtsstellung der Versorgungs- und Finanzierungsträger
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I. Das europäische Wettbewerbsrecht als ordnungspolitischer Rahmen des Gesundheitsund Sozialwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Ausstrahlung des Wettbewerbsrechts der Union auf die sozialen Sicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Die Entwicklung des funktionalen Unternehmensbegriffs in der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Die wettbewerbsrechtliche Einordnung der Sozialversicherungsträger bei sozialer Zweckerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 d) Die Einordnung von Zusatzversicherungen und substitutiven Sicherungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
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Inhaltsverzeichnis 2. Die Rechtsstellung der Krankenversicherung unter europarechtlichen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Krankenkassen und Anforderungen des europäischen Wettbewerbsrechts . . . . 161 b) Die doppelte Marktfunktion der Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Die wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen der Assimilierung von Gesetzlicher Krankenversicherung und Privater Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Kollektivvertragliche Leistungserbringung auf dem Prüfstand des europäischen Freizügigkeits- und Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Krankenversicherungsrechtliches Kollektivvertragssystem und europarechtliches Kartellverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Die unionsrechtliche Privilegierung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 c) Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung auf die nationalen Gesundheits- und Versicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4. Die Sonderstellung gemeinnütziger und gemeinwohlorientierter Gesundheits- und Sozialdienstleister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Die Abgrenzung von wirtschaftlicher und sozialer Leistungserbringung . . . . . 177 b) Die beihilfe- und vergaberechtliche Relevanz für Krankenversicherung und Leistungserbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
II. Normative Harmonisierungs- und Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Das leistungsrechtliche Rechtsregime für die transnationale Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Die Rechtsschichten transnationaler Leistungsinanspruchnahme und -erbringung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . 187 b) Das Spannungsverhältnis zwischen supranationalem EU-Recht und nationalem Territorialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Leistungsinanspruchnahme aufgrund der Wanderarbeitnehmerverordnung . . . . . 191 a) Zweck und Reichweite der VO (EWG) Nr. 1408/71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Personaler und sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 c) Genehmigungsvorbehalte im koordinierenden Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Neuregelungen des koordinierenden Sozialrechts durch die VO (EG) Nr. 883/2004 196 a) Grundzüge der Neufassung der Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
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b) Sektorielle und gruppenspezifische Sonderregelungen nach bisherigem und neuem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Anspruchsabwicklung und Kostenverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Leistungsinanspruchnahme aufgrund der unionsrechtlichen Grundfreiheiten . . . . . . . 201 1. Voraussetzungen grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme und -erbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Waren- und Dienstleistungsfreiheit als universelle Anspruchsgrundlagen . . . . 201 b) Genehmigungsvorbehalte und Erstattungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Die Umsetzungstatbestände im deutschen Krankenversicherungsrecht . . . . . . . . 206 a) Voraussetzungen und Umfang der Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Höhe der Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Einzelvertragliche transnationale Erweiterung des Sachleistungsprinzips und Leistungserbringerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Drittes Kapitel Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe und ihrer Selbstverwaltung in Europa
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I. Einwirkungen des Unionsrechts auf das Berufsrecht und den sozialen Status der Heilberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Das EU-Recht als Ordnungsrahmen für das Berufsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Die Bedeutung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten für die Berufstätigkeit der Heilberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 b) Die europarechtliche Präformierung der Berufsqualifikation und Niederlassung 215 c) Unionsrechtliche Liberalisierung der Berufsausübungsregeln . . . . . . . . . . . . . 217 2. Neuregelungen europaweiter Berufsanerkennung und sozialer Sicherung der Heilberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 a) Von sektoralen Harmonisierungsregelungen zur Berufsanerkennungsrichtlinie 223 b) Umsetzungsbedarf der Berufsanerkennungsrichtlinie im Heilberufs- und Vertrags(zahn)arztrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung der Heilberufsangehörigen im koordinierenden EU-Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3. Die Stellung freiberuflicher Selbstverwaltungsorganisationen in der europäischen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Selbstverwaltungskörperschaften und europäisches Wettbewerbsrecht . . . . . . 236
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Inhaltsverzeichnis b) Die Rolle der Heilberufsorganisationen für die Versorgungsstrukturen . . . . . . 244 c) Auswirkungen der Deregulierung auf die Freien Heilberufe und ihre Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 d) Freiberufliche Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung in europarechtlichen Neuregelungen . 257 1. Von der universellen zur sektoralen Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Die Bedeutung der Dienstleistungsrichtlinie für grenzüberschreitende Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Relevanz der Dienstleistungsrichtlinie für Freie Berufe und Berufsanerkennungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 c) Der Konsultationsprozeß zu EU-Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 d) Anforderungen an Rechtssicherheit für transnationale Gesundheitsdienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 e) Die Funktion der Selbstverwaltung bei subsidiärer Selbst- und Koregulierung. 273 2. Der Entwurf einer EU-Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 a) Zielsetzung und Eckpunkte des Richtlinienentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Offene und kontroverse Regelungsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Viertes Kapitel Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens für Krankenversicherung und Heilberufe
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I. Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung auf grenzüberschreitende Leistungsnachfrage und -erbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Der aktuelle Realbefund der Patientenmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Bedarfs- und Motivationsstrukturen für Auslandsbehandlungen . . . . . . . . . . . 284 b) Prognostische Entwicklung grenzüberschreitender Leistungserbringung und -inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. Regionale Kooperationsformen transnationaler Gesundheitsversorgung . . . . . . . 292 3. Auswirkungen der EU-Erweiterung auf die Migration von Patienten und Heilberufsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Inhaltsverzeichnis
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II. Die Gesundheitsversorgung im Spannungsfeld nationaler Kompetenzvorbehalte und unionsrechtlicher Koordinierungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Die Neujustierung gesundheitspolitischer Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Die Eigendynamik der OMK als paranormatives Instrument „sanfter“ Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Eckpunkte einer künftigen europäischen Gesundheitsstrategie . . . . . . . . . . . . . 307 2. Unitarisierende Tendenzen europäischer Gesundheitspolitik und Rechtsgestaltung 312 a) Die Auswirkungen von EU-Programmen und EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . 312 b) Die Wechselwirkung nationaler Strukturvorgaben und europarechtlicher Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 III. Die Folgen nationaler und europarechtlicher Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Die Freien Heilberufe im Kontext sozialstaatlicher Prägung der EU und deren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 a) EU-weite Kriterien der Freiberuflichkeit zwischen Typus- und Rechtsbegriff . 321 b) Das Leit- und Berufsbild der Heilberufe im System der Freien Berufe . . . . . . 325 c) Berufs- und Vertragsarztrecht als Determinanten heilberuflicher Freiberuflichkeit in nationaler und unionsrechtlicher Dimension . . . . . . . . . . . 333 d) Europakompatibilität sozialstaatlicher Bindungen professioneller Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2. Der Rollenwandel der Freien Heilberufe im Spannungsfeld von Sozialstaatsumbau und Wettbewerbsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 a) Wettbewerbliche Deregulierungstendenzen auf nationaler und europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Die Gegenläufigkeit der Versozialrechtlichung des Heilberufsrechts . . . . . . . . 351 c) Statusperspektiven der Freien Heilberufe im Widerstreit von markt- und staatsorientierten Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 d) Funktionswandel freiberuflicher Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3. Die Strukturmetamorphose des Gesundheitswesens als professionspolitische und berufsrechtliche Herausforderung der Heilberufe in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 a) Versorgungs-, demographie- und genderstrukturelle Entwicklungen im europäischen Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 b) Anforderungen eines patientenzentrierten und qualitätsorientierten Gesundheitswesens in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
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Inhaltsverzeichnis c) Wandel des freiberuflichen Selbstverständnisses und Neubestimmung des Identitätsprofils im Kontext nationaler und europäischer Reformen . . . . . . . . . 375 d) Freiberuflichkeit als Ferment einer europäischen Zivilgesellschaft und eines freiheitlichen Gesundheitswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Abkürzungsverzeichnis aaO ABl. Abs. AcP AEUV AG ALG II AMG AMNOG Anm. AnwBl ApothG Art. ASR Aufl. BÄK BÄO BB Bd. Beschl. BFB BGBl. BIP BKK BMAS BMG BRAK-Mitt. BRAO BR-Drucks. BSG BSGE BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BZÄK BZB bzw. D DAngVers ders. d. h.
am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Archiv für die zivilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft Arbeitslosengeld II Arzneimittelgesetz Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes Anmerkung Anwaltsblatt Apothekengesetz Artikel Anwalt/Anwältin im Sozialrecht Auflage Bundesärztekammer Bundesärzteordnung Der Betriebsberater Band Beschluß Bundesverband der Freien Berufe Bundesgesetzblatt Bruttoinlandsprodukt Die Betriebskrankenkasse Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Gesundheit Mitteilungen der Bundesrechtsanwaltskammer Bundesrechtsanwaltsordnung Drucksachen des Deutschen Bundesrates Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundeszahnärztekammer Bayerisches Zahnärzteblatt beziehungsweise Deutschland Die Angestelltenversicherung derselbe das heißt
16 dies. DÖV DRG Drucks. DRV DRV Bund DVBl. EAG/Euratom EAGV ebda. EDV EFTA EG EGKS EGV ECHI EMRK endg. EP ErsK EStG EU EuG EuGH EuR EuroAS EUV EuZW EVG EWG EWGV EWR EWS EWSA EZB ff. FAZ FusV GBA gem. GesR GewArch GewO GG G+GWissenschaft ggf. GGW GKV
Abkürzungsverzeichnis dieselbe Die öffentliche Verwaltung Diagnosis Related Groups Drucksache Die Deutsche Rentenversicherung Deutsche Rentenversicherung Bund Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft ebenda Elektronisch gestützte Datenverarbeitung European Free Trade Assosiation Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Community Health Indicator Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten endgültig Europäisches Parlament Die Ersatzkasse Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäisches Gericht Erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europarecht Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Währungssystem Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuß Europäische Zentralbank folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fusionsvertrag von 1965 Gemeinsamer Bundesausschuß gemäß Zeitschrift für Gesundheitsrecht Gewerbearchiv Gewerbeordnung Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Wissenschaftsforum in Gesundheit und Gesellschaft gegebenenfalls Zeitschrift Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft Gesetzliche Krankenversicherung
Abkürzungsverzeichnis GKV-FinG GKV-WSG GmbH GMG GO-Z GR-Charta GVG GWB HeilBerG NW Hrsg. IDZ IHS insbes. i.V.m. JZ Kap. KBV KG KV KZBV KZV LSE LSG LZK MBO-Ä MBO-Z medbiz MedR Mio. MVZ m.w.N. NDV NHS NJW NL Nr. NVwZ NWVBl NZB NZS OECD OHG OLG OMK OSZE
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Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Amtliche Gebührenordnung für Zahnärzte Grundrechtecharta der Europäischen Union Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung Gesetz über Wettbewerbsbeschränkungen Nordrhein-westfälisches Heilberufsgesetz Herausgeber Institut der Deutschen Zahnärzte Institut für Höhere Studien, Wien insbesondere in Verbindung mit Juristenzeitung Kapitel Kassenärztliche Bundesvereinigung Kommanditgesellschaft Kassenärztliche Vereinigung Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung Kassenzahnärztliche Vereinigung London School of Economics Landessozialgericht Landeszahnärztekammer Musterberufsordnung für Ärzte Musterberufsordnung für Zahnärzte Gesundheitswirtschaft Zeitschrift für Medizinrecht Million Medizinisches Versorgungszentrum mit weiteren Nachweisen Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. National Health Service Neue Juristische Wochenschrift Niederlande Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Niedersächsisches Zahnärzteblatt Neue Zeitschrift für Sozialrecht Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Offene Methode der Koordinierung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
18 PartGG PharmZtg PJZS PKV RAK RL Rnr. Rs. Rspr. S. s. SGB SGb Slg. sog. SozFortschritt SozSich StPO Tz. u. a. UK Unterabs. usw. Urt. v. VAG VersR vgl. VO VSSR VVG WHO WissR WPK-Mitt. WRP WWU z. B. ZESAR ZfS ZFSH/SGB ZHKG zit. ZM ZMGR ZSR z. T. ZVersWiss
Abkürzungsverzeichnis Partnerschaftsgesellschaftsgesetz Pharmazeutische Zeitung Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Private Krankenversicherung Rechtsanwaltskammer Richtlinie Randnummer Rechtssache des Europäischen Gerichtshofs Rechtsprechung Satz/Seite siehe Sozialgesetzbuch Die Sozialgerichtsbarkeit Sammlung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sogenannt Sozialer Fortschritt Soziale Sicherheit Strafprozeßordnung Teilziffer unter anderem United Kingdom Unterabsatz und so weiter Urteil vom Gesetz über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen Versicherungsrecht vergleiche Verordnung Vierteljahresschrift für Sozialrecht Versicherungsvertragsgesetz Weltgesundheitsorganisation Wissenschaftsrecht Mitteilungen der Wirtschaftsprüferkammer Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschafts- und Währungsunion zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Soziologie Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zahnheilkundegesetz zitiert Zahnärztliche Mitteilungen Zeitschrift für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht Zeitschrift für Sozialreform zum Teil Zeitschrift für Versicherungswissenschaft
Abkürzungsverzeichnis ZV-Ä ZV-Z
Zulassungsverordnung für Ärzte Zulassungsverordnung für Zahnärzte
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Erstes Kapitel
Der vertragsrechtliche und institutionelle Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik I. Das Gesundheits- und Sozialwesen in der europäischen Unionsstruktur 1. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen und sozialen Union a) Die soziale Dimension des EU-Rechts Die teilweise mit unmittelbarer Rechtsverbindlichkeit, häufig aber auch durch indirekte Steuerung erfolgende Einwirkung des Europarechts, insbesondere des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts, auf das deutsche Gesundheitswesen stand lange Zeit im Schatten der ökonomischen Expansion des Gemeinsamen Binnenmarktes und anderer Politikfelder des Integrationsprozesses. Erst spektakuläre Urteile des EuGH zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme und Erbringung medizinischer Leistungen sowie die beharrlichen Interventionen der EU-Kommission in Fragen der Wettbewerbsstrukturen und Regulierungsdichte im Gesundheitswesen und im Berufsrecht der Heilberufe sowie die Richtlinien bzw. Richtlinienvorschläge zur Berufsqualifikation und Dienstleistungen im Binnenmarkt haben ins Bewußtsein der gesundheitspolitischen Öffentlichkeit sowie der Krankenkassen und Heilberufsverbände die Tatsache gerückt, daß die Gestaltung der nationalen Gesundheits- und Versicherungssysteme zwar in der Primärkompetenz der EU-Mitgliedstaaten liegt, aber dennoch keine abgeschottete nationalstaatliche domaine rserv darstellt. Insbesondere die EU-rechtlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes, die Freizügigkeit für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Personen, haben als Motor transnationalen Leistungsaustausches zur Niederlassungsfreiheit von Gesundheitsberufen, zur Grenzüberschreitung von Patientennachfrage und Leistungserbringung, Arzneimitteln und Medizinprodukten, Versicherungen und Investitionen im Gesundheitswesen geführt. Das europäische Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen schließlich stellt nationale Abschottungen in Form von Versicherungsmonopolen oder korporatistischen Strukturen der Leistungserbringung auf den Prüfstand und führt europaweit zu Neujustierungen der nationalen Gesundheitssysteme im Span-
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
nungsfeld zwischen Staat und Markt.1 Jenseits der konkreten gesundheits- und sozialpolitischen Regelungskompetenzen der EU wird durch diese gemeinschaftsrechtlichen Einwirkungsfaktoren und durch paranormative „sanfte“ Konzertierungsprozesse, wie sie in der „Offenen Methode der Koordinierung“ angelegt sind, eine Eigendynamik europäischer Konvergenz im Gesundheits- und Sozialwesen implementiert, die – wenn auch in zeitlicher Abfolge und integrativer Intensität inkongruent – eine Konsequenz des Binnenmarktes, der Wirtschafts- und WährungsUnion sowie des fortschreitenden politischen Einigungsprozesses darstellt. Die europarechtlichen und -politischen Rahmenbedingungen sowie unionsrechtlichen Bestimmungsfaktoren müssen bei einer Betrachtung des deutschen Gesundheitswesens und Krankenversicherungsrechts verstärkt in den Blick genommen werden, weil die Evolution der EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft zum supranationalen Staatenverbund europäischer Völker, die eine Rechts- und Wertegemeinschaft bilden2, zunehmend auch das Gesundheits- und Sozialwesen der Mitgliedstaaten erfaßt. Insbesondere die bisherige „Erste Säule“ der EU, das Recht der EG, reflektiert diese Entwicklung, indem es sukzessive zunächst die sozialpolitischen, später auch die gesundheitspolitischen Kompetenzen der Union gestärkt hat. Bereits die im früheren Art. 2 EUV ebenso wie auch in der Neufassung des Lissabon-Vertrages verankerte Wertebindung der Union u. a. an die Achtung der Menschenwürde, Wahrung der Menschenrechte, Nichtdiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit impliziert sozialstaatliche Elemente, woraus das Recht auf Sozial- und Krankenhilfe folgt. Das in Art. 3 Abs. 3 EUV (ex-Art. 2 EUV) zum Ausdruck gelangende Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, sozialen Gerechtigkeit, Nichtdiskriminierung und Solidarität setzt eine sozialstaatliche Ordnung voraus, die die Entfaltung dieser Prinzipien ermöglicht. Allerdings bekräftigt Art. 5 EUVentsprechend ex-Art. 5 EGV im Hinblick auf die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten die tradierten und durch die EuGH-Rechtsprechung bestätigten Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Die Zuständigkeit der EU ist somit auf die Vertragsziele beschränkt und kann nur genutzt werden, wenn diese Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erfüllt und wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.
1
Zu den unionsrechtlichen und europapolitischen Einwirkungen auf das deutsche Gesundheits- und Sozialwesen s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, 2005; zu den Rechtsgrundlagen und Zukunftsperspektiven einer europäischen Sozialunion und der sozialen Dimension des Integrationsprozesses ders., in: Boskamp/Theisen, Krisen und Chancen unserer Gesellschaft, 2002, S. 133 ff.; Pitschas, VSSR 2002, 75 ff.; ders., ZSR 1993, 468 ff.; ders., NZS 2010, 177 ff.; Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Verfassungsstaat, 2004, § 28 Rnrn. 64 ff. 2 Zur Entwicklungsgeschichte von EG und EU s. Herdegen, Europarecht, 2008, S. 24 ff.; Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, 2007.
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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b) Die Wurzeln des „Europäischen Sozialmodells“ Wenn heute von einem „Europäischen Sozialmodell“ einer „Sozialunion“ oder einer „Europäisierung des Gesundheitswesens“3 gesprochen wird, muß man sich der ideengeschichtlichen und politischen Hintergründe bewußt werden, die europäische Nationalstaaten mit zum Teil jahrhundertelanger Tradition eigenstaatlicher Souveränität dazu veranlaßten, sich zusammenzuschließen und Kompetenzen zu vergemeinschaften. Am Anfang des europäischen Einigungsprozesses stand eine Vision, die aus der Tragödie zweier europäischer Bruderkriege im 20. Jahrhundert erwachsen war, deren verheerende Folgen den alten Kontinent ökonomisch, politisch und moralisch hatten ausbluten lassen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg konzipierten Aristide Briand und Gustav Stresemann, die 1925 mit dem Locarno-Pakt eine deutsch-französische Aussöhnung anstrebten, eine föderative Union der europäischen Staaten. Der österreichische Graf Coudenhouve-Kalergi unternahm mit der Gründung der Pan-Europa-Union einen idealistischen Versuch, den Europa-Gedanken zu propagieren. Beide Ansätze wurden durch den Zweiten Weltkrieg zunichte gemacht, der für zwei große französische Staatsmänner, Jean Monnet und Robert Schuman Anlaß war, zielstrebig auf einen (zunächst wirtschaftlichen) Zusammenschluß der Völker Europas hinzuarbeiten, um eine europäische Friedensordnung zu sichern. Von Anbeginn der europäischen Einigungsidee, die auch Winston Churchill in einer berühmt gewordenen Rede in der Züricher Universität 1946 propagierte, ging es den Gründungsvätern um • Sicherung des Friedens auf dem europäischen Kontinent, • Förderung des Wohlstandes und des sozialen Fortschritts der einzelnen Nationen durch intensivierte Außenhandelsbeziehungen, engeren Zusammenschluß der Nationalstaaten in einem Staatenverbund mit eigenen Organen auch zur Flankierung europäischer Wirtschaftsinteressen und der europäischen kulturellen Identität im globalen Macht- und Wirtschaftsgefüge. Jean Monnet, der frühere Generalsekretär des Völkerbundes, verbreitete nach Kriegsende die Idee, die Schwerindustrien Deutschlands und Frankreichs einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen. Monnet wollte damit einen neuen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich unmöglich machen, die beiden „Erbfeinde“ miteinander aussöhnen und die durch Kriegseinflüsse darniederliegende Bergbauund Stahlindustrie wiederaufbauen. Am 9. 5. 1950 verkündete der französische Außenminister Robert Schuman, inspiriert von Monnets Plänen, die „Schuman-Deklaration“ als feierliche Erklärung der französischen Regierung.
3 s. dazu B. Schulte, in: Kaelble/Schmid (Hrsg.), Das europäische Sozialmodell – Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, 2004, S. 75 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Die Schuman-Erklärung markiert die eigentliche Geburtsstunde der Europäischen Gemeinschaft und der späteren Europäischen Union.4 Durch die „Vergemeinschaftung“ eines speziellen Wirtschaftssektors, nämlich der Schwerindustrie, sollte die von Schuman beschworene „Solidarität der Tat“ entstehen, d. h. eine begrenzte, aber auf konkrete wirtschaftliche und politische Gegebenheiten gegründete Gemeinschaft. Die hochfliegenden, philosophisch überwölbten Ideen früherer Einigungskonzepte waren an ihren theoretischen Ansprüchen, politischen Widerständen und an den wirtschaftlichen Realitäten zerschellt. Monnet und Schuman gingen von einem realistischen, auf wenige Integrationssektoren und europäische Kernstaaten beschränkten Ansatz aus. Dabei sollte die geplante Montanunion für den Beitritt anderer europäischer Staaten offen sein. Fünf weitere europäische Staaten, nämlich Deutschland, Italien und die BeneluxStaaten nahmen die französische Initiative des Schuman-Planes auf. Bereits am 18. 4. 1951 unterzeichneten die Regierungschefs dieser sechs Gründerstaaten in Paris den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Zu den Gründergestalten dieser historischen Initiative zählten neben dem Franzosen Schuman auf deutscher Seite der damalige Bundeskanzler Adenauer, die Ministerpräsidenten Italiens, de Gasperi, Belgiens, P. H. Spaak, und Luxemburgs, Bech. Der EGKSVertrag trat am 23. 7. 1952 in Kraft und galt auf 50 Jahre, d. h. bis Juli 2002. Erster Präsident der Hohen Behörde wurde Jean Monnet. Die Montanunion nahm Sitz in Luxemburg. Es wurden vier Organe gebildet: • Hohe Behörde • Rat • Parlamentarische Versammlung • Gerichtshof. Die Hohe Behörde als supranationales Organ hatte Exekutivgewalt gegenüber den Einzelstaaten und Einzelunternehmen. Bei wichtigen Rechtshandlungen war die Zustimmung des Ministerrates erforderlich. Die parlamentarische Versammlung hatte die Kompetenz, der Behörde das Mißtrauen auszusprechen und sie damit zum Rücktritt zu zwingen. Einen schweren Rückschlag erlitten die europäischen Integrationsbemühungen, als der Plan, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu gründen, in der Französischen Nationalversammlung scheiterte, die am 30. 8. 1954 die Ratifizierung des EVG-Vertrages ablehnte. In Ersatz für eine gemeinsame Verteidigung als Integrationsfaktor setzte man nun auf die Integrationswirkung gemeinsamer Märkte und technologischer Zusammenarbeit.
4
s. dazu Herdegen, S. 44.
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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Am 25. 3. 1957 wurden in Rom gleichzeitig zwei weitere Gemeinschaften gegründet: • die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) zur friedlichen Nutzung der Kernenergie sowie • die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die größere Bedeutung der drei Gemeinschaften mit Sitz in Brüssel gewann sehr rasch die EWG. Sie war nicht auf einen bestimmten Wirtschaftssektor beschränkt, sondern umfaßte alle Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und gegenüber Drittstaaten.5 Der EWG-Vertrag (seit dem Vertrag von Maastricht vom 7. 2. 1992: EG-Vertrag) war im Gegensatz zum konkret regelnden EGKS-Vertrag ein Rahmenvertrag, der nur allgemeine Grundsätze statuierte. Die Rechtsetzungsbefugnis lag in aller Regel beim Rat, also der Versammlung der jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten. Die Kommission hatte erheblich weniger Entscheidungsgewalt als etwa die Hohe Behörde. Für die Errichtung des gemeinsamen Marktes war 1957 eine Frist von 12 Jahren, also bis 1969 vorgesehen. Ein wichtiges Ziel – der gemeinsame Zollschutz nach außen – wurde bis 1969 erreicht. Die drei Gemeinschaften mit Sitz in Brüssel verfügten von Anfang an als gemeinsame Organe über das Parlament in Straßburg sowie den Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Denn zugleich mit den beiden Römischen Verträgen von 1957 (EAGV und EWGV) wurde ein Abkommen hinsichtlich der gemeinsamen Organe (Gericht und Parlament) für die drei Gemeinschaften, also die beiden neuen Gemeinschaften und der schon 1951 gegründeten EGKS, beschlossen. Durch den nachfolgenden Fusionsvertrag von 1965 (FusV), in Kraft seit dem 1. 7. 1967, wurden für die drei Gemeinschaften ferner ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission eingesetzt. Die drei Gemeinschaften haben also seit 1967 als gemeinsame Organe: • Rat (Art. 145 ff EWGV, Art. 26 EGKSV, Art. 115 EAGV) • Kommission (Art. 155 EWGV, Art. 8 EGKSV, Art. 124 EAGV) • Parlament (Art 137 EWGV, Art. 20 EGKSV, Art. 107 EAGV) • Gerichtshof (Art. 164 ff. EWGV, Art. 31 EGKSV, Art. 136 EAGV) Großbritannien war zunächst weder der EGKS noch der EWG beigetreten, da eine Abtretung weitreichender wirtschaftlicher Kompetenzen auf eine supranationale Gemeinschaft dem nationalen Selbstverständnis der Briten widersprach. Die britische Regierung befürchtete aber die wirtschaftliche Isolierung ihres Landes und betrieb im Jahr 1960 die Gründung einer Konkurrenzgemeinschaft zur EWG, nämlich der European Free Trade Association (EFTA) zusammen mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz. Die EFTA besaß jedoch von Anfang an wesentlich schwächere Befugnisse als die EWG; so blieben z. B. 5
Vgl. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 17 f.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
die nationalen Zollsysteme bestehen. Die EFTA-Staaten traten später überwiegend der EG bei. Zu den sechs Gründerstaaten kamen im Laufe der vergangenen 50 Jahre weitere 21 Staaten hinzu. Die Strukturen der Gründungsverträge wurden in den letzten Jahrzehnten ständig weiterentwickelt6 von der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, die der Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes diente, über die Verträge von Maastricht (1991), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) bis zum Vertrag über eine Europäische Verfassung (2003), nach dessen Ablehnung in Volksabstimmungen einiger Länder sich die Staats- und Regierungschefs auf einen Reformvertrag einigten, der am 13. 12. 2007 in Lissabon unterzeichnet und am 1. 12. 2009 ratifiziert wurde. c) Die europäischen Rechtskreise der Gesundheits- und Sozialpolitik Das europäische Recht, in dessen Rahmen sich Gesundheits- und Sozialpolitik in Europa vollzieht, umfaßt als übergeordneter Sammelbegriff das gesamte Recht, das europäische Institutionen und Zusammenschlüsse gesetzt haben. Es handelt sich um Rechtsnormen, deren Geltungsanspruch über nationale Grenzen hinausreicht und einen europäischen Bezug aufweist. Von besonderer Bedeutung neben der Europäischen Union ist der Europarat, der 1949 gegründet wurde, seinen Sitz in Straßburg hat und dessen Aufgabe eine engere Kooperation zwischen den einzelnen ca. 50 Mitgliedstaaten ist. Der Europarat hat verschiedene multilaterale Abkommen getroffen, deren wichtigste für das Gesundheits- und Sozialwesen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, das Europäische Niederlassungsabkommen von 1955 und die Europäische Sozialcharta von 1961 sind. Insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert elementare Menschenrechte und schafft effektive Durchsetzungsmechanismen für den Menschenrechtsschutz auf völkerrechtlicher Ebene durch zwei Organe, nämlich die Europäische Kommission für Menschenrechte und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Während die Europäische Menschenrechtskonvention dem Völkerrecht zuzuordnen ist, bildet die Europäische Union eine eigene Rechtskategorie supranationalen Rechts, das durch den Staatenverbund der Mitgliedstaaten gesetzt wird.7 Zu den europäischen Institutionen, um die sich die verschiedenen europäischen Rechtskreise gruppieren, gehören neben dem Europarat und der Europäischen Union die 1948 ins Leben gerufene Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
6 Zu den historischen Hintergründen und der Institutionengeschichte der europäischen Integration s. den Überblick bei Herdegen, S. 42 ff.; zur Evolution der sozialen Dimension des Integrationsprozesses s. Schulz, Grundlagen und Perspektiven einer Europäischen Sozialpolitik, 2003. 7 Zum Europarecht als System vernetzter Ordnungen und Rechtskreise s. Herdegen, S. 1 ff.
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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(OECD), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie die 1954 geschaffene Westeuropäische Union. Die für das Europarecht und die Gesundheits- und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten weitaus bedeutendste Institution stellt die 1993 durch den Vertrag von Amsterdam konstituierte Europäische Union mit ihren inzwischen 27 Mitgliedstaaten dar, die sich bis zum Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages im wesentlichen auf die Europäische Gemeinschaft (EG) als wichtigste Säule stützte. Die EU selbst war kein eigenständiges Rechtssubjekt, sondern vielmehr ein politisches Konstrukt, gewissermaßen das politische Dach, das sich über drei Säulen wölbte8 : nämlich die 1993 gegründete Europäische Gemeinschaft, hervorgegangen aus der 1951 vertraglich vereinbarten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die durch die Römischen Verträge 1957 gegründete EWG und Euratom. Diese drei europäischen Gemeinschaften formten die erste und wichtigste Säule der Europäischen Union, denn nur durch die Organe der drei europäischen Gemeinschaften konnte die Europäische Union „gemeinschaftliches“, d. h. originär europäisches, für alle Mitgliedstaaten verbindliches Recht schaffen. Jede dieser Gemeinschaften besaß Rechtspersönlichkeit, d. h. Rechts-, Geschäfts- und Deliktsfähigkeit. Die Europäische Union als das „politische Haus Europas“ stützte sich zusätzlich zur Hauptsäule der drei europäischen Gemeinschaften auf zwei noch unvollkommene, gewissermaßen im Bau befindliche Säulen, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In den beiden letzteren Säulen, der Koordinierung der Außen- und Sicherheitspolitik und der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz, erfolgte die intergouvernementale Kooperation bisher noch auf der Basis des Völkerrechts, während der Rechtscharakter der Europäischen Union schon vor der vertraglichen Umgestaltung durch den Lissabon-Vertrag einem supranationalen „Staatenverbund“, einem Konstrukt zwischen Staatenbund und Bundesstaat, entsprach. Die Gründungsverträge der drei europäischen Gemeinschaften enthalten das primäre Gemeinschaftsrecht, welches der nationalen Verfassung gemäß Art. 23 Abs. 1 GG vorgeht. Im übrigen handeln die Organe der EU durch sekundäres Gemeinschaftsrecht in Form von Verordnungen und Richtlinien, die ebenfalls als supranationales Recht gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht vorrangig sind. Eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung entspricht in ihrem Regelungstypus dem innerstaatlichen Gesetz. Sie gilt unmittelbar in allen Mitgliedstaaten. Demgegenüber wendet sich die Richtlinie als Rahmengesetzgebung an die Mitgliedstaaten, die den Inhalt der Richtlinie in innerstaatliches Recht innerhalb einer bestimmten Frist umzusetzen haben. Es handelt sich also um ein zweistufiges Rechtsetzungsverfahren. Soweit die Richtlinie den nationalen Regierungen Umsetzungsspielräume läßt, bleibt der nationalen Gesetzgebung eine größere inhaltliche Gestaltungsbefugnis, 8 Zur Drei-Säulen-Struktur der Europäischen Union s. überblickhaft B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 18 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
wobei nationale Vorschriften stets im Lichte der Richtlinien auszulegen sind. Als weitere Handlungsformen des EU-Rechts gibt es Entscheidungen als verwaltungsaktförmige Einzelfallregelungen gegenüber Mitgliedstaaten und Privaten, die insbesondere im Wettbewerbsrecht relevant sind, sowie Empfehlungen und Stellungnahmen, die unverbindlich sind und für Adressaten oder Dritte keine Rechte und Pflichten begründen.9
2. Die Institutionen der EU als Akteure der Gesundheits- und Sozialpolitik a) Die Funktionen der EU-Organe Die Organe der Europäischen Union, die in unterschiedlicher Intensität und institutioneller Vernetzung auch die Strukturen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik prägen, sind das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Kommission, der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft und der Rechnungshof.10 Das zentrale politische Lenkungsgremium der EU ist der Europäische Rat, der als Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs zweimal jährlich unter dem Vorsitz des Staats- oder Regierungschefs zusammentritt, der im Rat den Vorsitz hat, wobei der Ratsvorsitz nach der bisherigen Regelung halbjährlich wechselte. Der Rat als höchstes politisches Lenkungsgremium legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen der Union fest und bestimmt über die Weiterentwicklung der Verträge. Dies gilt insbesondere für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch für wichtige Politikbereiche wie die Wirtschafts-, Währungs-, Sozial- und Beschäftigungspolitik. Die hervorgehobene Bedeutung des Europäischen Rates als höchstes politisches Leitorgan der EU war seit deren Gründung nur unzulänglich unionsrechtlich fundiert und wird im Reformvertrag von Lissabon deutlicher konturiert. Die wesentlichen Befugnisse des Europäischen Parlaments, die im Laufe der EGund EU-Entwicklung ständig erweitert wurden, um die zunächst schwache demokratische Legitimationsbasis der Gemeinschaft zu stärken, waren schon bisher die Haushaltskompetenz, die Mitwirkung bei der Rechtsetzung in verschiedenen Formen des Gesetzgebungsverfahrens (Anhörung, Verfahren der Zusammenarbeit, Verfahren der Mitentscheidung), Zustimmung bei bestimmten völkerrechtlichen Abkommen, Zustimmung zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, Wahlrechte bei der Benennung und Abberufung der Kommissionsmitglieder, Kontrollfunktionen (Mißtrauensvotum gegen die Kommission, Untersuchungsausschüsse, Untätigkeitsklage gegen die Kommission). Während in den ersten Jahrzehnten die Kompetenzen des Europäischen Parlaments auch in der Gesundheits- und Sozialpolitik 9
Zu den rechtlichen Handlungsformen der EU s. Herdegen, S. 162 ff. Zur Struktur und Funktion der EU-Organe und ihrer Bedeutung für die Sozialgestaltung der Union s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 21 ff. 10
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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sehr begrenzt waren, sind diese in den verschiedenen Reformverträgen seit Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts ständig erweitert und auch im LissabonVertrag nochmals intensiviert worden. Der Europäische Rat (Ministerrat) nimmt im institutionellen Gefüge der verschiedenen Institutionen der EU eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Kommission und Parlament ein. Der Ministerrat, in dem sich die nationalen Fachminister treffen, hat auch maßgebliche legislative Funktionen. Bestehend aus nationalen Exekutivvertretern ist er als Legislativorgan in das Gesetzgebungsverfahren der Union im Zusammenwirken mit dem Parlament eingebunden. Die Mehrheiten im Rat erfordern in der Regel ein qualifiziertes Quorum, wobei die Abstimmung nach den in den europäischen Verträgen vereinbarten Stimmrechtsverhältnissen erfolgt. Die wesentlichen Befugnisse des Rates beruhen neben seiner Legislativfunktion auf Haushaltskompetenzen, der Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen sowie Wahlbefugnissen bei der Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofes und der beratenden Gremien der EU. Die Europäische Kommission, deren Mitglieder von den Mitgliedstaaten entsandt werden, ist das eigentliche Exekutivorgan der Gemeinschaften, wirkt aber auch an der Rechtsetzung durch Rat und Parlament mit. Sie hat zwar keine eigenen Rechtsetzungsbefugnisse, verfügt aber über das wichtige Gesetzesinitiativrecht. Sie vertritt die Gemeinschaft nach außen und ist „Hüterin der Verträge“ bei der Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten (Vertragsverletzungsverfahren, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen). Sie trifft Verwaltungsentscheidungen und hat Kontrollaufgaben insbesondere in Fragen des Wettbewerbsrechts. In Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik ergreift sie in der Regel die Initiative, die auf eine Koordinierung gesundheitspolitischer Aktivitäten bis hin zu Harmonisierungsregelungen gerichtet sind, soweit eine unionsvertragliche Bestimmung eine diesbezügliche Ermächtigung erteilt. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist als Jurisdiktionsorgan der EU zuständig insbesondere für die Auslegung von Verträgen und sonstigem Unionsrecht sowie dessen Fortbildung, die Kontrolle der Rechtsakte der Union auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht sowie die Überprüfung nationalen Rechts am Maßstab des Unionsrechts. Ferner ist er zuständig für Organstreitigkeiten der EUOrgane untereinander und der Mitgliedstaaten mit der EU. Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Richter an den EuGH, dessen Arbeit durch Generalanwälte unterstützt wird und dessen Rechtsprechung für die Union von überragender Bedeutung ist. Angesichts jahrzehntelanger Kompetenzdefizite des Europäischen Parlaments und einer mangelnden klaren Verfassungs- und Normsetzungsstruktur der EU ist dem EuGH gerade auch im Gesundheits- und Sozialwesen die Rolle eines „Motors der Integration“ zugefallen, indem er in vielen grundlegenden Einzelentscheidungen
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
(„case law“) das Gemeinschaftsrecht weiterentwickelt und gegen nationale Vorbehalte durchgesetzt hat.11 Der Rechnungshof, dessen Mitglieder vom Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments ernannt werden, stellt das unabhängige Rechnungsprüfungsorgan der Gemeinschaften dar, das die Recht- und Ordnungsmäßigkeit der Verwendung der Haushaltsmittel prüft sowie die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung kontrolliert. Neben den Organen der EU bestehen zwei Institutionen mit beratender Funktion: der vor allem für das Gesundheits- und Sozialwesen wichtige Wirtschafts- und Sozialausschuß als Vertretung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen und der Ausschuß der Regionen als Repräsentanz der regionalen Gebietskörperschaften. Die Finanzierung der EU wird nicht durch eigene Steuerhoheit bewirkt. Der Haushalt der EU, aus dem auch wichtige gesundheits- und sozialpolitische Projekte im Rahmen der Sozialfonds finanziert werden, speist sich im wesentlichen durch einen Anteil an der Mehrwertsteuer. Außerdem zahlen die einzelnen Mitgliedstaaten anteilig Beiträge gemäß ihrem Bruttosozialprodukt. Zudem stehen der EU Zollerträge aus dem Warenverkehr mit Drittstaaten sowie Agrarabschöpfungen zu. Der Reformvertrag von Lissabon12, der auf dem EU-Gipfel von Lissabon am 13.12. 2007 unterzeichnet wurde und nach Ratifikation am 1. 12. 2009 in Kraft getreten ist, sieht die Konstituierung der Europäischen Union als rechtsfähige Organisation vor, welche die beiden europäischen Gemeinschaften ablöst und die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in die vergemeinschafteten Politikbereiche integriert. Die Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten wird in dem Sinne konkretisiert, daß die EU nur innerhalb der Kompetenzen tätig werden kann, die ihr in den Verträgen explizit zugewiesen werden. Dabei ist für das Gesundheits- und Sozialwesen die Erweiterung der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente von Bedeutung. b) Die „Beratenden Ausschüsse“ der EU Die Funktionen des Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) werden in den Art. 300 ff. AEUV (ex-Art. 257 ff. EGV) definiert.13 Seine vom Rat ernannten Mitglieder sind Akteure des wirtschaftlichen und sozialen Lebens aus den Mitgliedstaaten und haben beratende Funktion. Insbesondere im Bereich der Rechtsetzung ist 11 Zu den Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung auf das europäische und insbesondere das deutsche Gesundheitswesen s. überblickhaft Heinze, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/2003, S. 15 ff.; Schulte, BKK 1/2010, 8 ff. 12 Zum Reformvertrag von Lissabon (Abl. Nr. C 115 v. 9. 5. 2008) als künftigem Rechtsrahmen der Integration s. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 79 ff.; Oppermann, DVBl. 2008, 65 ff.; Rabe, NJW 2007, 3153 ff. Zu den sozialpolitischen Auswirkungen s. Schnell/Wesenberg, DRV 2008, 275 ff.; Hatje-Kindt, NJW 2008, 1761 ff.; Pitschas, NZS 2010, 177 ff. 13 Zur Funktion der „Nebenorgane der EU“ s. Herdegen, S. 137 ff.
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der EWSA regelmäßig anzuhören (z. B. Art. 46, 50, 59, 114 AEUV, ex-Art. 40, 44 Abs. 1, 52 Abs. 1, 95 Abs. 1 EGV). Schwerpunkte sind dabei ökonomisch und sozial relevante Rechtsakte zur Verwirklichung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Mitglieder des EWSA sind Arbeitgebervertreter, Gewerkschafter sowie Vertreter der Gruppe sog. „verschiedener Interessen“ aus Bereichen wie Umweltschutz, Verbraucherschutz und Freien Berufen. Zwar sind die eingeholten Stellungnahmen für die eigentlichen Akteure der Rechtsetzung (Kommission, Rat, Parlament) rechtlich unverbindlich; dennoch werden die Stellungnahmen des EWSA aufgrund der Fachkompetenz sowie der Problem- und Bürgernähe seiner Mitglieder im europäischen Rechtsetzungsverfahren durchaus beachtet. Die zentrale Funktionsbedeutung des EWSA ist die Beteiligung der gesellschaftlich relevanten Gruppen auf europäischer Ebene, um im Sinne eines „Europas der Bürger“ wirtschaftliche und soziale Interessen zu bündeln und in kooperativer Form die Partizipation gesellschaftlicher Gruppen an europäischen Entscheidungsprozessen zu fördern. Gerade auch für die Sozialpartner, Sozialverbände und -leistungsträger sowie vor allem die Freien Berufe ist der EWSA ein Forum der Mitgestaltung am europäischen Willensbildungsprozeß, insbesondere um gesundheits- und sozialpolitische Sachkunde der Betroffenen einzubringen. Ebenfalls beratende Funktion hat der dem Wirtschafts- und Sozialausschuß 1992 nachgebildete Ausschuß der Regionen (Art. 300 Abs. 3, 4 AEUV, ex-Art. 263 ff. EGV). Sein Anliegen ist es, ein Gegengewicht zu zentralistischen Tendenzen in der Union zu bilden und zu verhindern, daß Entscheidungen in der Union ohne hinreichende Beteiligung der Regionen fallen. Da der EG-Vertrag den Begriff „Region“ als Oberbegriff für territoriale Einheiten unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene verwendet, ist der Ausschuß sehr heterogen zusammengesetzt. Die Struktur der repräsentierten europäischen Gebietskörperschaften ist nach staatsrechtlicher Stellung, Größe und politischem Gewicht sehr unterschiedlich und umfaßt Gliedstaaten wie die deutschen oder österreichischen Bundesländer ebenso wie regionale oder kommunale Gebietskörperschaften anderer EU-Mitgliedstaaten.
3. Der institutionelle Reformprozeß der EU a) Die Evolution der EU als „Staatenverbund“ Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften sind mehr als ein völkerrechtlicher Staatenbund und weniger als ein Bundesstaat traditionell-nationaler Prägung. Das Konstrukt der EU entzieht sich vor dem Hintergrund eines nicht existierenden homogenen Staatsvolks, kohärenten Staatsgebiets und nationalen Souveränitätsvorbehalten einerseits mit seinen Komponenten gemeinsamer Organe sowie dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht andererseits der
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Einordnung in die klassischen juristischen Klassifizierungen von Staatenverbindungen.14 Das deutsche Bundesverfassungsgericht15 hat das Wesen der EU/EG zwischen dem Konstrukt Bundesstaat einerseits und Staatenbund andererseits in seinen Maastricht- und Lissabon-Urteilen mit dem Begriff des „Staatenverbundes“ definiert. Art. 88 der französischen Verfassung beschreibt die Vergemeinschaftung nationaler Souveränitätsrechte dahingehend, daß die Mitgliedstaaten der EU und der EG „einige ihrer Kompetenzen und ihre Souveränität insoweit gemeinsam ausüben“. Diese Übertragung nationaler Kompetenzen auf eine supranationale Institution, die Art. 1 EUV (ex-Art. 1 EGV) als „eine immer engere Union der Völker Europas“ bezeichnet, charakterisiert das Endziel der Integration als dynamischen offenen Prozeß. Dementsprechend weist das EU-Recht so viele charakteristische Besonderheiten auf, daß man es als ein Rechtsgebilde „sui generis“ bezeichnen darf, das eine Zwitterstellung zwischen dem klassischen Völkerrecht einerseits und dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaates andererseits einnimmt. Das EU-Recht gehört weder zum nationalen Recht noch zum Völkerrecht, sondern bildet als supranationales, d. h. über(national)staatliches Recht eine eigenständige Kategorie des zwischenstaatlichen Rechts.16 Die Europäische Union versteht sich in erster Linie als Rechtsgemeinschaft, die sich auf die Herrschaft des Rechts, gemeinsame Rechtsüberzeugung und die Anerkennung übereinstimmend als verbindlich gesetzter Rechtnormen oder vorfindlicher Grundsätze gründet. Demgemäß geht das Recht der EU im Konfliktfall dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten vor.17 Die bisherigen „Drei Säulen“ der Europäischen Union, die Europäischen Gemeinschaften, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, wiesen allerdings bisher eine unterschiedliche Statik auf. Nur im Bereich des zentralen Pfeilers, also unter der Geltung der drei traditionellen Gemeinschaftsverträge, existierte eine verbindliche Regelung über das Entscheidungsverfahren und die Rechtskontrolle durch den Europäischen Gerichtshof. Auf den Politikfeldern der beiden anderen Säulen waren die Mitgliedstaaten im wesentlichen noch souveräne Akteure.18 Die integrationsorientierte Gemeinschaftsmethode der Europäischen Gemeinschaften als wichtigster Teil der Union wies bisher folgende Hauptmerkmale auf: • alleiniges Vorschlagsrecht (Initiativmonopol) der Kommission, 14
s. dazu P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: Bogdardy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2009, S. 1009 ff. 15 BVerfGE 89, 155 (Maastricht-Urteil); NJW 2009, 2293 (Lissabon-Urteil). 16 Zur Supranationalität des EU-Rechts und der EU-Institutionen s. die Nachweise bei Herdegen, S. 67 ff., 72 ff. 17 BVerfGE 73, 739 ff.; 89, 153 ff. 18 s. dazu Cromme, DÖV 2002, 593 ff.
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• Mehrheitsbeschlüsse im Rat, • aktive Rolle des Parlaments (Anträge, Mitentscheidung), • einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof. Den Gegensatz zu dieser Methode bildete die Funktionsweise der zweiten und dritten Säule, die sich auf die Regierungszusammenarbeit stützte und bisher folgende Hauptmerkmale aufwies: • Einstimmigkeit im Rat (Konsens), • beratende Rolle des Europäischen Parlaments, • eingeschränkte Rolle des Gerichtshofs. Diese Struktur der Europäischen Union wurde im Zuge der Weiterentwicklung der Römischen Verträge durch die Einheitliche Europäische Akte (1986), die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) herausgebildet.19 Der Unionsvertrag von Maastricht vom 7. 2. 1992 führte nicht nur zu einer förmlichen Umbenennung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Europäische Gemeinschaft (EG), sondern auch zu wichtigen inhaltlichen Änderungen des EWG-Vertrages. Zu diesen Änderungen des EWG-Vertrages zählen die • Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) mit Einführung einer einheitlichen Währung, des Euro, spätestens zum Beginn der dritten Stufe am 1. 1. 2000, sowie Einrichtung einer unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) zur Sicherung der Preisstabilität der neuen Währung (Art. 4, 8 und 105 ff. EGV, jetzt Art. 119, 13. 282, 127 AEUV). • Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 EGV(jetzt Art. 5 EUV). • Einführung einer Unionsbürgerschaft mit aktivem und passivem Kommunalwahlrecht (Art. 17 ff. EGV, jetzt Art. 20 AEUV). • Verleihung neuer Kompetenzen an die EG: Kultur (Art. 151 EGV, jetzt 167 AEUV), Gesundheitswesen (Art. 152 EGV, jetzt 168 AEUV), Verbraucherschutz (Art. 153 EGV, jetzt Art. 169 AEUV), Transeuropäische Netze für Verkehr, Telekommunikation und Energie (Art. 154 – 156 EGV, jetzt Art. 170 AEUV), Industrie (Art. 157 EGV, jetzt Art. 173 AEUV). • Stärkung der legislativen Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments durch das neue Verfahren der Mitentscheidung (Kodezision) (Art. 251 EGV, jetzt Art. 294 AEUV), wodurch das Parlament erstmals ein Vetorecht erhält; der Präsident und die Mitglieder der Europäischen Kommission bedürfen vor ihrer Ernennung durch die Regierungen der Mitgliedstaaten der Zustimmung des Parlaments (Art. 214 Abs. 2 EGV, jetzt Art. 17 Abs. 3 und 7 EUV). 19
Schulz, S. 89 ff., 103 ff., 213 ff.
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• Einrichtung eines Ausschusses der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften (Ausschuß der Regionen), Art. 263 – 265 EGV ( jetzt Art. 300 Abs. 3, 4 AEUV). • Errichtung eines Kohäsionsfonds (Art. 161 EGV, jetzt Art. 177 AEUV), um die am schwächsten entwickelten Mitgliedstaaten der Gemeinschaft durch Förderung ihrer Verkehrsinfrastruktur und ihrer Umweltschutzstandards schneller an den EU-Durchschnitt heranzuführen. Der Unionsvertrag von Maastricht hat gerade auch in der politischen Dimension des Status der Unionsbürger neue Schritte unternommen: In einem wichtigen eigenen Teil des neuen EGV wurde die Unionsbürgerschaft begründet (Art. 17 EGV, jetzt Art. 20 AEUV). Sie beinhaltet das Recht, sich in der Gemeinschaft frei zu bewegen und aufzuhalten, diplomatischen und konsularischen Schutz auch in solchen Drittländern, in denen sein Herkunftsland nicht vertreten ist, in Anspruch zu nehmen und das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen am jeweiligen Wohnort innerhalb der EU wahrzunehmen. Gerade auch für die sozialen Rechte der Unionsbürger hat Art. 17 EGV (jetzt Art. 20 AEUV) im Lichte der EuGH-Rechtsprechung zunehmend Bedeutung entfaltet. Von kompetenzrechtlicher Relevanz für die Abgrenzung der Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten auch auf dem Gebiet des Gesundheits- und Sozialwesens ist das Subsidiaritätsprinzip.20 Das Subsidiaritätsprinzip kam schon bisher in der begrenzten Einzelermächtigung des Art. 5 EGV (jetzt Art. 5 EUV) zum Ausdruck: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.“ Im Gegensatz zu einem vollkompetenten souveränen Nationalstaat traditioneller Prägung fehlt der Union die Allzuständigkeit und KompetenzKompetenz. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist die Regel, die der Union (kraft Übertragung durch das Primärrecht) die Ausnahme. Enthält der Vertrag keine spezielle Handlungsbefugnis, so kann die Union auf die sog. „Generalermächtigung“ des Art. 308 EGV (jetzt Art. 352 f. AEUV) zurückgreifen. Auch hier handelt es sich aber um eine ausdrückliche Kompetenz, die begrenzt ist durch die dort genannten spezifischen Voraussetzungen: „Erforderlichkeit der Tätigkeit, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen.“ Ist die Union unzuständig, liegt die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten; eine dennoch als gesetzlicher Rechtsakt ergangene Maßnahme ist - ggf. im Rahmen einer Klage nach Art. 230 (jetzt Art. 263 AEUV) oder im Verfahren nach Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) für nichtig bzw. ungültig zu erklären. Der Maastrichter Vertrag verankerte erstmals das Subsidiaritätsprinzip als allgemeines, die Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der 20 s. dazu Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union,1999; Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip einer Europäischen Union, 1993.; S. Tiemann, in: GVG (Hrsg.), Die neue EU-Verfassung und die Europäische Sozialpolitik, 2003, S. 136 ff.
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EG verteilendes und begrenzendes Prinzip in Art. 5 EGV (jetzt Art. 5 EUV): „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ Die Definition des Subsidiaritätsprinzips grenzt die Sachgebiete aus, für die die EU die ausschließliche Zuständigkeit hat. Weder der Begriff der ausschließlichen noch der nicht-ausschließlichen Zuständigkeit werden im Vertrag definiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH war die EU ausschließlich zuständig für die Handelspolitik, das Zollrecht sowie die Erhaltung der Fischereiressourcen. Die ausschließliche Zuständigkeit sollte die Ausnahme, die nicht-ausschließliche die Regel sein. Beispiele für die subsidiäre Zuständigkeit waren neben der Gesundheits- und Sozialpolitik die Umwelt-, Verbraucherschutz-, Verkehrs-, Agrarmarkt-, Wettbewerbs-, Bildungs-, Kultur-, Entwicklungs- und Industriepolitik. Die EU ist nach der Definition der Subsidiarität auf diesen Gebieten nur zuständig, wenn die jeweiligen Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden und daher wegen ihres Umfangs oder wegen ihrer Wirkungen besser durch ein Tätigwerden seitens der Gemeinschaft verwirklicht werden können. Das BVerfG betont in seinem Maastricht-Urteil21, daß das Subsidiaritätsprinzip die Ausübung der im Vertrag eingeräumten Befugnisse begrenzt, und zwar ob und wie die EG tätig werden dürfe. Das müsse nachvollziehbar dargelegt und vom EuGH überwacht werden. Das Subsidiaritätsprinzip wird wiederholt für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres und ferner für das Gebiet der Kultur und auch das Gesundheitswesen (Art. 168 Abs. 5, 7 AEUV). Sowohl in seinem Maastricht-Urteil als auch im Lissabon-Urteil hat das BVerfG ausgeführt, das Demokratieprinzip sei u. a. deshalb durch den EU-Vertrag nicht verletzt, weil den Mitgliedstaaten angesichts des Subsidiaritätsprinzips noch ausreichende eigene Befugnisse verblieben.22 Art. 5 Satz 3 EGV (jetzt Art. 5 Abs. 1 S.2 EUV) regelte erstmalig auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht selbst. Bis dahin hatte der EuGH diesen Grundsatz in seiner ständigen Rechtsprechung schon herausgearbeitet, allerdings vornehmlich im Verhältnis der Gemeinschaft zum Bürger. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt jetzt auch zwischen Union und Mitgliedstaat. Inhaltlich bedeutet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, daß die Zweck-Mittel-Relation beachtet und ferner das jeweils mildeste Mittel, der geringste Kompetenzeingriff, gewählt werden muß. So schützt der Satz 3 (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) wie auch der Satz 2 (Subsidiaritätsprinzip bei den konkurrierenden Gebieten) in gleicher 21 22
NJW 1993, 3047, 3057. NJW 1993, 3047, 3051; NJW 2009, 2267, 2293 f.
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Weise die nationale Identität der Mitgliedstaaten und deren verbleibende Zuständigkeit gegenüber einem Übermaß an europäischen Regelungen. Der EU-Vertrag von 1992 in der Fassung von Maastricht sah vor, schon 1996 erneut eine Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten einzuberufen, um seine Bestimmungen sowie die Vorschriften der drei Gründungs-Gemeinschaften von Grund auf zu überarbeiten. Mit dieser dritten Vertragsrevision bezweckten Union und Gemeinschaft: eine größere Bürgernähe der Union, den Abbau des Demokratiedefizits durch Stärkung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments, eine Verschlankung der Institutionen sowie die Einbeziehung der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union in die erste Säule, d. h. in den institutionellen Rahmen der EG. Am 2. 10. 1997 unterzeichneten die Außenminister der Mitgliedstaaten in Amsterdam den sog. Amsterdamer Vertrag zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften. Nach Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten trat er am 1. 5. 1999 in Kraft. Einige wichtige Änderungen des EU-Vertrages durch die Fassung von Amsterdam bestehen in Folgendem:23 Die zweite Säule der Europäischen Union, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, verblieb in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, wurde also nicht „vergemeinschaftet“. Dagegen gelang bei der dritten Säule eine teilweise Überführung von Kompetenzen in den EG-Vertrag. Mit Ausnahme der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) gingen wichtige Befugnisse der Innen- und Justizpolitik in den EG-Vertrag ein (Art. 61 ff. EGV entsprechend den jetzigen Art. 67 ff. AEUV). Art. 6 des Unionsvertrages (jetzt Art. 2 EUV) beschreibt erstmals ausdrücklich die Verfassungsprinzipien und tragenden Werte der Union. Danach beruht die EU auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Sie achtet die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. 11. 1950. Damit bekennt sich der EUVertrag in der Amsterdamer Fassung ausdrücklich zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts. Vor Inkrafttreten des EU-Vertrags in der Fassung von Amsterdam galten diese Strukturprinzipien und Werte nur kraft Rechtsprechung des EuGH als allgemeine (ungeschriebene) Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft. Art. 6 Abs. 3 EGV stellt zum ersten Mal klar, daß die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet (jetzt Art. 4 Abs.2 EUV). Art. 7 des Unionsvertrages gestattet Sanktionen nur, wenn der Rat zuvor einstimmig festgestellt hat, daß ein Mitgliedstaat die Grundsätze des Art. 6 schwerwiegend und anhaltend verletzt hat. Erst dann kann der Rat die Stimmrechte des vertragsverletzenden Mitgliedstaats aussetzen (jetzt Art. 7 EUV). 23 Zu den sozialpolitischen Konsequenzen der Regierungskonferenz von Amsterdam im Hinblick auf Vertragsänderungen s. Schulz, S.105 ff.
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Die Art. 43 – 45 des Unionsvertrages, die den jetzigen Art. 20 EUV, 326 – 334 AEUV entsprechen, ermöglichen erstmals ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, d. h. eine engere, verstärkte Zusammenarbeit zwischen einer Mehrheit von mindestens acht Mitgliedstaaten, die auf manchen Gebieten eine größere Integrationsbereitschaft entwickeln, ohne gleichzeitig den Zusammenhalt der Union zu sprengen. Die Voraussetzungen dieses Verfahrens einer besonders engen Zusammenarbeit sind jedoch restriktiv. b) Die Erweiterung der sozialen Dimension der Verträge Art. 8 EGV (jetzt Art. 13 EUV, 282 Abs. 1 AEUV) in der Fassung des Vertrags von Amsterdam ändert neben dem EU-Vertrag in der Fassung von Maastricht erneut den EG-Vertrag auch im Hinblick auf sozialrelevante Materien: • Die Gleichstellung von Mann und Frau wird zu einer Querschnittsaufgabe der Gemeinschaft, Art. 2 und 3 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 3 EUV). • Art. 13 EGV (jetzt Art. 19 AEUV) ermächtigt den Rat, einstimmig geeignete Vorkehrungen zu treffen, um die Ungleichbehandlung aus anderen Gründen, z. B. Rasse, ethnische Herkunft, Religion, zu bekämpfen. • Hervorzuheben ist, daß die Art. 125 – 130 EGV (entsprechend den heutigen Art. 145 – 150 AEUV) der Gemeinschaft erstmals eine Kompetenz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verleihen. Allerdings kommt der EG lediglich die Aufgabe zu, die beschäftigungspolitischen Konzepte der Mitgliedstaaten besser abzustimmen. Die vom Rat zu erlassenden Beschäftigungsleitlinien (Art. 128 Abs. 2 EGV, jetzt Art. 148 AEUV) haben für die Mitgliedstaaten nur empfehlenden Charakter. Die Hauptverantwortung für die Arbeitsmarktpolitik liegt damit nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. • Von besonderer Bedeutung für das „soziale Europa“ ist die Übernahme des „Protokolls der Elf“ zur Sozialpolitik in die Art. 136 – 145 EGV (jetzt Art. 151 – 161 AEUV), womit der Widerstand der britischen Regierung gegen erweiterte Gemeinschaftskompetenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik aufgegeben wurde. Die Union kann u. a. Mindestvorschriften auf dem Gebiet des Schutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz erlassen (Art. 137, EGV, jetzt Art. 153 AEUV). Einstimmigen Ratsentscheidungen bleiben vorbehalten: die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer, der Kündigungsschutz und das Tarifvertragsrecht. Außerhalb jeglicher Gemeinschaftskompetenz stehen so wichtige Bereiche der Arbeits- und Sozialpolitik wie das Arbeitsentgelt (z. B. die Festlegung von Mindestlöhnen), das Koalitionsrecht sowie das Streik- und Aussperrungsrecht (Art. 137 Abs. 5 EGV entsprechend dem jetzigen Art. 153 Abs. 5 AEUV). Im Mittelpunkt der europapolitischen Diskussionen und weiteren Reformschritte stand in den Folgejahren die Erweiterung der EU um die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen,
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die Slowakei sowie Zypern und Malta und später Bulgarien und Rumänien. Sowohl in wirtschafts- als auch sozialpolitischer Hinsicht stellten die Beitrittsverhandlungen die EU vor große Probleme im Hinblick auf das drastische Wirtschafts- und Sozialgefälle der Beitrittsländer im Vergleich zum Durchschnittsniveau der EU-Staaten. Im Hinblick auf die in der EU bestehende Niederlassungsfreiheit, die Freizügigkeit der Waren, Personen und Dienstleistungen ergaben sich auch sozial- und gesundheitspolitisch bedeutsame Konsequenzen. Die Rechts- und Wirtschaftsordnungen müssen durch die Übernahme des sog. acquis communautaire, d. h. des gemeinschaftlichen Besitzstandes unionsrechtlicher Normen, den EU-Standards angepaßt werden. Der gemeinschaftliche Besitzstand als gesamte Rechtsordnung der Union ist das gemeinsame Fundament aus Rechten und Pflichten, die für alle Mitgliedstaaten im Rahmen der Europäischen Union verbindlich sind. Dieser Besitzstand entwickelt sich ständig weiter und umfaßt nicht nur das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht im engeren Sinne, sondern auch alle Rechtsakte, die im Rahmen des zweiten und dritten Pfeilers der Europäischen Union erlassen werden, sowie die in den Verträgen festgeschriebenen gemeinsamen Ziele. Die Beitrittskandidaten müssen das Regelwerk nicht nur übernehmen, sondern auch nachweisen, wie sie das Gemeinschaftsrecht in der Praxis anwenden können. Darüber hinaus harrten die im Amsterdamer Vertrag ausgeklammerten institutionellen Probleme einer Lösung: • Ausweitung von Mehrheitsbeschlüssen im Rat, • Neugewichtung der Stimmenzahl der Mitgliedstaaten im Rat, • Größe und Zusammensetzung der Kommission. Anläßlich des Treffens der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2000 in Nizza wurden zahlreiche Vertragsänderungen beschlossen, die die institutionelle Struktur der Gemeinschaft verändert haben:24 So wurde im Rahmen der Konferenz von Nizza am 7. 12. 2000 die EU-Charta der Grundrechte unterzeichnet und feierlich proklamiert. Initiiert durch den Europäischen Rat von Köln (3./4. 6. 1999) ist dieses Dokument in nur neunmonatiger Arbeit (Konstituierung am 17. 12. 1999 – Annahme des Entwurfs am 2.10. 2000) durch einen eigens hierfür geschaffenen Konvent unter dem Vorsitz des Altbundespräsidenten und ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Roman Herzog ausgearbeitet und bereits im Vorfeld des Gipfels von den Organen der Union inhaltlich ohne jegliche Abstriche gebilligt worden. Der Konvent hat mit der von ihm erarbeiteten Charta zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden Personen in einem einzigen Text zusammengefaßt. Dabei stellt die EMRK die Hauptinspirati24 Zur Konferenz von Nizza und den dort beschlossenen Vertragsänderungen s. Schulz, S. 128 ff.
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onsquelle des Grundrechtskatalogs dar; inhaltliche Stütze findet sie darüber hinaus aber neben der Rezeption der Rechtsprechung des EuGH und zahlreicher EGRechtsakte auch in einer Vielzahl weiterer Völkerrechtsakte, deren Bandbreite von der Europäischen Sozialcharta über die Bioethikkonvention des Europarates bis hin zur Genfer Flüchtlingskonvention, dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes sowie einer großen Anzahl weiterer regionaler und universeller Menschenrechtsdokumente reicht.25 Die materiellen Verbürgungen der Charta sind in sechs Kapitel gegliedert (Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) und decken – ausgehend von der Menschenwürde als oberstem Wert der Charta – die gesamte Bandbreite potentiell grundrechtsrelevanter Lebenssachverhalte ab. Ohne Definition und dogmatische Einordnung von Grundrechtsschranken, Fragen des Anwendungsbereichs und der Tragweite der Garantien im allgemeinen sowie anderen Einschränkungen der Grundrechtsausübung, welche in den Schlußbestimmungen des Kapitels VII für alle Rechte eine gemeinsame Regelung gefunden haben (Art. 51 – 54), konzentriert sich der Text der Grundrechtsverbürgungen im wesentlichen auf eine Umschreibung des Schutzbereiches der Rechte selbst. Der Grundrechtskatalog (Art. 1 – 50) enthält neben den klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechten zum Teil komplizierte und neuartige, in ihrer rechtlichen Stringenz verschiedentlich noch unklare Regelungsmaterien (z. B. Datenschutz (Art. 8), Rechte älterer Menschen (Art. 25), Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41)), sowie unter dem Titel „Solidarität“ (Titel IV) eine Reihe sozialer Grundrechte wie z. B. das Recht der Arbeitnehmer/-innen auf Anhörung im Unternehmen, auf Kollektivverhandlungen und auf Zugang zu Arbeitsvermittlungsdiensten, das Recht auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit, daneben die Verbürgung von Gesundheitsschutz, Umweltschutz und Verbraucherschutz.26 Da sich der Gipfel von Nizza – entgegen der Vorstellungen etwa des Europäischen Parlaments – zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zu einer Aufnahme der Grundrechtecharta in den Unionsvertrag durchringen konnte, blieb dieses Dokument vorerst rechtlich unverbindlich. Man war sich jedoch darüber im Klaren, daß die Charta alsbald einen erheblichen Einfluß auf die Rechtsentwicklung innerhalb der Union ausüben und Bestandteil einer neuen europäischen Verfassungsarchitektur werden sollte. Dieses Ziel wurde durch die Integration der Grundrechtecharta in den Lissabon-Vertrag erreicht.
25
Zur Grundrechtecharta s. Rengeling/Szekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2003; Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechtecharta, 2006. 26 Zu sozialen Grundrechten in der Charta s. Bernsdorff, VSSR 2001, 1 ff.; Pitschas, VSSR 2000, 207 ff.; Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, 2010, S. 25 ff. Zur Relevanz der EUGrundrechtecharta für die Gesundheitsversorgung s. unten 1. Kap. III. 1.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
c) Das Gesundheits- und Sozialwesen in einer geplanten europäischen Verfassungsarchitektur In einer Erklärung zur Zukunft der Union hat die Regierungskonferenz die Einleitung eines sog. „Post-Nizza-Prozesses“ beschlossen, der zu einer eingehenden und breit angelegten Diskussion über vier Fragenkomplexe führen sollte: die genaue Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, eine formale, nicht inhaltliche Vereinfachung der Verträge, den Status der EU-Grundrechtecharta und die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Anläßlich der Regierungskonferenz von Laeken im Dezember 2001 wurde deutlich, daß ein übereinstimmender Wille der EU-Partner bestand, dem bisherigen Integrationsprozeß – gerade auch im Hinblick auf die Beitrittsprozesse neuer EUMitglieder – eine neue Struktur zu verleihen und den vertraglichen „Wildwuchs“ der Verträge, Organisationen und Institutionen auf eine gesicherte normative Basis zu stellen. Besonders die Abgrenzungsfragen der Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten und zu den Entwicklungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente verliehen Bestrebungen politische Durchsetzungsfähigkeit, einen Europäischen Verfassungskonvent einzusetzen, der eine Europa-Verfassung ausarbeiten sollte. In Laeken einigte man sich auf die Zusammensetzung dieses Konvents aus Vertretern des Parlaments, des Rates und der Kommission, die sich unter Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard dEstaing dieser für die Zukunft der Union bedeutenden Aufgabe widmen sollten. Am 27. 5. 2003 legte das Präsidium des EU-Konvents dem Konventsplenum erstmals einen vollständigen Verfassungsentwurf vor27, um einen abgestimmten und vom Konventsplenum getragenen Vorschlag für einen Europäischen Verfassungsvertrag unterbreiten zu können und über diesen anläßlich des Ratstreffens in Rom im Dezember 2003 entscheiden zu lassen. Zu einer solchen Einigung gelangte der Gipfel von Rom jedoch nicht, weil insbesondere über die Verankerung der Stimmengewichtung und die Verteilung der Kommissionssitze in der neuen Verfassung keine Einigung zwischen den „großen Drei“ Frankreich, Deutschland und Vereinigtes Königreich einerseits und Mitgliedstaaten wie insbesondere Polen und Spanien erzielt werden konnte. Teil I des Verfassungsentwurfs ist den „Grundlagen“ gewidmet. Hier finden sich Bestimmungen zu Zielen und Werten der Union (Titel I), zur Unionsbürgschaft (Titel II), zu den Zuständigkeiten und Maßnahmen der Union (Titel III), zu ihren Organen (Titel IV), zu ihren Zuständigkeiten (Titel V), zum demokratischen Leben in der Union (Titel VI), zu den Finanzen (Titel VII), zum Verhältnis der Union zu den Nachbarländern (Titel VIII) und schließlich zur Zugehörigkeit zur Union (Titel IX). 27 Zum Entwurf eines Europäischen Verfassungsvertrages (CONV 850/03; ABl. 2003 C 169, S. 1 ff.) s. Cromme, DÖV 2002, 593 ff.; Oppermann, DVBl. 2003, 116 ff.; ders., JZ 2005, 1130 ff.; S. Tiemann, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für M. Heinze, 2005, S. 935 ff.
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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Zu diesem Teil I gehören ebenso das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union und das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Noch im Vorentwurf war hier auch die Grundrechtecharta angesiedelt, die später als eigener „Teil II” vorgesehen wurde. In Teil III wurden für die einzelnen Politikbereiche die Arbeitsweise und das konkret einzuhaltende Entscheidungsverfahren festgelegt. Am Ende von Teil III sind außerdem das Protokoll zur Änderung des Euratom-Vertrages und das Protokoll betreffend die Euro-Gruppe angesiedelt. Teil IV schließlich enthält Allgemeine und Schlußbestimmungen.28 Der I. Teil, der die „Grundlagen“ der Union definiert, sieht im Einzelnen folgende Regelungen vor: Im Werte- und Zielekatalog (Art. I-2, I-3) werden die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte genannt; die Union wirkt auf eine nachhaltige Entwicklung Europas mit dem Ziel eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und der Preisstabilität sowie Vollbeschäftigung, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, ein hohes Niveau des Umweltschutzes und der Förderung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt hin. Zudem bekämpft die Union soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Die Zuständigkeiten von Union und Nationalstaaten sind klar voneinander abgegrenzt, wobei es ausschließliche und geteilte Kompetenzen gibt. Für jeden Politikbereich ist die Zuständigkeit festgelegt. Die Bereiche, in denen bisher lediglich eine intergouvernementale Zusammenarbeit stattfand (Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz und Inneres), sollen in den Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzung einbezogen werden unter teilweiser Beibehaltung ihrer institutionellen Ausgestaltung und kompetenziellen Bedeutung, wodurch die Dreisäulenstruktur des Europäischen Unionsvertrages aufgelöst werden sollte. Der Europäische Verfassungsentwurf wahrt insoweit die rechtliche Kontinuität im Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft und zur Europäischen Union, als er die Europäische Union als Rechtsnachfolgerin der bisherigen europäischen Institutionen konstituiert mit der Rechtsfolge, daß alle aus den mit Inkrafttreten der Verfassung aufgehobenen Verträgen und gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakten sich ergebenden Rechte und Pflichten auf die Union übergehen (Art. IV 1 – 2 des Entwurfs). Hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten gibt es drei Kompetenzkategorien: ausschließliche, geteilte (u. a. Binnenmarkt, Sozialpolitik, Verbraucherschutz) und unterstützende Zuständigkeiten der Union (Art. I13, Art. I-14 und I-17). Die Union erhält die Zuständigkeit für die Festlegung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, wobei allerdings die Koordinierung weiterhin durch die Mitgliedstaaten erfolgt (Art. I-12). Der Rat behält die Kompetenz für die Festlegung der „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“, zudem können (wie bisher) 28
s. Oppermann, DVBl. 2003, 116.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
durch den Rat Leitlinien für die Beschäftigungspolitik festgelegt werden (Art. I-15). Ferner erhält die Union die Kompetenz für den Erlaß europäischer Gesetze für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Daseinsvorsorge, Art. III122); allerdings soll die nationale Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, insbesondere für die Finanzierung und Durchführung der Daseinsvorsorge, unberührt bleiben.29 Gemäß Titel V (Ausübung der Zuständigkeiten der Union) sollte in der zukünftigen Union die Zahl der unterschiedlichen Rechtsakte auf lediglich sechs reduziert werden. Diese sind in Art. I-32 aufgezählt und in der Folge definiert: das Europäische Gesetz (bisher Verordnung), das Europäische Rahmengesetz (bisher Richtlinie), die Europäische Verordnung, der Europäische Beschluß, die Empfehlung und die Stellungnahme. Die beiden letztgenannten sind im Gegensatz zu den anderen Akten rechtlich nicht bindend. Die Europäischen Gesetze und Rahmengesetze zeichnen sich dadurch aus, daß sie grundsätzlich in einem formalisierten Verfahren, dem „Gesetzgebungsverfahren“, erlassen werden. Dieses entspricht im wesentlichen dem bisherigen Mitentscheidungsverfahren, was bedeutet, daß der Rechtsakt nur gemeinsam vom Europäischen Parlament und vom Rat erlassen werden kann. Gelangen die beiden Organe nicht zu einer Einigung, so kommt der betreffende Gesetzgebungsakt nicht zustande (Art. I-33). Inhaltlich sollte das Gesetz die Funktion der bisherigen Verordnung („in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“), das Rahmengesetz die der bisherigen Richtlinie (lediglich „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich“) übernehmen, wodurch eine Anpassung an die Begrifflichkeiten des nationalstaatlichen Rechts erreicht wird. Daneben gibt es „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“ (Art. I-34); dies sind Verordnung und Beschluß. Sie werden ohne Beteiligung des Parlaments grundsätzlich von „Rat und Kommission“, in Sonderfällen von der Europäischen Zentralbank erlassen. Die „neue“ Europäische Verordnung soll daher nach Art. I-32 Abs. 1 S. 4 nur der Durchführung von Gesetzgebungsakten dienen, wobei sie entweder in allen Teilen (wie das Gesetz) oder nur hinsichtlich des Ziels (wie das Rahmengesetz) verbindlich sein kann. Der Europäische Beschluß ist zwar in allen Teilen verbindlich, aber nur für diejenigen Adressaten, an die er gerichtet ist. Er entspricht der bisherigen „Entscheidung“.30 Ein Novum ist die in Art. I-35 vorgesehene Befugnis der Kommission, so genannte „delegierte Verordnungen“ zu erlassen: diese dienen der „Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzes oder Rahmengesetzes“. Die Übertragung dieser Befugnis findet im (Rahmen-)Gesetz statt und kann jederzeit widerrufen werden. Die „Durchführungsrechtsakte“ ergehen gemäß Art. I-36 in der Form von Durchführungsverordnungen oder Durchführungsbeschlüssen.
29 30
s. dazu Oppermann, DVBl. 2003, 116 ff.; ders., JZ 2005, 1130 ff. Vgl. Görlitz, DÖV 2004, 374 ff.
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In Titel IX (Die Zugehörigkeit zur Union) ist erstmals ausdrücklich die Möglichkeit des freiwilligen Austritts aus der Union in einer eigenen Bestimmung vorgesehen (Art. 59). Teil II implementiert die Charta der Grundrechte der Union in das Verfassungsgefüge. Bereits in Teil I (Art. I-7) wird darauf hingewiesen, daß die Grundrechtecharta, wie im Dezember 2000 in Nizza feierlich verkündet wurde, als Teil II im Verfassungsvertragsentwurf enthalten ist.31 Teil III der Verfassung legt für jeden Politikbereich, für den in Teil I nur die Art der Zuständigkeit (ausschließliche oder geteilte, Koordinierung, Unterstützung, Ergänzung) der Union bestimmt ist, das konkrete Entscheidungsverfahren fest. Man findet hier auch die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzgebungscharakter wieder. Zurückhaltung übt der Entwurf weiterhin hinsichtlich des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen im Rat in den „sensiblen“ Bereichen Währungspolitik, Innen- und Justizpolitik sowie Außen- und Sicherheitspolitik. Für den Sozial- und Gesundheitsbereich enthält der Verfassungsentwurf wenig substanzielle Änderungen im Vergleich zur bisherigen Rechtslage, zumal es in der Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ des Konvents einen relativ breiten Konsens dahingehend gegeben hatte, daß die Kompetenzen im Sozial- und Gesundheitsbereich weitgehend unverändert bleiben sollten.32 Lediglich die das Gesundheitswesen betreffende dem jetzigen Art. 168 AEUV entsprechende Bestimmung des Verfassungsentwurfs (Art. III-179, ex-Art. 152 EGV) wurde modifiziert, indem sie den „ergänzenden“ Zuständigkeiten zugeordnet, somit kompetenziell „hochgezont“ und eine Unionszuständigkeit zur Bekämpfung weit verbreiteter schwerer Krankheiten in den ansonsten unveränderten Artikel eingefügt wurde. Hinzugekommen sind Kompetenzen zur gesetzlichen Festlegung von Maßnahmen für hohe Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei medizinischen Produkten und Geräten sowie eine EUKompetenz für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmißbrauch. Neu im Entwurf ist die in der Arbeitsgruppe und im Konventsplenum strittig gebliebene Einführung der „offenen Methode“ der Koordinierung in den Politikbereichen Sozialpolitik und Arbeitsschutz (Art. III-102, ex-Art. 140 EGV, jetzt Art. 156 AEUV). Danach sollte die Kommission „in enger Verbindung mit den Mitgliedstaaten“ im Wege von Initiativen tätig werden, „die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und 31
s. Herdegen, S. 59. Allerdings läßt sich aus der Zusammenschau von Werten und Zielen des EU-Verfassungsentwurfs eine starke sozialrechtliche Grundausrichtung der EU, ihrer Institutionen und Maßnahmen im Sinne einer auf Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit zielenden gesellschaftlichen Ordnung erschließen. So Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 2006, S. 52. 32
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Bewertung auszuarbeiten“, wobei das Europäische Parlament „in vollem Umfang unterrichtet“ werden soll. Diese eine informelle Koordinierungskompetenz beinhaltende Generalklausel des Entwurfs sollte im Bereich der gesamten Sozialpolitik einschließlich der sozialen Sicherheit und für den Gesundheitsschutz bei der Arbeit gelten und in gleicher Weise auf die Kompetenzen im Bereich des Gesundheitswesens der EU Anwendung finden (Art. III-179, ex-Art. 152 EGV, jetzt Art. 168 AEUV).33 Als „Auffangpuffer“ für die in den Verfassungsvertrag neu eingefügte offene Koordinierung sollte der neu konzipierte Art. 179 Abs. 7 (bisher Art. 152 Abs. 5 EGV, jetzt 168 Abs. 5 AEUV) dienen. Diese Subsidiaritätsbestimmung bestätigt die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festigung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten, so der Verfassungsvertrag, soll die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel umfassen. Im übrigen wurde die Sozialpolitik vor allem in Zielbestimmungen und allgemeinen (Querschnitts-) Klauseln aufgewertet, während in den einzelnen Kapiteln (Beschäftigung, Soziales, Migration) nur geringfügige Änderungen vorgenommen wurden: Maßnahmen zur Koordinierung der sozialen Sicherheit sollten mit qualifizierter Mehrheit statt bisher einstimmig (allerdings bereits im Mitentscheidungsverfahren) verabschiedet werden (Art.136; bisher Art. 42 EGV, jetzt Art. 48 AEUV). Das Beschäftigungskapitel wird im Entwurf im wesentlichen unverändert gelassen (Art. 97 ff.; bisher Art. 125 ff. EGV, jetzt Art. 145 ff. AEUV), ebenso wie die Sozialvorschriften (Art. 103 ff., bisher Art. 136 ff. EGV, jetzt Art. 151 ff. AEUV). Insbesondere sollte es beim Einstimmigkeitserfordernis für Rahmengesetze bei der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer, beim Kündigungsschutz, bei der Mitbestimmung und bei Beschäftigungsbedingungen Drittstaatsangehöriger bleiben; wie bisher (Art. 137 Abs. 5 EGV, jetzt Art. 153 Abs. 5 AEUV) blieben Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht und das Arbeitskampfrecht (Streik- und Aussperrungsrecht) von der Unionskompetenz ausgeschlossen. Bei der Umsetzung von Sozialpartnerabkommen durch europäische Verordnung oder Beschluß sollte zukünftig das Europäische Parlament zu unterrichten sein (Art. 106). Auch ist das Kapitel über Einwanderung und Asyl weitgehend unverändert (bisher Art. 61 ff. EGV, jetzt Art. 67 ff. AEUV); der Zugang von Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt wird in der Entwurfsfassung aber insoweit eingeschränkt, daß die Zahl der Arbeitssuchenden (nicht aber das Recht der Arbeitssuche) durch die Mitgliedstaaten festgelegt werden kann. Der Europäische Rat verständigte sich am 18. 6. 2004 in Brüssel auf einen Verfassungstext,34 der am 29. 10. 2004 in Rom unterzeichnet und den Mitgliedstaaten zur 33 Zu den gesundheits- und sozialpolitischen Implikationen des Verfassungsentwurfs s. S. Tiemann, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 935 ff.; dies., in: Gesellschaft für Europäische Sozialpolitik (Hrsg.), Die neue EU-Verfassung und die Europäische Sozialpolitik, S. 136 ff. 34 ABl. 2004 C 310 S.1 ff.
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Ratifizierung durch die nationalen Parlamente bzw. Volksentscheide zugeleitet wurde.
4. Das Gesundheitswesen im Lissabon-Vertrag a) Institutionelle und kompetenzielle Kernpunkte des Reformvertrages Nach der Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrages durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden beschloß der Europäische Rat die Ausarbeitung eines inhaltlich weitgehend dem Verfassungsvertrag entsprechenden Regelwerks mit Änderungen des EU- und des EG-Vertrages, das auf dem Gipfel von Lissabon am 13. 12. 2007 unterzeichnet wurde und nach Ratifikation am 1. 12. 2009 in Kraft getreten ist.35 Es sieht die Fortentwicklung des EUV und des EGV vor. Während ersterer als „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) seinen Namen behält, wird letzterer in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt, modifiziert und um elf neue Protokolle ergänzt, die ebenfalls primärrechtlichen Status haben. Die bisher mit unterschiedlichen Aufgaben und Zuständigkeiten versehenen Organisationen EU und EG werden unter dem Namen EU in eine Rechtsperson zusammengeführt (Art. 1 EUV). Zwar besteht der Reformvertrag im Gegensatz zum Verfassungsentwurf aus zwei gleichrangigen Grundlagenverträgen, vereinfacht aber die rechtskonstruktive Architektur Europas durch die Konstituierung der EU als rechtsfähige Organisation (Art. 47 EUV), welche die beiden europäischen Gemeinschaften ablöst und alle Politikbereiche integriert. Wesentlich ist ferner die Neuordnung der Abstimmungsmechanismen im Rat (Art. 15 EUV) mittels stärkerer Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen durch das Prinzip der „doppelten Mehrheit“ von Mitgliedstaaten und der von ihnen vertretenen Bevölkerung, die Überführung der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (bisher: „dritte Säule der EU“) in die vergemeinschafteten Politikbereiche und die Schaffung neuer Repräsentationsorgane der Union (Präsident – Art. 15 Abs. 5, 6 EUV, Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik – Art. 18 EUV). Neben der Integration der Charta der Grundrechte der EU in das Vertragswerk (Art. 6 EUV) erfolgt eine Kompetenzabgrenzung zwischen der Union (Art. 4 EUV) und den Mitgliedstaaten in dem Sinne, daß die EU nur innerhalb der Kompetenzen tätig werden kann, die ihr von den Mitgliedstaaten explizit verliehen werden (Art. 5 35 Zum Reformvertrag von Lissabon (Abl. Nr. C 115 v. 9. 5. 2008) als künftigem Rechtsrahmen der Integration s. Fischer, Der Vertrag von Lissabon, S. 79 ff.; Oppermann, DVBl. 2008, 65 ff.; Rabe, NJW 2007, 3153 ff. Zu den sozialpolitischen Auswirkungen s. Schnell/Wesenberg, DRV 2008, 275 ff.; Hatje-Kindt, NJW 2008, 1761 ff.; Cromme, Die Zukunft des LissabonVertrages, 2010; Pernice/Otto (Hrsg.), Europa neu verfaßt ohne Verfassung – Chancen und Bedeutung des Vertrages von Lissabon, 2010.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Abs. 2 EUV), wobei im Vertrag ausdrücklich zwischen ausschließlicher Zuständigkeit (Art. 3 AEUV), geteilten Zuständigkeiten (Art. 4 AEUV) sowie bloßen Koordinierungs-, Unterstützungs- und Ergänzungsbefugnissen (Art. 5, 6 AEUV) der Union unterschieden wird. Für das Gesundheits- und Sozialwesen ist auch die Stärkung des Europäischen Parlaments (Art. 14 EUV) und der nationalen Parlamente von Bedeutung (Art. 12 EUV). So sollen das Gesetzgebungsverfahren vereinfacht und die Entscheidungskompetenzen des EU-Parlaments erweitert werden. Die bisherigen vier Verfahren (Mitentscheidungs-, Zusammenarbeits-, Anhörungs- und Zustimmungsverfahren) werden auf zwei reduziert (Art. 289 AEUV): Einerseits kommt nun im Regelfall das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ zur Anwendung, welches weitgehend dem bisherigen Mitentscheidungsverfahren gleicht. Andererseits wird das „besondere Gesetzgebungsverfahren“ eingeführt, z. B. für die Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch ein Legislativorgan, d. h. Europäisches Parlament oder Rat, wobei die Beteiligung des jeweils anderen Organs in der entsprechenden Bestimmung des Vertrages geregelt wird.36 Mit dieser Neuordnung avanciert das Europäische Parlament praktisch zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber, wodurch die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Möglichkeiten, gesundheitspolitische Entscheidungen zu beeinflussen, vergrößert werden. Die EU-Kommission und das Europäische Parlament vereinbarten am 9. 2. 2010 neue Regeln für ihre zukünftige Zusammenarbeit auf der Basis des Lissabon-Vertrages.37 Insbesondere das sog. Indirekte Initiativrecht des Europäischen Parlaments bei Gesetzesvorhaben (Art. 225 AEUV, ex-Art. 192 Abs. 2 EGV) wird durch die Vereinbarung künftig deutlich gestärkt. Das Recht, Gesetzesentwürfe vorzulegen, hat in der EU nach wie vor nur die Kommission. Das Parlament verfügt hingegen lediglich über die Möglichkeit, die Kommission aufzufordern, in einem bestimmten Bereich eine Verordnung oder Richtlinie zu erarbeiten. In der Praxis blieben diese Aufforderungen bisher freilich oft unbeachtet. Nach der jetzt getroffenen Regelung verpflichtet sich die Kommission dazu, auf Forderung des Parlaments nach bestimmten Gesetzgebungsinitiativen innerhalb von drei Monaten über die konkrete Weiterbehandlung dieser Angelegenheit zu berichten und spätestens nach einem Jahr einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorzulegen. Hält sich die Kommission nicht an die Fristen, muß sie dies ausführlich begründen. Ferner muß sie das Parlament künftig stärker in die Erarbeitung ihrer jährlichen Arbeitsprogramme einbeziehen.
36
Dieses Verfahren wird u. a. im Bereich der Sozialpolitik (bisher Art. 137 EGV, neu 153 AEUV) zur Anwendung kommen, wenn die Union zum Schutz der Arbeitnehmer die Mitgliedstaaten in Fragen der sozialen Sicherheit unterstützt. 37 s. den Überblick über die auf Druck des EP zustandegekommene Vereinbarung über Verfahrensweisen der Vertragsumsetzung, durch die die Beteiligungsrechte des Parlaments in der „Verfassungspraxis“ erweitert werden, in Eureport social 1 – 2/2010, S. 3.
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Eine weitere Neuerung in der Zusammenarbeit besteht darin, daß sich künftig neben den Kandidaten für das Amt eines EU-Kommissars auch designierte Leiter der verschiedenen EU-Agenturen einer Anhörung im Europäischen Parlament stellen müssen, bevor sie ihr Amt antreten können. Schließlich muß das Europäische Parlament in internationale Verhandlungen – wie beispielsweise Handelsabkommen – genauso umfassend einbezogen werden wie in die Nominierungsprozesse für Sonderbeauftragte oder Botschafter. Die nationalen Parlamente erhalten mit Art. 5 Abs. 2 EUV i.V.m. dem Protokoll Nr. 27 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit, gegen Gesetzesvorhaben der Union vorzugehen, wenn sie der Meinung sind, die Zuständigkeit der Union sei überschritten. Damit sie dieses Recht wahrnehmen können, muß die Kommission künftig Konsultationsdokumente, Gesetzgebungsakte und ihre geänderten Entwürfe neben dem Unionsgesetzgeber auch den nationalen Parlamenten zuleiten (Art. 12 EUV i.V.m. Protokoll Nr. 34 über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU). Diese oder die einzelnen Legislativorgane können dann binnen acht Wochen Einspruch erheben, wenn sie ihre Zuständigkeit mißachtet sehen. Für das Gesundheitswesen, das in Deutschland in vielen Bereichen in die Kompetenz der Länder fällt und in dem die Union ohnehin nur nachrangig und sehr eingeschränkt tätig werden darf, bedeutet dies, daß der Bundesrat ohne die Mitwirkung der Bundesregierung prüfen lassen kann, ob ein Legislativakt der EU in Länderkompetenzen eingreift, z. B. bezüglich der Kapazitätsplanung im Krankenhauswesen oder der administrativen Sicherstellung der medizinischen Versorgung. b) Die künftige unionsrechtliche Verortung des Gesundheitswesens Während eine Reihe von Politikfeldern wie z. B. die Bildungs-, Kultur- oder Beschäftigungspolitik wortwörtlich aus dem EGV in den Lissabon-Vertrag übernommen wurden, weist der Bereich der Gesundheitspolitik einige wesentliche Veränderungen auf.38 So fällt die Gesundheitspolitik nach der im AEUV vorgenommenen Einteilung in die Kategorie der geteilten Zuständigkeit, wonach „die Union und die Mitgliedstaaten gemeinsam im Bereich der öffentlichen Gesundheit gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen können. Die Mitgliedstaaten nehmen dabei ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat“ (Art. 4 AEUV). Ferner kann die Union auch Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Politik der Mitgliedstaaten erlassen, wenn es um den „Schutz und die Verbesserung der menschlichen Gesundheit geht“ (Art. 6 AEUV).
38 Zum europäischen Sozial- und Gesundheitsrecht „nach Lissabon“ s. Pitschas, NZS 2010, 177 ff.; Eichenhofer, in: GVG (Hrsg.), Sozialpolitik im Kontext des Lissabon-Vertrages, 2009; Jaeckel, Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 1/2010, S. 21 ff.
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Während die Auflistung der Gesundheitspolitik unter den geteilten Zuständigkeiten letztlich nicht über die bisherigen vertraglichen Bestimmungen des NizzaVertrages hinausgeht, verpflichtet die neu eingefügte Querschnittsklausel (Art. 9 AEUV) die Europäische Union, „bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen einem hohen Niveau (…) des Gesundheitsschutzes Rechnung“ zu tragen. Damit findet der im Rahmen der Gesundheitsstrategie von der Europäischen Kommission formulierte Grundsatz „health in all policies“ seine vertragliche Entsprechung.39 Im ersten Absatz des neuen Art. 168 AEUV (bisher Art. 152 EGV) wird die bisherige Formulierung „menschliche Gesundheit“ durch den weiter gefaßten Begriff der „körperlichen und geistigen Gesundheit“ ersetzt, so daß die Gemeinschaft die Politik der Mitgliedstaaten insofern ergänzt, als sie diese bei der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, der Verhütung von Humankrankheiten und der Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit unterstützt.40 Die Ergänzung des ersten Abschnitts des Art. 168 AEUV beinhaltet eine Ausweitung des bisherigen Handlungsfeldes der EU im Bereich der Gesundheitspolitik. Danach umfaßt sie künftig auch „die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren“. Die Erfahrungen bei der Bekämpfung des Rinderwahns, der Vogelgrippe oder anderer Panepidemien – wie nicht zuletzt der Schweinegrippe – haben hier ihren vertraglichen Niederschlag gefunden. Im zweiten Absatz wird wie bisher festgelegt, daß die Union die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in den genannten Bereichen fördert und deren Tätigkeit unterstützt. Die Mitgliedstaaten ihrerseits sind gehalten, in diesen Bereichen ihre Politiken und Programme zu koordinieren. Wenn nötig, kann die Kommission Initiativen zur besseren Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten ergreifen. Hier wird ein Zusatz eingefügt, wonach „die Kommission die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert, die darauf abzielt, die Komplementarität ihrer Gesundheitsdienste in den Grenzgebieten zu verbessern“. In einem weiteren, neu hinzugefügten dritten Absatz wird dargelegt, wie dies seitens der Kommission erfolgen könnte, nämlich „insbesondere durch Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige 39 Pitschas, NZS 2010, 177, 179 sieht hierin einen Quantensprung in der sich herausbildenden Verantwortungsverteilung. Ähnlich Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 201 ff. 40 Die Erweiterung des Gesundheitsbegriffs ist nicht nur auf die in der EU geführte Diskussion über das „Grünbuch zur mentalen Gesundheit“ zurückzuführen, sondern reflektiert auch entsprechende Konzeptionen der WHO und den Stand der internationalen sozialmedizinisch-wissenschaftlichen Entwicklung. s. hierzu auch die im Auftrag der EU-Kommission erstellte Studie „Quality in and Equality of Access to Health Care Services“, März 2008, S. 305 f.
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Überwachung und Bewertung auszuarbeiten. Das Europäische Parlament wird in vollem Umfang unterrichtet.“ Es ist nicht zu verkennen, daß hier die in den vergangenen Jahren geführte Diskussion über die Mobilität von Patienten und deren Rechte in der EU sowie die damit für die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten verbundenen Herausforderungen ihren Eingang in den Lissabon-Vertrag gefunden hat. Neben der Verbesserung einer sich ergänzenden und aufeinander abgestimmten Funktionsweise der Gesundheitsdienste in den Grenzgebieten wird daher die vertragliche Grundlage für die Nutzung der Methode der Offenen Koordinierung geschaffen, die seit den Beschlüssen des Europäischen Rates von Nizza im Dezember 2000 sukzessive in verschiedene Politikbereiche implementiert wurde, so u. a. in den Bereich des Sozialschutzes, der auch die Alten- und Gesundheitspflege umfaßt. Demzufolge eröffnet diese vertragliche Ergänzung der Kommission die Möglichkeit, verstärkt auf „soft-law-Instrumente“ zurückzugreifen. Sie kann künftig auf europäischer Ebene nicht nur Leitlinien festlegen, sondern deren Umsetzung durch die Mitgliedstaaten auch anhand von (quantitativen bzw. qualitativen) Indikatoren überprüfen. Bezüglich solcher Leistungs- und Erfüllungsverpflichtungen der Gemeinschaft auf Mindeststandards, gleichheitsbegründete Schutzaufträge und soziale Förderpflichten zeichnen sich neue Steuerungsverantwortungen unter Nutzung des Wettbewerbs zwischen den unterschiedlichen Rechtsordnungen ab. Der vierte Absatz des Art. 168 AEUV erfährt eine Erweiterung, indem die Auflistung der Maßnahmen, die die Kommission im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens, dem nunmehrigen „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“, erlassen kann, jetzt auch „Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte“ umfaßt. Art. 168 Abs. 5 AEUV hebt auch im Bereich der öffentlichen Gesundheit insoweit die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips hervor, als „bei der Tätigkeit der Union die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik und die medizinische Versorgung gewahrt“ bleiben muß. Immerhin lassen die Kompetenzverteilungen und Verantwortungszuordnungen im Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten auch auf dem Gebiet des Gesundheitswesens deutlich werden, daß der Lissabon-Vertrag die Eigendynamik eines sich weiterentwickelnden europäischen Sozialmodells verstärkt und die bisherige „Asymmetrie zwischen ökonomischer und sozialer Gemeinschaftsentwicklung“ innerhalb des Integrationsprozesses korrigiert, indem es die Binnenmarktausrichtung durch eine sozialpolitische Zielorientierung im Sinne der Art. 6 EUV und 9 AEUV flankiert.41
41 Pitschas, NZS 2010, 177, 180 sieht hierin einen „verdeckten Paradigmenwechsel“ der europäischen Sozial- und Gesundheitspolitik zugunsten einer (neuen) gemeinsamen Verantwortung der Union und der Mitgliedstaaten für die Fortentwicklung des Europäischen Sozialmodells (auch) durch erweiterte gemeinschaftliche Rechtsetzung. Zur Europäisierung des
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Zu den durch den Lissabon-Vertrag bedingten Veränderungen, die für den Gesundheitsbereich relevant sind, gehört insbesondere auch der neue Art. 48 AEUV (ex-Art. 42 EGV) zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern, auf dessen Grundlage die Verordnung 1408/71 für Wanderarbeitnehmer (künftig VO 883/2004) geschaffen wurde, die die gesetzliche Grundlage für die Erstattung von Behandlungskosten bei ambulanten und stationären Behandlungen im EU-Ausland darstellt. Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages fällt das bisherige Einstimmigkeitserfordernis weg, das jedem Mitgliedstaat ein Vetorecht im Bereich der Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme einräumte. Das Vetorecht wird jedoch durch den Einbau eines sog. „Notbremseverfahrens“ (emergency break) (Art. 48 AEUV) in modifizierter Form wieder eingeführt. Danach kann ein Mitgliedstaat erklären, „daß ein Entwurf eines Gesetzgebungsaktes wichtige Aspekte seines Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere dessen Geltungsbereich, Kosten oder Finanzstruktur verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen würde“, und beantragen, „daß der Europäische Rat befaßt wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt.“ Binnen vier Monaten kann dann der Vorschlag wieder an den Rat zwecks weiterer Beratung überwiesen werden oder der Europäische Rat beschließt, von einem Tätigwerden abzusehen, oder die Kommission wird aufgefordert, einen neuen Vorschlag vorzulegen. Dieses Notbremseverfahren wurde ebenfalls in den Bereichen der Innen- und Justizpolitik überall dort eingezogen, wo Handlungsfelder durch einstimmigen Beschluß des Rates in die Mehrheitsabstimmung überführt werden können. c) Das Verhältnis von nationalem Verfassungsund supranationalem Unionsrecht In seinem aufgrund eines Organstreitverfahrens und von Verfassungsbeschwerden ergangenen Urteils zum Lissabon-Vertrag vom 30.1.200942 hat das BVerfG im Anschluß an seine Maastricht-Entscheidung grundlegende Ausführungen zum Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und gemeinschaftsrechtlichem Integrationsprozeß gemacht und festgestellt, daß das Grundgesetz mit Art. 23 GG die Bundesrepublik zur Beteiligung an und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union ermächtigt. Der Begriff des Verbundes umfaßt eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legi-
Gesundheitswesens vor dem Hintergrund des Lissabon-Vertrages s. Jaeckel, Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 6/2009, S. 19 ff.; Nr. 1/2010, S. 21 ff.; Demmer, BKK 12/2009, 548 ff. 42 NJW 2009, 2267 ff.; s. dazu Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 ff.; Pernice, EuZW 2008, 65 ff.; Nettesheim, NJW 2009, 2867 ff.; Pernice/Otto, Europa neu verfaßt ohne Verfassung.
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timation bleiben.43 Das besondere Augenmerk des BVerfG gilt der Einbindung des Parlaments in den Integrationsprozeß: Sofern die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht so ausgestalten, daß unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann, obliegt neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muß (Integrationsverantwortung) und ggf. in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren eingefordert werden kann.44 Der Integrationsprozeß muß darüber hinaus kompatibel mit den Staatsfundamentalnormen und -zielen der Verfassung sein. Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG begrenzt das in der Staatszielbestimmung angesprochene Mitwirkungsziel auf eine Europäische Union, die in ihren elementaren Strukturen den durch Art. 79 Abs. 3 GG auch vor Veränderungen durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschützten Kernprinzipien entspricht. Die Ausgestaltung der Europäischen Union im Hinblick auf übertragene Hoheitsrechte, Organe und Entscheidungsverfahren muß demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG), wobei die konkreten Anforderungen an die demokratischen Grundsätze vom Umfang der übertragenen Hoheitsrechte und vom Grad der Verselbständigung europäischer Entscheidungsverfahren abhängen. Eine Verstärkung der Integration kann – so das BVerfG – verfassungswidrig sein, wenn das demokratische Legitimationsniveau mit dem Umfang und dem Gewicht supranationaler Herrschaftsmacht nicht Schritt hält. Solange und soweit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit gewahrt bleibt, soll grundsätzlich die über nationale Parlamente und Regierungen vermittelte Le-
43 Zur staatstheoretischen und -rechtlichen Einordnung des supranationalen „Staatenverbundes“ s. Kirchhof, S. 1009 ff.; Herdegen, S. 76 ff. sowie die Hinweise oben 1. Kap. I. 3. a). 44 Die rechtliche und politische Integrationsverantwortung des Parlaments erschöpft sich nicht in einem einmaligen Zustimmungsakt, der die weitere Entwicklung des Europarechts europäischen Organen überließe, sondern flankiert eine dynamische Verfassungsentwicklung, auf die sich der Gesetzgeber in einem Begleitgesetz einstellen muß, das die Entscheidungsverantwortlichkeiten zwischen Parlament und Regierung, zwischen Europäischer Union und deutschem Mitgliedstaat neu justiert. s. dazu P. Kirchhof, Demokratie in Europa – Das neue Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag muß anspruchsvoll sein, FAZ v. 4. 7. 2009, S. 12 sowie die vier EU-Begleitgesetze, das „Integrationsverantwortungsgesetz“, das die Rolle des deutschen Parlaments bei Änderungen des EU-Vertragsrechts stärkt, das „Zusammenarbeitsgesetz zwischen Bundesregierung und Bundestag“, das die Informationspflichten der Bundesregierung und das Recht des Bundestages auf Stellungnahmen zu EU-Rechtsakten regelt, das „Zusammenarbeitsgesetz zwischen Bundesregierung und Bundesrat“, das die Beteiligung des Bundesrates an EU-relevanten Entscheidungsprozessen erweitert, sowie das „Umsetzungsgesetz“, des Lissabon-Vertrages, das die Grundgesetzänderungen zur Ratifizierung des Reformvertrages vollzieht.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
gitimation der Mitgliedstaaten ausreichen, die ergänzt und abgestützt wird durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament.45 Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müßten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein. Das BVerfG wendet sich gegen einen „Integrationsautomatismus“, der zur schleichenden Auszehrung fundamentaler nationaler Souveränitätsreservate und demokratisch legitimierter Selbstbestimmungsrechte führen könnte. Nach Auffassung des BVerfG läge ein nach Art. 23 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG nicht hinnehmbares strukturelles Demokratiedefizit vor, wenn der Kompetenzumfang, die politische Gestaltungsmacht und der Grad an selbständiger Willensbildung der Unionsorgane ein der Bundesebene im föderalen Staat entsprechendes (staatsanaloges) Niveau erreichte, weil etwa die für die demokratische Selbstbestimmung wesentlichen Gesetzgebungszuständigkeiten überwiegend auf der Unionsebene ausgeübt würden. Wenn sich im Entwicklungsverlauf der europäischen Integration ein Mißverhältnis zwischen Art und Umfang der ausgeübten Hoheitsrechte und dem Maß demokratischer Legitimation einstellt, obliege es der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer Integrationsverantwortung, auf eine Veränderung hinzuwirken und im äußersten Fall sogar ihre weitere Beteiligung an der Europäischen Union zu verweigern. Zur Wahrung demokratischer Grundsätze könne es geboten sein, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in den Verträgen und bei ihrer Anwendung und Auslegung deutlich hervorzuheben, um das Gleichgewicht der politischen Kräfte Europas zwischen den Mitgliedstaaten und der Unionsebene als Voraussetzung der Verteilung von Hoheitsrechten im Verbund zu erhalten. Das BVerfG definiert einen Kernbereich geschützter Verfassungsidentität, der nicht zur Disposition vertraglicher Übertragung von Hoheitsrechten steht:46 Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten dürfe nicht so verwirklicht werden, daß in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gelte insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem 45
BVerfGE 155, 184; zu den europapolitischen Implikationen des Lissabon-Vertrages s. Müller-Greff, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Europa nach Lissabon, 18/2010, S. 22 ff. 46 s. hierzu kritisch Nettesheim, NJW 2009, 2867 ff., der dem BVerfG-Urteil die Konstruktion eines „Individualrechts auf Staatlichkeit“ entnimmt. s. auch van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 2010, der dem BVerfG ein europafeindliches Politikverständnis des „liberal-konservativen Etatismus“ unterstellt, das sich mit dem Festhalten an einer sich gegenseitig bedingenden „Trinität“ von Nationalstaat, Souveränität und Demokratie und mit Hilfe der überkommenen Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstaat eine „europäischere“ Sicht selbst verstelle.
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Das BVerfG behält sich ein Prüfungsrecht vor, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV, Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.47 Darüber hinaus prüft das BVerfG, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist.48 Das BVerfG betont, daß die Ausübung dieser verfassungsrechtlich radizierten Prüfungskompetenz dem Prinzip der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes folge und deshalb auch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) widerspreche; anders könnten die von Art. 4 Abs. 2 S.1 EUV anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden. Insoweit gehen nach Auffassung des BVerfG die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum Hand in Hand.49
d) Die Vereinbarkeit unionsrechtlicher Sozialkompetenzen mit deutschem Verfassungsrecht Das Notbremseverfahren des Art. 48 AEUV hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Lissabon-Vertrag als Beweis dafür herangezogen, daß angesichts des weit bemessenen Gestaltungsfreiraums, der in sozialen Fragen auch auf europäischer Ebene besteht,50 nichts dafür ersichtlich sei, daß den Mitgliedstaaten das Recht und die praktischen Handlungsmöglichkeiten genommen wären, für Soziale Sicherungssysteme und andere Maßnahmen der Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik konzeptionelle Entscheidungen in ihren demokratischen Primärräumen zu treffen. Weil das BVerfG die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen ebenso wie politische Regelungen u. a. der wirtschaftlichen, kulturellen Sachbereiche, die Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht oder die Verfügung über das politische oder militärische Gewaltmonopol zu den Kernbereichen demokratischer Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates zählt, mißt es die sozialpo47
BVerfGE 58, 1, 30 f.; 75, 223, 235, 242; 89, 155, 188. BVerfGE 113, 273, 296. 49 Der Präsident des BVerfG, Vosskuhle, spricht von einer „geteilten Integrationsverantwortung“ in der „europäischen Verantwortungsunion“ (s. FAZ v. 22. 4. 2010, „Fruchtbares Zusammenspiel“). 50 NJW 2009, 2867. 48
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
litischen Normen des Vertragswerks an den unveräußerlichen demokratischen und grundrechtlichen Legitimationskriterien der Verfassung. Der Vertrag von Lissabon beschränkt nach Auffassung des BVerfG51 die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestags nicht in solchem Umfang, daß das Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. 79 Abs. 3 GG) in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume vermindert wären. Unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung zum verfassungsrechtlichen Bedeutungsgehalt des Sozialstaatsprinzips als Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen52 und Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger zu schaffen,53 sieht das BVerfG in seiner Entscheidung zum Lissabon-Vertrag die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine soziale Integration oder eine „Sozialunion“ im Hinblick auf den normativen Konkretisierungsbedarf eines als staatlichen Auftrag und nicht als detaillierte Handlungsanweisung verstandenen Sozialstaatsprinzips als „deutlich begrenzt“ an. Zwar hänge gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Deutschlands Mitwirkung am Integrationsprozeß von der Verpflichtung der Europäischen Union u. a. auf soziale Grundsätze ab. Das Grundgesetz unternehme es damit, nicht nur defensiv soziale Aufgaben für den deutschen Staatsverband gegen überstaatliche Inanspruchnahmen zu sichern, sondern wolle die europäische Hoheitsgewalt in ihrem – übertragenen – Aufgabenspektrum an die Sozialverantwortung binden.54 Auch für die Organe der Europäischen Union gelte aber der Grundsatz, daß das Sozialstaatsprinzip notwendig die politische und rechtliche Konkretisierung voraussetzt, um wirken zu können. Das BVerfG hält es für verfassungsrechtlich geboten, daß die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden: „Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen, eine nicht nur im Sozialstaatsprinzip, sondern auch in Art. 1 Abs. 1 GG gegründete Staatsaufgabe, muß weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten bleiben, auch wenn Koordinierung bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen ist. Dies korrespondiert mit den rechtlich wie faktisch begrenzten Möglichkeiten der Europäischen Union zur Ausformung sozialstaatlicher Strukturen.“ Die Behauptung, die europäische Wirtschaftspolitik sei reine Marktpolitik ohne sozialpolitische Ausrichtung und beschränke mit ihrem funktionellen Ansatz die Möglichkeiten der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten, eine selbstbestimmte Sozialpolitik zu betreiben, wird vom BVerfG als unzutreffend zurückgewiesen. Weder sei die Europäische Union sozialpolitisch ohne Kompetenzen, noch sei sie auf diesem Gebiet untätig. Zugleich verfügten die Mitgliedstaaten über einen ausreichenden 51
NJW 2009, 2276. BVerfGE 59, 131, 263; 100, 271, 284. 53 BVerfGE 82, 60, 80; 110, 412, 445. 54 S. dazu Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 587 ff.; Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 531 ff. 52
I. Das Gesundheitswesen in der europäischen Unionsstruktur
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Zuständigkeitsraum, um sozialpolitisch wesentliche Entscheidungen selbstverantwortlich zu treffen.55 Demgegenüber sieht das BVerfG56 den Vertrag von Lissabon in einer Entwicklungslinie, die seit dem Beginn des Integrationsprozesses die soziale Dimension ausgeweitet habe. Dies habe sich in einer permanenten Verstärkung des Sozialthemas sowohl in den Rechtsgrundlagen der Integration als auch insbesondere im Primärrecht niedergeschlagen,57 von den Zuständigkeiten in den Bereichen Arbeitsrecht, soziale Sicherung, Aus- und Fortbildung, Mitbestimmung, Dialog mit den Sozialpartnern sowie Arbeitsbedingungen und im öffentlichen Gesundheitswesen bis zu den Antidiskriminierungs- und Freizügigkeitsregelungen und den sozialen Grundrechten der Grundrechtecharta oder der vom EuGH als Nukleus einer europäischen Solidarität verstandenen Unionsbürgerschaft, durch die die Teilhabe der Unionsbürger an dem jeweiligen Sozialsystem der Mitgliedstaaten gefördert wird.58 Der Vertrag von Lissabon setzt nach Auffassung des BVerfG diese Entwicklungslinie fort: Die Präambel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bekundet in ihrem zweiten Erwägungsgrund die Entschlossenheit, durch „gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ der Mitgliedstaaten zu sichern. Die Zielbestimmungen des Vertrags über die Europäische Union wurden dahingehend angepaßt, daß die Union auf eine in „hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, hinwirkt (Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV). Zugleich wird das Ziel eines „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ aus dem operativen Teil des Vertrags über die Europäische Union gestrichen und in das Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb ausgelagert.59 Eine neue Querschnittsklausel (Art. 9 AEUV) soll sicherstellen, daß der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, einem hohen Bildungsniveau und dem Gesundheitsschutz in allen Politiken und Maßnahmen der Union Rechnung getragen wird. Weitere Neuerungen im sozialen Bereich führt der Vertrag von Lissabon ein durch Art. 5 Abs. 3 (Koordinierung mitgliedstaatlicher Sozialpolitik), Art. 21 Abs. 3 (Unionsbürgerschaft und soziale Sicherheit), Art. 152 (Rolle der Sozialpartner) und Art. 165 Abs. 2 AEUV (soziale Funktion des Sports).60 55
Vgl. im Sinne dieser Einschätzung auch Pitschas, NZS 2010, 177, 179. NJW 2009, 2267, 2293. 57 Vgl. die Nachweise bei Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, S. 295 ff. 58 So das BVerfG, NJW 2009, 2267, 2293 unter Hinweis auf Hatje/Huber, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, 2007; Heilbronner, JZ 2005, 1138. 59 Pitschas, SGb 2010, 177, 179 spricht von einem „Re-Balancing“ des Wettbewerbsrechts zugunsten anderer Instrumente wie des Umwelt- oder Verbraucherschutzes und der Gewährleistungen der Grundrechtecharta. 60 s. dazu Eichenhofer, Sozialpolitik im Kontext des Lissabon-Vertrages, S. 11 ff.; Schnell/ Wesenberg, DRV 2008, 275 ff. 56
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Das BVerfG weist darauf hin, daß dem rechtlichen Handlungsrahmen politische Initiativen und Programme entsprechen, die das Recht ausfüllen und konkretisieren und in zahlreichen EU-Dokumenten ihren Niederschlag gefunden haben, die ausdrücklich anerkennen, daß die Themen sozialer Fortschritt und Schutz der Arbeitnehmerrechte oder auch öffentliche Dienstleistungen als unverzichtbares Instrument des sozialen und regionalen Zusammenhalts anzusehen und die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Bereitstellung von Bildungs- und Gesundheitsdiensten sowie sonstige Einrichtungen der Daseinsvorsorge von großer Bedeutung seien.61 Schließlich sei – so das BVerfG – die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen, die zwar bis in die jüngste Zeit hinein auch Anlaß für die Kritik an einer „einseitigen Marktorientierung“ der Europäischen Union war, zugleich aber eine Reihe von Elementen für ein „soziales Europa“ aufgezeigt habe. Der Gerichtshof habe in seiner Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die die soziale Dimension der Europäischen Union stärken, und zahlreiche wichtige soziale Anliegen als zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls anerkannt, die Einschränkungen der Marktfreiheiten des Gemeinschaftsrechts rechtfertigen können.62 In Anbetracht dieser Rechtslage, der Entwicklungen und der politischen Grundrichtung in der EU sieht das BVerfG den weit bemessenen Gestaltungsspielraum, der in sozialen Fragen unionsrechtlich besteht, durch den Lissabon-Vertrag vor dem Hintergrund nationalen Verfassungsrechts bisher nicht überschritten, zumal es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibe, ihre primären rechtlichen und praktischen Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme zu nutzen.63
61 Vgl. z. B. die Schlußfolgerungen des Ratsvorsitzes des Europäischen Rates von Brüssel v. 11./12. 12. 2008 (Bulletin EU 12 – 2008, I 17 (A-Anlage 1-). 62 Zur Rolle der EuGH-Rechtsprechung für die Entwicklung der sozialen Dimension der EU s. Marhold, Das neue Sozialrecht der EU, 2005; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 32, 35, 42, 57 f., 126 f., 172, 174 f., 181 f., 197 ff.; Herdegen, S. 391 ff. 63 BVerfG, NJW 2009, 2267, 2293.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses in ihren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen 1. Die gesundheits- und sozialpolitische Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten a) Die originären Zuständigkeiten der Union im Gesundheitswesen Die in den jeweiligen EG- und EU-Verträgen „vor Lissabon“ geregelten sozialund gesundheitspolitischen Kompetenzen insbesondere für die Bereiche „Soziale Sicherung“ und „Gesundheitsschutz“ waren in unterschiedlicher Tragweite und Intensität entwickelt (ex-Art. 3i, j, k, p, 42, 142 ff., 152 EGV, jetzt Art. 3, 48, 158 ff., 168 AEUV). Zwar lag die Ausgestaltung der Gesundheits-, Sozialschutz- und Sozialversicherungssysteme weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten. Dennoch kam den gemeinschaftsrechtlichen sozial relevanten Regelungen infolge der Grundfreiheiten, insbesondere der Freizügigkeits-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 45 ff. AEUV, ex-Art. 39 ff. EGV), seit jeher große Bedeutung zu. Dies gilt vor allem für die durch Richtlinien und Verordnungen geregelten sozialrechtlichen Ansprüche und Leistungen bei Migration von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Als monetäres Instrument europaweiter Sozialgestaltung steht der Union der Europäische Sozialfonds (Art. 162 ff. AEUV, ex-Art. 146 ff. EGV) zur Förderung beruflicher Mobilität, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Verbesserung der Chancengleichheit zur Verfügung. Zielsetzungen der Gesundheitsund Sozialpolitik der EU, die in einer „Europäischen Sozialagenda“ und gesundheitspolitischen Leitlinien formuliert sind, streben insbesondere die Förderung des sozialen Zusammenhalts, des Wirtschaftswachstums, des Arbeitsmarktes sowie der Systeme Sozialer Sicherung an.64 Die EU hatte in den Bereichen des öffentlichen Gesundheitswesens schon bisher eine Komplementär- und Koordinierungsfunktion, d. h. die Union verfügte über Zuständigkeiten, die das Handeln der nationalen Gesundheitspolitik ergänzen, und über Kompetenzen, durch die nationale Maßnahmen auf diesen Gebieten koordiniert werden. Am weitesten gefaßt ist der heutige Art. 168 AEUV (ex-Art. 152 Abs. 4c EGV), der ihr die Kompetenz zu „Förderungsmaßnahmen“ zuweist, die den „Schutz und die Verbesserung der menschlichen Gesundheit zum Ziel haben“, und zugleich die Einschränkung hinzufügt, daß diese Förderungsmaßnahmen „unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitglied64 Zu den gesundheitspolitischen Zielsetzungen der EU s. B. Tiemann, Die Gesundheitsund Sozialpolitik der EU, S. 77 ff.; Jaeckel, Gesellschaftspolitische Kommentare 6/2009, S. 19 ff.; 1/2010, S. 21 ff.; Demmer, BKK 12/2009, 548 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
staaten“ erfolgen. Art. 168 Abs. 7 AEUV (ex-Art. 152 Abs. 5 EGV) betont ausdrücklich, daß „bei der Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung in vollem Umfang gewahrt bleibt“. Da die Gemeinschaft im Hinblick auf das in Art. 5 EUV (ex-Art. 5 EGV) verankerte Subsidiaritätsprinzip nur innerhalb der ihr vertraglich zugewiesenen Befugnisse und im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips tätig werden kann, besitzt sie mangels vertraglicher Ermächtigung keine originäre Kompetenz im Bereich der Krankenversicherung.65 Bereits in ihrer sozialpolitischen Agenda66 strebte die EU-Kommission die Sicherstellung einer positiven und dynamischen Wechselwirkung von Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik an, mit der es gelingen sollte, alle Schlüsselakteure für ein gemeinsames Streben nach dem neuen strategischen Ziel zu mobilisieren. Das Herzstück der Agenda war es, das europäische Sozialmodell zu modernisieren und die politischen Verpflichtungen des Europäischen Rates von Lissabon in konkrete Maßnahmen umzusetzen. In der Agenda wird ein breites Spektrum von Maßnahmen skizziert: • Verwirklichung des vollen Beschäftigungspotentials Europas durch Förderung von Innovation und Mobilität • Modernisierung des Sozialschutzes, Förderung der sozialen Eingliederung und der Gleichstellung der Geschlechter, Bekämpfung von Diskriminierungen und Ausgrenzung • Vorbereitung der Erweiterung und der Förderung der internationalen Kooperation und des Sozialen Dialogs. Zwar handelte es sich nicht bei allen vorgeschlagenen Maßnahmen um neue Aktionen, aber die bereits laufenden haben eine Neuausrichtung gemäß der politischen Orientierung der ambitionierten sog. Lissabon-Strategie erfahren, die Europa zu einer Spitzenposition des Wachstums, der Vollbeschäftigung und des sozialen Fortschritts verhelfen sollte. Eine weitere Neuerung bestand darin, daß diese quasi informelle Strategie einer Offenen Methode der Koordinierung, die bisher auf die Beschäftigung beschränkt war, künftig auch auf andere Bereiche der Sozialpolitik angewandt werden sollte. Dieses immer wichtiger werdende außerrechtliche Einwirkungs- und Koordinierungsverfahren sollte sicherstellen, daß zu vereinbarten Zielen und Vorgaben ein stärker qualitativer und – falls angemessen – auch quantitativer Follow-up gewährleistet ist.67 65
Vgl. B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen im Umbruch, 2006, S. 39 ff., 41 f. 66 KOM (2000), 379 endg. 67 Vgl. GVG (Hrsg.), Offene Methode der Koordinierung, 2004; Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, S. 43 ff.; Eichenhofer (S. 59 ff.), Lamping (S. 85 ff.), Kröger
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Eine solche Form der Europäisierung der Sozialpolitik erfaßt zunehmend auch das Gesundheitswesen. Der bisherige Art. 152 EGV befaßt sich ebenso wie der neue Art. 168 AEUV nicht nur mit der Gesundheitspolitik, sondern strahlt auch auf andere Politikfelder des Umwelt-, Verbraucher- oder Arbeitsschutzes aus: Dementsprechend ist bei der Festlegung und Durchführung aller Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen. Eine Harmonisierung durch gemeinschaftliche Rechtsakte wird im spezifischen Kernbereich des Gesundheitswesens, insbesondere der Organisation der Versorgungsstrukturen, der Finanzierung und sozialen Absicherung unionsrechtlich nicht legitimiert. Bei der Tätigkeit der Union auf dem Sektor der Gesundheit der Bevölkerung soll die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt bleiben. In diesem Sinne hat die Tätigkeit der Union die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten zu ergänzen, und sie ist dabei auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Krankheiten und die Beseitigung von Ursachen und Gefährdung der menschlichen Gesundheit auszurichten. Sie soll deshalb die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung schwerer Krankheiten sowie die Gesundheitsinformation und -erziehung fördern. Die Union hat zudem die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesen Bereichen zu fördern und deren Tätigkeiten erforderlichenfalls zu unterstützen. Die Kommission kann in enger Kooperation mit den Mitgliedstaaten Initiativen ergreifen, die der Koordinierung entsprechender Politiken und Programme der Mitgliedstaaten förderlich sind. Dieser komplizierten Gemengelage von mitgliedstaatlichen und unionsrechtlichen Kompetenzen im Gesundheitswesen68, die in vielfältigen Formen abgestufter Intensität miteinander verschränkt sind, liegt Art. 2 Abs. 5 AEUV zugrunde, nach dem die Union in bestimmten Bereichen nach Maßgabe der Verträge ermächtigt wird, „Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchzuführen, ohne daß dadurch die Zuständigkeit der Union für diese Bereiche an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“ tritt. Für diesen Kompetenztyp trifft Art. 2 Abs. 5 Satz 2 die Bestimmung, daß die „verbindlichen Rechtsakte der Union, die aufgrund der diese Bereiche betreffenden Bestimmungen der Verträge erlassen werden, keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten“ dürfen. Art. 168 Abs. 1, 2 AEUV (exArt. 152 EGV) enthalten eine solche Förder- und Koordinierungskompetenz, für die das Harmonisierungsverbot des Art. 2 Abs. 5 AEUV gilt. Weiterhin besteht in Art. 168 Abs. 5 AEUV eine Gesetzgebungskompetenz für Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit und für Maßnahmen, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit vor Tabakkonsum und Alkoholmißbrauch (S. 111 ff.), Kümmel (S. 127 ff.) in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, 2010. 68 s. Pitschas, in: Sozialrecht in Europa, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. 59, 2010, S. 7 ff., der von einer „gemeinsamen sozialen Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedstaaten“ für das Gesundheitswesen durch „geteilte Zuständigkeit“ spricht.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
zum Ziel haben. Auch diese Kompetenzen des Abs. 5 stehen ausdrücklich unter dem Vorbehalt des Ausschlusses jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Art. 168 Abs. 7 AEUV enthält außerdem einen speziellen Kompetenzvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten.69 Die allgemeine Regelung in Art. 2 Abs. 5 AEUV besagt einerseits, daß die Ermächtigungen für Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung in bestimmten im Vertrag geregelten Bereichen generell nicht die Befugnis umfassen, Vorschriften zu erlassen, durch welche die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten harmonisiert werden, bestimmt aber andererseits, daß diese Beschränkung nur solche Rechtsvorschriften betrifft, „die aufgrund der diese Bereiche betreffenden Bestimmungen des Vertrages erlassen werden“. Im Umkehrschluß läßt sich aus diesem Verhältnis von Harmonisierungskompetenz und Harmonisierungsverbot ableiten, daß Vorschriften, die aufgrund anderer Bestimmungen des Vertrages erlassen werden – z.B. aufgrund der Harmonisierungskompetenz der Union zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt aufgrund des Art. 114 AEUV (ex-Art. 95 EGV) –, von dieser Beschränkung nicht berührt sind. Demgegenüber ist bezüglich der Zuständigkeit für Maßnahmen zum Schutz der Verbesserung der Gesundheit gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV wie schon in Art. 152 Abs. 4 Satz 1 lit. c EGV ein eigenständiger Harmonisierungsausschluß statuiert.70 Für die Gesetzgebungsermächtigung in Art. 168 Abs. 4 lit. a-c AEUV, die gegenüber dem EGV durch die Kompetenzzuweisung zur Festlegung hoher Qualitätsund Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte ergänzt wurde, formuliert der Vertrag kein explizites Verbot der Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften, sondern verpflichtet in Art. 168 Abs. 7 AEUV die Union, die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung zu wahren, was insbesondere die Verwaltung des Gesundheitswesens sowie die Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung betrifft. Der Konkretionsgehalt dieser Pflicht zur „Wahrung“ ist zwar erheblich unbestimmter als das Verbot harmonisierender Vorschriften, bezieht sich aber nicht nur auf die spezifischen gesundheitspolitischen Ermächtigungen, sondern generell auf die „Tätigkeit der Union“. Insofern stellt sie eine zwar vage, aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Unionsgesetzgebung aktivierbare Schranke gegenüber allen
69 Zu harmonisierenden Rechtsetzungskompetenzen der EU in der Gesundheitspolitik s. Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 13 ff. 70 s. dazu Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 25, der es bei einer solchen Gesetzgebung zur Bekämpfung erheblicher grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren sowie zum Gesundheitsschutz vor Tabakkonsum und Alkoholmißbrauch für schwer vorstellbar hält, daß sie ohne Regelungen auskommen, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten und insofern zu einer gewissen Harmonisierung führen.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Kompetenzausübungen der Union dar, z. B. auch gegenüber Harmonisierungskompetenzen zur Förderung des Binnenmarktes.71 Eindeutig schließlich ist die Harmonisierungsschranke in Art. 168 Abs. 7 Satz 3 AEUV, die eine Begrenzung der Kompetenz zur Festlegung hoher Schutzstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs dahingehend festlegt, daß solche Regelungen die mitgliedstaatlichen Vorschriften über das Organ- und Blutspendewesen einschließlich der medizinischen Verwendung des gespendeten Materials nicht berühren dürfen. Eine weitere kompetenzielle Generalklausel enthält Art. 352 Abs. 3 AEUV (exArt. 308 EGV), wonach die (einstimmige) Nutzung der subsidiären Vertragsabrundungskompetenz des Abs. 1 nicht zu einer Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten führen darf, soweit die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen. Folglich darf sich der europäische Gesetzgeber für die gesundheitspolitischen Ziele des Art. 168 Abs. 1 – 3 AEUV (ex-Art. 152 EGV), für die das Harmonisierungsverbot des Art. 2 Abs. 5 AEUV gilt, zwar auf die Abrundungskompetenz stützen, nicht aber für die Mitgliedstaaten einheitlich geltendes Recht per Verordnung mit unmittelbarer Rechtsverbindlichkeit vorschreiben oder im Richtlinienwege präformieren. b) Mittelbare Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedstaatliche Gesundheitsrecht Die Einwirkung des Unionsrechts auf das Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten erschöpft sich aber nicht in einer strikten Kompetenzabgrenzung im Rahmen des Art. 168 AEUV oder der aus dem Anwendungsvorrang des supranationalen Rechts resultierenden unmittelbaren oder mittelbaren Harmonisierungswirkung, sondern beruht zum Teil auf expliziten Rechtsetzungsermächtigungen zur Angleichung bzw. Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in anderen Politikbereichen und Rechtsmaterien. Dabei kommt der Ermächtigung zur Rechtsangleichung mit dem Ziel der Förderung des Funktionierens des Binnenmarktes (Art. 114 AEUV, ex-Art. 95 EGV) in ihrer spezifischen Relevanz für das Gesundheitsrecht der Mitgliedstaaten die größte Bedeutung zu.72 Der weite inhaltliche Umfang dieser Gesetzgebungskompetenz, die dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Art. 16 Abs. 3 i.V.m. Art. 289 und 294 AEUV mit qualifizierter Mehrheit unterliegt, ermöglicht eine Anwendung der Ermächtigung in sämtlichen Bereichen des Binnenmarktes, soweit die Maßnahmen objektiv dem Ziel dienen, den „freien Verkehr von 71 s. Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 26, der an diese Schranke die Erwartung knüpft, daß der EuGH gehalten ist, bei der eigenständigen Anwendung und Rechtsfortbildung des Primärrechts etwa im Bereich der Grundfreiheiten oder des Wettbewerbsrechts die Grundentscheidung des Unionsrechts für die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten in Zukunft (noch) stärker zu beachten. 72 Zur unionsrechtlichen Bedeutung der Binnenmarktkompetenz und ihrer Ausstrahlung in sämtliche Politikbereiche der EU s. Herdegen, S. 253 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des Vertrages“ zu gewährleisten und Wettbewerbs- oder Handelshemmnisse zu beseitigen oder abzumildern (Art. 26 AEUV, ex-Art. 14 EGV). Allerdings ist die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 114 Abs. 1 Satz 1 AEUV gegenüber anderen zweckidentischen Harmonisierungsvorschriften, die das Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten sollen, subsidiär, nicht aber gegenüber Ermächtigungen, die anderen, z. B. gesundheits- oder sozialpolitischen Zielen dienen und binnenmarktliche Relevanz haben. Diese fast generalklauselartige Binnenmarktkompetenz wurde bisweilen von der Kommission und auch vom EuGH als Blankettermächtigung verstanden, die Zuständigkeit der Union in Materien auszudehnen, die eigentlich mitgliedstaatlichen Reservaten vorbehalten schienen: So hat der EU-Gesetzgeber ein vom EuGH73 gebilligtes weitreichendes Werbe- und Sponsoringverbot für Tabakprodukte (RL 2003/ 33/EG) mangels Harmonisierungskompetenz für den Gesundheitsschutz auf die Ermächtigung zur Harmonisierung im Binnenmarktsektor gestützt unter Hinweis auf Wettbewerbshemmnisse für den Pressemarkt, wenn ohne ein generelles Tabakwerbeverbot für Presseerzeugnisse in einigen Mitgliedstaaten darauf bezogene Importverbote drohten. Der EuGH betont in diesem Zusammenhang, daß auch dann, wenn es im Ergebnis und auch in der Zielsetzung zugleich um Gesundheitsschutz gehe, die Harmonisierungsbarriere des Art. 168 AEUV nicht auf die Harmonisierungskompetenz des Art. 114 AEUV begrenzend wirke.74 Aus der „Querschnittsklausel“ des Art. 114 Abs. 3 Satz 1 AEUV wird also geradezu der Auftrag abgeleitet, für die harmonisierende Gesetzgebung von einem hohen Schutzniveau auch im Bereich der Gesundheit auszugehen, ebenso wie korrespondierend Art. 168 Abs. 1 AEUV die Organe der EU verpflichtet, ein hohes Gesundheitsschutzniveau nicht nur anzustreben, sondern sogar „sicherzustellen“. Soweit also eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten dazu geeignet ist, relevante Wettbewerbsverzerrungen oder Beeinträchtigungen des freien Wirtschaftsverkehrs zu beseitigen oder nicht ganz fernliegende künftige Gefährdungen desselben zu verhindern, kann der Binnenmarktbezug als Rechtfertigung für eine solche Harmonisierung herangezogen werden, um das gesundheitspolitische Ziel einer Erhöhung des Schutzniveaus zu fördern. Vor diesem Hintergrund einer aus den Marktfreiheiten abgeleiteten immanenten Unionszuständigkeit bzw. Annexkompetenz erscheint es konsequent, daß der aktuell im Gesetzgebungsverfahren befindliche Vorschlag einer „Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“75, 73 s. dazu EuGH Rs C-376/98, Slg. 2000, I-8419 sowie EuGH Rs C-380/03, Slg. 2006, I11573. Diese Rechtsprechung ist zum Teil auf heftige Kritik gestoßen und wurde als Einfallstor einer uferlosen Infiltration sämtlicher Politikbereiche durch zentralistische Unionsregelungen gesehen. s. z. B. Stein, EuZW 2007, 55 ff. sowie die Hinweise unten 4. Kap. II. 2. a). 74 s. EuGH Rs C-376/98 Rn. 78; Rs C-380/03 Rn. 95. 75 Zum Vorschlag der Kommission v. 2. 7. 2008 (KOM (2008), 414 endg.) und zum Änderungsvorschlag der spanischen Ratspräsidentschaft, die Richtlinie auch auf die Gesund-
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der auch Standards vorschreibt, die sich nicht nur auf die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung beziehen, auf Art. 95 EGV (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt wurde. Denn wenn solche Kriterien generell in allen Mitgliedstaaten gelten, erleichtern sie auch die grenzüberschreitende Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen und fördern die Binnenmarktfreiheiten. Gerade weil ein enger Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsschutz mit Verbraucher- (Art. 169 AEUV, ex-Art. 153 EGV) oder Umweltschutz (Art. 191 f. AEUV, ex-Art. 174 f. EGV) besteht und diese wiederum in die Binnenmarktregelungen eingebettet sind, wurden auf der Grundlage des früheren Art. 95 EGV, des heutigen Art. 114 AEUV, viele harmonisierende Vorschriften im Bereich des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erlassen. Die Bandbreite gesundheitsbezogener Rechtsangleichungen76 reicht von den Bereichen Arzneimittel/Tierarzneimittel77 über Medizinprodukte78, Lebensmittel79, Chemikalien80 bis zum Einsatz von genveränderten Organismen81. Auf eine längere Tradition blicken die Harmonisierungsregelungen der EU zur Berufsqualifikation und -anerkennung zurück, die sich auf die Ermächtigungsnorm zu Richtlinien „für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie für die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten“ (Art. 53 Abs. 1 AEUV, ex-Art. 47 EGV) stützen, die sich im Kapitel über die Niederlassungsfreiheit befinden, aber aufgrund der Verweisung in Art. 62 AEUV (ex-Art. 55 EGV) auch für die Dienstleistungsfreiheit gelten. Da die Förderung der „Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten“ (Art. 53 Abs. 1 AEUV) ein Unterfall der Förderung des Funktionierens des Binnenmarktes
heitskompetenz (Art. 168 AEUV) mit ihren starken mitgliedstaatlichen Vorbehaltsrechten zu stützen, s. unten 3. Kap. II. 2. 76 Vgl. die Nachweise bei Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 13 ff., 20. 77 S. z. B. RL 2001/83/EG v. 6. 11. 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel; RL 2001/82/EG v. 6. 11. 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Tierarzneimittel; VO (EG) Nr. 726/2004 v. 31. 3. 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittelagentur; VO (EG) Nr. 1394/2007 v. 13. 11. 2007 über Arzneimittel für neuartige Therapien und zur Änderung der RL 2001/83/EG und der VO (EG) Nr. 726/2004. 78 RL 1993/42/EWG v. 14. 6. 1993 über Medizinprodukte. 79 VO (EG) Nr. 852/2004 v. 29. 4. 2004 über Lebensmittelhygiene; RL 2009/39/EG v. 6. 5. 2009 über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind. 80 VO (EG) Nr. 1907/2006 v. 18. 12. 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe, zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur und Änderung vorgängiger Richtlinien und Verordnungen. 81 RL 2001/18/EG v. 12. 3. 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
ist, ist Art. 53 AEUV gegenüber Art. 95 AEUV lex specialis und insofern vorrangig anwendbar.82 Gestützt auf Art. 47 EGV wurden auch für das Gesundheitswesen relevante Harmonisierungen insbesondere die Gesundheitsberufe betreffend vorgenommen, die zunächst in sektoralen auf die einzelnen Berufsbilder zugeschnittenen Richtlinien geregelt und später in eine einheitliche Berufsanerkennungsrichtlinie83 überführt wurden. Auch für andere Bereiche mit Relevanz für die Gesundheitsversorgung wie das Vergaberecht84, dessen unionsrechtliche Vorgaben in vielen Bereichen der GKV zunehmende Bedeutung erlangen und zu anpassender nationaler Gesetzgebung führten (§ 69 Abs. 2 SGB V),85 fanden in Art. 47 EGV, dem heutigen Art. 53 AEUV, ihre vertragsrechtliche Grundlage. Das Gleiche gilt für die Koordinierung der privaten Schadensversicherung, die auf Art. 57 EWGV, die Vorläufervorschrift zu Art. 47 EGV und Art. 53 AEUV, gestützt wurde und ihre Ausgestaltung in einer Reihe von Richtlinien, zuletzt durch die sog. „Dritte Richtlinie Schadensversicherung“ erfuhr.86 In dem Maße, in welchem durch Leistungsbegrenzungen der GKV oder durch Zuzahlungen der Bereich der Privaten Krankenversicherung ausgeweitet wird oder die Grenzen zwischen Sozialer und Privater Krankenversicherung durch nationale Gesetzgebung durchlässig oder aufgehoben bzw. die Strukturen beider Systeme assimiliert werden, erhält die Europäisierung des Krankenversicherungsmarktes eine zunehmende gesundheitspolitische Bedeutung.87 Bei einer Betrachtung der primärrechtlichen Unionskompetenzen im Spannungsfeld von Koordinierung und Harmonisierung ist nicht zu übersehen, daß jegliche Form unionsrechtlicher Rechtsetzung, die im Wege umzusetzender Vorgaben oder in Gestalt des Anwendungsvorrangs auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einwirkt, insofern auch zumindest mittelbar harmonisierend wirkt, als diese Vorgaben oder das vorrangige Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten gleich sind. Ob man diese faktisch vereinheitlichende Wirkung von Unionsrecht auf der Basis von Ermächtigungsgrundlagen, die ihrerseits Harmonisierung weder als 82 Zu den Einwirkungen des Unionsrechts auf das Berufsrecht der Heilberufe und den Übergang von sektoralen Harmonisierungsregelungen zur Berufsanerkennungsrichtlinie s. unten 3. Kap. I. 2. a). 83 RL 2005/36/EG v. 7. 9. 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. 84 s. RL 2004/18/EG v. 31. 3. 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge. 85 Zur Bedeutung der unionsrechtlichen Vergaberegelungen für das deutsche Gesundheitswesen s. unten 2. Kap. I. 4. b). 86 RL 92/49/EWG v. 18. 6. 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadensversicherung). Zu Koordinierung und Verbraucherschutz im Binnenmarkt der Versicherungen s. U. Lemor, in: Bergeest/Labes (Hrsg.), Liber amicorum für Gerrit Winter, 2007, S. 93 ff. 87 s. dazu unten 2. Kap. I. 2.
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Ziel nennen noch eine solche ausschließen, als „implizite Harmonisierung“88 bezeichnen kann, sei dahingestellt, zumal die Grenzen zwischen „Harmonisierung“ und „Koordinierung“ im europarechtlichen Sprachgebrauch weder eindeutig oder einheitlich noch in jeder Beziehung gegensätzlich sind. Jedenfalls können ungeschriebene immanente Unionszuständigkeiten („Implied Powers“) oder Annexkompetenzen in Konflikt mit dem Subsidiaritätsprinzip, dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und den dargestellten Harmonisierungsausschlüssen der Verträge geraten. Ermächtigungen zu direkten oder indirekten unitarisierenden oder konvergenten Regelungen, die für das mitgliedstaatliche Gesundheitswesen bzw. den Gesundheitsschutz der Bevölkerung relevant sind oder im Kontext mit anderen Regelungsmaterien und –zielen Bedeutung erlangen können, enthält das Vertragsrecht der EU in zahlreichen Bestimmungen: Sie betreffen die Grundsätze und Bedingungen der Dienste von allgemeinem und wirtschaftlichem Interesse sowie der Daseinsvorsorge (Art. 14 AEUV, ex-Art. 16 EGV), die auch unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten für Einrichtungen der Gesundheitsversorgung relevant sind89, ebenso wie Maßnahmen zur sozialen Sicherheit im Rahmen der Förderung der Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 Abs. 3 AEUV, ex-Art. 21 EGV) und Wanderarbeitnehmer (Art. 48 AEUV, ex-Art. 42 EGV)90, die Mindestregelungen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer (Art. 153 AEUV, ex-Art. 137 EGV) und der Verbraucher (Art. 169 AEUV, ex-Art. 153 EGV) oder Maßnahmen der Umweltpolitik u. a. zum Schutz der menschlichen Gesundheit (Art. 192 AEUV, ex-Art. 175 EGV). Auch wenn es bei der Verbraucher- und Umweltschutzpolitik durch die spezifische Zielrichtung und unklare Definition des Ermächtigungsumfangs eher um mittelbaren Gesundheitsschutz geht, sind diese Kompetenzen für den vorbeugenden Gesundheitsschutz relevant und unterstreichen die Bedeutung des Gesundheitsschutzes als unionspolitischer Querschnittsaufgabe („Health in all Policies“)91, die die Union im Rahmen abgestufter Kompetenzausstattung eines „Europäischen Sozial- und Gesundheitsrechtsverbundes“92 in gemeinsamer Verantwortung mit ihren Mitgliedstaaten bei geteilter Zuständigkeit wahrnimmt.
88
So Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich,
S. 27. 89
s. dazu unten 2. Kap. I. 3. b), 4. Vgl. unten 2. Kap. II. 91 Zu den gesundheitspolitischen Strategiekonzepten der EU, den Gesundheitsschutz in sämtliche Politikbereiche zu implementieren, s. unten 4. Kap. II. 92 So eine Formulierung von Pitschas, in: Sozialrecht in Europa, S. 7. 90
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
c) Die Offene Methode der Koordinierung als „prozeßgesteuerte Konvergenz“ Die Europäische Union strebt mit der „Offene Methode der Koordinierung“ genannten Strategie paranormativer Konzertierung an, die unterschiedlichen Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf ihrem Weg zu einer Konvergenz quantitativ und qualitativ zu unterstützen. Erfahrungen mit der Offenen Methode der Koordinierung bestanden bereits in der Beschäftigungspolitik, in der Rentenpolitik sowie in der Bekämpfung von Ausgrenzung und Diskriminierung. Durch diese Methode soll es noch stärker als in der Vergangenheit durch best-practice-Vergleiche zu einem Effizienzwettbewerb der Gesundheitssysteme kommen. Die Methode fordert die Transparenz und Vergleichbarkeit der jeweiligen nationalen Sozial- und Gesundheitssysteme, um zur Identifizierung spezifischer Lösungen von gemeinsamen Problemen zu gelangen. Nachdem für den Pflegebereich seit 2001 eine erste Mitteilung der EU-Kommission vorlag, zeichneten sich weitere Schritte zur Anwendung der Offenen Methode der Koordinierung auch für das Gesundheitswesen ab, wobei die EU-Kommission die Herausforderung für alle Mitgliedstaaten formulierte, die Sicherungsziele des allgemeinen Zugangs zu medizinischen Leistungen und einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung sowie der langfristigen Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme gleichzeitig zu erfüllen. In ihrer Mitteilung vom 20. 4. 2004 zur „Modernisierung des Gesundheitsschutzes: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die Offene Koordinierungsmethode“93 konkretisiert die Kommission die Zielsetzungen der OMK und ihre praktische Umsetzung in folgenden Schritten: • Festlegung von Leitlinien für die Europäische Union mit einem jeweils genauen Zeitplan für die Verwirklichung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele • Entwicklung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bedürfnisse zugeschnitten sind, als Mittel für den Vergleich der bewährten Praktiken • Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik durch Entwicklung konkreter Ziele und den Erlaß entsprechender Maßnahmen durch Berücksichtigung der nationalen und regionalen Unterschiede • Monitoring und Review im Rahmen regelmäßiger Konsultationen und des Austauschs von Erfahrungen, gegenseitige Evaluation der Reformschritte. Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip soll den Vorstellungen der Kommission zufolge nach einem dezentralen Ansatz vorgegangen werden, „so daß die Union, die Mitgliedstaaten, die regionalen und lokalen Ebenen sowie die Sozialpartner und 93
KOM (2004), 304 endg.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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die Bürgergesellschaft im Rahmen unterschiedlicher Formen von Partnerschaften aktiv mitwirken.“ In der Folge hat die EU-Kommission in zahlreichen Stellungnahmen die OMK als Steuerungsinstrument für sozialpolitische Prozesse in den Mitgliedstaaten eingesetzt. In ihrer Mitteilung vom 3. 3. 2010 „Europa 2020 – eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“94 wird ausdrücklich auf diese Koordinierungsmethode hingewiesen, die den Bereich der „gesellschaftlichen Integration und des sozialen Schutzes“ abdecke und den Rahmen für eine Überprüfung der „Angemessenheit und Nachhaltigkeit der sozialen Sicherung“ und einer Erkundung von Möglichkeiten eines besseren Zugangs zur Gesundheitsversorgung biete. Die „Offene Methode der Koordinierung“ stellt ein eigenständiges, nichtrechtliches Einwirkungsverfahren zur mittelbaren Gestaltung der nationalen Sozialschutzsysteme dar, welches unabhängig von den grundsätzlich bei der Europäischen Kommission angesiedelten Initiativbefugnissen praktiziert wird, indem es die einzelstaatlich verantwortlichen Akteure einem transnationalen Steuerungsprozeß nach Art des management by objectives unterwirft und als Kategorie des „Soft law“ neben die vertraglichen Prozeduren tritt. Die Gefahr einer „sanften“ Überlagerung und Erosion nationalstaatlicher Kompetenzen in den betroffenen Sektoren ist allerdings nicht auszuschließen.95 Durch verstärkte politische Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten im Rat – auf der Grundlage eines organisierten bzw. strukturierten Austauschs von Informationen, Erfahrungen und bewährten Verfahren – soll ein höheres Maß an Transparenz hinsichtlich notwendiger Reformschritte in den nationalen Sozial- und Gesundheitspolitiken erreicht und so die Konvergenzentwicklung der Einzelsysteme vorangetrieben werden.96 Allein durch einen öffentlichen Vergleich, verbunden mit der Verpflichtung zur regelmäßigen Stellungnahme, entsteht mithin eine Orientierung an der „best practice“. Vorteile liegen vor allem darin, daß formale Wege zur Zielerreichung nicht vorab festgelegt werden, sondern der nationalen Kompetenz weiterhin überlassen bleiben. Unterschiedliche nationale Wege bleiben prinzipiell möglich, und regionale Besonderheiten finden Berücksichtigung. Das Subsidiaritätsprinzip wird mithin zumindest formal gewahrt. Im Hinblick auf die damit statuierte erhebliche qualitative Dimension des neuen Gestaltungsverfahrens erscheint der Begriff „Koordinierung“ jedenfalls als „Understatement“: Immerhin geht es bei der „Offenen Methode der Koordinierung“ um 94
KOM (2010), 2020 endg. Zu den Zielen und Auswirkungen der OMK im Gesundheitswesen s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 91 ff.; Stein, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/ 2003, 21 ff., 23. 96 Zur Straffung („Streamlining“) der OMK unter Einbeziehung des Politikbereichs „Gesundheitswesen“ s. Mitteilung der Kommission v. 27. 5. 2003 (KOM (2003), 261). Dazu Terwey, DAngVers 2003, 515 ff. 95
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
die gemeinschaftliche Entwicklung von konsensgestützten Verfahren, die aufgrund eines gezielten Zugewinns an transnationalen Vergleichsmöglichkeiten konkrete Empfehlungen an die Regierungen der Mitgliedstaaten ermöglichen und so – in viel stärkerem Maße als im Zuge der „Konvergenzempfehlung“ des Rates aus dem Jahre 1992 – eine faktisch-politische Verbindlichkeit dieser „Vorgaben“ erzeugen. Im Zusammenhang mit der neuen Integrationsmethode der „Offenen Koordinierung“ könnte man von einer „Strategie der prozeßgesteuerten Konvergenz“ der sozialen Sicherungssysteme97 sprechen, die durch den Lissabon-Vertrag auch im Gesundheitswesen auf eine unionsvertragliche Basis gestellt wurde (Art. 168 Abs. 2 AEUV). Die bessere Koordinierung der Sozialschutzpolitiken und die Stärkung der sozialen Dimension ist positiv zu bewerten, wenn und soweit die Veränderung von Prozessen nicht die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Sozialschutzbereich aufweicht oder der Grundsatz der Subsidiarität unterlaufen wird.98 Auch in Zukunft muß jeder Mitgliedstaat – wie im Lissabon-Vertrag festgelegt – selbst entscheiden, wie gemeinsam definierte Ziele zur Modernisierung der Sozialschutzsysteme zu erreichen sind. Soziale Sicherheit ist – wie auch das BVerfG in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag betont – ureigener Bestandteil eines auf Solidarität und Eigenverantwortung basierenden gesellschaftlichen Konsenses. Die konkrete Ausgestaltung des Koordinierungs-Prozesses muß dem Anliegen Rechnung tragen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen sozialpolitischen, fiskalischen und beschäftigungspolitischen Aspekten der Systembewertung sicherzustellen. Dabei sind für jeden Handlungsbereich so viele valide Indikatoren wie nötig zu entwickeln, um ein adäquates Bild der nationalen Sozialschutzsysteme geben zu können. Außerdem müssen die Sozialpartner und andere Akteure des Sozialwesens in den Koordinierungsprozeß einbezogen werden. Ferner ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß bei systemvergleichenden Analysen finanz- und wirtschaftspolitische Aspekte gerade auch hinsichtlich der Indikatorenbildung eine überproportionale Berücksichtigung finden könnten, weil die Bildung solcher fiskalpolitischer Indikatoren – z. B. Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – wesentlich leichter fällt als die Berücksichtigung von sozialmedizinischen Parametern, die auch die Versorgungsqualität, Aspekte der Zugangschancen zum Versorgungssystem, der Patienteninformation und -zufriedenheit, des Morbiditätspanoramas, des Gesundheitsverhaltens, des medizinischen Outcomes usw. berücksichtigen.
97
s. Schulte, ZSR 2002, 1 ff. Zur Kritik am OMK-Prozeß im Hinblick u. a. auf die intransparente Datenlage, methodische Schwierigkeiten bei Systemvergleichen, die Gefährdung der Entscheidungsautonomie der Mitgliedstaaten durch „weiche“ Druckausübung („naming and shaming“) s. Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, 43, 46, der den gewachsenen Koordinierungsbedarf insbes. im Hinblick auf die neuen EU-Mitgliedstaaten anführt. 98
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Es werden daher folgende Kriterien für unerläßlich gehalten, um die Akzeptanz der Indikatoren in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten:99 • Die Besonderheiten der nationalen Gesundheitssysteme in ihrer Vielfalt müssen angemessen abgebildet werden, wobei insbesondere die oft unterschiedliche Abgrenzung zwischen Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege, Rehabilitation und Psychiatrie adäquat zu berücksichtigen ist. Ähnliches gilt für die in den Gesundheitssystemen der einzelnen Mitgliedstaaten oft unterschiedliche Zuordnung von ambulanten und stationären Leistungen. • Darüber hinaus ist davon auszugehen, daß vor allem in den Dimensionen Zugänglichkeit und Qualität für viele Aspekte valide Daten bislang nicht vorliegen und oftmals auch nur sehr schwer erhoben werden können. Mit noch größeren Problemen ist die Erhebung von Angaben zur Qualität verbunden. Insbesondere hier dürften auch national inkommensurable subjektive Einschätzungen einfließen (z. B. „Grad der Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung“), die nicht nur von der realen Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität, sondern auch von soziokulturellen Faktoren abhängig sind. • Den Besonderheiten der nationalen historisch gewachsenen Systeme ist auch bei der Auswahl der Indikatoren Rechnung zu tragen, wobei es nicht um die Errichtung eines Ranking-Systems gehen darf, sondern der Schwerpunkt auf gegenseitiger Information und dem Voneinanderlernen (best practice) zwischen den Akteuren der Mitgliedstaaten liegen muß. • Da die Organisation (Leistung, Struktur und Finanzierung) des Gesundheitswesens in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt, müssen die jeweiligen nationalen Akteure – auf Deutschland bezogen betrifft dies insbesondere die Selbstverwaltungen – in den Prozeß der Zielentwicklung und Indikatorenbildung einbezogen werden.
2. Die Strukturvielfalt der europäischen Gesundheitssysteme a) Typen der Sozialen Sicherung in Europa Im übrigen sind die Systeme der Absicherung gegen soziale und insbesondere auch gesundheitliche Risiken in der EU aufgrund unterschiedlichster sozialkultureller Traditionen und ökonomischer Rahmenbedingungen so verschieden, daß sie nicht ohne weiteres harmonisiert werden können. So verfügt ein großer Teil der Mitgliedstaaten über mehr oder weniger steuerfinanzierte staatliche Sicherungssysteme, während andere beitragsfinanzierte Sozialversicherungssysteme oder Mischformen von steuer- und beitragsfinanzierten Grund- und/oder Zusatzversor99 s. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Europäisierung des Gesundheitswesens – Perspektiven für Deutschland, 2003; GVG (Hrsg.), Die Offene Methode der Koordinierung im Gesundheitswesen, 2004.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
gungssystemen in unterschiedlicher institutioneller Ausgestaltung öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Form selbstverwaltete oder staatliche Prägung aufweisen.100 Auch für die unterschiedlichen Strukturen der mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme können die klassischen vereinfachenden Einteilungskategorien sozialer Sicherung die Komplexität und Typenvielfalt nationaler Sozialmodelle nicht hinreichend abbilden. Nach der nationalen Ausprägung der Gestaltungsprinzipien sozialer Sicherungsund Gesundheitssysteme werden grundsätzlich vier Typen der sozialen Sicherung in Europa mit jeweils ähnlichen Traditionen und institutionellen Merkmalen unterschieden:101 • In der ersten Gruppe mit dem Vereinigte Königreich und Irland gilt das angelsächsische Sicherungsmodell („Beveridge-Modell“), dessen wesentliche Merkmale die Finanzierung der Gesundheitsversorgung über das allgemeine Steueraufkommen und ein einheitlicher Verwaltungsrahmen auf der Grundlage staatlicher Institutionen sind. • Die zweite Gruppe in Gestalt der skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland und Schweden garantiert eine Grundsicherung jedes Bürgers, auch wenn die Erwerbstätigen über obligatorische betriebliche Systeme zusätzliche Leistungen erhalten. Die Finanzierung erfolgt vorwiegend (jedoch nicht ausschließlich) über das allgemeine Steueraufkommen im Rahmen staatlicher Verwaltung der Sicherungssysteme. • Deutschland, Österreich, Frankreich und die Benelux-Staaten werden einer dritten Gruppe, dem kontinentaleuropäischen Sicherungsmodell, zugeordnet. Hier ist die Bismarcksche Tradition der Versicherungspflicht auf der Grundlage des Beschäftigungsverhältnisses bzw. der beruflichen Stellung oder des Familienstands für die Gestaltung des Gesundheitssystems prägend. Die überwiegend beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherung sind (bis auf Ausnahmen) einkommensabhängig. Als soziales Auffangnetz existieren Sozialhilfeleistungen.
100
Zur Typendifferenz der europäischen Sozialsysteme s. überblickhaft B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 113 ff.; Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozial-Kompaß Europa – Soziale Sicherheit in Europa im Vergleich, 2006; S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa – Experimentierfeld zwischen Staat und Markt, 2006; Bundesministerium der Finanzen, Soziale Sicherung in Europa zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung, 2000. 101 Zur Typologie der unterschiedlichen Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten s. Brandt, BKK 12/2002, 543 ff.; Eckel, Die europäischen Gesundheitssysteme im Vergleich, in: Michaelis, Der Preis der Gesundheit, 2001, S. 165 ff.; B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik in der EU, S. 113 ff.; Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, S. 37 ff. unterscheidet drei Modelle der Sozialstaatlichkeit nach ihrer umverteilenden, grundsichernden oder einkommensbezogenen Ausrichtung. Zu Möglichkeiten und Grenzen der Gesundheitssystemvergleiche im Hinblick auf ein europäisches Modell der Versorgungsforschung s. Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, S. 43 ff.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Bei der Organisation der sozialen Sicherungssysteme spielen die Sozialpartner im Rahmen der Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. • Die Sicherungssysteme der südeuropäischen Staaten Italien, Spanien, Portugal und Griechenland bilden in einer vierten Gruppe eine Verknüpfung von betrieblichen und staatlichen Sozialversicherungssystemen. Das Leistungsniveau ist teilweise relativ niedrig, und dementsprechende Sicherungslücken werden durch die noch bestehenden traditionellen Familienstrukturen oder private Wohltätigkeitsinstitutionen als primären Netzen kompensiert, wobei der wirtschaftliche und soziale Wandel die Voraussetzungen hierfür zunehmend schmälert. In den osteuropäischen EU-Beitrittsländern wurden nach der Ablösung der staatlichen Sicherungssysteme („Semaschko-Modell“) unterschiedliche Sozialstrukturen nach den westlichen Vorbildern, zum Teil auch eine Gemengelage unterschiedlicher Sicherungstypen der EU entwickelt, wobei das Bismarck-Modell vorherrschend ist. Jeder dieser Typen ist also durch eine Kombination unterschiedlicher Sicherungsformen und Finanzierungsarten charakterisiert. Es gibt jeweils dominante Muster von Zielen und Gestaltungsprinzipien, wobei die Zuordnung der einzelnen Mitgliedstaaten nicht immer eindeutig vorzunehmen ist.102 Dennoch haben diese Länder in der Regel bisher den einmal eingeschlagenen Pfad sozialstaatlicher Entwicklung weitergeführt und damit die jeweilige Grundform zwar variiert, ohne jedoch das Grundmodell zu verlassen. Erkennbar sind gewisse Konvergenztendenzen von Beitrags- und Steuerfinanzierung, weil in den beitragsfinanzierten Gesundheitssystemen die Steueranteile, in den steuerfinanzierten Systemen Zusatzversicherungselemente zunehmen. Es besteht derzeit also kein einheitliches Modell des europäischen Sozialstaats bzw. kein europäisches soziales Sicherungsmodell. Die europäischen Nationen haben vielmehr gemäß ihrem jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand sowie ihren spezifischen sozialen und kulturellen Traditionen unterschiedliche Formen von Gesundheitssystemen und sozialer Sicherung entwickelt, die in einen gemeinschaftsrechtlichen Ordnungsrahmen einzufügen sind, ohne sie in ihrer Spezifität und Eigenständigkeit zu tangieren. Das von der EU angestrebte „Europäische Sozialmodell“, das in Art. 2 und 3 EUV (ex-Art. 2 EUV) umrissen ist, wird vom Leitbild der Konvergenz geprägt.103 Dieses 102
Zur Komplexität und Typenvielfalt der europäischen Sicherungssysteme s. Schubert/ Hegelich/Bazant, Europäische Wohlfahrtssysteme, 2008. Zur Konvergenz der Sozialstaatsmodelle Europas und der Herausbildung von Ansätzen eines spezifischen „Europäischen Sozialmodells“ s. Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, S. 121 ff. 103 s. die Darstellung der sozialpolitischen Zielprojektionen der EU zwischen unitarisierenden Harmonisierungstendenzen und pluraler Konvergenz im Spannungsfeld zum Verfassungsprinzip der kompetenziellen Subsidiarität bei Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 39 ff., 289 ff.; B. Schulte, ZSR 2002, 1 ff.; ders., in: Kaelble/Schmid, Das europäische Sozialmodell, 2004, S. 75 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
setzt unter Beachtung der Vielfalt mitgliedstaatlicher Sozialschutzsysteme bei Vermeidung von zentralistischen Interventionen und Unitarisierungsstrategien auf Kooperation und konsensuale Prozesse, insbesondere in Bereichen wie dem Gesundheitswesen, in dem die kompetenzielle Ausstattung der Union begrenzt ist. Hier treten außerrechtliche Einwirkungs- und Koordinierungsverfahren mittels Definition gemeinsamer Ziele, systemvergleichender Indikatoren sowie Monitoring und Evaluation in den Vordergrund, um einen mittelbaren politischen Assimilationsdruck auf die Mitgliedstaaten zu erzeugen. Für solche Politikbereiche, in denen sich eine Harmonisierung unionsrechtlich verbietet, stellt der Lissabon-Vertrag mit der Offenen Methode der Koordinierung (z. B. in Art. 168 Abs. 5 AEUV) ein paranormatives Instrument zur Verfügung. b) Absicherung des Krankheitsrisikos in den Mitgliedstaaten der EU Im System der sozialen Sicherung stellt die Vorsorge gegen das Risiko „Krankheit“ in allen Mitgliedstaaten der EU einen finanziellen und gesellschaftspolitischen Schwerpunkt dar. Einschlägige gesetzliche Regelungen gehören daher - neben denen zur Absicherung im Alter und bei Arbeitsunfällen - zu den ältesten überhaupt. In einigen Ländern reichen sie bis ins vorletzte Jahrhundert oder zumindest bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Gleichwohl bestehen erhebliche Unterschiede in Organisation und Leistung.104 Auch haben steigende Gesundheitskosten in vielen Ländern zu teilweise spürbaren Leistungseinschränkungen und/oder höheren Selbstbeteiligungsquoten geführt. Neben ursprünglich überwiegend versicherungsrechtliche Systeme treten in einzelnen Ländern staatliche Organisationen, für die der nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien eingeführte staatliche Gesundheitsdienst Pate steht. So haben in den 70er und 80er Jahren nacheinander Irland, Dänemark, Portugal, Italien und zuletzt Spanien einen staatlichen Gesundheitsdienst eingeführt. In Finnland und Schweden hat er eine lange Tradition. Von den neuen Mitgliedstaaten sind Lettland, Malta und Zypern diesem Beispiel gefolgt.105
104
s. hierzu „Sozialkompaß Europa – Soziale Sicherheit in Europa im Vergleich“, aaO; Fritz-Beske-Institut für Gesundheitssystem-Forschung, Das Gesundheitswesen in Deutschland im internationalen Vergleich, 2004; dass., Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich, 2005; zu den gesundheitsökonomischen und sozialmedizinischen Methoden und Indikatoren eines Gesundheitssystemvergleichs (z. B. Zugangs-, Qualitäts- oder Morbiditätskriterien) s. Wendt, Gesundheitswesen 2006, 68 ff.; Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, S. 43 ff.; Michelsen/Brand (S. 141 ff.), Angele/Klärs (S. 161 ff.), Jürges (S. 201 ff.), Drösler/Scheidt-Nave (S. 325 ff.), Koch (S. 269 ff.), in: GVG (Hrsg.), EUGesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich. 105 Vgl. die Übersicht über die Soziale Sicherung in den neuen Mitgliedstaaten der EU in: GVG (Hrsg.), Social Protection in the Candidate Countries, 2003.
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Fast vollständig aus Steuern finanziert wird der staatliche Gesundheitsdienst in Skandinavien und im Vereinigten Königreich. Dies gilt auch für Irland, wo jedoch ein 1,25-prozentiger Krankenversicherungsbeitrag für alle Einkünfte besteht. In Südeuropa hat der Anteil der über Steuern finanzierten Ausgaben in den letzten Jahren ständig zugenommen. Dies liegt vor allem daran, daß in diesen Ländern seit einiger Zeit die Umstellung von Beiträgen auf eine Finanzierung aus Steuermitteln angestrebt wird. In Italien und Griechenland werden weiterhin auf die Einkünfte zweckgebundene Krankenversicherungsbeiträge erhoben. In Spanien und Portugal wird ein Teil des Beitragsaufkommens aus den noch bestehenden traditionellen berufsständischen Kassen für die Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdienstes verwandt. In Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden sind unterschiedlich hohe einkommensbezogene Krankenversicherungsbeiträge, die von Arbeitgebern und Versicherten getragen werden, die maßgeblichen Einnahmequellen der polymorphen Krankenkasseninstitutionen. Drohende oder bestehende Defizite werden jedoch auch in diesen Ländern zunehmend mit Steuermitteln ausgeglichen.106 Neben dem Steueraufkommen und den Krankenversicherungsbeiträgen hat in den letzten Jahren eine dritte Finanzierungsquelle an Bedeutung gewonnen, nämlich Gebühren oder Zuzahlungen. In allen Ländern müssen Patienten einen Teil der Arzneimittelkosten zahlen. Ebenso wie in Deutschland tragen in Belgien, Frankreich, Luxemburg, Portugal und Schweden die Patienten einen Teil der Kosten von Arztbesuchen und leisten Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte. Einkommensbedingte Ausnahmen sind durch Härtefallregelungen oder Sozialklauseln geregelt.107 Auch Leistungseinschränkungen oder -ausschlüsse bei Zahnersatz oder Heil- und Hilfsmitteln werden in vielen Ländern als Instrument der Kostendämpfung eingesetzt. Die staatlichen Gesundheitsdienste und die Krankenversicherungssysteme sind unterschiedlich organisiert. Der organisatorische Aufbau der staatlichen Gesundheitssysteme ist einheitlicher und homogener, wobei sie dem jeweiligen Gesundheitsministerium unterstellt sind. Die Umsetzung der politischen Vorgaben und die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen obliegen den untergeordneten Verwaltungsebenen wie den Regionen, Städten, kommunalen Gesundheitsbezirken oder Einheiten, die in unterschiedlichem Maße selbständig sind. Dies gilt insbesondere für das UK, Irland, Dänemark, Schweden, Finnland und Italien. Spanien, Portugal und Griechenland befinden sich in einem Übergangsprozeß. Hier bestehen parallel zum neuen einheitlichen und dezentralisierten staatlichen Gesundheitsdienst auch weiterhin landesweit oder regional tätige Krankenkassen, die nach Branchen und Ge106
Vgl. die Dokumentation der verschiedenen mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme in Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in der EU, 1998. 107 s. Schneider/Hofmann/Köse, Zuzahlungen im internationalen Vergleich, 2004.
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bietseinheiten gegliedert sind. Politisch verantwortlich sind die Gesundheitsministerien bzw. regionale oder kommunale Gebietskörperschaften. Vor allem bei der Durchführung der eigentlichen Versorgung sowie auch bei der Finanzierung verfügen die Krankenkassen in manchen Ländern über eine erhebliche Autonomie, die sich wiederum vor allem in Deutschland in einer starken Selbstverwaltung manifestiert. Die Krankenversicherungssysteme sind jeweils durch eine eigene Organisationsstruktur geprägt, die weitgehend auf die geschichtliche und kulturelle Entwicklung zurückzuführen ist. Weitere wichtige organisatorische Besonderheiten betreffen vor allem die vertraglichen Beziehungen zwischen den Kassen und den Angehörigen der Gesundheitsberufe und sonstigen Leistungserbringern. Auch hier zeigt sich die zum Teil stark ausgeprägte Eigenverantwortung für die Gestaltung der gesundheitlichen Versorgung durch die Vertragspartner. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in den jeweiligen Systemen ist vielgestaltig: Freie Arztwahl besteht hauptsächlich in den Ländern mit sozialen Versicherungssystemen, also in Frankreich, Belgien Deutschland. In Großbritannien und Spanien wird dem Patienten keine freie Arztwahl eingeräumt. Der britische Bürger muß zuerst den Allgemeinarzt, den „general practitioner“ aufsuchen, um von diesem eine Überweisung zum Spezialarzt bzw. in ein Krankenhaus zu erhalten. In Italien ist die Arztwahl eingeschränkt: Die Patienten müssen sich in eine örtliche Liste des Gesundheitsdienstes eintragen und können dann unter den Allgemeinärzten des Gesundheitsdienstes auswählen. Durch die primärärztliche Versorgung in Schweden, die eine Versorgung von öffentlich angestellten Ärzten in Krankenhäusern sowie im beruflichen Gesundheitsdienst anbieten, wird die freie Arztauswahl eingeschränkt. Die ambulante ärztliche Versorgung erfolgt in Großbritannien, Spanien, Schweden, Italien und den Niederlanden zunächst beim Primärarzt. Diese Allgemeinärzte müssen, sofern sie nicht Angestellte des Gesundheitssystems sind, eine Zulassung vom Versicherungssystem bzw. einen Vertrag mit dem Gesundheitsdienst erlangen. Der Primärarzt verschafft dem Patienten als „gate-keeper“ bei Bedarf den Zugang zum Facharzt bzw. zum Krankenhaus. In Schweden stehen über 90 % der Allgemeinärzte im Angestelltenverhältnis beim Gesundheitsdienst. In Frankreich erfolgt die allgemeinärztliche ebenso wie die fachärztliche Versorgung durch niedergelassene Ärzte, Polikliniken und öffentliche Krankenhäuser, in Italien durch Gesundheitszentren, in Spanien durch Gesundheitszentren und Polikliniken, in Österreich durch niedergelassene Ärzte und zum Teil auch in Polikliniken an Krankenhäusern. In den Niederlanden und in Schweden besteht eine enge Verzahnung von ambulanten und stationären Leistungen mit einer überwiegenden fachärztlichen Behandlung im Krankenhaus oder mit einem Belegarztsystem. In Deutschland und Österreich wurden durch die relativ scharfe Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung Doppeluntersuchungen und Fehlsteuerungen sowohl des Behandlungsablaufs wie der Mittelallokation verursacht, die durch stärkere Ver-
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zahnung mittels integrierter Versorgungsformen beseitigt werden sollen, um Effizienz und Effektivität zu erhöhen.108 Während die Sach- und Dienstleistungen von den staatlichen Gesundheitsdiensten in der Regel als Naturalleistung unmittelbar zur Verfügung gestellt werden, bestehen bei den gesetzlichen Krankenversicherungssystemen zwei unterschiedliche Verfahren: So gilt in vielen Ländern das traditionell auch in Deutschland beheimatete sog. Sach- oder Naturalleistungsprinzip, bei dem medizinische Leistungen erbracht werden, die im Allgemeinen (von einer Selbstbeteiligung abgesehen) kostenlos sind – insofern ähnlich wie bei den Ländern mit staatlichem Gesundheitsdienst. Belgien, Frankreich und Luxemburg dagegen praktizieren das Kostenerstattungsprinzip. Danach treten die Versicherten zunächst für die von ihnen in Anspruch genommenen medizinischen Leistungen in Vorleistung. Die entstandenen Kosten werden sodann voll oder gemäß den von den Krankenkassen festgelegten Tarifen und unter der Berücksichtigung einer eventuellen Selbstbeteiligung erstattet.109 Neben den Sachleistungen werden im Krankheitsfall in allen Ländern auch Geldleistungen erbracht, die in erster Linie anstelle des durch die Krankheit ausgefallenen Arbeitsentgelts treten. Ihre Höhe hängt daher auch – abgesehen von Malta, Irland und Großbritannien, wo Festbeträge gezahlt werden - vom zuvor bezogenen Entgelt ab. Zur Kostendeckung sind fast durchweg beitragsfinanzierte obligatorische Systeme eingerichtet worden. Da inzwischen jedoch die meisten Länder gesetzliche oder zumindest tarifvertragliche Regelungen über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kennen, treten die entsprechenden Leistungen der Kassen erst nach Ablauf der Entgeltfortzahlung für einen bestimmten, von Land zu Land unterschiedlichen Zeitraum in Aktion. Auch gelten überwiegend Karenztage, so in Belgien, Estland, Lettland und Schweden (je ein Tag), Frankreich, Großbritannien, Irland, Malta, Italien, Österreich, Portugal und Spanien, Zypern (je drei Tage), bevor die entsprechenden Leistungen beginnen. Die Entgeltfortzahlung ist in den Niederlanden gesetzlich geregelt. In Belgien liegt ihr ein landesweiter Tarifvertrag zugrunde. Auch in Spanien, Irland und Portugal erfolgt sie nur aufgrund tarifvertraglicher Regelungen. Gleiches gilt in Italien für Arbeiter, während für Angestellte gesetzliche Entgeltfortzahlung besteht. Großbritannien kennt ein Mischsystem, in dem der Staat einen Sockelbetrag garantiert, der in den meisten Fällen tarifvertraglich aufgestockt wird. Angesichts des arbeitsrechtlichen Systems der Entgeltfortzahlung wird sie (mit Ausnahme des Sockelbetrages in Großbritannien) ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert.110
108 Zu den europäischen Gesundheitssystemen im Vergleich vgl. Eckel, in: Michaelis, Der Preis der Gesundheit, S. 165 ff. 109 s. Sozialkompaß Europa – Soziale Sicherheit in Europa im Vergleich, S. 58. 110 Busse/Schlette, Gesundheitspolitik in Industrieländern, Trends und Analysen, 2003.
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Die Leistungen sind in den einzelnen Ländern recht unterschiedlich. Sie reichen von einer 100 %igen Lohn- und Gehaltsfortzahlung (Dänemark und Luxemburg) bis zu 50 % (Griechenland, Frankreich, Italien). Tarifvertragliche Leistungen fallen gleichfalls unterschiedlich aus. Auch die Dauer der Entgeltfortzahlung schwankt beträchtlich. Für das Risiko „Pflege“ besteht in den meisten Mitgliedstaaten kein eigenständiges Sicherungssystem. In fast allen EU-Ländern werden Pflegeleistungen im Rahmen der Sozialversicherung, zumeist der Krankenversicherung und/oder der Sozialhilfe erbracht. Eine eigenständige Pflegeversicherung gibt es in der EU außer in Deutschland und den Niederlanden nur in Österreich und Luxemburg, wobei die Pflegeversicherung in Luxemburg wie in Deutschland und den Niederlanden durch einen Sonderbeitrag finanziert wird, während sie in Österreich steuerfinanziert ist. In den meisten Ländern werden die Pflegeleistungen als Sachleistungen gewährt. Geldleistungen werden u. a. in Finnland, Frankreich, Österreich, Irland und Großbritannien gezahlt; Kombinationsformen von Sach- und Geldleistungen in unterschiedlicher Höhe finden sich außer in Deutschland auch in Luxemburg und Österreich.111
c) Gesundheitspolitische Strategien der Mitgliedstaaten Eine Analyse der Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Gesundheitswesen muß die gesundheitspolitischen Strategien der anderen EU-Mitgliedstaaten in den Blick nehmen, weil nationale Alleingänge angesichts der fortschreitenden Assimilierung der Gesundheitssysteme seltener werden und durch die OMK EU-weite Strukturvergleiche und deren Rückkoppelung an nationale Politikgestaltung Stilmittel einer verantwortungsgeteilten Strategieverfolgung gesundheitspolitischer Zielsetzungen geworden sind.112 Die Europäische Kommission hat in ihrer am 20. 10. 2009 veröffentlichten Mitteilung „Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten in der EU“113 auf zum Teil gravierende Unterschiede in den Gesundheitssystemen der EU-Mitgliedstaaten hingewiesen. Die Europäische Kommission nimmt sich dieses Themas an, da die Unterschiede in den Lebenserwartungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten von acht Jahren bei Frauen bis zu vierzehn Jahren bei Männern reichen. 111
s. den Überblick über Pflegeleistungen – auch im Verhältnis zu Leistungen bei Krankheit – in Sozialkompaß Europa, S. 92 ff. 112 Zur Wechselwirkung europa- und verfassungsrechtlicher Aspekte der Neugestaltung der sozialen Sicherung s. Lenze/Zuleeg, NZS 2004, 456 ff.; zu den Reaktionen der EU-Staaten auf die Herausforderungen an ihre Sozialen Sicherungssysteme s. Bundesministerium der Finanzen, Soziale Sicherung in Europa zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung, S. 20 ff. 113 http://ec.europa.eu/health/ph determinants/socio economics/documents/com2009 de. pdf. Weiterführendes Zahlenmaterial der Kommission zu den gesundheitlichen Unterschieden unter http://ec.europa.eu/health/ph determinants/socio economics/documents/com2009 back ground en.pdf. s. dazu Eureport social 4 – 5/2009; 11/2009, S. 8.
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Die Kindersterblichkeit liegt zwischen etwa 3 % und mehr als 10 % der Lebendgeburten. Die Gründe für diese Unterschiede sind komplex und schließen eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren von Einkommen und Ausbildung über Lebensund Arbeitsbedingungen bis zum Gesundheitsverhalten und Zugang zur medizinischen Versorgung ein. Die Kommissions-Mitteilung faßt zum einen zusammen, was auf europäischer Ebene bereits getan wird, um mehr Solidarität im Gesundheitswesen zu schaffen und die Ungleichheiten im Gesundheitswesen zu verringern. Die Kommission sieht in der Kluft zunehmender Unterschiede im Gesundheitszustand der Bevölkerung zwischen und in den EU-Staaten eine große Gefahr für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der EU. Um die Schere mit Blick auf Gesundheit und Lebenserwartung der EU-Bürger zu schließen, will die Kommission bestehende Bestrebungen der Mitgliedstaaten unterstützen und vor allem ergänzende eigene Maßnahmen ergreifen. Sie nennt dabei drei Stoßrichtungen: So sollen regelmäßig vergleichbare Statistiken und Berichte über das Ausmaß der Ungleichgewichte in der EU und über erfolgreiche Strategien zu deren Reduzierung erstellt werden. Ferner will die EU die Auswirkungen ihrer eigenen Politik auf die Entwicklung von Ungleichheiten untersuchen und sicherstellen, daß sie so zu deren Abbau beiträgt. Schließlich soll der Informationsfluß über in Frage kommende EU-Finanzierungsmöglichkeiten zur Unterstützung nationaler Behörden und anderer Einrichtungen verbessert werden. Mit Blick auf die Nutzung möglicher europäischer Finanzressourcen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten wird neben den Forschungsrahmenprogrammen und Förderprogrammen für den Gesundheits- und Sozialbereich generell auf die Strukturfonds verwiesen. Allerdings sollen nach Auffassung der Kommission die Mitgliedstaaten, insbesondere die neuen Mitgliedstaaten, die Strukturfonds mehr dazu nutzen, um die Gesundheitsinfrastruktur in ihren Ländern zu fördern. Zur Zeit fließen lediglich 1,5 % der verfügbaren Strukturfondsmittel in diesen Staaten in den Gesundheitsbereich. Die alten Mitgliedstaaten sollen hingegen verstärkt den Europäischen Sozialfonds für die Ausbildung und Weiterqualifizierung ihres Gesundheits- und Pflegepersonals einsetzen. Die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten tangiert höchst sensible politische Interessen, die mit erheblichem Erwartungsdruck der Bevölkerung, zunehmender Akzeptanzproblematik bei den Betroffenen, d. h. weiter Bevölkerungskreise und Leistungserbringergruppen korreliert. Die Anforderungen der Öffentlichkeit an die Bereitstellung der Ressourcen in der Gesundheitsversorgung haben zwei deutliche Konsequenzen für die Gesundheitspolitik: eine Steigerung der Kosten in der Gesundheitsversorgung sowie gleichzeitig Reformtendenzen in Richtung auf Qualitätssicherung, Zugangserleichterung und Transparenzverbesserung. EU-Untersuchungen über die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem in den EU-Mitgliedstaaten kommen zu dem Schluß, daß die Meinung der Bevölkerung über das jeweilige Gesundheitssystem partiell von der Höhe der Ausgaben im Gesundheitssektor abhängt, d. h. die Zufriedenheit als ein Qualitätsindikator zumindest teilweise
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mit höheren Ausgaben korreliert. Festzustellen ist ein beträchtliches Nord-SüdGefälle des Zufriedenheitsgrades der EU-Bürger mit der Gesundheitsversorgung. Demgegenüber spielt die Struktur des Gesundheitssystems (staatlich-steuerfinanziert versus versicherungs-beitragsfinanziert) nur eine untergeordnete Rolle für den Zufriedenheitsgrad.114 In allen Mitgliedstaaten herrscht eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Methoden der Finanzierung und der Bereitstellung der Gesundheitsversorgung. Die wichtigsten gemeinsamen Probleme, die unterschiedlich stark zu Tage treten, sind – gerade auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung – die Schwierigkeit der Bewältigung sich verändernder Krankheitsbilder, die Gewährleistung eines sozial gerechten Zugangs zu den Versorgungsleistungen, die Kontrolle über die Kosten, ein effizienter und nachhaltiger Ressourceneinsatz in der Gesundheitsversorgung sowie ein Angebot qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung, die mit der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung Schritt hält. Der Zwang zur Kosteneinsparung bei den Leistungen und die Bedarfssteigerungen machen sich unabhängig von der Organisationsform des Gesundheitssystems bemerkbar, wirken sich aber unterschiedlich aus. Zwar ist es bei den als „nationaler Gesundheitsdienst“ ausgestalteten Systemen wegen ihrer Budgetbindung theoretisch leichter, die Ausgaben zu kontrollieren, doch führt der Nachfragedruck in diesem Fall zu längeren Wartezeiten, die teilweise von einer tatsächlichen Unzulänglichkeit des Versorgungsangebots zeugen. Bei den nach dem Versicherungsprinzip organisierten Systemen bewirkt eine Nachfrage- und/oder Kostensteigerung eine Erhöhung der Ausgaben, die langfristig für die öffentlichen Finanzen und/oder die Arbeitskosten untragbar werden kann – es sei denn, auch die Einnahmen können vermehrt oder Sparmaßnahmen durchgesetzt werden, was nicht selten auf den Widerstand der betroffenen Heilberufen und anderer Leistungserbringer stößt.115 Im übrigen haben die Ausgaben für das Gesundheitswesen in den meisten Mitgliedstaaten langsamer zugenommen als das BIP. Seit Anfang der 90er Jahre sind nämlich zahlreiche Reformen durchgeführt worden, die sich verschiedener ausgabensteuernder Ansätze bedienen bzw. diese teilweise – in unterschiedlichem Umfang – miteinander kombinieren. Dies betrifft zum einen die Vergütungssysteme ärztlicher und zahnärztlicher Leistungen in der ambulanten Versorgung. Die meisten der steuerfinanzierten Systeme verfügen über ein staatliches Gesundheitssystem, in dem die Leistungen durch eine zentrale öffentliche Einrichtung vermittelt werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß bei einer Steuerfinanzierung zwangsläufig auch der Staat selbst Leistungsanbieter und das gesamte Gesundheitspersonal abhängig beschäftigt 114 Vgl. die Nachweise bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 152. S. auch die neueste Untersuchung der EU-Kommission in sämtlichen 27 EU-Mitgliedstaaten zur Einschätzung der Patientensicherheit und der Versorgungsqualität unten 4. Kap. I. 1. a), III. 3. b). 115 s. Busse, in: Michaelis (Hrsg.), Der Preis der Gesundheit, 2001, S. 174 ff. Vgl. auch die Ausgabenbegrenzungen für die Arzneimittelausgaben sowie im ambulanten und stationären Versorgungssektor durch das GKV-FinG 2010.
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ist. Lediglich in Schweden, Griechenland und Portugal sind die meisten Ärzte in der ambulanten Versorgung als Angestellte tätig. Alternative Abrechnungssysteme in der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Ärzte sind die Einzelleistungsvergütung (gemäß einer festen Gebührenordnung) und eine Kopf- oder Fallpauschale, in deren Rahmen der Leistungserbringer einen Festbetrag je registrierter Person bzw. Behandlungsfall erhält. In den letzten Jahrzehnten haben sich Abrechnungsformen entwickelt, bei denen der Erbringer der Grundversorgung eine Behandlungspauschale erhält, in deren Rahmen die Leistungen abzuwickeln sind. In den EU-Sozialversicherungssystemen herrscht in der ambulanten Versorgung durch Allgemein-, Fach- oder Zahnärzte überwiegend die Einzelleistungsvergütung in Kombination mit Pauschalen und Budgetierungen vor. Es werden europaweit Anstrengungen zur Reform der Abrechnungssysteme unternommen, um einer Leistungsausweitung auf der Grundlage von Diagnosegruppen und vernetzten Strukturen entgegenzuwirken. Die Finanzierung der Krankenhausversorgung ist in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich, wobei die wichtigsten Abrechnungsarten Tagessätze, Behandlungspauschalen und Leistungsabrechnungen sind, die sich auf die klinischen Diagnosen stützen („Diagnosefallgruppen“). Als strukturell kostentreibende Faktoren wirken der ständige Fortschritt bei der Medizintechnik, der Arzneimittelversorgung und die demographische Entwicklung mit einer immer größere Zahl alter Menschen, das sich wandelnde Morbiditätspanorama und das erhöhte Gesundheitsbewußtsein der Bevölkerung, die verstärkt Gesundheitsleistungen nachfragt. In fast allen Ländern der EU ist die staatliche Regulierung durch Leistungsbegrenzung und Budgetierung ein wichtiges Instrument, um den Anstieg der Gesundheitskosten zu begrenzen. Die Form der Budgetierung ist von Land zu Land unterschiedlich. Neben festen Budgets („fixed budget“ oder „global budget“), die die vorherige Festlegung einer Summe für die Gesamtheit aller Leistungen in einem bestimmten Zeitraum implizieren, stehen flexible bzw. Ziel-Budgets („target budget“), bei denen eine Zielgröße vorgegeben wird oder Ausgabenhöchstgrenzen („spending cap“), die für einen bestimmten Zeitraum oder pro Fall eine Grenze definieren, bis zu der Leistungen bzw. Kosten erbracht werden. Alle drei Formen – festes Budget, flexibles Budget und Ausgabenhöchstgrenze – können jeweils für einzelne oder mehrere Leistungserbringer bzw. -gruppen oder sogar für den gesamten Gesundheitssektor vereinbart bzw. wirksam sein. Letzteres ist typisch für staatliche, steuerfinanzierte Systeme, bei denen die Gesamtausgaben des Gesundheitssystems im Voraus festgelegt werden. Dies ist z. B. in Griechenland, Großbritannien, Portugal und Spanien (überwiegend) auf nationaler und in den skandinavischen Ländern auf regionaler bzw. lokaler Ebene der Fall, wobei jedoch die Budgets – insbesondere in den mediterranen Ländern – häufig nicht eingehalten werden.116 116 Vgl. die Übersicht über die verschiedenen Budgetformen an den EU-Mitgliedstaaten bei Busse, in: Michaelis (Hrsg.), Der Preis der Gesundheit, S. 185.
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Frankreich, das schon Mitte der 80er Jahre eine Budgetierung im Krankenhausbereich eingeführt hatte, läßt seit 1997 das Parlament jährlich über den sog. „enveloppe“ für die Gesamtausgaben entscheiden, der weiter nach einzelnen Sektoren und Regionen unterteilt ist. Nahezu alle EU-Länder versuchen, durch Budgets oder Ausgabenhöchstgrenzen die Kosten entweder auf der Ebene des Gesamtsystems bzw. wichtigen Sektoren oder auf der Ebene einzelner Leistungserbringer zu begrenzen. Mitgliedstaaten wie Großbritannien, in denen die Gesundheitsausgaben auf nationaler Ebene festgelegt werden, erlauben dabei in jüngerer Zeit auf lokaler Ebene mehr Vertragsflexibilität, während Länder mit traditioneller Vertragsfreiheit auf institutioneller Ebene wie Belgien, Frankreich oder Österreich Plafonds auf übergeordnet-nationalem Niveau einziehen117 oder durch gesetzliche Preisvorgaben bzw. Interventionen in die von den Versicherungsträgern mit den Leistungserbringerorganisationen ausgehandelten Vergütungsstrukturen das Kostenniveau senken.118 In solchen Ländern, in denen es keine im Voraus fixierten bzw. funktionierenden Budgets gibt, werden Vergütungen retrospektiv abgesenkt, wie z. B. in Italien, wo DRGs für Krankenhäuser eingeführt und aufgrund zu starken Fallzahlausweitungen die Fallpauschalen nachträglich entsprechend gekürzt wurden, so daß der vorgesehene Finanzrahmen formal eingehalten werden konnte. Sämtliche Varianten der Budgetierung haben sich nur so lange als sinnvoll erwiesen, als die reale Leistungsmenge sich nicht zu weit von der ursprünglich zugrundegelegten Gesamtmenge entfernte, so daß bei sinkenden Preisen eine abrechnungsbedingte Mengenausweitung erzeugt wird. Als Instrument nachhaltiger Steuerung der Gesundheitsausgaben unter politisch und sozial vertretbaren Bedingungen hat sich die Budgetierung als unzureichend erwiesen, zumal sie mittelfristig eine progrediente Rationierung der Leistungen sowie Versorgungs-, Qualitäts- und Innovationsdefizite provoziert. Ein zweiter Hebel, mit dem die Mitgliedstaaten der EU kostendämpfend das Gesundheitswesen regulieren, setzt nicht bei den Leistungserbringern, sondern den „Nachfragern“ nach Gesundheitsleistungen an durch Erhöhung der Selbstbeteiligung an den Kosten für Arzneimittel, ärztliche und zahnärztliche Behandlungen sowie stationäre Versorgung. Hier ergibt sich im Gesundheitswesen der EU ein sehr
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Busse/Schlette, Gesundheitspolitik in Industrieländern, S. 37 ff. Instrumente einer solchen Kostendämpfungspolitik durch staatliche Vorgaben oder gesetzliche Eingriffe in das von den Selbstverwaltungen vereinbarte Preis- und Honorarsystem wurden seit Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Deutschland in einer Sequenz von Kostendämpfungsgesetzen eingesetzt, zuletzt im Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften (GKV-ÄndG) v. 18. 6. 2010 in Form der Anhebung des Herstellerabschlags für Arzneimittel auf 16 % und einen Preisstop für zu Lasten der GKV verordnete Arzneimittel sowie im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) v. 11. 11. 2010 und im GKV-Finanzierungsgesetz v. 12.11.2010. 118
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differenziertes Bild, das in fast allen EU-Staaten die Selbstbeteiligungsquote ansteigen läßt.119 Insgesamt liegt der Finanzierungsanteil, den die privaten Haushalte durch direkte Zuzahlungen und Selbstbehalte bzw. durch die Prämienzahlung an private Krankenversicherungen leisten (ohne soziale Umverteilungskomponente), in einigen Ländern unter 10 Prozent (Großbritannien: 8,8 Prozent, Luxemburg: 9,9 Prozent), während in anderen Ländern etwa 40 Prozent (Griechenland: 42,5 Prozent, Portugal: 38,8 Prozent) direkt durch die privaten Haushalte finanziert werden müssen. Deutschland nimmt bezüglich des privaten Finanzierungsanteils einen Platz im unteren Drittel ein. Die Zuzahlungsregelungen sind in aller Regel leistungsspezifisch ausgestaltet, d. h. die Höhe der geforderten Zuzahlung kann je nach Leistungsbereich zum Teil erheblich differieren. Während etwa Zuzahlungen im stationären Sektor in den meisten Ländern nur eine marginale Bedeutung haben, sind demgegenüber im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung Selbstbehalte und private Zuzahlungen international allgemein üblich.120 In einigen europäischen Ländern gehören Zahnbehandlungen und/oder Zahnersatz überhaupt nicht zum öffentlichen Leistungskatalog. So sind in den Niederlanden Zahnersatz und große Teile der zahnärztlichen und kieferorthopädischen Versorgung für Erwachsene über 22 Jahren aus dem Leistungskatalog gestrichen worden. Neben den bereichsspezifischen Differenzierungen gibt es auch zielgruppenspezifische Zuzahlungsregelungen. Kinder sind in den meisten europäischen Staaten von Zuzahlungen befreit, in einer Reihe von Ländern existieren zudem Sonderregelungen für Behinderte, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose. Infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise und der daraus resultierenden Sparzwänge ist seit dem Ende des ersten Jahrzehnts der Jahrtausendwende eine verstärkte Tendenz zur Erhöhung der Selbstbeteiligung in fast allen europäischen Ländern zu vermerken.121 Gesundheitsökonomisch gelten Zuzahlungen als effizienzfördernd, um Fehlanreizen zu übermäßigem Konsum von Gesundheitsleistungen und einer Überversorgung durch die Vollkaskomentalität des „moral hazard“ entgegenzuwirken. Die Nachfrageelastizität wird erhöht, kann aber auch Hemmschwellen der Inanspruchnahme bei spürbar hoher Zuzahlung bewirken, so daß gesundheitspolitische Verwerfungen entstehen und medizinisch notwendige Behandlungen zurückgestellt werden oder unterbleiben. In diesem Zielkonflikt gilt es in allen europäischen Ländern die soziale Symmetrie von Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit immer wieder neu zu justieren. 119 Schneider/Hofmann/Köse, Zuzahlungen im internationalen Vergleich; Fritz-Beske-Institut für Gesundheitssystemforschung, Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich. 120 s. S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 310 ff. 121 So planen die Niederlande für 2010 eine Selbstbeteiligung der Bürger an der allgemeinen Gesundheitsversorgung in Höhe von 775,– E pro Person.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Die Steuerungswirkung der Selbstbeteiligung ist im europäischen Vergleich deutlich nachzuweisen: Während die Deutschen 1998 im Schnitt 6,5 mal pro Jahr einen Besuch beim Arzt aufwiesen, konsultierten die – zuzahlungspflichtigen – Schweden ihren Arzt nur 2,8 mal. Auch die Krankenhausaufenthalte werden kürzer. Während sich ein Deutscher 1998 im Schnitt 10,7 Tage in der Klinik aufhielt, lagen die Zahlen in Ländern mit höheren Selbstbehalten deutlich darunter. So blieben die Franzosen 5,6 Tage im Schnitt im Krankenhaus, die Finnen 4,7 Tage und die Schweden 6 Tage122. Deutschland und Frankreich haben in den vergangenen Jahren umfassende Gesundheitsreformen durchgeführt, die u. a. weitere Leistungsausgrenzungen und Erhöhung der Selbstbeteiligung vorsehen, aber auch strukturelle Veränderungen wie die Stärkung des Hausarztprinzips und der integrierten Versorgung vornehmen. Die Niederlande haben in einer europaweit viel beachteten im Jahre 2006 in Kraft getretenen Reform die Dualität von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung zugunsten eines einheitlichen Systems einkommensabhängiger Beiträge und einkommensunabhängiger Pauschalen aufgegeben, ohne die Kostendynamik mit einem die Entwicklung des BIP weit übersteigenden Ausgabenanteils je Versichertem bewältigt zu haben. Weitere Probleme ergeben sich aus einer starken die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs beeinträchtigenden Marktkonzentration der Versicherungsunternehmen mit einer geringen Wechseldynamik der Versicherten. Genauso wie in Deutschland nimmt in den Niederlanden der Anteil der Steuerfinanzierung in Relation zur Betragsfinanzierung zu und erreicht im Jahr 2010 18,9 %. Auch eine Entkoppelung der Krankenversicherungsbeiträge vom Faktor Arbeit ist in den Niederlanden durch die Gesundheitsreform 2006 bisher nicht gelungen, so daß die Lohnzusatzkosten gestiegen sind.123 Allgemein dürfte die Einführung von Marktmechanismen im Gesundheitswesen, wenn die Voraussetzungen für das Funktionieren gegeben sind, dazu beitragen, das Kostenbewußtsein sowohl auf Seiten der Versorgungsträger als auch auf Nachfrageseite zu steigern und die Leistungen stärker am Bedarf des Patienten auszurichten. Dazu gehört zunehmend in allen EU-Staaten das Bemühen um Verbesserung der Versorgungsqualität durch qualitätssichernde Maßnahmen im Gesundheitswesen, die auf der Entwicklung von therapeutischen und ökonomischen Qualitätsstandards durch Leitlinienentwicklung („evidence based medicine“), Förderung der Fort- und Weiterbildung sowie andere Initiativen hinauslaufen, die der Steigerung der Versorgungsqualität in ihren Komponenten der Struktur- und Prozeßqualität dienen mit dem Ziel, die Ergebnisqualität zu fördern. Ziel ist ferner, durch größere Transparenz der Versorgungsstrukturen eine bessere Information der Patienten über die Qualität
122
s. Institut der Deutschen Wirtschaft, iwd Nr. 37 v. 12.11.2002. Zu den Auswirkungen der Gesundheitsreform in den Niederlanden s. pkv-publik 3/2010, S. 4 ff. Zur Übertragbarkeit des niederländischen Modells auf Deutschland s. J. Meyer, BKK 04/ 2010, 225 ff. 123
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medizinischer Einrichtungen und Leistungen sowie deren Kosten zu gewährleisten.124 Die Bemühungen auf der Ausgabenseite werden auf der Finanzierungsseite von verstärkten Anstrengungen begleitet, die Sozialbeiträge zu reduzieren und insgesamt die Finanzierungsgrundlagen zu verbreitern. Dahinter steht insbesondere der Gedanke, die Kosten der sozialen Sicherungssysteme von ihrer einseitigen Bindung an Beschäftigungsverhältnisse abzukoppeln und den Lohnnebenkosteneffekt zu vermindern. Paradigmatisch dafür ist die Diskussion in Deutschland über Bürgerversicherung und Gesundheitspauschalen.125 In beitragsbezogenen Systemen geht der Trend allgemein dahin, sog. versicherungsfremde Leistungen noch stärker als bisher durch den Staatshaushalt zu finanzieren. In diesem Zusammenhang wurden in einigen Staaten einzelne Steuern „zweckbestimmt“ erhöht. In Frankreich wurde zu diesem Zweck die 1989 eingeführte allgemeine Solidaritätssteuer weiter angehoben. In Deutschland wurde eine Erhöhung der Mineralöl- und Tabaksteuer für die Finanzierung der Sozialversicherung vorgenommen. Andererseits nehmen mit der generell zu beobachtenden Verbreiterung der Beitragsbasis in den Sozialversicherungssystemen auch die Beiträge als parafiskalische Abgaben den Charakter von gesundheitssystembezogenen Steuern an. Dies bedeutet, daß sich abgaberechtliche Mischformen herausbilden, die eine trennscharfe Unterscheidung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen im tradierten Sinne zumindest erschweren. In der Folge zerfließen auch die Konturen zwischen sozialversicherungsrechtlicher Beitragslast und steuerlicher Lastengleichheit als Indikatoren der Elemente sozialen Ausgleichs.126 In den Staaten der Europäischen Union geht der Trend generell dahin, die grundsichernden Elemente in den sozialen Systemen zu stabilisieren und weiterzuentwickeln. Für die südeuropäischen Staaten und besonders die neu beigetretenen mittel- und osteuropäischen Staaten bedeutet dies, nicht zuletzt als Reaktion auf die allmähliche Erosion traditioneller Familien- und Sozialstrukturen, daß die Fürsorgeund Versorgungselemente ihrer sozialen Systeme zunächst noch ausgebaut werden müssen. In den Staaten mit traditionell umfassenden sozialen Sicherungssystemen beschreiben die Leistungsbeschränkungen auf der Ausgabenseite andererseits de facto einen ersten Schritt hin zur stärkeren Betonung grundsichernder Elemente.
124 Zu den EU-Staaten als „Versuchslabor für Gesundheitssysteme“ s. Brandt, BKK 12/ 2002, 543 ff. 125 s. zu den Optionen im Rahmen einer Finanzierungsreform der GKV die Beiträge von Wille (S. 137 ff.), Oberender/Ulrich (S. 155 ff.) und Wasem (S. 189 ff.) in: Wille/Albring (Hrsg.), Versorgungsstrukturen und Finanzierungsoptionen auf dem Prüfstand, 2005. Vgl. auch die im Entwurf eines GKV-FinG 2010 vorgesehene Erhebung eines von den Versicherten zu tragenden Zusatzbeitrages zur Finanzierung künftiger Ausgabezuwächse im Gesundheitswesen. 126 s. S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 345.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Angestrebt wird allgemein ein Ausgleich zwischen Effektivitäts- und Solidarzielen durch Anreize für die Beteiligten, um Rationalitätsfallen zu verhindern und Widerspruchsfreiheit im Leistungsprozeß sicherzustellen.127 Zum Teil wird Wettbewerb darin gesehen, in das gesetzliche System privatwirtschaftliche Elemente vor allem in Gestalt von Wahlleistungen einzubringen. Deutschland und die Niederlande sehen solche Wahltarife vor, wonach Versicherte unterschiedliche Prämienmodelle bei höherer Eigenbeteiligung wählen und sogar einen Schadensfreiheitsbonus erhalten können. Auf diese Weise werden privatversicherungsrechtliche Elemente wie Tarifdifferenzierungen, Bonussysteme, Selbstbehalte und Beitragsrückerstattungen128 in das Sozialversicherungssystem implementiert. Hiervon verspricht man sich Einsparungen im Gesundheitswesen durch Wettbewerb mittels günstiger Beitragsgestaltung. So streben die Sozialversicherungssysteme im Leistungssektor einen systeminternen Wettbewerb von Tarifen129 an, um durch Sparanreize für den Versicherten Kostendämpfung im Gesundheitswesen zu erzielen. Dabei ist ein System solchen Wahlmöglichkeiten umso eher zugänglich, je weniger es unmittelbar steuerfinanziert wird. Neben der wettbewerblich geprägten Gestaltung von Leistungsbedingungen des gesetzlichen Systems selbst ist es der Wettbewerb zwischen Versicherungsträgern, der als Faktor der Allokationseffizienz eingesetzt wird. Hier ist zunächst die Anbieterstruktur von Bedeutung. So wird z. B. in Frankreich diskutiert, den Sicherstellungsauftrag auf ein wettbewerblich organisiertes Kassenwesen zu übertragen. Auf der anderen Seite kann im neuen niederländischen System der Versicherte zwischen privaten gewinnorientierten Versicherungsunternehmen mit gleichen Anbietervoraussetzungen wählen, darunter auch die bisherigen Krankenkassen, wobei Kriterien der jeweiligen Prämienhöhe, des Leistungsangebots und der Selbstbeteiligungen für die Ausübung des Wahlrechts maßgeblich sein können. Damit stützt sich in den Niederlanden die Anbieterstruktur für die Absicherung der Krankheitsrisiken durchweg auf Unternehmen, die dem Wettbewerb unterliegen. Alle Versicherer agieren in gleicher Weise sowohl im Bereich der Grund- als auch der Zusatzversicherung. Der Wettbewerb findet zum einen oberhalb des einheitlichen Grundleistungspaketes auf dem Sektor der Zusatzversicherungen statt. Als ein wesentliches Wettbewerbselement zwischen den Versicherern wird zum anderen die 127 Hierzu gehören auch Erprobungsregelungen wie z. B. in Deutschland in den §§ 63 ff., 140b, d SGB V. Zur verfassungs- und sozialrechtlichen Problematik der Implementierung von Wahl- und Bonustarifen in die GKV s. Karl/v. Maydell, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherungen, 2003; Isensee, NZS 2007, 449 ff.; Giesen, Wahltarife der gesetzlichen Krankenversicherung, 2010. 128 So z. B. § 30 Abs. 2 SGB V bezüglich Ermäßigungen oder Boni bei den Zuzahlungen zum Zahnersatz bei eigenen Bemühungen um die Gesunderhaltung der Zähne oder auch die Bonusvarianten des § 65a SGB V. 129 Zu den Möglichkeiten einer wettbewerblichen Differenzierung zwischen den Krankenkassen s. die Beiträge von Straub (S. 91 ff.), Rebscher (S. 101 ff.) und Hermann (S. 123 ff.) in: Wille/Albring (Hrsg.), Versorgungsstrukturen und Finanzierungsoptionen auf dem Prüfstand.
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Prämiengestaltung angesehen. Es stellt einen Kernpunkt der niederländischen Reform dar, daß die Prämien zum Teil individuell durch die Versicherer festgelegt werden, zwischen denen die Versicherten frei wählen können und die einem Kontrahierungszwang unterliegen. Hier ist auch ein Prämiennachlaß möglich. Der Wettbewerb wird aber staatlich gelenkt durch die Regelung zulässiger Prämiennachlässe, Qualitätsvorgaben und Benchmark-Systeme. Als Korrelat des Kontrahierungszwangs ist ein Risikostrukturausgleich zwischen den Versicherern vorgesehen, was teilweise wettbewerbsdämpfend wirkt. Insgesamt wird also deutlich, daß Wettbewerb der Versicherer politisch angestrebt, dieser gleichzeitig aber durch mehr oder weniger intensive gesetzliche Regelungen eingebunden und zum Teil konterkariert wird. Eine weitere Möglichkeit des Wettbewerbs besteht auf dem Sektor privater Zusatzversicherungen, die gleichzeitig auch durch gesetzliche Leistungsträger angeboten werden können. Der Wettbewerb wird auf diese Weise in einen gemeinsamen Aktionsradius von öffentlich-rechtlichen und privaten Versicherungsanbietern verlagert. Derartige Formen eines „Public-Private-Wettbewerbs“ stoßen häufig auf Bedenken angesichts der inkongruenten Wettbewerbsbedingungen zwischen öffentlichen und privaten Anbietern.130 Im Unterschied zu den Aspekten individueller Leistungs- und Tarifgestaltung sowie dem Wettbewerb zwischen den Versicherern suchen alle EU-Gesundheitssysteme den Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern zu stärken.131 Frankreich kennt in diesem Zusammenhang seit jeher das System der Conventions, in dessen Rahmen die Ärzte mehr oder weniger strikte Vertragsbeziehungen mit den Kostenträgern eingehen mit der Folge unterschiedlicher Honorarbindungskategorien und dementsprechend differierender Zuzahlung der Versicherten. Auch im neuen niederländischen System verhandeln die Versicherer Mengen, Preise und Qualität mit den Leistungserbringern, wobei auch bisher schon nicht mit allen Leistungserbringern Verträge abgeschlossen werden mußten. Soweit in manchen Ländern wie auch Deutschland ein Kontrahierungszwang der Versicherer mit den Leistungserbringern besteht, wird gerade unter Wettbewerbsaspekten ein Vertragssystem gefordert, das eine Auswahl der Vertragspartner zuläßt und den bestehenden Automatismus des Vertragsabschlusses mit allen Leistungserbringern beseitigt, um den Wettbewerb zwischen den Erbringern ambulanter Leistungen zu verstärken. In Deutschland ist dies durch die Einführung von Struktur- und Selektivverträgen im Rahmen der hausund fachärztlichen Versorgung (§§ 73a, b, c SGV) geschehen.132 130 Vgl. die §§ 53 und 54 SGB V und die Hinweise bei Isensee, NZS 2007, 449 ff.; Giesen, Wahltarife der GKV, 2010. 131 s. S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 349. 132 Zu rechtlichen Anforderungen an Krankenkassen als Nachfrager im Vertragswettbewerb s. Ebsen, BKK 02/2010,76 ff. m.w.N.; Wigge/Harney, MedR 2008, 139 ff.; Sodan, in: Wille/ Albring (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen durch neue Versorgungsstrukturen?, 2004, S. 45 ff.; zu gesundheitspolitischen Forderungen der Wettbewerbsstärkung im Gesundheitswesen s. Druges/Eekhoff/Franz/Fuest/Möschel/Neumann, Dienstleistungsmärkte
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Die diversen gesundheitspolitischen Strategien der EU-Mitgliedstaaten sind rückgekoppelt an die spezifischen Struktur- und Kapazitätsbedingungen des jeweiligen Gesundheitswesens. So steht in Gesundheitssystemen mit Ressourcen- und Versorgungsdefiziten nicht so sehr die Einführung von Wettbewerbselementen im Vordergrund als vielmehr die Erhöhung der Qualität in Gestalt des verbesserten Zugangs zur Versorgung. Hierzu werden vor allem in Ländern, in denen Ärztemangel herrscht, auch Versuche einer Anwerbung und Spezialisierung von Heilberufsangehörigen unternommen. Darüber hinaus geht es um die bessere Versorgung von spezifischen sozial oder altersbedingt gehandicapten Bevölkerungsgruppen. Das schwedische Gesundheitssystem konzentriert sich daher im Nationalen Aktionsplan auf die Neujustierung der Rationierung von Leistungen durch Priorisierung und die qualitative Verbesserung der Behandlung bestimmter Patientengruppen, wie vor allem älterer Menschen. Großbritannien schließlich verfolgt eine Zielkombination von Ressourcenverbesserung und Qualitätswettbewerb, indem es Ärzte durch ein neues wettbewerbsstimulierendes Vertragssystem mit flexiblen Behandlungs- sowie leistungs- und qualitätsbezogenen Vergütungsmöglichkeiten zu gewinnen sucht.133 Schließlich ist vielen europäischen Gesundheitssystemen die Erkenntnis gemeinsam, daß es nicht genügt, Anpassungen von Leistungen und Beiträgen vorzunehmen und die institutionellen Bedingungen unverändert zu lassen. So befassen sich viele Länder mit Modifikationen im organisatorisch-institutionellen Bereich sowie bei den Verfahren der Durchführung der Gesundheitsversorgung. In diesem Rahmen zielt Frankreich darauf ab, mehr Verantwortung vom Staat auf die Krankenkassen zu übertragen und die Qualitätssicherung zu vereinheitlichen. Schweden möchte eine Vielfalt von Managementformen implementieren durch Verträge mit privaten Unternehmen als Leistungserbringern. In Großbritannien ist in diesem Zusammenhang auf die wiederholte Umgestaltung der Health Authorities hinzuweisen, ein Prozeß, der seit Jahrzehnten nach Verantwortungsstärkung und Schaffung effizienter Managementformen in dieser zentralen Organisationsstruktur des NHS strebt. Zusätzlich stellt die Schaffung von Instituten für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin eine verbreitete Maßnahme dar, wie Reformen in Großbritannien und Frankreich ebenso wie in Deutschland mit der Errichtung unabhängiger Gesundheitsinstitutionen zeigen, wie z. B. dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (§ 139a SGB V), deren Aufgabe vor allem in der Entwicklung einer gesicherten wissenschaftlichen Basis für die Gesundheitsversorgung sowie in Bewertungen evidenzbasierter Leitlinien für die epidemiologisch wichtigsten Krankheiten, des Nutzens und der Kosten von Arzneimitteln in Europa weiter öffnen, Schriftenreihe Bd. 45 der Stiftung Marktwirtschaft, 2007; Penner, Leistungserbringerwettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung, 2010; Oberender/Zerth, BKK 04/2008, 202 ff. 133 Zu Struktur- und Selektivverträgen als Wettbewerbsinstrumenten s. Hauck, SGb 2007, 203; Frenz, NZS 2007, 233 ff.; Muschallik, MedR 2003, 139 ff.; Rehborn, VSSR 2004, 157 ff.; Sodan, in: Wille/Albring (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen, S. 45 ff.; Wigge/ Harney, MedR 2008, 139 ff.
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und Informationsvermittlung über Fragen der Qualität und Effizienz der Versorgung besteht.134 Bei solchen organisatorisch orientierten Reformansätzen mit ihrem Bestreben nach mehr Effizienz des Leistungs- und Ausgabegebarens der Versicherungsträger ist dabei der Trend in die Richtung einer organisatorischen Gleichschaltung von öffentlichen und privaten Versicherern zu beobachten. Diese Erscheinung kumuliert in den Niederlanden im Einsatz ausschließlich privater Versicherungsunternehmen mit freier Wahl der Versicherten, dem andererseits die Schaffung einer neuen Zentralbehörde zum Beitragseinzug für alle Versicherer gegenübersteht. Dies mag als Ausdruck der generellen Tendenz gelten, öffentlich-rechtliche Strukturen, die in die Privatheit entlassen, oder private Strukturen, die für die öffentlichen Gesundheitssysteme nutzbar gemacht werden, durch gesetzliche Regelungen in einen staatlich gesteuerten Rahmen einzubeziehen bzw. an staatliche Institutionen zu binden.135 Verbreitet konzentrieren sich Reformansätze auch auf die Veränderung von Organisation und Gewicht einzelner Leistungsbereiche. So hat Schweden eine Organisationsreform zur klaren Trennung von Primärversorgung und Krankenhausversorgung in Angriff genommen, wobei erstere größeres Gewicht erhalten, während letztere spezialisiert, konzentriert und zentralisiert werden soll. Schließlich sind es Einrichtungen und Verfahren zur Qualitätsverbesserung, die solche organisatorischen und verfahrensmäßigen Reformen prägen. Schweden steht hier mit der Entwicklung eines Systems ausgeklügelter Qualitätsindikatoren und Qualitätssicherungsverfahren an der Spitze, wobei diese Reform einen besseren Zugang zur Primärversorgung und eine Verbesserung der Qualität der Behandlung von älteren Personen sowie psychisch Erkrankten anstrebt. Dieses Ziel wiederum soll erreicht werden mit der Initiierung von Managementformen unter Einbeziehung privater Unternehmen für die Erbringung von Gesundheitsleistungen. Auch Großbritannien läßt sich mit seinen Überlegungen für ein patientenorientiertes System ebenso wie mit seinem neuen Vertragssystem für Hausärzte mit qualitätsbezogener Bezahlung in diese Reformansätze einordnen. Es kann also festgestellt werden, daß trotz unterschiedlicher Einzelprojekte in diesem Bereich der Ansatz organisatorisch-verfahrensmäßiger Reformen die meisten Gesundheitssysteme der EU – seien es staatliche oder Sozialversicherungsmodelle – verbindet und die größten Übereinstimmungen der Entwicklungslinien dieser Systeme aufweist, die im übrigen einer Mischung unterschiedlicher Reformmodelle folgen.136
134
Zu den Aufgaben des IQWiG s. Rixen, MedR 2008, 24. Vgl. S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 351. 136 Zu den Auswirkungen dieser Strukturkonvergenz auf die wettbewerbsrechtliche Zuordnung öffentlicher und privater Versicherungsträger im EU-Recht s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 265 ff. sowie unten 2. Kap. I. 2 c) und 4. Kap. II. 2.b). 135
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Insgesamt zeigt diese Entwicklung auf, daß die EU-Staaten, entsprechend ihren nationalen Traditionen, den Umbau ihrer sozialen Sicherungssysteme eingeleitet haben, die sich dabei als sozio-kulturell fest verwurzelte und zugleich flexible Systeme erweisen.137 Die vielfältigen Reaktionen und Erfahrungen der EU-Mitgliedstaaten auf ähnliche Herausforderungen geben den einzelnen Staaten wiederum Anregungen, ihre eigenen Probleme in einem „Lernenden System“ – gewissermaßen „by trial and error“ zu lösen. Sog. „Best Practices“ einzelner Staaten können von anderen Ländern jedoch nicht einfach kopiert werden, sondern bleiben davon abhängig, ob sie in das vorhandene Gefüge der nationalen Institutionen sinnvoll eingepaßt werden können.138
3. Instrumente und Schwerpunkte der EU-Gesundheitspolitik a) Die gesundheitspolitischen Aktionsprogramme der EU für Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz Schon in ihrer Mitteilung vom 16.5.2000139 stellt die EU Kommission die „breit angelegte gesundheitspolitische Strategie der Gemeinschaft“ dar, die darin besteht, „in allen Bereichen ihrer Politik ein kohärentes und effektives Konzept in Gesundheitsfragen zu berücksichtigen“. Kern dieser Strategie sind die in Art. 3 lit. p und Art. 152 EGV (Art. 168 AEUV) genannten Ziele im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Ihr zentraler Bestandteil ist ein neuer Aktionsrahmen, zu dem der gemeinsam mit der Mitteilung veröffentlichte Vorschlag eines Aktionsprogramms gehört. Zwar beschränkt sich das Aktionsprogramm selbst im wesentlichen auf drei konkrete Ziele aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit. Die Strategie greift jedoch weiter und dehnt das Blickfeld der Union auf praktisch alle Bereiche des Sozial- und Gesundheitsschutzes aus. Die Mitteilung stellt dementsprechend auch klar, daß die Zuständigkeit der EU in Gesundheitsfragen nicht auf spezielle Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit beschränkt sei. Der Vertrag fordere vielmehr ausdrücklich, daß „bei der Festlegung und Durchführung aller Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt“ werden müsse. Die Kommission verweist hier u. a. auf frühere Mitteilungen, in denen sie eine Strategie zur Zusam137
Vgl. dazu S. Tiemann, Gesundheitssysteme in Europa, S. 353. Vgl. Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, S. 43 ff.; GVG (Hrsg.), Die EUGesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, 2010, mit Beiträgen u. a. von Eichenhofer (S. 59 ff.), Lamping (S. 85 ff.), Kröger (S. 111 ff.), Kümmel (S. 127 ff.). 139 KOM (2000), 285 endg. s. auch Bellach/Stein, Die neue Gesundheitspolitik der Europäischen Union, 1999; Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, S. 270 ff.; Stein, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/2003, 21 ff.; ders., in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb – Zukunftsszenarien für die GKV, 2003, S. 13 ff. 138
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menarbeit und Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorgeschlagen habe, wozu etwa die Frage der gegenseitigen Erstattung von Krankheitskosten zwischen den Systemen sowie Kosten- und Finanzierungsfragen gehörten. Dies bedeute, daß auch Vorschläge in anderen zentralen Bereichen der Gemeinschaftspolitik (Binnenmarkt, soziale Angelegenheiten, Forschung und Entwicklung, Landwirtschaft, Handels- und Entwicklungspolitik, Umwelt usw.) den Gesundheitsschutz aktiv fördern sollte. Die neue integrierte gesundheitspolitische Strategie umfasse daher eine Reihe spezifischer Maßnahmen zur Erfüllung dieser Anforderungen, beispielsweise durch die Verbesserung der Koordinierung unter den Mitgliedstaaten. Ergänzt werden soll das Aktionsprogramm durch eine Harmonisierung der Maßnahmen z. B. in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz, zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie für Blut und Blutderivate. Aufbauend auf den Erfahrungen mit früheren, zum Teil noch laufenden Programmen konzentriert sich das geplante Aktionsprogramm für den Bereich der öffentlichen Gesundheit im wesentlichen auf drei Ziele, die durch detailliert beschriebene Maßnahmenbündel („Gemeinschaftsaktionen“) erreicht werden sollen: • Verbesserung von Informationen und Kenntnissen im Bereich der Gesundheit Durch ein umfassendes System der Gesundheitsberichterstattung sowie der Analyse, Beratung, Information und Konsultation zu Gesundheitsfragen sollen den politischen Entscheidungsträgern gesundheitliche Schlüsseldaten geliefert werden, die zur Entwicklung der Gesundheitspolitik und entsprechender Initiativen auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene erforderlich sind. Ferner soll das System leicht zugängliche Informationen für die Öffentlichkeit, Angehörige der Gesundheitsberufe und anderer Interessengruppen bereitstellen. Nach Vorstellung der Europäischen Kommission wird das System auf der Aufstellung von vereinbarten unionsweiten Indikatoren für den Gesundheitszustand, Erkrankungen und Gesundheitsfaktoren beruhen. Ferner sollen Informationen über Entwicklungstrends und die Wirksamkeit von Gesundheitssystemen, -technologien, Qualitätsstandards und Kriterien für bewährte Verfahren zusammengestellt werden. • Rasche Reaktion auf Gesundheitsgefahren Die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, auf Gesundheitsgefahren schnell und koordiniert zu reagieren, soll durch den Aufbau eines wirksamen Schnellreaktionssystems gestärkt werden. Besonders erwähnt werden grenzüberschreitende Gesundheitsgefährdungen wie BSE, HIV und umweltbedingte Erkrankungen, zu denen später noch Pandemien wie die sog. Vogel- und Schweinegrippe getreten sind. • Berücksichtigung der Gesundheitsfaktoren Der Vorschlag unterscheidet zwischen gesundheitsrelevanten Kriterien, welche die Lebensführung betreffen, einerseits sowie sozioökonomischen und umweltbedingten Gesundheitsfaktoren andererseits.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Die Mitgliedstaaten sollen bei der Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung und der Verringerung vorzeitiger Todesfälle in der EU (z. B. durch ischämische Herzerkrankungen, Hirngefäßerkrankungen, Krebs, chronische Lebererkrankungen, Verkehrsunfälle und Selbsttötungen) durch die Erarbeitung von Strategien und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention seitens der EU unterstützt werden. Ein Benchmarking soll zur Verbesserung der Qualität und der Standards entsprechender Abwehrmaßnahmen führen. Die Kommission betont in der Mitteilung, daß das vorgeschlagene Aktionsprogramm im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang wahre. Dennoch müsse die Gemeinschaft auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit tätig werden, da die Ziele des Programms auf der Ebene der Mitgliedstaaten, die keinen vollständigen Einfluß auf die maßgeblichen Faktoren hätten, nicht in ausreichendem Maße verwirklicht werden könnten. Die Maßnahmen sollen länderübergreifende Themen behandeln und einen zusätzlichen Nutzen auf Gemeinschaftsebene erbringen. Ein neuer Mechanismus zur Erreichung der Ziele des Aktionsprogramms könnte nach den Vorstellungen der Kommission die Einrichtung eines Europäischen Gesundheitsforums mit beratender Funktion darstellen, das allen an der öffentlichen Gesundheit Interessierten (z. B. Vertreterorganisationen von Patienten, Angehörigen der Gesundheitsberufe, Kostenträgern und anderen interessierten Gruppen) Gelegenheit geben soll, an der Entwicklung der Gesundheitspolitik mitzuwirken. Am 9. 10. 2002 wurde der Beschluß des Rates und des Parlaments über ein EUAktionsprogramm der Gemeinschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit (2003 bis 2008)140 veröffentlicht. Mit diesem Programm wurden die seit 1993 verabschiedeten – insgesamt acht – Partikular-Aktionsprogramme (1) Gesundheitsförderung, -aufklärung, -erziehung und Ausbildung, (2) Aktionsplan zur Krebsbekämpfung, (3) Prävention von Aids/übertragbaren Krankheiten, (4) Suchtprävention, (5) Gesundheitsberichterstattung, (6) Verhütung von Verletzungen, (7) seltene Krankheiten und (8) umweltbedingte Krankheiten zu einem einheitlichen Aktionsprogramm zusammengefaßt.141 Primärzweck des mit 312 Mio. E ausgestatteten Programms, das durch das spätere Aktionsprogramm „Öffentliche Gesundheit“ und die auf der Basis des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU (2008 – 2013) sowie im Strukturfonds bereitgestellten Mittel in Höhe von 321,5 Mio. E fortgesetzt wurde, war es, mit Hilfe bestimmter Aktionen (Muster- und Pilotprojekte, Gutachten, Forschungsreihen etc.) zahlreiche allgemeine gesundheitspolitische Programmziele zu erreichen. Die Ak140
ABl. EG Nr. L. 271. Vgl. Beschluß Nr. 1786/2000/EG sowie die Darstellung der EU-Aktionsprogramme im Bereich der Gesundheit (2008 – 2013) in: Gesundheitspolitischer Informationsdienst 29/2007, 17 ff.; 35/2007, 18. s. dazu unten 4. Kap. II. 1. b). 141
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tionen sollten von der Kommission – in enger Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten – mit Unterstützung einer im Aktionsprogramm aufgelisteten Vielzahl förderfähiger Tätigkeiten durchgeführt werden. Es ging dabei im wesentlichen um Tätigkeiten in folgenden Bereichen: • Überwachungs- und Krisenreaktionssysteme: z. B. Datenaustausch, Bewältigung von Gesundheitsgefahren, Entwicklung, Festlegung und Umsetzung geeigneter struktureller Vorkehrungen sowie verbesserter Verbindungen betreffend das Überwachungs- und Frühwarnsystem. • Gesundheitsrelevante Faktoren: Entwicklung und Durchführung von Tätigkeiten zur Gesundheitsförderung und zur Verhütung von Krankheiten in sämtlichen Gemeinschaftspolitiken. • Gesetzgebung: Vorarbeiten für gemeinschaftliche Rechtsinstrumente auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit, Bewertung der Auswirkungen gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften auf die Gesundheit, Koordinierung von Standpunkten. • Konsultation, Wissen und Information: Statistiken, Berichte, Untersuchungen, Analysen von Gutachten von gemeinsamem Interesse für die Gemeinschaft, Unterrichtung, Konsultation und Beteiligung interessierter Kreise wie z. B. Patientenorganisationen, Gesundheitsdienste, Sozialpartner etc., Erfahrungsaustausch, Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung, Entwicklung von Netzen über Informationsaustausch, Einholung wissenschaftlicher Informationen. • Förderung und Koordinierung der Nicht-Regierungsorganisationen auf europäischer Ebene, sofern sie Tätigkeiten entwickeln, die als „prioritär“ im Rahmen des Programms gelten. In Weiterführung dieser gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzausweitung bei der Abwehr von Seuchen und Gesundheitsgefahren hat die Europäische Kommission am 23. 7. 2003 die Einrichtung eines „Europäischen Zentrums für die Prävention und Bekämpfung von Seuchen“ vorgeschlagen. Übertragbare Krankheiten können eine erhebliche europaweite Bedrohung für die Gesundheit der Bürger darstellen, da sie nicht an den Landesgrenzen haltmachen, so daß ein in einem Land erfolgter Seuchenausbruch sich innerhalb kurzer Zeit rund um die Welt ausbreiten kann. Sowohl Epidemien wie Aids und BSE, die Geflügelpest, das „Schwere Akute Respiratorische Syndrom“ (SARS) oder die sog. „Schweinegrippe“ haben die Kehrseite der immer stärkeren Vernetzung zum „globalen Dorf“ vor Augen geführt. Bei der Eindämmung eines Seuchenausbruchs ist der Zeitfaktor von wesentlicher Bedeutung. Aus diesem Grund will die Kommission die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in Europa substanziell verstärken. Die Struktur des bestehenden EU-Netzes für übertragbare Krankheiten, das die Kommission bisher auf der Basis einer punktuellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten verwaltet, ist nach Meinung der Kommission nicht effizient genug, um die EU-Bürger ausreichend vor den von Infektionskrankheiten ausgehenden Gesundheitsgefahren zu schützen, zu denen auch
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die Möglichkeit der vorsätzlichen Freisetzung von Krankheitserregern („Bioterrorismus“) zählt.142 Die Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ des Europäischen Konvents, der verfassunggebenden Reformversammlung der Europäischen Union, hat in ihrem Schlußbericht am 4. 2. 2003 das Thema „Gesundheitskompetenz in einer künftigen europäischen Verfassung“ ausführlich erörtert und gefordert, daß die EU künftig erstmalig (oder mehr) Kompetenzen auf folgenden Gebieten erhält: • Grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen • Übertragbare Krankheiten • Bioterrorismus • Übernahme von WHO-Abkommen. Im gleichen Kontext stellte der Schlußbericht143 aber auch klar, daß die „exklusive Kompetenz“ der mitgliedstaatlichen Gesundheitsversorgungssysteme in Anlehnung an Art. 152 Abs. 5 EGV beibehalten werden sollte. Der Verfassungsentwurf ist diesem Vorschlag der Arbeitsgruppen gefolgt und hat den Art. 152 EGV in Art. III174 um die vorgeschlagenen Materien erweitert. Der Reformvertrag von Lissabon hat in Art. 168 AEUV die entsprechenden Kompetenzen unionsrechtlich verankert. b) EU-Initiativen zu Qualität, Transparenz und Finanzierbarkeit der Versorgung Mit Blick auf die bisherigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen haben die EU-Gesundheitsminister unter dem Arbeitstitel „Reflexionsprozeß auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“ einen hochrangigen Beraterkreis eingesetzt. Das Expertengremium hatte die Aufgabe, ein „gemeinsames Leitbild für das Gesundheitswesen in Europa“ zu entwerfen, in dessen Rahmen aber die Zuständigkeit der Einzelstaaten für die Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme unangetastet bleibt. Das Gremium, das seit Anfang 2003 regelmäßig tagte, setzte sich aus den Gesundheitsministern der Mitgliedstaaten sowie Vertretern der wichtigsten europäischen Interessengruppen des Gesundheitswesens zusammen. Auch Vertreter des Europäischen Parlaments und der Regierungen der Beitrittsländer waren eingebunden.144
142
s. dazu die Kommissions-Mitteilung über die Zusammenarbeit der Union bei der Abwehr von Anschlägen mit biologischen und chemischen Kampfstoffen (KOM (2003), 320 endg.). 143 Dok-Nr. CONV 516/1/03. 144 Gesundheitspolitischer Informationsdienst 13/2004; 14/2004.
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Die inhaltliche Diskussion im Rahmen des hochrangigen Reflexionsprozesses wurde in vier nach folgenden Themenbereichen gegliederten Arbeitsgruppen geleistet: • Europäische Zusammenarbeit zur besseren Nutzung von Ressourcen, • Informationsbedarf von Patienten, Leistungserbringern und politischen Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen, • Zugang zur Gesundheitsversorgung und Qualität der Versorgung, • Vereinbarkeit innerstaatlicher Gesundheitspolitik mit europäischem Recht. Die Vorschläge dieses Expertengremiums sind in eine dreigliedrige Initiative der Kommission zur Zusammenarbeit im Gesundheitswesen unter dem Titel „Reaktion auf den Reflexionsprozeß auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“145 eingeflossen: Der erste Teil der Initiative besteht in einem Strategiepapier über die Freizügigkeit von Patienten und die gesundheitliche Versorgung und betrifft: • Bessere Information der Patienten über die Möglichkeiten, sich in anderen Mitgliedstaaten gesundheitlich versorgen zu lassen, da die Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung in einem anderen Mitgliedstaat davon abhängt, ob man über die Qualität, Verfügbarkeit und Angemessenheit der dort angebotenen Behandlungen informiert ist, und wie man sich vom eigenen Gesundheitssystem oder der Krankenversicherung die Kosten erstatten lassen kann. • Erleichterung der Nutzung freier Kapazitäten in anderen Mitgliedstaaten durch die Leistungserbringer im Gesundheitswesen (z. B. leerstehende Krankenhausbetten). • EU-weite Netze von Sachverständigen im Gesundheitswesen und Spitzentechnologiezentren sowie koordinierte Evaluierung neuer Gesundheitstechnologien. • Systematischer Austausch bewährter Verfahren. In einem zweiten Teil macht die Kommission eine Mitteilung über die Anwendung der „Offenen Methode der Koordinierung“ im Gesundheitswesen: Die Mitteilung bezweckt die Unterstützung einzelstaatlicher Bemühungen um Reform und Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege und des Sozialschutzes, wobei die Notwendigkeit qualitativ hochstehender, flächendeckender gesundheitlicher Versorgung, die nachhaltig finanzierbar ist, im Mittelpunkt stehen soll. Drittens beinhaltet die Initiative der Kommission einen Aktionsplan zur Gesundheitstelematik (eHealth). Hierzu hat die Kommission einen Aktionsplan erstellt, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle innovative Technologien und die 145
KOM (2004), 301 endg.
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neue Art der Leistungserbringung im Gesundheitswesen bei der Verbesserung des Zugangs zur Versorgung sowie ihrer Qualität und Wirksamkeit spielen (sollen). In der Praxis bedeute dies, „den Menschen und den Regierungsverantwortlichen Chancen und Nutzen der Gesundheitstelematik“ näher zu bringen, kompatible Gesundheitsinformationssysteme zu realisieren, Online- und digitale Patientenakten, neue Dienstleistungen wie Telemedizin und elektronische Arzneimittelverordnung zu nutzen. Im Mittelpunkt der Kommissions-Initiative stand das Bemühen, zugunsten des europäischen Bürgers mehr Rechtssicherheit, Informationen, Patientenrechte und Transparenz zu schaffen, letzteres u. a. durch eine Modernisierung der Wanderarbeitnehmer-Verordnung Nr. 1408/71/EWG zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Ferner ging es um Synergieeffekte gemeinsamer Nutzung freier Kapazitäten und grenzübergreifender Gesundheitsversorgung einerseits und erste Vorüberlegungen zur Einrichtung europäischer Referenzzentren für bestimmte Krankheitsbilder andererseits. Im Rahmen des Aktionsprogramms „Öffentliche Gesundheit (2003 bis 2008)“ förderte die Kommission Initiativen, die die grenzüberschreitenden Gesundheitsprojekte evaluieren und auch untersuchen, welche Regionen am erfolgreichsten bei der transnationalen Gesundheitsversorgung zusammengearbeitet haben. Im Kontext der dreigliedrigen Initiative der Europäischen Kommission zur europäisch-grenzüberschreitenden Kooperation im Gesundheitswesen hat die Kommission auch eine Mitteilung vom 20. 04. 2004 zur „Modernisierung des Gesundheitsschutzes: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die offene Koordinierungsmethode“146 veröffentlicht. Im Allgemeinen Teil der Mitteilung wird problematisiert, daß sich mit den neuen Mitgliedstaaten die Unterschiede bei der Gesundheitsversorgung im Vergleich zur alten „EU-15“ verschärfen werden. Zu erwarten stehe, daß die Bürger der Union im wachsenden Umfang ihr Recht auf Mobilität nutzen werden, so daß die Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung mehr und mehr ins Gewicht fallen werden, die derzeit noch eher zu vernachlässigen sind. Der Kommissionsbeirat belegt den Zusammenhang von sozialer Schichtung und Morbidität in dem Sinne, daß die am stärksten benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft die meisten und größten Gesundheitsprobleme haben, und trifft die Aussage, daß der Sektor „Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege“ rund 10 % der Gesamtbeschäftigung in der früheren Union der 15 ausmache. Nach Aussage der Mitteilung ist ein Großteil der im Gesundheitswesen Beschäftigten 146
KOM (2004), 304; zur gesundheitspolitischen Zielsetzung der EU einer Modernisierung des Gesundheitsschutzes durch Entfaltung und Erhaltung einer hochwertigen, für jedermann zugänglichen und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung auf hohem medizinischem Niveau s. Erbrich, KrV 2004, 149; Danner, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Offene Methode der Koordinierung im Sozialrecht, 2005, S. 81 ff.
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(27 % in der EU-15) der Altersgruppe von 45 bis 54 Jahren zugehörig, so daß sich in den kommenden Jahren ein „demographischer Schock“ großen Ausmaßes im Sinne einer Verrentungs- und Pensionierungswelle ankündige. In Bezug auf das Ziel „Sicherung des Zugangs zu einer hochwertigen Versorgung“ schlägt die Kommission vor, daß die Mitgliedstaaten Folgendes vereinbaren: Ein hochwertiges und bedarfsgerechtes Versorgungsangebot für die gesamte EUBevölkerung, die Verringerung der regionalen Unausgewogenheit des Versorgungsangebots, die Entwicklung angemessener Strukturen, um Fristen für den Zugang zur Behandlung zu verkürzen, den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Krankenhausförderung im Einvernehmen mit den für die Strukturfonds zuständigen Stellen, d. h. die Prüfung von Förderungsmöglichkeiten durch Kohäsionsfonds und den Europäischen Sozialfonds. Im Hinblick auf die anzustrebende „Förderung der Versorgungsqualität“ wird die Sinnhaftigkeit einer angemessenen wissenschaftlichen Bewertung von Verfahren und Behandlungen, Kosten und Nutzen der Medikamente und Geräte herausgestellt, aber auch die Sicherung eines hohen Erstausbildungs- und Weiterbildungsniveaus, die Aufteilung der Finanz- und Humanressourcen auf Regionen, Dienste und Versorgungsarten – je nach tatsächlichem Bedarf – sowie die Vernetzung und Identifizierung von Referenzzentren gefordert. Beim Ziel „Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit“ sieht die Kommission keine universale Lösung. Vielmehr gehe es hier um einen systematischen Erfahrungsaustausch und die Koordinierung der verschiedenen „Strategien“, die von den Mitgliedstaaten bereits jetzt angewendet werden, z. B. Budgetierung, Entwicklung von Steuerungsinstrumenten, verstärkte Verantwortlichkeit der Ärzte für die Ressourcenverwaltung, Nachfragelenkung, Preispolitik etc., aber auch um die Entwicklung einer systematischen Prävention und Beratung bei Eintritt in die Versorgungskette, die Koordinierung zwischen den Leistungsträgern, einen besseren Wirkungsgrad des Systems, die Bewertung des effektiven gesundheitlichen Nutzens von Arzneimitteln sowie um Fragen der Dezentralisierung. Wünschenswert aus Sicht der Kommission wäre es, baldmöglichst Indikatoren für gemeinsame Ziele zu identifizieren und eine erste Vergleichstabelle zu den verschiedenen einzelstaatlichen Ausgangssituationen aufzustellen. Die Mitgliedstaaten sollen Länderberichte über die gegenwärtigen Herausforderungen, vor denen ihr System auf nationaler Ebene steht, sowie die laufenden Reformen und mittelfristigen politischen Orientierungen vorlegen. In ihrem Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit – ein strategischer Ansatz der EU für 2008 – 2013“147 skizziert die EU-Kommission einen ambitionierten strategischen Rahmen für die europäische Gesundheitspolitik148, wobei der Union als monetäres Instrument europaweiter Sozialgestaltung der Europäische Sozialfonds 147 148
KOM (2007), 260 endg. s. dazu unten 4. Kap. II. 1. b), III. 3. b).
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(Art. 146 ff. EGV, Art. 162 ff. AEUV) zur Förderung beruflicher Mobilität, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Verbesserung der Chancengleichheit zur Verfügung steht. Priorität räumt die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, die in einer „Europäischen Sozialagenda“ und gesundheitspolitischen Leitlinien niedergelegt ist, der Förderung des sozialen Zusammenhalts, einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum und der Arbeitsplatzsicherung sowie der Weiterentwicklung der Systeme sozialer Sicherung ein.149 Die auf Art. 168 AEUV (ex-Art. 152 EGV) basierenden Schwerpunkte der EUGesundheitspolitik, die sich u. a. in mehrjährigen mit erheblichem finanziellen Mitteleinsatz begleiteten Aktionsprogrammen im Bereich der öffentlichen Gesundheit niederschlagen, bilden der Aufbau von Überwachungs- und Krisenreaktionssystemen zur Bewältigung von akuten, insbesondere pandemischen, Gesundheitsgefahren, die Prävention und Gesundheitsförderung bezüglich Tabak- und Drogenkonsum, Ernährungsverhalten, Krebs- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Aufbau einer EU-weiten Gesundheitsberichterstattung sowie die Vernetzung mit anderen Politikbereichen wie Umweltpolitik (umweltpolitische Ziele und Instrumente zur Gesundheitsverbesserung), Sozialpolitik (insbesondere Sozialschutz, Arbeitsschutz, Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung und ihrer gesundheitsrelevanten Auswirkungen), Industriepolitik (Medizinprodukte-, Arzneimittelsicherheit), Binnenmarktpolitik (Förderung des freien Personenverkehrs insbesondere der Gesundheitsberufe und Patientenmobilität) sowie Forschungspolitik (Forschungsförderung im Gesundheitswesen, Qualitäts- und Public-Health-Forschung).150
c) Verbesserung der Kompatibilität von Bedarfs- und Versorgungsstrukturen Um den Umfang des Bedarfs an gesundheitlicher Versorgung bestimmen zu können, werden spezifische Indikatoren für den Gesundheitszustand der Bevölkerung herangezogen. Verfügbare internationale Daten über Indikatoren für den Gesundheitszustand betreffen häufig die Lebenserwartung und eine vorzeitige Mortalität.151 Die Lebenserwartung bei der Geburt liefert einen Hinweis auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Innerhalb der Europäischen Union variiert sie bei den Frauen um 4 Jahre und bei den Männern um 5,3 Jahre. In allen EU-Mitgliedstaaten 149 Zur Verknüpfung dieser Strategien mit der von der Kommission propagierten „Flexicurity“ als der erforderlichen und wachsenden Flexibilität auf dem europäischen Arbeitsmarkt bei maximal erreichbarer sozialer Sicherheit s. GVG (Hrsg.), Flexicurity – eine Herausforderung für die sozialen Sicherungssysteme, 2008. 150 Vgl. B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen im Umbruch, S. 39 ff., 41 f. 151 Zur Entwicklung sozialmedizinischer Indikatoren als Parametern gesundheitlicher Versorgung im internationalen Vergleich s. Wendt, Gesundheitswesen 2006, S. 68 ff.; Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, 43 ff.
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ist die Lebenserwartung bei der Geburt von Männern und Frauen unterschiedlich; sie ist aber in den letzten Jahrzehnten für beide Geschlechter wesentlich gestiegen. Die Säuglingssterblichkeit, die sich auf Todesfälle von Kindern unter einem Jahr je 1.000 Lebendgeborene bezieht, spiegelt größtenteils die sozioökonomischen Bedingungen wider. Alle Mitgliedstaaten konnten seit der systematischen Datenerfassung in den 60er Jahren einen Rückgang verzeichnen. Besonders deutlich wird das in den südeuropäischen Ländern. Im Vergleich zu den 60er Jahren gibt es jetzt bei der Säuglingssterblichkeit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten geringere Unterschiede. Die perinatale Sterblichkeitsrate (in den ersten sieben Lebenstagen Gestorbene je 1.000 Lebend- und Totgeborene) läßt genauere Rückschlüsse auf den Zustand der perinatalen und Mutterschaftsversorgung zu und wird somit als ein Parameter der Gesundheitsversorgung angesehen. Die perinatale Sterblichkeitsrate ist in den Mitgliedstaaten der EU sehr unterschiedlich; die Raten in Griechenland und Portugal sind fast doppelt so hoch wie in Finnland und Schweden. Eine hochwertige Gesundheitsversorgung wird als wichtigstes Ziel der europäischen Gesundheitspolitik angesehen. Da die Gesundheitsversorgung zu einem erheblichen Teil aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, ist aber angesichts dieses qualitativen Anspruchs ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, nämlich die Frage, wie sich das bestmögliche Verhältnis zwischen gesundheitlichem Nutzen und den Kosten von Produkten und Behandlungen erzielen läßt, ohne das Ziel der Förderung der Volksgesundheit zu gefährden. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß es im Verhältnis der Mitgliedstaaten große Unterschiede sowohl in der Aufstellung des Versorgungsangebots als auch der therapeutischen Praxis gibt, worauf die Kommission in ihrem Berichtsvorschlag „Gesundheitsversorgung und Altenpflege: Unterstützung nationaler Strategien zur Sicherung eines hohen Schutzniveaus“152 hinweist: Die medizinische Grundversorgung wird in den meisten EU-Mitgliedstaaten durch ein gemischtes System von freiberuflichen, in ihren privaten Praxen niedergelassenen Ärzten und angestellten Ärzten in öffentlichen Gesundheitszentren geleistet. Die Ausgestaltung der medizinischen Grundversorgung im EU-Gesundheitswesen ist unterschiedlich, was sich in der unterschiedlichen Anzahl der Allgemeinärzte im Verhältnis zu allen Ärzten widerspiegelt. Eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten hat den Versuch gestartet, die Anzahl der Fachärzte zu senken, die normalerweise mehr kostenintensive technische Versorgungsleistungen einsetzen, und die Rolle des Allgemeinarztes zu stärken. Der Anteil von Ärzten, Krankenschwestern, Apothekern und Zahnärzten variiert in den EU-Mitgliedstaaten in Relation zur Bevölkerungszahl deutlich: So kommen in Irland auf 10.000 Einwohner 20 Ärzte, in Belgien hingegen fast 40 Mediziner. Bei den Apothekern liegen die entsprechenden Werte bei 14 Apotheken auf 10.000 152
KOM (2002), 774 endg.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Einwohner in Finnland gegenüber nur 1,6 in den Niederlanden. In vielen Mitgliedstaaten der EU zeichnet sich ein erheblicher Ärztemangel ab, der zum Teil durch die demographische Entwicklung, aber auch durch bildungspolitische Fehlsteuerungen sowie ökonomische Defizite und strukturelle Fehlanreize in den Gesundheitssystemen bedingt ist. Die ambulante Versorgung wird in Deutschland und Italien dreimal so häufig in Anspruch genommen wie in Portugal, wenn man von der Anzahl der Haus- und Praxisbesuche eines Allgemeinarztes oder Facharztes ausgeht. Auch der Verbrauch von verordneten Arzneimitteln ist in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sehr unterschiedlich.153 Auch im stationären Bereich ist die Angebotsdichte und Leistungsinanspruchnahme strukturell sehr variant. So ist die Zahl der Krankenhausbetten je 1.000 Einwohner in Luxemburg, den Niederlanden, Finnland und Deutschland am höchsten und in Spanien und Portugal am niedrigsten, wobei die Bettenkapazität in den letzten Jahren in allen Ländern zurückgegangen ist. Die durchschnittliche Verweildauer bei der Akutversorgung ist in Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg besonders hoch, sank jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten in nahezu allen Mitgliedstaaten. Trotz einer allgemeinen Reduzierung der Bettenkapazität und der durchschnittlichen Verweildauer in der stationären Akutversorgung sind die Aufnahmeraten und Ausgaben im gleichen Zeitraum allgemein gestiegen.154 Unterschiede bestehen auch in der therapeutischen Praxis, wofür Beispiel die Entbindungen sind: Die perinatale Mortalität ist in Frankreich und den Niederlanden etwa gleich hoch (8,2 % bzw. 8,4 % im Jahr 1996), obwohl in Frankreich Krankenhausgeburten die Regel sind, während in den Niederlanden der Anteil der Hausgeburten bei knapp einem Drittel liegt. Erhebliche Unterschiede bestehen zudem trotz allgemein ansteigender Überlebensraten bei lebensbedrohlichen Erkrankungen zwischen den krankheitsspezifischen Überlebensraten in den einzelnen Ländern Europas, wobei z. B. die Fünfjahresüberlebensrate bei Blasenkrebs von 78 % in Österreich bis 47 % in Polen und England variieren.155 d) Gesundheitspolitische Problemstellungen durch die EU-Erweiterung Die Erweiterung der EU durch die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, insbesondere der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer, stellt die EU vor große gesundheits- und sozialpolitische Herausforderungen, die sich zum einen aus dem erheblichen ökonomischen und sozialen Niveauunterschied im Vergleich zu den bisherigen Mitgliedstaaten der Union, zum anderen aus der zentralistisch-planwirt153 154 155
Vgl. Europäisches Parlament, Das Gesundheitswesen in der EU, S. 28. s. Europäisches Parlament, Das Gesundheitswesen in der EU, S. 30. Vgl. Mitteilung der Kommission v. 20. 4. 2004 (KOM (2004), 301 endg.).
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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schaftlichen Tradition staatlicher Versorgungssysteme ergeben. Sowohl unter dem sozialökonomischen Aspekt (disparate Einkommensverteilung, Haushaltsdefizite) als auch im Hinblick auf sozialmedizinische Indikatoren (Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Prävalenz von Risikofaktoren, Inzidenz chronischer Erkrankungen) und Versorgungsstrukturen (chronische Unterfinanzierung des Gesundheitswesens, infrastrukturelle Defizite, „Schattenwirtschaft“) war die Ausgangslage des Transformationsprozesses in den Beitrittsländern schwierig.156 Inzwischen sind in den neuen EU-Staaten Fortschritte bei der Einführung dezentraler und weniger hierarchischer Strukturen erzielt worden, wobei das Ziel nahezu aller Reformstaaten darin besteht, ein beitragsfinanziertes Sozialversicherungs- und Versorgungssystem nach dem Bismarck-Modell zu etablieren. Leistungserbringerstrukturen wurden häufig in private Trägerschaft überführt, die selbständige Niederlassung von frei praktizierenden Ärzten und Zahnärzten sowie Apothekern wurde ermöglicht und unabhängige Heilberufsorganisationen gegründet, die Verhandlungen mit den Kostenträgern führen. Gleichwohl ist in vielen Beitrittsstaaten der staatliche Einfluß auf die Finanzierung und Verwaltung der Krankenversicherungsträger erheblich geblieben.157 Der Adaptionsprozeß an die gesundheits- und sozialpolitischen EU-Standards, der in den einzelnen Beitrittsstaaten unterschiedlich weit vorangeschritten ist, hat nicht nur signifikante Auswirkungen auf den Umbau der Gesundheits- und Sozialsysteme in den neuen EU-Mitgliedstaaten, sondern auch auf die transnationale medizinische Leistungsnachfrage und -erbringung. Die prognostischen Erwartungen bezüglich der Migration von Leistungserbringern und -nachfragern im Gesundheitswesen gehen von größerer Mobilität der Patienten in beide Richtungen und von Leistungserbringern in Richtung der bisherigen EU-Staaten aus, wobei im Fall der Abwanderung von hoch qualifizierten Angehörigen der Heilberufe erhebliche Versorgungslücken und bei quantitativ relevanten Patientenmigrationen Überstrapazierungen der Finanzierungsgrundlagen der Gesundheitssysteme in den Beitrittsländern befürchtet werden. Auch wenn im Hinblick auf Sprachbarrieren, Mobilitätsschranken oder Nachsorge- und Gewährleistungsproblematiken keine massiven Patientenabwanderungen zu erwarten sind, entstehen insbesondere in den grenznahen Gebieten transregionale Formen der Zusammenarbeit zwischen deutschen Krankenversicherungsträgern und Heilberufsorganisationen mit den neuen EUStaaten, die der wechselseitigen Betreuung von Versicherten und Leistungserbringern, der Koordination der Leistungsnachfrage und Abrechnungsmodalitäten sowie 156 s. dazu Sodan, in: Walter-Raymond-Stiftung (Hrsg.), Die Osterweiterung der EU und ihre Folgen für Deutschland, 2001, S. 127 ff.; Pellny, BKK 08/2003, 426 ff.; Knieps, Gesundheit und Gesellschaft 4/2004, S. 24 ff.; GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten der EU, 2004; GVG (Hrsg.), Ost-Erweiterung der Europäischen Union, 2001; Der Gelbe Dienst 16/2001, Die Osterweiterung der Europäischen Union und ihre Auswirkungen auf die deutsche Gesundheitspolitik; Danner, in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, S. 28 ff. 157 s. Pellny, BKK 08/2003, 426 ff.; Knieps, S. 24 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
der länderübergreifenden Regionalplanung der Versorgungsstrukturen dienen. Auch grenzüberschreitende Verträge von Finanzierungsträgern mit Gesundheitseinrichtungen sind eingeleitet, während die Berufsorganisationen der Heilberufe ihre bereits unmittelbar nach dem Systemwechsel begonnene Kooperation beim Aufbau von Selbstverwaltungs- und Versorgungsstrukturen bezüglich Fort- und Weiterbildung, Notdienstorganisation oder Tarifgestaltungen verstetigt und intensiviert haben.158 Die EU-Kommission unterstützt die transregionale sowie bi-, zum Teil auch trioder multilaterale Zusammenarbeit von benachbarten bisherigen und neuen Mitgliedstaaten, die sich an den bereits bestehenden Euregio-Modellen orientiert, und sieht als medizinische Schwerpunkte die gemeinsame Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, des Drogen- und Tabakkonsums sowie die Entwicklung von Präventionsprogrammen und avisiert als versorgungspolitische Reformoptionen die Verbesserung der Infrastruktur der Gesundheitssysteme durch moderne Planungs- und Managementstrukturen, die Ausschöpfung von Synergieeffekten bei der Nutzung medizinischer Geräte und des Einsatzes von Informationssystemen und –technologien.159 Ein zentrales Anliegen des Transformationsprozesses in den neuen EUStaaten ist die Entwicklung einer Bürgergesellschaft, die maßgeblich auf Eigeninitiative und nichtstaatliche Organisationen gegründet ist, um in Fragen der Krankheitsvorsorge, Gesundheitsförderung einschließlich der mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbundenen gesundheitlichen Aspekte Unterstützung zu leisten. Dies setzt die weitere Ablösung von staatsbürokratischen Strukturen und Verhaltensmustern sowie günstigere Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Initiativen und bürgerschaftliches Engagement voraus. Die EU fördert das Entstehen einer eigenverantwortlichen Bürgergesellschaft durch Austausch zwischen den im Gesundheitswesen tätigen nichtstaatlichen Organisationen, frei-gemeinnützigen Trägern und Heilberufskammern. Der Transformationsprozeß eröffnet auch für die Bundesrepublik nicht nur gesamtpolitische und ökonomische Vorteile, sondern auch strukturpolitische Optionen im EU-Kontext, weil die meisten Beitrittsländer von einem staatlichen Versorgungssystem auf ein Sozialversicherungssystem übergegangen sind und sich damit dem deutschen Strukturmuster eines gegliederten, beitragsfinanzierten und selbstverwalteten Gesundheits- und Sozialsystems zumindest angenähert haben.
158
B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 329 ff. Vgl. die Übersicht bei GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten der EU, S. 17 ff., 83 ff.; vgl. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments v. 9. 6. 2005 zu der Patientenmobilität und den Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union (BR-Drucks. 582/05). Zu den Auswirkungen der EUErweiterung auf die Migration von Patienten und Heilberufsangehörigen s. unten 4. Kap. III. 3. 159
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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4. Erleichterung des Versorgungszugangs und Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit als Gemeinschaftsaufgabe nationaler und europäischer Gesundheitspolitik a) Schichten- und gruppenspezifische Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung In ihrer im März 2010 vorgelegten Dokumentation „Strategie Europa 2020“160 definiert die EU-Kommission die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung und den verbesserten Zugang zur Gesundheitsversorgung als ein Schwerpunktziel, nachdem sie schon in ihrer Sozialagenda vom Februar 2008 auf schichtenspezifische Benachteiligungen im Morbiditäts- und Mortalitätspanorama der EU hingewiesen hatte.161 Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen von sozialer Ausgrenzung und gesundheitlicher Ungleichheit sind vielfältig: Neben ethnisch-kulturellen, genderspezifischen, alters- oder behinderungsbedingten Handicaps sind vor allem Armut und sozialer Status europaweit die zentrale Herausforderung für die Bewältigung von Versorgungsdefiziten. Armut kann nicht nur materielle Defizite und soziale Ausgrenzung bewirken, sondern hat auch Auswirkungen auf die gesundheitliche Lage, was sich selbst in einem relativ wohlhabenden Land mit einem gut ausgebauten sozialen Sicherungssystem wie Deutschland belegen läßt. Menschen mit niedrigem Einkommen, Bildungsniveau und Berufsstatus sind nicht nur häufiger von Krankheiten und gesundheitlichen Risiken und Beschwerden betroffen, sondern haben auch eine weitaus geringere Lebenserwartung.162 Dieser sowohl für Deutschland wie für die EU-Mitgliedstaaten zutreffende Befund ist für Gesellschafts- und Verfassungsordnungen, die auf dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs aufbauen, eine große Herausforderung. In Europa ist zunehmend eine Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse und eine damit einhergehende Spaltung der Gesellschaft zu konstatieren. Allein im Zeitraum von 1998 bis 2003 hat der Anteil der Menschen, die in Armut leben oder durch Armut bedroht sind, von 12,1 % auf 13,5 % zugenommen. Nach dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 und einer OECD-Studie 160 „Europa 2020“ – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, KOM (2010), 2020 endg. In diesem Strategiepapier betont die Kommission, daß Dienstleistungen als dominierender Faktor der europäischen Wirtschaft einzustufen sind. Sie hebt die Bedeutung eines offenen Dienstleistungs-Binnenmarktes und die Förderung neuer Dienstleistungen u. a. im Gesundheitsbereich hervor, wobei sie die Qualitätssicherung der Dienstleistungen für den Verbraucher in den Vordergrund stellt. s. auch Der Freie Beruf 4/ 2010,14. 161 KOM (2008), 412 endg. 162 s. hierzu die Untersuchungen von Baethge, Deutsches Ärzteblatt 2007, 104, A 2905; Mielck/Bloomfield (Hrsg.), Sozialepidemiologie, 2001; Lampert/Mielck, GGW 2/2008, 7 ff.; Richter/Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit – Grundlagen, Probleme, Konzepte, 2006; Mielck/Jansen, Public Health Forum 16/59, 2008, S. 4 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
driften Arm und Reich nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Mitgliedstaaten der EU immer weiter auseinander, weil die vermögensstärksten 10 % der Haushalte über 47 % des Gesamtvermögens verfügen, während auf die unteren 50 % der Haushalte weniger als 4 % des Vermögens entfallen.163 In erster Linie betroffen von dieser Entwicklung sind Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende sowie vor allem Migranten, die zu über 44 % über keinen Schulabschluß verfügen. Besonders gravierend ist die Armutsquote bei Kindern, die zwischen 1995 und 2005 von 11 auf 16 % gestiegen ist. Auch hier zeigt sich eine starke Armutskonzentration bei Kindern in alleinerziehenden Haushalten und Familien mit Migrationshintergrund. Die strukturelle Armut in manchen Ballungszentren Europas hat nicht nur zu einer „Infantilisierung der Armut“164, sondern fast zu etwas wie einer „Kultur der Armut“ geführt, die von den Betroffenen als etwas Schicksalhaft-Unentrinnbares wahrgenommen wird und staatliche Transferleistungen über Generationen hinweg als Normalität empfindet. Hier droht das Armutsrisiko zum vererblichen Stigma eines prekären Sozialstatus zu werden. Die EU-Mitteilung vom 3. 3. 2010 „Europa 2020“165 geht von 80 Mio. Menschen aus, die unter den nationalen Armutsgrenzen leben, davon 19 Mio. Kinder. Wenn in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern von Armut und sozialer Ungleichheit die Rede ist, werden damit zumeist keine existentiellen Notlagen beschrieben, sondern eine relative soziale Benachteiligung, gemessen am mittleren gesellschaftlichen Lebensstandard und Wohlstandsniveau. Von einem Armutsrisiko wird gemäß der gängigen auf EU-Ebene gefundenen Definition ausgegangen, wenn das verfügbare Einkommen weniger als 60 % des Mittelwertes beträgt, bezogen auf den Staat, in dem die betreffende Person lebt. Als Berechnungsgrundlage dient dabei das nach der Anzahl der Haushaltsmitglieder und deren eingeschätztem Bedarf gewichtete Haushaltsnettoeinkommen.166 Diese relative Armut bedeutet dabei mehr als materielle Nachteile. Es geht ebenso um verminderte Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ausgrenzungserfahrungen, Perspektivlosigkeit und ein vermindertes Selbstwertgefühl beschreiben die Lebenssituation der von Armut betroffenen Gruppen häufig zutreffender als materielle Benachteiligungen.167 163 s. hierzu aktuell die Beiträge von Dörre, Burzan, Vogel, Bescherer/Röbenack/Schierhorn, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33 – 34/2008. 164 Vgl. Butterwegge/Klundt/Zeng, Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2008. 165 KOM (2010), 2020 endg. 166 s. hierzu den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 sowie die vom BMAS herausgegebenen Sozialpolitischen Informationen 3/2008, S. 2 f. Der am 60 %Durchschnitt des Median-Einkommens orientierte Einkommensbegriff ist im internationalen Vergleich allerdings nicht immer aussagekräftig, weil ein relativ niedriges Einkommen in einem wohlhabenden Mitgliedstaat in einem ökonomisch schwachen Land noch als erträglich gelten kann. 167 Lampert/Mielck, S. 8. Zur Armut und Armutsbekämpfung im Vergleich der europäischen Sozialstaaten s. Hanesch, in: Krause/Krockauer/Reiners (Hrsgl.), Soziales und gerechtes Europa, 2001, S. 131 ff.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Eine erhebliche und lange verdrängte gesellschaftliche Herausforderung stellt dabei gerade für die europäischen Sozialstaaten der durch zahlreiche internationale Studien belegte Zusammenhang zwischen einer sozial benachteiligten Lebenslage und der Gesundheit dar.168 Die europaweit zunehmend brüchiger werdenden Grundlagen der solidarischen Sicherungssysteme sowie Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungen haben dazu geführt, daß trotz Härtefallregelungen auf einkommensschwächere Gruppen zusätzliche finanzielle Belastungen zukommen. Die Frage nach der Benachteiligung Armer durch die europäischen Gesundheitssysteme muß also sowohl die Frage gesundheitlicher Chancengleichheit im Hinblick auf vorhandene empirische Erkenntnisse als auch die Problematik der Armutsfestigkeit der Systeme sozialer Gesundheitsversorgung unter dem Aspekt in den Blick nehmen, ob es unabhängig von den finanziellen Ressourcen der Betroffenen angemessene Leistungen zur Verfügung stellt.169 Dabei ist der verfassungs- und unionsrechtliche Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Sozialstaatsprinzip, den das Bundesverfassungsgericht immer wieder im Hinblick auf den verfassungsgebotenen Standard des soziokulturellen Existenzminimums hervorgehoben hat170, ebenso zu beachten wie das in Art. 35 der Charta der Grundrechte der EU verankerte „Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung“171. Gesundheitliche Chancenungleichheit ist demgemäß nicht nur als individuelles Schicksal zu begreifen, sondern auch ein gesamtgesellschaftliches, verfassungspolitisches und verfassungsrechtliches Problem. Da der Sozialstaat der „Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit“ dient und dazu beitragen soll, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, kann er dem Phänomen gesundheitlicher Ungleichheit nicht gleichgültig gegenüberstehen. Soziale Ungleichheitsforschung zu Gesundheit, Krankheit und Tod orientiert sich an der Dimension der vertikalen sozialen Schichtung, insbesondere bezüglich Bildung, beruflicher Stellung und Einkommen, sowie unter dem Aspekt der horizontalen sozialen Differenzierung vor allem an Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit. Welche Bedeutung den jeweiligen Gradienten im sozialen Schichtungsgefüge zukommt und welchen Kausalitäten die Wirkungspfade sozialer Einflußgrößen auf Morbidität und Mortalität unterliegen, ist nicht in jeder Beziehung geklärt.172 168 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, Gutachten 2007. 169 s. dazu Ebsen, in: Armutsfestigkeit Sozialer Sicherung, 2007, S. 133 ff. 170 Vgl. z. B. BVerfGE 40, 121, 133, wonach „die Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaats“ gehört und „jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und darüber hinaus bemüht sein muß, sie soweit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern“. 171 s. dazu Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 34, Rnrn. 8, 10, 52, 64 ff. 172 s. dazu Lampert/Mielck, GGW 2/2008, 7 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Der Realbefund sozialmedizinischer Studien zeigt jedenfalls in weitestgehender Übereinstimmung, daß eine sozial benachteiligte Lebenslage mit geringeren Gesundheitschancen verbunden ist.173 Dies betrifft besonders das Auftreten chronischer Krankheiten und Beschwerden, bei denen statusspezifische Unterschiede bei Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus, chronischer Bronchitis und Magengeschwüren festzustellen sind. Die stärkere gesundheitliche Beeinträchtigung von Personen mit niedrigem Sozialstatus ist zudem signifikant häufiger mit Multimorbidität assoziiert. Auch in der psychischen Gesundheit kommt der Einfluß sozialer Ungleichheit zum Ausdruck. Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß sich der Sozialstatus auf affektive, somatoforme, Angst- und Substanzstörungen bezieht. Auch verhaltensbezogene Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel, die teilweise auf einen gesundheitsriskanteren Lebensstil zurückzuführen sind, sind in niedrigen Statusgruppen häufiger anzutreffen. Untere Sozialschichten sind auch überproportional an der Erkrankungshäufigkeit von Zahnkaries und Parodontitis beteiligt. Das Gleiche gilt für Zahnverlust, der gerade in der politischen Diskussion in Deutschland als optisch wahrnehmbares, mit dem Sozialstatus assoziiertes und sozial diskriminierendes gesundheitliches Defizit thematisiert wurde.174 Das häufigere Auftreten von Krankheiten und Risikofaktoren korrespondiert mit einer höheren Mortalität.175 Demnach unterliegen Männer und Frauen, deren Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze liegt, einem im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe um das 2,7- bzw. 2,4-fach erhöhten Mortalitätsrisiko. Diese Unterschiede spiegeln sich auch in der Lebenserwartung wider. Die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe beträgt 70,1 Jahre, die von Männern der höchsten Einkommensgruppe 80,9 Jahre. Diese deutschen Ergebnisse zur gesundheitlichen Ungleichheit entsprechen weitgehend denen anderer europäischer Länder, die deutliche ausgeprägte soziale Unterschiede im Vorkommen von Schlaganfall, Hypertonie, Diabetes, Arthritis, Osteoarthrose sowie Erkrankungen des Nervensystems, der Atemwege und Verdauungsorgane konstatieren. Lediglich bei Nieren- und Hauterkrankungen zeigen sich keine Unterschiede, während bei Krebserkrankungen die Ergebnisse uneinheitlich sind. Im übrigen liefern die internationalen wissenschaftlichen Studien keinen Beleg für eine generelle gesundheitliche Verelendung unterer Sozialschichten in entwickelten Industrieländern, sondern zeigen, daß auch diese von der pro Dekade im 173 Vgl. den Überblick über die empirischen Befunde nationaler und internationaler Studien bei Lampert/Mielck, S. 7 ff.; Marstedt/Amhof, Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung 3/2008, S. 1 ff. 174 Zur sozialen Ungleichheit und Mundgesundheit s. Micheelis, in: Mielck/Bloomfield, Sozialepidemiologie, 2001, S. 128 ff.; ders., Prävention und Gesundheitsförderung 2/2009, 113 ff.; Ziller, in: Gesundheit Berlin (Hrsg.), Dokumentation 13 des bundesweiten Kongresses „Armut und Gesundheit“, Berlin 2007; ders., in: Wesenauer/Sebinger (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Gesundheit, 2009. 175 Lampert/Mielck, S. 10 f.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Gesamtdurchschnitt um etwa mehr als ein Jahr wachsenden Lebenserwartung profitieren. Auch gesundheitliche Verbesserungen kommen unteren Sozialschichten teilweise zugute.176 Diese Lebenszeit- und Gesundheitsgewinne sind aber ungleich verteilt, und die sozial bedingte Ungleichheit nimmt in den meisten europäischen Ländern sogar weiterhin zu. Die Ursachen für die ungleiche Verteilung des Krankheits- und Sterbegeschehens sind in einer Vielzahl materieller, psychosozialer und verhaltensbedingter Faktoren zu sehen.177 Besondere Bedeutung wird dabei dem Grad der sozialen Integration, den Arbeitsbedingungen, den Wohnverhältnissen, der gesundheitlichen Versorgung und dem gesundheitsrelevanten Verhalten beigemessen. Insbesondere der Verlust des Arbeitsplatzes führt oftmals zu einem Rückzug aus sozialen Bezügen und einer Verminderung des Selbstwertgefühls. Entsprechend werden vor allem bei Langzeitarbeitslosen vermehrt gesundheitliche Probleme, insbesondere psycho-somatische Störungen sowie eine gesundheitsriskante Lebensführung festgestellt.178 Innerhalb der Gruppe der Beschäftigten sind vornehmlich die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen. Personen mit geringerer Qualifikation sind an ihren Arbeitsplätzen häufig stärkeren gesundheitlichen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt. Dies gilt beispielsweise für körperlich schwere Arbeit, Nacht-, Schicht- oder Akkordarbeit, Schadstoffexpositionen sowie Lärmeinwirkungen. Auch psychosoziale Belastungen, etwa infolge monotoner Arbeitsabläufe, mangelnder sozialer Anerkennung, hoher oder konfliktbelasteter Arbeitsanforderungen oder Arbeitsplatzunsicherheit sind in statusniedrigen Berufsgruppen besonders stark verbreitet.179 Darüber hinaus wirken sich nachteilige Wohnbedingungen der unteren Statusgruppen negativ auf den Gesundheitszustand aus. Dies gilt sowohl für die Qualität des Wohnraums als auch für die Beschaffenheit des Wohnumfelds. Im übrigen ist gerade dem individuellen Gesundheitsverhalten im Hinblick auf die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten große Bedeutung beizumessen. Neben gesundheitsriskanten Verhaltensgewohnheiten wie Rauchen, übermäßigem Alkoholkonsum, Bewegungsmangel oder fehlender Mundhygiene ist insbesondere bei Personen mit geringem Einkommen und niedriger Bildung ein ungesundes Ernährungsverhalten festzustellen, das zu Übergewicht, Adipositas oder Hypertonie führt. Soziale Unterschiede lassen sich z. B. auch für die Inanspruchnahme von 176
Ziller, S. 4 weist z. B. anhand der IV. Deutschen Mundgesundheits-Studie (2006) darauf hin, daß in den letzten 15 Jahren aufgrund zahnärztlicher präventiver Maßnahmen der Anteil naturgesunder Zähne innerhalb der unteren sozialen Schichten zuzuordnenden Zwölfjährigen durchaus zugenommen hat, allerdings nicht so stark wie innerhalb der oberen Sozialschicht. 177 Zu den multifaktoriellen Ursachen der gesundheitlichen Chancenungleichheit s. Mielck/ Bloomfield; Mielck/Janssen, Public Health Forum 16/59 (2008), S. 4 ff. m.w.N.; Hofreuter/von den Knesebeck, in: Wesenauer/Sebinger (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Gesundheit, S. 25 ff. 178 s. zu den psycho-sozialen Folgen von Erwerbslosigkeit und gesundheitsrelevanten Interventionsmöglichkeiten Mohr/Richter, Aus Politik und Zeitgeschichte 40 – 41/2008, S. 25 ff. 179 Vgl. Promberger, Aus Politik und Zeitgeschichte 40 – 41/2008, S. 7 ff.; Aus Politik und Zeitgeschichte 40 – 41/2008, S. 22 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Präventionsangeboten beobachten. Dies ist für die Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, Zahnprophylaxe oder Krankheitsfrüherkennungsprogrammen für Kinder belegt.180 So bedeutsam das individuelle Gesundheitsverhalten als Ausfluß der auch in § 1 SGB V postulierten Eigenverantwortung ist, muß jede Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit, die am Gesundheitsverhalten ansetzt, jedoch beachten, daß dieses auch von den Lebensumständen der Menschen, ihrer Bildung und ihrem sozialen Umfeld sowie den dadurch geprägten Einstellungen, Wahrnehmungen und Bewertungen abhängt.181 Als Möglichkeiten einer Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit werden daher in Deutschland und der Europäischen Union insbesondere zwei Handlungsansätze diskutiert: Zum einen die Ursachenbekämpfung gesundheitlicher Defizite durch Verbesserung der Lebensverhältnisse und Verhinderung sozialer Ausgrenzung vor allem durch Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik, zum anderen die gezielte Förderung der Gesundheit sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen.182 Der präventive Ansatz kommt z. B. in der durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 in das SGB V eingefügten Regelung des § 20 zum Ausdruck, die den Krankenkassen das Ziel aufgibt, durch Leistungen zur Primärprävention „insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozialbedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen zu erbringen“. In Erfüllung dieser Zielvorgaben sind zahlreiche unterschiedliche Aktivitäten entstanden, wie Maßnahmen der Schulgesundheitsförderung oder Gesundheitsförderung für Arbeitslose bis hin zu quartiersbezogenen Kooperationen der Gesundheitsförderung in sozialen Brennpunkten.183 Das Scheitern des 2005 vom Bundestag verabschiedeten, aber vom Bundesrat abgelehnten, Präventionsgesetzes, durch das Länder und Kommunen ebenso wie die Krankenkassen in ein Gesamtkonzept zur Verbesserung unter anderem auch der ungünstigeren gesundheitlichen Lage sozial schwacher Personen einbezogen werden sollten, zeigt, daß bezüglich dieses präventiven Ansatzes nach wie vor Defizite in Deutschland bestehen. Ein weiterer defizitärer Versorgungssektor betrifft alte Menschen und Menschen mit Behinderungen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2007) gibt es ca. 6,6 Millionen amtlich anerkannte schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB XI in Deutschland, von denen 4,86 Millionen körperlich und ca. 1 Million geistig bzw. seelisch behindert sind. Bei 80 % der Betroffenen ist eine Krankheit die Ursache der Behinderung. Mehr als 2 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig, über 1 Million leiden an Demenz. Die künftig zunehmende Versorgungslast geriatrischer und pflegedürftiger Personen stellt das 180
s. dazu Kilian/Brandes/Köster, GGW 2008, 17 ff. Kilian/Brandes/Köster, GGW 2008, 4. 182 Lampert/Mielck, S. 14; zu den Handlungsstrategien der EU s. die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie „Qualitiy in and Equality of Access to Health Care Services“, 2008; zur Entwicklung in anderen EU-Staaten vgl. Mappes/Niediek/Schlette/Blum, Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung 3/2008, S. 8 ff. 183 s. dazu Wagemann, BKK 2003, 251 ff. 181
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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gesamte soziale Sicherungssystem, besonders aber die Kranken- und Pflegeversicherung vor große Herausforderungen,184 die nicht nur die Finanzierung, sondern auch die Sicherstellung einer flächendeckenden qualitativ hochwertigen kontinuierlichen Behandlung und Betreuung betreffen. Einerseits werden Menschen mit Behinderungen – seien diese genetisch bedingt, angeboren oder frühkindlich erworben – aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung immer älter, gleichzeitig nehmen die Auswirkungen von Behinderung und Pflegebedürftigkeit im Alter deutlich zu,185 wobei die Mobilitäts- und Selbststeuerungseinschränkungen die Versorgung erheblich erschweren können und in der Versorgungsrealität in manchen medizinischen Behandlungssektoren sowohl bei körperlicher als auch geistiger Behinderung infolge der motorischen und/oder kognitiven Handicaps zu großen Defiziten führen.186 b) Medizinische Bedarfsdeckung durch die sozialen Hilfesysteme Ein wichtiger Indikator für den sozialstaatlichen Umgang mit gesundheitlicher Ungleichheit ist die Lage Bedürftiger im Leistungssystem der jeweiligen Krankenversicherungen. Im Sozialrecht wird der Begriff der Einkommensarmut, sozialer Exklusion, Prekarität oder welche Umschreibungen dieser sozialen Situation auch immer verwendet werden, mit dem Begriff der Bedürftigkeit im Sinne der jeweils einschlägigen Grundsicherungssysteme zum Lebensunterhalt assoziiert, d. h. in Deutschland als Erfüllung der einkommens- und vermögensmäßigen Voraussetzungen für die Lebensunterhaltsleistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII, also Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung verstanden. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V und § 264 Abs. 2 SGB V i.V.m. § 52 SGB XII haben in diesem Sinn Bedürftige bis auf wenige Ausnahmen entweder als gesetzlich Krankenversicherte oder als Personen, die faktisch gesetzlich Krankenversicherten gleichgestellt sind, in vollem Umfang teil am Leistungssystem der GKV. Seit dem 1. 4. 2007 kommt ergänzend die GKVVersicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V i. d. F. des GKV-WSG hinzu. Diese Regelungen, welche einen Teil der Bedürftigen dem Basistarif der PKV zuordnen, sind zum 1. 1. 2009 in Kraft getreten. Insofern kann pauschal festgestellt werden, daß Bedürftige generell Ansprüche auf Krankenbehandlung nach dem Standard des § 2 SGB V haben, soweit nicht in einzelnen Fällen nach spezielleren Bestimmungen des 184
s. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Sondergutachten) „Generationenspezifische Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“, 2009. 185 Dies zeigt z. B. die exponentielle Zunahme demenzieller Erkrankungen im höheren Lebensalter. s. dazu Mayer/Baltes, Die Berliner Altersstudie, 1996. 186 Zu spezifischen Problemen und Versorgungslücken der zahnmedizinischen Versorgung von betagten, multimorbiden und pflegebedürftigen Menschen sowie Menschen mit Behinderungen s. KZBV/BZÄK (Hrsg.), Mundgesund trotz Handicap in hohem Alter – Konzept zur vertragszahnärztlichen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen, 2010.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
dritten Kapitels des SGB V Leistungen ausgeschlossen sind. Ihnen stehen also im Prinzip Leistungen zu, welche dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen, sofern das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V erfüllt ist. Dieser Standard der Versorgung ist für Bedürftige im Hinblick auf § 264 Abs. 2 SGB V beitragsfrei.187 Ein Problem sozialer Benachteiligung Bedürftiger kann sich also erst dann ergeben, soweit der Gesetzgeber Leistungen aus der Leistungspflicht der GKV im Hinblick auf die in § 2 Abs. 1 SGB V apostrophierte Eigenverantwortung des Versicherten ausschließt und in die Eigenfinanzierung verweist. Dies stellt Bedürftige letztlich vor die Wahl zwischen Verzicht oder die Verwendung von Mitteln, die dann für andere Bedarfsdeckung fehlen. Solche Einschränkungen manifestieren sich in einer zunehmenden Anzahl von Zuzahlungs- und Festzuschußregelungen, die sich nach § 264 Abs. 4 SGB Vausdrücklich auch auf die Leistungsempfänger nach § 264 Abs. 2 SGB V erstrecken. Diese betreffen unter anderem die Differenzbeträge bei Zuschußleistungen und Zuzahlungspflichten, die der Hilfebedürftige aus dem Regelsatz bestreiten muß. Auch größere Beträge, wie etwa die nicht vom Festzuschuß gedeckten Kosten für Zahnersatz, sind rechtzeitig aus den Regelsatzleistungen anzusparen (§ 2 Abs. 2 RegelsatzVO, Abt. 06 „Gesundheitspflege“). Zuzahlungspflichten (zumeist in Höhe zwischen 5,– und 10,– E, § 61 SGB V) bestehen insbesondere (und zwar nach § 52 SGB XII ebenso wie nach § 264 Abs. 4 SGB V)188 bei Arznei- und Verbandmitteln (§ 31 Abs. 3 SGB V), Hilfsmitteln (§ 33 Abs. 2 SGB V) Fahrtkosten (§§ 60, 61 SGB V), vollstationären Krankenhausleistungen und Anschlußheilbehandlungen (§ 39 Abs. 4 SGB V), Sanatoriumsbehandlungen und Heilkuren (§ 40 Abs. 6 SGB V), häuslicher Krankenpflege (§§ 37 Abs. 5, 61 Satz 3 SGB V) sowie für jede erste Inanspruchnahme je Kalendervierteljahr von ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Leistungen (Praxisgebühr, § 28 Abs. 4 SGB V). Allerdings gilt für alle Zuzahlungen § 62 SGB V, der Belastungsgrenzen festlegt, ab welchen Zuzahlungen nicht mehr zu leisten sind. Die Belastungsgrenze beträgt 2 v.H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, 1 v.H. Für Bedürftige gilt als zu berücksichtigendes Einkommen der jeweilige Regelsatz für den Haushaltsvorstand. Bei Leistungsausschlüssen ist zu unterscheiden zwischen Leistungsbegrenzungen, welche Konkretisierungen des Wirtschaftlichkeitsprinzips sind, wie z. B. der Leistungsausschluß von unwirtschaftlichen Arzneimitteln oder von Heil- und Hilfsmitteln mit geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen, und Lei187 Zur Lage Bedürftiger im Leistungssystem der GKV s. den Überblick bei Ebsen, Armut und Gesundheit, S. 139 ff.; zu ähnlichen Problemkonstellationen in der Pflegeversicherung vgl. Blinkert/Klie, Aus Politik und Zeitgeschichte 12 – 13/2008, S. 25 ff.; Igl, in: Armutsfestigkeit Sozialer Sicherung, 2007, S. 47 ff.; Wesenauer/Sebinger, in: dies. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und Gesundheit, S. 41 ff. 188 s. den Überblick über Zuzahlungen in der GKV und deren Auswirkungen für Hilfsbedürftige bei Luthe/Dittmar, Fürsorgerecht, 2007, S. 163 ff.
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stungsausschlüssen, die als offene Rationierung von GKV-Leistungen anzusehen sind. Als Abgrenzungskriterium zwischen Rationierung und dem Ausschluß unwirtschaftlicher Leistungen lassen sich Definitionen von Rationierung durch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und den Nationalen Ethikrat heranziehen: Hiernach ist Rationierung gegeben, wenn aus medizinischer Sicht notwendige oder zweckmäßige medizinische Maßnahmen aus finanziellen Gründen offen oder verborgen vorenthalten werden.189 Solche offenen oder expliziten Rationierungen bestehen im SGB V z. B. in der Streichung des Sterbegeldes, im Ausschluß kieferorthopädischer Leistungen für Erwachsene (§ 28 Abs. 2 SGB V), Ausschluß bei Sehhilfen für Erwachsene (§ 33 Abs. 1 SGB V) oder dem grundsätzlichen Ausschluß nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel (§ 34 Abs. 1 SGB V). Diese Leistungsausschlüsse bewirken, daß Bedürftige, wenn sie kein ausreichendes Schonvermögen ansparen konnten oder ihnen nicht auf andere Weise die Leistungen oder die Ressourcen zu deren Beschaffung zur Verfügung gestellt werden, ggf. auf Gesundheitsleistungen verzichten müssen, die sich ein nicht Bedürftiger vernünftigerweise leistet, oder ihren notwendigen Lebensunterhalt bis an die Grenzen des Existenzminimums einschränken müssen. Da die Versorgung mit zweckmäßigen medizinischen Leistungen zum elementaren Bedarf eines Menschen zu zählen ist, ist insoweit dieser im System der GKV zumindest nicht vollständig gedeckt. Solche Lücken medizinischer Bedarfsdeckung sind vor dem Hintergrund sozialer oder gesundheitlicher Ungleichheit vor allem an den Systemen zu messen, die jenseits der GKV gewissermaßen lückenausfüllende und aufstockende kompensatorische Hilfen bereitstellen.190 Dies ist auch und gerade vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund zu beleuchten, inwieweit solche Lücken mit der Verfassungsgarantie eines Existenzminimums zu vereinbaren sind und inwieweit unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten die einschlägigen Hilfesysteme dafür zu sorgen haben, daß die Bedarfsdeckung für Kranke nicht schlechter ist als für Gesunde. Dabei stellt für viele Bedürftige die Pflicht zur Offenlegung ihrer schlechten Einkommensund Vermögenssituation als Voraussetzung eines zusätzlichen unabweisbaren Bedarfs der Krankenhilfe eine nicht unerhebliche Hemmschwelle dar, die nicht unerheblich von Bildungsgrad, Alter und Lebenssituation geprägt ist.191 Die gesetzliche Konzeption für die medizinische Bedarfsdeckung in den Hilfesystemen des SGB II und des SGB XII beruht auf der Unterscheidung zwischen Hilfen zum Lebensunterhalt und Hilfen in besonderen Lebenslagen. Letztere sieht das SGB II nicht vor. Für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II kommen aber 189 Zu den ethischen Implikationen von „Rationierung“ und „Priorisierung“ in der medizinischen Versorgung s. Infobrief des Nationalen Ethikrates 03/2006 „Gesundheit für Alle – wie lange noch?“. 190 Zur lückenausfüllenden medizinischen Bedarfsdeckung durch die Hilfesysteme s. Ebsen, Armut und Gesundheit, S. 142 ff. 191 s. dazu das engagiert-polemische Plädoyer von Kruse, in: Becker/Boecken/Nußberger/ Steinmeyer (Hrsg.), Reformen des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts im Lichte supra- und internationaler Vorgaben, 2005, S. 103 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Hilfen nach dem 5. bis 9. Kapitel des SGB XII durchaus in Betracht, so daß sie im Bedarfsfall auch Hilfen zur Gesundheit nach §§ 47 ff. SGB XII beanspruchen können. Allerdings kann der Anspruch auf Krankenhilfe nach § 48 SGB XII wegen seiner systematischen Verschränkung mit dem Leistungssystem der GKV (§ 52 Abs. 1 SGB XII) in der Regel nicht zu Leistungen führen, welche nach dem Umfang des Leistungsspektrums oder nach dem Maß der finanziellen Eigenbelastung über die Leistungen der GKV hinausgehen. Denn aus der Verweisung auf das Leistungssystem des SGB V ergibt sich, daß auch dessen Begrenzungen und Leistungsausschlüsse für die Krankenhilfe nach § 48 SGB XII gelten sollen. Grundsätzlich dienen die Hilfen in besonderen Lebenslagen nicht zur Lückenausfüllung für die durch das SGB V geschaffenen Leistungsausschlüsse, so daß selbst aufstockende Sozialleistungen ausgeschlossen sind. Der Gesetzgeber hatte schon im GMG mit einer Änderung des § 1 der Regelsatzverordnung Ende 2004 klargestellt, daß der Aufwand für die Krankenbehandlung, soweit er nicht im GKV-System abgedeckt wird, zum allgemeinen Lebensunterhalt gehört, welcher grundsätzlich aus den Regelsätzen zu tragen ist, und sich damit vom Prinzip der vollständigen ergänzenden Bedarfsdeckung der Krankenhilfe verabschiedet. Diese Rechtslage hat sich seit 2005 insofern geändert, als die einmaligen Leistungen bis auf wenige enumerativ aufgezählte Fälle in der neuen Systematik der Sozialhilfe in die Regelsätze integriert worden sind und bei atypischen Bedarfen, die durch die gegenüber dem vorherigen Rechtszustand erhöhten Regelsätze und den dort vorgesehenen Ansparanteil für ehemals einmalige Leistungen nicht abgedeckt sind, nunmehr nur noch Darlehensleistungen in Betracht kommen (§ 23 Abs. 1 SGB II, 37 SGB XII), für die unterschiedliche Aufrechnungsmodalitäten durch Tilgung gelten.192 Darüber hinaus kommt für die Bezieher von Leistungen zum Lebensunterhalt aufgrund des SGB XII noch die Möglichkeit in Betracht, nach dem Individualisierungsgrundsatz gemäß § 28 Abs. 1 den Bedarf abweichend festzulegen. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn wegen einer bestimmten chronischen Erkrankung regelmäßig nicht verschreibungspflichtige oder durch die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses für verordnungsfähig erklärte Arzneimittel benötigt werden. Da eine entsprechende Bestimmung im SGB II fehlt, gibt es diese Möglichkeit für erwerbsfähige Hilfebedürftige und deren unter das SGB II fallende Angehörige nicht. Für diesen Personenkreis besteht nur die Möglichkeit, außerhalb des Regelsatzes Leistungen für Krankenbehandlung zu erhalten, die nicht zum Leistungsspektrum der GKV gehören, über eine darlehensweise Leistungsgewährung unter Anwendung von § 23 Abs. 1 SGB II. Dieser setzt allerdings verschärfte Bedürftigkeitsanforderungen in dem Sinne voraus, daß zunächst der Freibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II zu verbrauchen ist und eine besonders zu begründende „Unabweisbarkeit“ vorliegt.193 Damit stellt sich die Frage, inwieweit im Hinblick auf 192 193
s. dazu Luthe/Dittmar, Fürsorgerecht, 2007, S. 161 ff. Zu diesen Anforderungen kritisch Kruse, S. 108 ff.
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das Gebot der Wahrung grundsätzlicher Gleichheit des Lebensstandards kranker und gesunder Bedürftiger und das verfassungsrechtlich gewährleistete soziokulturelle Existenzminimum, zu dem auch das gesundheitliche Existenzminimum gehört, bedürftigen Personen, die unabweisbare Aufwendungen wegen Krankenbehandlung haben, weniger finanzielle Ressourcen zustehen als denjenigen, die in gesundheitlicher Hinsicht schicksalhaft begünstigt sind. Vor diesem Hintergrund müssen sich die ergänzenden Regelungen medizinischer Bedarfsdeckung durch die Grundsicherungssysteme und die auf ihnen beruhenden Ermessensentscheidungen der Verwaltung auf ihre Verfassungskonformität befragen lassen.194 Auch bei einer weiteren Zielgruppe gesundheitlichen Förderungs- und Betreuungsbedarfs, den Menschen mit Behinderungen, die Pflegegeld beziehen (§ 43a SGB XI), bzw. Personen, die in eine Pflegestufe eingeordnet sind oder aufgrund ihrer schweren körperlichen und/oder geistigen Behinderung dauerhaft Eingliederungshilfe beziehen (§ 54 SGB XII), ergeben sich Regelungserfordernisse, um gesundheitliche Ungleichheiten abzufedern. Dies betrifft u. a. die Befreiung von der Praxisgebühr (§ 28 Abs. 4 SGB V), die für einen Großteil dieses Personenkreises schon heute vollzogen, für den Rest der Betroffenen aber mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden ist, oder den Verzicht auf die Führung des Bonusheftes als Nachweisvoraussetzung für die Erlangung eines höheren Zahnersatzzuschusses (§ 55 Abs. 1 SGB V). Erforderlich wäre ein präventionsorientierter Leistungskatalog, der den individuellen Bedürfnissen von Versicherten gerecht wird, die aufgrund körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen und der damit verbundenen Mobilitäts- bzw. Selbststeuerungsdefizite besondere präventive oder therapeutische Maßnahmen benötigen.195 Obwohl sich die deutsche Verfassung im Blick auf soziale Grundrechte und soziale Mindeststandards sehr zurückhält, hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zusammenklang von Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde das allgemeine verfassungsrechtliche Existenzminimum für den Lebensunterhalt abgeleitet, zu dem auch das gesundheitliche Existenzminimum zu zählen ist.196 Daß gerade auch der Gesundheitsschutz in elementarer Beziehung zu den Grund- und Menschenrechten steht, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
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Hierzu und zu Folgendem differenziert Ebsen, Armut und Gesundheit, S. 146 ff. s. z. B. das Versorgungskonzept zur zahnärztlichen Versorgung von alten Menschen und Menschen mit Behinderungen von KZBV/BZÄK (Hrsg.), Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter, mit dem Vorschlag einer gesetzlichen Neuregelung in Gestalt des § 22a SGB V, die dem erheblichen personellen, instrumentellen und zeitlichen Mehraufwand für die Behandlungsabläufe bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen soll. 196 Zur Interdependenz von Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) und der in Art. 1 GG für unantastbar erklärten Menschenwürde als verfassungsrechtlicher Grundlage für die Garantie des sozio-kulturellen Existenzminimums s. BVerfGE 40, 121, 133; 82, 60, 85 f.; 89, 346, 353. Dessen konkrete Höhe hängt allerdings vom schwankenden allgemeinen Lebensstandard und dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ab (s. dazu BSG, NJW 1987, 463). 195
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Entscheidung vom 6.12.2005197 konkretisiert, in der es festgestellt hat, daß es „mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“. Insofern könnten diese Grundrechte „in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten“. Flankiert wird diese Rechtsprechung durch die Grundrechtecharta der EU, die das Recht auf Leistungen Sozialer Sicherheit und sozialer Dienste sowie Gesundheitsschutz als allgemeines Menschenrecht formuliert. Ohne Ansehen von sozialem Rang und sozialer Stellung der Menschen werden hier an den Standard der Gesundheitsversorgung egalitäre menschenrechtlich fundierte Anforderungen gestellt, die über die deutsche Verfassungstradition hinausgehend neue Herausforderungen an die Armutsfestigkeit der Systeme Sozialer Sicherung stellen. Somit wird deutlich, daß ein auf Nichtdiskriminierung setzendes und Anschluß an die internationale Diskussion um soziale Gleichheit und Schutz vor sozialer Ausgrenzung suchendes Menschenrechtsverständnis die Grundentscheidung impliziert, daß für die Gesundheitsversorgung ein stärker egalitärer Maßstab gilt als für sonstige Elemente des materiellen Lebensstandards.198 Unter Berücksichtigung der fundamentalen Bedeutung von Gesundheit für alle anderen Dimensionen von Lebensqualität gehört es zum sozialstaatlich gebotenen Standard, daß auch die Versorgung Bedürftiger sich im wesentlichen an dem orientiert, was Durchschnittsverdiener vernünftigerweise für die eigene Gesundheitsversorgung entweder im Wege von Pflichtversicherung oder freiwilliger Vorsorge oder im Wege einer ad-hoc-Finanzierung im Einzelfall aufwenden.199 c) Interventionsstrategien zielgruppen- und lebensweltorientierter Gesundheitsförderung Neben solchen grundsätzlichen Wertentscheidungen der Gesellschaft und des Sozialstaats bei der Zuteilung knapper Gesundheitsgüter müssen in Zukunft verstärkt die Interventionsmöglichkeiten einer Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten in Deutschland und Europa in den Blick genommen werden. Die gezielte Förderung der Gesundheit sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen und die politische Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit erfordern einen ebenso pluralen Ansatz wie die multifaktoriellen Ursachen solcher sozialen Handicaps. Daß 197
BVerfGE 115, 25. s. hierzu Kingreen, NJW 2006, 877 ff. Zur Ableitung des Mindestschutzes im Krankheitsfall aus Art. 1 GG s. Ebsen, NDV 1997, 71 ff. 199 Zum verfassungsrechtlich gebotenen gesundheitlichen Existenzminimum s. Ebsen, Armut und Gesundheit, S. 146 f.; Neumann, NZS 2006, 393 ff. 198
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dabei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt besondere Bedeutung zukommt, ist ebenso evident wie die Notwendigkeit von Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung, Weiterbildung und Umschulung, die Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen als Voraussetzung für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie z. B. alleinerziehende Mütter, um Beruf und Erziehung miteinander zu vereinbaren. Auch weitere Handlungsfelder familienoder bildungspolitischer Art, des Wohnungsbaus, der Integration von Migranten, der Stadt- und Verkehrsplanung sind Bestandteil einer Bekämpfung sozialer Defizite.200 Zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit ist eine zielgruppenorientierte Gesundheitsförderung unerläßlich, die stärker auf die konkreten Bedarfslagen sozial benachteiligter Gruppen eingeht, die sich sowohl im Vergleich untereinander als auch in ihrer Binnenstruktur als äußerst heterogen darstellen. Darauf hat bereits vor einigen Jahren auch das Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hingewiesen.201 Der Auftrag des § 20 SGB V an die Krankenkassen zu primärpräventiven Leistungen als Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheitschancen ist bisher nur unzureichend erfüllt, zumal gerade sozial vulnerable Gruppen Präventionsangebote nur zögerlich annehmen. Dies zeigen die Auswertungen der Krankenkassen bezüglich der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen bei Kleinkindern und Vorsorgeuntersuchungen bei Karzinomen. Auch sind bei dieser Zielgruppe durch rein verhaltensbezogene Interventionen wie z. B. Kursangebote kaum nachhaltige Wirkungen zu erwarten, zumal sie nicht über die gleichen Kommunikationskanäle und mit den gleichen Ansprachestrategien erreichbar sind wie sozial Bessergestellte.202 Stattdessen sind hier niedrigschwellige Beratungs- oder aufsuchende Förderungsangebote erforderlich.203 Dabei könnten zum Teil kostengünstige und einfache Vorsorgemaßnahmen wirksam sein. So zeigen Untersuchungen zur Fluoridierung des Trinkwassers eine Reduktion der Karieslast um 50 %, die gerade sozial benachteiligten Kindern zugute kommt. Mit Rücksicht auf die in Deutschland nicht zulässige Trinkwasserfluoridierung bietet die Verwendung fluoridierten Speisesal200 Zu den Interventionsmöglichkeiten einer Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit s. Lampert/Mielck, S. 13 ff.; Kilian/Brandes/Köster, S. 19 ff. 201 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Finanzierung, Werteorientierung und Qualität, Gutachten 2003; ders., Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, Gutachten 2007. 202 Kilian/Brandes/Köster, S. 20. 203 Diese müssen insbesondere Kinder aus armen Familien erreichen, die mehr frühkindliche Entwicklungsdefizite aufweisen, eine schlechte Sozialprognose haben und zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen neigen. Daß Ansätze wie die neue Kindergarten-Untersuchung U 7a, die Stärkung der frühkindlichen Erziehung oder höhere finanzielle Zuwendungen an die Eltern nicht ausreichen, sondern die Finanzierung von aufsuchenden mobilen Teams vor allem in sozial benachteiligten Regionen erforderlich ist, um einkommens- und bildungsschwache Familien überhaupt erreichen zu können, wurde beim Kinder- und JugendÄrztetag 2008 in Berlin diskutiert. s. Zahnärztliche Mitteilungen 98, Nr. 14/2008, S. 10 („Armut stärker bekämpfen“).
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zes über Privathaushalte hinaus in der Gemeinschaftsverpflegung eine gute Alternative zur Förderung der Mundgesundheit sozial Benachteiligter, weil auf diese Weise eine Zielgruppe präventiv erreicht würde, ohne daß oft schwer herbeizuführende bewußte Verhaltensänderungen notwendig wären.204 Als positive Beispiele zielgruppenorientierter Gesundheitsförderung lassen sich zahlreiche Projekte benennen: So das kassenübergreifende Programm „Gesund leben lernen“, das sich um die Schaffung eines gesundheitsförderlichen Umfeldes an Schulen bemüht und einen deutlichen Bezug zur Forderung nach Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit aufweist. Hervorzuheben ist ferner der von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung koordinierte Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“, dem neben einer Reihe anderer Akteure fast alle Spitzenverbände der Krankenkassen angehören. Der Kooperationsverbund verfolgt das Ziel einer Vernetzung von Projekten und Initiativen der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung und einer Identifizierung von Beispielen guter Praxis anhand eindeutig formulierter Kriterien. Dazu wurde eine ständig aktualisierte Online-Datenbank aufgebaut, die mittlerweile Informationen zu 1.400 Projekten umfaßt. Zudem wurde in 16 Bundesländern ein „Regionaler Knoten“ eingerichtet, der der Vernetzung der Akteure vor Ort dient.205 Weitere zielgruppenbezogene Angebote sind z. B. die in vielen deutschen Städten tätige Institution Malteser Migranten Medizin (MMM), Zahnmobile der Caritas für zahnmedizinische Betreuung Obdachloser oder die Gesundheitsförderung von Kindern im Rahmen des in einigen deutschen Großstädten vertretenen Christlichen Kinder- und Jugendwerkes „Die Arche e.V.“.206 Der Setting-Ansatz (auch Lebenswelt-Ansatz genannt) ist das derzeit vorherrschende Paradigma für zielgruppenorientierte und nachhaltig wirkende soziallagenbezogene Gesundheitsförderung, die aufbauend auf dem Salutogenese-Konzept207 nicht vorwiegend auf das Individuum, sondern in stärkerem Maße auf die umgebenden sozio-ökonomischen Lebens- und Arbeitsbedingungen als Determinanten abzielen. Dadurch sollen auf der individuellen Ebene Kompetenzen und Ressourcen gestärkt, auf der Ebene der Strukturbildung Risiken und Belastungen durch gesundheitsfördernde Rahmenbedingungen gemindert und auf der Beteiligungsebene möglichst viele Personen und Personengruppen der jeweiligen Lebenswelt in diesen Prozeß eingebunden werden.208 In diesem Zusammenhang gewinnt ärztliches Engagement im niedrigschwelligen Bereich an Bedeutung. Be204
Vgl. die Hinweise bei Ziller, S. 5. s. Lampert/Mielck, S. 14 m.w.N. 206 Zu diesen und weiteren niedrigschwelligen Angeboten zielgruppenbezogener Gesundheitsförderung s. Friedrich, ZM 2010, 878 ff. 207 Antonovsky, Salutogenese – zur Entmystifizierung der Gesundheit, 1997. 208 S. dazu Richter/Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit, Grundlagen, Probleme, Perspektiven; Kilian/Brandes/Köster, GGW 2008, 17, 19 ff. mit Praxisbeispielen für lebensweltbezogene Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten, Schulen und Stadtteilen. 205
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sonders bei den mindestens 250.000 Obdachlosen in Deutschland ist „aufsuchende Medizin“ im Sinne einer „Komm-Struktur“ unerläßlich, um durch aufsuchende Mediziner und Zahnmediziner diesem Personenkreis ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung zuteilwerden zu lassen.209 Insgesamt wächst in Europa die Einsicht, daß eine nachhaltige Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nur durch ein breites Spektrum aufeinander abgestimmter politischer Maßnahmen zu erreichen ist und eine umfassende Handlungsstrategie voraussetzt, die in den verschiedenen Politikbereichen konsequent umgesetzt wird. Während in Deutschland eine solche Strategie allenfalls ansatzweise vorhanden ist, wird in anderen europäischen Ländern zum Teil seit Längerem das Thema lebensweltbezogener Gesundheitsförderung und die Beseitigung gesundheitlicher Ungleichheiten angegangen. So wird in England seit dem Jahr 2003 das Aktionsprogramm „Tackling Health Inequalities: A Programm for Action“ mit dem Ziel durchgeführt, die Mortalitätsunterschiede zwischen der niedrigsten und höchsten Statusgruppe bis zum Jahr 2010 um 10 % zu verringern. Im gleichen Jahr wurde in Schweden das Gesetz „Swedens New Public Health Policy“ verabschiedet, das den Schwerpunkt auf intersektorale und gesamtgesellschaftliche Maßnahmen zu drei übergeordneten Zielbereichen legt, nämlich der Verringerung der sozialen Ungleichheit, Schaffung gesunder Lebensumwelten und Förderung einer gesunden Lebensweise. Auch in den Niederlanden, Norwegen, Irland und Schottland gibt es inzwischen umfassende Aktionsprogramme zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit, die auf eine Vernetzung aller Politikbereiche und Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen hinauslaufen.210 Dazu gehört auch die frühzeitige Einbindung der betroffenen Zielgruppen in die Planung und Durchführung der Maßnahmen, weil ohne diese Partizipation die Akzeptanz der Maßnahmen nicht sicherzustellen ist. Da sich gesundheitliche Risiken und Beeinträchtigungen häufig auf das soziale Umfeld und belastende Lebensverhältnisse zurückführen lassen, reicht es nicht aus, das individuelle Gesundheitsverhalten, insbesondere das Fehlverhalten, in den Mittelpunkt zu stellen, weil eine Politik der Schuldzuweisung (Blaming the Victime) die Gefahr von Diskriminierung und mangelnder Akzeptanz erhöht. Bei aller Bedeutung, die der individuellen Eigenverantwortung zuzumessen ist, sind Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit erfahrungsgemäß erfolgreicher, wenn sie auf dem Setting-Ansatz basieren, die Menschen also dort abholen, wo sie wohnen, arbeiten, zur Schule gehen oder ihre Freizeit verbringen.211 Eine wichtige Voraussetzung für die Partizipation der Beteiligten im Prozeß gesundheitlicher Verbesserung ist eine hinreichende gesundheitliche Aufklärung, die 209 Zu vielfältigen Formen ärztlichen Engagements im Bereich „aufsuchender Medizin“ s. Friedrich, ZM 2010, 878. 210 Vgl. Lampert/Mielck, S. 14; Mappes-Niediek/Schlette/Blum, aaO, S. 8 ff. 211 Kilian/Brandes/Köster, S. 17 ff.; Lampert/Mielck, S. 15. Zum ärztlichen Engagement im niedrigschwelligen Bereich durch aufsuchende medizinische Versorgungsangebote s. Friedrich, ZM 7/2010, 878.
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sie zur Mitwirkung und Eigenverantwortung befähigt. Dies setzt „Gesundheitskompetenz“ (Health Literacy) als Fähigkeit des einzelnen voraus, Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf seine Gesundheit auswirken. Empirische Studien belegen, daß Personen mit geringer Gesundheitskompetenz, die sich verstärkt in der sozialen Unterschicht finden, weniger an der Klärung oder Vertiefung medizinischer Informationen im Zusammenhang eines Arztbesuches interessiert sind, beim Wunsch nach Mitbestimmung bei der Festlegung der Therapie (Shared Decision Making) sich eher passiv verhalten und traditionell-paternalistischen Verhaltensmustern verhaftet sind, bei der Auswahl der Ärzte und der Wahrnehmung von Qualitätsunterschieden weniger kritisch, beim Verständnis medizinischer Informationen häufig überfordert sind und in der Compliance ein geringeres Maß an Therapiebeteiligung zeigen.212 Selbst bei formeller Gleichbehandlung von Patienten können aus der fehlenden Berücksichtigung schichtspezifisch unterschiedlicher Ressourcen und Bewältigungskompetenzen in einer genuin asymmetrisch strukturierten Beziehungssituation potenzierte Versorgungsungleichheiten resultieren, wenn nicht durch die Möglichkeiten zu einem stärkeren Empowerment von „Unterschichtpatienten“ in Fragen des Informations- und Partizipationsverhaltens gegengesteuert wird. Dies setzt auch bei Heil- und Pflegeberufen die Verbesserung kommunikativer Kompetenzen im Umgang mit einer sozial oder gesundheitlich gehandicapten Klientel voraus, um deren spezifische Lebenssituation und gesundheitlichen Probleme zu erfassen. d) Europäische Initiativen zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit Bereits in seiner Empfehlung vom 27. 7. 1992 über die Annäherung der Ziele und Politiken im Bereich des sozialen Schutzes hat der Rat den Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie die Gewährung eines angemessenen Einkommensersatzes bei einer Unterbrechung der Erwerbstätigkeit infolge Krankheit zu grundlegenden Zielen der sozialen Sicherungssysteme erklärt. In der Charta der Grundrechte der EU wird jedem „das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung“ verheißen (Art. 35 GR-Charta). Auch die im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung besonders vulnerablen Zielgruppen wie Migranten, ältere Menschen, Kinder oder Menschen mit Behinderungen werden in der Grundrechtecharta in ihrem jeweils spezifischen sozialen Protektionsbedürfnis grundrechtlich abgesichert. Dies gilt sowohl für die Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft (Art. 21 GR-Charta) als auch die Sicherstellung der Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen (Art. 23 GR-Charta) oder die Rechte des Kindes (Art. 24 GR-Charta), die Rechte älterer Menschen (Art. 25 GR-Charta) und die Integration von Menschen mit Behinderungen (Art. 26 GR-Charta). Diese Grundrechte strahlen auch auf den Zugangsanspruch zur Gesundheitsvorsorge und auf die ärztliche Versorgung aus. 212 Zum schichtspezifischen Informations- und Partizipationsverhalten in der ambulanten Versorgung s. Marstedt/Amhof, S. 1 ff.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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Die Frage des Zugangs sozial benachteiligter Gruppen und einkommensschwacher Personen zur Gesundheitsversorgung, aber auch der Beziehungen zwischen Gesundheitssystemen sowie ihren Institutionen und anderen am Kampf gegen soziale Ausgrenzung beteiligten Akteuren wurde daher vom Europäischen Rat von Nizza als eines der „gemeinsamen Ziele“ zur Bekämpfung von Ausgrenzung anerkannt. Auch in ihrer Anfang März 2010 vorgelegten neuen „Strategie Europa 2020“ wird diesen Zielen durch die EU-Kommission unter Berufung auf Art. 151 AEUV (ex-Art. 136 EGV) („Bekämpfung von Ausgrenzung“) eine Schlüsselrolle eingeräumt. In dem gemeinsamen Bericht über die Bewertung der nationalen Aktionspläne zur sozialen Integration werden drei große Kategorien von Maßnahmen in diesem Bereich definiert:213 • Ausbau von Vorsorge und Gesundheitserziehung. Derartige Maßnahmen wenden sich zwar nicht nur an sozial schwache Personen, erlauben es aber doch, diese besser zu erreichen (etwa über Mutter-Kind-Beratungsstellen oder Schul- und Betriebsärzte). • Verbesserter Zugang zur Gesundheitsversorgung durch einen höheren Kostenübernahmeanteil bis hin zur Kostenfreiheit für Geringverdiener, aber auch durch eine bessere Koordinierung zwischen den für die Sozialdienste und den für die Gesundheitsversorgung zuständigen Stellen. • Umsetzung von Maßnahmen, die sich an sozial schwache Gruppen wie psychisch Kranke, Migranten, Obdachlose, Alkohol- oder Drogenabhängige usw. wenden. Dementsprechend verabschiedeten die Sozial- und Gesundheitsminister der EU am 8. 6. 2010 anläßlich ihrer Luxemburger Tagung214 eine Ratsschlußfolgerung zum Thema „Gleichheit und Gesundheit in allen Politikbereichen: Solidarität in der Gesundheitsversorgung“. Der Rat fordert die Kommission zur Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten auf und appelliert gleichzeitig an die Mitgliedstaaten, weitere Strategien zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit zu entwickeln und diese umzusetzen. Der Rat bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, daß vulnerable soziale Randgruppen wie Arbeitslose, Obdachlose, Menschen mit psychischen Problemen, Menschen mit Behinderungen und ethnische Minderheiten ein besonders schlechtes durchschnittliches Gesundheitsniveau aufwiesen. Die Verringerung solcher Ungleichheiten im Gesundheitswesen muß nach Auffassung des Rates eine der künftigen Prioritäten im Bereich der öffentlichen Gesundheit darstellen.
213 Vgl. auch Mitteilungen der Kommission v. 20. 4. 2004 (KOM (2004), 301 endg., KOM (2004), 304 endg.). Zur „Europäisierung“ von sozialer Gerechtigkeit aus Sicht des Bürgers „nach dem Übergang von der nationalen zur europäischen Sozialen Sicherheit“ s. Lengfeld, Aus Politik und Zeitgeschichte 47/2009, 21 ff. 214 s. Eureport social VI/2010, S. 14.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Von besonderer Bedeutung sind dabei niedrigschwellige Angebote, die der Lebenssituation und dem Verständnishorizont sozial Schwacher zugänglich sind.215 Dies betrifft sowohl Informationen zur Anamnese, Diagnose und Therapie in der Arztpraxis als auch allgemeinverständliche Arzneimittelinformationen, um eine therapiefördernde Compliance sicherzustellen. Gerade bei Migranten spielen neben sprachlichen besonders kulturell-religiöse Barrieren eine Rolle, die eine Gesundheitsaufklärung und medizinische Behandlung erschweren. Kultursensible Beratungskompetenz ist hier unerläßlich und wird durch nationale und EU-Programme gefördert.216 So werden im Rahmen des bundesweit verbreiteten MiMi-Projektes („mit Migranten für Migranten“) Gesundheitslotsen mit Migrationshintergrund ausgebildet, deren Aufgabe in der muttersprachlichen Informationsvermittlung in den Lebensräumen der Migranten („interkultureller Setting-Ansatz“) besteht.217 In einer im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten und im März 2008 vorgelegten Studie über Qualität und Zugangsgleichheit zur gesundheitlichen Versorgung218 werden erneut die vulnerablen Zielgruppen für notwendige Kompensation gesundheitlicher Ungleichheit identifiziert, die Zugangsbarrieren gleicher Inanspruchnahme benannt und politische Strategien zu ihrer Überwindung entwickelt. Die Untersuchung macht deutlich, daß die diesbezüglichen Politiken der Mitgliedstaaten nicht unerheblich voneinander abweichen, was zum Teil mit Strukturdifferenzen ihrer Sozialen Sicherungssysteme zusammenhängt. Als gemeinsames großes Problem werden Informationsdefizite gesehen, die mit Wettbewerbsorientierung und Diversifikation der Systeme zunehmen. Unterschiede macht die Untersuchung insbesondere auch aus in der Förderung der jeweiligen untersuchten Zielgruppen, nämlich älterer Menschen, Personen mit psychischen und mentalen Defiziten oder Migranten mit offiziellem bzw. illegalem Status. Gerade Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, Migrationshintergrund oder altersbedingten mentalen Handicaps finden sich schwer in manchen bürokratischen Strukturen der Gesundheitssysteme zurecht. Dies gilt insbesondere für Antragserfordernisse bei Kostenerstattungs- oder Zuschußleistungen.219 Bemängelt wird in der Studie allgemein, daß die gesundheitliche Ungleichheit als generelles Phänomen in den Mitgliedstaaten zwar stärkere Beachtung gefunden hat, der Focus aber weniger auf spezifische Zugangsbarrieren vulnerabler Gruppen gelegt 215 Zu diesbezüglichen Defiziten s. Reichert, Patient Migrant, ZM 98 Nr. 15/2008, S. 16; vgl. auch 2. Jahrestagung des Deutschen Ethikrats zum Thema „Migration und Gesundheit: Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung“ (s. ZM 2010, 1486 ff.). 216 Vgl. den Informationsdienst „Migration und öffentliche Gesundheit“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder das EU-Projekt „Migration und Gesundheit“. Weitere Hinweise auf interkulturelle gesundheitsrelevante Förderprojekte bei Reichert, S. 16 ff. 217 s. zu diesem Projekt www.mimi-online.bkk-bv-gesundheit.de. 218 Quality in and Equality of Access to Healthcare Services, European Commission, Directorate-General für Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, März 2008. 219 Zu diesbezüglichen Hemmschwellen und bürokratischen Barrieren s. Kruse, S. 104.
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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wurde. Insbesondere die Erhöhung von Selbstbeteiligungen und die Kürzung staatlicher Unterstützungsressourcen zeitigen bei den besonders sensiblen Gruppen einen überproportionalen Effekt der Verhinderung von Leistungsinanspruchnahme. Die Studie macht einen erheblichen Wissensmangel über die Morbidität sozial schwacher Gruppen aus. Dies betrifft sowohl die gesundheitliche Selbsteinschätzung der Betroffenen als auch das medizinische Wissen der Heilberufe in Bezug auf adäquate Behandlungen der Co- und Multimorbidität bei älteren Menschen und Menschen mit mentalen Handicaps.220 Die Schließung dieser Lücken in Forschung, Fort- und Weiterbildung wird als eine Priorität in der Studie bezeichnet. Für wesentlich wird auch die stärkere flächendeckende Versorgung insbesondere in entfernt liegenden und ländlichen Regionen angesehen, um gerade für soziale Schwache gesundheitliche Versorgungsleistungen zugänglich zu machen. Als zentrale Empfehlungen formuliert die Studie, ein spezifisches politisches Augenmerk darauf zu legen, wie die jeweiligen nationalen Gesundheitssysteme ihr Versorgungsniveau im Hinblick auf soziale und gesundheitliche Ungleichheiten gestalten und wie sich Budgetierungen und Selbstbeteiligungen auf sozial Schwache auswirken.221 Als Weiteres wird die Verbesserung gesundheitlicher Aufklärung und Betreuung sozial Bedürftiger und ihrer Anleitung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gefordert. Gerade beim Übergang vieler Mitgliedstaaten zu beitrags- bzw. steuerfinanzierten Mischsystemen mit Budgetierungen, Leistungsausschlüssen, erhöhten Selbstbeteiligungen und ergänzenden Zusatzversicherungen222 soll die Exklusion sozial unterprivilegierter Gruppen vermieden werden. Die Ursachen fehlender Kostendeckung für gesundheitliche Versorgung müssen für die einzelnen betroffenen Personengruppen zielgenauer analysiert werden. Dies gilt insbesondere für Migranten, Asylbewerber und illegale Einwanderer. Für diese Gruppen ist ebenso wie für ältere Menschen mit eingeschränkter Orientierung und deren Familien eine geeignete und aufeinander abgestimmte Mischung von Gesundheitsdienstleistungen und sozialer Betreuung erforderlich. Der demographische Wandel mit zunehmend älter werdender Bevölkerung stellt neue Herausforderungen an die geriatrische Versorgung und die Altersforschung, um das Wissen um die spezifischen Gesundheitsbedürfnisse älterer Menschen zu verbessern und durch Aus- und Weiterbildung des Pflegepersonals auf eine breitere Grundlage zu stellen. Dies setzt die inter- und multidisziplinäre Forschung über Ausgrenzungs- und Diskriminierungsphänomene, Gesundheitsförderung und integrierte Versorgungsformen voraus, weil gerade der Daten- und Informationsmangel über den Zugang von Menschen mit Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit ein charakteristisches Indiz für die fehlende Wahrnehmung dieses Problems ist.223 220
Quality in and Equality of Access to Healthcare Services, S. 305 f.; Marstedt/Amhof, S. 1; Lampert/Mielck, S. 9 f. 221 Quality in and Equality of Access to Healthcare Services, S. 306 f. 222 s. dazu B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 113 ff. 223 Quality in and Equality of Access to Healthcare Services, S. 311 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Auch in ihrer erneuerten Sozialagenda, die die Kommission im Februar 2008 vorgelegt hat,224 werden die Verbesserung der Chancen der Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung und zu Sozialdienstleistungen hervorgehoben und Solidarität als Voraussetzung und Legitimation für verstärkte Bemühungen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung betont. Neben einem umfassenden Konzept in Bezug auf Kinderarmut wird der Bekämpfung sozialer Benachteiligung durch aktive Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt, Nahrungsmittelhilfeprogramme für die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen Europas, Erleichterung des Informationszugangs für Menschen mit Behinderung Priorität eingeräumt.225 Hinsichtlich der Gesundheitsförderung wird auf die Mitteilung über gesundheitliche Benachteiligungen hingewiesen, die auf den Ergebnissen der Offenen Methode der Koordinierung226 in den Bereichen sozialer Eingliederung und Sozialschutz aufbaut.227 Der EU fehlen die unionsrechtlichen Kompetenzen zur Durchsetzung der Ziele des Abbaus gesundheitlicher Disparitäten durch Gewährleistung eines gleichmäßigen Zuganges zur gesundheitlichen Versorgung weitgehend, weil Art. 168 AEUV der EU nur bestimmte Bereiche der öffentlichen Gesundheit zuweist und die Ausgestaltung der nationalen Gesundheits- und Sozialschutzsysteme eine Domäne der Mitgliedstaaten geblieben ist. Umso mehr kann die „Offene Methode der Koordinierung“ als prozeßgesteuerte Konvergenz der Sozialpolitiken durch Vereinbarung gemeinsamer Zielsetzungen, die auf der Grundlage des Vertrages von Lissabon (Art. 168 AEUV) auch im Gesundheitswesen Anwendung gefunden hat,228 mit ihren Koordinierungsinstrumenten der Leitlinien, Indikatoren, des Benchmarking und der Best Practice-Vergleiche einen Beitrag dazu leisten, das Problem sozialer Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung stärker ins Bewußtsein der europäischen Öffentlichkeit und der mitgliedstaatlichen Politiken zu rücken. Dies kommt auch in der Zielsetzung des Art. 3 Abs. 3 EUV zum Ausdruck, in dem es heißt, daß die EU „soziale Ausgrenzung und Diskriminierung“ bekämpft und „sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes“ fördert. Art. 9 AEUV des Lissabonner Reformvertrages sieht eine soziale Querschnittsklausel vor, die die EU bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik neben der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus auf „die Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, die Bekämpfung der so224
KOM (2008), 412 endg. s. dazu Schulte, EuroAS 7 – 8/2008, S. 24 ff. 226 Zur Offenen Methode der Koordinierung in ihrer Bedeutung für die Erhöhung der Zugangschancen zur Gesundheitsversorgung und Abbau von sozialer Exklusion s. Schulte, ZSR 2002, 1 ff.; Becker, in: Sozialrecht in Europa, 2010, S. 89 ff.; Eichenhofer, DRV 2009, 3 ff. 227 Vgl. Hauser, ZSR 2002, 251 ff.; Eichenhofer, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 59 ff. 228 s. dazu Schnell/Wesenberg, DRV 3/2008, 275 ff., 280 f.; Eichenhofer, in: Sozialrecht in Europa, S. 158 ff.; ders., in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 59 ff. 225
II. Die soziale Komponente des Integrationsprozesses
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zialen Ausgrenzung sowie ein hohes Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes“ verpflichtet. Dabei ist stets das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip zu beachten und der kompetenzrechtliche Vorrang der Mitgliedstaaten für die Gestaltung ihrer Gesundheits- und Sozialschutzsysteme zu respektieren. Neben den Niveauunterschieden im Vergleich der EU-Mitgliedstaaten miteinander rücken damit schichtenspezifische Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten in den Fokus egalitärer Betrachtung. Am 22. 10. 2008 wurde vom Europäischen Parlament das Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung“ erklärt, dessen Ziel es ist, auch bei der Gesundheitsförderung mehr gemeinsame Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt zu generieren und entsprechende Projekte in den Mitgliedstaaten zu initiieren. Die EUKommission hat 2009 ein Konsultationsverfahren zu „EU-Maßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten“ durchgeführt, das zu einer Mitteilung der Kommission zum Abbau solcher Unterschiede führte.229 Die Kommission sieht sich in der Einschätzung bestätigt, daß ein gleichberechtigter und wohnortnaher Zugang zu Gesundheitsleistungen Priorität habe und es in erster Linie in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liege, zur Verringerung eventuell bestehender Ungleichheiten beizutragen, so daß der EU eine unterstützende Rolle zukomme. Es wurden aber auch Befürchtungen im Rahmen des Konsultationsprozesses artikuliert, daß sich die Ziele einer EU-Gesundheitspolitik zu sehr auf eine Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene und auf die Beseitigung von „Ungleichheiten“ reduzieren könnte, was den universellen Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status in den Hintergrund geraten lasse.230 Dessen ungeachtet gilt: Wenn das europäische Sozialmodell231 Bestand haben soll, wird gerade die Frage, wie es mit der gesundheitlichen Versorgung seiner sozial schwächsten Mitbürger umgeht, ein Prüfstein für seine Legitimation und seinen Bestand sein. Gerade weil Gesundheit ein transzendentales Gut ist, das eng mit elementaren Menschenrechten verknüpft ist, ist es stärker als materielle Bedürfnisse auf eine den Postulaten sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit entsprechende Zugangs- und Verfügungsmöglichkeit angewiesen. Daß dies den gemeinsamen Verfassungstraditionen und -überzeugungen232 der Mitgliedstaaten der Europäischen Union entspricht, wird sowohl von der Europäischen Sozialcharta als auch von der 229
s. Eureport social 3/2009, 10 f. und 7/8/2009, 31 zum Konsultationsprozeß sowie Eureport social 11/2009, 8 und Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 33/2009, S. 18 ff. zur Kommissions-Mitteilung. 230 Vgl. Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung, Eureport social 7 – 8/2009, 31 f. 231 Zur Europäisierung der Sozialpolitik und der Entwicklung eines Europäischen Sozialmodells s. Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, S. 95 ff. 232 Zu den christlichen Wurzeln und sozialen Werten der EU als einer auf Teilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit zielenden gesellschaftlichen Ordnung s. Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats, S. 20 ff.; ders., in: Sozialrecht in Europa, S. 139 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Grundrechtecharta der EU, die durch den Lissabonner Vertrag gemeinschaftsrechtliche Verbindlichkeit erlangt hat, deutlich zum Ausdruck gebracht und ist damit verfassungsrechtlich verbindliche Leitlinie für die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Organe.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten in ihrer Bedeutung für die Gesundheitsversorgung 1. Die EU-Grundrechtecharta und ihre soziale Relevanz a) Der Anwendungsbereich und Schutzumfang der Grundrechtecharta Die in den Verträgen verankerten gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten umfassen neben dem universellen Unionsbürgerrecht auf Aufenthalt und Freizügigkeit (Art. 21 AEUV, ex-Art. 18 EGV) den freien Warenverkehr (Art. 28 AEUV, ex-Art. 23 ff. EGV), den freien Personenverkehr, d. h. die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV, ex-Art. 39 ff. EGV), das freie Niederlassungsrecht für Unternehmer und Selbständige (Art. 49 AEUV, ex-Art. 43 ff. EGV), den freien Verkehr von Dienstleistungen (Art. 56 AEUV, ex-Art. 49 ff. EGV) sowie den freien Verkehr des Kapitals (Art. 63 AEUV, ex-Art. 56 ff. EGV). Diese Grundfreiheiten sind Impulsgeber für die transnationale Inanspruchnahme und Erbringung von Sozial- und Gesundheitsleistungen. Durch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit wurde es neben anderen Freien Berufen den Heil-, Pflege- und Sozialberufen ermöglicht, sich europaweit niederzulassen und selbständig ihren Beruf auszuüben.233 Flankiert werden die Grundfreiheiten durch universelle Freiheitsrechte und gesamteuropäische Grundrechtsstandards der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta vom 18. 10. 1961 sowie der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989, die u. a. den Schutz der Gesundheit (Art. 11), sozialer Sicherheit (Art. 12), den Anspruch auf Fürsorge (Art. 13), auf soziale Dienste (Art. 14) und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung (Art. 15) garantieren.234 Für die unionsrechtliche Verortung des Gesundheitswesens sind neben der Sicherung des Gesundheitsschutzes insbesondere die Diskriminierungsverbote und Gleichbehandlungsgrundsätze von nachhaltiger Bedeutung (Art. 18 und 19 AEUV, ex-Art. 12 und 13 EGV). Der EuGH hat auf der Basis der unionsrechtlichen 233 234
s. dazu Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 63 ff., 117 ff. s. dazu B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 84 ff.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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Grundfreiheiten und europäischen Konventionen eine differenzierte Rechtsprechung bezüglich wichtiger Grundrechte wie Berufsfreiheit, Eigentum und rechtsstaatlicher Prinzipien wie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entwickelt, die er gemeinsamen europäischen Verfassungsüberzeugungen und -traditionen entlehnt hat. Eine Bestätigung und Erweiterung dieser Grundrechtsverbürgungen wurde durch die am 7. 12. 2000 proklamierte EU-Grundrechtecharta bewirkt, die neben den klassischen liberalen Grundrechten einen umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte enthält. Diese haben durch den Lissabonner Reformvertrag vom 13. 12. 2007 unmittelbare Rechtsverbindlichkeit erlangt und dürften von großer Tragweite für die EuGHRechtsprechung und die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU sein. Sie bedürfen bezüglich ihres Gewährleistungsumfangs allerdings weiterer rechtlicher Konkretisierung durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung der Union.235 Grundsätzliche Auslegungsprobleme bereitet die Garantie wirtschaftlicher und sozialer Rechte, soweit sie über die Schutzgewähr der liberalen Freiheits- und Gleichheitsrechte hinausreichen. Als Abwehr- und daraus abzuleitende Schutzrechte unterliegen sie den gleichen Voraussetzungen und Grenzen wie die sonstigen liberalen Grundrechte und konnten dementsprechend gemäß den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den Kompetenzermächtigungen der EU in die Grundrechtecharta aufgenommen werden. Beispiele dafür sind etwa die Berufsfreiheit mit dem Recht auf freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte sowie auf freie Berufsausübung, die Koalitionsfreiheit einschließlich Tarifautonomie, das Recht auf Schutz vor Lebens- und Gesundheitsgefährdungen oder Diskriminierungsverbote beim Zugang zu öffentlichen Leistungen. Grundrechtsexegetische und -politische Schwierigkeiten treten auf bei darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Rechten, die nicht einen vorhandenen Bestand an Rechtspositionen des einzelnen bewahren, sondern diesem als Teilhaberechte bestimmte Güter und Leistungen bereitstellen sollen, wie z. B. ein Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheit, Wohnung und soziale Sicherheit. Da derartige Güter und Leistungen begrenzt und – wenn überhaupt – nur durch Umverteilung zwischen anderen Grundrechtsträgern oder sonstige Grundrechtseingriffe zu Lasten Dritter zu verschaffen sind, treten insoweit fundamental andere Zielkonflikte und Gewährleistungsprobleme als bei den liberalen Grundrechten auf. Insoweit läßt sich den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung und Transformation der Grundrechtecharta in nationales Recht ein gemeinsamer Grundkonsens entnehmen bezüglich der Grundprinzipien der Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit sowie auch der Sozialstaatlichkeit, Solidarität und Sozialen Sicherung, die zum Teil
235
Zur Europäischen Grundrechtecharta und Sozialen Grundrechten s. Pitschas, VSSR 2000, 207; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten 2005; Everling, in: Söllner/ Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für M. Heinze, 2005, S. 157 ff.; Knöll, NVwZ 2001, 392 ff.; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 ff.; Bernsdorff, VSSR 2001, 1 ff.; Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 25 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
den Gesundheitsschutz und die Gesundheitsversorgung ausdrücklich einschließen.236 In jedem Fall dürfte die Ausweitung des Grundrechtskatalogs über den Grundrechtsbestand des Grundgesetzes hinaus nicht unerhebliche Auswirkungen auch auf die deutsche Rechtsordnung haben. So ist gerade der Gleichheitsgrundsatz (Art. 21 GR-Charta) gegenüber der deutschen Verfassungstradition durch das Diskriminierungsverbot wegen sozialer Herkunft, genetischer Merkmale, politischer Anschauungen, Vermögen oder sexueller Ausrichtung wesentlich ausgeweitet. Die Betonung der Rechte von Kindern (Art. 24 GR-Charta), älterer Menschen (Art. 25 GR-Charta) und Menschen mit Behinderung (Art. 26 GR-Charta) hebt die soziale Gleichheit hervor und ist damit Impulsgeber für europäische Sozialpolitik.237 b) Soziale Grundrechte zwischen Handlungszielen und subjektiver Verbürgung Im Kapitel IV über die Solidarität statuiert die Grundrechtecharta soziale Grundrechte, die in dieser Form dem Grundgesetz fremd sind. Neben arbeitsrechtlichen Bestimmungen bezüglich Arbeitnehmerrechten auf Unterrichtung und Anhörung, Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, gerechten und angemessenen Arbeitsbedingungen oder dem Verbot der Kinderarbeit finden sich zum Teil neue Grundrechte mit sozialrechtlichem Gehalt wie das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29 GR-Charta), auf bezahlten Mutterschafts- und Elternurlaub (Art. 33 Abs. 2 GR-Charta) oder Wohnungsbeihilfe (Art. 34 GR-Charta). Durch welche Instrumente und welchen Umfang wirtschaftliche und soziale Leistungen mit Umverteilungseffekten ausgestattet werden können, berührt Grundfragen des nationalen und soziokulturellen Selbstverständnisses sowie der politischen Willensbildung der Mitgliedstaaten, soweit sie durch konkrete, unmittelbar vor Gericht einklagbare Grundrechte nicht nur in elementarer Beziehung, etwa zur Sicherung des Existenzminimums „subjektiviert“ werden können und im übrigen lediglich Zielvorgaben für die hierzu demokratisch legitimierten Organe, insbesondere den Gesetzgeber, darstellen. Die Aufnahme wirtschaftlicher und sozialer 236
s. z. B. die Verfassungen Belgiens (Art. 23), Dänemarks (Art. 74 f.), Estlands (Art. 19), Finnlands (Art. 28), Frankreichs (Präambel und Art. 1, 3, 4, 39, 47), Griechenlands (Art. 21), Irlands (Art. 45), Italiens (Art. 2, 3, 32, 38), Luxemburgs (Art. 11), Lettlands (Art. 111, 109), Litauens (Art. 49, 52, 53), Maltas (Art. 11 – 17), der Niederlande (Art. 20 – 23), Polens (Art. 30, 66 – 68), Portugals (Art. 9, 64 – 66), Schwedens (Art. 2), der Slowakei (Art. 35 ff., 40), Sloweniens (Art. 2, 49 ff.), Spaniens (Art. 39 ff., 43 – 47), Tschechiens (Art. 26 ff., 29, 30 der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten), Ungarns (Art. 70d, e), Zyperns (Art. 9). 237 s. dazu Nußberger, in: Tettinger/Stern, Art. 34, Rn. 8, 10, 52, 64 ff.; Herdegen, S. 160 sieht in der Grundrechtecharta unabhängig vom aktuellen Grad ihrer Rechtsverbindlichkeit insbes. eine „Inspirationsquelle“ für den EuGH bei der Rechtskontrolle der Unionsorgane und bei der Fortentwicklung des Unionsrechts.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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Rechte in eine Europäische Grundrechtecharta erfordert somit erhebliche und subtile Differenzierungen, die nicht nur den Schutzbereich der Rechte, sondern auch deren Schranken einbeziehen müssen, insbesondere sofern es sich um Rechte handelt, die in der deutschen Verfassungstradition subjektiv-öffentlichen Rechten entsprechen und nicht nur Handlungsziele der EU begründen. Anderenfalls besteht die Gefahr einer Kompetenzausweitung der EU im Gewande grundrechtlich verbrämter Handlungsoptionen. Zudem könnte die Denaturierung von Grundrechten zum Wunschkatalog unerfüllbarer Versprechungen das Vertrauen der Unionsbürger in die europäische Rechtsordnung enttäuschen und der europäischen Integration mehr schaden als nützen.238 Der Anwendungsbereich der Charta beschränkt sich auf die Organe und Einrichtungen der Union sowie auf die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 GR-Charta), wobei zur Verdeutlichung, daß die Charta zu keiner Kompetenzausdehnung führen soll, zusätzlich hervorgehoben wird, daß sie die Zuständigkeiten und Aufgaben der Union weder erweitert noch verändert (Art. 51 Abs. 2 GR-Charta). Ausdrücklich begrenzt ist die Grundrechtecharta auf eine Bindung der Union und der Mitgliedstaaten unter Ausschluß einer sog. Drittwirkung von Grundrechten, die damit keine Geltungswirkung im Verhältnis unmittelbar zwischen Privatpersonen entfalten und stets der Vermittlung durch das Recht der Union oder der Mitgliedstaaten im jeweiligen Zuständigkeitsbereich bedürfen.239 Der Verbindlichkeits- und Konkretisierungsgrad der Grundrechtsbestimmungen ist unterschiedlich. So kommt ein unmittelbarer Geltungsanspruch in manchen Einzelbestimmungen der Charta nach Ziel und Umfang deutlich zum Ausdruck, etwa bei den Verboten des reproduktiven Klonens von Menschen (Art. 3 Abs. 2 GR-Charta), während beim Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (Art. 31 Abs. 1 GR-Charta) oder dem Recht auf ärztliche Versorgung (Art. 35 GR-Charta) ein möglicher oder erforderlicher Konkretisierungsspielraum für die Rechtsetzung offen und unklar bleibt. Berechtigt aus der Grundrechtecharta sind grundsätzlich alle natürlichen Personen, wobei zwischen Rechten differenziert wird, die auf Unionsbürger beschränkt sind (z. B. das Wahlrecht zum Europäischen Parlament – Art. 39 Abs. 1 GR-Charta, das Recht auf Freizügigkeit – Art. 45 Abs. 1 GR-Charta und die Marktfreiheiten – Art. 15 GR-Charta), und solchen mit universellem Geltungsanspruch. Zur Gewährleistung der klassisch-liberalen Freiheits-, Gleichheits- und Verfahrensrechte lehnt sich die Charta – auch in ihrem Wortlaut – eng an die für alle Mitgliedstaaten verbindliche Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) an, um einen möglichst einheitlichen Grundrechtsschutz in Europa sicherzustellen. 238
Darauf weist Magiera, DÖV 2000, 1020 ff. hin. Die Unionsgrundrechte steuern auch die Auslegung von Vorschriften des sekundären Unionsrechts und verpflichten die Mitgliedstaaten zu einer grundrechtskonformen Umsetzung von Richtlinien. s. Herdegen, S. 162. Zum Innovationspotential sozialer Grundrechte in der EU s. Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 25, 47. 239
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Hinzu kommen im Anschluß an entsprechende Europarats-Konventionen neuere Grundrechte im Bereich der Biomedizin (Art. 3 Abs. 2 GR-Charta) und zum Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GR-Charta).
2. Umfang und Grenzen europarechtlicher Grundrechtsansprüche auf Gesundheitsversorgung a) Spezifische Grundrechtsrelevanz des Zugangs zu Gesundheitsleistungen Von besonderer Bedeutung für das Gesundheitswesen sind die Art. 34 und 35 der GR-Charta, die den Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten garantieren, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall oder Pflegebedürftigkeit Schutz gewähren. Der Anspruchsumfang richtet sich nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten (Art. 34 Abs. 1 GR-Charta). Diese zurückhaltende Formulierung spricht von ihrem Wortlaut eher für eine Einordnung als rechtlicher Grundsatz und weniger für ein Grundrecht.240 Dennoch ergibt sich aus ihr eine umfassende Verpflichtung für die Union, Leistungen der sozialen Sicherheit zu respektieren, die bei der Verwirklichung von sozialen Risiken Schutz gewährleisten und durch die Mitgliedstaaten ausgestaltet werden.241 Dasselbe gilt für das nach Art. 34 Abs. 3 GRCharta von der Union anzuerkennende und zu achtende Recht auf soziale Unterstützung, das allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen soll. Einklagbare soziale Leistungsansprüche des einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten werden durch die Regelungen in Art. 34 Abs. 1 und 3 GR-Charta zwar nicht geschaffen.242 Dennoch soll sich der einzelne zukünftig auf das aus der Achtungsverpflichtung resultierende Abwehrrecht insbesondere gegenüber Leistungsausschlüssen oder -benachteiligungen unmittelbar vor Gericht berufen können.243 Art. 34 Abs. 2 GR-Charta beinhaltet demgegenüber einen echten subjektiven Rechtsanspruch des einzelnen auf Teilhabe an den mitgliedstaatlich gewährten Leistungen der sozialen Sicherheit sowie sozialen Vergünstigungen für solche Personen, die in der Union ihren rechtmäßigen Wohnsitz haben und ihren Aufenthalt 240 Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2005, S. 184; Schmittmann, Rechte und Grundsätze der Grundrechtecharta, 2007, S. 120; a.A. Bierweiler, Soziale Sicherheit als Grundrecht in der EU, 2007, S. 186. 241 Bierweiler, S. 264. 242 Bernsdorff, VSSR 2001, 1,17. 243 So im Ergebnis Bierweiler, S. 193; zur Funktionalisierung sozialer Grundrechte für die Ausgestaltung eines Europäischen Sozialmodells s. Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 47 f.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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rechtmäßig wechseln,244 und trägt damit dem Gedanken der Freizügigkeit Rechnung. Er ist einer Bestimmung der Europäischen Sozialcharta entlehnt und spiegelt die Grundsätze wider, welche sich bereits aus den Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zwischen den Mitgliedstaaten (VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/2004) sowie zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer ((EWG) Nr. 1612/68) ergeben. Ein Anspruch des einzelnen auf die Einführung neuer Leistungen der sozialen Sicherheit resultiert aus dieser Vorschrift nicht.245 Zur Klarstellung wird auch der Regelungsgehalt des Art. 34 Abs. 2 GR-Charta zudem ausdrücklich unter den Vorbehalt der Bestimmungen des Unionsrechts sowie der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gestellt. Dieser Maßgabevorbehalt gilt in gleicher Weise für das Grundrecht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Art. 35 GR-Charta, der bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der EU ein hohes Gesundheitsschutzniveau postuliert. Auch wenn noch nicht abzusehen ist, wie nachhaltig sich der Konkretionsgehalt und Subjektivierungsgrad dieser grundrechtlichen Bestimmungen insbesondere in der EuGH-Rechtsprechung manifestieren wird, deuten sich angesichts des in der Grundrechtecharta formulierten universellen Zugangsanspruchs zu den Einrichtungen der Sozialversicherung und den medizinischen Diensten im Kontext einer am Leitbild der Chancen- und Zugangsgleichheit und Solidarität orientierten sozialpolitischen Agenda der EU neue Konfliktpotentiale zwischen nationalem und Gemeinschaftssozialrecht an.246 b) Grundrechtsschranken und mitgliedstaatliche Regelungsvorbehalte Insgesamt spiegeln sich in diesen und den sozialen Teilhabeformulierungen die Schwierigkeiten wider, die mit einer Gewährleistung wirtschaftlicher und sozialer Rechte allgemein verbunden sind. Die Unklarheiten, ob es sich um vor Gericht unmittelbar einklagbare subjektive Rechte oder lediglich um allgemeine Verfassungspostulate und Leitlinien für die politischen Organe handeln soll, wurden dadurch verstärkt, daß in zahlreichen Bestimmungen (Art. 27, 28, 30, 34, 35 und 36 GR-Charta) zur näheren Qualifizierung auf das Unionsrecht und/oder die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird. Mit dem Bezug auf das Recht und die Praxis der Mitgliedstaaten, der sich auch im Kapitel über „Freiheiten“ findet (Art. 9, 10 Abs. 2, 14 Abs. 3, 16 GR-Charta), relativiert die Charta den einheitlichen Grundrechtsschutz auf Unionsebene. Dies gilt auch für die 244 Soziale Vergünstigungen sind dabei in einem engeren Sinne als diejenigen der sozialen Sicherheit zu verstehen. Sie erfassen maßgeblich Leistungen der Sozialhilfe und sonstige vom allgemeinen Steueraufkommen finanzierte Vorteile und fürsorgeähnliche Leistungen. s. dazu eingehend Bierweiler, S. 151. 245 Bierweiler, S. 201; Schnell/Wesenberg, DRV 2008, 275, 286. 246 s. dazu Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 44 ff.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
Schrankenziehung, die zur Ergänzung des Schutzbereichs erforderlich ist, um die Grundrechtsgewährleistung feststellen zu können. Bis auf wenige spezifische Begrenzungen in Einzelbestimmungen (z. B. Art. 8, 14 Abs. 3, 17 Abs. 1, 23 GR-Charta) stehen die Grundrechte der Charta unter einem allgemeinen Vorbehalt, der bei Achtung ihres Wesensgehalts Einschränkungen aufgrund Gesetzes und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zuläßt, wenn es legitime Gemeinwohlinteressen oder Rechte Anderer erfordern (Art. 52 Abs. 1 GR-Charta). Darüber hinaus unterliegen die im Unionsvertrag begründeten Grundrechte den dortigen Bedingungen und Schranken (Art. 52 Abs. 2 GR-Charta). Ferner haben die der EMRK entsprechenden Grundrechte die den diesbezüglichen Rechten zukommende Bedeutung und Tragweite, also auch Begrenzung, soweit die Charta keinen höheren Standard vorsieht (Art. 52 Abs. 2 GR-Charta). Schließlich darf kein Grundrecht in der Charta so ausgelegt werden, daß das im Unions- und im Völkerrecht sowie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verbindlich anerkannte Schutzniveau unterschritten wird (Art. 53 GR-Charta). Gegenüber dieser detaillierten und dennoch undifferenzierten Art der Schrankenbestimmung durch die Charta wird vielfach eingewandt, daß sie nicht auf die unterschiedlichen Erfordernisse der einzelnen Grundrechte zugeschnitten ist und zudem nicht über den bisherigen Rechtszustand, der im Rahmen des gerichtlichen Grundrechtsschutzes erreicht worden ist, hinausgelange, vor allem nicht für die erforderliche Systematisierung und damit Rechtsklarheit und Rechtssicherheit sorge. Diese Kritik mag zum Teil auch durch gewisse Unterschiede in den Verfassungstraditionen der nationalen Rechtsordnungen bedingt sein, die weniger substanziell als rechtsmethodisch von einem anderen Grundrechtsverständnis geprägt sind.247 Ob die Grundrechtecharta, die der Reformvertrag von Lissabon zum integralen Bestandteil einer EU-Grundordnung macht (Art. 6 EUV), ihr Hauptziel, den Grundrechtsschutz auf Unionsebene für die Bürger transparent und aus sich heraus verständlich zu machen, erreichen kann, hängt nicht zuletzt auch von dem Grad ihrer Rechtsverbindlichkeit im künftigen europäischen Unionsgefüge und ihrer Auslegung durch den EuGH ab.
3. Die unionsrechtlichen Grundfreiheiten in ihren Auswirkungen auf das Gesundheitswesen Sowohl dem Vertragsrecht der bisherigen Europäischen Gemeinschaften, dem Primärrecht der Union, als auch den Richtlinien und Verordnungen, die dieses als Sekundärrecht konkretisieren, kommt bei der Harmonisierung und Koordinierung des Sozialrechts als der unionsrechtlichen Basis große Bedeutung für die transna247 s. dazu Magiera, DÖV 2000, 1020 ff.; Pitschas, VSSR 2000, 207; zu sozialen Grundrechten als „Grundrechten anderer Art und Güte“ und ihrer Rechtsnatur in der Grundrechtecharta s. Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 29 ff., 47 ff.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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tionale Erbringung und Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen zu. So sind insbesondere die Koordinierungsregeln der von der Freizügigkeit Gebrauch machenden Arbeitnehmer und Selbständigen für das nationale Sozialrecht prägend geworden (VO (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72). Diese wurden durch die VO (EG) Nr. 838/2004 weiterentwickelt, die nach der Verabschiedung der Durchführungsbestimmungen (VO EG Nr. 987/2009) zum 1. 5. 2010 in Kraft getreten ist und die unionsweite Freizügigkeit sicherstellt, indem sie vor allem den Wanderarbeitnehmern, aber auch Selbständigen und deren anspruchsberechtigten Angehörigen die Anrechnung der in den Mitgliedstaaten zurückgelegten versicherungsrelevanten Zeiten sowie die Zahlung und Erbringung der Leistungen bei Aufenthalt außerhalb des zuständigen Mitgliedstaats gewährleistet.248 a) Die sozialen Implikationen der Unionsbürgerschaft, der Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit Die Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) beinhaltet nach Art. 21 AEUV (exArt.18 EGV) das Recht, in jeden beliebigen Mitgliedstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten oder niederzulassen, eine wirtschaftliche Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger auszuüben und seinen Wohnsitz zu nehmen, ohne eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Ungeachtet ihrer Nationalität haben Familienangehörige eines EU-Bürgers das Recht, mit ihm einzureisen und sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten. Die freie Mobilität der Unionsbürger wird damit von einer spezifisch wirtschaftlichen Zwecksetzung abgekoppelt, wie sie der Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit bzw. Dienstleistungsfreiheit zugrundeliegt. Das Freizügigkeitsrecht gilt unmittelbar, erfordert also keine weiteren Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten. Allerdings gilt die Gewährleistung der allgemeinen Freizügigkeit nur „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ (Art. 21 AEUV, ex-Art.18 Abs. 1 EGV).249 Dieser Regelungsvorbehalt bezieht sich insbesondere auf Vorschriften des Sekundärrechts, welche es den Mitgliedstaaten erlauben, das Aufenthaltsrecht von EU-Angehörigen von ausreichenden Existenzmitteln und einer Krankenversiche-
248
s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 63 ff. Zur Unionsbürgerschaft als universeller aus der europäischen „Rechtsgemeinschaft“ folgenden Freizügigkeitsgarantie s. Herdegen, S. 242 f.; Scheuing, EuR 2003, 744; zur sozialrechtlichen Bedeutung der Unionsbürgerschaft s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 195 f.; Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 39 ff.; Borchardt, NJW 2000, 2057 ff.; Beschorner/ Jäger, ZFSH/SGB 3/2010, 146 ff. unter Hinweis auf das EuGH-Urt. v. 23. 4. 2009 – Rs. Rüffner (C-544/07), in dem der EuGH die unterschiedliche Behandlung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen bei Inländern und EU-Ausländern als EU-rechtswidrige Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit betrachtete und dieses freizügigkeitsakzessorische Diskriminierungsverbot unmittelbar aus Art. 21 AEUV (ex-Art. 18 EGV) ableitete. 249
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
rung bei Aufenthaltsbegründung abhängig zu machen.250 Der EuGH folgert aus der Unionsbürgerschaft zunehmend ein generelles sozialrechtliches Benachteiligungsverbot von EU-Ausländern, das er zunehmend nicht mehr aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 48 EUV (ex-Art. 12 EGV), sondern unmittelbar aus Art. 21 AEUV (ex-Art. 18 EGV) herleitet.251 In der inzwischen in nationales Recht umgesetzten RL 2004/38/EG über das Recht der EU-Bürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wird das Unionsbürgerrecht der Freizügigkeit bezüglich seiner Bedingungen und Verwaltungsformalitäten gegenüber früheren EG-Verordnungen vereinfacht, indem u. a. für einen Aufenthalt von weniger als drei Monaten der Besitz eines gültigen Identitätspapiers ausreicht. Für einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten wird das Erfordernis einer Aufenthaltskarte für Unionsbürger aufgehoben und durch die Eintragung in das Bevölkerungsregister des Wohnortes ersetzt. Hierzu müssen EU-Bürger entweder einen Arbeitsvertrag vorlegen oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben bzw. über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Nach fünf Jahren ununterbrochenen Aufenthalts wird EU-Bürgern ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verliehen. Neben der allgemeinen Freizügigkeit für Unionsbürger, die von einer wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig ist, stehen die speziellen unionsrechtlichen Freiheiten des Personenverkehrs. Zu diesen gehören die Freizügigkeit für Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit der Selbständigen für den unternehmerischen Bereich. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zielt auf die Mobilität der unselbständig Tätigen sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Perspektive. Ihre Rechtsgrundlagen finden sich in Art. 45 ff. AEUV (ex-Art. 39 ff. EGV) sowie dem gemäß Art. 48 AEUV (ex-Art. 42 EGV) erlassenen Sekundärrecht. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 45 ff. (ex-Art. 39 ff. EGV) umfaßt alle Personen, die 250
s. dazu Art. 14 der RL 2004/38/EG. Gemäß der EuGH-Rechtsprechung (Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193) kann auf den Nachweis ausreichender Existenzmittel nur bei Aufenthaltsbegründung, nicht aber während des gesamten Aufenthaltes abgestellt werden. Demnach darf ein Mitgliedstaat die Gewährung einer beitragsunabhängigen existenzsichernden Sozialleistung an Angehörige anderer Mitgliedstaaten und deren Aufenthaltsrecht nicht davon abhängig machen, daß sie Arbeitnehmer sind, während für die eigenen Staatsangehörigen diese Voraussetzung nicht gilt. Kritisch hierzu Hailbronner, NJW 2004, 2185; Nußberger, in: Sozialrecht in Europa, S. 39. 251 Dies gilt neben Leistungen des Erziehungsgeldes (Rs C-85/96, Slg. 1998, I-2691), der Sozialhilfe (Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193) und für Arbeitslosengeld und -förderungsmaßnahmen (Rs. C-138/02, Slg. 2004, I-7573; Rs. C-326/00, Slg. 2004, I-2703; Rs. C-326/00, Slg. 2003, I-1703) auch für Krankenversicherungsansprüche (Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091) oder Studienbeihilfen (Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-02119). Zur Ausweitung des freizügigkeitsakzessorischen Diskriminierungsverbots durch die EuGH-Rechtsprechung auf sozial- und steuerrechtliche Tatbestände in Richtung vollständiger Inländergleichbehandlung von Unionsbürgern s. Beschorner/Jäger, ZFSH/SGB 3/2010, 146 ff.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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eine abhängige Tätigkeit ausüben und in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis stehen.252 Im Interesse einer größtmöglichen Ausdehnung der Mobilitätsgarantie versteht der EuGH den Arbeitnehmerbegriff in einem sehr weiten Sinne und schließt Teilzeitarbeit mit ein. Art. 45 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 39 Abs. 2 EGV) verbürgt den Grundsatz der individuellen Gleichbehandlung und begründet dadurch ein Diskriminierungsverbot im Hinblick nicht nur auf unmittelbare, sondern auch mittelbare Diskriminierungen, die an mit der Staatsangehörigkeit zusammenhängende Tatbestandsmerkmale wie Herkunfts- oder Wohnort anknüpfen. Der Standard der Inländergleichbehandlung wird flankiert von den Rechten des Art. 45 Abs. 3 AEUV (exArt. 39 Abs. 3 EGV), der die Einreise, den Aufenthalt, das Bleiberecht sowie den Zugang zum Arbeitsmarkt gemäß den für Inländer geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften betrifft. Den zu- und abwandernden Arbeitnehmern sowie deren Angehörigen wird die Sicherstellung der Ansprüche und Leistungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gewährleistet. Der Reformvertrag von Lissabon bezieht auch die Selbständigen in die Freizügigkeitsregelung ein und erleichtert die Dienstleistungsmobilität der Freien Heilberufe, deren obligatorische Versorgungssysteme bei der Niederlassung oder der vorübergehenden Dienstleistungserbringung anerkannt werden (Art. 48 AEUV). Die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV, ex-Art. 43 ff. EGV) betrifft die Freizügigkeit der unternehmerisch tätigen Selbständigen und der Standortwahl der Unternehmen. Sie bildet auch die unionsrechtliche Basis für dauerhafte selbständige Tätigkeit in freiberuflicher oder gewerblicher Form im EU-Ausland. Der EuGH versteht den Begriff der „Niederlassung“ in einem weiten Sinne und grenzt ihn von der Dienstleistungsfreiheit durch das Merkmal der Kontinuität ab, indem er auf die Verschaffung der Möglichkeit abstellt, „in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaates teilzunehmen“.253 Geschützt sind nach Art. 49 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 43 Abs. 2 EGV) die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den für Inländer geltenden Bestimmungen des Aufnahmestaates, so daß insbesondere Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften gegründet werden können. Ähnlich wie bei den anderen Freiheiten des Personenverkehrs dürfen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit keinen diskriminierenden Charakter haben, sondern müssen aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt, zur Verwirklichung des verfolgten Zieles geeignet und hierfür erforderlich sein. Ein solcher legitimer Beschränkungszweck kann insbesondere der Gesundheitsschutz der Bevölkerung sein, wie der EuGH in seinen Urteilen zum Fremd- und Mehrbesitzverbot des deutschen und italienischen Apothekenrechts entschieden hat254, in denen er u. a. die Regelungen 252
Zur Arbeitnehmer-Freizügigkeit s. Herdegen, S. 280 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 68 ff. unter Hinweis auf die einschlägige EuGH-Rechtsprechung. 253 EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165. 254 Rs. C-171/07 und C-172/07, Slg. 2008, I-0000. Im gleichen Sinne der Priorität einer „sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung“ hat der EuGH
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des deutschen Apothekengesetzes, das den Betrieb von Apotheken ausschließlich approbierten Apothekern (Fremdbesitzverbot) und einer beschränkten Betriebsanzahl (Mehrbesitzverbot) vorbehält, im Hinblick auf die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung für zulässig erklärt. Auch wenn diese Regelungen die Niederlassungs- und Kapitalfreiheiten des Binnenmarktes einschränkten, seien nationale Bestimmungen, die der Arzneimittelsicherheit mittels Vorbeugung gegen durch Arzneimittelmißbrauch verursachte Gesundheitsschäden und Verschwendung öffentlicher Finanzen dienen, gerechtfertigt, wobei den Mitgliedstaaten eine weitgehende Einschätzungsprärogative bezüglich der Bewertung von Gesundheitsgefahren und geeigneten gesetzlichen Vorkehrungen eingeräumt wird. Art. 50 AEUV (ex-Art. 44 EGV) sieht den Erlaß von Vorschriften zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit vor. Dazu gehören z. B. Regelungen zur Harmonisierung des Gesellschaftsrechts (Art. 50 Abs. 2 g AEUV, ex-Art. 44 Abs. 2 g EGV) oder Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen (Art. 53 AEUV, ex-Art. 47 Abs. 1 EGV).255 Für die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten erläßt die EU Harmonisierungsrichtlinien, die auf Art. 53 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 47 Abs. 2 EGV) beruhen. So bestanden schon seit den sechziger Jahren sektorale Richtlinien für die Tätigkeit von Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und anderen Heilberufen sowie von Architekten und Ingenieuren. Unabhängig von berufsspezifischer Koordinierung gab es eine Allgemeine Hochschuldiplom-Richtlinie, die ebenso wie die sektoralen Richtlinien durch die neue Berufsqualifikations-Richtlinie abgelöst wurde.256 Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 57 AEUV, ex-Art. 50 EGV) bezieht sich auf Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, insbesondere transnationale Dienstleistungen gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher oder freiberuflicher Art. Für die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ist der vorübergehende Charakter der Dienstleistung entscheidend. Dabei kommt es auf die Dauer, Häufigkeit, Regelmäßigkeit und Kontinuität der erbrachten Leistungen an. Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit ist zum einen ein grenzüberschreitendes Element, zum anderen das Merkmal der Entgeltlichkeit. Wesensmerkmal des Entgelts besteht darin, daß es die Gegenleistung für die betreffende Leistung ist. Für selbständige Dienstleistungen bedeutet dieses synallagmatische, auf Leistungsaustausch gerichtete Kriterium, daß nur geldwerter Leistungsaustausch betroffen ist, ohne daß notwendigerweise der begünstigte Leistungsempfänger selbst der Zahlungsleistende sein muß. Anwendungsfälle der Dienstleistungsfreiheit sind die aktive Dienstleistungsfreiheit bei Erbringung der spanische Zulassungsbeschränkungen für Apotheken in Relation zur Bevölkerungszahl für zulässig erklärt, sofern sie verhältnismäßig ausgestaltet sind (Urt. v. 1. 6. 2010, Rs. C-570/07 und C-571/07). 255 s. dazu Herdegen, S. 289 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 50, 67, 70. 256 RL 2005/36/EG; s. zur Berufsqualifikations-Richtlinie Henssler, EuZW 2003, 229; Mann, EuZW 2004, 615; Hellwig, NJW 2005, 1217; Lemor, EuZW 2007, 135.
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Leistung in einem anderen Mitgliedstaat, die passive Dienstleistungsfreiheit bei Entgegennahme der Leistung durch den Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat oder die Grenzüberschreitung nur durch die Dienstleistung selbst, wie z. B. beim eCommerce. Die Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit impliziert über den Grundsatz der Gleichbehandlung mit Inländern hinaus ein sämtliche Formen temporärer Dienstleistungserbringung durch EU-Ausländer umfassendes Beschränkungsverbot, das Ausnahmen nur zuläßt, wenn sie einem unionskonformen Allgemeinbelang dienen, diskriminierungsfrei vorgenommen werden und verhältnismäßig, d. h. geeignet und erforderlich sind.257 Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihrer Befugnisse auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit das Unionsrecht einschließlich der einschlägigen Grundfreiheiten beachten. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt es bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit, also bei der Grenzüberschreitung durch den Leistungserbringer oder der unmittelbaren transnationalen Dienstleistungserbringung eine Rolle, ob im Ausgangsstaat zur Sicherung des zu gewährleistenden Allgemeinbelangs bereits ausreichende Standards bestehen. Zu den Belangen, die Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen vermögen, gehört nach der EuGH-Rechtsprechung insbesondere der Schutz des Verbrauchers, der Sozialordnung oder des Arbeitnehmers. b) Die Warenverkehrsfreiheit für gesundheitsrelevante Produkte Die Freiheit des Warenverkehrs (Art. 34 ff. AEUV, ex-Art. 28 ff. EGV), die auch für gesundheitsrelevante Produkte von Bedeutung ist, ist von der EuGH-Rechtsprechung konsequent zur Verwirklichung des Binnenmarktes gegen nationale Handelshemmnisse durchgesetzt worden. Einschränkungen sind nur aus den von Art. 36 AEUV (ex-Art. 30 EGV) vorgesehenen Gründen, u. a. des Gesundheitsschutzes, zulässig und müssen diskriminierungsfrei sein. Der freie Warenverkehr ist für den Gesundheitsmarkt, insbesondere für die Beschaffung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln oder Zahnersatz im EU-Ausland von großer Bedeutung. Die Erstellung einer Negativliste, d. h. eines Kataloges von Medikamenten, die nicht abgegeben werden dürfen, stellt nur dann keinen Verstoß gegen den freien Warenverkehr dar, wenn keine Diskriminierung der Erzeugnisse nach ihrer Herkunft vorliegt. Die Auswahl der auszuschließenden Arzneimittel muß auf objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhen.258 Auch bei der gegenseitigen Anerkennung von Arzneimittelgenehmigungen darf ein Mitgliedstaat eine in einem anderen EU-Staat erteilte Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimit257 Zu Geltungsbereich und Voraussetzungen der Dienstleistungsfreiheit s. Herdegen, S. 297 ff. 258 Rs. C-238/82, Slg. 1984, 523.
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1. Kap.: Der Rahmen europäischer Gesundheits- und Sozialpolitik
tels nur dann ablehnen, wenn nachweisbar Anlaß zu der Annahme besteht, daß die Genehmigung eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen kann.259 In der Rechtssache Doc Morris260 entschied der EuGH, daß das Verbot des Internet-Versandhandels mit Arzneimitteln, wie es im deutschen Arzneimittelrecht (§ 43 Abs. 1 AMG) verankert war, einen Verstoß gegen Art. 34 AEUV (ex-Art. 28 EGV) darstellt. Damit ist klargestellt, daß der grenzüberschreitende Arzneimittelversand für im Einfuhrstaat zugelassene Arzneimittel unter die Warenverkehrsfreiheit fällt, was erhebliche Konsequenzen für die Stellung EU-ausländischer Apotheken im System der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung hat.261 In der Rechtssache Decker stellte der EuGH einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 und 36 AEUV, ex-Art. 28 und 30 EGV) durch eine luxemburgische Regelung fest, aufgrund deren eine luxemburgische Krankenkasse einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hatte, mit der Begründung versagt hatte, daß der Erwerb medizinischer Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigung der Krankenkasse des Versicherten bedürfe.262 Im Interesse eines effektiven Schutzes der Grundfreiheiten brachte der EuGH zum Ausdruck, daß diese auch bei nationalen Maßnahmen zu wahren sind, welche nicht in die Zuständigkeit der Union fallen263, so daß die Grundfreiheiten insoweit Rechtswirkungen für das nationale Sozialrecht der Mitgliedstaaten entfalten. Eine Rechtfertigung der Beschränkungen der Grundfreiheiten verneinte der EuGH aufgrund einer Prüfung insbesondere der Einschlägigkeit des Gesundheitsschutzes (Art. 36 AEUV, ex-Art. 30 EGV) in Bezug auf die Gewährleistung der Qualität von in anderen Mitgliedstaaten gelieferten medizinischen Erzeugnissen bzw. erbrachten ärztlichen Leistungen, wobei sich das Gericht auf Koordinierungs- bzw. Harmonisierungsrichtlinien berief.264 Einschränkungen der Grundfreiheiten zugunsten der Erhaltung von Umfang und Niveau der medizinischen Versorgung durch die Mitgliedstaaten stehen unter dem Vorbehalt der Erforderlichkeit, insbesondere der Auswirkungen auf die Finanzierung des Systems der Sozialen Sicherheit als einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses für die Beschränkung der Grundfreiheiten.265
259
Rs. C-452/06, Slg. 2006, I-1806. Rs. 322/01, Slg. 2003, I-14887. 261 s. dazu Koenig, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für M. Heinze, 2005, S. 501 ff. 262 Rs. Decker C-120/95, Slg. 1998, I-831 ff. 263 s. dazu näher Sodan, in: Wenzel, Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2009, S. 1 ff., 30 f. 264 EuGH, Rs. C-158/96, Slg.1998, I-931. 265 s. dazu B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 232 ff. 260
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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4. Die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf die transnationale Gesundheitsversorgung a) Die Anwendung der Grundfreiheiten auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen Seit den grundlegenden EuGH-Entscheidungen Ende der 90er Jahre betreffend die Kostenübernahme einer im EU-Ausland durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung, für den Erwerb einer Brille oder für eine Krankenhausbehandlung266 ist geklärt, daß Regelungen wie das territoriale Sachleistungsprinzip, das den EUBürger durch Genehmigungsvorbehalte faktisch daran hindert, ärztliche und zahnärztliche Dienstleistungen, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel oder Medizinprodukte in einem anderen EU-Staat frei in Anspruch zu nehmen, sowohl dessen Freizügigkeitsrechte als auch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit der selbständigen Leistungserbringer verletzt. Dieser Grundsatz gilt sowohl für die auf Kostenerstattungsbasis beruhenden wie die sachleistungsgeprägten Versorgungssysteme und zwar unabhängig davon, ob sie steuer- oder beitragsfinanziert sind.267 Damit bilden die Grundfreiheiten eine unmittelbare Anspruchsgrundlage für Kostenerstattungsansprüche bei grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme und -erbringung, die unabhängig von den sekundärrechtlichen Regelungen der VO 1408/71 bzw. 883/2004 besteht. Nach der EuGH-Rechtsprechung räumt das Unionsrecht dem Leistungsbezieher keinen Anspruch auf die Genehmigung einer Leistung ein, die im Leistungskatalog des zuständigen Trägers nicht enthalten ist. Allerdings kann die Genehmigung zur Auslandsbehandlung nur aufgrund objektiver internationaler Standards des allgemein anerkannten Stands der Wissenschaft verweigert werden, nicht jedoch mit Hinweis auf den Auslandsbezug der Leistung. Im übrigen hat der EuGH durch seine Grundsatzurteile zur Anwendung der EUrechtlichen Grundfreiheiten, insbesondere zur Freizügigkeits- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich Sozialer Sicherung, die Genehmigungsvorbehalte für Auslandsbehandlungen weitergehenden Einschränkungen vor allem im stationären Sektor im Hinblick auf Gefährdungen der Versorgungsqualität oder der Finanzierungsfähigkeit der Sozialen Sicherungssysteme unterworfen.
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Rs. C-158/96, Slg. 1998, I–1931; Rs. C-120/95, Slg. 1998, I–1831; Rs. Geraets-Smits ./. Peerbooms C-157/99, Slg. 2001, I-5473. 267 Dies hat der EuGH in der Rs. Müller-Faur ./. van Riet (C-385/99, Slg. 2003, I-4509) für eine zahnärztliche Behandlung von Niederländern in Deutschland bestätigt und in der Rs. Watts (C-372/94, Slg. 2006, I-4325) bezüglich der Wartelisten für Krankenhausbehandlungen im britischen NHS mit einem „Prüfungsschema“ verbunden, das sich statt einer am nationalen Gesundheitssystem ausgerichteten Betrachtung an einem richterrechtlich konzipierten europäischen Standard orientiert. Vgl. zuletzt auch Rs. Stamatelaki (C-444/05, NJW 2007, 1663 f.) sowie Schlegel, SGb 2007, 700, 705 f.
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Ausgangspunkt der ersten Entscheidung v. 28.4.1998268 war ein Rechtsstreit zwischen dem luxemburgischen Kläger Raymond Kohll und seiner Krankenkasse, die den Antrag auf Genehmigung einer kieferorthopädischen Behandlung für die minderjährige Tochter des Klägers in Deutschland ablehnte. Ausschlaggebend waren die fehlende Dringlichkeit der Behandlung und die Möglichkeit, diese auch in Luxemburg verwirklichen zu können. Daraufhin erhob Raymond Kohll Klage mit Verweis auf die Verletzung des freien Dienstleistungsverkehrs. Die Klage sowie die notwendig gewordene Berufung wurden von den zuständigen Gerichten in Luxemburg abgewiesen, was den Kläger dazu bewegte, Kassationsbeschwerde einzulegen, in der er unter anderem darauf hinwies, daß das angefochtene Urteil lediglich die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit der VO (EWG) Nr. 1408/71, nicht aber mit den gemeinschaftsrechtlichen Vertragsregelungen überprüft. Die Cour de Cassation setzte – feststellend, daß Fragen des Gemeinschaftsrechts tangiert waren – das Verfahren aus und legte es dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Zunächst stellte der EuGH fest, daß die Zuordnung der streitigen Regelung im luxemburgischen Recht zur sozialen Sicherheit nicht, so wie es einige Verfahrensbeteiligte forderten, die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ausschließt. Zwar läßt das Unionsrecht nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt, zwingt sie jedoch bei der Ausübung dieser Befugnis zur Beachtung seines Inhalts. Sodann ordnete der EuGH die Zahnbehandlung den Dienstleistungen im Sinne des EG-Vertrages zu, um anschließend zu erörtern, ob die nationale Regelung eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt und gegebenenfalls objektiv gerechtfertigt ist. Dazu trifft der EuGH folgende Feststellung: • Jede nationale Regelung, welche die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaates erschwert, verstößt gegen Art. 49 EGV (jetzt 56 AEUV). Das Erschwernis resultiert in diesem Fall aus der vorherigen Genehmigung. • Die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung, die in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats erbracht wurde, wirkt sich nicht wesentlich auf die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit aus. • Einwände, wonach die nationale Regelung die Qualität der ärztlichen Leistungen gewährleistet, lehnte der EuGH ab und verwies auf die Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung der Berufsabschlüsse, so daß die in den anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte im Hinblick auf den freien Dienstleistungsverkehr als genauso qualifiziert gelten müssen wie im Inland niedergelassene Mediziner. 268
Rs. Kohll C-158/96, Slg. 1998, I-1931.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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• Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit sind nicht gerechtfertigt. • Auch aus Gründen des Gesundheitsschutzes mit dem „… Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten …“, kann die streitige nationale Regelung nicht gerechtfertigt werden. Der Europäische Gerichtshof stellt abschließend fest: „Eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit abhängig macht, verstößt gegen die Art. 49 und 50 EGV“ (jetzt 56, 57 AEUV). Dem Fall Kohll ähnlich gestaltete sich der Sachverhalt in der Rechtssache Dekker269, in der nicht die Beschränkung des freien Dienstleistungs-, sondern des freien Warenverkehrs zur Disposition stand. Der Luxemburger Nicolas Decker stieß mit der an seine Krankenkasse gerichteten Forderung auf Erstattung der ihm durch den Kauf einer Brille in Belgien entstandenen Kosten auf Ablehnung, da er vor dem Kauf der Brille nicht die Genehmigung der zuständigen Caisse de maladie des employs privs eingeholt hatte. Daraufhin ging Decker den Instanzenweg, der ihn schließlich bis vor den EuGH führte, und machte die Verletzung der Warenverkehrsfreiheit durch den nationalen Genehmigungsvorbehalt geltend. Auf die vom luxemburgischen Conseil arbitral des assurances dem EuGH vorgelegte Frage zur Vorabentscheidung, in welchem Verhältnis die nationale luxemburgische Bestimmung zu den Art. 28 und 30 EGV (heute 34, 36 AEUV) steht, entschied der EuGH am 28. 4. 1998 wie schon in der Rechtssache Kohll zugunsten des Klägers und sah in der Norm des luxemburgischen Sozialversicherungsrechts eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung, die nicht mit den Grundsätzen des freien Warenverkehrs im Einklang stehe. Die vorher einzuholende Genehmigung stelle für den Kläger eine unzulässige, den freien Warenverkehr behindernde Maßnahme dar. Maßgebend für die Tendenz des EuGH, die Grundfreiheiten auch in dieser Entscheidung extensiv auszulegen, war die Überlegung, daß die Zuordnung der streitigen nationalen Regelung zum Bereich der sozialen Sicherung eine Ausnahme von der Anwendung des Art. 28 EGV (Art. 34 AEUV) nicht ausschließe und die Kosten nur nach Maßgabe der im Versicherungsstaat geltenden Leistungssätze erstattet würden, wobei die dort anfallenden Kosten keiner vorherigen Genehmigung unterlägen. Art. 22 der VO (EWG) Nr. 1408/71 hindere die Mitgliedstaaten nicht daran, auch ohne vorherige Genehmigung die Kosten für im Ausland erworbene medizinische Erzeugnisse zu den Sätzen zu erstatten, die im Versicherungsstaat gelten. Die Erstattung habe keine Auswirkungen auf das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherung. Zweifel an der rechtlichen Befugnis des belgischen Optikers zur Abgabe der Brillen durch eine allgemeine Regelung zur Anerkennung berufli-
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Rs. Decker C-120/95, Slg. 1998, I-1871.
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cher Befähigungsnachweise seien ausgeräumt, und dem Gesundheitsschutz werde durch die Verschreibung der Brille durch einen Augenarzt Rechnung getragen. Der EuGH widerspricht mit dieser Judikatur fundamental der bis dahin weitverbreiteten Auffassung, daß die Freizügigkeits- und Wettbewerbsregeln auf den Sozialsektor keine Anwendung finden, und stellt klar, daß die Systeme der sozialen Sicherheit keine unionsfreien Räume sind. Die beiden EuGH-Entscheidungen in den Rechtsachen Kohll und Decker spiegeln die wachsende Bedeutung der primärrechtlich verankerten Grundfreiheiten für das nationale Sozialrecht wider. Selbst die Berufung auf Art. 22 der dem sekundären Unionsrecht zuzuordnenden VO 1408/71, der eine vorherige Genehmigung des zuständigen Kostenträgers bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen verlangt, wird durch die vorrangige primärrechtliche Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs verdrängt und entfaltet keine Wirkung.270
b) Die Legitimation von Genehmigungsvorbehalten Während der EuGH in den Urteilen Kohll und Decker die Anwendung der Freizügigkeitsregelungen auf das im luxemburgischen Krankenversicherungsrecht geltende Kostenerstattungsprinzip im ambulanten Sektor und der Heil- und Hilfsmittelversorgung befürwortete, stand er bei den verbundenen Rechtssachen GeraetsSmits und Peerbooms271 vom 12. 7. 2001 vor der Entscheidung, die Grundfreiheiten auf die stationäre Versorgung und das Sachleistungssystem der Niederlande auszuweiten. In diesen Fällen wurde der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen, um über die Auslegung des EG-Vertrags vor dem Hintergrund zweier Rechtsstreitigkeiten zu urteilen, in denen es um die Erstattung von in Deutschland und Österreich entstandenen Krankenhauspflegekosten ging. Die Rechtssache Geraets-Smits betraf eine an der Parkinsonschen Krankheit leidende Niederländerin, die bei ihrer zuständigen Krankenkasse, der Stichting Ziekenfonds VGZ, die Erstattung für einen Krankenhausaufenthalt zur Behandlung ihres Leidens beantragte. Dies wurde ihr mit der Begründung, sie hätte sich auch in den Niederlanden behandeln lassen können, verweigert. Die Klägerin machte aber deutlich, daß durch die in Deutschland angewandten Behandlungsmethoden ihre Heilung deutlichere Fortschritte machen würde als in ihrem Heimatland und beschritt den weiteren Klageweg. In der Rechtssache Peerbooms wurde ein Niederländer im Anschluß an einen Verkehrsunfall, der ihn ins Koma versetzte, zunächst in ein niederländisches Krankenhaus eingeliefert. Zur Durchführung einer speziellen Therapie, die ihm in den Niederlanden vorenthalten war, wurde er dann in die Universitätsklinik nach Inns270
s. Kingreen, NJW 2001, 3382 ff.; Sodan, in: Wenzel /Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, Rnrn. 93 ff.; ders., ASR 2007, 152 ff., 154 ff.; Karl, in: Die neue EU-Verfassung und die Europäische Sozialpolitik, 2003, 91 ff. 271 Rs. Geraet-Smits/Peerbooms C. 157/99, Slg. 2001, I-5473.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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bruck verlegt. Die zuständige Krankenkasse Peerbooms lehnte die von seinem Neurologen beantragte Übernahme der angefallenen Behandlungskosten mit dem Hinweis ab, daß eine angemessene Behandlung auch in den Niederlanden bei einem Erbringer von Pflegeleistungen und/oder einer Einrichtung hätte vorgenommen werden können, mit der die Krankenkasse eine vertragliche Vereinbarung geschlossen hat. Im übrigen wurden die ablehnenden Bescheide nach Anhörung von Gutachtern mit dem Argument unterlegt, daß die in Innsbruck erfolgte Behandlung nicht wissenschaftlich gestützt und in ärztlichen Kreisen nicht üblich sei. Der EuGH trifft hierzu die Feststellung, daß die Art. 49 EGV (jetzt Art. 56 AEUV) und Art. 50 EGV (jetzt Art. 57 AEUV) einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Übernahme der Kosten der Krankenanstalt in einem anderen Mitgliedstaat an die Voraussetzung knüpft, daß die Krankenkasse eine vorherige Genehmigung erteilt und diese davon abhängig macht, daß die Behandlung als „in ärztlichen Kreisen üblich“ betrachtet werden kann. Dies gilt jedoch nur, soweit • die Voraussetzung der „Üblichkeit“ der Behandlung so ausgelegt wird, daß die Genehmigung ihretwegen nicht versagt werden kann, wenn es sich erweist, daß die betreffende Behandlung in der internationalen Medizin hinreichend erprobt und anerkannt ist, und • die Genehmigung nur dann wegen fehlender medizinischer Notwendigkeiten verweigert werden darf, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung erlangt werden kann, die eine vertragliche Vereinbarung mit der Krankenkasse geschlossen hat, der der Versicherte angehört. Damit sind nationale Genehmigungsvorbehalte nicht automatisch hinfällig. Vielmehr muß im Einzelfall geprüft werden, ob die durch sie bewirkte Einschränkung der Grundfreiheiten objektiv zu rechtfertigen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann dies dann der Fall sein, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen. Hierzu zählt der EuGH: • die Anwendung einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, • die Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit und Erreichung eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes, • die Gewährleistung einer ausgewogenen, allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung, • die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten das Vorliegen einer konkreten Gefährdung nachweisen. Ferner haben sie sicherzustellen, daß die zur Abwehr getroffenen Regelungen geeignet sind, das Ziel zu erreichen, daß sie nicht über das hinausgehen,
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was zu diesem Zweck objektiv erforderlich ist, und daß das gleiche Ergebnis nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann.
c) Die Bedeutung des Sachleistungsprinzips und der Steuerfinanzierung für Genehmigungsvorbehalte In einem Vorabentscheidungsverfahren vom 13. 5. 2003, das von einem niederländischen Gericht ausgelöst worden war272, ging es erneut um die europarechtliche Bewertung des Erfordernisses einer vorhergehenden Genehmigung einer von einem Versicherten im EU-Ausland angestrebten medizinischen Versorgung, in diesem Fall einer Zahnbehandlung von Niederländern in Deutschland. Zwar läßt der EuGH erkennen, daß er seiner Auffassung nach diese Frage eigentlich bereits im Urteil zu dem Verfahren Smits und Peerbooms hinreichend behandelt habe, dennoch geht er auf das Anliegen des vorlegenden Gerichts ein, das „Klärungen“ bestimmter Ausführungen in dem Urteil dieses Verfahrens für erforderlich gehalten hat. Dem vorlegenden Gericht ging es hauptsächlich um die Bedeutung des Sachleistungsprinzips und die Auslegung des Begriffs der „Rechtzeitigkeit“, der im Fall Smits und Peerbooms von besonderer Bedeutung ist.273 Die Grundsätze des Urteils lassen sich wie folgt zusammenfassen: „Medizinische Tätigkeiten“ werden von der gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsfreiheit erfaßt und unterliegen deshalb Beschränkungsverboten, die der „Herstellung des freien Dienstleistungsverkehrs“ dienen. Sie stellen „Dienstleistungen“ dar und zwar unabhängig davon, ob sie „in einem Krankenhaus oder außerhalb davon“ erbracht werden oder ob für sie im einzelnen „die Krankenversicherung Sachleistungen und keine Erstattung vorsieht“, zumal die den Verfahren zugrundeliegenden Leistungen tatsächlich gegen Bezahlung erfolgt sind (Rnr. 38 und 39). Der EuGH legt nochmals ausführlich dar, weshalb seiner Auffassung nach „unter dem Gesichtspunkt des freien Dienstleistungsverkehrs „… nicht danach zu unterscheiden (ist), ob der Patient die angefallenen Kosten zahlt und später ihre Erstattung beantragt oder ob der Leistungserbringer die Zahlung direkt von der Krankenkasse oder aus dem Staatshaushalt erhält“. Durch diese Formulierung werden die Mitgliedstaaten miterfaßt, die, anders als die Niederlande (oder Deutschland), ihre soziale Krankenversicherung nicht über ein Beitragssystem, sondern über einen (steuerfinanzierten) staatlichen Gesundheitsdienst organisiert haben. Das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung, die (nur) erteilt wird, wenn die Behandlung im EU-Ausland „medizinisch notwendig“ ist, ist schon ihrer „Art nach geeignet“, die Sozialversicherten davon abzuschrecken oder gar daran zu hindern, „medizinische Dienstleistungserbringer“ in einem anderen EU-Staat in Anspruch zu 272
Rs. Müller-Faur/van Riet (Rs. C. 385/99, Slg. 2003 I-4509). Ebenso im Fall einer britischen Staatsbürgerin, die sich wegen der Wartelisten des britischen NHS in Frankreich einer Operation unterzog und den NHS auf Kostenübernahme verklagte (Rs. Watts C-372/94, Slg. 2006, I-4325). 273
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nehmen. Sie stellt daher eine „Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs“ dar (Rnrn. 42 bis 44). Es ist damit zu prüfen, ob diese Behinderung objektiv gerechtfertigt werden kann. Dies ist nach den Vorgaben des EG-Vertrags dann der Fall, wenn die in Rede stehende Regelung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit oder aus einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses erforderlich ist und die den freien Dienstleistungsverkehr beeinträchtigende Maßnahme nicht über das hinausgeht, was für die Erreichung dieses Zweckes erforderlich ist („Erfordernis der Verhältnismäßigkeit“, Rnr. 68). Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH können sowohl „das Ziel, eine qualitativ hochwertige, ausgewogene sowie allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrecht zu erhalten“, wie auch die Notwendigkeit, eine „erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit“ abzuwenden, einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen kann (Rnrn. 67,73). Der EuGH sieht diese Voraussetzungen für die stationäre Versorgung im Grundsatz als erfüllt an. Dennoch ist der Vorbehalt der Genehmigung nur dann gerechtfertigt, wenn die Ablehnung einer Genehmigung auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien beruht, die „im Voraus bekannt“ sein müssen, um eine mißbräuchliche Anwendung einer an sich die Grundrechte aus dem EG-Vertrag beeinträchtigenden Ausnahmeregelung zu verhindern. Deshalb muß sich das Genehmigungsverfahren auf „eine leicht zugängliche Verfahrensregelung stützen“, in deren Rahmen „die nationalen Behörden sämtliche Umstände jedes konkreten Falles (zu) beachten“ haben. Dabei dürfen sie sich nicht nur auf den gegenwärtigen Gesundheitszustand stützen, sondern sie müssen auch die Vorgeschichte des Patienten berücksichtigen. Deshalb könnte „eine Versagung der vorherigen Genehmigung … die ausschließlich durch die Existenz von Wartelisten für die betreffende Krankenhausversorgung im Inland (motiviert wäre), ohne daß die konkreten Zustände des Patienten berücksichtigt würden, keine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen, die wirklich gerechtfertigt wäre“ (Rnrn. 90,92). Für die ambulante Versorgung sieht der EuGH die Voraussetzungen einer Gefährdung der Versorgungsqualität oder der Finanzierungsfähigkeit des Systems nicht als erfüllt an. Zwar wirke sich die Aufhebung der Genehmigungspflicht „auf die Möglichkeit einer Kontrolle der Krankheitskosten … aus“, doch seien dem Gerichtshof keine Fakten vorgelegt worden, aus denen sich ableiten ließe, daß das finanzielle Gleichgewicht erheblich gestört würde, noch ließe sich dies aus der allgemeinen Lebenserfahrung mit der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen schlußfolgern. Der EuGH weist aber auch die Argumentation zurück, daß eine Aufhebung der Pflicht zur vorherigen Genehmigung „wesentliche Merkmale des Systems des Zugangs zur Gesundheitsversorgung“, d. h. das Sachleistungssystem selbst, in Frage zu stellen in der Lage wäre. Zur Begründung verweist er darauf, daß
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• bereits bisher auf der Basis der Verordnung Nr. 1408/71 teilweise Kostenerstattungen erfolgen, • es den Staaten mit Sachleistungssystemen frei stehe, Erstattungssätze ausschließlich für die im EU-Ausland in Anspruch genommenen Leistungen festzusetzen, ohne die Gültigkeit des Sachleistungsprinzips im Inland zu beeinträchtigen, und • die Gewährung von Leistungen bzw. deren Erstattung an dieselben Voraussetzungen geknüpft werden könne, wie sie auch für inländische Leistungen gelten, sofern die Festlegungen zur Leistungspflicht weder diskriminierend seien noch die Freizügigkeiten behinderten. Der EuGH beruft sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das im vorliegenden Fall gegebene Erfordernis, vor der Konsultation eines Facharztes einen Hausarzt aufzusuchen. Eine Leistungsausweitung, so die ständige Rechtsprechung des EuGH, kann von den Versicherten nicht unter Berufung auf die Waren- oder Dienstleistungsfreiheit erlangt werden.274 Art. 49 und 50 EGV (jetzt 56, 57 AEUV) stehen demnach einer vorherigen Genehmigungspflicht für die Inanspruchnahme ambulanter ärztlicher Leistungen im EU-Ausland entgegen. Schließlich äußert der EuGH Kritik an den nationalstaatlichen Bemühungen, sich den Rechtsfolgen der von ihnen geschlossenen Verträge zu entziehen. Zwar betont der EuGH stereotyp, „daß das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt läßt“. Er fügt aber unzweideutig hinzu: „Die Verwirklichung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten (verpflichtet) die Mitgliedstaaten unvermeidlich, einige Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzunehmen, ohne daß dies als Eingriff in ihre souveräne Zuständigkeit in dem betreffenden Bereich angesehen werden könnte“ (Rdnr. 102). Im Fall „Watts“275 stand u. a. die Frage im Mittelpunkt, ob die seit „Decker/Kohll“ entwickelten Rechtsgrundsätze des Gerichtshofs zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auch für Mitgliedstaaten gelten, die einen staatlichen Gesundheitsdienst (im Ausgangsfall: den britischen National Health Service) unterhalten. In der dem EuGH vorgelegten Rechtssache hatte ein britischer Staatsbürger sich nicht mit den (unverhältnismäßig langen) Wartezeiten des NHS für die Durchführung einer stationären Behandlung einverstanden erklärt, sondern diese im EU-Ausland durchführen lassen und dem NHS in Rechnung gestellt. Der EuGH stellt in dieser Entscheidung klar, daß Rechtsprechung zum Kostenerstattungsanspruch und zu Grenzen von Genehmigungsvorbehalten unabhängig davon Anwendung findet, ob es sich um beitrags- oder steuerfinanzierte Gesundheitssysteme handelt.
274 275
s. Bieback, NZS 2001, 562 ff. C-372/94, Slg. 2006, I-4325.
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d) Voraussetzungen und Umfang des Kostenerstattungsanspruchs bei Auslandsbehandlung Für die Höhe der Kostenübernahme bei stationärer Behandlung im EU-Ausland ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Vanbraekel276 von Bedeutung, in der um die Höhe der zu tragenden Kosten einer Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat gestritten wurde. Im konkreten Fall ging es um die Erstattung durch eine belgische Krankenkasse für die Behandlungskosten eines Belgiers in Frankreich. Die Kosten für die Behandlung in Frankreich lagen um etwa ein Viertel niedriger als die Kosten, die in Belgien angefallen wären. Aus der Entscheidung Vanbraekel läßt sich entnehmen, daß eine Kostenerstattung für eine Auslandsbehandlung zu den Tarifen des Mitgliedstaates möglich ist, in dem die Krankenversicherung besteht, selbst wenn die Kosten der Auslandsbehandlung geringer sind. Die Kostenvorteile, die im konkreten Fall durch eine Behandlung in Frankreich statt in Belgien entstanden sind, sollten nicht dem belgischen Versicherungsträger zukommen, der zuvor eine Genehmigung nach Art. 22 der Verordnung 1408/71 zu Unrecht verweigert hatte. Auch in einem seinerzeit beim EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Spanien277 hat der Generalanwalt Mangozzi in seinen Schlußanträgen v. 25. 2. 2010 die Auffassung vertreten, daß einem französischen Staatsbürger, der in Spanien wohnhaft und dem spanischen Sozialversicherungssystem angeschlossen ist, nicht die ergänzende Erstattung der Kosten einer nicht geplanten Krankenhausbehandlung in Frankreich versagt werden durfte, soweit das Niveau der Kostenerstattung im Behandlungsstaat unter dem des Versicherungsstaates lag. Der spanische Versicherungsträger hatte sich geweigert, die Selbstbeteiligungskosten zu erstatten, die das französische Krankenhaus nach den französischen Rechtsvorschriften („ticket modrateur“) erhoben hatte. Nach Auffassung des Generalanwalts verstößt diese Weigerung gegen die Dienstleistungsfreiheit, weil sie – unabhängig davon, daß der Behandlungsfall unvorhergesehen aufgetreten sei – den Patienten davon abhalte, seinen Aufenthalt in dem anderen Staat zu verlängern, oder ihn veranlasse, vorzeitig in den Wohnsitzstaat zurückzukehren, um dort die medizinische Behandlung zu erhalten. In der Rechtssache Stamatelaki278 ging es um die Zulässigkeit des Ausschlusses der Kostenerstattung für eine Behandlung in einer EU-ausländischen Privatklinik. Während ein Patient, der in Griechenland gesetzlich versichert ist, keine Kosten zu tragen hat, wenn er dort in einem öffentlichen Krankenhaus oder auch in einer Vertragsprivatklinik behandelt wird, fallen ihm bei Behandlung in einer ausländischen Privatklinik die entsprechenden Kosten in voller Höhe zur Last, da (mit einer Ausnahme zugunsten von Kindern) für eine solche Auslandsbehandlung keine Erstattung vorgesehen ist. Diese Regelung kann Patienten davon abhalten, sich an 276 277 278
Rs. 368/98, Slg. 2001, I-5362. Rs. C-211/08. Abweichend Urt. v. 15. 6. 2010 in dieser Rs. Urt. v. 19. 4. 2007, Rs. C-444/05.
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Erbringer von Krankenhausdienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten zu wenden, und schränkt daher den freien Dienstleistungsverkehr ein, so daß die im Ausgangsfall fragliche Regelung als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar anzusehen war. Der EuGH-Entscheidung im Fall „IKA“279 lag ein Rechtsstreit zwischen einer griechischen Sozialversicherungsanstalt und einem ihrer Versicherten über die Weigerung dieses Trägers zugrunde, die Kosten einer Krankenhausbehandlung bei einem EU-Auslandsaufenthalt zu übernehmen. Der EuGH hat Art. 31 VO 1408/71 dahingehend ausgelegt, daß der Bezug von Sachleistungen, die von Rentnern beansprucht werden können, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnstaat aufhalten, nicht davon abhängt, daß die Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung plötzlich während des Auslandsaufenthaltes aufgetreten ist und eine unverzügliche Behandlung erforderlich gemacht hat. Die Kostenerstattung durch den Versicherungsstaat kann deshalb nicht von dieser Voraussetzung abhängig gemacht werden. In der Rechtssache „Inizan“280, die die Vereinbarkeit des Art. 22 der VO 1408/71 mit dem Primärrecht der Union betraf, hebt der EuGH hervor, daß die Verordnung den Versicherten Rechte einräume, die ihnen anderenfalls insofern nicht zustünden, als sie eine Übernahme von Leistungen durch den Träger des im EU-Ausland gelegenen Aufenthaltsorts vorsehen, die es nach dem Recht des zuständigen Staates nicht gebe. Aus diesem Grund habe der Gemeinschaftsgesetzgeber die Inanspruchnahme dieser zusätzlichen Rechte im Rahmen der Sachgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit von einer vorherigen Genehmigung des zuständigen Trägers abhängig machen dürfen, ohne gegen die Dienstleistungsfreiheit zu verstoßen. Im Fall „Leichtle“281 stand die Frage nach der Beihilfefähigkeit einer medizinischen Heilkur in einem anderen Mitgliedstaat im Mittelpunkt. Art. 49 ff. EGV und Art. 56 ff. AEUV stehen einer Regelung entgegen, welche die Übernahme von Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung, Fahrtkosten, Kurtaxe und den ärztlichen Schlußbericht bei einer im EU-Ausland durchgeführten Heilkur von einer vorherigen Anerkennung der Beihilfefähigkeit abhängig macht, die nur dann erteilt wird, wenn nach amts- oder vertrauensärztlichem Gutachten die geplante Heilkur wegen wesentlich größerer Erfolgsaussichten in einem anderen Mitgliedstaat zwingend geboten ist. Hingegen darf die Kostenübernahme davon abhängig gemacht werden, daß der Kurort im Heilkurorteverzeichnis aufgeführt ist, wobei eine solche Eintragung nach objektiven Kriterien erfolgen muß und nicht die grenzüberschreitende Leistungserbringung in dem betreffenden Mitgliedstaat selbst erschweren darf. Die Rechtsprechung des EuGH zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen zeigt, daß besondere Bedeutung den
279 280 281
Rs. C-326/00, Slg. 2003, I-1703. Rs. C-56/01, Slg. 2003, I-12403. Rs. C-8/02, Slg. 2004, I-2641.
III. Soziale Grundrechte und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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vom EuGH anerkannten Einschränkungen und Genehmigungsvorbehalten aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zukommt.282 Der EuGH hat deutlich betont, daß bei Krankenhäusern zwar eine Beschränkung der Leistung auf Vertragskrankenhäuser und ein Genehmigungsvorbehalt für die Inanspruchnahme sonstiger Einrichtungen zulässig sind; allerdings darf bei der Genehmigung der Behandlung in Nicht-Vertragshäusern zwischen inländischen und ausländischen Einrichtungen nicht differenziert werden. Eine Genehmigungspflicht, die allein an den Tatbestand der Nachfrage im Ausland anknüpft, ist nicht mehr haltbar. Das deutsche Recht verweist in dem Genehmigungserfordernis für eine Behandlung im Ausland gemäß § 18 SGB V auf den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“. Nach den Ausführungen des EuGH zu einer diskriminierungsfreien Interpretation der Genehmigungserfordernisse für eine Auslandsbehandlung ist dies als „international allgemein anerkannter Stand der medizinischen Kenntnisse“ zu interpretieren. Statt einer generellen Genehmigungspflicht für ausländische Leistungsnachfrage ist nur ein Genehmigungsvorbehalt der Inanspruchnahme von solchen Anbietern zulässig, die nicht (über Verträge oder Zulassung) zum Versorgungssystem gehören. Mit seiner Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Grundfreiheiten im Gesundheitswesen hat der EuGH seine Rolle als „Motor der Integration“ auf dem sozialen Sektor unter Beweis gestellt. Diese Judikatur hat sowohl auf individueller Ebene für die Unionsbürger als auch auf institutioneller Ebene für die Sozialleistungsträger und die Sozialordnungen der Mitgliedstaaten große Bedeutung und entwickelt eine Eigendynamik, die zur Erosion der Abschottungsmechanismen und Konservierung traditioneller Strukturmuster der nationalstaatlichen Sicherungssysteme führt. Der EU-Gesetzgeber mußte deshalb ebenso wie die Mitgliedstaaten der EU dieser Rechtsprechung und der mit zunehmender Mobilität der EU-Bevölkerung einhergehenden transnationalen Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsleistungen normativ Rechnung tragen. Auf EU-Ebene ist dies insbesondere durch Einführung der Europäischen Krankenversicherungskarte (VO (EG) Nr. 631/2004) und die Neuordnung der Koordinierungsregeln des Sozialschutzes (VO (EG) Nr. 883/2004), in Deutschland durch die Neufassung des § 13 Abs. 4 SGB V erfolgt, der das Kostenerstattungsverfahren bei grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme und -erbringung regelt.283
282
Zum Einfluß der EuGH-Rechtsprechung auf die nationale Gesundheitspolitik s. Schulte, BKK 1/2010, 8 ff. 283 Zu den Umsetzungsregelungen auf EU-Ebene, insbes. zur Leistungsinanspruchnahme in anderen Mitgliedstaaten, s. unten 3. Kap. II. 2.
Zweites Kapitel
Einwirkungen des Unionsrechts auf die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und die Rechtsstellung der Versorgungsund Finanzierungsträger I. Das europäische Wettbewerbsrecht als ordnungspolitischer Rahmen des Gesundheitsund Sozialwesens 1. Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen a) Ausstrahlung des Wettbewerbsrechts der Union auf die sozialen Sicherungssysteme Das Unionsrecht nimmt nicht nur über die Grundfreiheiten Einfluß auf nationales Sozialrecht, sondern auch über die Wettbewerbsregeln, die in Art. 101 ff. AEUV (exArt. 81 ff. EGV) enthalten sind. Gerade im europäischen Wettbewerbsrecht strahlen die unionsrechtlichen Vorschriften auf die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten aus, ohne jedoch den Unionsorganen systematisch Kompetenzen zur Harmonisierung der verschiedenen, divergierenden Sozialordnungen zu verleihen. Gleichwohl stellen die Wettbewerbsregeln ein Einfallstor in nationales Sozialrecht dar, welches dadurch sukzessive von Gestaltungsprinzipien des Binnenmarktes erfaßt wird und durch die Herausbildung eines europäischen Wettbewerbs-Sozialrechts überformt wird. Die zentrale Frage des europäischen Wettbewerbsrechts in seiner Bedeutung für die soziale Sicherheit in der Union zielt dahin, ob öffentliche oder private Sozialleistungs- bzw. Versicherungsträger, in verschiedenen Funktionen und Organisationsformen einbezogene Leistungserbringer oder Institutionen der frei-gemeinnützigen, sozialwirtschaftlichen bzw. genossenschaftlichen Wohlfahrtspflege jeweils als Unternehmen anzusehen sind, die wirtschaftliche Leistungen erbringen und deshalb im Binnenmarkt dem EU-Wirtschaftsrecht unterliegen.1 1 s. dazu Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, S. 285 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, S. 230 ff.; Möller, ZESAR 2006, 200 ff.; Pitschas, NZS 2010, 177 ff.; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, 2010, S. 53 ff.; Ebsen, BKK 2/2010, S. 76 ff.; Klu-
I. Das europäische Wettbewerbsrecht als ordnungspolitischer Rahmen
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Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) sieht für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen ein Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen vor. Danach entsprechen den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigende und verhindernde sowie den Wettbewerb verhindernde, einschränkende und verfälschende Maßnahmen nicht den Maximen des Gemeinsamen Marktes und werden demzufolge für nichtig erklärt (Art. 101 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 81 Abs. 2 EGV). Ausnahmen dieser Bestimmungen sind in Art. 101 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 3 EGV) aufgeführt. Es könnte fraglich erscheinen, ob die Sozialversicherungsträger und private Leistungsträger- oder -erbringer am Maßstab dieser Normen verbotene Kartelle bilden, die den zwischenmitgliedstaatlichen Wettbewerb beschränken und möglicherweise den nach 56 ff. AEUV (ex-Art. 49 ff.) angestrebten freien Dienstleistungsverkehr einschränken oder verhindern.2 Art. 102 AEUV (ex-Art. 82 EGV) verbietet den Unternehmen den Mißbrauch und die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder einem wesentlichen Teil desselben, sofern dadurch der zwischenmitgliedstaatliche Handel beeinträchtigt wird. In den Art. 103 – 105 AEUV (ex-Art. 83 – 85 EGV) ist bestimmt, welche Organe der Gemeinschaft für die Verwirklichung der in den Art. 101 und 102 AEUV (ex-Art. 81 und 82 EGV) niedergelegten Grundsätze in welcher Form zuständig sind (Art. 103 AEUV, ex-Art. 83 EGV), wem die Entscheidungskompetenz nach Maßgabe der bis zum Inkrafttreten der gemäß Art. 103 AEUV erlassenen Vorschriften obliegt (Art. 104 AEUV, ex-Art. 84 EGV) und wer die Verwirklichung der in Art. 101 und 102 AEUV (ex-Art. 81 und 82 EGV) niedergelegten Grundsätze überwacht, Zuwiderhandlungen feststellt und wie diese sanktioniert werden (Art. 105 AEUV, ex-Art. 85 EGV). Art. 106 AEUV (ex-Art. 86 EGV) trifft Regelungen für öffentliche und monopolartige Unternehmen, die es den Mitgliedstaaten untersagen, Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die nicht im Einklang mit dem von Art. 18 AEUV (ex-Art. 12 EGV) statuierten Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln der Art. 101 – 109 AEUV (ex-Art. 81 – 89 EGV) stehen. Auf Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, finden die Vorschriften dieses Vertrags ebenfalls Anwendung, sofern sie nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindern3 ckert, Gesetzliche Krankenkassen als Normadressaten des Europäischen Wettbewerbsrechts, 2009. 2 s. hierzu Rixen, S. 53 ff.; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsvertrag, S. 311 ff.; Kluckert, S. 32 ff.; Rolfs, SGb 1998, 202 ff.; Hänlein/Kruse, NZS 2000, 165 ff.; Schulz-Weidner, ZESAR 2003, 58 ff. 3 s. hierzu die Mitteilung der EU-Kommission v. 20. 11. 2007 zu „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluß von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“, KOM (2007), 725 endg. sowie die Hinweise bei Pitschas, NZS 2010, 177, 181; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 63 ff.
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(Art. 106 AEUV, ex-Art. 86 Abs. 2 EGV). Die Zuständigkeit zur Überwachung dieser Vorschrift obliegt nach Art. 106 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 3 EGV) der Kommission. Art. 107 AEUV (ex-Art. 87 EGV) enthält einen Katalog unzulässiger Beihilfen und begründeter Ausnahmen. Grundsätzlich kollidiert die Gewährung von Beihilfen (durch den Staat oder aus staatlichen Mitteln) aufgrund ihres bestimmte Unternehmen und Produktionszweige begünstigenden und damit den Wettbewerb verfälschenden oder zu verfälschen drohenden Charakters mit dem Konzept des Binnenmarktes, sofern sie eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels darstellen (Art. 107 AEUV, ex-Art. 87 Abs. 1 EGV). Art. 107 AEUV (ex-Art. 87 Abs. 2 und 3 EGV) führt eine Reihe unterschiedlicher Beihilfearten an, die mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind bzw. als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden können. Die Überprüfung der bestehenden Beihilferegelungen ist nach Art. 108 AEUV (ex-Art. 88 Abs. 1 EGV) Aufgabe der Kommission in Kooperation mit den Mitgliedstaaten. Art. 108 AEUV (ex-Art. 88 Abs. 2 EGV) enthält Verfahrensvorschriften bei einer unzulässigen Beihilfegewährung nach Art. 107 AEUV (ex-Art. 87 EGV) durch einen Mitgliedstaat. Die Kommission kann in diesem Fall den betreffenden Staat nach Ablauf einer Frist, in der dieser sich äußern kann, auffordern, die Beihilfen aufzuheben oder umzugestalten. Sollte der betreffende Staat dieser Aufforderung nicht nachkommen, ist die Kommission oder jeder betroffene Staat in Anwendung der Art. 258 und 259 AEUV (ex-Art. 226 und 227 EGV) befugt, den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Sofern außergewöhnliche Umstände die Beihilfegewährung rechtfertigen, kann der Rat auf Antrag eines Mitgliedstaats einstimmig deren Zulässigkeit entscheiden. Art. 340 AEUV (ex-Art. 88 Abs. 3 EGV) statuiert eine Informationspflicht in dem Sinne, daß die Kommission von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen rechtzeitig zu unterrichten ist, so daß sie sich dazu äußern kann. Bis zu einer abschließenden Entscheidung der Kommission ist der betreffende Mitgliedstaat nicht berechtigt zu handeln.4 Im Zuge der Vernetzung der Freizügigkeits- und Wettbewerbsregeln mit dem Gesundheits- und Sozialsektor wird von der Europäischen Kommission die Erstreckung des Wettbewerbsrechts auf diese Bereiche vorangetrieben. Pilotfunktion kommt dabei den Leistungen der Daseinsvorsorge zu, bei denen die Anordnung des europäischen Wettbewerbsrechts zu gravierenden Umwälzungen geführt hat: „Mit zunehmender Vertiefung des Binnenmarkts stellten sich neue Fragen im Zusammenhang mit der Abgrenzung bestimmter Dienstleistungen, die früher hauptsächlich 4
Zur Bedeutung des europäischen Beihilfen- und Vergaberechts für Sozialversicherungsträger und Sozialleistungsunternehmen s. die Hinweise bei Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, S. 230 ff.; Ebsen, BKK 2/2010, 76 ff.; v. Boetticher, Die frei-gemeinnützige Wohlfahrtspflege und das europäische Beihilferecht, 2003, S. 46 ff., 57 ff., 75 ff., 111 ff.; Schulz-Weidner, ZESAR 2003, 58 ff., 60 f.; Hänlein/Kruse, NZS 2004, 165 ff.
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unter wettbewerbsfremden Bedingung erbracht worden waren, aber inzwischen durchaus Wettbewerber auf den Plan rufen oder in Zukunft für sie von Interesse sein können.“5 Die Bereiche Telekommunikation, Post, Bahn, Wasser- und Energieversorgung, die in vielen Mitgliedstaaten auf staatlichen Monopolen beruhen, sind bisher am nachhaltigsten betroffen. Regelmäßig werden von der Kommission aber auch soziale Institutionen im Hinblick auf monopolistische Strukturen, Beihilfe- oder Vergabeprivilegien ins Visier genommen.
b) Die Entwicklung des funktionalen Unternehmensbegriffs in der EuGH-Rechtsprechung Für die wettbewerbsrechtliche Einordnung von Sozialleistungsträgern ist es von besonderer Bedeutung, ob und in welchem Umfang sie aufgrund ihres Handelns Unternehmenseigenschaften aufweisen und sich damit den Wettbewerbs- und Freizügigkeitsregeln unterstellen müssen oder Ausnahmeregelungen geltend machen können. Dabei muß zunächst geklärt werden, inwieweit soziale Institutionen aufgrund ihrer Aufgabenerfüllung überhaupt in den Anwendungsbereich des Wettbewerbs- und des Freizügigkeitsrechts der Union fallen.6 Im Falle einer positiven Antwort gälte für die Sozialversicherungsträger als öffentliche Unternehmen das Wettbewerbsrecht der EU entweder uneingeschränkt (Art. 106 AEUV, ex-Art. 86 Abs. 1 EGV) oder jedenfalls insoweit, als es die Erfüllung der den öffentlichen Unternehmen übertragenen Aufgabe nicht rechtlich oder tatsächlich verhindert (Art. 106 AEUV, ex-Art. 86 Abs. 2 EGV). Über die Frage, welche Kriterien Unternehmen kennzeichnen und welche gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Konsequenzen die Unternehmenseigenschaft nach sich zieht, gibt ein bereits 1991 erlassenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs Aufschluß, in dem es u. a. um die Frage ging, ob eine öffentlich-rechtliche Arbeitsvermittlungsinstitution wie die damalige Bundesanstalt für Arbeit gemäß Art. 102 AEUV (ex-Art. 82 EGV) mißbräuchlich eine marktbeherrschende Stellung auf dem Gemeinsamen Markt einnimmt7, indem sie private Personalberater von der Arbeitsvermittlung ausschließt. Das vorlegende Gericht wollte wissen, „…ob die Bestimmungen des EWG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr einem gesetzlichen Verbot der Vermittlung von Führungskräften der Wirtschaft durch private Personalberatungsunternehmen entgegenstehen.“ Außerdem ging es um die Auslegung der seinerzeitigen Art. 82 und 86 EVG (jetzt Art. 102 und 106 AEUV) in Bezug auf das Wettbewerbsverhältnis zwischen diesen Unternehmen und einer öf5
s. Mitteilung der EU-Kommission KOM (2000), 580 endg. s. zu dieser Grundsatzfrage die Nachweise zur EuGH-Rechtsprechung und zu dem umfangreichen Schrifttum bei Kluckert, S. 43 ff., 96 ff., 151 ff.; Möller, ZESAR 2006, 200 ff.; Ebsen, BKK 2/2010, 76, 78 f. 7 Rs. Höfner/Elser 9 C-41/80, Slg. 1991, I-1979. 6
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fentlich-rechtlichen Anstalt für Arbeit, die ein Arbeitsvermittlungsmonopol besitzt. Dadurch sah sich der EuGH veranlaßt zu prüfen, „…ob eine öffentlich-rechtliche Anstalt für Arbeit wie die Bundesanstalt als ein Unternehmen im Sinne der Art. 81 und 82 EGV (jetzt Art. 85 und 96 AEUV) angesehen“ werden kann. Die Kernaussage des Urteils lautet: „Im Rahmen des Wettbewerbsrechts umfaßt der Begriff des Unternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.“ Damit geht der EuGH in seiner Betrachtung von einem „funktionalen“ statt von einem „institutionellen“ Unternehmensbegriff aus. Unbeachtlich ist demnach die rechtliche Stellung und die Finanzierung des Unternehmens, entscheidend der Inbegriff der vorgenommenen Tätigkeiten.8 Die Übertragung der Arbeitsvermittlungstätigkeit auf öffentlich-rechtliche Einrichtungen widerspricht letztlich nicht der wirtschaftlichen Natur dieser Aufgabenerfüllung. Folglich war die Bundesanstalt für Arbeit als Unternehmen anzusehen, auf das die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln Anwendung finden. Von Ausnahmeregelungen mußte abgesehen werden, da die Vermittlung von Führungskräften der Wirtschaft offensichtlich allein durch die Bundesanstalt für Arbeit nicht in ausreichendem Maße sichergestellt werden konnte und darüber hinaus seit langem privatwirtschaftlich tätige Personalvermittler geduldet wurden. Der EuGH verdeutlichte in dieser Entscheidung, „…. daß es den Staaten nicht erlaubt sein darf, durch die Konstruktion besonderer – etwa öffentlichrechtlicher – Rechtsformen die Anwendbarkeit von Wettbewerbsvorschriften auszuhebeln.“ Der EuGH setzt durch diese Entscheidung erste wettbewerbsrechtliche Markierungen im Bereich des Sozialrechts und führt die Entwicklung der von Liberalisierungstendenzen bereits erfaßten Felder der öffentlichen Daseinsvorsorge bis in den Sozialbereich hinein fort.9 Durch die vom EuGH vertretene Auffassung, daß die Tätigkeit einer öffentlichrechtlichen Körperschaft wie der seinerzeitigen Bundesanstalt für Arbeit wirtschaftlicher Natur ist und demzufolge ebenfalls von privaten Anbietern ausgeführt werden kann, gerieten auch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit ins Visier europarechtlicher Wettbewerbsbestimmungen. c) Die wettbewerbsrechtliche Einordnung der Sozialversicherungsträger bei sozialer Zweckerfüllung Weitere Klarstellungen der Anforderungen des europäischen Wettbewerbsrechts an die institutionellen und kompetenzmäßigen Kriterien für Institutionen Sozialer Sicherheit enthält die Entscheidung des EuGH vom 17. 2. 1993 in der verbundenen
8
Zum Unternehmensbegriff des EuGH in differenzierender und kritischer Analyse Kluckert, S. 151 ff., 225 ff.; Möller, ZESAR 2006, 200, 201 ff.; Ebsen, BKK 2/2010, 76 ff.; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff. 9 s. v. Boetticher, S. 14 f., 50 f.
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Rechtssache Poucet/Pistre10. Darin ging es um eine Klage zweier französischer EUBürger, die unter Wahrung der grundsätzlichen Versicherungspflicht – im Fall Poucet zur Kranken- und Mutterschaftsversicherung, im Fall Pistre zur Alterssicherung – die Wahlmöglichkeit zwischen im Binnenmarkt agierenden Versicherungsunternehmen erstreiten wollten. So wurde der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens damit beauftragt, zu klären, ob die Unternehmenseigenschaften einer mit der Verwaltung eines besonderen Systems der sozialen Sicherheit betrauten Einrichtung im Sinne der heutigen Art. 105 und 106 AEUV (ex-Art. 81 und 82 EGV) zuzuschreiben sind und ob diese Institution ihre beherrschende Stellung auf diesem Segment binnenmarktkonform innehat. Der EuGH lehnte die Übertragung der Unternehmenseigenschaft auf die in diesem Fall beklagten Sozialversicherungsträger ab. Zur Begründung machte er folgende Gesichtspunkte geltend: Zum einen verwies der EuGH auf seine Entscheidung in der Rechtssache Duphar11 und hob hervor, daß das Gemeinschaftsrecht nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten berühre, ihre Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten. Zum anderen handle es sich in den vorliegenden Fällen um sozialen Zwecken dienende und auf dem Grundsatz der Solidarität beruhende Systeme. Im Gegensatz zur Entscheidung im Fall Höfner/Elser gelangt der EuGH zu der Auffassung, daß die Sozialversicherung hier keine Tätigkeiten wirtschaftlichen, sondern sozialen Charakters erfülle und somit nicht als Unternehmen einzustufen sei. Der soziale Charakter spiegle sich in folgenden Prinzipien: • Der Versicherungsschutz erstrecke sich über alle versicherten Personen, unabhängig von ihrer Vermögenslage und ihrem Gesundheitszustand. • Das System finanziere sich durch von Berufstätigkeit und Altersrenten abhängigen Einkünften bei gleicher Leistung für alle Empfänger. • Die Sozialversicherung verwirkliche das Solidarprinzip und bewirke Einkommensumverteilung. • In der Altersversicherung komme der Solidargedanke durch das Umlageverfahren zum Ausdruck. • Die Sozialversicherung verfahre nicht nach dem Äquivalenzprinzip. • Überschüsse erwirtschaftende Systeme beteiligten sich an der Finanzierung defizitärer Systeme und sorgten dadurch für einen Ausgleich zwischen den Systemen. Der Europäische Gerichtshof hat die zentralen Solidarmomente dieser Entscheidung in späteren Urteilen verdeutlicht: In der Rechtsache Garca12 verneinte der EuGH einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit und die Wettbewerbsvor10 11 12
Rs. C-159/91 und 160/91, Slg. 1993, I-637; s. dazu Möller, ZESAR 2006, 201 ff. Rs. C-283/82, Slg. 1984, 523. Rs. C-238/94.
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schriften des EGV durch den Sozialversicherungszwang (nach französischem Recht) und klammerte damit die Sozialversicherung von der Anwendung der Dritten Richtlinie Schadensversicherung13 aus, die der Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs und des Wettbewerbs im Versicherungssektor dient und auf die Private Krankenversicherung Anwendung findet. Dem EuGH-Urteil Poucet/Pistre ist der Vorwurf gemacht worden, daß es den wirtschaftlichen Umfang der von den Sozialversicherungsträgern erbrachten Tätigkeiten verkenne und sich dadurch, daß es in diesem Fall (anders als im Urteil Höfner/Elser) Sozialleistungsinstitutionen nicht als Unternehmen im Sinne der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV) ansieht, die anderenfalls notwendig gewordene Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Monopolstellung erspart habe. Der Unternehmenscharakter der Sozialversicherungsträger werde schon durch eine prinzipiell mögliche Substitution ihrer Tätigkeit durch Privatversicherer deutlich.14 Als weitere Kritikpunkte werden angeführt, daß sich Elemente wirtschaftlicher Tätigkeiten in der Sozialversicherung aber nicht nur durch das Nebeneinander von hoheitlichen und privaten Trägern als Marktteilnehmern, sondern auch in einer sich erweiternden, den Prinzipien von Leistung und Gegenleistung folgenden Aufgabenerfüllung zeigten. Die von den Sozialversicherungen beschafften Dienstleistungen würden im Sinne der EU-vertraglichen Definitionen von Dienstleistungen „… in der Regel gegen Entgelt erbracht …“ (vgl. Art. 57 AEUV, ex-Art. 50 EGV). Schließlich wird zunehmend bezweifelt, ob die Berufung auf soziale Zweckorientierung als Kriterium ausreicht, um die Sozialversicherungsträger vom EU-Wirtschaftsrecht auszunehmen. Vielmehr gelte es zu überprüfen, ob und wie der soziale Zweck tatsächlich realisiert werde. Gerade weil Umverteilung im Sozialversicherungssystem nicht immer idealtypisch von Reich zu Arm, zwischen Jung und Alt bzw. Gesund und Krank verläuft, sondern zum Teil auch in die umgekehrte Richtung und die Anonymität im Umverteilungsrecht dessen Intransparenz bewirkt, ist für die Beitragszahler nicht ersichtlich, in welcher Weise sie an Umverteilungsmechanismen und Quersubventionierungen partizipieren oder durch diese belastet werden, zumal die Risiko- und Verantwortungszuordnung sowie der soziale Ausgleich nirgendwo ausgewiesen wird. Dies entspricht dem der Rechtssache Poucet und Pistre zugrundeliegenden Klagebegehren, mit dem die beiden Kläger unter Berufung auf das Gemeinschaftsrecht Vertragsfreiheit reklamierten, um sich dann EU-weit nach dem Versicherer umschauen zu können, der für sie die besten Konditionen bereithält. Die Pflichtversi13 RL 92/49/EWG v. 18. 07. 1992, Abl. Nr. L 228/1. S. zu europäischen Wettbewerbsregelungen für den Privatversicherungssektor U. Lemor, in: Bergeest/Labes, Liber amicorum für Gerrit Winter, S. 93 ff. 14 Vgl. die kritischen Positionen gegenüber der EuGH-Rechtsprechung zur Unternehmenseigenschaft von Sozialversicherungsträgern, insbes. auch von Krankenkassen, bei Gassner, ZVersWiss 2008, 411 ff.; Kluckert, S. 225 ff.; dagegen z. B. Bernhardt, ZESAR 2008, 128 ff.; Knispel, GesR 2008, 181 ff.
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cherung integriert die Versicherten zumeist automatisch in ein bestimmtes System, räumt ihnen in der Regel keine oder nur begrenzte Wahlmöglichkeiten ein, so daß sie nicht von den Freizügigkeits- und Wettbewerbsregeln des Gemeinsamen Marktes Gebrauch machen können. Um aber auch im Sozialversicherungswesen davon profitieren zu können, müßten sich die Träger stärker dem Markt und der Konkurrenz privater Anbieter stellen. Die in Deutschland eröffnete Wahlmöglichkeit des Krankenversicherungsträgers innerhalb der GKV und die aktuellen Diskussionen um Einführung von freiwilligen oder obligatorischen Zusatzversicherungen in Wettbewerb und/oder Kooperation öffentlich-rechtlicher und privater Versicherungsanbieter für einzelne Leistungssektoren gehen in diese Richtung, die auch in eine europäische Wettbewerbsdimension weist und eine wettbewerbsoffene Marktordnung erfordert.15 Die Kriterien, nach denen der EuGH den Monopolcharakter bzw. die Unternehmenseigenschaft von Sozialleistungsträgern bemißt, erscheinen im übrigen durchaus nicht immer eindeutig: Während der EuGH im Fall Höfner/Elser noch die Unternehmenseigenschaften eines Sozialversicherungsträgers trotz sozialen Charakters und Gewinnerzielungsabsicht bejahte, schloß er sie in der Rechtssache Poucet/Pistre aus. Die unterschiedliche Wertung kann nur dadurch erklärt werden, daß der EuGH nicht prinzipiell auf öffentlich-rechtliche Organisationsstruktur oder die soziale Aufgabenerfüllung allgemein abstellt, sondern diese auf die konkrete Tätigkeit fokussiert. Der Unternehmensbegriff wird somit funktional in Bezug auf die jeweilige Tätigkeit bestimmt.16 Diesen funktionalen Unternehmensbegriff im Hinblick auf die Unternehmensqualität von Sozialversicherungsträgern hat der EuGH bisher vor allem unter dem Gesichtspunkt des Anbietens von Versicherungsleistungen geprüft17 und später in einer wenig konsistenten Rechtsprechung auch auf Bereiche erstreckt, die eher dem marktförmigen Nachfragesektor zuzurechnen sind.18 Ein Grundsatzurteil des Gerichts Erster Instanz beim Europäischen Gerichtshof stellte klar, daß eine Einrichtung, die Erzeugnisse kauft, um sie im Rahmen einer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit zu verwenden, nicht als „Unternehmen“ im Sinne des
15 s. dazu Karl/v. Maydell, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherungen; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff., 80 f.; Giesen, Wahltarife der GKV, 2010; Penner, Leistungserbringerwettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung, 2010. 16 Zur widersprüchlichen Anwendung des Tätigkeitsmerkmals einer sozialen Einrichtung als wettbewerbsrechtliches Abgrenzungskriterium in der EuGH-Rechtsprechung s. Kluckert, S. 200 ff., der auf die konkrete marktbezogene Zurechnung der mutmaßlich wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweise abstellt. 17 Vgl. Ebsen, ZfS 2000, 298 ff. 18 s. dazu die Analyse der EuGH-Rechtsprechung in Bezug auf das Merkmal wirtschaftlicher Tätigkeit bei Kluckert, S. 69 ff., 151 ff.
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Wettbewerbsrechts angesehen werden kann.19 Das Gericht ließ sich hierbei von der Überzeugung leiten, daß eine unternehmerisch-wirtschaftliche Aktivität am Markt nicht durch eine Einkaufstätigkeit als solche entsteht, sondern erst durch ein Anbieten von Gütern und Dienstleistungen auf dem Markt. Ob die Einkaufstätigkeit einen wirtschaftlichen oder einen nichtwirtschaftlichen Charakter hat, hängt daher von der späteren Verwendung des erworbenen Erzeugnisses ab. Nur wenn das Erzeugnis im Rahmen einer angebotsorientierten wirtschaftlichen Aktivität am Markt eingesetzt wird, etwa im Rahmen einer Weiterverarbeitung oder eines Weiterverkaufs, wird auch die Einkaufstätigkeit zu einer wirtschaftlich/unternehmerischen Aktivität – mit der Konsequenz, daß auch auf das Einkaufsverhalten das europäische Wettbewerbsrecht anzuwenden ist, etwa das Verbot der mißbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung (Art.102 AEUV, ex-Art. 82 EGV). Das bedeutet umgekehrt: Kauft eine Einrichtung – auch in großen Mengen – Güter oder Dienstleistungen ein, um sie im Rahmen einer nichtwirtschaftlichen (z. B. rein sozialen) Tätigkeit zu verwenden, so wird sie nicht allein schon deshalb als Unternehmen tätig, weil sie am Markt als Käufer auftritt – selbst wenn sie eine erhebliche Marktmacht auszuüben vermag oder sogar ein Nachfragemonopol verkörpert.20 Hintergrund des Urteils war die Klage des Spanischen Verbandes der Erzeuger von für Krankenhäuser bestimmten medizinischen Erzeugnissen (FENIN) gegen eine Entscheidung der Europäischen Kommission. In dieser Entscheidung hatte es die Kommission abgelehnt, die Beschwerden des Erzeugerverbandes weiter zu verfolgen, die sich gegen wettbewerbsrelevante Verhaltensweisen der Einrichtungen des spanischen Nationalen Gesundheitssystems richteten, welches die Versorgung der Bevölkerung im Krankheitsfall sicherstellt und in staatlicher Regie geführt wird. Ein wesentliches Kriterium für die Abgrenzung von wirtschaftlicher Betätigung und sozialer Zweckerfüllung sind die jeweiligen Rahmenbedingungen, unter denen die fragliche Dienstleistung erbracht wird, wie z. B. Bestehen eines Marktes, Auswirkungen staatlicher Privilegien auf Mitbewerber oder Verpflichtungen zur Erbringung von Solidarleistungen. Ein und dieselbe Institution kann also sowohl wirtschaftliche als auch nicht wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben und somit für einen Teil ihrer Aktivitäten – und zwar nur für diesen – den Wettbewerbsregeln unterliegen, z. B. wenn sie einerseits gemeinwohlbedeutsame und soziale Aufgaben ohne wirtschaftlichen Hintergrund, andererseits rein kommerzielle Tätigkeiten wahrnimmt. Ein sozialer Leistungsträger kann auch gemeinwohlorientierte oder gemeinnützige Zwecke verfolgen und zugleich bezüglich seiner Sozial- oder Finanzdienstleistungen, selbst wenn diese ohne Gewinnerzielungsabsicht getätigt
19
Rs. FENIN (T-319/99), Slg. 2003, II-357. Hier läßt der EuGH unberücksichtigt, daß sich eindeutige Abgrenzungskriterien von wirtschaftlich-unternehmerischer und hoheitlicher bzw. gemeinwohlorientierter Funktion nicht aus einer globalen Würdigung der Institution und ihrer Funktionen erschließen, sondern nur aus der Qualifizierung einer konkret von ihr ausgeübten Tätigkeit, wie Kluckert, S. 184, differenziert darlegt. 20
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werden, mit anderen Anbietern konkurrieren.21 Voraussetzung dafür, daß eine bestimmte Dienstleistung als wirtschaftliche Tätigkeit eingestuft wird, auf die die Binnenmarktvorschriften Anwendung finden, ist jedenfalls, daß sie gegen Entgelt erbracht wird, ohne daß dieses unbedingt von den Nutznießern der Tätigkeit entrichtet werden muß.22
d) Die Einordnung von Zusatzversicherungen und substitutiven Sicherungssystemen Während sich die eine Monopolstellung der Sozialversicherungsträger bisher tolerierenden EuGH-Urteile auf die Pflichtversicherung beziehen, zeigen weitere Urteile des Europäischen Gerichtshofs, wie Zusatzversicherungssysteme im Lichte der Freizügigkeits- und der Wettbewerbsregeln zu beurteilen sind.23 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Fdration FranÅaise des Socits d’Assurance24 kommt der Europäische Gerichtshof zu dem Ergebnis, daß eine auf Freiwilligkeit beruhende Rentenzusatzversicherung (deren Beiträge für in der Landwirtschaft selbstständig tätige Personen steuerbegünstigt wurden) als Einrichtung ohne Gewinnerzielungsabsicht, die ein zur Ergänzung einer Grundpflichtversicherung durch Gesetz geschaffenes, auf Freiwilligkeit beruhendes und nach dem Kapitaldeckungsprinzip arbeitendes Rentenversicherungssystem verwaltet, ein Unternehmen im Sinne der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV) ist. Einwände, die den sozialen Zweck des Zusatzversicherungssystems und die fehlende Gewinnerzielungsabsicht der verwaltenden Einrichtung hervorhoben, beirrten den EuGH nicht in seiner Einschätzung. Selbst die Solidarmomente stellten nach Auffassung des EuGH keinen triftigen Grund dar, der eine Unternehmensqualität ausschließe. So konnte der Beitrag, für den Fall, daß die Krankheit die Dauer von sechs Monaten übersteigt, herabgesetzt oder erlassen und durch einen beitragsfinanzierten Fonds kompensiert werden. Ferner bestand eine bis zu zweijährige Stundungsoption für die Beiträge. Die Auszahlung erfolgte in Form einer Rente auf Lebenszeit. Der EuGH hielt folgende Kriterien für maßgeblich: • Das Versicherungssystem funktioniert nach dem Kapitaldeckungsprinzip; die von der Einrichtung gewährten Leistungen sind von der Beitragshöhe der Leistungsberechtigten und den Investitionserträgen der Einrichtung abhängig. 21 Vgl. EuGH, Rs. C-82/01, Slg. 2002, I-9297 ; Karl, Auswirkungen des europäischen Wettbewerbsrechts und des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs auf die Leistungserbringung in der Krankenversicherung, 2005. 22 Zum Begriff wirtschaftlicher Tätigkeit und des Marktbezugs s. Boecken, NZS 2000, 269, 272; Axer, NZS 2002, 52, 62; Koenig/Engelmann, in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb – Zukunftsszenario für die GKV, 2003, S. 107, 111. 23 s. dazu Karl/v. Maydell, Das Angebot von Zusatzversicherungen. 24 Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-4013; s. dazu Möller, ZESAR 2006, 200, 204 f.; Kämmer, Kartellrechtliche Grenzen für die Beschränkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen, 2004, S. 203 ff.
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• Es beruht auf Freiwilligkeit und schränkt damit den Grundsatz der Solidarität ein. • Die das Zusatzversicherungssystem verwaltende Einrichtung übt trotz fehlender Gewinnerzielungsabsicht im Wettbewerb mit Lebensversicherungsunternehmen eine wirtschaftliche Tätigkeit aus. Diese Urteilsgründe könnten für das deutsche Gesundheitssystem insbesondere dann bedeutsam werden, wenn – wie von manchen Gesundheitsexperten vorgeschlagen und durch ökonomische und demographische Entwicklungstendenzen befördert – zukünftig die Leistungen in der GKV in eine Grund- und Zusatzversorgung aufgeteilt werden. Die Basissicherung nähme dann weiter das staatliche Solidarsystem vor, die auf Freiwilligkeit beruhende Zusatzversicherung stünde im Wettbewerb mit privaten Versicherungsunternehmen. Im Verhältnis zwischen den hoheitlichen Sozialversicherungen und den privaten Anbietern könnten in dieser Konstellation erhebliche wettbewerbsrechtliche Konflikte im Hinblick auf die Quersubventionierung von Tarifen, Marketingvorteile bezüglich des Versichertenstamms, Mitnutzung personeller, sachlicher und pekuniärer Verwaltungsressourcen entstehen.25 Mit der Rolle freiwillig begründeter Zusatzversicherungen befassen sich weitere Entscheidungen des EuGH – mit der Tendenz, diesen Unternehmenseigenschaft zuzusprechen und ihnen gleichwohl eine Sonderrolle im europäischen Wettbewerbsrecht zuzugestehen, wie in den drei verbundenen Rechtssachen zwischen der niederländischen Firma Brentjens und der Stiftung Betriebsrentenfonds für den Handel mit Baumaterialien.26 Eine Frage des vorlegenden Gerichts ging dahin, ob ein mit der Verwaltung eines Zusatzrentensystems betrauter Rentenfonds, der durch einen Tarifvertrag zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen eines bestimmten Wirtschaftszweiges eingerichtet worden ist und bei dem Pflichtmitgliedschaft besteht, ein Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts ist. Der Gerichtshof bejahte dies und begründete seine Entscheidung unter Verweis auf vorangegangene Entscheidungen (u. a. Rs. Fdration FranÅaise des Socits dAssurance) wie folgt: Der Begriff des Unternehmens umfasse jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Der Betriebsrentenfonds bestimme die Höhe der Beiträge und der Leistungen selbst und arbeite nach dem Kapitalisierungsprinzip. Anders als bei den Leistungen, die von den Pflichtsystemen der sozialen Sicherheit gewährt würden, hänge die Höhe der vom Fonds erbrachten Leistungen von den Erträgen der Anlagen ab, die er 25 Zu den wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen eines Wettbewerbs zwischen Krankenkassen untereinander und mit privaten Versicherungsunternehmen s. Hänlein, NZS 2003, 617; Sodan, GesR 2005, 145, 149; Schlegel, SozSich 2006, 378 ff.; Kingreen, MedR 2004, 188, 190; Bien, Die Einflüsse des europäischen Kartellrechts auf das nationale Gesundheitswesen, 2004, S. 58. 26 EuGH v. 21. 9. 1999 – Rs. C-115/07 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025. s. dazu Möller, ZESAR 2006, 200, 205 f.; Krämmer, S. 209 ff.
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vornehme und bei denen er wie eine Versicherungsgesellschaft der Aufsicht der Versicherungskammer unterliege. Auch das Fehlen eines Gewinnerzielungszwecks und die Solidaritätsgesichtspunkte genügten nicht, um ihm die Eigenschaft eines Unternehmens im Sinne der Wettbewerbsregeln des Vertrages zu nehmen. Dennoch könnten die Solidaritätsaspekte andererseits das ausschließliche Recht einer solchen Einrichtung zur Verwaltung eines Zusatzrentensystems rechtfertigen,27 so daß das Unionsrecht es dem Staat nicht verwehrt, einem Rentenfonds das Monopol für ein Zusatzrentensystem in einem bestimmten Wirtschaftszweig einzuräumen. Ein solcher Fonds sei daher gleichzeitig Inhaber einer beherrschenden Stellung, die aber erst dann rechtlich problematisch sei, wenn dieser mißbräuchlich ausgenutzt wird. Auch für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, gelten zunächst die Wettbewerbsregeln. Ausnahmen von diesem Prinzip seien für den Fall vorgesehen, daß die Anwendung dieser Vorschriften die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindere (Art. 86 Abs. 2 EGV, jetzt Art. 106 Abs. 2 AEUV). Nach Ansicht des Gerichtshofes genügt es für die Erfüllung dieses Tatbestandes bereits, wenn die Beibehaltung der beherrschenden Stellung erforderlich ist, damit er seine im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Aufgaben zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen erfüllen kann. Anderenfalls würde nämlich eine Risikoselektion einsetzen, nach der der Fonds zu annehmbaren Kosten keine Renten mehr anbieten könnte. Außerdem verwies der Gerichtshof auf den Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung bei der Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit verfügen. Gleichlautende Urteile ergingen in den Rechtssachen Albany zur Pflichtmitgliedschaft in Betriebsrentenfonds der Textilindustrie bzw. Bokken zu Rentenfonds für Fuhrunternehmen und Hafenbetriebe.28 Bei einem weiteren Zweig der Sozialversicherung, den Institutionen der Gesetzlichen Unfallversicherung (nach SGB VII), deren Aufgabe zum einen in der Unfallverhütung und zum anderen im Schadensausgleich besteht, war es lange zweifelhaft, ob sie im Hinblick auf ihre funktionale Nähe zur privaten Haftpflichtversicherung als dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegende Wirtschaftsunternehmen einzustufen sind. Zur Begründung für die Unternehmenseigenschaft der Berufsgenossenschaft als Träger der Unfallversicherung wurde zum Teil darauf hingewiesen, daß ihre Aufgaben gleichermaßen von privaten Unfallversicherern wahrgenommen werden können, und ihre Doppelfunktion bei der mit hoheitlichen
27
Vgl. Igl, Das Gesundheitswesen in der Wettbewerbsordnung, 2000; Kluckert, S. 162 ff. Rs. C-67/96, Slg. 1999, I-5751 und Rs. C-219/97, Slg. 1999, I-6121; s. dazu Berg, EuZW 2000, 170. 28
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Mitteln durchgeführten Unfallverhütung und ihrer Haftpflichtversicherungen ähnlichen Schadensausgleichsaufgabe angeführt.29 Durch Entscheidungen des EuGH, die sich auf die Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und die Klassifikation einer Versicherungseinrichtung gegen Arbeitsunfälle als Unternehmen bezogen, dürfte das unterschiedlich bewertete Verhältnis zwischen dem Unfallversicherungsmonopol und dem Unionsrecht aufgeklärt worden sein. Auslöser war ein Rechtsstreit einer italienischen Firma, die Versicherungsbeiträge eines Arbeitnehmers an die staatlich beliehene Unfallversicherungsanstalt INAIL zahlen sollte, obwohl der zu versichernde Arbeitnehmer bereits seit mehreren Jahren bei einer privaten Versicherungsgesellschaft gegen Arbeitsunfälle versichert war. Seitens der Firma wurde eingewandt, daß die Rechtsvorschriften, aufgrund deren sie verpflichtet sei, ihren Arbeitnehmer gegen dieselben Risiken auch beim INAIL zu versichern, gegen das gemeinschaftliche Wettbewerbsrecht verstießen, da sie zu Unrecht das Monopol des INAIL aufrechterhielten, was dieses zum Mißbrauch seiner beherrschenden Stellung verleite. Der EuGH zog den im staatlichen Versicherungssystem zum Ausdruck kommenden sozialen Zweck als Begründung für die Rechtmäßigkeit der von der INAIL geforderten Beiträge heran. Der soziale Zweck werde dadurch konkretisiert, daß: • Leistungen auch dann gewährt werden, wenn fällige Beiträge nicht entrichtet wurden, • die Beiträge nach Maßgabe der Einkünfte des Versicherten und nicht auf der Grundlage des mit der Tätigkeit des betreffenden Unternehmens verbundenen Risikos erhoben werden, • die Beitragshöhe sich nicht streng proportional zum versicherten Risiko verhält, • die Höhe der gewährten Leistungen nicht notwendig proportional zu den Einkünften des Versicherten sein muß, • die Tätigkeit des Versicherers der staatlichen Aufsicht unterworfen ist und • der Umfang der Leistungen und die Höhe der Beiträge staatlich festgesetzt sind. Der EuGH betont, daß die Versicherungsanstalt „durch ihre Mitwirkung an der Verwaltung eines der traditionellen Zweige der sozialen Sicherheit, der Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, eine Aufgabe rein sozialer Natur wahrnimmt und folglich nicht unter den Begriff des Unternehmens“ im Sinne der Art. 101 und 102 AEUV (ex-Art. 81 und 82 EGV) fällt. Auch in diesem Fall hat der EuGH einem hoheitlichen Träger der Sozialversicherung somit die rechtmäßige Monopolstellung bescheinigt, ohne näher auf die Verhältnismäßigkeit nach Art. 102 AEUV (ex-Art. 82 EGV) einzugehen. Seiner 29 EuGH, Urt. v. 22. 1. 2002, Rs. Cisal C-218/00, Slg. 2002, I-691; s. dazu Fuchs, SGb 2005, 65 ff.; Penner, NZS 2003, 234 ff.; Giesen, ZESAR 2004, 151 ff.; Möller, ZESAR 2006, 200, 206 f.
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Ansicht nach ist die Tätigkeit der staatlichen Unfallversicherung sozialer und nicht wirtschaftlicher Natur, so daß der Unternehmensbegriff keine Anwendung findet und ein Verstoß gegen europäisches Wettbewerbsrecht nicht näher überprüft werden muß.30 In der Rechtssache Kattner gegen Maschinenbau- und Metallberufsgenossenschaft31 bestätigt der EuGH diese Rechtsprechung im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Systems der deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung mit dem Europarecht. Bei der Prüfung, ob die Wettbewerbs- sowie Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf konkurrierende private Unfallversicherungen tangiert sind, hebt der EuGH insbesondere den sozialen Zweck und den solidarischen Charakter der Gesetzlichen Unfallversicherung als Legitimation für deren Monopol und Pflichtmitgliedschaft hervor. In der Rechtssache Danner32 hat der EuGH auch solche freiwillige Formen der Altersvorsorge dem europäischen Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht unterworfen, die von den gesetzlichen Systemen der ersten Säule der Alterssicherung bereitgestellt werden. Unmittelbar von dem Fall betroffen sind die deutsche Rentenversicherung und die berufsständischen Versorgungswerke. Hintergrund der Rechtssache ist der Fall eines Arztes, der zunächst in Deutschland gearbeitet hatte, später aber seinen Wohnsitz nach Finnland verlegte und dort versicherungspflichtig wurde. Gleichwohl zahlte er weiterhin freiwillige Beiträge an die deutsche Gesetzliche Rentenversicherung sowie an eine berufsständische Versorgungseinrichtung. Er machte die Beiträge in Finnland steuerlich geltend; der finnische Staat verwehrte ihm allerdings den steuerlichen Abzug der Beiträge mit der Begründung, diese würden nicht an ein inländisches System entrichtet. Die Sache wurde schließlich dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der EuGH vermeidet in dieser Entscheidung jede explizite Differenzierung zwischen freiwilliger und Pflichtversicherung, sondern stellt lapidar fest, daß die von dem deutschen Arzt gezahlten Beträge die „wirtschaftliche Gegenleistung“ für die Renten darstellen, die ihm gezahlt werden, wenn er seine Berufstätigkeit beendet, und für die beiden Träger, denen sie zugutekommen, „Entgeltcharakter“ aufweisen. Daher gelangt der EuGH zu der Feststellung, das Erfordernis für die betroffenen Träger, sich als Voraussetzung für eine steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge ihrer Mitglieder in Finnland niederzulassen, beschränke den freien Dienstleistungsverkehr. Wenn auch die Ausführungen des Gerichtshofs zur Begründung des Ergebnisses Fragen aufwerfen und Anlaß zu Spekulationen über eine Neuausrichtung der Rechtsprechung gegeben haben, so steht jedoch das Ergebnis der Entscheidung nicht 30
s. dazu Cox/Ambrosius, Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der EU, 2000; Fuchs, SGb 2005, 65 ff.; Möller, ZESAR 2006, 200, 206 f.; Kluckert, S. 166 ff. unter Hinweis auf die Argumentation des Generalanwalts F.G. Warren. 31 Rs. C-350/2007, NJW 2009, 1325 mit Anm. von Kirchberg, NJW 2009, 1313. 32 Rs. C-136/00.
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in Widerspruch zu der mit dem Urteil „Poucet/Pistre“ eingeleiteten Rechtsprechung des EuGH, wonach obligatorische gesetzliche, auf dem Prinzip der nationalen Solidarität beruhende und nicht kommerziell betriebene Systeme der sozialen Sicherheit keine „wirtschaftliche Betätigung“ darstellen. Denn nach dieser Rechtsprechung leitet sich der solidarische Charakter gerade aus dem Umstand der obligatorischen Einbeziehung weiter Teile der Bevölkerung ab.33 Dieses Kriterium ist im Fall eines freiwilligen Anschlusses an eine Sozialversicherung oder an eine berufsständische Versorgungseinrichtung nicht erfüllt, da hier der Betroffene unter Einbeziehung privater Sicherungsalternativen unter mehreren Produkten auswählt und sich für das ihm ökonomisch am günstigsten erscheinende Produkt entscheiden kann. Es ist bemerkenswert, daß der Europäische Gerichtshof die Dienstleistungseigenschaft der freiwilligen Versicherung völlig ungeachtet des Umstands bejaht, daß diese Versicherung entweder überhaupt nicht (Gesetzliche Rentenversicherung) oder nur teilweise (berufsständische Versorgungswerke) kapitalgedeckt ist, mithin also nach völlig anderen Grundsätzen finanziert wird als kommerzielle Produkte. Die Bewertung der freiwilligen Versicherung im Rahmen eines gesetzlichen Systems als „Dienstleistung“ impliziert ihren wirtschaftlichen Charakter, öffnet sie damit prinzipiell dem europäischen Binnenmarkt und unterwirft sie zugleich den Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts. Dies könnte auch Konsequenzen für die freiwillige Versicherung in der deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung nach sich ziehen. Prinzipiell kommen vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung34 mehrere Gründe in Betracht, die eine Ausnahme der freiwilligen Versicherung in einem gesetzlichen System nach Maßgabe der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV) rechtfertigen können: Dies können zunächst familienpolitische Erwägungen sein, die eine besonders große Rolle in der freiwilligen Krankenversicherung im Rahmen des gesetzlichen Systems spielen. Ferner können soziale Motive relevant sein: Auch solche Personen sollen Zugang zu einer angemessenen Vorsorge erhalten, für die ein privates Produkt nicht oder nur unter unzumutbaren finanziellen Anstrengungen erschwinglich ist. Auch Gründe des individuellen Ausgleichs können eine Rolle spielen: Personen, die gesundheits- oder altersbedingt ein erhöhtes Risiko aufweisen und deswegen in einer Privatversicherung überhaupt nicht oder nur unter Zahlung von Risikozuschlägen versichert würden, erhalten so - ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Situation - eine bezahlbare Vorsorge. Diesen Erwägungen kommt im Bereich der Krankenversicherung, aber auch im Fall der Absicherung gegen das Risiko der 33
Zum Kriterium der auf Pflichtversicherung und Grundsätzen der Solidarität beruhenden Tätigkeit von Sozialversicherungsträgern als wettbewerbsprivilegierenden Merkmalen in der EuGH-Rechtsprechung s. die Nachweise bei Kluckert, S. 292 ff. 34 Daß der EuGH für den Bereich der sozialen Sicherheit zum Teil eine „bereichsspezifische Abkehr vom funktionalen Unternehmensbegriff“ vollzieht (so Schenke, VersR 2004, 1360, 1365) und seine Rechtsprechung zu einer „weitgehenden De-facto-Bereichsausnahme für Soziale Sicherungssysteme“ (s. Kluckert, S. 208) führt, erschwert eine widerspruchsfreie wettbewerbsrechtliche Einordnung sozialer Einrichtungen im Spannungsfeld von Solidarität und wirtschaftlicher Tätigkeit.
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Invalidität und des Hinterbliebenenschutzes, große Bedeutung zu. Schließlich können die genannten Überlegungen noch zusätzlich in den Fällen an Gewicht gewinnen, in denen die betroffene Person zunächst pflichtversichert war, später jedoch aus der Pflichtversicherung „herausgewachsen“ ist und in der Zwischenzeit „zu alt“ oder „zu krank“ geworden ist, um noch unter angemessenen Bedingungen auf dem freien Markt Versicherungsschutz zu erhalten. Auch wenn sich verschiedene Rechtfertigungen zur Begründung eines wettbewerblichen Sonderstatus der freiwilligen Versicherung in der Sozialversicherung anbieten, so wird der Legitimationszwang für Ausnahmeregelungen und für die wettbewerbsrechtliche Freistellung bestimmter Versicherungsarten und Personenkreise zunehmen.35
2. Die Rechtsstellung der Krankenversicherung unter europarechtlichen Rahmenbedingungen a) Krankenkassen und Anforderungen des europäischen Wettbewerbsrechts Vor diesem Hintergrund dürfte die lange Zeit gefestigt erscheinende Einstufung des nationalen Krankenversicherungsrechts als weitgehend wettbewerbsresistent zu undifferenziert sein, zumal die vom EuGH aufgestellten Kriterien für den sozialen Charakter eines Sozialversicherungsträgers als wettbewerbsfreistellende Privilegierung in erster Linie Sachverhalte in Bezug auf die Angebotsseite der sozialen Sicherungssysteme betrafen. So wurde in den erörterten Entscheidungen bezüglich der Wahlmöglichkeiten zwischen im Binnenmarkt agierenden Versicherungsunternehmen für eine Altersrente bzw. eine Kranken- und Mutterschaftsversicherung36 die Übertragung der Unternehmenseigenschaft auf den beklagten Sozialversicherungsträger abgelehnt, weil es sich in den vorliegenden Fällen um ein sozialen Zwecken dienendes und auf dem Grundsatz der Solidarität beruhendes System handle, bei dem der Zusammenhang zwischen Beitragshöhe und Leistungen auf der Grundlage umlageförmiger Finanzierungsmodalitäten fehlte. Aus den gleichen dargelegten Gründen verneinte der EuGH auch für ein System der auf Pflichtmitgliedschaft beruhenden beruflichen Unfallversicherung die Annahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit wegen öffentlich-rechtlicher Beitragsfinanzierung, solidarischer Ausrichtung, mangelnder Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen sowie staatlicher
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Dies gilt schon im Hinblick darauf, daß die Mitgliedstaaten aufgrund der auftretenden Finanzierungsprobleme zunehmend weitere Wettbewerbselemente in die nationalen Sicherungssysteme einfügen. Ebenso Möller, ZESAR 2006, 200, 209. 36 Rs. C-159/91 und C-160/91, Slg. 1993, I-637.
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Aufsichtsunterworfenheit.37 Selbst soweit eine gesetzlich begründete Pflichtmitgliedschaft den freien Dienstleistungsverkehr nach Art. 56 AEUV (ex-Art. 49 EGV) behindert, hält sie der EuGH aus zwingenden Gründen für gerechtfertigt, sofern die Regelung der Umsetzung des Grundsatzes der Solidarität und der Gewährleistung des finanziellen Gleichgewichts des betreffenden Zweiges der Sozialen Sicherheit diene. Zum „Nachfragebereich“ der Sozialversicherungsträger, dem „Einkaufssektor“ bei der Leistungserbringung, hielt der EuGH in der Rechtssache Sodemare38 die Mitgliedstaaten für befugt, die Beteiligung an der Durchführung von gesundheitsrelevanten Sozialhilfeleistungen allein solchen privaten Wirtschaftsteilnehmern zu gewähren, die keine Erwerbszwecke erfüllen. Diese können für den Abschluß von Verträgen privilegiert werden, die ihnen einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für gesundheitsbezogene Leistungen der Sozialhilfe einräumen. Auch bei dieser Entscheidung stand die solidarische Ausgestaltung der Sozialleistungssysteme als Priorität gegenüber den wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Vordergrund. Im nationalen Sozialrecht sind die zwei verschiedenen Märkte des Versicherungsund Leistungserbringungsbereichs zu trennen: Im Versicherungsbereich treten die Sozialversicherungsträger als Anbieter auf. Hier nehmen die Krankenversicherungen bisher öffentliche Aufgaben sozialer Art mit dem Ziel wahr, eine finanzierbare und angemessene medizinische Versorgung aller Versicherten zu gewährleisten. Die bisherige Verneinung der Unternehmenseigenschaft lag unter gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Aspekten zumindest so lange nahe, als sie sich nicht von ihrem „Kerngeschäft“, der sozial ausgewogenen flächendeckenden Gesundheitsversorgung, entfernen und in den privatwirtschaftlichen Sektor vordringen – eine Tendenz, die durch die Reformgesetze der jüngsten Zeit in Deutschland durch das Angebot von Zusatz- und Wahltarifen deutlich verstärkt wurde.39 Im Leistungserbringungsbereich sind die Sozialversicherungsträger die Nachfrager; die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen, Apotheken- oder Krankenhausverbände sowie Organisationen der Arzneimittel-, Heil- und Hilfsmittelhersteller dagegen der Angebotsseite zuzurechnen. Gerade in der Nachfragefunktion der Sozialversicherung könnte eine Einstufung mancher Aktivitäten als wirtschaftliche Tätigkeit möglich erscheinen, wobei allerdings insbesondere auch beim Abschluß der Gesamtverträge die Erfüllung des Sicherstellungsauftrages, also ein sozialer Zweck, im Vordergrund steht.40 37
Rs. C-218/00, Slg. 2002, I–691; zuletzt für Pflichtmitgliedschaft in einer deutschen Berufsgenossenschaft Rs. C-350/07, NJW 2009, 1325 mit Anmerkung von Kirchberg, NJW 2009, 1313. s. oben 2. Kap. I. 1. c), d). 38 Rs. C-70/95, Slg. 1997, I-3395. 39 s. den Überblick über diesbezügliche Änderungen des Tarifsystems der Gesetzlichen Krankenversicherung bei Sodan, NJW 2007, 1313, 1315; Rixen, Wahltarife der gesetzlichen Krankenversicherung, 2010. 40 Zu dieser doppelten Marktfunktion der Krankenkassen s. Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 102; Kluckert, S. 231 ff. m.w.N.
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In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die Entscheidung des Gerichtes Erster Instanz beim Europäischen Gerichtshof hinzuweisen, in der die Feststellung getroffen wird, daß eine öffentliche Einrichtung, die Erzeugnisse kauft, um sie im Rahmen einer nicht wirtschaftlichen Tätigkeit zu verwenden, nicht als „Unternehmen“ im Sinne des Wettbewerbsrechts angesehen werden kann. Nur wenn das Erzeugnis im Rahmen einer angebotsorientierten wirtschaftlichen Aktivität am Markt eingesetzt wird, etwa im Rahmen einer Weiterverarbeitung oder eines Weiterverkaufs, werde auch die Einkaufstätigkeit der öffentlichen Hand zu einer wirtschaftlich-unternehmerischen Aktivität41. Diese Rechtsprechung hätte für das „Einkaufsverhalten“ von Sozialversicherungen die Konsequenz, daß trotz deren erheblicher Marktmacht und potentiellen Monopolstellung als Nachfrager das europäische Wettbewerbsrecht (z. B. das Verbot der mißbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV, ex-Art. 82 EGV) grundsätzlich nicht anzuwenden wäre. Der deutsche Gesetzgeber hat durch das GKV-WSG in § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB V die §§ 19 bis 21 GWB, die sich gegen Marktbeherrschung und wettbewerbsbeschränkendes Verhalten richten, hinsichtlich der Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern und ihren Verbänden für anwendbar erklärt, soweit es sich nicht um Verträge handelt, zu denen die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet sind.42 Insbesondere für den Bereich der Integrationsverträge (§ 140b SGB V), zu deren Abschluß die Krankenkassen nicht verpflichtet sind, ergeben sich daraus erhebliche Rechtsprobleme hinsichtlich des Gestaltungsspektrums und der Marktstellung der Krankenkassen auch in vergaberechtlicher Hinsicht, zumal der Gesetzgeber in §§ 140a ff. SGB V – anders als in § 73b Abs. 3 und § 73c Abs. 3 SGB V – die Krankenkassen nicht verpflichtet hat, Integrationsverträge öffentlich auszuschreiben.43
b) Die doppelte Marktfunktion der Krankenversicherung Auch die Gestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ist im Verhältnis zum europäischen Kartellrecht vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung zu den Festbetragsregelungen umstritten.44 Nach § 35 SGB V übernehmen die Krankenkassen die Kosten für bestimmte Medikamente nur bis zur Höhe eines festgesetzten Betrages; die Mehrkosten tragen die Patienten selbst. Die Festbeträge werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuß 41
EuG, Rs. Fenin, T-319/99, Slg. 2003, II–357. s. dazu Huster, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2008, § 140 Rn. 15 f. Zur Ausdehnung und Zivilrechtswegzuweisung des Kartellrechts in der GKV durch den Gesetzentwurf des AMNOG s. Gesundheitspolit. Informationsdienst 24/2010 v. 24. 11. 2010, S. 16 ff. 43 Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, 2008, S. 76. 44 Zum Diskussionsstand s. Wigge/Harney, MedR 2008, 139 ff.; Frenz, NZS 2007, 233; Gassner, NZS 2007, 281; Kingreen, GesR 2006, 193 ff.; Sauter/Ellerbrock, GesR 2007, 497 ff. Vgl. auch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 v. 16. 12. 2002 (ABl L 1 v. 4. 1. 2003). 42
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in Richtlinien festgesetzt. In der Debatte um die Festbetragsregelungen wurde zum einen das Verfahren der Festsetzung im Hinblick auf die fehlende normative Legitimation gerügt, die vom BVerfG45 als verfassungskonform bestätigt wurde. Zum anderen wurde kritisiert, daß die Festbeträge eine Maßnahme mit preisregulierender Wirkung im Sinne eines dirigistischen Eingriffs in den Marktablauf seien, weil den Krankenkassen als Mittel zur Kostendämpfung die Bildung eines Preiskartells zu Lasten der Pharmaindustrie, des pharmazeutischen Großhandels und der Apotheken gestattet werde. Diese Problematik wurde auch von mehreren Gerichten gesehen, so daß das LSG NRW und der BGH anhängige Verfahren aussetzten und zur Vorabentscheidung an den EuGH vorlegten, um die Vereinbarkeit der Festbetragsregelungen mit dem europäischen Recht klären zu lassen.46 Dabei ging es um die Frage, ob die deutschen Krankenkassen unter den Begriff des Unternehmens im Sinne des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) fallen, ob in den Festbetragsregelungen eine Wettbewerbsbeschränkung zu sehen ist und ob möglicherweise eine Ausnahme des Anwendungsbereiches des europäischen Kartellrechts nach Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) vorliegt. Der Generalanwalt hatte in seinen Schlußanträgen zu diesem Verfahren die Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen mit Hinweis auf den mit der Freiheit der Kassenwahl eröffneten systeminternen Wettbewerb und den partiellen Wettbewerb mit privaten Versicherungsunternehmen um freiwillige Mitglieder bejaht. Der EuGH ist dieser Einschätzung nicht gefolgt, die möglicherweise dazu geführt hätte, daß auch die auf der gemeinsamen Selbstverwaltung beruhenden Gesamtverträge als Verstoß gegen das europäische Wettbewerbsrecht zu qualifizieren wären.47 Er hebt in seiner Festbetrags-Entscheidung48 hervor, daß die Kassenverbände bei der Entscheidung über die Festbeträge „keine eigenen Interessen“ verfolgten, die sich vom sozialen Zweck der Kassen trennen ließen, und lediglich gesetzliche Vorgaben zur Erfüllung von Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsgeboten umsetzten. Soweit sie im Auftrag des Gesetzgebers solche sozialen Aufgaben wahrnehmen, seien sie weder Unternehmen noch Unternehmensverbände. Es bleibt zu klären, ob die Krankenkassen in ihrer Nachfragerrolle als „Einkäufer“ medizinischer Behandlungsleistungen oder Medizinprodukte, die nach Bewertung des EuGH die von ihm postulierten Kriterien eines wettbewerbsfreistellenden so-
45 BVerfGE 106, 275. Zur Normsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses und anderer Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung im Hinblick auf verfassungsrechtliche Schranken der Grundrechte und des Gesetzesvorbehalts s. Ziermann, Inhaltsbestimmung und Abgrenzung der Normsetzungskompetenz des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Bewertungsausschüsse im Recht der GKV, 2006. 46 Rs. C-264/01, C-306/01, C-355/01, Slg. 2004, I-2493. Zu den Vorlagen zum EuGH s. Axer, NZS 2002, 57 ff.; Sodan, GesR 2005, 145 ff. 47 Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 103; s. auch Koenig/Beer, ZESAR 2002, 54 ff. 48 Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-2493 ff.
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zialen Charakters bisher erfüllen,49 auch auf der Angebotsseite des Sozialen Sicherungssystems unionsrechtlich in gleicher Weise eingestuft werden, wenn sie mit privaten Versicherungsunternehmen konkurrieren und sich in ihrer Tarifgestaltung diesen annähern. Für die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts auf die Aktivitäten der Sozialversicherung in ihrer Versicherungsfunktion ist es vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung entscheidend, ob diese durch ein besonders hohes Maß an Solidarität und Umverteilung gekennzeichnet sind oder ob ein vergleichbares „Produkt“ nicht ebenso gut von kommerziellen Anbietern zu Marktbedingungen angeboten werden könnte. Würden etwa die deutschen Krankenkassen durch fortschreitende Einführung von Elementen des Äquivalenzprinzips (z. B. Beitragsrückerstattung, Wahlleistungen, Wegfall der beitragsfreien Familienversicherung) weitgehend ihres sozialen Charakters entkleidet und hierdurch privaten Versicherungsunternehmen ähnlich,50 könnte sich nach den Regeln des europäischen Wettbewerbsrechts die Monopolfrage stellen. Aber auch die von der Sozialversicherung vorgehaltenen freiwilligen Versicherungsangebote unterfallen dem Kreis dieser Rechtsproblematik.51 In seiner Entscheidung in der Rechtssache Fdration FranÅaise52 hat der EuGH festgestellt, daß eine auf Freiwilligkeit beruhende Zusatzversicherung als Unternehmen im Sinne der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV) einzustufen ist. Begründet wurde dies damit, daß ein solches freiwilliges Versicherungssystem nach dem Kapitaldeckungsprinzip funktioniere und die gewährten Leistungen von der Beitragshöhe der Leistungsberechtigten und den Investitionserträgen der Versicherung abhängig seien. Trotz fehlender Gewinnerzielungsabsicht werde deshalb im Wettbewerb mit Privatversicherungsunternehmen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt.53
49 Vgl. Rs. Fenin CT-319/99, Slg. 2003, II-357 sowie Entscheidungen zu den Arzneimittelfestbeträgen der deutschen Krankenversicherung verbundene Rs. C-264/01, C-306/01, C354/01, C-355/01, Slg. 2004, I–2493. s. dazu Sodan, GesR 2005, 145 ff. 50 Zu diesem Angleichungsprozeß und seiner verfassungs- und wettbewerbsrechtlichen Problematik s. Isensee, NZS 2007, 449; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff., 59 ff. 51 s. hierzu den Überblick über die EuGH-Rechtsprechung bei Karl/v.Maydell, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherung, S. 67 ff., die ebenso wie König/Engelmann, EuZW 2004, 682, 685 f.; Sodan, NZS 2005, 145, 150; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 1401 die Krankenkassen als Anbieter von Zusatzversicherungen als Normadressaten der Wettbewerbsregeln des EU-Rechts sehen, so daß das Angebot von Wahltarifen den wettbewerbsrechtlichen Unternehmenstatbestand begründet. 52 Rs. Fdration FranÅaise des Socits dAssurance C-244/94, Slg. 1995, I-4013. 53 Ähnliche Entscheidungen sind für freiwillig begründete Zusatzversicherungen der Altersvorsorge und Betriebsrentenfonds ergangen, denen der EuGH Unternehmenseigenschaft zusprach und ihnen gleichwohl eine Sonderrolle im europäischen Wettbewerbsrecht einräumte, soweit ihre Funktion für notwendig erachtet wurde, um eine im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegende Aufgabe zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen erfüllen zu können. Rs. Brentjens C-115/97, C-116/97, C-117/97, Slg. 1999, I-6025. S. dazu oben 2. Kap. I. 1. d).
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c) Die wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen der Assimilierung von Gesetzlicher Krankenversicherung und Privater Krankenversicherung Der europäische Trend zur Ergänzung der sozialen Grundsicherung durch freiwillige oder pflichtige Zusatzversicherungen greift zunehmend auf Deutschland über. Die staatlich geförderte private Altersvorsorge im Rahmen der sog. „RiesterRente“ und die seit Jahren geführte Gesundheitsreformdiskussion um Grund- und Wahlleistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung und (freiwillige oder zwangsweise) Zusatzversicherungen54 werfen wettbewerbsrechtliche Fragen der Zulässigkeit einer Beteiligung der Sozialversicherung an diesem „Zusatzgeschäft“ in Konkurrenz oder im Zusammenwirken mit privaten Versicherungsunternehmen auf. Schon vor Inkrafttreten des GKV-WSG wurden den gesetzlichen Krankenkassen erweiterte Freiräume zur individuellen Gestaltung ihrer Leistungen eröffnet, wie z. B. Angebote integrierter Versorgungssysteme (§§ 140a ff. SGB V), kombiniert mit Bonusmodellen im Sinne von § 65a SGB V. Es fragt sich, inwieweit sich die Gesetzlichen Krankenversicherungen – soweit sie sich durch das Angebot von Wahlleistungen oder Zusatzversicherungen vom Solidarprinzip entfernen – lediglich in einen staatsmonopolistischen oder -oligopolistischen „Scheinwettbewerb“ begeben, was im europäischen Wettbewerb keine Sonderstellung rechtfertigt. Vor allem werden die Wettbewerbsvorteile moniert, in deren Genuß die Gesetzlichen Krankenversicherungen durch den Zugriff bei Zusatzangeboten auf ihren Versichertenstamm, aber auch über steuerliche Erleichterungen, den Beitragseinzug und staatliche Veränderungen der Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen gelangen.55 Außerdem wird befürchtet, daß es durch die zunehmende Umgestaltung des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherung in Form einer Grundversorgung in Kombination mit Wahlleistungen oder Beitragsrückerstattungen sowie Zusatzversicherungen zu Quersubventionen im Verhältnis zum Kernbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung kommt.56 Diese könnten angesichts des Ermessensspielraums, der bei der Zuordnung von Gemeinkosten wie etwa des Verwaltungsaufwands besteht, auch gesetzlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, so daß Personen, die die Wahl- oder Zusatzleistungen nicht in Anspruch nehmen, diese quasi mitbezahlen müssen. Soweit die Gesetzliche Krankenversicherung durch das eigene oder in Kooperation mit einzelnen Privatversicherungs54
s. dazu z. B. Fritz-Beske-Institut für Gesundheits-System-Forschung: Gesundheitspolitische Agenda 2009 – Für ein verläßliches, solidarisches und gerechtes Gesundheitswesen. Ein Handlungskonzept, 2009; Meyers-Middendorf, ErsK 2010, 140 ff.; Beske, Arzt und Krankenhaus 6/2009; Oberender/Zerth, BKK 4/2008, 202 ff.; Kern, Die Krankenversicherung 1/ 2006, 20 ff. 55 v. Maydell, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 593 ff.; Sodan, NZS 2005, 145, 150. 56 Isensee, NZS 2007, 449; s. zu Wahltarifen in der GKVauch Kingreen, ZESAR 2007, 139, 143 ff.; ders., ErsK 2007, 112 f.; Winkel, SozSich 2007, 110 ff.; Weber, Gesellschaftspolitische Kommentare 22/2008, S. 10 ff.
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unternehmen im Markt plazierte Angebot von Zusatzversicherungen möglicherweise wirtschaftlich tätig würde, könnte sie als öffentliches Unternehmen dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen. Hiermit verbunden ist die Frage der Chancengleichheit aller Wettbewerber, ein Grundsatz, der durch die Privilegien der Gesetzlichen Krankenversicherung konterkariert und deswegen als Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gewertet werden könnte.57 In umgekehrter Richtung sind die privaten Versicherungsunternehmen durch die Reformgesetzgebung des GKV-WSG in vielfacher Weise wettbewerbsrechtlich benachteiligt worden. Dies gilt insbesondere für die Implementierung sozialversicherungsrechtlicher Elemente wie den Kontrahierungszwang im Rahmen der für alle Versicherungsunternehmen verpflichtenden Einführung eines branchenweit einheitlichen Basistarifs (§ 12 Abs. 1a VAG), der die Risikolast entindividualisiert, indem individuelle Risikozuschläge oder Leistungsausschlüsse nicht vorgenommen werden dürfen (§ 178g Abs. 1 Satz 2 VVG). Die Begrenzung der Beitragshöhe auf den Höchstbeitrag der Gesetzlichen Krankenversicherung (§ 12 Abs. 1c VAG) und die Vorgaben für den basistariflichen Leistungsinhalt (§ 12 Abs. 1a VAG) sowie die Regelungen zum Tarifwechsel innerhalb und zwischen den Versicherungsunternehmen (§ 178 f Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 und § 2 VVG) mit Einführung der Portabilität von Altersrückstellungen verändern die Wettbewerbssituation auf dem Krankenversicherungsmarkt erheblich.58 Die Private Krankenversicherung erhält anders als die Gesetzliche Krankenversicherung keine staatlichen Zuschüsse und keine steuerlichen Privilegierungen, so daß die Finanzierungslast des systemfremden Basistarifs und dadurch entstehende Deckungslücken von den Unternehmen bzw. den Versicherten zu kompensieren sind. Schon die bisherigen Möglichkeiten selektiver Vertragsgestaltung (Modellvorhaben, Verträge über integrierte Versorgung) werfen kartellrechtliche Fragen auch in europarechtlicher Dimension im Hinblick auf die Exklusivität deutscher Beteiligter auf. Soweit durch jüngste Gesundheitsreformen jedoch weitere wettbewerbsrechtliche Elemente in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt wurden, mutiert das tradierte System der Sozialen Sicherung zunehmend im Sinne von Entsolidarisierung und (Teil-)Privatisierung, während die Private Krankenversicherung stärker dem öffentlich-rechtlichen System der Gesetzlichen Krankenversicherung angeglichen wird. Dies gilt insbesondere für die Einführung von Wahltarifen gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB V durch das GKV-WSG, wonach die Kassen in ihren Satzungen Tarife mit Selbstbehalten vorsehen können, bei denen Mitglieder 57 Vgl. Karl/v. Maydell, S. 43 ff., 87 ff.; v. Maydell, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/ Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 585 ff., 592; anders Becker, in: Klusen (Hrsg.), Zuwahlleistungen in der GKV, 2003, S. 88 ff. 58 Zu verfassungs- und europarechtlichen Einwänden s. Sodan, NJW 2006, 3617,3619 f.; ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, Verfassungs- und europarechtliche Probleme des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes 2007, 2007; ders./Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, 2006, S. 25 ff., 34 ff.; ders., NJW 2007, 1313, 1319 f.
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einen Teil der von der Krankenkasse zu tragenden Kosten übernehmen oder die Kassen bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen die Prämienhöhe begrenzen bzw. ihre Prämien danach differenzieren können, ob der gesetzlich vorgeschriebene Leistungsumfang erweitert (§ 53 Abs. 5 SGB V) oder eingeschränkt (§ 53 Abs. 7 SGB V) wird.59 Durch diese Regelungen wird eine für die Sozialversicherung atypische Individualäquivalenz und Risikoselektion eingeführt. Auch die gesetzlich vorgesehenen Beitragsrückerstattungen, deren Steuerungswirkung ähnlich wie die Selbstbehalte darauf abzielen, Leistungsinanspruchnahme zu Lasten der Krankenkassen zu reduzieren, dünnen das Solidarprinzip zugunsten äquivalenzförmiger Mittelallokation aus. Zu einer Relativierung des Solidarprinzips trägt nicht zuletzt die durch das GKVWSG erheblich ausgeweitete Steuerfinanzierung im Rahmen des Gesundheitsfonds bei, die den binnensolidarischen Ausgleich im Sozialversicherungssystem zum großen Teil externalisiert und auf die Gesamtheit der Steuerzahler verlagert, weil die Legitimationsbasis für die spezifischen Bedingungen eines auf Solidarausgleich angelegten Sozialversicherungsmonopols im wettbewerblichen Vergleich zu privatwirtschaftlichen Versicherungsmerkmalen entfällt.60 Da zugleich durch die Einführung eines dem Leistungsumfang der Gesetzlichen Krankenversicherung entsprechenden Basistarifs für die Private Krankenversicherung mit Kontrahierungszwang ohne vorangegangene Risikoprüfung die Private Krankenversicherung mit Verankerung von Teilelementen des Solidarprinzips61 an die Gesetzliche Krankenversicherung assimiliert wird, entstehen nicht nur erhebliche kartellrechtliche Probleme auf nationaler Ebene, sondern potenziert sich die Wahrscheinlichkeit, daß auch der EuGH das Wettbewerbsverhältnis zwischen privaten und gesetzlichen Kassen einer unionsrechtlichen Überprüfung unterzieht.
59
s. dazu Sodan, NJW 2007, 1313,1315. Zur Entindividualisierung der Risikolast s. Sodan, NJW 2006, 3617, 3619; ders., NJW 2007, 1313, 1319; ders./Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 34 ff.; Meyers-Middendorf, ErsK 2010, 140, 144, der auf die europarechtlichen Konsequenzen eines zunehmenden sozialen Ausgleichs über Steuern hinweist. 61 Vgl. Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes, 2009, S. 365 ff. Zu verfassungsrechtlichen Problemen des Basistarifs s. Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform. 60
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3. Kollektivvertragliche Leistungserbringung auf dem Prüfstand des europäischen Freizügigkeitsund Wettbewerbsrechts a) Krankenversicherungsrechtliches Kollektivvertragssystem und europarechtliches Kartellverbot Die Leistungsbeschaffung und -erbringung innerhalb des deutschen Systems der Sozialen Sicherung erfolgt zu einem großen Teil durch Kollektivverträge der Sozialversicherungsträger mit den Leistungserbringern und deren Organisationen, Freien Trägern oder sonstigen Institutionen. Die Krankenversicherung löst ihre Leistungspflicht gegenüber ihren Mitgliedern, den Versicherten, dadurch ein, daß sie Verträge mit den Körperschaften und Verbänden der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller, Heil- und Hilfsmittellieferanten usw. schließt, in denen Leistungs- und Lieferbedingungen, die Vergütungen und Preise, die Qualitätskriterien und sonstige Konditionen vereinbart werden.62 Inwieweit diese Kollektivverträge mit zum Teil normativer Wirkung mit dem System der europäischen Freizügigkeits-, Kartell- und Vergaberechtsregelungen kompatibel sind, dürfte in Zukunft zunehmend in das Visier europäischer Wettbewerbshüter und des EuGH geraten. Das betrifft insbesondere die kollektivvertraglichen Beziehungen auf der Ebene der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Verbänden der Krankenkassen und Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen in Gestalt von Bundesmantel- und Gesamtverträgen nach §§ 82 und 83 SGB V. Ähnliches gilt für die Vertragsverhältnisse der Krankenkassen mit Verbänden der Apotheker (§ 129 SGB V), Krankenhäuser (§§ 107 ff. SGB V), Heil- und Hilfsmittellieferanten (§§ 125, 127 SGB V) oder Pharmaunternehmen (§ 130a Abs. 8 SGB V). Hierbei könnte es sich um wettbewerbsbeschränkende Absprachen im Sinne der Art. 101 f. AEUV (ex-Art. 81 f. EGV) handeln und somit das Kollektivvertragssystem als Verstoß gegen das europarechtliche Kartellverbot zu qualifizieren sein. Denn das Vorliegen eines verbotenen Kartells wird bejaht, wenn der Preisbildungsmechanismus des Marktes durch das Handeln der Wettbewerber ausgeschlossen wird. Durch die Gesamtverträge, in denen die Entgelte für die Leistungen kollektiv vereinbart und festgesetzt sind, findet ein Wettbewerb um die beste Leistung zum günstigsten Preis nicht statt. An die Stelle freier Preisbildung tritt hier eine Art öffentliche Tarifgestaltung. Würde man die Anwendung der Vorschriften des europäischen Wettbewerbsrechts bejahen, ließe sich ein solches System möglicherweise nur über den Ausnahmetatbestand des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 62 s. dazu B. Tiemann/Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung in Deutschland, 2003, S. 61 ff.; Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, S. 87 ff.; Kluth, MedR 2003, 123 ff.; Hess, MedR 2003, 137 ff. Zur Vereinbarkeit der im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) vorgesehenen Anwendung des Kartellrechts auf die Krankenkassen (§ 69 Abs. 2) mit dem EU-Recht (Art. 3 Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003) s. die Darstellung der kontroversen Rechtsstandpunkte in Gesundheitspolit. Informationsdienst 24/2010 v. 24. 11. 2010, S. 16 ff.
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Abs. 2 EGV) rechtfertigen, wonach die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, nur insoweit gelten, als ihre Anwendung nicht die Erfüllung der übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert.63 Die Anwendung des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) setzt zunächst voraus, daß die Leistungserbringung durch „Unternehmen“ erfolgt, die mit „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ betraut sind. Auf der Grundlage des von Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten einheitlichen funktionalen Unternehmensbegriffs ist Unternehmen „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“. Die Erbringung medizinischer Leistungen durch niedergelassene Ärzte und Zahnärzte stellt ebenso wie die Arzneimittelversorgung durch Apotheker oder die stationäre Krankenversorgung durch Krankenhäuser eine selbständige wirtschaftliche und damit unternehmerische Tätigkeit dar. Weder das Sachleistungsprinzip noch die dem Solidarprinzip entspringenden Besonderheiten des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung sprechen grundsätzlich gegen die Einordnung dieser Akteure als Unternehmer. Aus der Unternehmereigenschaft einzelner Leistungserbringer würde zudem die Qualifizierung der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen, Apothekerverbände oder Krankenhausgesellschaften als Unternehmensvereinigungen folgen, da sie bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte bzw. Zahnärzte wahrnehmen.64 Eine besondere Rolle als normsetzendes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung kommt in diesem Kontext wettbewerbsrechtlicher Einordnung dem Gemeinsamen Bundesausschuß nach § 91 SGB V zu, in dem die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen sowie die Spitzenverbände der Krankenhäuser und Krankenkassen in einem rechtsfähigen Beschlußorgan der gemeinsamen Selbstverwaltung zusammenwirken.65 Die Kompetenzerweiterung dieses Gremiums zu einer zentralen Steuerungsinstanz der Gesetzlichen Krankenversicherung, die insbesondere umfassende Befugnisse zum Erlaß von Richtlinien zur Sicherung der medizinischen Versorgung hat, die verbindliche Wirkung zeitigen und Bestandteil der Kollektivverträge sind (§ 92 Abs. 8 SGB V), wirft nicht nur verfassungsrechtliche Zulässig-
63
s. dazu Koenig/Engelmann/Steiner, NZS 2002, 288 ff.; Koenig/Beer, ZESAR 2002, 54 ff.; Pernice/Wernicke, in: Grabitz/Hief, Recht der Europäischen Union, 2008, Art. 86 EGV, Rn. 54 ff. 64 Für eine Qualifikation der Tätigkeiten von Kassenärztlichen Vereinigungen als unternehmerisch Koenig/Schreiber, GesR 2008, 561 ff.; a.A. Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 63, der nur den von KVen nach § 77a SGB V gegründeten Gesellschaften Unternehmensqualität zusprechen will. 65 Zur Rechtsstellung und Funktionsweise des Gemeinsamen Bundesausschusses s. Kingreen, NJW 2006, 877; ders., NZS 2007, 113; Wolff, NZS 2006, 281; Schimmelpfeng-Schütte, NZS 2006, 567.
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keitsfragen staatlicher Delegation einer außenwirksamen Normsetzungsgewalt auf,66 sondern wird unionsrechtlich in Zukunft weitere Probleme verursachen, weil zahlreiche Richtlinien, die z. B. Bedarfsplanung, Qualitätsstandards oder die Arzneimittel- bzw. Heilmittelverordnung betreffen, auch das europäische Wettbewerbsrecht tangieren. Zwar hat der EuGH in seiner Festbetragsentscheidung67 auf der Grundlage der bisherigen Organisations- und Funktionsstruktur der Krankenkassen und des Bundesausschusses davon abgesehen, diese als eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Unternehmensvereinigungen mit marktbeherrschender Stellung einzustufen, sondern hat sie bei der Festbetragsfestsetzung als hoheitlich handelnde Entscheidungsträger von den Bindungen der Art. 101, 102 AEUV (ex-Art. 81, 82 EGV) freigestellt. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob dieses gegen den Antrag des Generalanwalts gefällte Urteil angesichts einer sich abzeichnenden Status- und Funktionsmetamorphose der Krankenkassen und des Gemeinsamen Bundesausschusses im Zeichen des Vertragswettbewerbs sowohl auf der Seite der Leistungserbringer als auch der öffentlich-rechtlichen Finanzierungsträger mit privaten Versicherungsanbietern Bestand haben wird68 und an der Qualifikation der Krankenkassen und Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung als Unternehmen festgehalten werden kann, die soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erbringen.69
b) Die unionsrechtliche Privilegierung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Unter Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) sind marktbezogene Tätigkeiten zu verstehen, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mit66
Zu verfassungsrechtlichen Legitimationsproblemen des Gemeinsamen Bundesausschusses s. Butzer/Kaltenborn, MedR 2001, 333; Kingreen, NJW 2006, 877; Taupitz, MedR 2003, 7; Schimmelpfeng-Schütte, NZS 2006, 567; Ziermann, Inhaltsbestimmung und Abgrenzung der Normsetzungskompetenz des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Bewertungsausschüsse im Recht der GKV, 2006, S. 94 f. 67 Rs. C-264/01, Slg. 2004, I-2493 entgegen den Schlußanträgen des Generalanwalts Jacobs, der für die Unternehmenseigenschaft der Krankenversicherungsträger als Marktteilnehmer plädiert hatte. 68 Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses keineswegs normativ weitgehend vorgesteuert sind (so aber Engelmann, NZS 2000, 76), sondern das Gremium über ein erhebliches Gestaltungspotential verfügt, das ihm die konkrete Entscheidung über Therapienotwendigkeiten, Nutzen und Wirtschaftlichkeit von Arznei- und Heilmitteln ermöglicht. s. dazu Schmidt-De Caluwe, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2008, § 92 Rn. 4. 69 s. dazu Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, S. 76 f. unter Hinweis auf den Vorlagebeschluß des OLG Düsseldorf v. 23. 5. 2007 an den EuGH (GesR 2007, 423) zum Integrationsvertrag einer Krankenkasse zur Versorgung von Diabetikern, den der EuGH mit Urt. v. 11. 6. 2009 (Rs. C-300/07), NJW 2009, 2427 unter Hinweis auf die Eigenschaft der Krankenkassen als öffentliche Auftraggeber dem Vergaberecht unterworfen hat.
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gliedstaaten mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden.70 Dies betrifft u. a. wirtschaftliche Aktivitäten zur Sicherung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Nach der EuGH-Rechtsprechung sind alle diejenigen Leistungen umfaßt, die zugunsten sämtlicher Nutzer im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates erbracht werden, ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit des Vorgangs. Entscheidend ist das Vorliegen eines allgemeinen wirtschaftlichen Interesses, eine Begrifflichkeit, an deren exakter Definition es auf unionsrechtlicher Ebene mangelt und die – so der EuGH – die nationalen Regierungen bestimmen sollen, wobei ihnen ein weiter Ermessensspielraum zukommt.71 Nicht ausreichend ist jedenfalls die Wahrnehmung reiner Individual- oder Gruppenbelange. Die Dienstleistungen müssen also zumindest auch im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden, wobei selbst das Interesse eines Teils der Bevölkerung genügt.72 Ein solches Ziel stellt etwa die flächendeckende medizinische Grundversorgung der Bevölkerung zu sozial ausgewogenen und gleichzeitig wirtschaftlichen Bedingungen dar, die angesichts der zur Aufgabenerfüllung erforderlichen unternehmerischen Betätigung in einem wirtschaftlichen Kontext erfolgt und insoweit ein allgemeines wirtschaftliches Interesse begründet.73 Im Hinblick auf die Einbindung der Vertragsärzte in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung ist eine Betrauung mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse darin zu sehen, daß das Gesetz sie beauftragt, die Versorgung der Bevölkerung mit ärztlichen Leistungen sicherzustellen und dabei ihre Pflichtmitgliedschaft in der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung konstituiert. Gleichzeitig werden die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen als Unternehmensvereinigungen damit betraut, durch die kollektivvertraglichen Mechanismen eine planbare, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Ähnliches gilt für die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung durch Apotheken oder der Krankenversorgung durch Krankenhäuser. Gerade mit der Institutionalisierung von Einkaufsmodellen durch Selektivverträge und Einschränkung der Kompetenz der kassenärztlichen Selbstverwaltung (§§ 73b und c, 140a ff. SGB V) durch Einzel- oder Gruppenverträge ist eine grundsätzliche Neuorientierung der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland
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s. dazu unten 3. Kap. I. 4. Diesen weiten Ermessensspielraum bei der Definition des öffentlichen Versorgungsauftrags in Bezug auf die staatliche Finanzierung öffentlicher Dienste auch in Konkurrenz mit privaten Anbietern betont das EuG in seinem Urteil v. 22. 10. 2008 (verbundene Rs. T-304 u. a.). 72 Vgl. den Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des EuGH und den Meinungsstand im Schrifttum bei Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 94 ff.; Storr, DÖV 2002, 357 ff.; Schulte, in: Linzbach/Lübking/ Scholz/Schulte (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Dienste vor der Europäischen Herausforderung, 2005, S. 25 ff. 73 s. dazu Sosnitza, EWS 2002, 460. 71
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verbunden.74 Die Deregulierung und Entkollektivierung des bisherigen Systems, in dem sich öffentlich-rechtlich strukturierte Körperschaften gegenüberstehen, bedingt dessen Ersetzung durch ordnungspolitische Rahmenbedingungen, die auf Anbieterund Nachfragerseite ein ausgewogenes Kräfteverhältnis gewährleisten und damit ein Funktionieren der Marktkräfte ermöglichen.75 Das gilt sowohl für die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Art. 3 und 12 GG entsprechende Ausgestaltung der Zugangs der Heilberufsangehörigen zu Einzelverträgen76 als auch die an Art. 2 GG zu messende Gewährleistung der freien Arztwahl des Versicherten in einem Selektivvertragssystem77 und die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine ausgewogene Wettbewerbsordnung. c) Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung auf die nationalen Gesundheits- und Versicherungssysteme Vor dem Hintergrund des Reformszenarios eines staatlich initiierten Vertragswettbewerbs unter den Krankenkassen sowie mit und zwischen den Leistungserbringern verschärft sich die EU-rechtliche Problematik, ob die gesetzlichen Krankenkassen mit ihrer im SGB V geregelten Form der Aufgabenerfüllung den funktionalen Unternehmensbegriff des Kartellverbots des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) und des Verbots des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 102 AEUV (ex-Art. 82 EGV) erfüllen, oder inwiefern dies deshalb ausgeschlossen ist, weil sie in ihrer gegenwärtigen Organisationsstruktur hoheitliche Tätigkeit ausüben und gegenüber ihren Versicherten innerhalb eines durch Versicherungszwang und Solidarausgleich geprägten Leistungssystems tätig werden. Jedenfalls soweit das bisherige System einer im wesentlichen einheitlichen Leistungsund Preisfindung im Rahmen von Gesamt- und Mantelverträgen der Krankenkassenverbände mit öffentlich-rechtlich strukturierten Vereinigungen der Leistungserbringer ausgedünnt oder beseitigt wird, ist der EU-rechtlich entscheidende staatliche Einfluß auf die wirtschaftliche Betätigung der Krankenkassen deutlich zurückge-
74 s. dazu B. Tiemann/Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung in Deutschland, S. 93 ff.; Sodan, NJW 2007, 1313; Wigge/Harney, MedR 2008, 139. 75 Zu freiberufsadäquaten Anforderungen an eine ausgewogene Wettbewerbsordnung und zur Rolle der Freien Heilberufe zwischen Sozialstaatsumbau und Wettbewerbsorientierung s. B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, 2008, S. 23 ff., 44 f. m.w.N. 76 Muschallik, MedR 2003, 139 ff.; Kingreen, NJW 2009, 2417. 77 Zu den Auswirkungen von Selektivverträgen zwischen Ärzten und Krankenkassen nach dem GKV-WSG als rechtlichen Rahmenbedingungen für den Vertragswettbewerb im Gesundheitswesen s. Wigge/Harney, MedR 2008, 139,143 ff.; Kingreen, in: Ebsen, Vergaberecht und Vertragswettbewerb in der GKV, 2009, S. 51, 66 ff.; Orlowski (S. 124 ff.), Kingreen/Temizel (S. 134 ff.), Schirmer (S. 143 ff.) zum Thema „Veränderte Versorgungsstrukturen in der hausärztlichen Versorgung“, in ZMGR 2009.
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drängt.78 Gerade seitdem den Krankenkassen durch das GKV-WSG ein Wettbewerbsverhalten durch nationale Rechtsvorschriften vorgeschrieben wird, ihnen somit nicht nur die faktische Möglichkeit, sondern sogar der ausdrückliche Auftrag für ein marktförmiges Agieren erteilt wurde, haben sie sich nach der Rechtsprechung des EuGH dem Anwendungsbereich der Art. 101, 102 AEUV (ex-Art. 81, 82 EGV) angenähert. Besonders bei einer weiteren Fortsetzung des Konzentrationsprozesses der Krankenkassen, wie er mit der Konstituierung eines körperschaftlich verfaßten Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen durch das GKV-WSG (§ 217a SGB V) angelegt ist,79 würden in einem solchen System Krankenkassen und Krankenkassenverbände ein Nachfragekartell darstellen, das als solches allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Ausnahmevorschrift des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) zu rechtfertigen wäre. Danach sind für öffentliche Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, Ausnahmen von den Wettbewerbsregeln zulässig, soweit deren Anwendung den Unternehmen die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich unmöglich macht.80 Auch wenn es hierfür nach der neueren Rechtsprechung des EuGH ausreichen soll, daß ohne die streitigen Rechte die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben gefährdet wäre oder daß die Beibehaltung dieser Rechte erforderlich ist, um ihrem Inhaber die Erfüllung seiner im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Aufgaben zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen zu ermöglichen,81 dürfte ein solcher Nachweis in einem neu gestalteten System der Gesetzlichen Krankenversicherung, das gerade von den marktdynamischen Effekten eines Wettbewerbs sowohl auf Seiten der Leistungserbringer als auch der Krankenkassen profitieren will, nur schwer gelingen. Für eine auch EU-rechtlich nicht zu beanstandende wettbewerbliche Neuorientierung des deutschen Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung wäre daher sowohl eine organisationsrechtlich als auch kompetenzrechtlich gleichgewichtige Ausgestaltung auf beiden Seiten des Marktes, d. h. der Kostenträger und Leistungs78
Zur Relativierung des Solidarprinzips und Assimilierung von Strukturen der Gesetzlichen und der Privaten Krankenversicherung s. Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform, 2007, S. 71 ff., 93 ff., 102 ff., 107 ff.; Axer, NZS 2008, 482; Beske, NZB 6/ 2008, 14 ff.; Meyers-Middendorf, ErsK 2010, 140 ff. 79 Zu Legitimations- und Partizipationsproblemen einer solchen verbandsmäßigen Zentralisierung s. Axer, GesR 2007, 193; Jung, SGb 2007, 65; Kingreen, NZS 2007, 113; Hauck, SGb 2007, 203; zu neuen Perspektiven der veränderten Verbändelandschaft s. Pfeiffer, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/2009, 3 f. 80 Zur Frage, inwieweit nach der früheren Rechtsprechung des EuGH hier ein konkreter Konflikt im Sinne einer faktischen Verhinderung der Aufgabenerfüllung durch Unzumutbarkeit nach wirtschaftlichen Kriterien und nicht lediglich eine Beeinträchtigung oder Erschwerung der Aufgabenerfüllung gegeben sein muß, s. Axer, NZS 2002, 57 ff. 81 Zur Abschwächung des Verhinderungskriteriums zu einem bloßen „Gefährdungsmaßstab“ in der jüngeren EuGH-Rechtsprechung s. Kilian, WRP 2002, 802 ff.; Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff.,101; Koenig/Beer, ZESAR 2002, 54 ff.
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erbringer, erforderlich, um einerseits Wettbewerbsverzerrungen und andererseits einen Verstoß gegen Art. 106 AEUV (ex-Art. 86 EGV) i.V.m. den Art. 101, 102 AEUV (ex-Art. 81, 82 EGV) zu verhindern.82 Sowohl für die Krankenkassen als Finanzierungsträger als auch für die berufsständischen Organisationen der Heilberufe als Leistungserbringer ist – soweit unternehmerisches Handeln im Sinne des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) vorliegt – nicht zuletzt die Frage relevant, inwieweit ihre Aktivitäten auch in Zukunft als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nach Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) einzustufen sind, zumal Art. 36 GR-Charta den Zugang zu diesen Leistungen in besonderer Weise anerkennt und garantiert. Im Sinne des Art. 14 AEUV (ex-Art. 16 EGV) sind Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht werden, in „ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts“ mit spezifischen Gemeinwohlfunktionen verknüpft. Dies betrifft klassischerweise die sog. „Universaldienstleistungen“ im Bereich der Post und Telekommunikation, des Schienenverkehrs oder der Energieversorgung sowie die sog. „Grundsicherung“ durch öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalten.83 Vor diesem Hintergrund wurde in den letzten Jahren gerade auch die mehrdimensionale Funktion der Sozialversicherungen und Sozialdienstleistungen erörtert, die je nach Art der betreffenden Tätigkeit wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlicher Natur sein kann.84 Der Begriff der Sozialdienstleistung ist zwar nicht definiert, doch werden von der EU-Kommission85 zwei große Kategorien von Sozialdienstleistungen ausgemacht: Erstens gesetzliche und ergänzende Systeme der Sozialen Sicherung, die unterschiedlich organisiert sind (betriebliche oder auf Gegenseitigkeit beruhende Systeme) und elementare Lebensrisiken etwa in Bezug auf Gesundheit, Alter, Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit oder Behinderungen absichern, und zweitens sonstige unmittelbar zugunsten des einzelnen erbrachte überwiegend personale Dienstleistungen wie Maßnahmen im Rahmen der Sozialen Fürsorge, Arbeitsvermittlungs- und Fortbildungsmaßnahmen, Bereitstellung von Sozialwohnungen oder langfristige Pflegeleistungen. Kommt einer Dienstleistung von allgemeinem Interesse wirtschaftlicher Charakter zu, unterliegt sie den Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften, so daß sich die Frage ergibt, ob die uneingeschränkte Anwendung dieser Regeln mit der ihr übertragenen besonderen Aufgabe im Hinblick auf Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex82
s. hierzu die Nachweise bei Kluckert, S. 225 ff. s. dazu Herdegen, S. 338 ff.; Möschel, JZ 2003, 1021 ff.; Essebier, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und Wettbewerb, 2005. 84 s. dazu Linzbach/Lübking/Scholz/Schulte, Die Zukunft der sozialen Dienste vor der Europäischen Herausforderung, 2005. 85 s. dazu die Mitteilung der EU-Kommission „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“ – Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluß von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement v. 20. 11. 2007 KOM (2007), 724 endg., S. 6. 83
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Art. 86 Abs. 2 EGV) vereinbar ist. Sofern die Anwendung dieser Bestimmungen die Erfüllung der ihr übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert, können unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmeregeln Anwendung finden. Vor diesem Hintergrund könnten manche Sozialleistungsträger in Zukunft auf dem Prüfstand des europäischen Wettbewerbsrechts stehen, wenn sich ihre Funktionen in bestimmten Aktivitäten dem gemeinschaftsrechtlichen Unternehmensbegriff annähern. Der EuGH hat bisher bei Sozialversicherungsträgern die Unternehmenseigenschaft verneint, soweit sie obligatorische und solidarisch organisierte Soziale Sicherung vermitteln, nicht aber wenn sie freiwillige Vorsorge im Wettbewerb mit Privatversicherungen oder eigenständige Dienstleistungen erbringen.86 Je stärker sich die gesetzlichen Krankenkassen im Leistungs- und Beitragsrecht den Strukturen privater Versicherungen z. B. durch Wahltarife, Beitragsrückerstattungen oder Bonusregelungen annähern, durch Zusatzversicherungen in Wettbewerb untereinander und mit privaten Trägern bzw. durch selektives Kontrahieren in Vertragswettbewerb mit den Leistungserbringern treten, umso mehr geraten sie in den Einzugsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts. Der deutsche Gesetzgeber hat dieser Entwicklung, die er durch Implementierung des Vertragswettbewerbs in die Strukturen der Gesetzlichen Krankenversicherung und die Assimilierung von Strukturen der Gesetzlichen und Privaten Krankenversicherung teilweise befördert hat, unionskonform in dem Sinne Rechnung zu tragen versucht, daß er durch Änderung des § 13 SGB V nicht nur die Kostenerstattung bei Inanspruchnahme von Leistungserbringern in anderen Mitgliedstaaten der EU eingeführt hat, sondern in § 140e SGB V die Leistungserbringung durch Verträge mit Leistungserbringern aus EU-Staaten bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ermöglicht,87 wobei noch ungeklärt ist, ob Apotheken aus EU-Mitgliedstaaten ein Beitrittsrecht zu den Rahmenverträgen über die Arzneimittelversorgung nach § 129 SGB V zusteht88.
86 In diesem Sinne hat der EuGH die Unternehmenseigenschaft für eine ergänzend zur Pflichtversicherung geschaffene, auf freiwilligem Beitritt beruhende Zusatzrentenversicherung, die wie eine private Lebensversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip arbeitet, ebenso bejaht wie die einer obligatorischen öffentlich-rechtlichen Betriebsrentenversicherung für freiberufliche Selbständige. s. dazu oben 2. Kap. I. 1. 87 s. dazu Becker, NJW 2003, 2272; Fuchs, NZS 2004, 225; Kingreen, NZS 2005, 505; Udsching/Harich, EuR 2006, 784. 88 Vgl. König/Klahn, GesR 2006, 58.
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4. Die Sonderstellung gemeinnütziger und gemeinwohlorientierter Gesundheitsund Sozialdienstleister a) Die Abgrenzung von wirtschaftlicher und sozialer Leistungserbringung Ob und inwieweit öffentlich-rechtliche Sozialversicherungs- und Leistungsträger, gemeinnützige Unternehmen und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in bestimmten Marktsegmenten unternehmerisch handeln bzw. durch Zuschüsse und Steuerprivilegien Beihilfen von Seiten des Staates erhalten oder durch ihre Gemeinwohlverpflichtung legitimiert sind, und im Hinblick darauf, daß sie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Sinne des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) erbringen, einen wettbewerbsrechtlichen Sonderstatus innehaben, wird immer wieder in Zweifel gezogen. Im Rahmen von Sozialleistungen findet nämlich nicht nur ein volkswirtschaftlich beachtlicher Transfer statt, sondern Einrichtungen der Krankenbehandlung, Rehabilitation, Pflege, Berufsförderung, Arznei- und Heilmittelversorgung arbeiten mit erheblichem Einsatz öffentlicher Mittel. Sie sind zum Teil gesetzlich privilegierte Vertragspartner öffentlicher Finanzierungsträger z. B. im Bereich der Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe und genießen als gemeinnützige Einrichtungen steuerliche Vorteile. Hier sind auch im Hinblick auf private Marktteilnehmer zentrale Fragen des europäischen Wettbewerbs- (Art. 101 ff. AEUV, ex-Art. 81 ff. EGV) und Beihilferechts (Art. 107 ff. AEUV, ex-Art. 87 ff. EGV) tangiert.89 Für gemeinwohlorientierte Sozialleistungserbringer, insbesondere Freie Wohlfahrtsverbände und andere gemeinnützige Sozialleistungsträger, dürfte der unternehmerische Charakter zu verneinen sein, soweit ihre Aktivitäten primär nicht erwerbswirtschaftlicher, sondern regelmäßig gemeinwohlbezogenen Zwecken dienen oder sonst ideeller bzw. religiös-karitativer Art sind.90 Dieser Betrachtungsweise wird jedoch verschiedentlich entgegengehalten, daß trotz absenter Gewinnerzielungsabsicht gemeinnützigen Anbietern nicht die Unternehmenseigenschaft abgesprochen werden könne, da sie auf dem gemeinsamen Markt tatsächlich oder potentiell mit kommerziellen Anbietern konkurrieren, d. h. ihre Leistungen mögli89 Zur Anwendung des europäischen Wettbewerbs-, Beihilfe- und Vergaberechts auf Einrichtungen der Daseinsvorsorge und soziale Dienste s. die Beiträge von Schulz-Nieswandt (S. 397 ff.) und Giesen (S. 424 ff.), in: Linzbach/Lübking/Scholz/Schulte (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Dienste vor der Europäischen Herausforderung, 2005; Storr, DÖV 2002, 357 ff.; Krajewski, DÖV 2005, 665 ff.; Kreutz, Soziale Dienstleistungen durch gemeinnützige Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, 2010. 90 Dies ist für klassische Felder altruistischer Tätigkeit und Sozialarbeit ohne erwerbswirtschaftliche Zweckrichtung (wie Gemeinwesenarbeit, Obdachlosenhilfe, Migrations- und Asylarbeit) unstreitig und wird erst problematisch bei Mischformen zwischen erwerbswirtschaftlichen und gemeinnützigen Tätigkeiten. s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 255 ff. Vgl. auch Mitteilung der Kommission über die Förderung und Rolle gemeinnütziger Vereine und Stiftungen in Europa, KOM (1997), 241, endg.
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cherweise durch Private substituiert werden könnten.91 Die noch nicht abgeschlossene Debatte über das Für und Wider der Anwendung unionsrechtlicher Bestimmungen auf gemeinwohlorientierte soziale Dienstleistungen versucht die EUKommission immer wieder durch die der französischen Rechtsordnung entstammende und der deutschen Rechtstradition des Genossenschaftswesens und der Gemein- bzw. Sozialwirtschaft verwandte Theorie der „conomie sociale“ aufzulösen.92 Zu Einrichtungen der conomie sociale werden u. a. Genossenschaften, Vereinigungen und Gesellschaften auf Gegenseitigkeit gerade auch der Krankenversicherung (Mutuelles) und gemeinwohlorientierte Verbände und Selbsthilfeeinrichtungen z. B. im Gesundheitswesen gezählt, deren soziale Komponente im Zusammenschluß zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen im Rahmen gemeinwohlbezogener Aktivitäten durch Produktion von Gütern und Dienstleistungen gegen Entgelt zum Zwecke der Bedarfsdeckung statt der Gewinnerzielung liegt. Hinter einer europarechtlichen Rezeption der Doktrin der „conomie sociale“ verbirgt sich insbesondere die Absicht, das Handeln gemeinwohlorientierter Träger als unternehmerisch einzustufen und damit den Geboten der Wirtschaftsfreiheit und des Wettbewerbs unterzuordnen. Angesichts der bisherigen Unsicherheit bei der wettbewerbsrechtlichen Einordnung von Sozialdienstleistungen kommt auch der Frage Bedeutung zu, ob staatliche Zuschüsse, Subventionen, steuerrechtliche Vorteile, Verschonungen oder sonstige Privilegien als unzulässige Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 87 Abs. 2 EGV) zu qualifizieren sind oder ob das Unionsrecht es den Mitgliedstaaten ermöglicht, Ausnahmen vom Wettbewerbsrecht für solche Dienstleistungen und Unternehmen vorzusehen, die für die Allgemeinheit notwendige Grundversorgungsleistungen erbringen, deren Bereitstellung nicht rentabel oder gewinnorientiert ist.93 Im übrigen ziehen die Systeme sozialer Sicherheit nicht zuletzt aus Gründen der Förderung von Chancengleichheit und im Zuge der Privatisierung öffentlicher Aufgaben zunehmend auch Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht zur Erledigung ihrer Aufgaben mit heran. Im Zusammenspiel mit den Freizügigkeits- und Wettbewerbsregeln könnten demnach auch kommerzielle ausländische Anbieter sozialrelevanter Leistungen auf dem gemeinsamen Markt expandieren und das nationale Konkurrenzverhältnis um binnenmarktbezogene Aspekte erweitern. Dadurch würden neue Fragen aufgeworfen, die sich mit Wettbewerbsnachteilen ausländischer Konkurrenten aufgrund der Privilegierung nationaler Unternehmen befassen müßten. 91 s. dazu Schulte, Soziale Daseinsvorsorge und das europäische Wettbewerbsrecht, in: Fortschritt durch Recht, 2004, S. 414 ff. 92 Zur conomie sociale“ s. Ipsen, Soziale Dienstleistungen und EG-Recht, 1997; Luthe, SGb 2000, 505. 93 Zum Problemkreis EU-Beihilfenrecht und Soziale Dienstleistungen s. Becker, NZS 2007, 169 ff. m.w.N.; v. Boetticher, Die frei-gemeinnützige Wohlfahrtspflege und das europäische Beihilfenrecht, S. 46 ff., 57 ff., 75 ff.; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff., 65 ff.
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In Arbeitsfeldern, in denen kommerzielle Anbieter auftreten und in denen soziale Dienstleistungen gegen Entgelt aufgrund von Verträgen erbracht werden, wächst somit der Problemdruck durch EU-ausländische Anbieter, die die aktive Dienstleistungsfreiheit wahrnehmen und sich aufgrund des Gemeinnützigkeitsstatus der Freien Träger oder monopolistische Privilegien von Sozialleistungsträgern Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt sehen Solche und andere Vergünstigungen wie staatliche Zuwendungen und gesetzliche Privilegierungen werden in Zukunft verstärkt auf ihren Beihilfecharakter unter dem Aspekt überprüft werden, ob sich daraus den Wettbewerb verfälschende oder ihn zu verfälschen drohende, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Begünstigungen ergeben, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen (vgl. Art. 107 AEUV, ex-Art. 87 EGV).94 In Ermangelung einer begrifflichen Definition von Beihilfen in den EU-Verträgen lassen sie sich in Übereinstimmung mit Literatur und Rechtsprechung wie folgt charakterisieren: Es handelt sich dabei um rechtlich nicht geschuldete und freiwillig gewährte Zuwendungen, die den öffentlichen Haushalt belasten und einem oder mehreren Unternehmen eines bestimmten Wirtschaftszweiges zufließen, wohingegen sie anderen Unternehmen desselben Wirtschaftszweiges nicht zugutekommen. Die Zuwendungen können aus geldwerten Vorteilen oder in der Verschonung von Belastungen bestehen.95 Der EuGH96 definiert sie als staatliche „Maßnahmen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, welche ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat“. Somit umfaßt der Beihilfebegriff „… alle Begünstigungen, soweit sie nicht durch eine entsprechende marktgerechte Gegenleistung kompensiert werden. (…) Entscheidend ist nicht die Form, sondern die Wirkung der Maßnahme“. Beihilfen begünstigen damit bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige und verfälschen den Wettbewerb oder drohen, ihn zu verfälschen. Allerdings muß eine Beeinträchtigung des zwischenmitgliedstaatlichen Handelns vorliegen.97 Die Ausstattung von Wohlfahrtsverbänden, Sozialleistungs- oder Sozialversicherungsträgern durch Zuschüsse des Bundes, Landes oder der Kommunen könnte als Beihilfe in Form einer direkten Zuwendung angesehen werden. Auch Steuervorteile kommen einer Beihilfe gleich, weil dem Staat durch steuerrechtliche Befreiungs- oder Begünstigungstatbestände Einnahmen entgehen, die den öffentlichen Haushalt letztlich belasten. Gleiches gilt im übrigen für die Berechtigung sozialer Institutionen zur Spendenannahme, die vom Spender steuermindernd geltend gemacht werden können und für den Staat faktisch zu Mindereinnahmen führen. 94
Vgl. Becker, NZS 2007, 169 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 248 ff., 255 ff. Haverkate/Huster, S. 361 ff. 96 Vgl. Rs. C-30/59; C-189/91; C-730/79; C-280/00: s. dazu Schulz-Weidner, DRV 2004, 532 ff. 97 Vgl. EuGH Rs. C-189/91, Rs. 730/79. 95
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Darüber hinaus ist die selektive Wirkung einer Beihilfe zu berücksichtigen, die ein bestimmtes Unternehmen bevorzugt und dadurch den Wettbewerb verzerrt. Dienen Beihilfen dazu, sich aus der Verfolgung eines förderwürdigen Ziels ergebende Nachteile zu kompensieren, sind sie zulässig. Schließlich werden die davon profitierenden Unternehmen erst durch die Subventionen in der Lage versetzt, überhaupt am Wettbewerb teilnehmen zu können. Allerdings muß im Einzelfall sehr genau geprüft werden, ob die Unterstützung lediglich soziale Mehrkosten kompensiert oder darüber hinaus Vorteile gewährt.98 Aber selbst wenn man zu dem Ergebnis gelangt, daß die Institutionen und Verbände gemeinwohlorientierter Sozialleistungsträger in bestimmten Marktsegmenten unternehmerisch handeln und Beihilfen von Seiten des Staates erhalten, bleibt zu prüfen, inwieweit sie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen. So wie sich das Sozialversicherungsmonopol mit dem Solidarprinzip rechtfertigen läßt, können sich auch sonstige Sozialaktivitäten durch die Gemeinwohlverpflichtung legitimieren und darauf berufen, daß sie mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 106 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) betraut werden.99 Der Europäischen Kommission zufolge können darunter „…viele Tätigkeiten von Einrichtungen, die weitgehend soziale Aufgaben ohne Gewinnabsicht erfüllen und deren Zweck nicht die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit besteht…“, verstanden werden. Sobald eine derartige Einrichtung jedoch bei der Erfüllung eines Gemeinwohlauftrags wirtschaftliche Tätigkeiten aufnimmt, sind hierauf die unionsrechtlichen Vorschriften „unter Berücksichtigung des besonderen sozialen und kulturellen Umfelds, in dem die betreffenden Tätigkeiten ausgeübt wurden, anzuwenden“.100 Der EuGH hält Versorgungs- und Dienstleistungsmonopole von Sozialleistungsträgern im Rahmen des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) für gerechtfertigt, soweit sie einen umfassenden, die selektive Aufgabenwahrnehmung verhindernden Versorgungsauftrag erfüllen und nicht den ihnen rechtlich übertra-
98
Zu sozialrechtlichen Grenzen des Beihilfebegriffs infolge der „Altmark-Trans“-Rechtsprechung des EuGH (Urt. V. 24. 7. 2003, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747) s. die Hinweise bei Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 66 f.; Krajewski, DÖV 2005, 665 ff. 99 Im übrigen hat die Kommission die Möglichkeit, durch Gruppenfreistellungsverordnung oder Freistellungsentscheidung Ausnahmen vom Beihilfeverbot zu erteilen (Art. 107 Abs. 2, 108 AEUV, ex-Art. 87 Abs. 2 lit. A, 88 Abs. 3 EGV). Zu solchen „sozialen Filtern“ s. Koenig/ Vorbeck, GesR 2007, 347, 352; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 68 f. 100 s. Mitteilung der EU-Kommission v. 21. 9. 2000 (KOM (2000), 580 endg.). Zur Ambivalenz von Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen im Spannungsfeld wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Leistungserbringung im Hinblick auf ihre Einordnung als Dienste von allgemeinem Interesse s. Schlegel, SGb 2007, 700 ff.; Pitschas, NZS 2010, 177, 182 f.; zur Rechtfertigung dieser Privilegien als der unionsrechtlich geforderten Erhaltung des kulturellen Erbes (Art. 87 Abs. 3 lit. d EGV) unter Heranziehung der Methode der ökonomischen Analyse des Rechts s. Kreutz, Soziale Dienstleistungen durch gemeinnützige Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, 2010.
I. Das europäische Wettbewerbsrecht als ordnungspolitischer Rahmen
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genen Wirkungskreis unzulässig ausweiten.101 Inwieweit Sozialversicherungsinstitutionen wie Krankenkassen unabhängig von ihrer Unternehmenseigenschaft generell vom Wettbewerbs-, Beihilfe- und Vergaberecht der EU ausgenommen sind, ist bis in die jüngste Zeit strittig geblieben, ebenso wie die diesbezügliche Privilegierung Freier Träger oder sonstiger gemeinnütziger Sozialdienstleister.102 Der EuGH hat in einer wenig konsistenten Rechtsprechung einerseits die Bevorzugung privater Wirtschaftsunternehmer ohne Erwerbsabsicht bei der Erbringung staatlicher sozialer Dienstleistungen für zulässig erklärt, andererseits auch religiöse Vereinigungen oder weltanschauliche Gemeinschaften, die am Wirtschaftsverkehr teilnehmen, dem EUWirtschaftsrecht unterworfen.103 Unverkennbar ist jedoch eine zunehmende Tendenz, die Sozialdienstleistungserbringer als Teil der gemeinwohlorientierten Universaldienste vom Wettbewerbsrecht freizustellen.104 Dies gilt weniger für die Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts, die in vielen Fällen der Vertragsbeziehungen zwischen Sozialleistungsträgern der Sozialversicherung und privaten Leistungsmittlern z. B. in der Kranken- und Pflegeversicherung, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Sozialhilfe problematisch ist. Inwieweit die zum Teil kollektivvertraglichen Beziehungen zwischen den Finanzierungsträgern und den Leistungserbringern an vergaberechtliche Voraussetzungen wie transparente und diskriminierungsfreie Verfahren gebunden sind, bestimmt sich nicht nur nach nationalem Wettbewerbsrecht, sondern auch nach den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten des Art. 18 AEUV (ex-Art. 12 EGV) und den Wettbewerbsfreiheiten des Art. 52 AEUV (ex-Art. 46 EGV) sowie der RL 2004/18/ EG, die das Verfahren für Aufträge öffentlicher Auftraggeber regelt und bestimmt, daß öffentliche Auftraggeber beim Abschluß von Rahmenvereinbarungen grundsätzlich die Auftragsvergabe in einem offenen oder nicht offenen Verfahren mit europaweiter Ausschreibung durchzuführen haben (Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie).
101 Vgl. einerseits die Entscheidung des EuGH in der Rs. Poucet ./. Pistre C-159/91, Slg. 1993, I-637, sowie Rs. Kattner C-350/07, NJW 2009, 1325 zur Kompetenz der Mitgliedstaaten, soziale Leistungsträger unter Ausschluß des Wettbewerbs zu errichten, andererseits die Aufhebung des deutschen Arbeitsvermittlungsmonopols (Rs. Hoefner ./. Elser C-41/90, Slg. 1991, I-1979). Zur Zulässigkeit von Sozialversicherungsmonopolen im Lichte des Gemeinschaftsrechts s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 50, 235 ff.; Kirchberg, NJW 2009, 1313 ff. 102 s. dazu Ipsen, Soziale Dienstleistungen und EG-Recht; v. Boetticher, Die frei-gemeinnützige Wohlfahrtspflege und das europäische Beihilferecht. 103 So Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 246 unter Hinweis auf Rs. Sodemare C-70/95, Slg. 1997, I-3395 und Rs. Steymann C-196/87, Slg. 1988, 6159. 104 Vgl. Protokolle und Erklärungen der Schlußakte zum Vertrag von Lissabon, ABl. 2007, Nr. C 306/147 sowie ABl. 2008 Nr. C 115/308; Begleitdokument zu der Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts v. 20. 11. 2007 (KOM (2007), 725 endg.) unter dem Titel „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluß der Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“ (KOM 2007, 725 endg.). s. dazu Pitschas, NZS 2010, 177, 180 f.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Insoweit werden in Zukunft neue vergaberechtliche Anforderungen an die grenzüberschreitende sozial relevante Leistungserbringung gestellt.105 b) Die beihilfe- und vergaberechtliche Relevanz für Krankenversicherung und Leistungserbringer Dies deutete sich bereits in der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission nach Art. 258 AEUV (ex-Art. 226 EGV) gegen die Bundesrepublik Deutschland zu den Arzneimittelrabattverträgen der Krankenkassen an, die diese nach § 130a Abs. 8 SGB V mit pharmazeutischen Unternehmen schließen können. Da die gesetzliche Regelung keine Aussagen zu den Modalitäten ihres Abschlusses enthält, ist eine europaweite Ausschreibung der Rabattverträge durch deutsche Krankenkassen früher unterblieben. Dies wurde von der Europäischen Kommission bemängelt, denn nach ihrer Auffassung sind die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft, Beitragsfinanzierung und Staatsaufsicht öffentliche Auftraggeber.106 Nach Einschätzung der Kommission handelt es sich bei Arzneimittel-Rabattverträgen um Rahmenvereinbarungen im Sinne der RL 2004/18/EG, in der auch das Verfahren für die Vergabe solcher Verträge geregelt ist. Sie verweist auf Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie, nach der öffentliche Auftraggeber beim Abschluß von Rahmenvereinbarungen die Verfahrensvorschriften der Richtlinie in allen Phasen zu beachten hätten. Dies bedeute, daß solche Rahmenvereinbarungen grundsätzlich in einem offenen oder nichtoffenen Verfahren mit europaweiter Ausschreibung zu vergeben seien, zumal der in der Richtlinie genannte Schwellenwert in Anbetracht der von den Arzneimittel-Rabattverträgen erfaßten Umsatzvolumina regelmäßig überschritten werde. Es ist damit zu rechnen, daß sich diese Sichtweise der Kommission nicht auf die Arzneimittel-Rabattverträge beschränkt, sondern es zu Weiterungen etwa im Heilund Hilfsmittelbereich oder bei Integrationsverträgen nach § 140b SGB V im Sinne europaweiter Ausschreibungen unter Beachtung des Vergaberechts kommen könnte.107 Dies belegt auch das auf Vorlagebeschluß des OLG Düsseldorf108 beim EuGH 105 Zur Anwendbarkeit EU-rechtlicher Vergabekriterien auf soziale Dienstleistungen s. Axer, NZW 2002, 57 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 257; Kingreen, SGb 2004, 659 ff. 106 Zur Frage der Ausschreibungspflicht für Rabattverträge aufgrund von § 130a Abs. 8 SGB V nach nationalem und gemeinschaftsrechtlichem Wettbewerbsrecht s. Dettling, MedR 2008, 349; Engelmann, SGb 2008, 133; Koenig/Klahn/Schreiber, GesR 2007, 559. 107 Hiergegen wird im Schrifttum eingewandt, daß es sich insbesondere bei den Integrationsverträgen nicht um Liefer- oder Dienstleistungsaufträge, sondern um Dienstleistungskonzessionen handle, weil letztlich nicht die Krankenkasse, sondern der einzelne Versicherte über die Inanspruchnahme eines Leistungserbringers entscheide. s. Byok, GesR 2007, 553; Kaltenborn, VSSR 2006, 357; Rixen, GesR 2006, 49; Sieben, MedR 2007, 706. 108 Vgl. den Vorlagebeschluß des OLG Düsseldorf v. 23. 5. 2007 (GesR 2007, 423) in der Rs. C-300/07 (Oymanns Orthopädische Schuhtechnik/AOK Rheinland/Hamburg.
I. Das europäische Wettbewerbsrecht als ordnungspolitischer Rahmen
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initiierte Vorabentscheidungsverfahren zur Ausschreibung einer Krankenkasse für die integrierte Versorgung von Diabetikern mit orthopädischen Schuhen, in dem die EU-Kommission den klagenden Orthopädiebetrieb unterstützte und die Frage beantwortet werden sollte, ob gesetzliche Krankenkassen angesichts der staatlichen Aufsicht und ihrer Finanzierung als „öffentliche Auftraggeber“ anzusehen sind und dem Vergaberecht unterliegen. Im übrigen sollte geklärt werden, ob ein solcher Auftrag der Krankenkasse als „Liefer-“ oder als „Dienstleistungsauftrag“ einzustufen ist, und ob es sich im letzteren Falle um eine Rahmenvereinbarung handelt, die den Verfahrensbedingungen der Vergaberichtlinie 2004/18/EG unterliegt. In seinen Schlußanträgen gelangte der Generalanwalt109 zu dem Ergebnis, daß deutsche Krankenkassen als Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Sinne der Richtlinie über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Liefer- und Dienstleistungsaufträge zu qualifizieren sind, in deren Anhang III sie explizit aufgeführt sind. Im Falle einer Einstufung der Zurverfügungstellung von Waren als „Dienstleistung“ sei Art. 1 Abs. 4 RL 2004/18/EG – in Abgrenzung zu einer Rahmenvereinbarung im Sinne des Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie – dahin auszulegen, daß es sich um eine Rahmenvereinbarung und nicht um eine Dienstleistungskonzession handle und die Aufträge europaweit auszuschreiben seien. Dieser Auffassung des Generalanwalts folgend sieht der EuGH110 die beschaffende Krankenkasse als öffentlichen Auftraggeber an und bejaht damit auch die zuvor sehr umstrittene Frage, ob der Einfluß des Staates auf die Krankenkassen groß genug ist, um deren Auftraggebereigenschaft zu begründen. Er macht den Einfluß am Merkmal der „überwiegenden Finanzierung durch den Staat“ (Art. 1 IX 2 lit. C Richtlinie 2004/18/EG) fest. Die Vorschrift verlange nicht, daß der Staat die Krankenkassen finanziere; ausreichend sei auch eine indirekte Finanzierung durch den Erlaß rechtlicher Regelungen. Die Frage, ob die Einzelverträge als öffentliche Aufträge einzuordnen sind, läßt sich nicht pauschal beantworten. Denn nur für Lieferaufträge gilt das Vergaberecht in vollem Umfang. Auf Gesundheitsdienstleistungen ist die Richtlinie hingegen nur partiell (Art. 21 Richtlinie 2004/18/EG i.V.m. Anhang II Teil B Kat. 25) oder gar nicht anwendbar, wenn es sich um eine sog. Dienstleistungskonzession handelt (Art. 17 Richtlinie 2004/18/EG), wobei die Abgrenzung zwischen Waren und Dienstleistungen gerade bei gemischten Leistungen schwierig ist. So bestand die Leistung im Ausgangsfall, der Erzeugung des individuell angepaßten Schuhs mitsamt einer fortlaufenden Beratung, teilweise aus der Lieferung einer Ware, teilweise aus einer Dienstleistung. Der EuGH stellt hier klar, daß es allein auf das wertmäßige Verhältnis der beiden Leistungsbestandteile ankommt (Art. 1 lit. D 2 Richtlinie 2004/ 18/EG) und daß es sich um einen vollumfänglich dem Vergaberecht unterfallenden Lieferauftrag handelt. 109 s. Schlußanträge des Generalanwalts Jn Mazk v. 16. 12. 2008, Eureport social, 1 – 2/ 2009, 14. 110 Urt. v. 11. 6. 2009 (Rs. C-300/07, NJW 2009, 2227).
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Für den Fall, daß Dienstleistungselemente überwiegen sollten, kommt es darauf an, ob es sich bei den Leistungserbringungsverträgen um Dienstleistungskonzessionen oder Rahmenvereinbarungen handelt. Der EuGH nimmt eine Dienstleistungskonzession an, wenn der Konzessionär (hier also der Leistungserbringer) das überwiegende wirtschaftliche Risiko trägt, was er in der zu entscheidenden Rechtssache verneint. Der Integrationsvertrag im Ausgangsfall sei daher eine Rahmenvereinbarung (Art. 1 V Richtlinie 2004/18/EG).111 Welche Konsequenzen das Urteil für die Ausschreibepflichten des SGB V und das Vergabeverfahren im Hinblick auf das sozialrechtliche Anliegen einer individuellen und wohnortnahen Versorgung und die leistungsrechtliche Wahlfreiheit unter mehreren Leistungserbringern hat, bleibt abzuwarten. Dies gilt insbesondere für das Ausschreibungsregime im Hilfsmittelrecht (§ 127 SGB V), während für ärztliche Dienstleistungen die sozialrechtlichen Ausschreibungspflichten z. B. im Rahmen der hausarztzentrierten und besonderen ambulanten ärztlichen Versorgung (§ 73b Abs. 4 S. 3, 73c Abs. 3 S. 3 SGB V) maßgebend bleiben, in deren Bereich das Vergaberecht nur sehr eingeschränkt gilt. Unabhängig davon, ob das Vergaberecht angesichts zunehmender Kassenkonzentration und Marktmacht ein ausreichendes ordnungspolitisches Steuerungsinstrument darstellt, macht die EuGH-Entscheidung deutlich, daß die Kassen zum einen als öffentliche Auftraggeber im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts zu qualifizieren, zum anderen durch § 69 Abs. 2 SGB V partiell auch an das deutsche Kartellrecht gebunden sind und sich in einer Zwitterstellung als öffentliche Auftraggeber und Unternehmer befinden.112 Die Europäische Kommission, die zum Jahresende 2007 ihre Mitteilung zur Neuausrichtung des Binnenmarktes verabschiedet hat, hat in ihre Binnenmarktstrategie eine Konzeption zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse einschließlich der Sozialdienstleistungen eingebettet.113 Diese betrifft die wettbewerbsrechtliche Behandlung der Daseinsvorsorge und gemeinwohlorientierten Dienstleistungen entsprechend dem in den Vertrag von Lissabon aufgenommenen „Protokoll (Nr. 32) über Dienste von allgemeinem Interesse“, das Art. 14 AEUV konkretisiert, der den bisherigen Art. 16 EGV abgelöst hat, in dem den Diensten von allgemeinem Interesse eine privilegierte Stellung gesichert wird. Das Protokoll soll auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Auslegungsgrundsätze einen kohärenten Rahmen für Maßnahmen auf EU-Ebene bei der Bereitstellung solcher Dienste mit 111
Kritisch hierzu Kingreen, NJW 2009, 2417. Zur Abgrenzung des Dienstleistungsauftrags von der Dienstleistungskonzession im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung s. EuGH v. 10. 9. 2009, Rs. C-206/08. 112 Zur Bedeutung des EU-Vergaberechts für die Erbringung von Sozialleistungen, um die Nachfragemacht öffentlicher Auftraggeber auch im Sozialsektor im Interesse eines unverfälschten Wettbewerbs zu zügeln und die Mitgliedstaaten zu zwingen, die Marktpositionierungschancen der privaten Anbieter transparent und diskriminierungsfrei zuzuteilen, s. Rixen, Sozialrecht in Europa, S. 53, 71 f.; Kingreen, SGb 2004, 659 ff.; ders., NJW 2009, 241 ff.; Ebsen, BKK 2/2010, S. 76 ff.; Roth, SGb 2009, 639 ff. 113 s. Mitteilung der Kommission v. 20. 11. 2007, KOM (2007), endg., S. 8.
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insbesondere folgenden Grundsätze darstellen: Die wichtige Rolle und der weitreichende Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Definition und Organisation der entsprechenden Dienstleistungen sowie der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei einer möglichst bedarfsgerechten und bürgernahen Erbringung von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, die das Protokoll (Art. 1) anerkennt, werden hervorgehoben. Während auf wirtschaftliche Dienstleistungen die EU-Wettbewerbsregeln und die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge uneingeschränkt Anwendung finden, wird klargestellt, daß auf nicht wirtschaftliche Tätigkeiten insbesondere sozialer Prägung die Wettbewerbs- und Binnenmarktvorschriften nicht anwendbar sind. Für Sozialdienstleistungen betont die Kommission das Erfordernis diskriminierungsfreier Gleichbehandlung und des Zugangs für Alle, wobei für soziale Kerndienstleistungen die Dienstleister verpflichtet sein sollen, bestimmte Leistungen unter den Bedingungen flächendeckender Versorgung und Erschwinglichkeit anzubieten. Um gerade auch sozial Schwachen und Behinderten den Zugang zu elementaren Dienstleistungen zu ermöglichen, hält die Kommission ggf. die Einsetzung einer unabhängigen Regulierungsbehörde für erforderlich. Die Auftragsvergabe und Organisation nichtwirtschaftlicher Dienste von allgemeinem Interesse wird nach dem Protokoll (Art. 2) jedoch ausdrücklich den Mitgliedstaaten zugewiesen. Welche Konsequenzen dies für das Gesundheitswesen und die Krankenversicherungsträger hat, läßt sich bisher schwer abschätzen, da die Grenzlinie zwischen den beiden Formen der Dienste von allgemeinem Interesse durch die Definition der Mitgliedstaaten gezogen wird und über die Vertragskonformität dieser Definition und die korrekte Anwendung der Wettbewerbsregeln der EuGH entscheidet. Daß die Dienste von allgemeinem Interesse in einer kompetenziellen Grauzone zwischen mitgliedstaatlichen und unionsrechtlichen Zuständigkeiten angesiedelt sind, wird auch in einer Stellungnahme des EWSA deutlich,114 der das Definitionsmonopol der Mitgliedstaaten für die Leistungen, die den Bürgern im allgemeinen Interesse zur Verfügung gestellt werden, restriktiv interpretieren möchte, indem er die Forderung nach einer Prüfung der Frage erhebt, inwieweit gemeinschaftlich definierte Dienste von allgemeinem Interesse zur Erreichung der Ziele der Union nötig sein könnten. Der EWSA sieht den Integrationsprozeß durch „Gemeinschaftsdienstleistungen von allgemeinem Interesse sowohl marktbezogener wie nichtwirtschaftlicher Natur“ als „Ausdruck europäischer Solidarität“ am besten gewährleistet, wenn die Union in den Bereichen ihrer alleinigen oder geteilten Zuständigkeit diese Dienstleistungen unter denselben Bedingungen zur Verfügung stellt, in Auftrag gibt, organisiert und finanziert, wobei eine Art „Universalkompetenz“ der Union aus dem Umstand abgeleitet wird, daß diese Dienste sich in die Ziele der Union (Art. 3 EUV) einfügen, die für die Förderung des Lebensstandards, der Lebensqualität und des sozialen Zusammenhalts europaweit mitverantwortlich sei. Lediglich personenbezogene Dienste wie z. B. Sozialdienste sollten nicht in diese 114
s. dazu Eureport social 6/2010, S. 22.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Kategorie unionsbestimmter Gemeinschaftsdienstleistungen fallen, da sie besser auf lokaler Ebene bewältigt würden. Die Kommission weist in ihrem Strategiepapier zu den Sozialdienstleistungen darauf hin,115 daß praktische Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Aktivitäten entstehen, die besonders Fragen der Anwendbarkeit des Beihilferechts und der öffentlichen Vergabevorschriften betreffen, wie sie von der Kommission auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH in Gestalt der Freistellungsverordnung für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse vom 29.11.2006116 definiert wurden. Die Freistellungsverordnung, die infolge der sog. „AltmarkTrans-Rechtsprechung“ des EuGH117 ergangen ist, soll im Interesse der Rechtssicherheit eindeutige Kriterien für die Zulässigkeit der Gewährung von Beihilfen zur Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse entwickeln, die nicht der Notifizierungspflicht, d. h. der Mitteilungsverbindlichkeit des die Ausnahmeregelung des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) in Anspruch nehmenden Mitgliedstaats gegenüber der EU-Kommission unterliegt.118 Sie betrifft nicht allein Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, sondern gleichermaßen auch die sozialen Dienstleistungen, so etwa von Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen, Medizinischen Versorgungszentren oder Pflegeeinrichtungen. Die an den Ausnahmekriterien des Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) orientierten Freistellungskriterien als Voraussetzungen für eine Vereinbarkeit von staatlichen Beihilfen mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht legen fest, daß eine privilegierte soziale Dienstleistung zwingend in Gestalt eines rechtsförmlichen öffentlichen Auftrags (Betrauungsakt) etabliert sein muß, der Auskunft über die Art und Dauer des Auftrages, über die Parameter für die Kalkulation und Kontrolle der Ausgleichszahlungen (Beihilfen) geben sowie Regelungen zur Vermeidung einer Überkompensation aufweisen muß. Sind diese Bedingungen erfüllt, besteht keine Notifizierungspflicht gegenüber der EU-Kommission bei Unternehmen, deren Umsatz unter 100 Mio. Euro liegt und die eine Ausgleichszahlung unter 30 Mio. Euro erhalten, wobei diese Schwellenwerte nicht für Krankenhäuser gelten. Verpflichtend ist ebenfalls die Berücksichtigung der europäischen Transparenzrichtlinie, die zwingend eine getrennte Buchführung vorsieht, wenn ein Dienstleister mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut worden ist und gleichzeitig auch andere Tätigkeiten durchführt, wobei er auf eine aus Steuermitteln finanzierte Personal- und Infrastruktur zurückgreifen kann. Wettbewerbs115
Ebda., S. 9. ABl. Nr. L 213. 117 Rs. C-280/00, Slg. 2003, I–7747 betreffend staatliche Vergünstigungen, die besondere Verpflichtungen kompensieren sollen und deshalb nicht unter Art. 87 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 107 AEUV) fallen, soweit sie objektiven und transparenten Kriterien unterliegen, keine Überdeckung bewirken, Allgemeininteressen dienen und sich im Rahmen des Erforderlichen halten. s. dazu Herdegen, S. 343 ff. 118 s. Einzelheiten bei Becker, NZS 2007, 169 ff. 116
II. Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme
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fragen treten in diesem Zusammenhang häufig im Verhältnis von privaten Kliniken zu öffentlichen Krankenhäusern auf, die durch gesetzlich oder satzungsmäßig verankerte Gewährträgerhaftung der Bundesländer oder Kommunen bevorzugt sind. Im Hinblick auf das Kriterium der Betrauung und des Defizitausgleichs läßt sich auf dem Krankenhaussektor nicht immer genau abgrenzen, zur Kompensation welcher Betriebsverluste aus Tätigkeiten im Rahmen des öffentlichen Auftrages oder darüber hinausgehender Forschungsaktivitäten die Mittel verwandt werden.119 Präzise Kriterien für die Abgrenzung von nicht wirtschaftlichen gegenüber wirtschaftlichen Dienstleistungen sind aber weder durch die Kommissions-Mitteilung noch durch die Freistellungsverordnung erstellt worden und werden in Zukunft zu weiteren politischen Auseinandersetzungen und Rechtsstreitigkeiten führen. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund der bisher ablehnenden Haltung der EU-Kommission gegenüber einer speziellen (Rahmen-)Richtlinie zu „Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“, wie sie von Teilen des Europäischen Parlaments, dem Wirtschafts- und Sozialausschuß und dem Ausschuß der Regionen im Interesse größerer Rechtssicherheit bei der Anwendung von Beihilfe- und Wettbewerbsregeln auf soziale Dienstleistungen gefordert wird.120
II. Normative Harmonisierungs- und Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme 1. Das leistungsrechtliche Rechtsregime für die transnationale Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen a) Die Rechtsschichten transnationaler Leistungsinanspruchnahme und -erbringung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme und -erbringung von Gesundheitsleistungen wurzelt in drei Rechtsschichten121, deren Fundament die europäischen
119 s. das kartellrechtliche Verfahren Rs. T-167/04 Asklepios Kliniken GmbH ./. EUKommission und das Beschwerdeverfahren der Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland, Gesundheitspolitischer InfoDienst Nr. 17/2008, 14 Nr. 7/2010, S. 21 ff.. Zur Problematik der Quersubventionierung im Krankenhauswesen s. Cremer, GesR 2005, 337 ff.; Koenig/Vorbeck, GesR 2007, 347 ff. 120 s. dazu Eureport social 3/2008, 14; Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 16/ 2009, S. 19 ff. 121 Zur Typologie des Anspruchssystems s. den Überblick bei Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 117 ff.; Becker, NJW 2003, 2272; Fuchs, NZS 2004, 225; Kingreen, in: Becker/Kin-
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Grundfreiheiten darstellen und in denen das europäische Unionsrecht und das deutsche Krankenversicherungsrecht miteinander verschränkt sind122 : Das frühere Gemeinschafts- und heutige Unionsrecht hat im koordinierenden Sozialrecht auf Verordnungsebene, also im Sekundärrecht, schon Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts den durch die Mobilität der Arbeitnehmer im Binnenmarkt entstandenen Regelungsbedarf für grenzüberschreitende Fragen der Sozialen Sicherung einschließlich der Gesundheitsversorgung zum größten Teil gedeckt. So koordinieren die Wanderarbeitnehmerverordnung VO (EWG) Nr. 1408/71 und die zu dieser Verordnung erlassene Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 die Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, indem sie bei transnationalen Sachverhalten das jeweils anwendbare Recht bestimmen und Sachnormen aufstellen, die verhindern, daß die Inanspruchnahme der gemeinschaftsrechtlichen Personenverkehrsfreiheiten (Arbeitnehmerfreizügigkeit: Art. 45 AEUV, ex-Art. 39 EGV, Niederlassungsfreiheit: Art. 49 AEUV, ex-Art. 43 EGV) zu leistungsrechtlichen Nachteilen führt. Diese Verordnungen sind funktional auf die Sicherung grenzüberschreitender Erwerbstätigkeit beschränkt und gewährleisten lediglich akzessorische, d. h. von den Funktionsbedingungen des Binnenmarktes abhängige und auf diesen bezogene Rechte.123 Für die Gesundheitsversorgung sind dabei von besonderer Bedeutung Art. 19 VO (EWG) Nr. 1408/71, der Personen berechtigt, die sich dauerhaft in einem anderen als dem Versicherungsstaat aufhalten, und Art. 22 VO (EWG) Nr. 1408/71, der Ansprüche bei einem nur vorübergehenden Aufenthalt regelt.124 Diese Verordnungen wurden ersetzt durch die am 7. 7. 2004 erlassene VO 883/ 2004, die nach dem Erlaß der dazugehörigen Durchführungsverordnung 987/099 zum 1. 5. 2010 in Kraft getreten ist. Die bisherige VO 1408/71 gilt für die EWRStaaten Island, Liechtenstein und Norwegen sowie für Drittstaatsangehörige und im Verhältnis der EU zur Schweiz weiter, da diesbezüglich noch keine neuen Abkommen bzw. Ratifizierungsverfahren abgeschlossen sind.125 Eine zweite primärrechtlich fundierte Rechtsschicht resultiert aus der Rechtsprechung des EuGH zu den unionsrechtlichen Grundfreiheiten des Warenverkehrs (Art. 34 AEUV, ex-Art. 28 EGV) und der Dienstleistung (Art. 56 AEUV, ex-Art. 49
green, SGB V, 2208, § 13; Bieback, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 2005, S. 216 ff. 122 Zur Rezeption gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben für das Leistungs(erbringer)recht der Krankenversicherung durch das GMG s. Rixen, ZESAR 2004, 24; Fuchs, NZS 2004, 225; Kingreen, NZS 2005, 505. 123 Kingreen, in: SGB V, § 13 Rn. 31. 124 Zur Wanderarbeitnehmerverordnung s. Schulte, Soziale Sicherheit in der EG, 1997; ders., in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch, 2003, § 32 Rn. 15 ff.; Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 2005, I 18 ff. 125 Zur neuen Basis des koordinierenden Sozialrechts in Gestalt der VO 883/2004 s. Fuchs, SGb 2008, 201 ff.; Schulte, EuroAS 11/2005, 173 ff.; Rudack, BKK 11/2009, 516 ff.; Devetzi, in: Sozialrecht in Europa, 2008, S. 177 ff.; Spiegel, in: DRV Bund (Hrsg.), Die Reform des Europäischen koordinierenden Sozialrechts, 2007, S. 25 ff.
II. Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme
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EGV), die die Basis für das Recht aller Leistungsberechtigten auf diskriminierungsfreie grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bilden.126 Grundlage dieser Rechtsprechung ist die Konstruktion einer als Korrelat der aktiven Dienstleistungs- und Produktverkehrsfreiheit der Leistungserbringer entwickelten passiven Freiheit bei der Leistungsinanspruchnahme, die dem Unionsbürger unabhängig von seinem sozioökonomischen Status eingeräumt wird. Die daraus abgeleiteten vom Gebrauch der Personenverkehrsfreiheiten unabhängigen auf Gesundheitsprodukte und Dienstleistungen bezogenen Rechte, zu denen nach der EuGH-Rechtsprechung zunehmend auch die universellen Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger (Art. 21 AEUV, ex-Art. 18 EGV) und die sozialen Grundrechtsverbürgungen der Grundrechtecharta zählen, sind durch § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V in nationales Recht umgesetzt worden und gewährleisten den Kostenerstattungsanspruch des Versicherten bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.127 Eine weitere Möglichkeit der Inanspruchnahme von Leistungserbringern in einem anderen Mitgliedstaat der EU eröffnet § 140e SGB V, der selbst keine eigenständige Anspruchsgrundlage enthält, die Krankenkassen aber ermächtigt, das Sachleistungsprinzip durch den Abschluß von Einzelverträgen mit Leistungserbringern in anderen EU-Staaten auf die grenzüberschreitende Leistungserbringung auszuweiten. Insoweit kann der Versicherte die in diesem Rahmen erbrachten Leistungen als Sachleistungen in Anspruch nehmen, ohne in Vorleistung treten zu müssen.128 b) Das Spannungsverhältnis zwischen supranationalem EU-Recht und nationalem Territorialitätsprinzip Die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen im EU-Ausland zu Lasten des heimischen, für den Versicherten zuständigen Trägers der Sozialen Sicherung ist in einem komplexen Spannungsverhältnis angesiedelt, in dem das nationale, das jeweilige ausländische und das europäische (Sozial-)Recht die wesentlichen Bezugspunkte darstellen: Das nationale Sozialrecht der EU-Mitgliedstaaten ist territorial begrenzt und reduziert eine Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Ausland zu Lasten des für den Patienten zuständigen Kostenträgers auf bestimmte Ausnahmeregelungen. Das EU-Recht geht als supranationales Recht den Bestimmungen des nationalen Rechts vor. Damit stehen alle Einschränkungen, die das nationale Sozialrecht einer grenzüberschreitenden Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgungsleistungen auferlegt, in einem doppelten Sinne auf dem Prüfstand: Sie müssen nicht nur mit den Regelungen des sekundären europäischen koordinie126 s. dazu den Überblick bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 169 ff., 227 ff. sowie die Hinweise oben 1. Kap. III. 3. 127 Vgl. Kingreen, in: SGB V, S. 505; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 24; Sodan, ASR 2007, 152. 128 s. dazu Harich, in: ders. (Hrsg.), Das Sachleistungsprinzip in der Gemeinschaftsrechtsordnung, 2006, S. 287 ff.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
renden Sozialrechts, sondern auch mit den primärrechtlichen europäischen Grundfreiheiten kompatibel sein.129 Die unterschiedliche Struktur und Leistungsfähigkeit der Systeme der Sozialen Sicherheit in der in den letzten Jahren rasch zunehmenden Zahl der EU-Mitgliedstaaten verleiht der grenzüberschreitenden Leistungsinanspruchnahme ihre besondere Relevanz, weil das europäische Recht nicht nur die grenzüberschreitenden Leistungsansprüche der Versicherten, sondern auch die damit einhergehenden Zahlungsverpflichtungen der Träger der Sozialen Sicherung normiert. Daraus können zum einen Anreize zum „Import“ von Gesundheitsleistungen aus dem Ausland, zum anderen finanzielle Konsequenzen resultieren, die sich – je nach Richtung der Nachfrageverlagerung und der Preisunterschiede – positiv oder negativ auf die Versicherten, die Leistungserbringer und die Finanzierungsträger in den einzelnen Ländern auswirken.130 Auch wenn die grenzüberschreitende Patientenmobilität mit Rücksicht auf Arztbindung, Vertrauensbeziehung, Verständigungsprobleme und Opportunitätskosten bisher überwiegend auf grenznahe Inanspruchnahmen oder Spezialbehandlungen beschränkt geblieben ist, dürfte bei Kuren, Arzneimitteln oder Nachfrage nach zahntechnischen Leistungen ein erhebliches Potential für grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen und medizinische Produkte vorhanden sein.131 Da die Gesundheitspolitik in den Mitgliedstaaten der EU bisher weitgehend eine nationale Aufgabe geblieben ist und die originären Kompetenzen der EU auf den von Art. 168 AEUV (ex-Art. 152 EGV) vorgegebenen Rahmen insbesondere der Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Seuchenbekämpfung be129 s. Schulte, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 32 Rn. 15 ff., Eichenhofer, in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, Zukunftsszenarien für die GKV, 2003, S. 145 ff.; Karl, in: Die neue EU-Verfassung und die Europäische Sozialpolitik, S. 91 ff.; GVG (Hrsg.), Soziale Sicherheit der Grenzgänger in Europa, 2003. 130 Nach Schätzung der EU-Kommission (Mitteilung der Kommission – ein Gemeinschaftsrahmen für sichere, qualitätsgestützte und effiziente grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung v. 28. 11. 2007) wird bisher etwa 1 % der öffentlichen Mittel im Gesundheitswesen der EU für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aufgewandt. Über 90 % der Patienten in der EU nehmen Gesundheitsdienstleistungen des eigenen Gesundheitssystems in Anspruch, wobei ein höherer Anteil in Grenzregionen, kleineren Mitgliedstaaten, bei seltenen Krankheiten und in Gebieten mit hohem Tourismusaufkommen besteht. Zu den ökonomischen und versorgungspolitischen Auswirkungen der zwischenstaatlichen Patientenund Leistungserbringermigration s. Bertelsmann-Stiftung, Europäisierung des Gesundheitswesens; Schneider, in: Klusen, Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, 2003, S. 161 ff.; Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des deutschen Gesundheitssystems, 2008. Vgl. zu Bedarfs- und Motivationsstrukturen für Patientenmigration und Auslandsbehandlungen unten 4. Kap. I. 1. 131 So zeigt eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Zahnärzte, Dentaltourismus und Auslandszahnersatz, 2009, zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von zahnärztlichen Behandlungen und zahntechnischen Leistungen, daß die binnen- und außereuropäische Nachfrage nach zahntechnischen Produkten zunimmt und 10 % der Prothetikfälle ausmacht, der Dentaltourismus im Hinblick auf Zahnarztbindung, Qualitäts- und Nachsorgeprobleme aber sehr beschränkt bleibt und lediglich 1 % der Bevölkerung betrifft.
II. Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme
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schränkt wurden, besitzen die nationalen Gesetzgeber einen autonomen Gestaltungsspielraum in der Organisation ihrer Sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme. Dementsprechend wird auch das System der deutschen Sozialversicherung vom Territorialitätsprinzip bestimmt. Nach § 3 SGB IV erstrecken sich die Vorschriften über Versicherungspflicht und -berechtigung auf alle Personen, die im Geltungsbereich des SGB beschäftigt oder selbständig tätig sind bzw. – soweit eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht vorausgesetzt wird – auf alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB haben. Für die Gesetzliche Krankenversicherung bestimmt § 16 SGB V dementsprechend, daß der Anspruch auf Leistungen ruht, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Von diesem Ruhensgrundsatz kennt das SGB V allerdings bedeutsame Ausnahmen des inner-, über- und zwischenstaatlichen Rechts:132 § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V gilt nicht, wenn zulässigerweise Leistungserbringer im Ausland in Anspruch genommen werden. So statuieren Art. 19, 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 sowie § 13 Abs. 4, 5 SGB V Ansprüche auf Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat der EU, des EWR und in der Schweiz. Im übrigen bleiben nach § 30 Abs. 2 SGB I auch sonstige Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt, zu denen viele bilaterale Sozialversicherungsabkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Union und des EWR zählen. Unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 Satz 6, 7 SGB V können Leistungserbringer darüber hinaus im Wege der Kostenerstattung auch in denjenigen ausländischen Staaten in Anspruch genommen werden, die nicht unter die vorgenannten Bestimmungen fallen. Nicht anwendbar ist die Ruhensanordnung des § 16 Abs. 1 Nr. 1 u. a. ferner im Falle der Beschäftigung im Ausland (§ 17 SGB V), bei einer nur im Ausland möglichen Krankenbehandlung (§ 18 Abs. 1, 2 SGB V) sowie bei nicht anderweitig versicherbaren Krankheitskosten (§ 18 Abs. 3 SGB V).
2. Leistungsinanspruchnahme aufgrund der Wanderarbeitnehmerverordnung a) Zweck und Reichweite der VO (EWG) Nr. 1408/71 Den Kern der VO (EWG) Nr. 1408/71 und der Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 bilden die koordinierenden Vorschriften über die einzelnen Leistungsarten der Sozialen Sicherung, d. h. neben den Bereichen Alter, Arbeitsunfälle und Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen vor allem auch Krankheit und Mutterschaft, wobei es Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für den Erwerb von Ansprüchen festzulegen.133 Der Schwerpunkt des ko132 133
s. dazu den Überblick bei Kingreen, in: SGB V, § 16 Rn. 4 ff. Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 117 ff.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
ordinierenden europäischen Sozialrechts liegt auf der gegenseitigen Abstimmung der unterschiedlich gestalteten nationalen Sozialrechtsordnungen und Anspruchssysteme insbesondere durch Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu berücksichtigenden Zeiten und durch leistungsrechtliche Gleichstellung desjenigen, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, mit den Personen, die nicht von der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch machen. Das Koordinierungsrecht der VO (EWG) Nr. 1408/71 sichert in diesem Zusammenhang die Anwendbarkeit der Sozialrechtsvorschriften jeweils nur eines Mitgliedstaates, d. h. grundsätzlich des Beschäftigungsstaates (einheitliches Sozialrechtsstatut), es gewährleistet den Leistungsexport und sieht die Bildung internationaler Versicherungsverläufe durch Zusammenrechnung von Versicherungsoder Beschäftigungszeiten vor. Dadurch und durch das Prinzip der Gleichbehandlung aller Unionsangehörigen sorgt es unter Beachtung des Äquivalenzprinzips für die Überwindung der territorialen und nationalen Begrenztheit der Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten.134 Als grundlegende Regelung, die sich mit Patientenmobilität und transnationaler Leistungsinanspruchnahme beschäftigt, besteht das auf der Basis eines europäischen Behandlungsscheines beruhende sog. E 112-Verfahren, wonach die Versicherten mit Genehmigung ihres zuständigen Kostenträgers zu dessen Lasten in einem anderen Mitgliedstaat Leistungen in Anspruch nehmen können. Gemäß der VO (EWG) Nr. 1408/71 muß die Genehmigung erteilt werden, wenn die Leistung nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates im Leistungskatalog vorgesehen ist und der Versicherte die Leistung in Anbetracht seines derzeitigen Gesundheitszustandes und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlung im Wohnortstaat normalerweise erforderlich ist. Mit dieser Regelung konnten die Mitgliedstaaten die grenzüberschreitende Leistungsinanspruchnahme weitgehend kanalisieren und auch bei nationalen Wartelisten die Zustimmung verweigern.135 In der Folge entwickelte der EuGH unter Zugrundlegung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten unabhängig von den restriktiven Regelungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 einen primärrechtlich fundierten Anspruch auf Zugang zu Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, so daß nationale Systeme der Sozialen Sicherheit ihre Versicherten nicht davon abhalten dürfen, diese Dienstleistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen.136 Dies gilt zumindest für Leistungen, die zur medizinischen Standardversorgung ohne größeren Finanz- und Planungsbedarf zählen, in der Regel also für die ambulanten Behandlungen. Für diese darf die Kostenerstattung durch das jeweilige Leistungssystem nicht von einer vorgängigen 134
Waltermann, Sozialrecht, 2008, Rn. 81 ff. Spiegel, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Die Reform des europäischen koordinierenden Sozialrechts, S. 13 ff.; Bieback, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 216 ff. 136 s. dazu oben 1. Kap. III. 3. 135
II. Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme
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Genehmigung abhängig gemacht werden. Lediglich bei stationärer Behandlung kann im Hinblick auf Planungssicherheit und die Gefahr einer Beeinträchtigung der finanziellen Stabilität des Sozialen Sicherungssystems ein Genehmigungsvorbehalt objektiv gerechtfertigt sein. Dieser Behandlungs- und Kostenerstattungsanspruch im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit tritt also wahlweise neben das E 112-Verfahren nach der VO (EWG) Nr. 1408/71, so daß eine optionale Dualität der anspruchsbegründenden Rechtsregime entstanden ist. b) Personaler und sachlicher Anwendungsbereich Das europäische koordinierende Sozialrecht in Gestalt der VO (EWG) Nr. 1408/ 71 und 574/72 definiert im Bereich der Krankenversicherung für unterschiedliche Versichertengruppen und Inanspruchnahmesituationen unter Zusammenrechnung von in mehreren Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs-, Beschäftigungsund Wohnzeiten das Land, in dem die Sozialversicherungspflicht besteht und dessen Sozialversicherungsträger letztlich für die Leistungskosten aufzukommen hat (zuständiger Träger), den Staat, dessen Kostenträger die Leistungen bereitstellt und vorübergehend finanziert (aushelfender Träger), das Land, nach dessen Leistungskatalog sich der Leistungsanspruch des Versicherten richtet und dessen Tarifsystem der Kostenübernahme zugrundezulegen ist, sowie das Verfahren, nach dem die Kosten abgerechnet werden. Ferner werden Sonderfragen geklärt, etwa welche Regelungen bei mitversicherten Familienangehörigen oder bei Aufenthalten in Drittstaaten anzuwenden sind.137 Die Bestimmungen gelten für die Dienst-, Sach- und Geldleistungen bei Krankheit und Mutterschaft, also insbesondere die Ansprüche auf Früherkennung, ambulante und stationäre Krankenbehandlung, Arznei- und Hilfsmittelversorgung sowie die Einkommensersatzleistungen bei Krankheit wie das Krankengeld oder die arbeitsrechtlichen Leistungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Leistungen der Rehabilitation. Anders als im deutschen Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung, das Krankenbehandlung als ärztliche Heilbehandlung definiert, sind EU-rechtlich die auf nichtärztliche Hilfe gerichteten Pflegeleistungen als Leistungen bei Krankheit zu qualifizieren, weil sie die Verbesserung des Gesundheitszustandes und der Lebensqualität des zu Behandelnden bezwecken.138 Während Sachleistungen nicht exportiert, sondern nach dem Grundsatz der Leistungsaushilfe vom Träger des Wohn- bzw. Aufenthaltsorts so erbracht werden, als ob der Erwerbstätige bei diesem Träger leistungsberechtigt ist (Art. 19 Abs. 1a, 22 Abs. 1c, i VO (EWG) Nr. 1408/71), sind Geldleistungen unabhängig vom Wohn- oder Aufenthaltsort des Berechtigten vom Träger zu gewähren und grundsätzlich „exportfähig“ (Art. 19 Abs. 1b, 22 Abs. 1c, ii VO (EWG) Nr. 1408/ 71).
137 138
Schulte, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 32 Rn. 104 ff. s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 118.
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Der personale Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 erstreckt sich entgegen der ursprünglichen Fixierung auf Erwerbstätige gemäß Art. 2 Abs. 1 auf Arbeitnehmer, Selbständige und Studierende, die Unionsbürger sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen, sowie auf deren Familienangehörige und Hinterbliebene, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Sie gilt in gleicher Weise für die Bürger der EWR-Staaten und der Schweiz, für die sie auch nach dem Inkrafttreten der neuen VO 883/2004 zum 1. 5. 2010 weiter Bestand hat. Für die Anwendung der VO (EWG) Nr. 1408/71 kommt es gemäß Art. 1a nicht auf den arbeits-, sondern den sozialversicherungsrechtlichen Status an. Der Berechtigte muß also die Voraussetzungen des jeweiligen Versicherungssystems als Arbeitnehmer, Selbständiger, Studierender oder Arbeitsloser erfüllen.139 Bei der Ausgestaltung der Regeln für die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zu Lasten des heimischen Trägers der Sozialen Sicherung unterscheidet das europäische koordinierende Sozialrecht mehrere Fallkonstellationen: Zum einen kann der Zugang zu medizinischen Leistungen nach dauerhafter Verlegung des Wohnortes in einen anderen Mitgliedstaat oder die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bei nur vorübergehendem Aufenthalt in Frage stehen, zum anderen kommt der Grenzübertritt zum Zwecke einer geplanten Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat in Betracht, zu der der zuständige Träger seine Genehmigung erteilen muß. Abgesehen von einigen Sonderregelungen gilt in den genannten Fallkonstellationen das Prinzip der Sachleistungsaushilfe, d. h. Personen, die im Ausland eine Leistung auf der Grundlage des europäischen koordinierenden Sozialrechts in Anspruch nehmen, erhalten Sachleistungen vom aushelfenden Träger für Rechnung des zuständigen Trägers. Der aushelfende Träger hat sie dabei so zu stellen, als wären sie bei ihm versichert. Der Leistungsumfang richtet sich somit nach dem Leistungskatalog des aushelfenden Trägers. Einerseits hat der Versicherte die im Inanspruchnahmeland geltenden Selbstbeteiligungen zu zahlen, andererseits muß der zuständige Träger dem aushelfenden Träger die Kosten in der tatsächlich angefallenen Höhe ersetzen (Art. 93 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 574/72). Es gelten also die Vergütungssätze des aushelfenden Trägers.140 Für den Fall, daß das Verfahren der Sachleistungsaushilfe nicht eingehalten werden konnte und der Versicherte die Kosten einer Leistung im Ausland selbst bezahlt hat, sieht Art. 34 VO (EWG) Nr. 574/72 die Möglichkeit der Kostenerstattung an den Versicherten vor, wobei auch hier der zuständige Träger die Vergütungssätze des aushelfenden Trägers zugrundezulegen hat. Arbeitnehmer und Selbständige, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben als dem, in dem sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen, sowie ihre mitversicherten Familienangehörigen erhalten diese Sachleistungsaushilfe nach Art. 19 Abs. 1 und 2 VO (EWG) 139
Vgl. Kingreen, in: SGB V, § 13 Rn. 38. s. dazu die Hinweise bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 228 ff. 140
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Nr. 1408/71, wobei sich Art und Umfang der Leistungen nach dem Recht des aushelfenden Trägers richten und sich lediglich die Dauer, für die die Leistungen zu erbringen sind, gemäß Art. 22 Abs. 1i VO (EWG) Nr. 1408/71 nach dem Recht des zuständigen Trägers bestimmt. Personen, die dem Sozialen Sicherungssystem eines Mitgliedstaats unterliegen und während eines vorübergehenden Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat erkranken, erhalten nach diesen Regelungen Sachleistungen vom Krankenversicherungsträger des Aufenthaltslandes für Rechnung des zuständigen Krankenversicherungsträgers. Dabei orientieren sich Umfang der Leistungen und Höhe der Leistungsvergütung am Recht des aushelfenden Trägers. Allerdings begrenzt Art. 22 Abs. 1a VO (EWG) Nr. 1408/71 bei einem solchen nur vorübergehenden Aufenthalt den Leistungsumfang auf die Notfallversorgung, d. h. auf diejenigen Leistungen, die unverzüglich erforderlich sind, weil sie in der Regel nicht bis zur beabsichtigten Heimreise aufgeschoben werden können.141 c) Genehmigungsvorbehalte im koordinierenden Sozialrecht Das europäische koordinierende Sozialrecht sieht auch die Möglichkeit einer vom zuständigen Krankenversicherungsträger vorab zu genehmigenden Auslandsbehandlung vor.142 Im Unterschied zu den vorgenannten Fallkonstellationen richtet sich der Leistungsumfang aber nach dem Recht des zuständigen Trägers. Sofern der Versicherungsfall im Versicherungsstaat eintritt, der Versicherte sich gleichwohl nicht dort, sondern in einem anderen Mitgliedstaat behandeln lassen will, in dem er z. B. wohnt oder in den er umziehen will, ist nach Art. 22 Abs. 1b VO (EWG) Nr. 1408/71 eine Genehmigung des zuständigen Trägers erforderlich, die dieser allerdings gemäß Art. 22 Abs. 2 Satz 1 VO (EWG) Nr. 1408/71 nur aus medizinischen Gründen verweigern darf. Begibt sich der Versicherte gezielt deshalb in einen anderen Mitgliedstaat, um dort eine Gesundheitsleistung in Anspruch zu nehmen, sind die Voraussetzungen der Verordnung restriktiver: Er benötigt in diesem Fall einer geplanten medizinischen Auslandsversorgung eine Genehmigung des zuständigen Trägers, die Art. 22 Abs. 2 Satz 2 VO (EWG) Nr. 1408/71 von zwei Voraussetzungen abhängig macht: Die in Anspruch zu nehmende Gesundheitsleistung muß zum einen Bestandteil des Leistungskatalogs sein, auf den der Versicherte nach dem Recht seines Wohn- bzw. Versicherungsstaates einen Anspruch hat. Zum anderen wird verlangt, daß der Betroffene die Leistung in seinem Wohnsitzstaat unter Berücksichtigung seiner Erkrankung nicht innerhalb des dort üblichen Zeitraums erlangen kann.143 Während die Mitgliedstaaten im Rahmen der Wanderarbeitnehmerverordnung die Menge der Genehmigungsleistungen durch Normierung des Leistungskatalogs 141
Schulte, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, § 32, Rn. 113 ff. Vgl. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 230 ff.; Sodan, ASR 2007, 152 ff. 143 Kingreen, in: SGB V, § 13 Rn. 41; Spiegel, S. 53 f. 142
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
und den Zeitpunkt der Inanspruchnahme durch die Genehmigungspraxis steuern konnten, hat die EuGH-Rechtsprechung diese Grenzen durch ihren Rückgriff auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten hinsichtlich der Genehmigungsvoraussetzungen im ambulanten Versorgungsbereich und nationaler Wartelisten durchbrochen. Allerdings gilt auch hier, daß das europäische Recht den Versicherten keinen Anspruch auf die Genehmigung einer Leistung einräumt, die im Leistungskatalog des zuständigen Trägers nicht enthalten ist, da das EU-Recht grundsätzlich einen Mitgliedstaat nicht dazu zwingen kann, die Liste der von seinem System des sozialen Schutzes zu tragenden medizinischen Leistungen zu erweitern. Die Genehmigung zur Auslandsbehandlung kann aber nur aufgrund objektiver internationaler Standards des allgemein anerkannten Stands der Wissenschaft verweigert werden, nicht jedoch mit Hinweis auf den Auslandsbezug der Leistung.144 Für komplizierte insbesondere chronische Erkrankungen, die einer Behandlung in speziellen Einrichtungen bedürfen, ist durch Änderungsverordnung 631/2004145 in Art. 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 ein Absatz 1a eingefügt worden, der die Verwaltungskommission für Soziale Sicherheit ermächtigt, eine Liste von Sachleistungen zu erstellen, die eine vorherige Vereinbarung der Versicherten mit ihren Kostenträgern zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung im Aufenthaltsland nötig macht.
3. Neuregelungen des koordinierenden Sozialrechts durch die VO (EG) Nr. 883/2004 a) Grundzüge der Neufassung der Verordnung Weitergehende Neuregelungen des koordinierenden Leistungs- und Verfahrensrechts im Gesundheitswesen enthält die VO (EG) Nr. 883/2004, die gegenüber der bisherigen Fassung der VO (EG) Nr. 1408/71 auch für die grenzüberschreitenden Abwicklungen von Gesundheitsleistungen einige Klarstellungen enthält, ohne sämtliche Fragen, die aus der EuGH-Rechtsprechung zu diesem Komplex resultieren und insbesondere das Verhältnis zum primären Gemeinschaftsrecht betreffen, abschließend und eindeutig zu regeln.146 Von den Grundprinzipien der VO 1408/71 weicht die neue Verordnung, die nach der Novellierung der Durchführungsverord144
s. dazu oben 1. Kap. III. 4. b). Zur vorgezogenen Reform der VO (EWG) Nr. 1408/71 im Zuge der Einführung der Europäischen Krankenversicherungskarte durch die VO (EG) Nr. 631/2004 (ABl. 2004 Nr. L100, S.1) s. Spiegel, S. 50 ff. Die Verwaltungskommission hat bisher die Nierendialyse und die Sauerstofftherapie als Krankheitsbefunde vorheriger Vereinbarung benannt. Beschl. Nr. 196, 2004/482/EG. 146 s. dazu Linka, in: Marhold (Hrsg.), Das neue Sozialrecht der EU, 2005, S. 65 ff.; Bieback, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 216 ff.; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 224; ders., SGb 2008, 210 ff.; Kingreen. NZS 2005, 510; Spiegel, S. 25 ff.; Devetzi, S. 177 ff.; Marhold, in: Eichenhofer (Hrsg.), 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 193 ff. 145
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nungen zum 1. 5. 2010 in Kraft getreten ist (Art. 91 Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004), nicht ab und läßt deren Struktur und Gliederung größtenteils unverändert. Sie schafft allerdings Konkretisierungen bezüglich des Äquivalenzprinzips (Art. 5 VO (EG) Nr. 883/2004), indem sie im Sinne einer Vereinheitlichung sämtliche Auslandssachverhalte den strukturverwandten Inlandssachverhalten oder -rechtsverhältnissen gleichstellt und sich unter Einbeziehung nicht erwerbstätiger Versicherter in die Koordinierung entsprechend der allgemeinen Entwicklung im europäischen Sozialrecht vom Begriff des Arbeitnehmers löst (Art. 1 VO (EG) Nr. 883/2004).147 Analog zur bisherigen Rechtslage wird für Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft der Grundsatz bestimmt, daß Versicherte und deren Familienangehörige, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, in ihrem Wohnstaat Leistungen für Rechnung des zuständigen Trägers beziehen können. Ebenso können sie grundsätzlich Versicherungsleistungen während des Aufenthalts im zuständigen Mitgliedstaat in Anspruch nehmen (Art. 18 VO (EG) Nr. 883/2004), wenn sich der Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat befindet. Prinzipiell hat jeder Versicherte auch bei Aufenthalt in einem nicht zuständigen Staat Anspruch auf die Sachleistungen, die während des Aufenthalts medizinisch notwendig werden. Auch bezüglich der Genehmigungsvoraussetzungen rezipiert die Neuregelung weitgehend die bisherige Rechtssituation: Die Verwaltungskommission erstellt eine Liste von Sachleistungen, für welche die Inanspruchnahme der Leistung nur aufgrund einer vorherigen Leistungszusage zwischen dem Leistungsempfänger und dem Träger möglich sein soll. Ein Anspruch auf Genehmigung der Leistungsinanspruchnahme in einem anderen Mitgliedstaat besteht, wenn die Gesundheitsleistung von dem Träger geschuldet ist, aber nicht in einem medizinisch vertretbaren Umfang oder Zeitraum gewährt werden kann (Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004).148 Art. 34 der Verordnung enthält ferner eine neue Regelung, die es vermeidet, Pflegegeld und Pflegesachleistungen zu kumulieren, wenn beide Leistungen zu Lasten ein und desselben Staates gehen würden. Unklar bleibt, welche Pflegeleistungen einem Fall der Krankheit zurechenbar sind und welches beitragsunabhängige Sonderleistungen im Bereich der Pflege (Art. 70 VO (EG) Nr. 883/2004) darstellen.149 b) Sektorielle und gruppenspezifische Sonderregelungen nach bisherigem und neuem Recht Für Familienangehörige gelten nach bisherigem Recht zum Teil andere Regeln als für den Versicherten selbst. Zwar teilen mitversicherte Familienangehörige grundsätzlich den sozialrechtlichen Status des Versicherten, von dem sie ihre Sicherung 147 Zur Erweiterung des persönlichen Geltungsbereichs der Richtlinie s. Spiegel, S. 33 ff.; Devetzi, S. 125 f. 148 Vgl. den Überblick über Neuerungen europäischer Sozialrechtskoordinierung bei Linka, S. 65 ff.; Devetzi, S. 130 ff., 136; Marhold, in: Eichenhofer (Hrsg.), 50 Jahre nach ihrem Beginn, S. 193 ff. 149 s. Spiegel, S. 39 ff.; Fuchs, SGb 2008, 207.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
ableiten. In Mitgliedstaaten, in denen die Einbeziehung in die Soziale Sicherung wohnortabhängig ist, sind die Familienmitglieder jedoch in ihrem Wohnstaat als Einwohner unabhängig von der Stellung des Versicherten eigenständig gesichert (Art. 19 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71). Familienangehörige von Grenzgängern sind in ihrem Wohnstaat uneingeschränkt leistungsberechtigt, während sie im zuständigen Beschäftigungsstaat nur im Notfall oder aufgrund eines entsprechenden Abkommens zwischen dem Beschäftigungs- und dem Wohnstaat gesichert sind. Die Familienangehörigen des Grenzgängers haben damit koordinierungsrechtlich einen minderen Rechtsstatus als der Grenzgänger selbst, der sowohl gegenüber dem Beschäftigungs- als auch dem Wohnstaat uneingeschränkt anspruchsberechtigt ist. Das neue Recht stellt die Familienangehörigen auch bei Inanspruchnahme von Leistungen im zuständigen Staat den Versicherten gleich (Art. 18 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/ 2004).150 Dies gilt grundsätzlich auch für die Familienangehörigen von Grenzgängern, die in diesem Fall Anspruch auf die Sachleistungen nach den allgemeinen Regeln (Art. 19 f. VO (EG) Nr. 883/2004) haben.151 Eine Sonderregelung besteht nach der bisherigen Wanderarbeitnehmerverordnung für Grenzgänger, die in einem Mitgliedstaat arbeiten, während sie in einem anderen wohnen und sich regelmäßig – d. h. täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich – in den jeweils anderen Staat begeben. Für sie wie für alle Personen, bei denen zuständiger Staat und Wohnstaat auseinanderfallen, ist die Leistungsaushilfe für die Behandlung durch den Wohnstaat sowie der Export von Geldleistungen durch den zuständigen Staat statuiert. Darüber hinaus kann der Grenzgänger jedoch auch die geschuldeten Leistungen im zuständigen Staat beanspruchen (Art. 20 VO (EWG) Nr. 1408/71). Diese Sonderregelungen, die auch für Nichtgrenzgänger gelten, die in einem anderen als dem zuständigen Staat wohnen, solange sie sich im zuständigen Staat aufhalten (Art. 21 VO (EWG) Nr. 1408/71), werden im neuen Recht entfallen.152 Art. 28 VO (EG) Nr. 823/2004 stellt sicher, daß Grenzgänger, die nach Beginn des Ruhestandes die Möglichkeit verlieren, auf beiden Seiten der Grenze Leistungen in Anspruch zu nehmen, bereits begonnene Behandlungen im ehemaligen Beschäftigungsstaat fortsetzen können und nicht gedrängt werden, bestehende Behandlungsverhältnisse und Vertrauensbeziehungen zu bestimmten Ärzten im Beschäftigungsstaat aufzugeben.153 Die bisherige Fassung der Wanderarbeitnehmerverordnung trifft besondere Regelungen für die Krankenversicherung der Rentner (Art. 26 bis 34 VO (EWG) Nr. 1408/71): Wenn jemand eine Rente aus einem Mitgliedstaat bezieht, während er in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, so hat der zur Rentenversicherung verpflichtete Mitgliedstaat den Rentner auch für das Risiko der Krankheit zu sichern. 150
Vgl. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 119; Devetzi, S. 130. Fuchs, SGb 2008, 206. 152 Zur rechtlichen Neuregelung der Grenzgängersituation s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 119; Fuchs, SGb 2008, 206; Devetzi, S. 130 f., 133 f. 153 s. Spiegel, S. 52. 151
II. Koordinierungsinstrumente grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme
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Zwar ist der Rentner zur Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen im Wohnstaat berechtigt; der zuständige Staat hat aber dem Wohnstaat die Kosten durch Pauschalabgeltung zu erstatten (Art. 95 VO (EWG) Nr. 574/72). Die Verordnung statuiert weitere Regelungen für den Leistungsbezug aus mehreren Mitgliedstaaten (Art. 27 VO (EWG) Nr. 1408/71) und für den Fall, daß der Wohnstaat keine Krankenversicherung für Rentner vorsieht (Art. 28 VO (EWG) Nr. 1408/71).154 Die Krankenversicherung der Rentner wird in der VO (EG) Nr. 883/2004 umfassend neu gestaltet.155 Art. 22 dieser Verordnung begründet für den Rentenantragsteller sowie für Rentenbezieher und deren Familienangehörige die Zuständigkeit des Wohnstaates für Sachleistungen. Sofern nach diesem Recht kein Anspruch auf Sachleistungen besteht, tritt substitutiv das Recht des Staates ein, dem der Rentner am längsten unterworfen war (Art. 24 VO (EG) Nr. 883/2004). Anspruchsberechtigte Familienangehörige, die außerhalb des für den Rentner zuständigen Staates wohnen, erhalten durch die Neuregelung Zugang zu den Leistungen ihres Wohnstaates (Art. 26 VO (EG) Nr. 883/2004). Der Rentner hat ebenfalls unter den in der neuen Verordnung statuierten Voraussetzungen Anspruch auf Sachleistungen anderer Mitgliedstaaten (Art. 27 VO (EG) Nr. 883/2004). Aus Art. 30 i.V.m. Art. 5 der VO (EG) Nr. 883/2004 ergibt sich, daß künftig auch bei den ausländischen Rentnern ein Beitragsabzug möglich ist, wenn ein Mitgliedstaat einen Krankenversicherungsbeitrag der Rentner erhebt. Dadurch soll ein sachgerechter Beitrag der Rentner zu dem Versicherungssystem hergestellt werden, in dem sie leistungsberechtigt sind.156 Eine Sonderregelung sieht Art. 14 VO (EWG) Nr. 1408/71 für Entsendearbeitnehmer vor.157 Dies sind Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates (Entsendeland) von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehören, abhängig beschäftigt und von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (Zielland) entsandt werden. Diese Entsendearbeitnehmer bleiben beim Träger des Entsendelandes versichert, wobei das europäische Sozialrecht die Dauer der Befreiung von der Versicherungspflicht im Zielland auf 12 Monate mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um weitere 12 Monate befristet. Bezüglich dieser Regelung, die eine Abweichung vom maßgeblichen sozialrechtlichen Anknüpfungspunkt und Leitbild des Beschäftigungsstaatsprinzips darstellt, sieht die neue VO (EG) Nr. 883/2004 eine Änderung insofern vor, als der 154
Zur bisherigen Rechtslage s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 127 f. Zur Neuregelung der Rentner-Krankenversicherung s. Fuchs, SGb 2008, 206 f.; Spiegel, S. 51 ff.; Devetzi, S. 131. 156 Zu Umsetzungsproblemen bei der Berücksichtigung beitragspflichtiger Einnahmen zur Krankenversicherung der Rentner s. Bauer/Kreutzer/Klein, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.), Die Reform des Europäischen koordinierenden Sozialrechts, 2007, S. 71 ff., 74. 157 Zur Rechtslage der Entsendearbeitnehmer im alten und neuen Recht der Sozialrechtskoordinierung s. Fuchs, SGb 2008, 205 f. 155
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Entsendezeitraum, der die Zugehörigkeit zur bisherigen Sozialrechtsordnung sichert, auf 24 Monate ausgedehnt wurde, ohne daß eine von vielen Seiten geforderte präzisere Fassung des Entsendetatbestandes vorgenommen wurde. So ist insbesondere keine Rückkehr nach Beendigung der Entsendung bzw. eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderlich. Auch soll – entgegen der deutschen Rechtslage – eine Einstellung direkt im Ausland zum Zwecke der Entsendung zulässig sein.158 Als schwierig gestaltet sich häufig auch die Bestimmung des zuständigen Staates bei Arbeitnehmern, die Erwerbstätigkeiten gewöhnlich in zwei oder gar mehreren Mitgliedstaaten ausüben. Auch hier soll es bei dem Grundsatz bleiben, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates zur Anwendung gelangen, was nach bisheriger Rechtslage grundsätzlich der Wohnsitzstaat war. Gemäß der Neuregelung ist es der Wohnortstaat nur noch, wenn dort auch ein wesentlicher Teil der Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Sofern dies nicht der Fall ist, kommt das Recht des Mitgliedstaates zur Anwendung, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat.159
c) Anspruchsabwicklung und Kostenverteilung Nimmt der Versicherte nach Art. 19, 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 zulässigerweise einen Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat unter Einhaltung des in Art. 17 ff. VO (EWG) Nr. 774/72 vorgesehenen Verfahrens in Anspruch, so erfolgt die Abrechnung grundsätzlich unter den beteiligten Trägern (Art. 36 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 1408/71). Allerdings hat der Versicherte nach Art. 34 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 574/72 ausnahmsweise einen Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Träger, wenn er den Nachweis der Leistungsberechtigung nicht erbracht und daher die Leistung im Ausland vorfinanziert hat.160 Sofern die im Rahmen der medizinischen Erstversorgung entstandenen Kosten so hoch sind, daß sie vom Versicherten nicht getragen werden können, sieht Art. 34 Abs. 3 VO (EWG) Nr. 574/72 vor, daß der zuständige Kostenträger nach Einreichung eines entsprechenden Erstattungsantrags einen „angemessenen Teil“ vorstreckt. Soweit ein Kostenträger eines Mitgliedstaates für den Träger des zuständigen Mitgliedstaates Leistungsaushilfe erbringt, besteht gemäß Art. 36 VO (EWG) Nr. 1408/71 entsprechend Art. 35 VO (EG) Nr. 883/2004 für den zuständigen Träger grundsätzlich eine Erstattungspflicht in voller Höhe nach Maßgabe der Durchführungsverordnung, die den Nachweis der tatsächlichen Aufwendungen oder die Erstattung nach Pauschalbeträgen vorschreibt (Art. 36 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71, 35 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2204). Daneben eröffnen die Regelungen der Verordnung die Möglichkeit, zwischen den Mitglied158 Demgegenüber hatte das BSG (BSGE 60, 96, 98) zum Ausstrahlungstatbestand des § 4 SGB IV die Auffassung vertreten, daß eine Entsendung nur vorliegt, wenn der Arbeitnehmer vor der Entsendung ins Ausland entweder in der Bundesrepublik beschäftigt war oder dort seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt hatte und nach Beendigung der Auslandstätigkeit nach Deutschland zurückkehrte. 159 s. Fuchs, SGb 2008, 206. 160 Vgl. Kingreen, in: SGB V, § 13 Rn. 50; Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 128 f.
III. Leistungsinanspruchnahme und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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staaten andere Erstattungsformen oder einen gänzlichen Verzicht auf Erstattungen zu vereinbaren (Art. 36 Abs. 3 VO (EWG) Nr. 1408/71, 93 ff. VO (EWG) Nr. 574/72). Im Hinblick auf die Ziele der neuen VO (EG) Nr. 883/2004, eine gerechtere Kostenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten zu bewirken und grundsätzlich die Echtkostenabrechnung durchzusetzen, wurde die Berechnung der Pauschbeträge als Ausnahmetatbestand für Familienangehörige des Versicherten und Rentner bzw. deren Familienangehörige in einer neuen Durchführungsverordnung geregelt.161 Demnach soll bei einem vorübergehenden Aufenthalt außerhalb des Wohnortstaates immer der an sich zuständige Staat die Kosten selbst zu übernehmen haben, so daß solche Behandlungen nicht mehr das Budget des Wohnortträgers belasten, mit Ausnahme der Fälle, in denen der Wohnortträger die Zustimmung zu einer Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat erteilt; diese Kosten gehen weiterhin zu Lasten des Wohnortträgers, soweit sich dieser für Pauschalerstattungen entschieden hat.
III. Leistungsinanspruchnahme aufgrund der unionsrechtlichen Grundfreiheiten 1. Voraussetzungen grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme und -erbringung a) Waren- und Dienstleistungsfreiheit als universelle Anspruchsgrundlagen Die Dynamik des Europäischen Binnenmarktes und die zunehmende Mobilität der Bevölkerung führten dazu, daß sich jenseits der zum Teil restriktiven Verordnungsregelungen der EU Bedarfe nach transnationaler Inanspruchnahme und Erbringung gesundheitsrelevanter Dienstleistungen und Produkte entwickelten, die im Hinblick auf die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 28, 56 AEUV, exArt. 23, 49 EGV) einer rechtlichen Fundierung bedurften. Da einerseits die territoriale Begrenzung der Versicherungssysteme in einem Spannungsverhältnis zu den unionsrechtlichen Grundfreiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie des freien Warenverkehrs steht, andererseits die Union über keine Kompetenz zur Harmonisierung der nationalen Gesundheits- und Sozialsysteme verfügt, mußte dieser Grundkonflikt in Einzelfallentscheidungen des EuGH aufgelöst werden,162 so daß die Definition der gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen transnationaler Leistungsnachfrage und -erbringung von Gesundheitsdienstleistungen weitgehend richterrechtlich geprägt ist.
161 162
Vgl. Spiegel, S. 56 f. s. dazu oben 1. Kap. III. 4.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Seit den EuGH-Entscheidungen betreffend Kostenübernahme einer im Ausland durchgeführten kieferorthopädischen Behandlung163, für den Erwerb einer Brille164 und die Durchführung einer Krankenhausbehandlung165 ist geklärt, daß Regelungen wie das territorial begrenzte Sachleistungsprinzip, das den Versicherten durch Genehmigungsvorbehalte faktisch daran hindert, ärztliche und zahnärztliche Dienstleistungen, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel oder Medizinprodukte in einem anderen EU-Staat frei in Anspruch zu nehmen, dessen Grundfreiheiten und die der Heilberufe sowie sonstiger Leistungserbringer verletzt. Daß dieser Grundsatz sowohl für die auf Kostenerstattungssystemen beruhenden wie die sachleistungsgeprägten Gesundheitssysteme gilt, hat der EuGH in weiteren Urteilen bestätigt,166 die auch Klarstellungen über die Zulässigkeit nationaler Wartelisten und darüber brachten, daß die Vertragsbestimmungen bezüglich des freien Dienstleistungsverkehrs auch auf staatliche bzw. steuerfinanzierte Gesundheitssysteme anwendbar sind.167 Die EuGH-Rechtsprechung verdeutlicht, daß die Bestimmung des Art. 168 Abs. 7 AEUV (ex-Art. 152 Abs. 5 EGV), der den Kompetenzvorrang der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens statuiert, verbindlichen EU-rechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Gesundheitssysteme nicht entgegensteht, soweit die Grundfreiheiten oder das Wettbewerbsrecht betroffen sind. Im übrigen aber anerkennt der EuGH, daß die Gestaltung des Gesundheitswesens Sache der Mitgliedstaaten ist und sie allein entscheiden, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen.168 Der EuGH gesteht den Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang einen „Wertungsspielraum“ zu, der es ihnen insbesondere gestattet, aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses Beschränkungen der vom Vertrag gewährleisteten Verkehrsfreiheiten vorzunehmen, soweit sie geeignet sind, die Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.169 Aus diesem Grunde räumt die EuGH-Rechtsprechung den Krankenversicherten keinen Anspruch auf die Genehmigung einer Leistung ein, die im Leistungskatalog des zuständigen Trägers nicht enthalten ist, unabhängig davon, ob eine medizinische Behandlung von Gesundheitssystemen anderer Mitgliedstaaten übernommen wird. Allerdings kann die Genehmigung zur Auslandsbehandlung nur aufgrund objektiver internationaler Standards des allgemein anerkannten Standes der Wissenschaft verweigert werden. Insofern wirken sich die vom EuGH als maßgeblich zugrundegelegten europäischen Standards und Vorgaben mittelbar auf die Ge163
Rs. Kohll C-158/96, Slg. 1998, I-1931. Rs. Decker C-120/95, Slg. 1998, I-1831. 165 Rs. Geraets-Smits ./. Peerbooms C-157/99, Slg. 2001, I-5473. 166 Rs. Müller-Faur ./. van Riet C-385/99, Slg. 2003, I-4509. 167 Rs. Watts C-372/94, Slg. 2006, I-4325. 168 So z. B. im sog. Doc Morris-Urteil zum Fremdbesitzverbot bei Apotheken Rs. Apothekerkammer des Saarlandes u. a. C-171/07 und C-172/07, NJW 2009, 2112 ff. 169 EuGH, Rs. Apothekerkammer des Saarlandes u. a. C-171/07 und C-172/07, Rn. 19, NJW 2009, 2113 mit Anmerkung Martini. 164
III. Leistungsinanspruchnahme und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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staltung der nationalen Gesundheitssysteme aus, indem harmonisierende Elemente für Rechtzeitigkeit und Qualität von Krankenbehandlungen richterrechtlich in das Koordinierungsrecht implementiert werden.170 Sowohl der EU-Gesetzgeber als auch die Mitgliedstaaten der EU mußten dieser Rechtsprechung und der mit zunehmender Mobilität der EU-Bevölkerung einhergehenden transnationalen Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsleistungen normativ Rechnung tragen. Auf EU-Ebene ist dies neben der Neuordnung der Koordinierungsregeln des Sozialschutzes in Gestalt der VO (EG) Nr. 883/2004 bisher insbesondere durch Einführung der Europäischen Krankenversicherungskarte (VO (EG) Nr. 631/2004) geschehen. Die Europäische Krankenversicherungskarte (Health Insurance Card), die den ehemaligen Auslandskrankenschein E 112 ersetzt und inzwischen zunehmende Verbreitung in Europa erfährt,171 soll anstelle der bisher genutzten Papierformulare in Form einer transnational gültigen Plastikkarte für den Nachweis des Versicherungsstatus verfahrensmäßig gewährleisten, daß gesetzlich Krankenversicherte im europäischen Ausland dieselben medizinischen Leistungen wie Inländer in Anspruch nehmen können, soweit diese „unter Berücksichtigung der Art der Leistungen und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer medizinisch notwendig sind“. Die Abrechnung der Leistungen nach Vorlage des Ausweises erfolgt auf der Grundlage des Sachleistungsprinzips nach den Regeln des Aushilfeverfahrens und stellt die ausländischen Versicherten sowohl hinsichtlich des Leistungsumfangs als auch der Kosten einschließlich von Selbstbeteiligungen den inländischen Versicherten gleich. Mit dem Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlamentes und Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung172 leitet die EU eine weitere Phase der Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung und der Förderung der Patientenmobilität ein. b) Genehmigungsvorbehalte und Erstattungsbedingungen Auch bei Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland aufgrund der unionsrechtlichen Grundfreiheiten sind nationale Genehmigungsvorbehalte nicht automatisch hinfällig. Es muß vielmehr im Einzelfall geprüft werden, ob die durch sie bewirkte Einschränkung der Grundfreiheiten objektiv zu rechtfertigen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann dies dann der Fall sein, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen, zu denen die Abwehr einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Sozialen Sicherungssystems, die 170 Vgl. hierzu auch EuGH, Rs. Stamatelaki C-444/05, NJW 2007, 1663 f. sowie Schlegel, SGb 2007, 700, 705 f. 171 Laut Mitteilung der EU-Kommission vom Mai 2009 sind innerhalb von fünf Jahren seit Einführung der Europäischen Krankenversicherungskarte 180 Mio. Karten ausgegeben worden, die zunehmend im Versorgungsalltag Anwendung finden. s. Eureport Social 6/2009, 12. 172 KOM (2008), 414 endg. v. 2.7.2008. s. dazu unten 3. Kap. II. 2.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Aufrechterhaltung eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes und einer ausgewogenen allgemein zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung sowie eines bestimmten Umfangs und Niveaus der Heilkunde im Inland zählen. Allerdings müssen die Mitgliedstaaten das Vorliegen einer konkreten Gefährdung nachweisen und sicherstellen, daß die zur Abwehr getroffenen Regelungen geeignet und objektiv erforderlich sind, das Ziel zu erreichen. Grundsätzlich sieht der EuGH173 diese Voraussetzungen für die stationäre Versorgung als erfüllt an; dennoch ist der Genehmigungsvorbehalt nur dann gerechtfertigt, wenn die Ablehnung der Genehmigung auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien beruht, die „im Voraus bekannt“ sein müssen, um eine mißbräuchliche Anwendung einer die unionsrechtlichen Grundrechte beeinträchtigenden Ausnahmeregelung zu verhindern. Deshalb muß sich das Genehmigungsverfahren auf „eine leicht zugängliche Verfahrensregelung stützen“, in deren Rahmen „die nationalen Behörden sämtliche Umstände jedes konkreten Falles“ zu beachten haben. Vor diesem Hintergrund stellt eine Genehmigungsversagung, die ausschließlich durch die Existenz von Wartelisten für die betreffende Krankenhausversorgung im Inland motiviert ist, ohne daß die konkreten Umstände des Gesundheitszustands des Patienten berücksichtigt werden, keinen EU-rechtskonformen Genehmigungsvorbehalt, sondern eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.174 Für die ambulante Versorgung sieht der EuGH demgegenüber die Voraussetzungen einer Gefährdung der Versorgungsqualität oder der Finanzierungsfähigkeit des Sicherungssystems generell nicht als erfüllt an. Zwar wirke sich die Aufhebung der Genehmigungspflicht „auf die Möglichkeit einer Kontrolle der Krankheitskosten … aus“, doch lasse sich daraus nicht ableiten, daß das finanzielle Gleichgewicht erheblich gestört werde.175 Der EuGH hält bei Krankenhäusern zwar einen Genehmigungsvorbehalt bezüglich des Leistungsumfangs oder der Inanspruchnahme nicht vertraglich gebundener Einrichtungen für zulässig; allerdings darf bei der Genehmigung der Behandlung in außervertraglichen Krankenanstalten nicht zwischen inländischen und ausländischen Einrichtungen differenziert werden und somit der Genehmigungsvorbehalt nicht allein an den Tatbestand der Nachfrage im Ausland geknüpft sein. Das deutsche Recht verweist in dem Genehmigungserfordernis für eine Behandlung im Ausland gemäß §§ 13 Abs. 4, 18 SGB V auf den „allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse“. Vor dem Hintergrund der Ausführungen des EuGH zu einer diskriminierungsfreien Interpretation der Genehmigungserfordernisse für eine Auslandsbehandlung ist dies europarechtskonform als „international allgemein anerkannter wissenschaftlicher Standard“ auszulegen. Statt einer Genehmigungspflicht für aus173 Rs. Müller-Faur ./. van Riet C-385/99, Slg. 2003, I-4509. s. dazu und zum Folgenden oben 1. Kap. III. 1. b). 174 Vgl. Rs. Watts C-372/04, Slg. 2006, I-4325. 175 Rs. Müller-Faur ./. van Riet C-385/99, Slg. 2003, I-4509, Rn. 68, 73, 90, 92.
III. Leistungsinanspruchnahme und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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ländische Leistungsnachfrage besteht nunmehr lediglich ein Genehmigungsvorbehalt der Nachfrage bei Anbietern, die nicht (über Verträge oder Zulassung) zum Versorgungssystem gehören.176 Offen bleibt noch, ob sich die vom EuGH aufgestellten Grundsätze auch auf eine partielle und/oder temporär begrenzte stationäre Behandlung beziehen oder aber nur auf solche, die ausschließlich stationär erbracht werden können, so daß die Schnittstelle zwischen stationär und ambulant also weiter ungeklärt ist. Rechtsunsicherheiten resultieren bezüglich der Genehmigungsvoraussetzungen auch aus der Dualität der Anspruchsgrundlagen von EU-rechtlichen Grundfreiheiten und sekundärrechtlichem Koordinierungsrecht:177 Während die VO (EWG) Nr. 1408/71 keine Aufschlüsse über dieses Nebeneinander der Verordnung mit der Dienstleistungsfreiheit gibt, hat der EuGH entschieden, daß die Kriterien, unter denen eine Genehmigung im Rahmen des E 112-Verfahrens erteilt werden muß, grundsätzlich dieselben sind wie bei einer Genehmigung auf Grundlage der Dienstleistungsfreiheit für eine stationäre Behandlung.178 Diesem Grundsatz trägt die neue VO (EG) Nr. 883/2004 (Art. 20 Abs. 2) insoweit Rechnung, als nunmehr vorgesehen ist, daß die Genehmigung für eine Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat nicht verweigert werden darf, wenn der Versicherte die Leistung in Anbetracht seines derzeitigen Gesundheitszustandes und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit nicht in einem medizinisch vertretbaren Zeitraum erhalten kann. Allerdings sind damit die Grundprobleme des Nebeneinanders von primärrechtlicher Dienstleistungsfreiheit und sekundärrechtlich-koordinierender VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. (EG) Nr. 883/2004 noch nicht beseitigt. So ist bei Behandlungen, die im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit nicht durch ein Genehmigungsverfahren behindert werden dürfen, wie z. B. Zahnbehandlungen, im Bereich der VO (EG) Nr. 883/2004 weiterhin eine Genehmigung erforderlich179, die auch versagt werden darf, wenn diese Behandlung im Inland ohne Wartezeit zur Verfügung steht, so daß im Versagungsfalle der Patient die Behandlung nur als Privatpatient auf Kostenerstattungsbasis im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit in Anspruch nehmen kann. Umgekehrt können durch die genehmigungsfreie Kostenerstattung des Primärrechts Genehmigungsvorbehalte des Art. 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 unterlaufen werden. Das Fehlen einer kohärenten Regelung sämtlicher 176
Zu den Umsetzungstatbeständen der EuGH-Rechtsprechung im deutschen Krankenversicherungssystem s. unten 2. Kap. III. 2. 177 s. hierzu kritisch Spiegel, S. 55; Marhold, in: Eichenhofer (Hrsg.), 50 Jahre nach ihrem Beginn, S. 193 ff. 178 Vgl. Rs. Inizan C-56/01, Slg. 2003, I-12423. 179 Zu diesem fortbestehenden Genehmigungserfordernis s. auch BSG, Urt. v. 30. 6. 2009 – B 1 KR19/08 R, wonach die vorherige Genehmigung eines Heil- und Kostenplanes für Zahnersatz auch bei Auslandsbehandlung Voraussetzung für den Festzuschuß ist, um der Krankenkasse die Möglichkeit zu geben, die Behandlungskosten auf „sachgerechte Weise“ zu steuern. Dadurch werde die Dienstleistungsfreiheit nicht verletzt, zumal es nicht zwingend sei, daß ausländische Zahnärzte die komplizierten deutschen Planungsformulare ausfüllen müßten.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Aspekte der Patientenmobilität in der neuen VO (EG) Nr. 883/2004 ist daher einer der Hauptkritikpunkte an der neuen Verordnung, weil ein Beibehalten dieses primärund koordinierungsrechtlichen Nebeneinanders der Optionsrechte zur Rechtsunsicherheit nicht nur bei den Versicherten, sondern auch bei den Kostenträgern führt und in vielen Fällen eine korrekte Anwendung des Unionsrechts in Frage stellt.180
2. Die Umsetzungstatbestände im deutschen Krankenversicherungsrecht a) Voraussetzungen und Umfang der Kostenerstattung Eine Anpassung des deutschen Sozialrechts an die europarechtlichen Vorgaben erfolgte im Rahmen des sog. Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) im Jahre 2003, das die Inanspruchnahme von Leistungserbringern in anderen Staaten im Geltungsbereich des früheren EGV bzw. heutigen AEUV und des Abkommens über den EWR in § 13 Abs. 4 SGB V regelt.181 Gemäß § 13 Abs. 4 Satz 3 SGB V sind dem Versicherten, der einen ausländischen Leistungserbringer in Anspruch nimmt, die entstandenen Kosten zu erstatten – allerdings maximal in Höhe der Vergütung, die die gesetzliche Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung im Inland zu tragen hätte. Der personale Anwendungsbereich dieser Norm übersteigt jenen der Wanderarbeitnehmerverordnungen, da er nicht nur auf bestimmte Zielgruppen wie Arbeitnehmer, Selbständige und Familienangehörige oder Studierende beschränkt ist, sondern alle gesetzlich versicherten Unionsbürger erfaßt. Die Krankenkassen haben nach § 13 Abs. 4 Satz 5 SGB V in ihren Satzungen Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorzusehen und gesetzlich geregelte Zuzahlungen in Abzug zu bringen. Im übrigen besteht ein gravierender verfahrensmäßiger Unterschied bei der Inanspruchnahme von Heilbehandlungen aufgrund der Grundfreiheiten, der daraus resultiert, daß der Versicherte anders als bei der Inanspruchnahme von Sachleistungen im Rahmen der VO (EWG) Nr. 1408/71 beim Anspruch aus § 13 Abs. 4 SGB V in Vorleistung treten muß und die vorgestreckten Auslagen erst nachträglich liquidieren kann. Allerdings sind die Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs. 4 bis 6 SGB V mit Ausnahme der Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen (Abs. 5) weniger restriktiv: Abs. 4 Satz 1 berechtigt die Versicherten, alle Leistungserbringer im Geltungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/ 71 in Anspruch zu nehmen, ohne daß es einer Genehmigung der Krankenkasse bedarf 180
Vgl. Spiegel, S. 55. Diese Schwierigkeiten werden noch dadurch potenziert, daß die VO (EWG) Nr. 1408/71 auch nach Inkrafttreten der neuen VO (EG) Nr. 883/2004 insbesondere für Drittstaatsangehörige, den EWR und die Schweiz weiterhin Geltung haben wird, was für die Praxis kaum zu bewältigende Probleme aufwirft, worauf Fuchs, SGb 2008, 210 hinweist. Zu diesen und anderen Defiziten der neuen VO s. auch Devetzi, S. 135 ff. 181 s. dazu Sodan, ASR 2007, 152, 155; Rixen, ZESAR 2004, 24.
III. Leistungsinanspruchnahme und unionsrechtliche Grundfreiheiten
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oder eine Beschränkung auf medizinisch notwendige Leistungen vorgesehen ist. Bezüglich des Leistungserbringerkreises, der im EU-Ausland in Anspruch genommen werden kann, lehnt sich § 13 Abs. 4 Satz 2 SGB V an die EU-rechtlichen Grundsätze gegenseitiger Anerkennung an, wie sie auch in der Berufsqualifikationsrichtlinie (RL 2005/36/EG) niedergelegt sind: Es muß sich entweder um einen Leistungserbringer handeln, der den gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Kriterien der Berufszulassung und –ausübung genügt, oder um einen solchen, der im Leistungsstaat zur Versorgung der Versicherten berechtigt ist.182 Krankenhausleistungen dürfen hingegen nach § 13 Abs. 5 SGB V in Anknüpfung an die EuGH-Rechtsprechung nur nach vorheriger Genehmigung durch die Krankenkasse in Anspruch genommen werden, wobei – ähnlich wie bei der Leistungsinanspruchnahme im Rahmen des Art. 22 Abs. 1c VO (EWG) Nr. 1408/71 – die Zustimmung nur versagt werden darf, wenn die gleiche oder eine für den Versicherten ebenso wirksame dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit rechtzeitig im Inland erlangt werden kann.183 Während für die Inanspruchnahme von Sachleistungen im Rahmen der VO (EWG) Nr. 1408/71 grundsätzlich das Recht des ausländischen aushelfenden Kostenträgers maßgebend ist, gilt für die nach Abs. 4 und 5 in Anspruch genommenen Leistungen gemäß Abs. 4 Satz 3 der deutsche Leistungskatalog.184 Der Rechtsfolgenverweis in § 13 Abs. 6 SGB V auf § 18 SGB V stellt klar, daß auch der Anspruch auf Krankengeld bei der Inanspruchnahme von Leistungen nach Abs. 4 und 5 entgegen § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht ruht (§ 18 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Zudem steht es im Ermessen der Krankenkassen, weitere Kosten für den Versicherten und für eine erforderliche Begleitperson ganz oder teilweise zu übernehmen, auch wenn keine Versorgungslücke besteht, wie sie in § 18 Abs. 1 SGB V vorausgesetzt wird. § 18 SGB V, der die Kostenübernahme auf Auslandsbehandlungen außerhalb des Geltungsbereichs des EUV und des EWR-Abkommens erweitert, bindet die Leistungsinanspruchnahme an mehrere Voraussetzungen, zu denen gehört, daß die im Ausland angebotene Behandlung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht, im Inland keine diesem Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht und der Versicherte vor der Leistungsinanspruchnahme einen Antrag stellt, um der Krankenkasse Gelegenheit zur Prüfung und Entscheidung zu geben. Diese auf ein Versorgungsdefizit abstellende Regelung ist anwendbar, wenn eine ausreichende und rechtzeitige Behandlung im Inland nicht durchgeführt werden kann. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn die konkrete 182
Vgl. Kingreen, in: SGB V, § 13 SGB V Rn. 44. Zur Frage, ob der Genehmigungsvorbehalt für alle im Krankenhaus erbrachten Leistungen gilt oder nur für krankenhaustypische Versorgungsformen, die unter physischer und organisatorischer Eingliederung des Patienten in das spezifisch stationäre Versorgungssystem erfolgen und die den die Ausnahme begründenden Planungsbedarf auslösen, s. Becker/Walser, NZS 2005, 449, 450; Kingreen, GesR 2006, 193, 194. 184 s. Kingreen, in: SGB V, § 13 SGB V Rn. 49. 183
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
medizinische Behandlungsmaßnahme überhaupt nicht zu erlangen ist, sondern bereits dann, wenn eine Behandlung zwar im Inland mit den hier verfügbaren personellen und sächlichen Mitteln erfolgen kann, der im Ausland praktizierten Methode jedoch ein qualitativer Vorrang gegenüber den in Deutschland angewandten Methoden in Bezug auf das konkrete Krankheitsbild zukommt. Einer Auslandsbehandlung ist auch dann Priorität einzuräumen, wenn die Behandlung im Inland zwar generell möglich ist, aber im konkreten Fall keinen individuellen Erfolg verspricht oder wegen mangelnder Kapazitäten und dadurch bedingter Wartezeiten nicht rechtzeitig erreichbar ist.185 b) Höhe der Kostenerstattung Umstritten ist die Höhe der Kostenerstattung im Hinblick darauf, ob die im zuständigen Staat oder im Behandlungsstaat verbindlichen Tarife zugrundegelegt werden sollen. Der EuGH hat diesbezüglich entschieden, daß eine Kostenerstattung für eine Auslandsbehandlung zu den Gebührensätzen des Versicherungsstaates, d. h. des Mitgliedstaats möglich ist, in dem die Krankenversicherung besteht, selbst wenn die Kosten der Auslandsbehandlung geringer sind. Im konkreten Fall sollten die Kostenvorteile nicht dem Versicherungsträger zugutekommen, der zuvor eine Genehmigung nach Art. 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 zu Unrecht verweigert hatte.186 § 13 Abs. 4 Satz 3 SGB V begrenzt allerdings die Höhe des Erstattungsanspruchs auf die Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung im Inland zu tragen hätte. Gegen die Orientierung an den Vergütungssätzen des zuständigen Staates wird eingewandt, daß sie im Widerspruch zur EuGH-Rechtsprechung und zum Postulat ungehinderter Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen stehe, weil sie den Umfang der Dienstleistungsfreiheit von der Ausstattung des Systems des jeweils zuständigen Staates abhängig mache.187 Durch die Dualität der Rechtsgrundlagen der Inanspruchnahme aufgrund des E 112-Verfahrens einerseits und der Dienstleistungsfreiheit andererseits kann vor allem bei einem das Kostenerstattungsverfahren praktizierenden Leistungssystem im aushelfenden Staat, bei dem der Versicherte in Vorlage tritt und die Rechnung der in Betracht kommenden Krankenversicherung zur Kostenerstattung vorlegt, nicht nur 185
s. Kingreen, in: SGB V, § 18 SGB V Rn. 3, 5. Vgl. Rs. Vanbraekel C-368/98, Slg. 2001, I-5382. In einem neueren Verfahren (Rs. C211/08) beim EuGH ging es um die Frage, ob die Nichterstattung ergänzender Kosten einer nicht geplanten Krankenhausbehandlung im Ausland gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, weil die Möglichkeit einer derartigen Kostenbelastung im Krankheitsfall die Bürger zwingen würde, in ihrem Heimatland zu bleiben, um im Notfall nicht erhebliche Krankenhauskosten zahlen zu müssen. 187 So Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 126 unter Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung und die Regelung in Art. 36 VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. Art. 35 VO (EG) Nr. 883/2004, die im koordinierenden Sozialrecht eine Erstattung nach den im Behandlungsstaat üblichen Sätzen vorsehen. 186
III. Leistungsinanspruchnahme und unionsrechtliche Grundfreiheiten
209
eine Kostendifferenz zwischen der Sachleistung, die ohne Zuzahlung oder nur mit Kostenbeteiligung gewährt wird, und einer vollständigen Kostenvorauszahlung durch den Versicherten im Rahmen der Kostenerstattung bestehen,188 sondern die Rechtslage bezüglich der Erstattungshöhe oftmals unübersichtlich sein. Da für die auf der Grundlage von § 13 Abs. 4 und 5 SGB V in Anspruch genommenen Leistungen der deutsche Leistungskatalog zugrundezulegen ist, ergibt sich die Schwierigkeit, für die Festsetzung des Kostenerstattungsbetrages die analoge Höhe der Kosten zu ermitteln, die bei der Inanspruchnahme als Sachleistung entstanden wären.189 c) Einzelvertragliche transnationale Erweiterung des Sachleistungsprinzips und Leistungserbringerrechts Die Vorschrift des § 140e SGB V, nach der Krankenkassen zur Versorgung ihrer Versicherten Verträge mit Leistungserbringern nach § 13 Abs. 4 Satz 2 SGB V in Staaten schließen können, in denen die VO (EWG) Nr. 1408/71 anzuwenden ist, bildet neben § 13 Abs. 4 und 5 SGB V und den Art. 19, 22 VO (EWG) Nr. 1408/71 die dritte Rechtsschicht des Anspruchssystems für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Während allerdings die beiden ersten Rechtsregime leistungsrechtlicher Natur sind, handelt es sich bei § 140e SGB V um eine Norm des Leistungserbringerrechts, die zwar keine weitere Anspruchsgrundlage für den Versicherten bildet, die Krankenkasse aber in die Lage versetzt, das Sachleistungsprinzip durch Abschluß von Einzelverträgen mit dem in § 13 Abs. 4 Satz 2 SGB V definierten Leistungserbringerkreis auf grenzüberschreitende Leistungsvorgänge zu erstrecken.190 Versicherte können im Rahmen dieses auf Vertrag gegründeten Sachleistungsprinzips Leistungserbringer in anderen EU-Staaten in Anspruch nehmen. Die vertragliche transnationale Erweiterung des Sachleistungsprinzips auf die grenzüberschreitende Leistungsinanspruchnahme hat zur Folge, daß die Versicherten für die erhaltene Leistung nicht in Vorleistung treten müssen und anders als bei der Inanspruchnahme der Leistungen im Wege der Kostenerstattung aufgrund von § 13 Abs. 4, 5 SGB V kein Kostenrisiko tragen. Ein Vertrag nach § 140e SGB V stellt also die leistungsrechtliche Parallelität mit inländischen Sachverhalten her und erleichtert damit die grenzüberschreitende Inanspruchnahme, ohne die Inanspruchnahme von ausländischen Ärzten durch die Versicherten ähnlich wie im Inland auf solche zu beschränken, die einen der inländischen Teilnahmeberechtigung vergleichbaren vertragsärztlichen Status haben. Eine analoge Anwendung des § 95 SGB V auf EU-ausländische Gesundheitsdienstleister wäre mit den unionsrechtlichen Grundfreiheiten unvereinbar. Nach § 13 188 Vgl. Spiegel, S. 54; Sodan, ASR 2007, 155. Zur ökonomischen Bewertung des Leistungseinkaufs in Europa im Hinblick auf Preis- und Qualitätsunterschiede sowie Kostendifferenz zwischen Sachleistung und Kostenerstattung s. Schneider, in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, S. 161 ff., 168 ff. 189 s. Udsching/Harich, EuR 2006, 794, 805 f. 190 s. Kingreen, in: SGB V, § 140e SGB V Rn. 1.
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2. Kap.: Unionsrecht und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Abs. 4 Satz 2 SGB V kommen diejenigen Leistungserbringer für einen Vertragsschluß in Betracht, die in einem Mitgliedstaat der EU, in einem EWR-Staat oder der Schweiz ansässig sind und „im jeweiligen nationalen System der Krankenversicherung des Aufenthaltsstaats zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind“. § 140e SGB V wirft insoweit verfassungsrechtliche Probleme im Hinblick auf eine Inländerdiskriminierung deutscher Heilberufe auf, die der besonderen Ausgestaltung des deutschen Sozialversicherungssystems mit seinen kollektivvertraglichen Regulativen der Gesamtvergütung und Honorarverteilungsmaßstäbe (§ 85 SGB V) unterliegen, von denen ausländische Leistungserbringer ebenso wenig betroffen sind wie von den Voraussetzungen der Qualitätssicherung (§ 136 SGB V) oder Wirtschaftlichkeitsprüfung (§ 106 SGB V).191 Nur über Einzelverträge können die Krankenkassen die im Inland geltenden Regelungen und Vereinbarungen zur Qualitätssicherung, zur Wirtschaftlichkeitsprüfung und zur Vergütung zugrundelegen.192 Ohne Beteiligung der Partner der Kollektivverträge sind diese allerdings genuin ungeeignet zur Integration in das kollektivvertragliche Leistungs- und Vergütungssystem und setzen spezielle Regelungen jenseits kollektivvertraglicher Vereinbarungen und Vergütungen voraus.193 Im übrigen läßt der Abschluß eines Vertrages nach § 140e SGB V den Leistungsanspruch nach § 13 Abs. 4, 5 SGB V unberührt; der Versicherte ist also nicht gezwungen, diejenigen Leistungserbringer in Anspruch zu nehmen, mit denen seine Krankenkasse einen Vertrag nach § 140e SGB V abgeschlossen hat, sondern kann sich für die Leistungs- und Erstattungswege entscheiden, die die VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/2004 und die unmittelbare Berufung auf die Grundfreiheiten eröffnen.
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Vgl. Sodan, ASR 2007, 152,155. Harich, in: ders. (Hrsg.), Das Sachleistungsprinzip in der Gemeinschaftsrechtsordnung, S. 287 ff. 193 Kingreen, NZS 2005, 505, 508 plädiert für vergütungsrechtliche Sonderregelungen nach dem Vorbild von § 140d Abs. 1 SGB V, um die erbrachten Leistungen nach Maßgabe der inländischen Parameter separat zu vergüten. 192
Drittes Kapitel
Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe und ihrer Selbstverwaltung in Europa I. Einwirkungen des Unionsrechts auf das Berufsrecht und den sozialen Status der Heilberufe 1. Das EU-Recht als Ordnungsrahmen für das Berufsrecht a) Die Bedeutung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten für die Berufstätigkeit der Heilberufe Für die Rechtsstellung der Heilberufe in Europa und ihre EU-weite Berufsausübung sind sowohl das vertragliche Primärrecht als auch das dieses konkretisierende Sekundärrecht in Gestalt von Richtlinien und Verordnungen von großer Bedeutung. Dies gilt bezüglich ersterem für die universellen Unionsbürgerrechte (Art. 21 AEUV, ex-Art. 18 EGV) ebenso wie für die Diskriminierungsverbote gegenüber Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung (Art. 19 AEUV, ex-Art. 13 EGV) oder die Gleichbehandlung von Mann und Frau in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Art. 157 AEUV, exArt. 141 EGV). Daneben sind die Koordinierungsregeln der von der Freizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit Gebrauch machenden Heilberufe und die berufsrechtlichen Harmonisierungsbestimmungen der EU prägend für die Berufstätigkeit im EU-Ausland und die grenzüberschreitende Leistungserbringung, aber auch die eigene soziale Sicherung der Berufsangehörigen. Die Bestimmung des Art. 21 AEUV (ex-Art. 18 EGV) schafft ein umfassendes Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die ungehinderte Mobilität der Unionsbürger wird damit von einer spezifisch wirtschaftlichen Zwecksetzung abgekoppelt, wie sie der Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit bzw. Dienstleistungsfreiheit zugrundeliegt. Das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger wirkt unmittelbar, erfordert also keine weiteren Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten. Allerdings gilt die Gewährleistung der allgemeinen Freizügigkeit nur „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ (Art. 21 AEUV, ex-Art. 18 Abs. 1
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
EGV).1 Dieser Regelungsvorbehalt bezieht sich insbesondere auf Vorschriften des Sekundärrechts, welche es den Mitgliedstaaten erlauben, das Aufenthaltsrecht von EU-Angehörigen von ausreichenden Existenzmitteln und einer Krankenversicherung abhängig zu machen.2 Die Unionsbürgerschaft beinhaltet das Recht, in jeden beliebigen Mitgliedstaat einzureisen, sich dort aufzuhalten oder niederzulassen, in jedem anderen Mitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger auszuüben und seinen Wohnsitz zu nehmen, ohne sich wirtschaftlich zu betätigen. Ungeachtet ihrer Nationalität haben auch Familienangehörige eines EU-Bürgers das Recht, mit ihm einzureisen und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates zu verweilen. In der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der EU-Bürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wird das Unionsbürgerrecht der Freizügigkeit bezüglich seiner Bedingungen und Verwaltungsformalitäten gegenüber früheren EG-Verordnungen vereinfacht. Die inzwischen in nationales Recht umgesetzte Richtlinie sieht u. a. vor, daß für einen Aufenthalt von weniger als drei Monaten der Besitz eines gültigen Identitätspapiers ausreicht. Für eine Verweildauer von mehr als drei Monaten wird das Erfordernis einer Aufenthaltskarte für Unionsbürger aufgehoben und durch die Eintragung in das Bevölkerungsregister des Wohnortes ersetzt. Hierzu müssen EUBürger entweder einen Arbeitsvertrag vorlegen oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben bzw. über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Nach fünf Jahren ununterbrochenen Aufenthalts wird EU-Bürgern ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verliehen. Neben der allgemeinen Freizügigkeit für Unionsbürger, die von einer wirtschaftlichen Tätigkeit unabhängig ist, stehen die speziellen unionsrechtlichen Freiheiten des Personenverkehrs. Zu diesen gehören die Freizügigkeit für Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit der Selbständigen für den unternehmerischen Bereich. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zielt auf die Mobilität der unselbständig Tätigen sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Perspektive. Die Rechtsgrundlagen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit finden sich in Art. 45 ff. AEUV (exArt. 39 ff. EGV) sowie dem gemäß Art. 46 und 48 AEUV (ex-Art. 40 und 42 EGV) erlassenen Sekundärrecht. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 45 ff. AEUV (ex-Art. 39 ff. EGV) umfaßt alle Personen, die eine abhängige Tätigkeit
1 Zur Unionsbürgerschaft als universeller aus der europäischen „Rechtsgemeinschaft“ folgenden Freizügigkeitsgarantie s. Herdegen, S. 242 ff.; zur sozialrechtlichen Bedeutung der Unionsbürgerschaft s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 195 f.; Sander, DVBl. 2005, 1014 ff.; Hatje/Huber, Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, EuR, Beiheft 1/2007. 2 s. dazu Art. 14 der RL 2004/38/EG, die gemäß der EuGH-Rechtsprechung auf den Nachweis ausreichender Existenzmittel nur bei Aufenthaltsbegründung, nicht aber während des gesamten Aufenthaltes abstellt.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
213
ausüben und in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis stehen.3 Im Interesse einer größtmöglichen Ausdehnung der Mobilitätsgarantie versteht der EuGH den Arbeitnehmerbegriff in einem sehr weiten Sinne und schließt Teilzeitarbeit mit ein. Die Vorschrift des Art. 45 AEUV (ex-Art. 39 Abs. 2 EGV) verbürgt den Grundsatz der individuellen Gleichbehandlung und begründet dadurch ein Diskriminierungsverbot, das nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Diskriminierungen erfaßt, die an mit der Staatsangehörigkeit zusammenhängende Tatbestandsmerkmale wie Herkunfts- oder Wohnort anknüpfen. Der Standard der Inländergleichbehandlung wird flankiert von den Rechten des Art. 45 AEUV (ex-Art. 39 Abs. 3 EGV), der die Einreise, den Aufenthalt, das Bleiberecht sowie den Zugang zum Arbeitsmarkt gemäß den für Inländer geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften betrifft. Die Niederlassungsfreiheit, die in Art. 49 ff. AEUV (ex-Art. 43 ff. EGV) geregelt ist, betrifft die Freizügigkeit der unternehmerisch tätigen Selbständigen und die Freiheit der Standortwahl der Unternehmen. Sie bildet auch die unionsrechtliche Basis für dauerhafte selbständige Niederlassung in freiberuflicher Praxis im EUAusland. Der EuGH versteht den Begriff der „Niederlassung“ in einem weiten Sinne und grenzt ihn von der Dienstleistungsfreiheit durch das Merkmal der Kontinuität ab, indem er auf die Verschaffung der Möglichkeit abstellt, „in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaates teilzunehmen“.4 Geschützt sind nach Art. 49 AEUV (ex-Art. 43 Abs. 2 EGV) die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den für Inländer geltenden Bestimmungen des Aufnahmestaates, so daß insbesondere Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften gegründet werden können. Ähnlich wie bei den anderen Freiheiten des Personenverkehrs dürfen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit keinen diskriminierenden Charakter haben, sondern müssen aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt, zur Verwirklichung des verfolgten Zieles geeignet und hierfür erforderlich sein. Art. 50 AEUV (exArt. 44 EGV) sieht den Erlaß von Vorschriften zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit vor. Dazu gehören z. B. Regelungen zur Harmonisierung des Gesellschaftsrechts (Art. 44 Abs. 2 g EGV) oder der Erlaß von Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen (Art. 53 AEUV, ex-Art. 47 Abs. 1 EGV).5 Für die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten erläßt die EU Harmonisierungsrichtlinien, die auf Art. 53 AEUV (ex-Art. 47 Abs. 2 EGV) beruhen. So gab es schon seit den sechziger Jahren sektorale Richtlinien für die Tätigkeit von Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und anderen Heilberufen sowie von Architekten und Ingenieuren. Unabhängig von berufsspezifischer Angleichung bestand eine Allgemeine Hoch3 Zur Arbeitnehmer-Freizügigkeit s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 30 ff., sowie oben 1. Kap. III. 3. a). 4 EuGH Rs C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165. 5 s. dazu Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 50, 67, 70 f.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
schuldiplomrichtlinie, die ebenso wie die sektoralen Richtlinien durch die neue Berufsanerkennungsrichtlinie abgelöst wurde.6 Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 57 AEUV, ex-Art. 50 EGV) bezieht sich auf Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Dies sind insbesondere Dienstleistungen gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher oder freiberuflicher Art. Für die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ist der vorübergehende Charakter der Dienstleistung entscheidend. Dabei kommt es auf die Dauer, Häufigkeit, Regelmäßigkeit und Kontinuität der erbrachten Leistungen an. Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit ist zum einen ein grenzüberschreitendes Element, zum anderen das Merkmal der Entgeltlichkeit. Für selbständige soziale Dienstleistungen bedeutet dieses synallagmatische, auf Leistungsaustausch gerichtete Kriterium, daß nur geldwerter Leistungsaustausch betroffen ist, ohne daß notwendigerweise der begünstigte Leistungsempfänger selbst der Zahlungsleistende sein muß. Anwendungsfälle der Dienstleistungsfreiheit sind die aktive Dienstleistungsfreiheit bei Erbringung der Leistung in einem anderen Mitgliedstaat, die passive Dienstleistungsfreiheit bei Entgegennahme der Leistung durch den Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat oder die Grenzüberschreitung nur durch die Dienstleistung selbst, wie z. B. beim e-Commerce, bei Rundfunk- oder Fernsehsendungen. Die Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit impliziert über den Grundsatz der Inländergleichbehandlung hinaus ein sämtliche Formen temporärer Dienstleistungserbringung durch EU-Ausländer umfassendes Beschränkungsverbot, das Ausnahmen nur zuläßt, wenn sie einem unionskonformen Allgemeinbelang dienen, diskriminierungsfrei vorgenommen werden und verhältnismäßig, d. h. geeignet und erforderlich sind.7 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung spielt es bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit, also bei der Grenzüberschreitung durch den Leistungserbringer oder der unmittelbaren transnationalen Dienstleistungserbringung eine Rolle, ob im Ausgangsstaat zur Sicherung des jeweiligen Allgemeinbelangs bereits ausreichende Standards bestehen. Zu den Belangen, die Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen vermögen, gehört nach der EuGH-Rechtsprechung insbesondere der Schutz des Verbrauchers, die Gewährleistung der Funktions- und Finanzierungsfähigkeit der Sozialordnung oder die soziale Protektion der Arbeitnehmer.
6
RL 2005/36/EG ; s. zur Berufsanerkennungsrichtlinie Henssler, EuZW 2003, 229; Mann, EuZW 2004, 615 ; Hellwig, NJW 2005, 1217, sowie unten 3. Kap. I. 2. 7 Zu Geltungsbereich und Voraussetzungen der Dienstleistungsfreiheit s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 122 ff., 193 ff., 287 ff. m.w.N., sowie oben 1. Kap. III. 3. a).
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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b) Die europarechtliche Präformierung der Berufsqualifikation und Niederlassung Das Berufsrecht der Heil- und Sozialberufe, das durch nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten geregelt ist, wird zunehmend überlagert durch EU-rechtliche Vorgaben, die sowohl aus den Grundfreiheiten des Unionsvertrags als auch aus Richtlinien resultieren. Für die Freien Heilberufe entfalten insbesondere die Dienstleistungsfreiheit als das Recht, Dienste in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen und nachzufragen und zu diesem Zweck in dem jeweiligen Mitgliedstaat zu verweilen, oder die Niederlassungsfreiheit mit der Befugnis des Aufenthalts und der Berufsausübung in einem anderen Mitgliedstaat besondere Bedeutung. Die EU-Kommission war und ist bemüht, den durch Koordinierungs- und Harmonisierungsrichtlinien initiierten Integrationsprozeß durch eine neue Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor weiter voranzutreiben, wobei sie sich am Leitbild vorbildlicher Praktiken („best practice“) in einzelnen Mitgliedstaaten orientiert, und unter anderem Niederlassungs- und Verwaltungsregeln für Freie Berufe liberalisiert werden sollen. Eine besondere Dynamisierung dieses berufsrechtlichen Harmonisierungsprozesses geht von der Judikatur des EuGH aus, der konsequent alle Hemmnisse der Niederlassungsfreiheit durch nationale Reservate insbesondere der Berufsqualifikationen beseitigt.8 Das geschieht insbesondere durch die Interpretation des Sekundärrechts, wie es sich in den früheren sektoralen Richtlinien und der Hochschuldiplomrichtlinie manifestierte, die durch die neue Berufsanerkennungsrichtlinie abgelöst wurden. So hat der EuGH in einem für den zahnärztlichen Berufsstand bedeutsamen Beschluß vom 17.10.20039 die in Deutschland im Hinblick auf § 1 Abs. 1 ZHKG lange umstrittene Frage geklärt, ob ein Arzt generell befugt ist, die Zahnheilkunde auszuüben und die Bezeichnung Zahnarzt zu führen. Der EuGH hat dies unter Hinweis auf die Richtlinie 78/687/EWG zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit des Zahnarztes eindeutig verneint und diese Richtlinie dahingehend ausgelegt, „daß sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die Ärzten, die nicht die nach Art. 1 der Richtlinie erforderliche Ausbildung absolviert haben, generell die Tätigkeit des Zahnarztes gestattet; dies gilt unabhängig davon, unter welcher Bezeichnung die Tätigkeiten ausgeübt werden.“ Der EuGH wendet darüber hinaus strikt die primärrechtlichen Freizügigkeits- und Niederlassungsprinzipien auf das nationale Berufsrecht und seine Handhabung in der Verwaltungspraxis an. So wurde eine bereits mehrfach bestätigte Rechtsprechung anläßlich eines Falles weitergeführt, bei dem einem Facharzt für urologische Chir8 s. dazu Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff.; Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2003, S. 68 ff., 72 ff.; B. Tiemann, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 921 ff.; Kluth, LZK Baden-Württemberg (Hrsg.), LZK Baden-Württemberg 50 Jahre, 2005, S. 86 ff. 9 Rs. C-35/02.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
urgie, der seit mehreren Jahren an französischen Krankenhäusern tätig war und die französische Staatsbürgerschaft erworben hatte, die Zulassung als niedergelassener Arzt mit der Begründung versagt wurde, daß sein argentinisches Diplom eines Doktors der Medizin nicht zur Ausübung des Arztberufes in Frankreich berechtige.10 Der EuGH hält die Behörden eines Mitgliedstaats, die mit einem Antrag eines Unionsangehörigen auf Zulassung zu einem Beruf befaßt sind, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrungen abhängt, für verpflichtet, sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise zu berücksichtigen, daß sie die dadurch belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen. Führt eine solche vergleichende Prüfung der Diplome und der entsprechenden Berufserfahrung zu der Feststellung, daß die durch das im Ausland ausgestellte Diplom bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den in nationalen Rechtsvorschriften verlangten entsprechen, so haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats anzuerkennen, daß dieses Diplom und evtl. die entsprechende Berufserfahrung die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllen. In gleicher Weise entschied der EuGH11 im Fall einer Ärztin, die nach dem Medizinstudium in Algerien in Belgien ein Diplom für Allgemeinmedizin erworben hatte und sich in Frankreich als Ärztin niederlassen wollte, jedoch von der französischen Ärztekammer abgewiesen wurde, weil ihre Befähigungsnachweise nicht den belgischen Bezeichnungen entsprachen. Wie der EuGH ausführte, darf die Anerkennung eines Arztdiploms, das in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurde, nur in Ausnahmefällen, nicht aber mit der Begründung abgelehnt werden, das Studium sei nicht vollständig in einem Mitgliedstaat der Union absolviert worden. Außerdem müßten sich die Behörden, bei denen die Anerkennung beantragt wurde, an die Erklärung der Ämter des Mitgliedstaats halten, in dem das Diplom ausgestellt wurde, daß Zeugnisse und Befähigungsnachweise vorschriftsmäßig verliehen wurden. Nur wenn die Zeugnisse mehrdeutig sind, könnten die vorgelegten Diplome überprüft werden. Eine extensive Kontrolle der Befähigungsnachweise ist nach Ansicht des EuGH bei einem Antrag auf Zulassung als Arzt nur dann zulässig, wenn keine vollständige Ausbildung bescheinigt werden konnte. In diesem Fall dürfe die Zulassung jedoch nur verweigert werden, wenn die belegten Kenntnisse und Fähigkeiten nicht den Vorgaben im Gastland entsprächen und der Antragsteller nicht nachweisen könne, daß er diese erworben habe.
10 11
s. EuGH Urt. v. 14. 10. 2000; vgl. Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff. Urt. v. 19. 6. 2003, Rs. Tennah-Durez C-110/01.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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c) Unionsrechtliche Liberalisierung der Berufsausübungsregeln Das Berufsrecht der Freien Heilberufe wird auch in anderer Beziehung als der Niederlassungsfreiheit zunehmend zum Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH, der insbesondere die Dienstleistungsfreiheit, aber auch europarechtliche Diskriminierungsverbote oder Wettbewerbsbestimmungen zum Anlaß nimmt, nationale Berufsregelungen am Maßstab des EU-Rechts zu prüfen. Betroffen sind davon insbesondere Regelungen, die die Werbung oder gemeinsame Berufsausübung betreffen. Die Rechtsprechung des EuGH wirkt wiederum maßstabgebend auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. So hat der EuGH Entscheidungen zum Werberecht der Freien Berufe getroffen, die auf entsprechenden Richtlinien des Rates beruhen. Die Richtlinie des Rates vom 10. 9. 1984 über irreführende und vergleichende Werbung hebt in Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich hervor, daß sie sich auch auf die Werbung der Freiberufler bezieht.12 Ein Urteil des EuGH vom 11. 7. 200213 betrifft z. B. die Werbung der deutschen Paracelsus-Schulen für Naturheilverfahren und die Wirkungen ihrer Werbung für die Ausbildung zum Beruf des Heilpraktikers in Österreich, wo dieses Berufsbild nicht besteht. Dabei stellte der Gerichtshof fest, daß es keinen Zwang zur europaweiten Vereinheitlichung hinsichtlich der Anerkennung von Berufen gibt. Die Tatsache, daß ein Mitgliedstaat weniger restriktive Vorschriften erläßt als ein anderer, bedeutet nicht, daß die strengeren Vorschriften unverhältnismäßig und folglich mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar wären. Ein Staat kann demnach Tätigkeiten und die Berufsausbildung hierzu aus Gründen des Gesundheitsschutzes verbieten, jedoch nicht die Information darüber, daß solche Tätigkeiten in anderen Staaten erlaubt sind und daß man dort auch für diese ausgebildet werden kann. Mit Urteil vom 17.7.200814 hat der EuGH entschieden, daß die italienischen Vorschriften zur Werbung für medizinisch-chirurgische Behandlungen eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungs- bzw. der Dienstleistungsfreiheit darstellen. Die italienischen Bestimmungen verbieten die Werbung für medizinischchirurgische Behandlungen über nationale Fernsehsender, erlauben jedoch Werbung über lokale Fernsehsender. Der EuGH, dem dieser Fall zur Vorabentscheidung vorgelegt worden war, urteilte, daß ein solches Werbeverbot über das nach der Richtlinie 97/36/EG hinausgehe. Die Richtlinie bestimme u. a., daß Fernsehwerbung für medizinische Behandlungen, die nur auf ärztliche Verordnung erhältlich seien, untersagt sei. Die Mitgliedstaaten könnten zwar nach der Richtlinie in den von ihr erfaßten Bereichen ausführlichere oder strengere Bestimmungen vorsehen, doch seien bei der Ausübung einer solchen Befugnis die durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu beachten. Der EuGH sieht in der italienischen Werberegelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Denn sie stelle für Unter12 13 14
Vgl. Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff. Rs. C-294/00. Rs. C-500/06.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
nehmen, die ihren Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten als Italien haben, ein ernsthaftes Hindernis für die Ausübung ihrer Tätigkeiten durch eine in Italien ansässige Tochtergesellschaft dar. Zudem sieht der Gerichtshof in dieser Regelung eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, soweit sie Unternehmen hindere, solche Leistungen, die in der Verbreitung von Fernsehwerbung bestehen, zu empfangen. Der Gerichtshof befand, daß nationale Rechtsvorschriften wie die hier streitigen nicht zur Erreichung des Ziels des Schutzes der öffentlichen Gesundheit geeignet sind und daher eine nichtgerechtfertigte Beschränkung der beiden Freiheiten darstellen. Umgekehrt stehen nach einem Urteil des EuGH vom 13.3.200815 nationale Regelungen, die Werbung für Leistungen der Zahnbehandlung verbieten, dem EURecht nicht entgegen. Hintergrund der Entscheidung war ein berufsgerichtliches Verfahren gegen einen belgischen Zahnarzt, der unter Nennung seines Namens im Telefonbuch für sein Zahnlabor und seine Zahnklinik geworben hatte, was nach belgischem Recht verboten ist. Konkret enthielt die Werbung objektive Informationen, wie die angebotenen Dienste, die Adresse, die Telefonnummer und die Öffnungszeiten der beiden Einrichtungen. Nach Auffassung des EuGH wird im konkreten Fall der freie Wettbewerb nicht beeinträchtigt, weil es keine Anhaltspunkte dafür gebe, daß das belgische Gesetz eine Kartellabsprache oder eine Unternehmensentscheidung begünstige, erleichtere oder vorschreibe. Die fragliche gesetzliche Regelung habe auch nicht dadurch ihren staatlichen Charakter verloren, daß Belgien die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern übertrage. Nicht nur der EuGH beeinflußt die diesbezügliche Europäisierung der berufsrechtlichen Standards. Auch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), über deren Auslegung der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wacht, enthält europäische Verfassungsprinzipien, die Bestandteil der EU-Verträge sind und auch vom EuGH als verbindliches Unionsrecht betrachtet und angewandt werden. Mit seiner Entscheidung vom 17.10.200216 in der Sache Stambuk gegen Bundesrepublik Deutschland hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit den Grenzen zwischen Werbung und Informationsfreiheit Freier Berufe im Fall eines deutschen Augenarztes befaßt, der in einem Interview auf seine Spezialisierung in Laserverfahren hingewiesen hatte und in einem berufsgerichtlichen Verfahren zu einer Geldbuße verurteilt wurde. Der Straßburger Gerichtshof, der nach Ausschöp15 Rs. C-446/05. In die gleiche Richtung weisen die Schlußanträge von Generalanwalt Mzak in der Rs. C-119/09, in der es um die Vereinbarkeit des französischen Verbots von Direktwerbung für Wirtschaftsprüfer geht, in dem der Generalanwalt keinen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie sieht, weil es sich lediglich um eine Modalitätenregelung von Werbung im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie handle und nicht zu beanstanden sei, solange sie diskriminierungsfrei, verhältnismäßig und von zwingenden Gründen des Allgemeininteresses getragen sei. s. Der Freie Beruf 2010/6, 24. 16 Urt. des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Rs. 37928/97.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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fung des Rechtswegs in Deutschland mit dieser Frage befaßt wurde, betonte unter Hinweis auf Art. 10 EMRK das Recht auf freie Meinungsäußerung, die die Freiheit einschließt, Informationen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Einschränkungen dieses Rechts hält er nur unter dem Aspekt des Gesundheits- oder Moralschutzes oder der Rechte Anderer für zulässig. Einschränkungen der Werbefreiheit sind erlaubt, um unfairen Wettbewerb sowie wahrheitswidrige oder irreführende Werbung zu verhindern. In diesen Fällen wird jedoch das Erfordernis sorgfältiger Abwägung im Hinblick auf Verhältnismäßigkeitsgrundsätze hervorgehoben.17 Von diesen Urteilen der europäischen Gerichte wurde u. a. die Judikatur des BVerfG zu den berufsrechtlichen Werbeverboten in den Berufsordnungen Freier Berufe angeregt bzw. bestätigt, so daß es zu einer nicht zu unterschätzenden Rückwirkung der europarechtlichen Rechtsprechung auf die nationale Gerichtsbarkeit kommt. Dies gilt für die Tendenz des BVerfG, für alle Berichte mit Informationscharakter über freiberufliche Aktivitäten auf eine Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe abzustellen,18 ebenso wie für die differenzierte Judikatur zur Informationswerbung in der beruflichen Selbstdarstellung von der Werbefreiheit der Apotheker19 bis zu Hinweisen auf Interessen und Fortbildungsschwerpunkte, Spezialisierungen u. ä. bei Ärzten und Zahnärzten20. Angesichts der dem EuGH bei der Auslegung des EU-Rechts einschließlich seiner verfassungsrechtlichen Bezüge vom BVerfG eingeräumten Prärogative gehen von der europäischen Rechtsprechung Rückkoppelungseffekte auf die nationale Judikatur zu berufsrechtlichen Fragen aus, deren Bedeutung über die Einzelentscheidung hinausreicht. Nach ständiger Judikatur des EuGH, die in Deutschland auch die Vertragsarztzulassung präformiert, sind des Weiteren nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den EU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten einschränken, nur unter vier Voraussetzungen zulässig: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Es entspricht nach Auffassung des EuGH den unionsrechtlichen Kriterien, daß bei einem Zahnarzt der Nachweis von Sprachkenntnissen verlangt werden kann, die er für die Ausübung seiner Berufstä-
17 Zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Angelegenheiten der Werbefreiheit Freier Berufe s. Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff. 18 BVerfGE 85, 248. 19 BVerfGE 94, 372. 20 Zur Werbefreiheit als Ausprägung berufsfreiheitlicher Autonomie s. die Nachweise bei Sodan, Grundgesetz, 2009, Art. 12 Rn. 14; Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff., 72 ff.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
tigkeit im Aufnahmemitgliedstaat braucht:21 „Die Gewährleistung der Verständigung des Zahnarztes mit seinen Patienten sowie mit den Verwaltungsbehörden und Berufsorganisationen stellt… einen zwingenden Grund des allgemeinen Interesses dar, der es rechtfertigt, die Kassenzulassung eines Zahnarztes von sprachlichen Voraussetzungen abhängig zu machen. Sowohl das Gespräch mit den Patienten als auch die Einhaltung der im Aufnahmemitgliedstaat für Zahnärzte geltenden Berufsregeln und Rechtsvorschriften wie auch die Erfüllung der administrativen Aufgaben verlangen nämlich eine angemessene Kenntnis der Sprache dieses Staates.“ Eine besondere Problematik für die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit Freier Berufe kann sich daraus ergeben, daß das nationale Berufs- oder Sozialversicherungsrecht Regelungen trifft, die mit EU-Recht unvereinbar und daher nur für die eigenen Staatsangehörigen, nicht aber für die anderer Mitgliedstaaten verbindlich sind.22 Besonders das deutsche Vertragsarztrecht läßt diese Diskrepanz der Inländerdiskriminierung deutlich werden. Die dargestellte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann bedeuten, daß dadurch die europäischen Leistungserbringer im Gesundheitswesen besser gestellt werden als in Deutschland ansässige Heilberufsangehörige. Jene unterliegen vielfältigen Erfordernissen für die Zulassung und Leistungserbringung, die für Angehörige anderer Mitgliedstaaten durch die Inanspruchnahme der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit nicht zum Tragen kommen dürfen. Die in Deutschland ansässigen Leistungserbringer müssen somit unter Umständen zusätzliche Zugangshürden, Alters-, Bedarfsplanungs-, Budgetbegrenzungen und weitere dirigistische Erschwernisse auf sich nehmen, die den ausländischen Mitkonkurrenten nicht entgegenstehen und auch nicht entgegengehalten werden dürfen. Die deutsche Gesetzgebung im Gesundheitswesen steht zum Teil in Diskrepanz zur europäischen Rechtslage, so wie sie der Europäische Gerichtshof interpretiert. Die dadurch bewirkte Inländerdiskriminierung der deutschen Leistungserbringer im Gesundheitswesen ist zwar europarechtlich nicht zu beanstanden, (rechts)politisch jedoch unerträglich und dürfte auch an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen.23 So muß z. B. nach der deutschen Zulassungsordnung für Vertragszahnärzte ein deutscher Zahnarzt eine zweijährige Vorbereitungszeit ableisten, bevor er als Vertragszahnarzt zugelassen wird. Ein Kollege aus einem EUMitgliedstaat kann sich unmittelbar nach der Approbation als Zahnarzt in Deutschland niederlassen. Ein Arzt, der wegen der in § 95 Abs. 9 SGB V vorgesehenen Altersgrenze von 68 Jahren von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen wird, kann sich im angrenzenden EU-Ausland niederlassen und seine deutschen Kassenpatienten weiterbehandeln, so wie er sie vorher in seiner Heimat behandelt hat. Die deutschen 21
EuGH, Urt. v. 4. 2. 2000 – Rs. Haim II, Slg. 2000, I-5148. s. dazu Kilian, WRP 2002, 802 ff. 23 Zum Problem der Inländerdiskriminierung deutscher Heilberufsangehöriger durch deutsches Sozialversicherungsrecht s. Sodan, ASR 2007, 152, 156 ff. 22
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Krankenversicherungsträger sind aus europarechtlichen Gründen gezwungen, diesem aus dem deutschen Krankenversicherungsrechtssystem ausgeschiedenen Arzt die Behandlungskosten der deutschen Patienten weiter zu erstatten. Noch problematischer ist die Fallgestaltung, wenn eine deutsche Spezialklinik, die bisher als Privatkrankenhaus keine Zulassung zur Gesetzlichen Krankenversicherung besessen hat, zwar europaweit Patienten mit entsprechender Kostenerstattungspflicht seitens der nationalen Krankenversicherungsträger behandeln kann, nicht aber deutsche Patienten, obwohl die Behandlungsmethoden ansonsten in Deutschland nicht verfügbar sind.24 Nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Berufs- und Niederlassungsrecht, vor allem auch die Migrationspraxis der Niederlassung, sind außerdem von der Einbeziehung der Beitrittsländer insbesondere Mittel- und Osteuropas zu erwarten. Der Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Malta, Zypern sowie Polen, Slowenien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn zur Europäischen Union wurde am 1. 5. 2004 vollzogen. Bulgarien und Rumänien folgten zu Beginn des Jahres 2007. Durch den Beitrittsvertrag werden ab dem Tag der EU-Zugehörigkeit die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der EU für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und der Beitrittsakte („acquis communautaire“).25 Die Beitrittsakte regelt die Bedingungen der Mitgliedschaft und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht. Geändert wurden insbesondere die Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise der Heilberufe und für Maßnahmen zur Erleichterung zur tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr. Übergangsregelungen, wie sie zur Sicherung des Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt für unselbständig Beschäftigte installiert wurden, sind für die Freien Berufe nicht vorgesehen, so daß sich Ärzte und Zahnärzte aus den Beitrittsländern seit dem 1. 5. 2005 grundsätzlich ohne weitere Prüfung in Deutschland niederlassen können. Ausreichende Deutschkenntnisse sind nach der Rechtsprechung für die Erteilung der Approbation sowie für die Kassenzulassung allerdings erforderlich. Dies wird auch durch die EuGH-Rechtsprechung bestätigt.26 Für angestellte Ärzte und Zahnärzte hat Deutschland eine Übergangsfrist bis 2011 ausbedungen, bis zu der Heilberufsangehörige aus den Beitrittsstaaten eine Arbeitserlaubnis benötigen. Daß die europäische Unionsstruktur zunehmend auf die Berufsausübung der Freien Berufe unmittelbar einwirkt, zeigt die Geldwäscherichtlinie der EU, die 24
s. Heinze, Rhein. Zahnärzteblatt 2001, 723 ff. Vgl. die Beitrittsakte (ABl. 2003, 236, 533 ff.), die eine Reihe von Anwendungsausnahmen unionsrechtlicher Vorschriften für die Beitrittsländer vorsieht, insbes. die Zulässigkeit von Beschränkungen der Freizügigkeit für die Dauer von sieben Jahren. s. dazu Herdegen, S. 55. 26 Urt. v. 4. 7. 2000 – Rs. Haim III, Slg 2000, I – 5148. 25
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
insbesondere die wirtschafts- und rechtsberatenden Freien Berufe betrifft, jedoch mit der Schweigepflicht ein sensibles Schutzgut freiberuflicher Tätigkeit tangiert, das gerade für die Heil- und Sozialberufe essentiell ist. Freie Berufe, die gegenüber ihren Mandanten, Klienten, Patienten zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, sollen in der nationalen Gesetzgebung zwar ausgenommen werden können, jedoch nur im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren oder zur Klärung der Rechtslage. Weitergehende Einschnitte in das Berufsrecht der Freien Berufe sind auch vom eCommerce zu erwarten, für den eine sog. „e-Commerce-Richtlinie“27 vorliegt. Die Förderpolitik der EU zielt darauf ab, daß alle Dienstleister, so auch die Freien Berufe, in zunehmendem Maße als Übermittlungsweg ihrer Leistungen die neuen Medien einbeziehen. Dabei ergeben sich erhebliche Rechtsunsicherheiten, weil die grenzüberschreitenden Dienstleistungen völlig unterschiedliche Rechtsordnungen beachten müssen. Die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr geht vom Herkunftslandprinzip aus, d. h. der Anbieter einer Dienstleistung braucht nur noch die Bestimmungen des Staates zu beachten, in dem er niedergelassen ist, auch wenn er elektronisch in Geschäftsverkehr mit einem anderen Mitgliedstaat tritt. Angehörige Freier Berufe, in deren Herkunftsland das Berufsrecht nicht die Regelungsintensität und -dichte aufweist wie Deutschland, können daher ungehindert über das Internet in Deutschland Dienstleistungen, also etwa Beratungen, erbringen und auch für diese werben. Daß dies die Gefahr weiterer Aufweichungserscheinungen für das deutsche Berufsrecht nach sich ziehen kann, ist offensichtlich. Abgesehen davon ergeben sich bezüglich der Leistungen im e-Commerce urheberrechtliche und steuerrechtliche Probleme sowie Fragen der Schweigepflicht. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Doc. Morris28 von Bedeutung, nach der das Verbot des Internet-Versandhandels mit Arzneimitteln wie sie in der Bundesrepublik Deutschland in der bisherigen Fassung des § 43 Abs. 1 AMG verankert ist, gegen Art. 28 EGV (jetzt Art. 34 AEUV) verstößt, also eine Beschränkung des freien Wettbewerbs darstellt. Demgegenüber hält der EuGH das nationale Verbot der Werbung für den Versandhandel (§ 8 Abs. 1 Heilmittelwerbegesetz) für europarechtskonform, d. h. mit Art. 30 EGV (jetzt Art. 36 AEUV) vereinbar, soweit verschreibungspflichtige Arzneimittel betroffen sind.
27 28
Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr (ABl. 178 v. 17. 2. 2000). Urt. v. 11. 12. 2003, Rs. C-322/01 Slg. 2003, I-14887.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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2. Neuregelungen europaweiter Berufsanerkennung und sozialer Sicherung der Heilberufe a) Von sektoralen Harmonisierungsregelungen zur Berufsanerkennungsrichtlinie Ein spezifisch berufsrechtlicher Harmonisierungsdruck auf die nationalen berufsrechtlichen Regelungen der Heilberufe wurde durch die Gesetzgebungsinitiativen der EU-Kommission zur Anerkennung der Berufsqualifikationen erzeugt. Im März 2002 legte die Kommission einen entsprechenden Richtlinien-Entwurf vor,29 dessen Ziel es war, den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr zu fördern und die europäischen berufsrechtlichen Regelungen zu vereinfachen. Die Hauptproblematik dieses Entwurfs bestand darin, daß die bisherigen sektoralen Regelungen (wie z. B. die Richtlinie 78/686/EWG und 78/687/EWG für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger, Hebammen und Apotheker sowie zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit der Heilberufsangehörigen) zugunsten einer Einheitsregelung aufgegeben werden sollten, so daß die Gefahr bestand, daß gewerbliche wie freiberufliche, handwerkliche und industrielle Berufe über einen Kamm geschoren werden. Das bewährte System der richtlinienmäßigen Differenzierung der Gewährleistung der Dienst- und Niederlassungsfreiheit für gewerbliche Berufe einerseits und andererseits für jene Tätigkeiten, die typischerweise den Freien Berufen zugerechnet werden, die sich durch eine besondere Vertrauensstellung und Qualifikation auszeichnen, sollte beseitigt werden, obwohl diese Berufe in den Mitgliedstaaten unterschiedlichen Rechtskreisen zugeordnet sind. Das bisherige System der sektoriellen Richtlinien bedeutete, daß ein Niveau für eine Berufsqualifikation festgelegt wurde und auf dieser Basis eine automatische Anerkennung erfolgte. Die Weiterentwicklung geschah unter Einbeziehung fachlichen Sachverstandes durch die Beratenden Ausschüsse, in denen Berufsvertreter der Freien Berufe und Wissenschaftler der jeweiligen Fachdisziplinen vertreten waren. Die sektoralen Richtlinien gewährleisteten damit nicht nur ein klares, unbürokratisches und auf den jeweiligen Berufsstand abgestimmtes Anerkennungsverfahren. Sie sicherten auch, daß die Berufsbilder, basierend auf den Entwicklungen in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union, angemessen bewertet und fortgeschrieben werden konnten. Der Richtlinienentwurf sah demgegenüber in Abs. 54 die Einrichtung eines gemeinsamen Regelungsausschusses für alle Berufsbilder vor, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten unter dem Vorsitz eines Kommissionsvertreters zusammensetzen sollte. Von den Heilberufsorganisationen wurde die Befürchtung geäußert, daß die Abschaffung der Beratenden Ausschüsse, die insbesondere für die Gesund29
KOM (2002),119 endg.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
heitsberufe von Bedeutung sind, zu einer Vernachlässigung der jeweils professionstypischen fachlichen Kompetenz, die für die Entwicklung eines einheitlichen Ausbildungsstandards unerläßlich ist, führen könnte. Außerdem enthielt der Richtlinienentwurf in seiner ursprünglichen Fassung eine Klausel, nach der EU-Angehörige als Dienstleistungserbringer bis zu 16 Wochen lang ohne Meldung bei den Behörden des Aufnahmestaates hätten tätig sein können, was zu erheblicher berufsund haftungsrechtlicher Rechtsunsicherheit geführt hätte. Nach zahlreichen Änderungen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren wurde der Richtlinienentwurf bei Verabschiedung durch den Ministerrat der EU am 6. 6. 2005 (RL 2005/36/ EG) in folgenden Punkten wesentlich abgeändert:30 • Die 16-Wochenregelung, nach der ein Dienstleistungserbringer im EU-Ausland ohne Registrierung bei den zuständigen Behörden des Aufnahmestaates tätig sein kann, wurde gestrichen. • Die Anmeldung für eine dauerhafte grenzüberschreitende Dienstleistung erfolgt im Aufnahmestaat und nicht im Herkunftsland, wobei auch das Kontrollrecht dem Aufnahmestaat vorbehalten bleibt. Begibt sich ein Dienstleistungserbringer in ein anderes EU-Land, so unterliegt er den dortigen berufsständischen, berufsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Verhaltensregeln. • Wer sich dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen möchte, muß ggf. vorab eine Eignungsprüfung nachweisen oder Fortbildungen absolvieren. Darüber hinaus besteht eine Informationspflicht über die eigenen Qualifikationen. Die Richtlinie gilt für „alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte, einschließlich der Angehörigen der Freien Berufe, einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre Berufsqualifikation erworben haben, ausüben wollen“. Im Falle einer Niederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat gelten für den Migranten die Regeln des Aufnahmestaates. Er soll seinen Beruf „unter denselben Voraussetzungen wie ein Inländer“ ausüben (Art. 4). Abweichend vom Herkunftslandprinzip (Art. 1) sieht die Richtlinie vor, daß derjenige, der sich zur Dienstleistungserbringung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, den dortigen berufsständischen, gesetzlichen und verwaltungsrechtlichen Berufsregeln unterliegt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Berufsqualifikationen für Personen gelten, die denselben Beruf wie er ausüben, und den dort geltenden Disziplinarbestimmungen (Art. 5 – 3, Erwägungsgrund 8). Damit ist das Bestimmungslandprinzip als vorherrschendes Prinzip in den Fällen der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung verankert.31 30 Zur Entwicklung der Berufsqualifikationsrichtlinie bis zu ihrer endgültigen Fassung vgl. Henssler, EuZW 2003, 229; Mann, EuZW 2004, 615; Hellwig, NJW 2005, 1217; Kluth/Rieger, Aktuelle Stellungnahme 4/05 des Instituts für Kammerrecht Halle v. 13.10.2005. 31 s. dazu Kluth/Rieger, GewArch 2006, 1, 3 f.; Mann, EuZW 2004, 615, 617; Lemor, EuZW 2007, 136.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Wie unter den bis Oktober 2007 gültigen sektoralen Richtlinien soll die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit für Heilberufsangehörige innerhalb der EU auch unter der Geltung der neuen Richtlinie auf der Basis von in allen Mitgliedstaaten verbindlichen Mindeststandards für deren Ausbildungsprogramm erfolgen, das in Anhang V.5.3.1. der neuen Richtlinie festgelegt ist. Die Aufnahme und Ausübung der beruflichen Tätigkeiten der Heilberufsangehörigen ist in jedem Mitgliedstaat an den Besitz eines Ausbildungsnachweises gebunden, der belegt, daß die betreffende Person im Verlauf ihrer Gesamtausbildungszeit die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat (s. Art. 3-1-ab-c, 21 – 1 und 6, 34, 36 – 2 und Erwägungsgrund 19). Folglich kann sich ein Heilberufsangehöriger in jedem EU-Mitgliedstaat niederlassen, wenn er über einen anerkannten Berufsqualifikationsnachweis verfügt. Von diesem „Niederlassungsmitgliedstaat“ aus kann er sich zur vorübergehenden und gelegentlichen Erbringung von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat begeben (Art. 5-1-a). Als Dienstleistung gilt die vorübergehende und gelegentliche Berufsausübung in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Sie wird „im Einzelfall beurteilt, insbesondere anhand der Dauer, der Häufigkeit, der regelmäßigen Wiederkehr und der Kontinuität der Dienstleistung“ (Art. 5 – 2). Grundvoraussetzung ist, daß der Dienstleistungserbringer zur Ausübung desselben Berufes rechtmäßig in einem EU-Mitgliedstaat niedergelassen ist (Art. 5-1-a). Im Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung32 zur Dienstleistungsfreiheit trifft die Richtlinie im Hinblick auf die nur zeitweilige Betätigung auf einem fremden Markt einige Sonderregelungen, die das Bestimmungslandprinzip modifizieren:33 Der Aufnahmemitgliedstaat darf vom Dienstleistungserbringer • eine automatische vorübergehende Eintragung oder eine Pro-Forma-Mitgliedschaft bei einer Berufsorganisation verlangen, „sofern diese Eintragung oder Mitgliedschaft die Erbringung von Dienstleistungen in keiner Weise verzögert oder erschwert und für den Dienstleister keine zusätzlichen Kosten verursacht“ (Art. 6-a), • vor der Erbringung der Dienstleistung die schriftliche Meldung bei der zuständigen Behörde des Aufnahmemitgliedstaates fordern, um sie u. a. „über Einzelheiten zu einem Versicherungsschutz oder zu einer anderen Art des individuellen oder kollektiven Schutzes in Bezug auf die Berufshaftpflicht“ zu informieren. Diese Meldung ist einmal pro Jahr zu erneuern, „wenn der Dienstleister beabsichtigt, während des betreffenden Jahres vorübergehend oder gelegentlich Dienstleistungen in dem Mitgliedstaat zu erbringen“ (Art. 6-a und 7 – 1). • im Falle einer erstmaligen Dienstleistungserbringung oder bei einer wesentlichen Änderung gegenüber der in den Dokumenten bescheinigten Situation zusätzlich zur Meldung sich folgende Dokumente vorlegen lassen (Art. 7 – 2): den Nachweis 32 33
s. insbes. Rs. Corsten C-58/98, Slg. 2000, I-7919. Vgl. Kluth/Rieger, in: Aktuelle Stellungnahme 4/05 des Instituts für Kammerrecht, S. 5.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
über die Staatsangehörigkeit; eine Bescheinigung darüber, daß der Dienstleistungserbringer rechtmäßig in einem Mitgliedstaat niedergelassen ist und daß ihm die Ausübung seiner Tätigkeit nicht, auch nicht vorübergehend, untersagt ist, sowie den Berufsqualifikationsnachweis. Die Anerkennung von Berufsqualifikationen für Heilberufsangehörige erfolgt automatisch, weil sie auf einem System europaweit anerkannter Mindeststandards für die Ausbildung beruht. Die Grundsätze hierfür werden in Titel III Kapitel III festgeschrieben (s. vor allem Art. 21 – 23 und 34 – 37 der Richtlinie). Die allgemeine Regelung für die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen (Titel III Kapitel I) gilt nur in Ausnahmefällen, nämlich dann, wenn der Migrant „die Anforderungen der tatsächlichen und rechtmäßigen Berufspraxis nicht erfüllt“ (Art. 10). Einem migrierenden Heilberufsangehörigen kann die Berufsqualifikation nach dem System der allgemeinen Regelung anerkannt werden, • wenn er im Besitz eines Ausbildungsnachweises ist, der bestätigt, daß er seine Ausbildung spätestens an dem in Anhang V.5.3.2 für seinen Mitgliedstaat aufgeführten Stichtag begonnen hat, • jedoch über keine zusätzliche Bescheinigung darüber verfügt, daß er seinen Beruf während der letzten fünf Jahre mindestens drei Jahre lang ununterbrochen ausgeübt hat. In diesem Fall erfolgt die Anerkennung nicht automatisch (Titel III Kapitel III), sondern nach den allgemeinen Regelungen von Titel III Kapitel I.34 Die neue Richtlinie hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, gemäß ihren Rechtsvorschriften Berufsqualifikationen anzuerkennen, die außerhalb des Gebietes der Europäischen Union von einem Staatsangehörigen eines Drittstaates erworben wurden (s. Art. 2 – 2). Diese Anerkennung muß jedoch für sämtliche reglementierte Berufe in Titel III Kapitel III – unter Beachtung der dort genannten Mindestanforderungen an die Ausbildung – erfolgen (Art. 2 – 2 und Erwägungsgrund 10). Der Inhaber eines Drittstaatendiploms kann seinen Beruf unmittelbar nach Anerkennung seiner Qualifikationen durch einen EU-Mitgliedstaat in dessen Hoheitsgebiet ausüben. Sein Ausbildungsnachweis aus dem Drittland ist EU-weit einem Ausbildungsnachweis gleichgestellt, sobald er drei Jahre Berufserfahrung im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates besitzt, der seinen Ausbildungsnachweis anerkannt hat (Art. 3 – 3). Personen, deren Berufsqualifikation anerkannt wird, müssen über die für eine Ausübung ihres Berufs im Aufnahmestaat erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen (Art. 53). Der Gesetzestext schreibt jedoch nicht vor, wie dies definiert und kontrolliert werden soll.
34 Zum System der automatischen Anerkennung, der Anerkennung von Berufserfahrung und der Auffangregelung für Befähigungsnachweise sowie zum Verfahren der Anerkennung s. Kluth/Rieger, S. 3 f.; kritisch Henssler, EuZW 2003, 229, 231; Mann, EuZW 2004, 615, 618.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Manche Mitgliedstaaten erteilen Personen, die ihre Berufsqualifikationen in ihrem Hoheitsgebiet erworben haben, nur dann eine Zulassung zur Aufnahme der Berufstätigkeit, wenn sie einen Vorbereitungslehrgang absolviert und/oder Berufserfahrung erworben haben. Personen, die ihre Berufsqualifikationen als Arzt bzw. Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben, werden von dieser Pflicht befreit.35 Bei Prüfung eines Antrags auf Zulassung zu einem reglementierten Beruf kann die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaates alle in Anhang VII aufgeführten Unterlagen und Bescheinigungen verlangen. Diese Dokumente dürfen bei ihrer Vorlage nicht älter als drei Monate sein (Art. 50 – 1). Hat der Aufnahmestaat berechtigte Zweifel, so kann er von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem die Bescheinigungen und Ausbildungsnachweise ausgestellt wurden, eine Bestätigung der Authentizität der Dokumente sowie ggf. eine Bestätigung darüber verlangen, daß der Antragsteller die Mindestanforderungen der Ausbildung erfüllt (Art. 50-2-3). Die zuständige Behörde des Aufnahmemitgliedstaates muß • dem Antragsteller binnen eines Monats den Empfang der Unterlagen attestieren und ihm ggf. mitteilen, welche Unterlagen fehlen (Art. 51 – 1); • das Verfahren für die Prüfung des Antrags spätestens drei Monate nach Einreichung der vollständigen Unterlagen durch den Antragsteller abschließen (Art. 51 – 2).36 Das System der automatischen Anerkennung gilt, wenn der Antragsteller in Besitz eines in Anhang V.5.3.2 aufgeführten Ausbildungsnachweises ist (s. Art. 21 – 6, 50 – 1, Anhang VII-1-b und VII-2, Erwägungsgründe 19 und 22). Die automatische Anerkennung von Berufsqualifikationen erfolgt auch dann, wenn die Ausbildungsnachweise den in Anhang V.5.3.2 aufgeführten Bezeichnungen nicht entsprechen, sofern ihnen eine von den zuständigen Behörden oder Stellen ausgestellte Bescheinigung beigefügt ist (Art. 23 – 6). Der Grundsatz der automatischen Anerkennung der bestehenden 52 medizinischen und zahnmedizinischen Fachrichtungen, die mindestens zwei Mitgliedstaaten gemeinsam sind, wird beibehalten. Die Erweiterung der automatischen Anerkennung auf neue medizinische und zahnmedizinische Fachrichtungen nach Inkrafttreten der Richtlinie ist jedoch nur möglich, wenn diese in mindestens zwei Fünfteln der Mitgliedstaaten vertreten sind (Erwägungsgrund 20). Dies hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, für bestimmte Fachrichtungen, die sie gemeinsam haben und die nicht Gegenstand einer automatischen Anerkennung sind, „eine automati-
35
Zum daraus resultierenden Problem der Inländerdiskriminierung s. oben 3. Kap. I. 1. b). Zur Kontroverse um den Inhalt der Bescheinigung, die sich auf Berufsausübungsbeschränkungen und Zuverlässigkeitsnachweise der Berufsträger bis hin zu Vorstrafen wegen sicherheitsrelevanter Tätigkeiten bezieht, s. Europäisches Parlament, Entwurf einer legislativen Entschließung zu dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates im Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 28. 4. 2005, PE 355.450v05 – 00 v. 11.5.2005. 36
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
sche Anerkennung nach ihren eigenen Regeln zu vereinbaren“ (Erwägungsgrund 20). Die Mindestanforderungen an Kenntnisse und Fähigkeiten von Heilberufsangehörigen können sich als Folge wissenschaftlichen und technischen Fortschritts ändern. Dementsprechend können die Verzeichnisse in Anhang V.3. durch einen Regelungsausschuß, bestehend aus Vertretern aller EU-Mitgliedstaaten, aktualisiert werden (Art. 21-6 und Art. 58-2). Dieser Regelungsausschuß ersetzt die für alle früher durch eine sektorale Richtlinie geregelten Heilberufe bestehenden Beratenden Ausschüsse, denen neben Delegierten aus den Ministerien auch Repräsentanten der jeweiligen Profession angehörten. Die Europäische Kommission muß jedoch dafür Sorge tragen, daß die Berufsvertreter von dem Regelungsausschuß „in angemessener Weise konsultiert werden“ (Art. 59, Erwägungsgrund 34). Dies bedeutet, daß Vertreter der jeweiligen Heilberufe auch in Zukunft konsultiert werden, wenn die in allen Mitgliedstaaten festgeschriebenen Mindeststandards für Berufsqualifikationen aktualisiert werden.37 Die zuständigen Behörden der Aufnahme- und Herkunftsmitgliedstaaten werden verpflichtet, eng zusammenzuarbeiten, um die Anwendung der Richtlinie zu erleichtern. Dabei sichern sie die Vertraulichkeit der ausgetauschten Informationen (Art. 58). Im Fall der Dienstleistungserbringung sieht die Richtlinie vor (Art. 8), daß die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaates von den zuständigen Behörden des Niederlassungsmitgliedstaates alle Informationen über die Rechtmäßigkeit der Niederlassung und die gute Führung des Dienstleistungserbringers anfordern können sowie Informationen darüber, daß keine berufsbezogenen disziplinarischen oder strafrechtlichen Sanktionen vorliegen. Die gleichen Bestimmungen gelten für die Anerkennung von Berufsqualifikationen im Fall einer Niederlassung (Art. 50-2-3). Durch die Definition der „zuständigen Behörde“ als „jede von den Mitgliedstaaten mit der besonderen Befugnis ausgestattete Behörde oder Stelle, Ausbildungsnachweise und andere Dokumente und Informationen auszustellen bzw. entgegenzunehmen sowie Anträge zu erhalten und Beschlüsse zu fassen (…)“ wird die Realität zum Ausdruck gebracht, daß in den meisten Mitgliedstaaten die Behörden einen Teil der Verwaltung der Berufe an autonome Gremien wie die Berufskammern übertragen. Auf ausdrücklichen Wunsch des Europäischen Parlaments schreibt die Richtlinie in ihrer endgültigen Fassung vor, daß Berufsverbände und -organisationen auf europäischer Ebene Berufsausweise einführen. Sie können – bei Einhaltung der Datenschutzvorschriften – Informationen über die Qualifikationen des Berufsangehörigen, seinen beruflichen Werdegang, seine Niederlassung, Angaben seiner zuständigen Behörde sowie möglicherweise gegen ihn verhängte berufsbezogene Sanktionen umfassen. Damit soll zum einen die Mobilität von Dienstleistungser37 Kluth/Rieger, S. 9 vermissen in dieser Regelung, die auf einem Änderungsvorschlag des Europäischen Parlaments beruht, den ausdrücklichen Hinweis auf die Selbstverwaltung als Konsultationspartner.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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bringern erhöht und zum anderen – mit Hilfe moderner Technologien – der Austausch von Informationen zwischen Aufnahmemitgliedstaat und Herkunftsland beschleunigt werden. Neben der Tatsache, daß als wesentliches Element der verabschiedeten Berufsqualifikationsrichtlinie durch die Anwendung des Berufsrechts des Aufnahmestaates der Grundsatz des Bestimmungslandprinzips gilt, bleibt hervorzuheben, daß die Besonderheit der Freien Heilberufe gemäß den vom EuGH postulierten Kriterien anerkannt und im EU-Sekundärrecht verankert wurde, wobei eine Balance zwischen Erleichterung der Freizügigkeit einerseits und der Sicherung von Qualitätsstandards und Regeln für die Berufsaufsicht andererseits hergestellt wird.38 b) Umsetzungsbedarf der Berufsanerkennungsrichtlinie im Heilberufs- und Vertrags(zahn)arztrecht In mancher Hinsicht läßt die Richtlinie jedoch Fragen offen, die durch Umsetzung in nationales Recht beantwortet werden müssen.39 Die Richtlinie trifft keine Regelung der Modalitäten des Informationsaustauschs unter den einzelnen Behörden und zwischen den zuständigen Behörden und den Selbstverwaltungen der einzelnen Berufsstände sowie der Auswirkungen, die Nichtinformation an die zuständigen Stellen haben kann. Dies schafft einen Regelungsbedarf bei der Umsetzung in nationales Recht unter Einbeziehung der berufsständischen Selbstverwaltungen. Um eine Gleichbehandlung aller Dienstleister zu gewährleisten, muß die Bestimmung der vorübergehenden und gelegentlichen Ausübung des Berufs in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie näher definiert werden. Allein die EuGH-Rechtsprechung40 reicht nicht aus, um eine klare Abgrenzung zwischen vorübergehender Berufsausübung und Niederlassungsfreiheit zu ziehen. Auch die Möglichkeit einer Pro-Forma-Mitgliedschaft oder die automatische vorübergehende Eintragung des Dienstleisters bei einer Kammer bedarf bei der Umsetzung in nationales Recht einer Festlegung für das Verfahren des Informationstransfers an die Kammern. Es ist nicht zu verkennen, daß durch die Sprachbarrieren und die komplizierten Amtswege bei nur sehr kurzen Aufenthalten eines Dienstleisters in einem anderen Mitgliedstaat ein effizienter Informationsaustausch, wie z. B. in Art. 56 der Richtlinie gefordert, vielfach erschwert oder unmöglich gemacht wird. Des weiteren steht 38 Zur Bewertung der Richtlinie aus der Sicht der berufsständischen Kammern s. Kluth/ Rieger, S. 4, 6, 8; dies., GewArch 2006, 1 ff.; kritisch zum Regelungsansatz Henssler, EuZW 2003, 229 ff.; Mann, EuZW 2004, 615 ff. 39 s. hierzu den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 4.12.2004. 40 s. z. B. Urt. v. 30. 11. 1995, Rs. Gebhard (C-55/94), Slg. 1995, I-4165.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
auch noch die Frage offen, wie mit unvollständigen Informationen umzugehen ist. Da die Richtlinie dem Austausch von Informationen große Bedeutung beimißt, stellt sich die Frage, ob der Verstoß gegen die Informationspflicht mit Sanktionen belegt wird. Weiterhin besteht Regelungsbedarf bei Art. 53 der Richtlinie. Sprachkenntnisse sind bei Heilberufsangehörigen für die Patientenberatung und -behandlung, aber auch im Bereich der Kenntnisse der jeweiligen Versorgungsregeln des Gesundheitsund Versicherungssystems sowie der Abrechnung unerläßlich. Dies gilt insbesondere auch für Dienstleistungserbringungen von kurzer Dauer und bedingt, daß eine Regelung der Sprachkenntnisse als Voraussetzung für eine Berufsausübung notwendig ist. Soweit die Richtlinie den Bereich der Weiterbildung betrifft, der durch die Berufskammer geregelt wird, sind Änderungen der Heilberufsgesetze, Kammergesetze und Weiterbildungsordnungen notwendig. Zu beachten sind hier Art. 10 lit. b), d) (Anerkennung im Bereich der Weiterbildung), Art. 14 (Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen der Weiterbildung), Art. 50 Abs. 2 (Unterlagen im Bereich der Weiterbildung), Art. 51 (Anerkennung im Bereich der Weiterbildung). Um den Berufskammern eine Erfüllung ihrer Berufsaufsichtsfunktion zu ermöglichen, ist es erforderlich, daß eine Weiterleitung der eingeholten Meldungen und Informationen über den Dienstleister nach Art. 7 Abs. 1 und 4 der Richtlinie an die Selbstverwaltungen erfolgt. Als besonders sinnvoll könnte sich eine generelle Verpflichtung in den Heilberufs- und Kammergesetzen bezüglich eines Nachweises einer Berufshaftpflicht erweisen. Gerade im Hinblick auf eine vorübergehende Tätigkeit in einem Mitgliedstaat und einer möglichen aufwendigen Rechtsverfolgung scheint eine Verpflichtung zur Berufshaftpflicht im Sinne der Patientensicherheit erforderlich. Bezüglich der automatischen Anerkennung der Heilberufsqualifikationen gemäß Art. 21 ff. ist im Hinblick auf immer wieder neu entstehende Aus- und Weiterbildungsgänge auf das Erfordernis einer Beteiligung der Selbstverwaltung bei den Gemeinsamen Plattformen gemäß Art. 15 der Richtlinie hinzuweisen. Art. 55 regelt, daß Personen, die in einem Mitgliedstaat der EU ein nach unionsrechtlichen Vorschriften anerkanntes Diplom erworben haben und zur Berufsausübung zugelassen sind, von der Ableistung der Vorbereitungszeit befreit sind. Bei einem Antrag auf Zulassung zur vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung sind diese damit dadurch privilegiert, daß ihnen die zweijährige Vorbereitungszeit erspart bleibt. Insoweit dauert die seit langem bestehende Inländerdiskriminierung an. In einem Ende 2009 von der Bundesregierung verabschiedeten Eckpunktepapier für eine bessere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse41 mit dem Ziel, die
41 Vgl. das im Dezember 2009 von der Bundesregierung vorgelegte 13 Punkte umfassende Eckpunktepapier „Verbesserung der Feststellung und Anerkennung von im Ausland erworbe-
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Anerkennungsverfahren flexibler zu gestalten und andere im Ausland erworbene Qualifikationen zumindest teilweise anzuerkennen, wird u. a. vorgeschlagen, bei festgestellter Gleichwertigkeit von Qualifikationen diese künftig von der zuständigen Stelle bestätigen bzw. anerkennen zu lassen. Entsprechen die nachgewiesenen Qualifikationen nicht den inländischen Anforderungen des jeweiligen Ausbildungsgangs, sind die vorhandenen beruflichen Kompetenzen wenigstens soweit wie möglich zu bescheinigen („Teilanerkennung“). Besonders die Anerkennung medizinischer Abschlüsse soll erleichtert werden, wobei dies schon unter dem Aspekt des Patientenschutzes nicht zu einer Verkennung bestehender fachlicher Defizite dieser Abschlüsse führen darf. Deshalb wird von der Bundesregierung in ihrem Eckpunktepapier darauf hingewiesen, daß sich das individuelle Anerkennungsverfahren für EU-Abschlüsse, das Verfahren zur Anrechnung und Anerkennung ausländischer Qualifikationen und die Berücksichtigung einschlägiger Berufserfahrung aufgrund der Richtlinie 2005/36/EG gerade bei den Gesundheitsberufen bewährt habe. Verbesserungsoptionen werden z. B. hinsichtlich der Information über Anerkennungsmöglichkeiten vor der Einreise gesehen. Im Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften (GKV-ÄndG) vom 18. 6. 2010 werden für die Heilberufe Regelungen zur verbesserten Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie, insbesondere der Anerkennung von Drittstaatendiplomen, durch eine Novellierung der Bundesärzteordnung, des Zahnheilkundegesetzes und der Bundesapothekenordnung getroffen. Die Europäische Kommission hat am 9. 12. 2009 einen Benutzerleitfaden zur Berufsanerkennungsrichtlinie veröffentlicht, mit dem Fragen rund um die Richtlinie beantwortet werden sollen.42 Verbunden mit dem Leitfaden wurde von der Kommission auch eine Übersicht („scoreboard“) bezüglich des Stands der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie vorgelegt,43 über den die Kommission turnusmäßig Anwendungsberichte veröffentlicht.
nen beruflichen Qualifikationen und Berufsabschlüssen“ sowie die hierzu vorgelegte Stellungnahme des BFB v. Mai 2010. 42 http://ec.europa.eu/internal_market/qualifications/docs/guide/users_guide_de.pdf; vgl. Eureport social 1 – 2/2010, S. 19. 43 Mehr als zwei Jahre nach Auslaufen der eigentlichen Umsetzungsfrist im Herbst 2007 sind fünf Mitgliedstaaten noch immer im Verzug, während in Deutschland nach Auskunft der Kommission das nationale Recht in 126 Fällen an die Vorgaben der Berufsanerkennungsrichtlinie angepaßt wurde. Der Ausschuß für Binnenmarkt und Verbraucherschutz führt die Verzögerungen zum Teil auf die Komplexität der Materie und den Umfang der Mitteilungspflichten, teilweise aber auch auf Vertrauensmangel und Protektionismustendenzen bei den Mitgliedstaaten zurück. s. Der Freie Beruf 11/2009, 26.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
c) Die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung der Heilberufsangehörigen im koordinierenden EU-Sozialrecht Nachdem die Sozialrechtskoordination ihre primärrechtliche Basis vorrangig zunächst in der Freizügigkeit für Arbeitnehmer (Art. 45, 48 AEUV, ex-Art. 39, 42 EGV) gefunden hatte, hat die Rechtsprechung des EuGH die Koordinierungsregeln auch auf die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV, ex-Art. 43 EGV) gestützt. Dementsprechend wurde bereits 1982 die soziale Sicherung der Selbständigen in die VO 1408/71 und später die VO 883/2004 einbezogen,44 wobei der EU-rechtliche Begriff des Arbeitnehmers oder des Selbständigen auf das im jeweiligen Sachverhalt anzuwendende Sozialrecht des betroffenen Mitgliedstaats verweist. Heilberufsangehörige kommen also sowohl in angestellter wie in selbständiger Berufsausübungsform in den Genuß der sekundärrechtlichen Sozialrechtskoordinierung, nachdem diese viele Jahrzehnte lang den unselbständigen Tätigkeitsbereichen vorbehalten war. Daß unterschiedliche Regelungen für verschiedene Kategorien von Erwerbstätigen, die von einem vollständigen Ausschluß Selbständiger aus den sozialen Sicherungssystemen bis zu einer deutlich schlechteren Absicherung im Vergleich mit abhängig Beschäftigten reichten, nicht mehr den veränderten Gegebenheiten des Arbeitsmarktes entsprachen, wurde vom Rat der EU verschiedentlich bemängelt, der seit Langem „den Aufbau und/oder den Ausbau eines angemessenen sozialen Schutzes für Selbständige forderte45 und den Mitgliedstaaten empfahl, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit Selbständiger am Arbeitsplatz zu verbessern, da sich die Gefährdungslage nicht grundlegend von der der abhängig Beschäftigten unterscheide.46 Die sich europaweit abzeichnende Veränderung der Arbeitswelt mit ihrer Ausdifferenzierung von festen Anstellungs-, Teilzeitarbeits-, Freien Mitarbeiterverhältnissen, oder Scheinselbständigkeit und die damit verbundene Ausweitung der Grauzone zwischen Arbeitsverhältnis und Selbständigkeit analysiert 2003 ein im Auftrag der Generaldirektion „Beschäftigung und Soziales“ der EU erstellter Bericht, der die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte von Selbständigen zum Gegenstand hat, die arbeitnehmerähnlich bzw. wirtschaftlich abhängig in den EU-Mitgliedstaaten tätig sind. Der Bericht favorisiert unter verschiedenen Reformoptionen ein Mindestniveau Sozialer Grundrechte unabhängig von der jeweiligen Beschäftigungsform bis hin zum Maximum an Schutzvorschriften im abhängigen Arbeitsverhältnis.47 Die Idee einer Staffelung von Schutzvorschriften je nach Beschäftigungsstatus prägt auch die aktuelle beschäftigungspolitische Strategie der 44 45 46 47
VO (EWG) 1390/81 (ABl. Nr. L 143/1981, S. 1). Vgl. Empfehlung des Rates v. 27. 7. 1992 (ABl. Nr. L 245/1992, S. 49). So die Empfehlung des Rates v. 19. 2. 2003 (ABl. Nr. L 53/2003, S. 45). Zum sog. Perulli-Report 2003, S. 124 s. Schnell, RV aktuell 3/2008, S. 89.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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EU-Kommission, die unter dem Stichwort „Flexicurity“ soziale Mindeststandards für alle Erwerbstätigen anregt und einen europaweit einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers postuliert, wobei die Übergänge von abhängiger Beschäftigung in Selbständigkeit und umgekehrt besser abzusichern seien.48 Die Kommission fordert, die herkömmliche Unterscheidung von abhängig Beschäftigten und nicht abhängigen Selbständigen im Interesse einer besseren Absicherung der Selbständigen aufzugeben und insbesondere das mißbräuchliche Ausweichen in nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von „Scheinselbständigen“ zu unterbinden. In seiner Entschließung zur Flexicurity49 fordert auch das Europäische Parlament, den sozialen Schutz von Selbständigen und Kleinunternehmern zu verbessern, zumal nach einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Studie eine angemessene soziale Sicherung für Selbständige Unternehmensgründungen befördern kann.50 Die soziale Absicherung der Selbständigen und somit auch der selbständig tätigen Heilberufsangehörigen ist in den Mitgliedstaaten der EU höchst unterschiedlich ausgestaltet.51 Die Sicherungskonzeptionen reichen von einer weitgehenden Gleichbehandlung Selbständiger und abhängig Beschäftigter bis zu Systemen, die für Selbständige nur eine Basissicherung oder Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen vorsehen. Im Vergleich mit Arbeitnehmern ist das Schutzniveau insgesamt jedoch häufig geringer oder es werden bestimmte Risiken wie Arbeitslosigkeit überhaupt nicht abgesichert. Auch die Höhe der Alterssicherungsaufwendungen und der Finanzierungsanteil, den Selbständige zu entrichten haben, fallen unterschiedlich aus.52 Die Heilberufe verfügen in vielen Mitgliedstaaten über eigene komplementäre oder substitutive Sicherungssysteme insbesondere der Altersvorsorge, die zum Teil den berufsständischen Versorgungswerken in Deutschland ähneln. Als Selbständiger im Sinne des Gemeinschaftsrechts gilt eine Person, die ihren Lebensunterhalt in Ausübung eines Freien Berufs oder bei dem Betrieb eines Unternehmens verdient. Die VO 883/2004 differenziert zwischen „Beschäftigung“ und „selbständiger Erwerbstätigkeit“ (Art. 1a und b) und bestimmt nach diesen unterschiedlichen Kriterien das im Einzelfall anzuwendende nationale Sozialrecht. Auf die Selbständigen ist gemäß Art. 13 Abs. 2b VO 1408/71 entsprechend Art. 11 Abs. 3a VO 883/2004 das Recht desjenigen Staates anwendbar, in dessen Gebiet der Selbständige seine Tätigkeit ausübt, d. h. der Ort, an welchem dieser seinen „Sitz“ 48
s. Mitteilung der Kommission v. 27. 6. 2007 KOM (2007), 359 endg. Zur Entschließung des EP v. 29. 11. 2007 s. Schnell, S. 89. 50 s. hierzu Knospe/Zierke, ZESAR 2007, 269 ff. 51 Vgl. den Gesamtüberblick über die soziale Sicherung von Selbständigen in den europäischen Sicherungssystemen im Informationssystem der EU-Mitgliedstaaten zur Sozialen Sicherheit (Missoc, Soziale Sicherung der Selbständigen, Stand 1. 1. 2007). Informativ auch der Überblick in „Sozial-Kompaß Europa – Soziale Sicherheit in Europa im Vergleich“, aaO. 52 s. dazu exemplarisch den Überblick über die Alterssicherung Selbständiger in Europa bei Schnell, RV aktuell 3/2008, S. 88 ff., 89 ; Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung, Alterssicherung in Europa, 2007. 49
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
hat. Für Selbständige richtet sich das maßgebliche Sozialrecht also unabhängig vom Wohnort nach dem Ort, an dem der Selbständige auf Dauer tätig ist. Übt ein Selbständiger eine Mehrfachbeschäftigung aus, so unterliegt dieser im Hinblick auf sämtliche Erwerbstätigkeiten dem Recht des Wohnstaates (Art. 14 Nr. 2b VO 1408/ 71).53 Durch die Richtlinie 86/613 wurden die Grundsätze der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der Sozialen Sicherheit auch auf die bislang nicht erfaßten Selbständigen erstreckt mit der Konsequenz, daß den Ehegatten Selbständiger der freiwillige Beitritt zu Systemen Sozialer Sicherheit ermöglicht werden muß, und daß der Schutz der selbständig erwerbstätigen Frau während der Schwanger- und Mutterschaft zu gewährleisten und der Zugang zum Beruf und sozialen Diensten zu eröffnen ist.54 Die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung mit ihren Risikofällen Alter, Erwerbsunfähigkeit und Tod unter Zurücklassung von Ehegatten oder unterhaltsberechtigten Kindern wirft bei Selbständigen, die in einem anderen Mitgliedstaat leben oder früher in einem anderen Mitgliedstaat gelebt bzw. gearbeitet haben, EU-rechtliche Fragen sowohl hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Versicherungszeiten als auch des Leistungsexports auf.55 Das Grundprinzip ist dabei die Zusammenrechnung von sämtlichen in anderen Mitgliedstaaten verbrachten und für die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung erheblichen Zeiten für den Erwerb von Ansprüchen (Art. 37 ff., 44 ff. VO 1408/71 entsprechend Art. 6, 44 ff., 51 VO 883/2004). Für die Modalitäten der Zusammenrechnung, die den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Anspruchs, die Mindestdauer der Versicherungszeit, das Zusammentreffen von gleichen oder Leistungen unterschiedlicher Art, die Bemessung der Leistungshöhe bei Aufenthalt im Ausland und die Voraussetzungen des Leistungsbezugs und -exports bei gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland betreffen, legen die EU-Bestimmungen für die Rentenzahlungen an Arbeitnehmer und Selbständige differenzierte Regelungen fest.56 Die berufsständischen Versorgungswerke der Freien Berufe (Ärzte, Apotheker, Architekten, Notare, Rechtsanwälte, Steuerberater bzw. Steuerbevollmächtigte, Tierärzte, Wirtschaftsprüfer und Vereidigte Buchprüfer, Zahnärzte sowie psycho53 Zu den rechtlichen Kriterien der Selbständigkeit im koordinierenden Sozialrecht s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 76 f., 95 f., 105 ff. 54 s. zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in der Sozialen Sicherheit unter Einbeziehung der Selbständigen Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 214 ff., 221 ff. 55 Zur Alterssicherung Selbständiger in vergleichender Sicht s. Schnell, S. 88 ff., der wegen des Fehlens einer obligatorischen Alterssicherung in Deutschland auf die deutsche Sonderstellung in der Alterssicherung Selbständiger hinweist, während in anderen EU-Mitgliedstaaten für alle Erwerbsformen eine obligatorische Alterssicherung in zunehmender Anlehnung an das Sicherungsniveau, die Zugangs- und Leistungsvoraussetzungen für abhängig Beschäftigte besteht. 56 s. Eichenhofer, Sozialrecht der EU, S. 130 ff.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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logische Psychotherapeuten) als Institutionen der Alterssicherung wurden zum 1. 1. 2005 in die Verordnung 1408/71 einbezogen. Zuvor waren diese Versorgungswerke als auf Landesrecht beruhende soziale Sicherungssysteme „sui generis“ von den Regelungen der Verordnung ausgenommen (Art. 1 Buchst. j i.V.m. Anhang II VO 1408/71). Die Einbeziehung der Versorgungswerke erfolgte mit einer Verordnung zur Änderung der VO 1408/7157, obwohl die Nachfolge-Verordnung für die VO 1408/71, nämlich die VO 883/2004, bereits zum 20. 5. 2004 erlassen wurde. Diese VO galt aber zunächst noch nicht (Art. 91 S. 2 VO 883/2004), weil die Durchführungsverordnung erst 2009 verabschiedet wurde, was dazu führte, daß die VO 883/ 2004 zum 1. 5. 2010 in Kraft trat. Die Koordination der Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten regeln die Art. 52 bis 63 VO 1408/71 in Übereinstimmung mit Art. 36 bis 41 VO 883/ 2004 und stellen sicher, daß einem Selbständigen bei Arbeits- und Wegeunfällen und Eintritt einer Berufskrankheit die Versicherungsleistungen auch dann zustehen, wenn er außerhalb des zuständigen Staates in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet. Den einschlägigen Anspruch des Selbständigen auf Arbeitslosengeld regeln Art. 69 VO 1408/71, Art. 64 VO 883/2004 im Sinne eines zulässigen Leistungsexports, der auch für den Anspruch auf Familienleistungen (Art. 73 VO 1408/71, 67 VO 883/ 202004) gilt und darauf beruht, daß die in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Kinder bei Bezug von Familienleistungen so zu berücksichtigen sind, wie wenn sie im zuständigen Staat wohnten.58 Schwieriger als bei sozialen Geldleistungen stellen sich die Koordinierungsprobleme sowohl für die Leistungserbringung als auch den -bezug bei grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme oder -erbringung sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen dar. Während die Geldleistungen auch bezüglich Krankenund Mutterschaftsgeldes und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ebenso wie die EU-rechtlich als Leistungen der Krankenversicherung qualifizierten Pflegegeldleistungen den Regeln der Zusammenrechnung von in mehreren Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten folgen (Art. 18 VO 1408/71, 17 VO 883/2004), und von der EuGH-Rechtsprechung als exportfähige Geldleistungen qualifiziert wurden, war die grenzüberschreitende Inanspruchnahme und Erbringung medizinischer Behandlungs- und gesundheitsrelevanter Dienstleistungen – wie dargelegt – jahrelang Gegenstand juristischer Kontroversen und zahlreicher Entscheidungen des EuGH. Dies betrifft nicht nur die (aktive) freiberufliche Leistungserbringung, sondern auch die (passive) Leistungsempfängerperspektive des Heilberufsangehörigen, sofern er selbst oder seine Familienmitglieder gesundheitsrelevante Leistungen im EU-Ausland in Anspruch nehmen.
57 Ratsdokument v. 12. 5. 2004, 9656 basierend auf dem Kommissionsvorschlag v. 31. 7. 2003 (KOM (2003), 465 endg.). 58 Vgl. Eichenhofer,Sozialrecht der EU, S. 146 ff.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
3. Die Stellung freiberuflicher Selbstverwaltungsorganisationen in der europäischen Rechtsordnung a) Selbstverwaltungskörperschaften und europäisches Wettbewerbsrecht Zwei grundlegende Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Wouters59 und Arduino60 vom 19. 2. 2002 zeigen, daß die kartellrechtlichen Bestimmungen des EGVertrags nicht nur zu der Prüfung führen, inwieweit das nationale, auf dem Kollektivvertragsmodell beruhende Versorgungssystem mit den europäischen Vorgaben in Einklang zu bringen ist, sondern auch auf das nationale Berufsrecht einwirken und freiberufliche Selbstverwaltungsinstitutionen wie Ärzte-, Zahnärzte- oder Apothekerkammern mit der Frage konfrontieren, ob sie möglicherweise Kartelle darstellen und das den Standesorganisationen übertragene Satzungsrecht als mit dem gemeinsamen Binnenmarkt unvereinbar zu qualifizieren ist. Den berufsständischen Selbstverwaltungen deutscher Rechtstradition in Gestalt öffentlich-rechtlicher Körperschaften mit gesetzlich angeordneter Pflichtmitgliedschaft sind drei zentrale Aufgabenblöcke zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung durch staatliche Kompetenzverleihung zugewiesen, die sich sowohl vor nationalem Verfassungsrecht als auch dem europäischen Unionsrecht legitimieren müssen: • Berufsaufsicht im Sinne der Überwachung und Durchsetzung normativ vorgegebener Standards im öffentlichen Interesse, • Vertretung der Interessen der Berufsangehörigen im Rahmen von Gemeinwohlbelangen und sozialstaatlichen Bindungen, • umfassende Förderung beruflicher Belange des Berufsstandes wie Aus-, Fort- und Weiterbildung, Beratung und berufsspezifische Servicefunktionen. Die Kammern und K(Z)Ven als Träger funktionaler Selbstverwaltung üben eine gesellschaftspolitisch wichtige Mediationsfunktion zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen aus, indem sie im Sinne der Subsidiarität staatsentlastend, problem- und bürgernah zugleich Gemeinwohlaufgaben erfüllen und die Partizipation der betroffenen Berufsgruppen an politischen Entscheidungen organisieren. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Formen von Selbst- oder Gruppenregulierung in korporativen Strukturen für kompatibel mit den grundsätzlichen Anforderungen an demokratische Legitimationsstandards erklärt, soweit eine konkrete gesetzliche Ermächtigungsgrundlage und eine staatliche Aufsicht bestehen.61 59
Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577. Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-1529. 61 BVerfGE 33, 125; s. dazu Sodan, Grundgesetz, Art. 9 GG Rn. 7 m.w.N.; zur Selbstverwaltung in freiberuflichen Kammern und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Ausgestaltung s. Tettinger in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 2002, S. 68 ff.; Hellwig AnwBl 4/2007, 257 ff. 60
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Die Zulässigkeit von auf Pflichtmitgliedschaft und Beitragspflicht beruhenden Körperschaftssystemen der Heilberufe wie Kammern oder K(Z)Ven muß sowohl vor dem Diskriminierungsverbot des Art. 50 AEUV (ex-Art. 43 EGV) Bestand haben, der Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates im Hoheitsgebiet eines anderen EU-Staates grundsätzlich verbietet, als auch mit dem von der EuGH-Rechtsprechung entwickelten Beschränkungsverbot62 rechtskonform sein, wonach Art. 50 AEUV (ex-Art. 43 EGV) grundsätzlich jeder Regelung entgegensteht, die zwar keine diskriminierende Wirkung hat, jedoch geeignet ist, die Ausübung der Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen einschließlich der Staatsangehörigen des Mitgliedstaates, der die Regelung erlassen hat, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.63 Hiervon ausgehend ist in der gesetzlichen Anordnung der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragspflicht in einer berufsständischen Körperschaft formalrechtlich eine Behinderung der Niederlassungsfreiheit zu sehen, denn sie führt aufgrund der daraus resultierenden Verpflichtungen, insbesondere auch der Beitragspflicht, zu einer Belastung der Berufsangehörigen.64 Allerdings kann eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt sein, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeinwohls entspricht, geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Zielerreichung erforderlich ist.65 Diese Voraussetzungen sind bei der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragspflicht in den Heilberufen gegeben.66 Nach den einschlägigen Heilberufs- und Sozialgesetzen haben die Heilberufskörperschaften unter Beachtung der Interessen des Gemeinwohls Aufgaben zu erfüllen, die über die Wahrnehmung rein beruflicher Belange der Mitglieder hinaus gerade auch im Allgemeininteresse der Gesundheitspflege und –versorgung liegen, angefangen bei der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Berufsausübung über die Qualitätssicherung bis hin zur Mitwirkung bei Prävention, Förderung und Schutz der Gesundheit.67 Wenn der Staat sich zur Verwirklichung der vorgenannten Aufgaben bzw. Ziele dafür entscheidet, diese mit Hilfe berufsständisch organisierter Selbstverwaltungseinrichtungen zu verfolgen, um auf diesem Weg ein möglichst hohes Maß an Sachnähe und Kompetenz durch Bündelung des Sachverstands der Berufsangehörigen zu gewinnen, so entspricht es zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, über eine 62
Vgl. EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. Corsten C-58/98, Slg. 2000, I-7919. EuGH v. 31. 3. 1993, Rs. Kraus C-19/92; EuGH v. 30. 11. 1995, Rs. Gebhard C-55/94, Slg. 1995, I-4165. 64 Zur EU-rechtlichen Zulässigkeit von Pflichtmitgliedschaft mit Beitragspflicht s. Diefenbach, GewArch 2006, 217 ff. 65 s. EuGH v. 31. 3. 1993, Rs. Kraus C-19/92; EuGH v. 30. 11. 1995, Rs. Gebhard C-55/94, Slg. 1995, I-4165. 66 Vgl. Boecken, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, 2008, S. 59 ff., 60. 67 Zur EU-rechtlichen Zulässigkeit der Pflichtmitgliedschaft in einer Tierärztekammer s. EuGH v. 22. 9. 1983, Rs. C-271/82. 63
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Pflichtmitgliedschaft mit Beitragspflicht die Einbindung aller Berufsstandsangehörigen bei der Wahrnehmung (auch) der öffentlichen Aufgaben sicherzustellen.68 Die Pflichtmitgliedschaft und Beitragserhebung in den Heilberufskörperschaften als eine die grundrechtliche Berufsfreiheit ebenso wie die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit beschränkende Maßnahme sind auch verhältnismäßig. Sie sind ein geeignetes Mittel, um über den Weg berufsständischer Selbstverwaltung auch die Wahrnehmung von im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben zu verwirklichen. Die Erforderlichkeit ergibt sich daraus, daß die staatsentlastende und gemeinwohlerforderliche Fruchtbarmachung des berufsständischen Sachverstandes über eine allein freiwillige Mitgliedschaft nicht zu gewährleisten wäre und im übrigen eine umfassende und flächendeckende Aufgabenwahrnehmung nicht sichergestellt werden könnte. Schließlich ist die korporative Pflichtmitgliedschaft auch für den einzelnen Heilberufsangehörigen zumutbar, zumal ihm dadurch die Möglichkeit der Mitwirkung an öffentlicher Aufgabenwahrnehmung eröffnet wird.69 Es ist insofern davon auszugehen, daß die aus der Pflichtmitgliedschaft und Beitragsbelastung in den Berufskörperschaften der Heilberufe resultierende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit unionsrechtlich zulässig ist.70 Auch das Proprium freiberuflicher Selbstverwaltung, autonome Rechtsvorschriften für die Berufsregelungen mit zum Teil wettbewerbsrelevanten Auswirkungen erlassen zu dürfen, wird zunehmend nicht nur am Maßstab des nationalen Verfassungs-, sondern auch des europäischen Unionsrecht überprüft. Insbesondere hatte der EuGH die Frage zu klären, ob eine berufsständische Selbstverwaltungsorganisation als „Unternehmen“ bzw. als „Unternehmensvereinigung“ zu qualifizieren ist und inwieweit Standesregularien im Hinblick auf Wettbewerbswirkungen europarechtskompatibel sind.71
68 Zu diesen ein Pflichtkammersystem europarechtlich legitimierenden Funktionskriterien s. Diefenbach, GewArch 2006, 217 ff., 221. Daß dies auch für die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Altersversorgungseinrichtung gilt, hat der EuGH in der Rs. Pavlov u. a., C180 bis 184/98, Slg. 2000, I-6497 entschieden. S. dazu Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 58, 75. 69 Vgl. Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff., 70. 70 Ebenso Boecken, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 59 ff., 62 mit dem Hinweis, daß die EU-rechtliche Zulässigkeit einer Mitgliedschaft mit Beitragspflicht in Berufskörperschaften anders zu beurteilen wäre, wenn auch solche Berufsangehörigen aus anderen Mitgliedstaaten einbezogen würden, die im Zuständigkeitsbereich einer Heilberufskörperschaft lediglich von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen wollen. 71 s. dazu Kilian, WRP 2002, 802 ff.; Tettinger, NwVBl 2002, S. 20 ff.; Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, 94 ff.; Boecken, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, 59 ff.; Koenig/Beer, ZESAR 2002, 54 ff.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Im dem Verfahren Wouters72 wollte ein niederländischer Rechtsanwalt mit Wirtschaftsprüfern eine Sozietät gründen. Dieses Vorhaben verstieß gegen eine in den Niederlanden bestehende Verordnung über die Zusammenarbeit von Rechtsanwälten mit Angehörigen anderer Berufe (Zusammenarbeits-Verordnung von 1993), die von der Satzungsversammlung der nationalen Rechtsanwaltskammer der Niederlande kraft gesetzlicher Ermächtigung erlassen und vom Justizminister überprüft werden kann. Ein Antrag des Rechtsanwalts Wouters, eine entsprechende Sozietät zu gründen, wurde von der zuständigen Anwaltskammer aufgrund dieser Verordnung abgelehnt. Nachdem eine dagegen gerichtete Klage erstinstanzlich erfolglos blieb, wurde der Rechtsstreit dem EuGH vorgelegt, um klären zu lassen, ob die Zusammenarbeits-Verordnung mit europäischem Kartellrecht vereinbar ist. Ausgangspunkt der Entscheidung des EuGH war die Frage der Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Wettbewerbsregelungen der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV). Hierzu stellt der EuGH fest, daß eine Verordnung über die Zusammenarbeit zwischen Rechtsanwälten und Angehörigen anderer Freier Berufe, die von einer Einrichtung wie der niederländischen Rechtsanwaltskammer erlassen wurde, als Beschluß einer Unternehmensvereinigung im Sinne von Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 1 EGV) anzusehen ist. Obwohl der EuGH somit an sich die wettbewerbsbeschränkenden Voraussetzungen des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) als erfüllt ansah, wurde die Regelung nicht nach Art. 101 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 2 EGV) als nichtig betrachtet, sondern einer im EG-Vertragstext nicht vorgesehenen immanenten Beschränkung des Tatbestandes des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) unterworfen.73 Das Gericht führt aus, daß nicht jede Vereinbarung zwischen Unternehmen oder jeder Beschluß einer Unternehmensvereinigung, durch die die Handlungsfreiheit Dritter beschränkt wird, automatisch vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 1 EGV) erfaßt werden. Bei der Anwendung dieser Vorschrift im Einzelfall seien nämlich der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Beschluß zustande gekommen ist oder seine Wirkung entfaltet, und insbesondere dessen Zielsetzung zu würdigen. Der EuGH erkennt somit in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung zur Dienst- und Warenverkehrsfreiheit auch für Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) einen nicht normierten Gemeinwohlvorbehalt an und unterwirft die zu prüfende Maßnahme einer Abwägung mit Gemeinwohlinteressen. Im Zusammenhang mit dem niederländischen Sozietätsverbot führt der EuGH aus, daß dieses möglicherweise der Erhaltung eines ausreichenden Wettbewerbs auf dem Markt für juristische Dienstleistungen dienen könnte, weil Rechtsanwälte berufsrechtlich verpflichtet seien, Interessenkonflikte zu vermeiden und das Berufsgeheimnis zu wahren, was für Wirtschaftsprüfer nicht in gleicher Weise gelte. Daher sei das Zusammenarbeits72
Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577. Zu einer solchen tatbestandsimmanenten Grenze des Verbots wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens als einer Art „rule of reason“ s. Kilian, WRP 2002, 804 ff.; Römermann/ Wellige, BB 2003, 633, 636; Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff., 98. 73
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
verbot ein taugliches Mittel, um diese Berufspflichten zu wahren und die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs sicherzustellen. Im Fall Arduino74 ging es um die Rechtmäßigkeit der italienischen Gebührenordnung für Rechtsanwälte, die vom Nationalen Anwaltsrat entworfen wurde und nach Genehmigung durch den Justizminister in Kraft trat. Bei der Festsetzung der zu erstattenden Kosten wich das Gericht in dem zu entscheidenden Fall von der genehmigten Gebührenordnung zu Ungunsten des Anwaltes eines Nebenklägers ab. Nachdem im Rechtsmittelverfahren eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht erfolgte, setzte dieses das Verfahren aus und legte es dem EuGH zur Klärung der Frage vor, ob die Gebührenordnung in den Geltungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts fällt. Während in der deutschen Rechtsordnung das Berufsrecht, zumindest soweit es verfassungsgemäß ist, nach herrschender Meinung die Anwendbarkeit des Kartellrechts ausschließt, ist dies europarechtlich zum Teil noch ungeklärt. Die Angehörigen Freier Berufe wie Rechtsanwälte, Ärzte oder Zahnärzte werden im Hinblick auf den weiten Unternehmensbegriff, den der EuGH Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) zugrunde legt, von diesem als Anbieter von Dienstleistungen gegen Entgelt und damit als Unternehmen qualifiziert, unabhängig davon, welches Maß an intellektuellen Fähigkeiten und Verantwortung oder Regelungskomplexität mit der betreffenden Leistung verbunden ist.75 Ob dies nicht nur für die einzelnen Berufsangehörigen, sondern auch für die Selbstverwaltungskörperschaften gilt, bejaht der EuGH, indem er sie als Unternehmensvereinigungen betrachtet, deren Zweck u. a. darin besteht, die Belange ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Die Tatsache, daß es sich bei den Berufskammern um Körperschaften des öffentlichen Rechts handelt, die im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben wahrnehmen, steht dem nicht entgegen, weil die Kammer als Organ zur Regelung eines Berufes handle, dessen Ausübung eine wirtschaftliche Tätigkeit darstelle. Die Berufskammern seien zudem beim Erlaß von Rechtsvorschriften nicht verpflichtet, bestimmte Kriterien des Allgemeininteresses zu berücksichtigen, so daß sie zum Teil auch ausschließlich für Belange der Berufsangehörigen tätig werden. Daher müssen auch die Berufskammern sich grundsätzlich am Maßstab des Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) messen lassen: In dem Fall allerdings, in dem ein Mitgliedstaat bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an einen Berufsverband Kriterien des Allgemeininteresses und wesentliche Grundsätze festlegt, die bei der Satzungsgebung zu beachten sind, und zudem die Letztentscheidungsbefugnis behält, bleiben die berufsrechtlichen Normen staatliche Regeln und unterliegen nicht den Vorschriften des europäischen Kartellrechts. Werden diese Vorgaben nicht eingehalten, sind die Regelungen allein dem Berufsverband zuzurechnen und fallen folglich vollständig unter die Bestimmungen der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV).
74 75
Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-1529. EuGH v. 12. 09. 2000, Rs. C-189/98 und Rs. C-184/98.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Während im Fall Wouters die niederländische Regelung nicht diesen vom EuGH aufgestellten Grundsätzen genügte, weil die Satzungsversammlung der Anwaltskammer uneingeschränkt zum Satzungserlaß ermächtigt worden war, ohne in besonderer Weise auf Gemeinwohlbelange verpflichtet zu sein, und die Letztentscheidungskompetenz für die Inkraftsetzung der berufsrechtlichen Regelungen nicht in staatlicher Hand lag, gelangt der EuGH in der Rechtssache Arduino zu einem anderen Ergebnis, weil hier die von der Anwaltskammer beschlossene Gebührenordnung keine direkte Bindungswirkung entfaltete, sondern erst mit der Genehmigung des Justizministers in Kraft trat. Dem Staat verblieb somit die geforderte Letztentscheidungsbefugnis. Aber auch dann, wenn sich der Staat die Letztentscheidungskompetenz vorbehält und die Regelungen somit grundsätzlich als staatliche Maßnahmen einzuordnen sind, ist nach der Rechtsprechung ausnahmsweise noch ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) denkbar. Der Gerichtshof leitet aus Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) in Verbindung mit dem Gebot der Gemeinschaftstreue des seinerzeitigen Art. 10 Abs. 2 EGV, des jetzigen Art. 4 Abs. 3 EUV, ab, daß es Mitgliedstaaten verboten ist, Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten. In der Rechtssache Consorzio Industrie Fiammiferi76 hat der EuGH für Recht erkannt, daß eine nationale Wettbewerbsbehörde in den Fällen, in denen sich Unternehmen wettbewerbswidrig verhalten und dieses Verhalten durch nationale Gesetze vorgeschrieben oder erleichtert wird, die selbst gegen Art. 101, 102 AEUV (exArt. 81, 82 EGV) verstoßen, verpflichtet ist, dieses nationale Gesetz unangewendet zu lassen und Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) Wirkung zu verleihen. Wenn die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, ein solches wettbewerbswidriges Gesetz nicht anzuwenden, Bestandskraft erlangt hat, kann dieses Gesetz nicht mehr als Rechtfertigungsgrund für einen Ausnahmetatbestand oder einen Wettbewerbsverstoß angeführt werden. Dieser Fall ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder die Auswirkungen solcher Absprachen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, daß er die Verantwortung für eine in die Wirtschaft eingreifende Entscheidung privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt. Ein solcher Verstoß ist nach der Arduino-Entscheidung bei der Übertragung der Regelungsbefugnis auf Berufskammern dann nicht gegeben, wenn die Mitglieder des Berufsverbandes nicht nur berufsständische Belange, sondern auch das Interesse der Allgemeinheit zu berücksichtigen haben. Die Anwendung dieser gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze auf die Satzungen der deutschen Standesorganisationen der Freien Berufe, insbesondere die Berufsordnungen der Heilberufe, führt zu dem Ergebnis, daß – ausgehend von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts aufgrund des Art. 101 AEUV (ex76
Rs C-198/01, Slg.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Art. 81 EGV) – der Umfang und Grad der Erstreckung des Unionsrechts davon abhängig sind, inwieweit sich der Staat bei Erlaß von autonomer Satzungshoheit die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält. Je stärker der staatliche Einfluß und je geringer die Selbstverwaltungsautonomie ist, desto eher sind die Organisation und ihr Handeln dem Staat zuzuordnen und damit dem Wettbewerbsrecht entzogen.77 Während die Berufsregelungen rechtsberatender Berufe überwiegend in förmlichen Bundesgesetzen (z. B. BRAO und RVG für Rechtsanwälte) geregelt sind und als staatliche Handlungen grundsätzlich nicht dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen, sondern sich lediglich an dem vom EuGH aus Art. 101 AEUV (exArt. 81 EGV) in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 Abs. 2 EGV) abgeleiteten Verbot staatlicherseits initiierter Kartellabsprachen messen lassen müssen, liegt die Gesetzgebungskompetenz für Berufsausübungsregelungen der Heilberufe nicht beim Bund, sondern bei dem jeweiligen Landesgesetzgeber. Dementsprechend haben die Länder Heilberufs- oder Kammergesetze erlassen, in denen die Errichtung der Ärzte-, Apotheker-, Tierärzte- und Zahnärztekammern normiert wird. In diesen Gesetzen finden sich in der Regel auch die grundlegenden Berufspflichten der verschiedenen Kammerangehörigen wieder (vgl. z. B. §§ 29 f. HeilBerG NW). Für weitere Berufspflichten sehen die Heilberufs- und Kammergesetze eine Ermächtigung vor, wonach die Kammern in einer Berufsordnung nähere Rechte und Pflichten bestimmen können, die zum Teil enumerativ in den Kammergesetzen geregelt sind. Nach Erlaß der Berufsordnungen sind diese von der zuständigen Aufsichtsbehörde zu genehmigen (so z. B. nach § 31 Abs. 2 HeilBerG NW). Es handelt sich zwar hierbei um einen echten Genehmigungsvorbehalt, dennoch wird in Frage gestellt, ob dadurch den Anforderungen, die der EuGH an die Letztentscheidungsbefugnis stellt, genügt wird, soweit es sich auch hier um eine bloße Rechtsaufsicht handelt. Die Aufsichtsbehörden haben grundsätzlich keine inhaltliche Mitentscheidungsbefugnisse oder Möglichkeiten der Zweckmäßigkeitsaufsicht, was die Autonomie der Satzungsgeber erheblich beeinträchtigen würde. Bei der zulässigen italienischen Gebührenordnung in der Rechtssache Arduino hatten die staatlichen Stellen aber „sowohl in der Ausarbeitungs- als auch in der Genehmigungsphase“ entscheidende Bedeutung.78 Am Maßstab des Erfordernisses der Letztentscheidungskompetenz betrachtet, wonach eine Regelung nur den wettbewerbsrechtlichen Vorgaben entzogen sein soll, wenn der Staat umfassende Überprüfungsmöglichkeiten hat und die Regelung aus diesen Gründen eher als eine dem Staat zuzuschreibende Vorschrift als die einer Unternehmensvereinigung erscheint, könnte eine bloße Rechtsaufsicht europarechtlich möglicherweise nicht ausreichen, um die ärztlichen und zahnärztlichen Berufsordnungen vor den europäischen Wettbewerbsvorschriften bestehen zu las77 Vgl. Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff., 98 f.; Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff., 73. 78 Vg. Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff., 73; ders., NwVBl 2002, 20 ff.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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sen.79 Immerhin hat die EuGH-Rechtsprechung klargestellt, daß ein Mitgliedstaat bei der Regulierung eines Freien Berufes durch Berufsrecht und Honorarordnungen eine selbstverwaltete Berufsorganisation einschalten kann, sofern die zentralen Vorgaben auf gesetzlicher Basis formuliert und hinreichende Kontrollmechanismen vorgesehen sind. Auch in zwei weiteren Entscheidungen in der Rechtssache Cipolla80 und Macrino81 hat der EuGH die europarechtliche Zulässigkeit von Gebührenordnungen für Rechtsanwälte mit der Begründung bejaht, Mindesthonorare dienten dem Schutz der Verbraucher und der Rechtspflege unter dem Aspekt der Qualität der Dienstleistung.82 Die einzelnen berufsrechtlichen Vorgaben, die die jeweiligen Berufsordnungen der Heilberufe enthalten, müssen im übrigen nach der geschilderten WoutersRechtsprechung auch dann nicht zur Unwirksamkeit nach Art. 101 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 2 EGV) führen, wenn sie ansonsten grundsätzlich geeignet sind, eine Wettbewerbsbeschränkung zu bewirken. Als wettbewerbsbeschränkend können solche berufsrechtlichen Normen angesehen werden, die geeignet sind, ein autonomes Verhalten des einzelnen Freiberuflers als Unternehmer restriktiv zu begrenzen. Dies betrifft Regelungen wie interprofessionelle Zusammenarbeitsverbote oder sonstige Einschränkungen von Berufsausübungsgemeinschaften bzw. Werbeverbote. Hierbei müßte sich jede einzelne Norm entsprechend der vom EuGH in der Entscheidung Wouters aufgestellten „rule of reason“ einer Verhältnismäßigkeitsprüfung und einer Abwägung dahingehend unterziehen, ob Gemeinwohlbelange das Interesse an einem freien Wettbewerb verdrängen.83 Eingriffe in die Wettbewerbsfreiheit werden in der Regel insbesondere mit der Eigenschaft der Heilberufsangehörigen als Freiberufler legitimiert werden können, die kein Gewerbe betreiben und sich zur Wahrung der Unabhängigkeit und des besonderen Vertrauensverhältnisses zu den Patienten bestimmten Einschränkungen unterwerfen müssen. Der EuGH hat in der Wouters-Entscheidung das Berufsgeheimnis eines Freiberuflers sowie dessen Unabhängigkeit bei der Ausübung des Berufs als Gemeinwohlinteresse anerkannt. Ob dies allerdings in jedem Fall ausreichen wird, um eine Einschränkung der Wettbewerbsfreiheit zu rechtfertigen, bleibt einer Einzelbetrachtung der berufsrechtlichen 79 s. dazu Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff., 98 f.; Kilian, WRP 2002, 802, 807 f.; Sosnitza, EWS 2002, 460 ff. 80 Rs. C-94/04. 81 Rs. C-202/04. 82 s. dazu Boecken, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 58 ff., 67 f. im Hinblick auf Gebührenordnungen der Heilberufe, die wie z. B. die zahnärztliche GO-Z Höchst- und Mindestsätze vorschreiben, wodurch der Patient einerseits vor überhöhten Preisen geschützt und die Asymmetrie der Informationsverteilung im Arzt-Patienten-Verhältnis zugunsten des Verbraucherschutzes und der Transparenz zumindest gemildert, andererseits die Einhaltung von Qualitätsstandards im Interesse des Patientenschutzes gefördert werden. 83 s. dazu die Hinweise bei Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff., 97 f.; Kilian, WRP 2002, 802, 810; Römermann, BB 2002, 633, 637; Sosnitza, EWS 2002, 460, 465.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Regelungen mit wettbewerbsbeschränkender Wirkung vorbehalten. Ein relevantes Kriterium ist dabei unter Verhältnismäßigkeitsaspekten die Schwere der Wettbewerbsbeschränkungen und die Frage, ob nicht die entsprechenden Gemeinwohlziele durch weniger einschneidende Maßnahmen geschützt werden können.
b) Die Rolle der Heilberufsorganisationen für die Versorgungsstrukturen Freie Heilberufe und deren berufsständische Selbstverwaltungsinstitutionen sind in vielfältiger Organisationsstruktur und Kompetenzzuweisung in die Leistungserbringung der europäischen Gesundheitssysteme und speziell auch der Krankenversicherung involviert.84 Dies gilt paradigmatisch insbesondere für das stark korporatistisch geprägte deutsche Krankenversicherungssystem, das mit den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen spezifische öffentlich-rechtliche Leistungserbringerorganisationen vorhält, die in Kollektivverträgen mit den gesetzlichen Krankenkassen die Versorgung der Versicherten sicherstellen (§ 72 SGB V). Die Kassenärztlichen Vereinigungen erfüllen als genossenschaftliche Zusammenschlüsse der Ärzte und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen als zahnärztliche Organisationen einen Sicherstellungsauftrag als Vertragspartner der Krankenkassen durch die zugelassenen (Zahn)Ärzte, Psychotherapeuten und Medizinische Versorgungszentren (§ 75 SGB V). Dieser wird über die Versorgung der gesetzlich Versicherten hinaus auf weitere Personengruppen wie Heilfürsorgeberechtigte und bis auf Privatversicherte in einem Standard- oder Basistarif ausgedehnt. Die Pflicht der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen, gegenüber den Krankenkassen die Gewähr dafür zu übernehmen, daß die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht, ergänzt den Sicherstellungsauftrag in Form komplexer Überwachungsmechanismen einer flächendeckenden qualitätsgesicherten wirtschaftlichen Versorgung, die durch Vergütungsregelungen, Bedarfsplanungsinstrumente und ein Netzwerk von Selbstregulierungsinstrumentarien und gemeinsamen Institutionen mit den Krankenkassen flankiert wird.85 Aber auch andere berufsständische Organisationen der Heilberufe sind in die Leistungserbringung der Krankenversicherung einbezogen. Dies gilt einmal für die Versorgungs- und Vertragskonstellationen, die durch Einschränkung des Sicherstellungsmonopols der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (s. §§ 73a Abs. 4, Satz 5, 73c Abs. 3 Satz 4, 140a SGB V) den Krankenkassen den Abschluß von Selektivverträgen mit einzelnen Vertragsärzten oder Ärztegemein84 s. dazu Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997; Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff.; B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 23 ff. 85 Zu Bedeutung und Umfang des Sicherstellungsauftrags s. B. Tiemann, in: ders./Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung in Deutschland, S. 40 ff.; Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, S. 12 ff., 70 f., 77, 333 f.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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schaften bzw. -verbänden ermöglichen (§§ 63 ff., 73b, 73e, 140a ff. SGB V).86 Insbesondere in der hausärztlichen Versorgung (§ 73a) und den integrierten Versorgungsstrukturen (§§ 140a ff. SGB V) treten damit neben den öffentlich-rechtlichen Körperschaften87 private Akteure in Erscheinung, deren Verhältnis zum Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen noch ungeklärt ist, sowie private Dienstleistungsgesellschaften der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen (§ 77a SGB V), die Beratungsleistungen beim Abschluß und der Abwicklung von Verträgen mit Krankenkassen, wirtschaftliche Beratung der Vertragsärzte oder Verwaltungsaufgaben für Praxisnetze übernehmen können. Die Pluralität versorgungsstruktureller Organisationsformen wird dadurch ergänzt, daß in der Arzneimittelversorgung die Rahmenverträge der Krankenkassen mit der „für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Organisation der Apotheker“ (§ 129 SGB V) geschlossen und durch Mitgliedschaft oder Betritt von Apotheken verbindlich werden. Die privatrechtlich organisierte Spitzenorganisation der Apotheker handelt beim Vertragsschluß über die Arzneimittelversorgung, einem öffentlich-rechtlichen Vertrag mit normativer Wirkung, als Beliehener.88 Auch die ärztlichen und zahnärztlichen Berufskammern sind in das Krankenversicherungssystem integriert. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung von Bundesärztekammer und Bundeszahnärztekammer in die Erarbeitung von Richtlinien und Beschlüssen zur Qualitätssicherung (§ 137 Abs. 3 SGB V) sowie deren Umsetzung (§ 137a SGB V) und die Mitwirkung bei der Regelung des Umfangs der vertragsärztlichen Fortbildungspflicht (§ 95d SGB V). Die Gemengelage von öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die wie Kassenärztliche Vereinigungen und Kammern unterschiedlichen Rechtskreisen der bundesgesetzlichen Sozialgesetzgebung bzw. des landesrechtlichen Heilberufsrechts angehören, und das Hinzutreten privatrechtlich organisierter Leistungserbringer, die zum Teil, wie private Ärzteorganisationen, mit den Körperschaften konkurrieren, zum Teil die körperschaftliche Verbandskompetenz in Gestalt von Dienstleistungsgesellschaften erweitern, hat die wettbewerbsrechtlichen Phänomene auf nationaler und europäischer Ebene (noch) komplexer werden lassen. Dies auch im Hinblick darauf, daß der deutsche Gesetzgeber durch die im GKV-WSG erfolgte Einführung des § 69 Satz 2 SGB V das allgemeine Wettbewerbsrecht (§§ 19 bis 21 GWB) insbesondere für Einzelverträge erschlossen hat,89 wobei unionsrechtliche Konsequenzen dieser aktuellen Entwicklung zum großen Teil noch offen sind.90 86
Zum Wandel des Sicherstellungsauftrags im Zeichen von Vertragswettbewerb und Selektivverträgen s. Möschel, MedR 2003, 133 ff.; Muschallik, MedR 2003, 139 ff.; Wigge/ Harney, MedR 2008, 139; Hess, MedR 2003, 137 ff.; zur Sicherstellung der Versorgung durch Medizinische Versorgungszentren s. Ziermann, MedR 2004, 540 ff. 87 s. dazu v. Schwanenflügel, NZS 2006, 285 ff.; Rehborn, VSSR 2004, 157 ff.; Kluth, MedR 2003, 123; Orlowski (S. 124 ff.), Kingreen/Temizel (S. 134 ff.), Schirmer (S. 143 ff.), in: ZMGR 2009. 88 Vgl. Butzer/Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 129 Rn. 12. 89 s. dazu Huster, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 69 Rn. 18 ff.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Wouters91 und Arduino92 sowie Cipolla93 zeigen, daß die kartellrechtlichen Bestimmungen des EGV bzw. AEUV nicht nur zu der Prüfung führen, inwieweit das nationale Versorgungssystem mit den europäischen Vorgaben in Einklang zu bringen ist, sondern auch auf das nationale Berufsrecht einwirken und freiberufliche auf Pflichtmitgliedschaft beruhende berufsständische Organisationen wie Kassenärztliche Vereinigungen, Kassenzahnärztliche Vereinigungen, Ärzte-, Zahnärzte- oder Apothekerkammern mit der Frage konfrontieren, ob sie möglicherweise Kartelle darstellen und das den Standesorganisationen übertragene Normsetzungsrecht durch Satzungen, Richtlinien oder Normativverträge als mit dem gemeinsamen Binnenmarkt unvereinbare Wettbewerbsbeschränkung zu qualifizieren ist.94 Dies betrifft insbesondere Gebührenordnungen, die in Deutschland anders als in manchen anderen europäischen Ländern als staatliche Rechtsverordnungen erlassen werden und nicht nur für die Private Krankenversicherung als Vergütungsregelung von Bedeutung sind, sondern über Standardund Basistarife (§§ 75 Abs. 3a, 257 Abs. 2 SGB V, 12 Abs. 1a VAG)95 oder Wahl der Kostenerstattung durch den Versicherten (§ 13 Abs. 2 SGB V) und Mehrkostenvereinbarungen bei zahnärztlicher Füllungstherapie (§ 28 Abs. 2 SGB V) bzw. Zahnersatz (§ 55 Abs. 4 SGB V)96 mit den vertrags(zahn)ärztlichen Gebührenordnungen verknüpft sind. Aber auch berufsrechtliche Regelungen bezüglich Werbung, Fortund Weiterbildung, Berufsausübungs- und Gesellschaftsformen sind hiervon tangiert, die zum großen Teil in Selbstverwaltungsautonomie berufsständischer Körperschaften getroffen werden. Das BVerfG hat solche Formen von Selbst- oder Gruppenregulierung in funktionaler Selbstverwaltung für verfassungslegitim im Hinblick auf die grundgesetzlichen Anforderungen an demokratische Legitimationsstandards erklärt, soweit eine konkrete gesetzliche Ermächtigungsgrundlage besteht und die staatliche Aufsicht gesichert ist.97 Diese Grundsätze bilden auch die Legitimationsbasis für die europarechtliche Einordnung von Selbstverwaltungsfunktionen.
90
s. dazu Pitschas (S. 7 ff.) und Rixen (S. 53 ff.) in: Sozialrecht in Europa. Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577. 92 Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-529. 93 Rs. C-94/04, Slg. 2006, I-11421. 94 s. dazu Koenig/Schreiber, GesR 2008, 561 ff., die sämtliche Tätigkeiten der K(Z)Ven als „unternehmerisch“ im Sinne des wettbewerbsrechtlichen Unionsrechts qualifizieren, sowie die entgegengesetzte Auffassung von Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff., 63, der lediglich den Beratungsgesellschaften der KVen nach § 77a SGB V Unternehmenscharakter zuspricht. 95 s. dazu Sodan/Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 21 ff.; ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007. 96 Zu privatversicherungsrechtlichen Elementen in der Gesetzlichen Krankenversicherung am Beispiel der vertragszahnärztlichen Versorgung s. B. Tiemann, ZMGR 2005, 14. 97 BVerfGE 33, 125; 107, 59 sowie die Hinweise oben 2. Kap. I. 4.; 3. Kap. I. 3. a). 91
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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c) Auswirkungen der Deregulierung auf die Freien Heilberufe und ihre Selbstverwaltung Nicht nur die Rechtsprechung des EuGH stellt die Berufsregeln Freier Berufe und ihrer Selbstverwaltungsorganisation auf den Prüfstand des europäischen Wettbewerbs. Insbesondere die Europäische Kommission wendet sich in ihrer Rolle als Wettbewerbshüterin verstärkt den Wettbewerbsstrukturen des Dienstleistungssektors zu und propagiert eine Deregulierung der berufsständischen Normsetzung. Der Europäische Rat verabschiedete bereits im März 2000 ein wirtschaftliches Reformprogramm, dessen wesentlicher Bestandteil die „Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor“ mit dem Ziel der Schaffung eines einwandfrei funktionierenden Binnenmarktes für alle Dienstleistungsanbieter ist. Die Kommission hat im Juli 2002 in einem Bericht zum „Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen“98 eine umfassende Bestandsaufnahme der im Binnenmarkt weiter bestehenden Hindernisse für grenzüberschreitende Dienstleistungen vorgenommen. In diesem Bericht werden u. a. angebliche bei den Freien Berufen vorzufindende „Markthindernisse“ moniert. Hierzu gehören neben den Tarif- und Gebührenordnungen auch Gebietsmonopole sowie Regelungen zu beruflichen Qualifikationen, Haftungsregeln und Finanzkontrollmechanismen. Auf jeden Fall dürften die berufsständischen Regeln nicht dazu führen, daß der Wettbewerb und die Niederlassungsfreiheit unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Deutschland gehöre in dieser Hinsicht aber gerade zu den Mitgliedstaaten mit dem höchsten Regulierungsgrad und den restriktivsten Beschränkungen des Marktzugangs. Ohne eine neue Binnenmarktstrategie bzw. ohne Abbau nationaler Schranken im Dienstleistungsbinnenmarkt, so der Bericht, sei die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft nicht zu steigern. Deshalb soll künftig in jedem Staat eine nationale Stelle darüber wachen, daß das europäische Recht korrekt angewandt wird. Auch im Kontext der EU-Berufsqualifikationsrichtlinie, der Dienstleistungsrichtlinie und der seit einigen Jahren diskutierten Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, mit denen u. a. die Niederlassungs- und Verhaltensregeln für Freie Berufe liberalisiert werden sollen, geraten traditionelle berufspolitische Vorschriften wie etwa Pflichtmitgliedschaft in Kammern und Standesorganisationen sowie Gebührenordnungen und Werbeverbote ins „Fadenkreuz“ des europäischen Wettbewerbsrechts,99 dem sich aber auch vertrags(zahn)ärztliche Regelungen und marktrelevante Aktivitäten der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen wie Bedarfsplanung, Gesamtverträge, Bewertungsmaßstäbe stellen müssen. Die Initiativen der Kommission zielen darauf ab, die gerade auch in Deutschland noch zahlreich vorhandenen rechtlichen und verwaltungstechnischen „Marktabschottungen“ soweit wie möglich zu beseitigen und die Berufsfelder der Freien Berufe dem Binnenmarkt für Dienstleistungen zu unterwerfen. 98 99
KOM (2002), 441 endg. v. 30. 7. 2002. So eine Formulierung bei Sosnitza, EWS 2002, 460.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Die berufsständischen Normsetzungen sollen nach dem Willen der Kommission künftig nur noch dann europarechtlichen Bestand behalten, wenn sie aus Gründen des Gesundheits- und Verbraucherschutzes oder der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen sind. Wiewohl bei solchen Abwägungsprozessen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit eine hohe Priorität eingeräumt wird, besteht durchaus ein Risiko, daß hier tradierte und bewährte Verfahren bzw. Strukturen unter Rechtfertigungsdruck geraten, zumal die Kommission immer wieder darauf hinweist, daß das Regulierungsniveau bei den Freien Berufen durch staatliche Reglementierung und Selbstverwaltungsregelungen höher als im sonstigen Dienstleistungsbereich sei und trotz gewisser Deregulierungsbestrebungen in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung stehe. Als Hüterin des Vertrages sieht es die Kommission als ihre Aufgabe an, die Märkte laufend zu überwachen und, wenn dies notwendig und gerechtfertigt ist, Maßnahmen vorzuschlagen, um auf diese Weise dafür zu sorgen, daß der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird. Um die verschiedenen Regulierungssysteme und ihre wirtschaftlichen Folgen systematisch zu erfassen, gab die Generaldirektion Wettbewerb eine Studie über die wirtschaftlichen Auswirkungen einzelstaatlicher Regelungen für Freie Berufe in Auftrag, die vom Institut für Höhere Studien, Wien, durchgeführt und 2003 vorgelegt wurde und an die sich weitere Folgestudien europäischer Hochschuleinrichtungen anschlossen.100 Auf der Grundlage von Fallstudien wurden spezielle Regulierungsindizes für den Grad der Regelungsdichte bzw. Vorschriften zum Marktzugang und Marktverhalten in den jeweiligen Berufsfeldern ermittelt. Die – in ihrer wissenschaftlichen Validität sehr umstrittene – Studie zu den einzelnen Regelungssystemen für die Freien Berufe, die eine indikatorengestützte Stufenskala des Dichtegrades der nationalen Regelungen entwickelt, unterscheidet zwei große Normgruppen: Vorschriften zum Marktzugang und Vorschriften zum „Marktverhalten“. Zu den typischen Marktzugangsvorschriften gehören Qualifikationsanforderungen (anerkannte Befähigungsnachweise wie Hochschulabschlüsse, die Dauer der praktischen Berufserfahrung und/oder fachliche Eignungsprüfungen), die Anmeldung oder Mitgliedschaft in einem Berufsverband, Vorschriften zu den Tätigkeitsbereichen, die bestimmten Berufsständen vorbehalten sind (d. h. die alleinige Berechtigung eines – manchmal auch mehrerer – Berufsstände, bestimmte Leistungen oder Waren auf dem Markt anzubieten), und in einigen Fällen darüber hinaus wirtschaftliche Bedarfsprüfungen.
100 Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, Forschungsbericht: Wirtschaftliche Auswirkungen einzelstaatlicher Regelungen für die Freien Berufe, 2003. Weitere Studien zu den Auswirkungen nationaler Regelungen bei freiberuflichen Dienstleistungen wurden als Reaktion auf die vom EP im sog. Ehler-Bericht geforderte wissenschaftliche Unterlegung der von der Kommission behaupteten Negativwirkungen nationaler Berufsreglementierungen an das Institut Copenhague Economics sowie die Universitäten Leuven, Bremen und Regensburg vergeben. s. dazu Lemor, Der Freie Beruf 1 – 2/2007, S. 27.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Zu den charakteristischen Verhaltensvorschriften zählen die Regulierung von Preisen und Honoraren (Festpreise, Mindest- und/oder Höchstpreise usw.), Werbeund Vertriebsvorschriften, Standort- und Diversifizierungsregelungen (räumliche Einschränkungen des Dienstleistungsangebotes, zahlenmäßige Beschränkung der Niederlassungen), Einschränkungen der berufsstandsübergreifenden Zusammenarbeit oder der Unternehmensformen (z. B. Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Gründung juristischer Personen). Den Erkenntnissen der Studie zufolge gibt es keine sichtbaren Anzeichen für ein Marktversagen in den Mitgliedstaaten, in denen weniger reglementiert wird, sondern Hinweise darauf, daß geringe Regelungsdichte ein Ansporn zur Wertschöpfung sein kann. In ihrem Bericht und ihrem Folgebericht „über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen“101 bewertet die Kommission auf der Grundlage der HISStudie u. a. restriktive Regelungen der Freien Berufe, verbindliche Festpreise bzw. Preisempfehlungen, Werbebeschränkungen, Zugangsrestriktionen und Vorbehaltsaufgaben, Regeln für Unternehmensformen sowie die mögliche Anwendung der EUWettbewerbsbestimmungen. Die Kommission geht davon aus, daß einerseits übermäßige Reglementierungen wie Werbe- und Zulassungsbeschränkungen sich nachteilig für den Verbraucher, Klienten oder Patienten auswirken können, andererseits die „Asymmetrie der Information“ zwischen Klienten und Dienstleistern, die involvierten „Vertrauensgüter“, die besonderen Risiken und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung freiberuflicher Dienstleistungen eine gewisse Reglementierung legitimieren können. Die Kommission sieht allerdings sowohl auf dem Gebiet der Preisgestaltung als auch dem der Werbe- und Zulassungsbeschränkungen zum Teil Deregulierungsbedarf auch im Hinblick auf das EU-rechtliche Wettbewerbsrecht.102 Vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung insbesondere in den Fällen Wouters und Arduino sowie der Rechtssache Consorzio Industrie Fiammiferi (CIF) gelangt die Kommission103 zu der Auffassung, daß es den Mitgliedstaaten im Hinblick auf Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) verboten ist, „Maßnahmen auch in Form von Gesetzen oder Verordnungen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten.“ Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, daß eine Verletzung der Art. 3 – 6, 101 AEUV (ex-Art. 3 Abs. 1 Buchstabe g), Art. 81 EGV) 101
KOM (2004), 83 endg. v. 9. 2. 2004; KOM (2005), 405 endg. v. 5.9.2005. Zu parallelen Deregulierungsforderungen auf nationaler Ebene s. den Vorschlag der deutschen Monopolkommission zur Deregulierung des Rechts der Freien Berufe im 16. Hauptgutachten 2004/2005 „Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor“ v. 30.6.2006. s. dazu Kluth, NZB 2008, 6; Der Freie Beruf 3/2008, 7 und die Stellungnahme der Bundesregierung (BT-Drucks. 16/5881) sowie die Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zur Regulierung der Freien Berufe v. 1. 11. 2007 (s. dazu die kritische Bewertung in Der Freie Beruf 9 – 10/2007, 5; 3/2008, 8). 103 Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen v. 9. 2. 2004 (KOM (2004), 83 endg.). 102
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat gegen Art. 101 AEUV (ex-Art. 81 EGV) verstoßende Vereinbarungen, Beschlüsse oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen vorschreibt oder erleichtert oder deren Auswirkungen verstärkt oder wenn er seinen eigenen Regelungen dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, daß er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt. Nach dem Urteil in der Rechtssache Arduino104 könnte also die Übertragung von Regelungsbefugnissen auf private bzw. nicht staatliche Wirtschaftsteilnehmer bzw. berufsständische Organisationen anfechtbar sein, wenn der Staat nicht die Letztentscheidungsbefugnis behält und eine wirksame Kontrolle über die Anwendung ausübt. In der Rechtsache Arduino war die Beteiligung der Berufsverbände an der Festsetzung von Gebührensätzen darauf beschränkt, daß der Vorschlag für eine Gebührenordnung vorgelegt werden konnte und der zuständige Minister die Befugnis hatte, die Gebührenordnung zu ändern, somit also keine anfechtbare Übertragung an private oder nichtstaatliche Wirtschaftsteilnehmer erfolgte. Nach Auffassung der Kommission ist die Übertragung von Regelungsbefugnissen, welche die mit der Regelung zu verfolgenden Ziele des Allgemeininteresses nicht klar definiert und/oder mit der der Staat effektiv auf seine Letztentscheidungskompetenz oder die Ausübung einer Anwendungskontrolle verzichtet, unzulässig. Gestützt auf die durchgängig vertretenen Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung können folgende Regelungs- und Verfahrensstrukturen nach Einschätzung der Kommission105 wettbewerbsrechtlich beanstandet werden: • „Automatische Genehmigungen“ einschließlich einfacher Bestätigungen und stillschweigender Genehmigungen, die von den Mitgliedstaaten für Vereinbarungen oder Beschlüsse gegeben werden, bei denen die geltenden Rechtsverfahren keinen funktionierenden Interessenausgleich und/oder Konsultationen durch die Behörde vorsehen. • Vorgehensweisen, bei denen die Behörden eines Mitgliedstaates lediglich berechtigt sind, die Vorschläge der Berufsverbände abzulehnen oder zu bestätigen, ohne daß sie in der Lage sind, deren Inhalt zu verändern oder diese Vorschläge durch eigene Entscheidungen zu ersetzen. Um zu beurteilen, inwieweit wettbewerbswidrige Berufsregeln effektiv dem Allgemeininteresse dienen, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden. Dabei wäre es – so die Kommission – nützlich, daß jede Regel ein erklärtes Ziel verfolgt und erläutert wird, weshalb die gewählte Regulierungsmaßnahme am wenigsten einschneidend ist, um das erklärte Ziel effektiv zu erreichen.106
104
Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-1529. KOM (2004), 83 endg. 106 Zur Bedeutung des Allgemeininteresses und der Verhältnismäßigkeit als Rechtfertigungskriterien für wettbewerbseinschränkende Berufsregeln s. Heinze, in: Bundeszahnärzte105
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
251
Wenn ein Staat Maßnahmen erläßt oder beibehält, die gegen Art. 3 – 6, 101 AEUV (ex-Art. 3 Abs. 1 lit a), Art. 10 und Art. 81 EGV) verstoßen, können die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258, 259 AEUV (ex-Art. 226 und 227 EGV) einleiten. Aufgrund des Vorrangs des Europarechts sind die einzelstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, innerstaatliche Regelungen unter Berücksichtigung der unionsvertraglichen Vorschriften auszulegen und nötigenfalls mit dem Vertrag kollidierende Regelungen nicht anzuwenden. Nach dem bereits zitierten Urteil in der Rechtsache CIF107 gilt dies auch in Fällen, in denen die nationalen Wettbewerbsbehörden das Verhalten von Unternehmen untersuchen, die durch nationales Gesetz zu diesem Verfahren veranlaßt werden. Schließlich können Personen, die durch die fraglichen staatlichen Maßnahmen beeinträchtigt werden, den Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das EU-Recht verklagen. Im Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen108 hat die Kommission ermittelt, welche regulativen Beschränkungen in den Freien Berufen den Wettbewerb am stärksten beeinträchtigen können, aber nach objektiven Maßstäben nicht gerechtfertigt sind. Die Kommission drängt darauf, daß diese Beschränkungen überprüft und – soweit sie nicht objektiv gerechtfertigt sind – aufgehoben oder durch weniger restriktive Regeln ersetzt werden. Der beste Weg, um einen tiefgreifenden Wandel zu erreichen, bestünde nach Auffassung der Kommission darin, daß diejenigen, die für die Festlegung der geltenden Beschränkungen verantwortlich sind, freiwillig tätig werden. Sie könnten den Reformbedarf in den jeweiligen Berufen und die Vereinbarkeit bestehender Regeln mit den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts gründlich analysieren, wobei davon ausgegangen wird, daß restriktive Regelungen entweder unmittelbar vom Staat oder von den Berufsverbänden erlassen und durchgesetzt werden. Daher fordert die Kommission zunächst die Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten auf, die in ihre Zuständigkeit fallenden Gesetze oder Verordnungen zu überprüfen: Insbesondere sei zu untersuchen, ob die geltenden Beschränkungen ein klar artikuliertes und legitimes Ziel des Allgemeininteresses verfolgen, ob sie notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen, und ob es hierfür nicht weniger einschneidende Mittel gibt. Die Kommission fordert auch alle berufsständischen Einrichtungen auf, ihre Regeln und Vorschriften einer ähnlichen Prüfung zu unterziehen. Sie sollten nach demselben Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgehen wie die einzelstaatlichen Regulierungsbehörden und erforderlichenfalls geltende Regeln ändern bzw. Änderungen vorschlagen.
kammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94, 98 f.; Kilian, WRP 2002, 802, 804; Sosnitza, EWS 2002, 460, 465. 107 Rs. C-198/01. 108 KOM (2004), 83 endg.; KOM (2005), 405 endg.
252
3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1/2003109 übernehmen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte eine wichtigere Rolle, wenn es darum geht, die Rechtmäßigkeit von Regeln und Vorschriften für Freie Berufe zu bewerten. Sie können selbst darüber entscheiden, ob eine Vereinbarung, ein Beschluß oder eine Verhaltensweise mit Art. 101 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 81 Absatz 1 EGV) vereinbar ist, und auch Art. 101 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 81 Abs. 3 EGV) anwenden, der eine Freistellung vom allgemeinen Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen vorsieht. Soweit Wettbewerbsbeschränkungen schwerpunktmäßig einen Mitgliedstaat betreffen, soll die administrative Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln für die Freien Berufe hauptsächlich Aufgabe der nationalen Wettbewerbsbehörden sein. Die Kommission kündigt an, die Koordinierung des europäischen Wettbewerbsnetzes zu überwachen und eine kohärente Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV (exArt. 81 und 82 EGV) sicherzustellen. Ein spezielles Marktmonitoring ist vorgesehen und wird zusammen mit einzelstaatlichen Kartellrechtsexperten sowie Sachverständigen der nationalen Regulierungs- und sonstiger Behörden durchgeführt. Des Weiteren regt die Kommission an, zusammen mit den nationalen Regulierungsbehörden zu erörtern, ob die geltenden Regelungen notwendig, verhältnismäßig und gerechtfertigt sind oder die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren erfordern.
d) Freiberufliche Selbstverwaltung im Gesundheitswesen als gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge Die Europäische Kommission hat am 21. 5. 2003 ein Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Daseinsvorsorge) vorgelegt. Ziel des Grünbuchs ist eine Neudefinition der Rolle der EU bei der Förderung einer hohen Qualität öffentlicher Dienstleistungen. Das Grünbuch betont die Notwendigkeit einer Debatte über die grundsätzliche Rolle der EU bei der Definition der Ziele der Daseinsvorsorge. Der Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ist im Vertrag selbst nicht näher bestimmt, weshalb die Kommission eine Diskussion um diesen Begriff in Gang bringen möchte.110 Nach Vorstellung der Kommission soll der Begriff für jede wirtschaftliche Tätigkeit gelten, die mit der Gemeinwohlverpflichtung verknüpft ist. Auf unions- bzw. gemeinschaftsrechtlicher Ebene findet sich der Begriff indirekt in Art. 14, 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 16 und Art. 86 Abs. 2. EGV) sowie in Art. 36 der Charta der Grundrechte. Art. 14 AEUV (ex-Art. 16 EGV) hebt den Stellenwert der „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen 109
Abl. L 1 v. 4. 1. 2002, S.1. Zur Unschärfe des Begriffs der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, der im Richtlinienrecht der EU wie z. B. der Dienstleistungsrichtlinie i.S. von „nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ ausdifferenziert wird und den Mitgliedstaaten gerade bei sozialen Dienstleistungen erhebliche Gestaltungsräume einräumt, s. Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 64; Schulte, ZFSH/SGB 2007, 12 ff.; Becker, NJW 2003, 2272. 110
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
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Werte der Union“ sowie ihre Bedeutung bei der Förderung des territorialen und sozialen Zusammenhalts hervor. Im Protokoll Nr. 32 über Dienste von allgemeinem Interesse vom 13. 12. 2007, das dem Lissabon-Vertrag angefügt wurde,111 werden die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse unter dem Aspekt der Organisationskompetenz der nationalen, regionalen und lokalen Behörden im Interesse der Nutzer und deren unterschiedlichen Bedürfnissen und Präferenzen hervorgehoben und die Bedeutung des Qualitätsund Sicherheitsniveaus, der Bezahlbarkeit, Gleichbehandlung und des universellen Zugangs betont. Zugleich wird die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten anerkannt, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren. Die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste sollen durch die Union und ihre Mitgliedstaaten so gestaltet sein, daß diese ihren Aufgaben nachkommen können. Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV) ordnet die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ in das unionsrechtliche Wettbewerbsgefüge mit der Sonderregelung ein, daß für diese die Wettbewerbsvorschriften der Art. 101 ff. AEUV (ex-Art. 81 ff. EGV) nur insoweit gelten, als dadurch die Erfüllung der übertragenden besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich nicht verhindert wird. In Art. 36 der Charta der Grundrechte wird hervorgehoben, daß die EU den Zugang zu den „Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ anerkennt und achtet. In Ihren Mitteilungen vom 26. 9. 1996112 und 20. 9. 2000113 hat die Europäische Kommission bereits Definitionen und Kriterien vorgegeben, die Leistungen der Daseinsvorsorge (oder gemeinwohlorientierte Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse) als marktbezogene oder nicht marktbezogene Tätigkeiten charakterisieren, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden. In Unterscheidung zu den in Art. 14 und 106 AEUV (ex-Art. 16 und 86 EGV) verwendeten Begriffen stellt die Kommission in diesem Fall nicht nur auf marktbezogene Dienstleistungen ab. Nichtwirtschaftliche Tätigkeiten (z. B. Pflichtschulwesen und soziale Sicherheit) sowie hoheitliche Aufgaben, bei denen es um die Ausübung von Staatsfunktionen geht (insbesondere Sicherheit, Justiz), fallen laut dieser Kommissionsmitteilung nicht unter das europäische Wettbewerbs- und Kartellrecht. Betont wird auch, daß gemeinwohlorientierte Leistungen nichtwirtschaftlicher oder hoheitlicher Art nicht wie Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu behandeln sind. Die Union kann hier also – wie im Vertrag bekräftigt wird – lediglich ergänzend tätig werden. Somit soll die Verfolgung ausschließlich kultu-
111 112 113
ABl. Nr. C 306, S. 156. s. dazu Pitschas, in: Sozialrecht in Europa, S. 7 ff., 16 ff. Abl. EG v. 26. 9. 1996 (281, S. 3 ff.). KOM (2000), 580 endg.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
reller oder sozialer Belange nicht den vorgenannten europäischen Wettbewerbsregeln unterfallen, sehr wohl aber der Daseinsvorsorge allgemein zuzurechnen sein.114 Diesen Kriterien entsprechen gerade auch die Freien Berufe, weil sie nach nationaler Definition115 (§ 1 PartG) und der Rechtsprechung des EuGH116 ihre Dienstleistungen nicht nur im Interesse der Patienten, Mandanten und Klienten, sondern auch jeweils im Dienste und unter Bezugnahme auf Belange der Allgemeinheit erbringen.117 Die Selbstverwaltungen der Freien Berufe dienen u. a. der Durchsetzung solcher Gemeinwohl- und Sozialbindungen freiberuflicher Tätigkeit.118 Dies gilt für Rechtsanwälte, die als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) den Zugang zum Recht und zu rechtsstaatlichem Verfahren sichern, ebenso wie für Ärzte (§ 1 BÄO) und Zahnärzte (§ 1 ZHKG) bei der Ausübung ihres Berufs der medizinischen Versorgung der Bevölkerung oder für Apotheker, die bei der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung (§ 1 ApothG) in staatliche Sozialpflichten eingebunden sind. Zahlreiche Aktivitäten der Freien Berufe wie Not- und Bereitschaftsdienste der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Rechtsanwälte sind von vornherein als nichtwirtschaftliche, im Interesse der Allgemeinheit liegende Tätigkeiten einzustufen, weil diese von den Berufsgruppen aus primär wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht angeboten würden. Aber auch darüber hinaus entsprechen freiberufliche Dienstleistungen und deren Gewährleistung durch die Selbstverwaltungsinstitutionen den zentralen Prinzipien der Daseinsvorsorge im Sinne von Gemeinwohlverpflichtung, Gleichheit des Zugangs zur Dienstleistung sowie Kontinuität und Qualität der Dienstleistungserbringung. Dies gilt für die in Deutschland bestehende Systematik freiberuflicher Berufsrechte gerade auch im Hinblick auf die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung, die sowohl national wie europarechtlich Verfassungsrang hat.119 Nach dem vorgenannten Kriterienkatalog der Kommission kann der Bereich der Gesundheitsvorsorge den gemeinwohlorientierten/nicht marktbezogenen Leistungen der Daseinsvorsorge zugerechnet werden. Bestätigt wird dies durch Art. 168 Abs. 5 AEUV (ex-Art. 152 Abs. 5 EVG), der im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung „in vollem Umfang gewahrt“ 114 Vgl. Haverkate/Huster, S. 289 ff.; Eichenhofer, NZS 2001, 1; Kreikebohm, NZS 2003, 62 ff., 67; Terwey, DRV 6 – 7/2003, 320 ff., 324. 115 s. § 1 PartG. 116 Urt. v. 11. 10. 2001 – Rs. C 267/99. 117 Zur Stellung Freier Berufe in Europa s. S. Tiemann, WPK-Mitt. 1/2001, 2 ff.; Berscheid/ Kirschbaum, Freie Berufe in der EG, 1991; BFB, Freiberuflichkeit im neuen Europa, Tag der Freien Berufe 5. 5. 2004 sowie die Hinweise unten 4. Kap. III. 1. 118 Zum Standort der Heilberufskammern in der deutschen und europäischen Rechtsentwicklung s. Tettinger, NwVBl 1/2002, 20 ff. 119 s. dazu Sodan, in: Handbuch des Fachanwalts für Medizinrecht, Kap. 1 Rnrn. 86 ff.
I. Einwirkungen des Unionsrechts auf die Heilberufe
255
sieht (Subsidiaritätsprinzip, vgl. Art. 5 EUV, ex-Art. 5 EVG). Die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung – auch durch die Freien Heilberufe (Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Psychotherapeuten etc.) – wird daher von dieser Vorschrift als mitgliedstaatliches Kompetenzreservat grundsätzlich umfaßt und geschützt. Diese Sichtweise wird durch das Arbeitsdokument des Europäischen Parlaments über das Grünbuch zur Zukunft der Leistungen der Daseinsvorsorge in der EU vom 11. 3. 2003120 gestützt, das den gemischten Charakter der Leistungen der Daseinsvorsorge hervorhebt. Marktbezogene und nicht marktbezogene Tätigkeiten überlagern sich in den nationalen Systemen demnach – so z. B. im Bereich der Bildung, der Gesundheit, der sozialen Sicherheit. Das Europäische Parlament hat in diesem Arbeitsdokument über das Grünbuch zur Zukunft der Leistungen der Daseinsvorsorge der EU daher zu Recht betont, daß Tätigkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge eine besondere Regelung erfordern,121 für die es sachgerecht wäre, angesichts dieser besonderen Stellung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten der EU beizubehalten. Daß bei dieser Diskussion um die zukünftige Einordnung des Gesundheitswesens zwischen Gemeinwohlbindung und Marktorientierung die Freien Berufe und insbesondere auch die freien Heilberufe eine besondere Rolle spielen werden, wird in einer gemeinsamen fraktionsübergreifenden und mit überwältigender Mehrheit angenommenen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. 12. 2003 zu „Marktregelungen und Wettbewerbsregeln“ für die Freien Berufe deutlich,122 in der die Freien Berufe als „Stützpfeiler des Pluralismus und der Unabhängigkeit der Gesellschaft“ anerkannt werden. Es heißt, sie sollten weitgehend im Interesse des Verbrauchers und der Qualität der Dienstleistungen für einen Wettbewerb national und europaweit geöffnet werden bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Kammerwesens bzw. der Berufsvereinigungen unter Beachtung des jeweils unterschiedlichen Berufsrechts. Die Kommission wird bei Ihrer Überprüfung der Freien Berufe aufgerufen, den besonderen Charakter der einzelnen Berufsordnungen vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang unterstreichen die Abgeordneten „die Bedeutung von Regeln, die im spezifischen Kontext jedes Berufs erforderlich sind, um Unparteilichkeit, Kompetenz, Integrität und Verantwortung der Angehörigen dieses Berufsstandes zu gewährleisten“. Sie verweisen darauf, daß ein Verband „nur dann den Wettbewerbsregeln unterliegt, wenn er ausschließlich im Interesse seiner Mitglieder handelt“, und daß berufsständische Vereinigungen generell „weder ein Unternehmen noch eine Unternehmensgruppe im Sinne von Art. 102 AEUV (ex-Art. 82 des EGVertrages) darstellen. Sie beziehen sich auf die „Notwendigkeit, die (hohen) Qualifikationen zu schützen, die die Freien Berufe zum Wohle der europäischen Bürger 120
PE 323.139, S. 4. s. dazu B. Tiemann, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 921 ff. 122 B 5-4030, 0431, 0432/2003. 121
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
auszeichnen, sowie auf die Notwendigkeit, ein besonderes, auf Vertrauen begründetes Verhältnis zwischen den Freien Berufen und ihren Kunden zu schaffen“. Dabei sollten „die Freien Berufe im Gesundheitssektor besonders berücksichtigt werden (…), um zu gewährleisten, daß die Grundsätze von Art. 168 AEUV (ex-Art. 152 EGV) eingehalten werden.“ Abschließend vertreten die Abgeordneten die Ansicht, „daß die besonderen Merkmale des Marktes freiberuflicher Dienstleistungen eine angemessene Regulierung erfordern“. Im besonderen Kontext eines jeden Berufsstandes seien „Regeln generell notwendig (…), insbesondere solche, die sich auf Organisation, die Qualifikation, die Standespolitik, die Überwachung, Haftung, Unparteilichkeit bzw. den Sachverstand der Berufsangehörigen beziehen oder die Interessenkonflikte und irreführende Werbung verhindern sollen“, sofern sie einerseits „dem Endverbraucher die Sicherheit geben, daß die notwendigen Garantien im Hinblick auf die Integrität und die Erfahrung gegeben sind“, und andererseits keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.123 Die Entwicklung des Rechts der Europäischen Union vor dem Hintergrund des Lissabonner Vertrages und der EU-Erweiterung wird zeigen, ob sich diese Entwicklungstendenz verstetigt, die auch der Einschätzung der Generaldirektion für den Binnenmarkt entspricht, nach der „das Europäische Gemeinschaftsrecht einen Rahmen setzt, in dem sich das Berufsrecht der Freien Berufe weiter entwickeln kann, in dem es exportfähig ist und in dem es auch Modell für eine Ordnung des Berufsrechts in Europa werden könnte124. Freiberufliche Strukturen fügen sich in das Werte- und Organisationsgefüge der EU und insbesondere der Verträge über die EU und deren Arbeitsweise sowie die Grundrechtecharta ein, weil sie die Mitwirkung der Unionsbürger an den betreffenden staatlichen Aufgaben fördern und durch das von ihnen entwickelte Berufsrecht und Berufsethos Ordnungsfunktion im Binnenmarkt gerade auch im Hinblick auf den Verbraucher- bzw. Patientenschutz übernehmen.125 Angesichts der gesellschaftspolitischen Bedeutung Freier Berufe für eine europäische Bürgergesellschaft und der besonders sensiblen in die freiberuflichen Dienstleistungen involvierten Rechtsgüter dürfen freiberufliche Strukturen, die gerade im Gesundheitswesen eine Versorgung auf hohem Qualitätsniveau in fachlicher Unabhängigkeit sichern, weder durch Vergewerblichungskriterien noch Überreglementierung verdrängt werden.
123
Vgl. die Hinweise bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 328. Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff., 75. s. dazu unten 4. Kap. III. 2. 125 s. dazu Kluth, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, 2007, S. 267 ff., 852 ff.; ders., LZK Bad.-Württbg. (Hrsg.), LZK Bad-Würrtbg. 50 Jahre, S. 68 ff.; ders., NZB 2008, 6. Zur nationalen und europaweiten Herausforderung, Gemeinwohl und Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung miteinander zu verbinden, s. Henke, in: Kirchhof, Gemeinwohl und Wettbewerb, 2005, S. 129 ff. 124
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung in europarechtlichen Neuregelungen 1. Von der universellen zur sektoralen Dienstleistungsrichtlinie a) Die Bedeutung der Dienstleistungsrichtlinie für grenzüberschreitende Erbringung freiberuflicher Dienstleistungen Die Europäische Kommission legte am 13. 1. 2004 ihren Richtlinienvorschlag über Dienstleistungen im Binnenmarkt126 vor, mit dem sie den Abbau administrativer und bürokratischer Hindernisse im EU-Binnenmarkt durch die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2010 beabsichtigte, um grenzüberschreitende Dienstleistungen und die Gründung von Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten zu fördern. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sollten außerdem den Wettbewerb stimulieren und für die Nutzer der Dienstleistungen bessere Qualität, größere Auswahl und niedrigere Preise zur Folge haben. Zu den von der Kommission als unzulässig oder bedenklich qualifizierten Anforderungen zählen z. B. langwierige und kostspielige Genehmigungs- und Zulassungsverfahren oder die Registrierung bei Berufsorganisationen in mehreren Mitgliedstaaten oder das Verbot, auf ein und demselben Hoheitsgebiet mehrere Niederlassungen zu unterhalten. Die Richtlinie sollte für sämtliche Dienstleistungen gelten, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. Bereits bestehende einschlägige EU-Vorschriften sollten von der Richtlinie allerdings unberührt bleiben.127 Der Richtlinienentwurf verfolgte einen horizontalen Ansatz: Es wurden sämtliche Wirtschaftsbereiche erfaßt, in denen Dienstleistungen erbracht werden, einschließlich des gesamten Bereichs der Freien Berufe und der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Unter den Geltungsbereich des ursprünglichen Richtlinienentwurfs fielen alle selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, ohne daß die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werden muß, dem sie zugutekommt. Entscheidend ist, daß das Entgelt eine wirtschaftliche Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung darstellt. Nicht erfaßt wurden die Bereiche, die vom Staat unmittelbar und unentgeltlich aufgrund seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen oder rechtlichen Verpflichtungen erbracht werden. Ausgenommen waren von vornherein auch Dienstleistungen, für die bereits spezielle EU-Vorschriften gelten (Finanzdienstleistungen, Verkehrsdienstleistungen, Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation, Steuerwesen, 126
KOM (2004), 2 endg. Zum Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie s. Schlichting/Spelten, EuZW 2005, 238 ff.; B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 322 ff. 127
258
3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
hoheitliche Funktionen im Sinne von Art. 50 AEUV (ex-Art. 45 EGV), sowie (nicht marktbestimmende) Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Der Richtlinienentwurf sollte nicht der Festlegung detaillierter Regelungen oder der Harmonisierung des gesamten Dienstleistungssektors dienen, sondern der Schaffung eines allgemeinen Rechtsrahmens. Es wurden eindeutige Ziele vorgegeben, ohne den Mitgliedstaaten die konkrete Art und Weise der Erreichung vorzuschreiben. Trotz dieses allgemeinen Ansatzes versuchte der Vorschlag, den Besonderheiten der einzelnen Dienstleistungsberufe und -tätigkeiten Rechnung zu tragen. Die Schaffung eines sog. „einheitlichen Ansprechpartners“128, bei dem die Dienstleistungserbringer aus dem EU-Ausland alle Formalitäten erledigen können, das Herkunftslandsprinzip sowie die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden stellten wichtige Bestandteile der Richtlinie dar. Der Richtlinienentwurf gliederte sich im wesentlichen in die beiden großen Kapitel zur Niederlassungsfreiheit und zum freien Dienstleistungsverkehr. Daneben finden sich Regelungen zur Qualität von Dienstleistungen, Überwachungsvorschriften sowie ein sog. Konvergenzprogramm. Vor dem Hintergrund des Hauptziels – Abbau von Bürokratie – wurden in diesem Abschnitt zur Niederlassungsfreiheit verschiedene Maßnahmen aufgeführt, die den bürokratischen Aufwand reduzieren sollten, der sich im Verfahren für eine Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat ergibt129: • Vereinfachung des Niederlassungsvorgangs, z. B. durch die Verpflichtung zur Schaffung einheitlicher Ansprechpartner in den Mitgliedstaaten (sog. „one-stopshop-Regelung“), bei denen der Dienstleistungserbringer alle Formalitäten erledigen kann, • Einführung elektronischer Verfahren, die das Herunterladen von Anträgen, die Antragstellung sowie die Genehmigungserteilung auf elektronischem Wege ermöglichen sollen, • Festlegung unzulässiger Anforderungen, die von den Mitgliedstaaten nicht zur Bedingung für die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit auf ihrem Hoheitsgebiet gemacht werden dürfen wie z. B. Eintrag in Register, wirtschaftliche Überprüfungen, Residenzpflicht. Die Förderung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen sollte durch eine Kombination verschiedener Regulierungstechniken und Maßnahmen erfolgen: • Nach dem Herkunftslandsprinzip130 sollte der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes unterliegen, in dem er niedergelassen ist. Die anderen Mitgliedstaaten sollten die Erbringung von Dienstleistungen nicht durch 128
s. dazu Rieger, EuZW 2005, 430, 432. Vgl. Lemor, EuZW 2007, 135 ff. 130 Zur Bedeutung des Herkunftslandprinzips für grenzüberschreitende Dienstleistungen s. EuGH Rs. C-120/78, Slg. I-1979, 646; Schlichting/Spelten, EuZW 2005, 238, 239. 129
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
259
zusätzliche Anforderungen beschränken. Der Herkunftsmitgliedstaat sollte dafür verantwortlich sein, sowohl den Dienstleistungserbringer als auch seine Dienstleistungen zu kontrollieren, selbst wenn diese in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden. • Ausnahmen vom Herkunftslandsprinzip waren schon im Richtlinienentwurf vorgesehen, um in einigen Bereichen einem unterschiedlich starken Schutz des Allgemeininteresses, dem Grad der unionsweiten Harmonisierung, der Intensität der Verwaltungszusammenarbeit oder bestimmten EU-Rechtsakten Rechnung zu tragen (z. B. im Bereich der Postdienste, Elektrizitäts-, Wasser- und Gasversorgung). • Zur Intensivierung der gegenseitigen Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden und zur Gewährleistung einer wirksamen Kontrolle der Dienstleistungstätigkeiten regelte der Vorschlag die Verteilung der Kontrollaufgaben sowie den Informationsaustausch und die Amtshilfe. • Ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH sollten die Bedingungen geregelt werden, unter denen die Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaat erhaltenen (nicht stationären) medizinischen Behandlung von dem nationalen System der Sozialen Sicherheit erstattet werden müssen. Eine Erstattung war dabei nur bis zur Höhe des im Heimatstaat erstattungsfähigen Betrages vorgesehen, maximal jedoch der tatsächlich angefallenen Kosten. Zudem wurde festgelegt, in welchen Fällen die Kostenerstattung von der Einholung einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht werden darf. • Der Richtlinienentwurf sah eine Aufgabenteilung zwischen Herkunfts- und Entsendemitgliedstaat vor und enthielt Regelungen zum Ablauf der Kontrollverfahren bei der Entsendung von Arbeitnehmern im Zusammenhang mit der Erbringung von Dienstleistungen. Zur Förderung der Qualität der Dienstleistungen wurden u. a. folgende Maßnahmen vorgesehen: • Gezielte Harmonisierung zur Gewährleistung eines gleichwertigen Schutzes des Allgemeininteresses, insbesondere in Fragen des Verbraucherschutzes, • Schaffung von mehr Transparenz durch Vereinheitlichung der Vorschriften über die Informationspflichten, die Regelungen zur Berufshaftpflichtversicherung sowie der Austausch von Informationen über die Qualität des Dienstleistungserbringers. Obwohl das erklärte Ziel der Richtlinie die Vereinfachung von Verfahren und Bürokratieabbau war,131 wurde befürchtet, daß dadurch vor allem neue Bürokratie geschaffen und die Umsetzung der Richtlinie mit zusätzlichem Personal- und Finanzbedarf verbunden sein könnte, der insbesondere durch die Einrichtung einheitlicher Ansprechpartner, die elektronische Verfahrensabwicklung, die Unter131
s. Lemor, EuZW 2007, 135, 137.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
stützung der Dienstleistungsempfänger, die Kontrolle der Dienstleistungserbringer und deren Dienstleistungen sowie durch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei Überwachungsmaßnahmen entsteht. Die Einrichtung „einheitlicher Ansprechpartner“ wurde grundsätzlich als eine wesentliche Hilfe für Dienstleistungserbringer bei der Aufnahme grenzüberschreitender Tätigkeiten angesehen, sofern unverhältnismäßige Belastungen durch die Vorschläge der Kommission vermieden werden können. So erschien die generelle Einführung elektronischer Verfahren innerhalb eines kurzen Zeitraums angesichts verschiedener Standards und datenschutzrechtlicher Probleme kaum realisierbar, wobei unklar blieb, welche Institutionen am ehesten geeignet sind, die Funktion des einheitlichen Ansprechpartners effektiv auszuüben, und inwieweit freiberufliche Selbstverwaltungsorganisationen in diese Funktion eingebettet werden sollten.132 Gravierende Bedenken wurden gegen die Einführung des Herkunftslandprinzips nicht nur von den Organisationen der Freien Berufe, sondern auch von Seiten der deutschen und europäischen Wirtschaft erhoben, die auf die aus sozialpolitischer Sicht bedeutsame Schnittstelle des Vorschlags der Dienstleistungsrichtlinie mit der Entsenderichtlinie hinwiesen, die sich im Zusammenhang mit dem Herkunftslandprinzip ergab.133 Zwar sah der Vorschlag der Dienstleistungsrichtlinie im Hinblick auf die Entsenderichtlinie, die für bestimmte grenzüberschreitende Entsendungen von Arbeitnehmern die zwingende Einhaltung von Vorschriften des Aufnahmelandes vorschreibt, Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip vor. Durch die Regelungen in Art. 24 und 25 des Richtlinienvorschlags wurden jedoch die Kontrollbefugnisse des Mitgliedstaates, in den Arbeitnehmer entsandt werden (Aufnahmestaat), erheblich eingeschränkt. Damit kollidierten diese Vorschriften mit der Entsenderichtlinie und den entsprechenden Umsetzungsgesetzen in den Mitgliedstaaten, die vorschreiben, daß die Behörden des Aufnahmestaates für die Kontrolle der Einhaltung der Vorschriften der Entsenderichtlinie durch das grenzüberschreitend entsendende Unternehmen verantwortlich sind. Dieser Verpflichtung können sie nur nachkommen, wenn sie auch über die entsprechenden Kontrollbefugnisse verfügen. Der Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie ging von dem systemwidrigen und praktisch nicht realisierbaren Ansatz aus, daß die Einhaltung nationaler Rechtsvorschriften im Aufnahmestaat von einem anderen Mitgliedstaat, nämlich dem entsendenden Staat übernommen würde. Unabhängig davon, wie man die Sinnhaftigkeit der Entsenderichtlinie einschätzt, schien doch im Interesse der Rechtssicherheit und der Funkti-
132
Vgl. Rieger, EuZW 2005, 430, 432. Richtlinie 96/71/EG v. 16. 12. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. EU Nr. L 18 v. 21. 1. 1997, S. 1). s. die kritischen Stellungnahmen der europäischen Wirtschaftsverbände zur Inkompatibilität der Konzeption des Herkunftslandsprinzips im Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie mit der Entsende-Richtlinie bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 322 f. 133
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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onsfähigkeit des Binnenmarktes eine kohärente Ausgestaltung des europäischen Rechtsrahmens geboten. Gerade in dem sensiblen Bereich des Gesundheitswesens wurde die dem Herkunftslandprinzip immanente Gefahr eines „Sozialdumping“ als problematisch eingeschätzt. Die besonders schutzwürdigen Empfänger von Dienstleistungen der Heilberufe hätten sich mit Anbietern aus zahlreichen, zum Teil höchst unterschiedlichen Rechtssystemen konfrontiert gesehen. Eine effektive Kontrolle durch die Behörden des Herkunftslandes, wie sie der Richtlinienentwurf vorsah, dürfte in der Praxis kaum organisierbar sein. Damit würden gerade präventive Regelungsmechanismen der Qualitätssicherung und des Patientenschutzes in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt.134 Da Dienstleistungserbringer im koordinierten Bereich nur noch den Bestimmungen ihres Herkunftslandes unterfallen und gleichzeitig in allen anderen Mitgliedstaaten die Vorteile des freien Dienstleistungsverkehrs genießen sollten, hätten sie einen Anreiz dazu haben können, ihre Niederlassung in einem Mitgliedstaat mit niedrigeren Schutzstandards zu bewirken, so daß die Mitgliedstaaten hätten versucht sein können, sich im Hinblick auf diese Bedingungen gegenseitig zu unterbieten. Die umfassende Einführung des Herkunftslandprinzips würde so zu einem „race to bottom“, einem „Wettbewerb nach unten“, führen. Gleichzeitig könnte sich das Problem der Inländerdiskriminierung für die heimischen Berufsangehörigen verschärfen, wenn ausländische Berufsangehörige bei der Leistungserbringung dem Berufsrecht ihres Herkunftslandes und nicht den – u. U. einschränkenderen oder berufsethisch anderen Traditionen und Bindungen unterworfenen – Regelungen des Aufnahmestaats unterliegen. Die Direktive hätte in der geplanten Fassung insbesondere die vertragsärztliche Versorgung in Deutschland nachhaltig verändert. Das Kollektivvertragssystem und das Sachleistungsprinzip wären unter massiven Druck geraten, wenn Heilberufsangehörige aus anderen EU-Staaten zu Lasten der GKV Patienten behandeln könnten, ohne den Regelungen des Vertragsarztrechts zu unterliegen. Eine solche Versorgung würde nach der Logik des Herkunftslandsprinzips außerhalb des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen nach den Vorschriften des jeweiligen Herkunftslandes jenseits deutscher Qualitätsstandards, Bedarfsplanungs- und Budgetbestimmungen erfolgen. Eine Budgetierung, Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrollen vertragsärztlicher Leistungen ließen sich wohl kaum legitimieren, wenn diese für andere europäische Anbieter nicht gelten würden, die Versicherten aber unbeschränkten Zugang zu diesen haben und ausländische Ärzte jenseits des nationalen Budgets ihre Leistungen beliebig anbieten und ausdehnen könnten.135
134 Zur Kontroverse um das Herkunftslandprinzip s. Schlichting/Spelten, EuZW 2005, 238, 239; Lemor, EuZW 2007, 135, 137. 135 s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 322 f.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Durch die EU-Richtlinie in der vorgeschlagenen Fassung wären noch weitere Folgeprobleme wie z. B. bei der Regulierung von Behandlungsfehlern und Gewährleistungsansprüchen entstanden, zumal oft nicht klar ist, wer in solchen Fällen grenzüberschreitender Schadensersatzansprüche im Beziehungsgeflecht zwischen Leistungsnachfragern, -erbringern und -kostenträgern das Kompensationsrisiko trägt. Offen blieb auch, inwieweit ein Angehöriger eines Gesundheitsberufes, der Dienstleistungen im Ausland erbringt, mit den Verhaltenskodizes vor Ort überhaupt konform gehen muß, d. h. z. B. Vorschriften über die Pflege, die Arzneimittelverordnung, die Wahl des behandelnden Arztes usw. zu beachten hat, bis hin zu berufsethischen Fragen der Sterbehilfe oder des Schwangerschaftsabbruchs, die in den EU-Staaten zum Teil gesetzlich oder auch berufsrechtlich unterschiedlich geregelt sind. Der umfassend angelegte Richtlinienvorschlag berücksichtigte somit gerade aufgrund seines allgemeinen Charakters die Besonderheiten von Dienstleistungen der Heilberufe nicht ausreichend und verwässerte die seinerzeitigen primärrechtlichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Politikgestaltung und Kompetenzverteilung im Bereich des Gesundheitswesens. Schon die Generaldirektion „Gesundheit und Verbraucherschutz“ hatte in der kommissionsinternen Abstimmung des Richtlinienentwurfs eine Bereichsausnahme für Dienstleistungen der Heilberufe mit der Begründung gefordert, die Gesundheitssysteme seien in keinem der EU-Mitgliedstaaten rein marktwirtschaftlich organisiert, so daß ihre Kompatibilität mit den Freiheiten des Binnenmarktes gesonderte Regelungen erfordere. Da für die Richtlinie das Mitentscheidungsverfahren galt, mußte eine Einigung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat erzielt werden,136 wobei sich nach den parlamentarischen Beratungen und der Diskussion im Rat abzeichnete, daß die Gesundheits- und Sozialberufe aus dem Geltungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ausgegliedert werden sollten. b) Relevanz der Dienstleistungsrichtlinie für Freie Berufe und Berufsanerkennungsrichtlinie Nach einem mehrjährigen kontroversen und europaweit von großer Publizität begleiteten Gesetzgebungsverfahren wurde die sog. Dienstleistungsrichtlinie in einer gegenüber dem Entwurf wesentlich veränderten Fassung am 12. 12. 2006 verabschiedet.137 Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie nun gemäß Art. 44 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht umsetzen, wobei es zu Verzögerungen gekommen ist, die zum Teil auf mangelnde rechtliche Eindeutigkeit und Verbindlichkeit der Richtlinie, zum Teil auf unterschiedliche Umsetzungsmodalitäten zu-
136
Vgl. Schichting/Spelten, EuZW 2005, 322. Richtlinie 2005/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt v. 12. 12. 206, ABl. EU Nr. 2376 v. 27. 12. 2006, 36. 137
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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rückzuführen sind.138 Der mühsam errungene Kompromiß wirft nun die Frage auf, ob er seinen Zielsetzungen in Bezug auf eine Marktliberalisierung und die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit gerecht wird139 und welche Bedeutung er für die verschiedenen Freien Berufe jenseits der von der Richtlinie ausgenommenen Heilund Sozialberufe hat.140 Zu den grundsätzlich unter die Dienstleistungsrichtlinie fallenden Dienstleistungen bzw. Tätigkeiten gehören u. a. vorübergehend von einem ausländischen EUBürger in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte freiberufliche Dienstleistungen wie Unternehmensberatung, Zertifizierungs- und Prüfungstätigkeiten, Dienstleistungen im Rahmen der Rechts- oder Steuerberatung sowie Dienstleistungen des Baugewerbes einschließlich der Dienstleistungen von Architekten,141 wobei der Dienstleistungsrichtlinie ein tätigkeitsbezogenes und kein berufsgruppenbezogenes Verständnis zugrundeliegt. Keine Anwendung findet die Dienstleistungsrichtlinie u. a. auf sog. nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, Gesundheitsdienstleistungen und auf Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind, sowie soziale Dienstleistungen. Auch die Tätigkeit von Berufen, die als Beliehene vom Staat mit Hoheitsfunktion betraut sind, wie Notare und Gerichtsvollzieher, sowie der Steuerbereich sind vom Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie ausgenommen.142 Art. 3 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie sieht vor, daß Bestandteile dieser Richtlinie, die Regelungen anderer Unionsakte widersprechen, hinter diesen zurückstehen. Es wird also ein Vorrang für spezielleres Unionsrecht manifestiert, soweit diese spezifischen Regelungen Aspekte der Aufnahme oder der Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regeln.143 Exemplarisch wird dazu in Art. 3 Abs. 1 lit. d die sog. Berufsanerkennungsrichtlinie144 aufgeführt. Da die Berufsanerkennungsrichtlinie ein in Abgrenzung zur Dienstlei138 Trotz der in der Richtlinie vorgesehenen dreijährigen Umsetzungsfrist bis zum 28. 12. 2009 haben bisher erst 19 Länder die Richtlinie in nationales Recht transformiert. Zum Teil ist die Umsetzung inkongruent erfolgt, so daß im EP eine Überarbeitung erwogen wird, bei der insbes. die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Verkehrs-, Energieversorgungs- und Kommunikationsnetze) im Mittelpunkt stehen, für die eine Herausnahme aus dem Geltungsbereich der Richtlinie gefordert wird. s. Eureport social 4 – 5/2010, S. 4. 139 s. dazu Hatje, NJW 2007, 2317 ff.; Calliess, DVBl. 2007, 336 ff.; Lambsdorff, EuZW 2005, 577 ff. 140 Lemor, EuZW 2007, 135 ff.; Kühling/Müller, BRAK-Mitt. 1/2008, S. 5 ff.; Calliess, DVBl. 2007, 36 ff. 141 Vgl. Erwägungsgrund 33 der Dienstleistungsrichtlinie. 142 Vgl. Art. 2 II lit. a, f, i, j, l und die Erwägungsgrunde 17, 22, 23, 25 und 27 Dienstleistungsrichtlinie. 143 Zur kollisionsrechtlichen Einordnung der Dienstleistungsrichtlinie insbes. im Verhältnis zur Berufsqualifikationsrichtlinie s. Lemor, EuZW 2006, 135, 136. 144 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 7. 9. 2005, ABl. EU Nr. L 255 v. 30. 9. 2005, S. 22. s. dazu oben 3. Kap. I. 2.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
stungsrichtlinie – jedenfalls teilweise – abweichendes Rechtsregime vorsieht, stellt sich die Frage, inwieweit diese Kollisionsregel der Spezialität im Fall Freier Berufe eingreift, wobei die unterschiedliche Struktur der Freien Berufe es erforderlich macht, eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Organisationsformen vorzunehmen am Maßstab ihrer Eigenschaft als „reglementierte“, d. h. an bestimmte Berufsqualifikationen und Rechts- oder Verwaltungsvorschriften gebundene Berufstätigkeiten.145 Nur soweit das Tatbestandsmerkmal der Reglementierung erfüllt ist, kommen die Berufsanerkennungsrichtlinie und der Spezialitätsvorrang zur Anwendung. Zwar ergibt sich aus Art. 5 Abs. 1 Berufsanerkennungsrichtlinie zunächst das Herkunftslandprinzip als auch im Rahmen der Berufsanerkennungsrichtlinie gültiges Grundprinzip.146 Hiervon abweichend sieht Art. 5 Abs. 3 Berufsanerkennungsrichtlinie jedoch vor, daß der Dienstleistungserbringer, wenn er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, den berufsständischen, gesetzlichen oder verwaltungsrechtlichen Berufsregeln unterliegt, die dort in unmittelbarem Zusammenhang mit der Berufsqualifikation stehen, sowie den dort geltenden Disziplinarbestimmungen. Daraus folgt, daß im Rahmen der Berufsanerkennungsrichtlinie faktisch das Bestimmungslandprinzip das vorherrschende Prinzip in den Fällen der grenzüberschreitenden vorübergehenden Dienstleistungserbringung ist.147 Der Dienstleistungserbringer nimmt also nicht das Recht seiner rechtmäßigen Niederlassung in die anderen Mitgliedstaaten mit, sondern muß sich weitgehend dem dort geltenden Berufsrecht unterwerfen, so daß vom Spezialitätsvorrang der Berufsanerkennungsrichtlinie auszugehen ist, obwohl vor allem die inhaltliche Verknüpfung mit der Berufsqualifikation des Dienstleistungserbringers unpräzise erscheint.148 Eines der zentralen Anliegen der Dienstleistungsrichtlinie ist es, Komplexität, Langwierigkeit und mangelnde Rechtssicherheit der Verwaltungsverfahren zu reduzieren. Die Mitgliedstaaten sollen daher die für die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit geltenden Verfahren und Formalitäten überprüfen und ggf. vereinfachen.149 Zudem kann die Europäische Kommission sog. Einheitliche 145
s. dazu Mann, EuZW 2004, 615, 616; Henssler, EuZW 2004, 615; Kluth/Rieger, EuZW 2005, 486, 457. 146 Vgl. hierzu Kluth/Rieger, EuZW 2005, 486, 487; Henssler, EuZW 2003, 229, 230; Mann, EuZW 2004, 615, 617; Kühling/Müller, BRAK-Mitt. 1/2008, 5 ff. 147 s. dazu Kühling/Müller, BRAK-Mitt. 1/2008, S. 5 ff., 6. 148 Ebenso Lemor, EuZW 2007, 135, 137, der im Zusammenhang mit der Umsetzung und Anwendung der Berufsanerkennungsrichtlinie kollisionsrechtliche Auslegungsprobleme befürchtet und im Ergebnis den Bestand nationalen Berufsrechts bei reglementierten Berufen über die Berufsanerkennungsrichtlinie und das dort vorgesehene Bestimmungslandprinzip in weiterem Maße gewährleistet sieht, als dies bei nicht reglementierten Berufen im Rahmen der Dienstleistungsrichtlinie der Fall sein könnte. Vgl. hier auch den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen v. 4.12.2006. 149 Vgl. Art. 5 Abs. 1 Dienstleistungsrichtlinie sowie Erwägungsgründe 43 und 46 der Dienstleistungsrichtlinie.
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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Formblätter einführen, die mit Zeugnissen, Bescheinigungen und sonstigen vom Dienstleistungserbringer vorzulegenden Dokumenten gleichwertig zu behandeln sind.150 Darüber hinaus müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, daß die Dienstleistungserbringer alle Verfahren und Formalitäten über sog. Einheitliche Ansprechpartner sowie elektronisch abwickeln können.151 Insbesondere die Frage der sog. Einheitlichen Ansprechpartner ist für die Organisationen der Freien Berufe von besonderer Bedeutung. In struktureller Hinsicht wird in der Dienstleistungsrichtlinie klargestellt, daß die Zahl der einheitlichen Ansprechpartner und die Zuständigkeitsverteilung zwischen den betroffenen Behörden und Stellen in den nationalen Systemen in der Organisationskompetenz der Mitgliedstaaten liegen. Die Dienstleistungsrichtlinie sieht zudem vor, daß die Einheitlichen Ansprechpartner nicht nur bei Verwaltungsbehörden angesiedelt werden können, sondern auch bei Berufs-, Handels- oder Handwerkskammern, Standesorganisationen oder privaten Einrichtungen, denen die Mitgliedstaaten diese Aufgabe übertragen.152 Bei der Entscheidung darüber, welche Organisationsform am ehesten geeignet ist, die Tätigkeiten des Einheitlichen Ansprechpartners effizient auszuüben, wird jedoch vor allem darauf zu achten sein, daß keine Strukturen geschaffen werden, die in Konkurrenz zu funktionierenden Systemen der Selbstverwaltung stehen und dadurch verfahrensmäßige Intransparenz und bürokratischen Mehr- und Doppelaufwand produzieren.153
c) Der Konsultationsprozeß zu EU-Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen Als positiv für die Selbstverwaltungsorganisationen der Freien Berufe und auch die Heilberufe war schon im Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie die Anerkennung der Prinzipien von Selbstverwaltung und Selbstregulierung sowie die Mitwirkung der Berufsverbände bei Maßnahmen zur Qualitätssicherung und der Erarbeitung europäischer Verhaltenskodizes im Richtlinienentwurf zu vermerken. Als höchst problematisch wurde jedoch von vielen Berufsgruppen der Freien Berufe und insbesondere von der großen Mehrheit der Heilberufsorganisationen die Anwendung des Herkunftslandprinzips bei der grenzüberschreitenden Leistungserbringung bewertet154, wonach Leistungserbringer auch im Gesundheits- und Sozialsektor nicht 150
s. Art. 5 Abs. 2 und Erwägungsgrund 44 Dienstleistungsrichtlinie. Vgl. Art. 6 und 8 Dienstleistungsrichtlinie sowie Erwägungsgründe 48 und 52. 152 Vgl. Erwägungsgrund 48 Dienstleistungsrichtlinie. Zur Befugnis der einheitlichen Ansprechpartner, Gebühren für ihre Tätigkeit zu erheben, s. Erwägungsgrund 49 der Richtlinie. Zur verwaltungsverfahrensrechtlichen Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie durch das 4. Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften s. Lemor, Der Freie Beruf 1 – 2/2009. 153 s. Lemor, EuZW, 2007, 135, 137; Kühling/Müller, BRAK-Mitt. 1/2008, 2 ff., 7. 154 Vgl. z. B. die Stellungnahme des Zahnärztlichen Verbindungsausschusses bei der EU v. 17. 9. 2004, zit. in: B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 322 ff. 151
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
mehr den berufsrechtlichen Anforderungen des Aufnahmestaates, sondern den Standards ihres Herkunftslandes unterworfen werden sollten, was gerade im Gesundheitssektor zu großen Folgeproblemen der Aufrechterhaltung von Berufsaufsicht und Qualitätssicherung sowie der Regulierung von Behandlungsfehlern führen könnte. Angesichts dieser Defizite hatte ein erheblicher Teil der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments Änderungen der Herkunftslandregelung und die Herausnahme gesundheitlicher und sozialer Dienstleistungen aus der Dienstleistungsrichtlinie gefordert. Nachdem das Europäische Parlament und der Rat sich diesem Standpunkt anschlossen und die Kommission aufforderten, spezifische Vorschläge für den Gesundheitssektor zu erarbeiten, verpflichtete sich die Kommission in der jährlichen Strategieplanung für 2007 zum Aufbau eines Gemeinschaftsrahmens für sichere, hochwertige und effiziente Gesundheitsdienste durch Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und Herstellung von Klarheit und Sicherheit in der Anwendung des EU-Rechts auf Gesundheitsdienste und Gesundheitsversorgung.155 Darin komme – so die Kommission – das Engagement der Kommission im Rahmen der bürgernahen Agenda für eine wirksamere Sicherstellung der Rechte der Bürger auf Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung in ganz Europa zum Ausdruck.156 Außerdem spiegelten sich darin die Ziele des Weißbuchs zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse157 wider; nämlich einen systematischen Ansatz zu entwickeln, um den Besonderheiten von Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen Rechnung zu tragen und den Rahmen abzustecken, in dem diese Dienste funktionieren. Die Kommission entsprach damit dem Bericht des Europäischen Parlaments von 2005 über die Patientenmobilität und Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der EU und dem Entschließungsantrag vom 18.12.2006158, in dem das Parlament die Kommission dazu aufforderte, Maßnahmen zu einem breiten Spektrum von Themen im Zusammenhang mit der Patientenmobilität und der engeren Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitssystemen zu ergreifen. Die Gesundheitsminister verabschiedeten auf der Ratstagung vom 1. 6. 2006 eine „Erklärung zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien in den EU-Gesundheitssy-
155
KOM (2006), 122 v. 14.3.2006. KOM (2006), 211 v. 10. 5. 2006, S. 5. 157 Zum Weißbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (KOM 2004), 374 v. 12. 5. 2004 mit der Einordnung des Gesundheitswesens als spezifisch gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge s. Kommissionsbericht (KOM (2006), 117 v. 26. 4. 2006) Umsetzung des Gemeinschaftsprogramms von Lissabon – Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union; s. dazu auch B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen im Umbruch, S. 39 ff., 62 ff. 158 s. Entschließungsantrag (B-6-000/2006) des EP v. 18. 12. 2006 zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. 156
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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stemen“159, die betont, wie wichtig es sei, „die Werte und Prinzipien zu schützen, auf denen die Gesundheitssysteme in der EU beruhen“. Sie forderten insbesondere zu einer Initiative für die Gesundheitsdienstleistungen auf, „… mit der für die europäischen Bürger für Klarheit über ihre Rechte und Ansprüche beim Wechsel ihres Aufenthaltes von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen gesorgt wird und diese Werte und Prinzipien zur Gewährleistung von Rechtssicherheit in einem Rechtsrahmen verankert werden“. Nach Auffassung der Kommission, die sie in ihrer „Mitteilung zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen“160 artikuliert hat, sollten die Gemeinschaftsmaßnahmen unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und der mitgliedstaatlichen Kompetenzen auf zwei Säulen beruhen: • der Rechtssicherheit, die derzeit sowohl von den Bürgern als auch von den nationalen und lokalen Akteuren des Gesundheitswesens vermißt werde. Es sei notwendig, die breitere Anwendung der EuGH-Entscheidungen zu den Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit von Patienten, Beschäftigten des Gesundheitswesens und den freien Verkehr von Gesundheitsdienstleistungen zu thematisieren. Hierbei steht vor allem die grenzüberschreitende gesundheitliche Versorgung im Mittelpunkt des Interesses; diese habe jedoch Auswirkungen auf alle Gesundheitsdienstleistungen, ob sie nun grenzüberschreitend erbracht werden oder nicht. • der Unterstützung der Mitgliedstaaten in Bereichen, in denen ein europäisches Vorgehen einen Mehrwert im Vergleich zu einzelstaatlichen Maßnahmen im Gesundheitswesen erbringen könne. Dies solle den für die Gesundheitssysteme Verantwortlichen (einschließlich der Einrichtungen der Sozialen Sicherheit) einen klaren gemeinschaftlichen Rechtsrahmen an die Hand geben, auf dessen Grundlage sie handeln und die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitssystemen nutzbar machen können. Obwohl die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs als solche klar seien und keine Voraussetzungen für die Wahrnehmung der vom Gerichtshof anerkannten Patientenrechte verlangt werden könnten, erscheint es der Kommission notwendig, für mehr Klarheit zu sorgen, um eine allgemeine und effektive Anwendung der Rechte auf Inanspruchnahme und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen sicherzustellen. Dazu werden folgende Fragen thematisiert: • ob es gemeinsame Werte und Grundsätze für die Gesundheitsdienstleistungen gibt, auf die die Bürger sich in der gesamten EU verlassen können, und welche
159 Schlußfolgerungen des Rates über gemeinsame Werte und Prinzipien in den EU-Gesundheitssystemen, 2733. Ratstagung zu Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, Luxemburg, 1./2.6.2006. 160 s. Mitteilung der Kommission v. 26. 9. 2006, Konsultation zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen, KOM (2006), 1105 endg.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
praktischen Fragen der Bürger zu klären sind, die sich in einem anderen Mitgliedstaat gesundheitlich versorgen lassen möchten; • welchen Spielraum die Mitgliedstaaten haben, um ihre Systeme selbst zu regeln, ohne den freien Verkehr ungerechtfertigt zu behindern; • wie eine größere Wahlfreiheit bei der Wahrnehmung individueller Ansprüche mit der finanziellen Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme insgesamt zu vereinbaren ist; • wie ein angemessener finanzieller Erstattungsmechanismus für grenzüberschreitende gesundheitliche Versorgung durch die „aufnehmenden“ Gesundheitssysteme sichergestellt werden kann; • wie Patienten oder entsprechende Berufsangehörige Dienstleistungserbringer in anderen Ländern ermitteln, auswählen oder vergleichen können; • welcher Zusammenhang zwischen Gesundheitsdienstleistungen und damit verbundenen Dienstleistungen wie Sozial- und Pflegedienstleistungen besteht. Diese Fragen, die im Mittelpunkt der von der Kommission vorgelegten „Mitteilung zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen“161 stehen, werden auf verschiedene Arten grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung fokussiert, die als Gegenstand von EU-Maßnahmen in Betracht kommen: • die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen (vom Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zum Hoheitsgebiet eines anderen), wie telemedizinische Dienstleistungen, Ferndiagnose, Fernverschreibung oder Laborleistungen; • die als „Patientenmobilität“ bezeichnete Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Ausland (d. h. ein Patient fährt zur Behandlung zu einem Dienstleistungserbringer in einen anderen Mitgliedstaat). Dabei soll die Europäische Krankenversicherungskarte die Versorgung abdecken, die bei einem vorübergehenden Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat aus anderen Gründen erforderlich wird; • der ständige Aufenthalt eines Dienstleistungserbringers (d. h. Niederlassung eines Dienstleistungserbringers in einem anderen Mitgliedstaat), wie beispielsweise lokale Praxis- oder Klinikfilialen und • der vorübergehende Aufenthalt von Personen (d. h. Freizügigkeit von Angehörigen der Gesundheitsberufe, die beispielsweise vorübergehend in den Mitgliedstaat des Patienten fahren, um dort ihre Dienstleistungen zu erbringen). Nachdem der Gesundheitsbereich von der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie ausgeschlossen worden ist, hat die Kommission mit ihrer Mitteilung vom 26. 9. 2006
161
s. Mitteilung der Kommission v. 26. 9. 2006, KOM (2006), 1105 endg.
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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eine öffentliche Konsultation zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen eingeleitet.162 Mit der Konsultation wurde um Beiträge zu folgenden Fragen ersucht: • Wo ist mehr Rechtssicherheit erforderlich, um die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in der Praxis zu erleichtern (z. B. Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung zu genehmigen und zu bezahlen ist; wessen Vorschriften gelten und was passiert im Schadensfall)? • In welchen Bereichen können europäische Maßnahmen die Mitgliedstaaten unterstützen, z. B. durch Vernetzung von Referenzzentren und Verwirklichung des Innovationspotenzials? • Welche Instrumente wären geeignet, um diese verschiedenen Fragen auf EUEbene anzugehen – bindende Rechtsakte, nicht bindende Rechtsinstrumente oder sonstige Mittel? • Welche Auswirkungen hat die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung derzeit auf Zugänglichkeit, Qualität und finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme sowohl in den Heimat- als auch in den Aufnahmeländern der Patienten? Anhand der Ergebnisse des Konsultationsprozesses wollte die Kommission prüfen, in welchen Bereichen Maßnahmen der EU sinnvoll und erforderlich sind, und zeitnah Vorschläge unterbreiten, die in einen Richtlinienentwurf für Gesundheitsdienstleistungen einmünden könnten. Insbesondere fragte sie danach, in welchen Gesundheitssektoren und Rechtsmaterien und in welchem Umfang Rechtssicherheit geschaffen werden sollte. Dabei unterscheidet sie zwischen der Mobilität von Patienten und Behandlern. Diese Differenzierung ist sachgerecht, denn es handelt sich um unterschiedliche Bereiche, bei denen der Handlungsbedarf unterschiedlich zu beurteilen ist. Die Kommission weist zu Recht darauf hin, daß vor der Frage nach neuen Regelungen festzustellen ist, welche rechtlichen Vorgaben bereits bestehen und ob die vorhandenen Regelungen ausreichend sind, um die gemeinschaftsrechtlich garantierten Freizügigkeitsrechte von Patienten und Heilberufen zu gewährleisten. d) Anforderungen an Rechtssicherheit für transnationale Gesundheitsdienstleistungen Dabei ist davon auszugehen, daß die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen klare rechtliche Regelungen benötigt. Der Europäische 162 Zum Konsultationsprozeß und dem Vorhaben einer spezifischen EU-Richtlinie zu Gesundheitsdienstleistungen und Patientensicherheit s. B. Tiemann, in: Ulrich/Ried (Hrsg.), Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, 2007, S. 411 ff.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
Gerichtshof hat auf diesem Feld in zahlreichen Einzelentscheidungen grundsätzliche Vorgaben gemacht, die der Übertragung in europäisches Sekundärrecht harren. Es bedarf eines allgemeinverbindlichen europäischen Rechtsrahmens, der konkret die Bedingungen definiert, unter denen in Europa grenzüberschreitend Gesundheitsdienstleistungen erbracht, finanziert und nachgefragt werden können. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung auch eindeutige Aussagen zur Finanzierung getroffen und immer wieder entschieden, daß Patienten Kostenerstattung für im Ausland erbrachte Dienstleistungen geltend machen können, ein Grundsatz, der lediglich für den stationären Bereich mit Einschränkungen versehen wurde. Entsprechend der vom EuGH postulierten grundlegenden Bedeutung der Kostenerstattung für die Nachfrage, Erbringung und Abrechnung von Gesundheitsleistungen163 hat der deutsche Gesetzgeber die Kostenerstattungsregelungen in § 13 SGB V novelliert. Allerdings führen die einschränkenden Voraussetzungen und die Verwaltungspraxis in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor dazu, daß von der Kostenerstattung weniger Gebrauch gemacht wird, als von den Patienten gewünscht, so daß die Kostenerstattung auch durch andere Länder für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen rechtssicher festgeschrieben werden sollte. Zahlreiche Beschwerden bei europäischen Verbraucherzentralen belegen, daß die Genehmigung von Auslandsbehandlungen und die Kostenerstattung für viele Patienten problematisch bleiben. Die unionsrechtlich garantierten Freiheiten können nur dann rechtswirksam werden, wenn die administrativen Hürden für medizinische Behandlungen von EU-Bürgern in einem anderen Mitgliedstaat abgebaut werden. Was die Mobilität von Angehörigen der Heilberufe betrifft, dürfte diese durch die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen 2005/36/EG hinreichend geregelt sein, so daß es diesbezüglich zunächst keines zusätzlichen Rechtsrahmens, sondern einer richtlinienkonformen Umsetzung in die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen bedarf. Nach wie vor bestehen Informations- und Transparenzdefizite bezüglich des Leistungsspektrums und der -konditionen im jeweiligen EU-Ausland. Patienten müssen über die Angebote im europäischen Ausland sowie über ihre Rechte und Pflichten bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen im Ausland hinreichend informiert werden. Im Gegenzug müssen die Erbringer von Gesundheitsdienstleistungen in vollem Umfang Zugang zu Informationen über den Gesundheitszustand von Patienten aus dem EU-Ausland haben164. Auch sollte die 163
Zur Kostenerstattung als leistungsrechtlicher Gestaltungsform der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung s. G. Schneider, in: Sodan (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung, S. 101 ff.; B. Tiemann, ZMGR 2005, 14 f.; zur Zukunft des Sachleistungsprinzips im Binnenmarkt s. Rixen, ZESAR 2003, 69 ff.; Udsching/Harich, EuR 2006, 794 ff. 164 s. dazu GVG (Hrsg.), Die GVG zu Patientenmobilität und den Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der EU, 2004; s. Donges/Eeckhoff/Franz/Fuest/Möschel/Neumann, in: Stiftung Marktwirtschaft, Dienstleistungsmärkte in Europa weiter öffnen, 2007, S. 51 ff.
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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Vernetzung der zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten zum verbesserten Informationsaustausch über migrierende Erbringer von Gesundheitsdienstleistungen fortgesetzt werden. Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Zugang zu dem von der Kommission entwickelten EDV-gestützten Informationssystem IMI (Internal Market Information Management System) zu. Bei allen Maßnahmen auf der gesetzlichen wie auch der untergesetzlichen Ebene müssen die Beteiligten (die Kommission, die Mitgliedstaaten und deren Behörden, Dienstleistungserbringer und –inanspruchnehmer) bestehende Rechtsvorschriften über den Datenschutz berücksichtigen und eine sichere Methode des Austausches der Krankenakten sowie von Informationen über Angehörige der Heilberufe einführen, in die auch die Fachkompetenz und Problemnähe der Berufsorganisationen vorrangig einzubeziehen sind. Bezüglich der Frage der Kommission, welche Bereiche (z. B. klinische Aufsicht, finanzielle Verantwortung) in die Zuständigkeit der Behörden welchen Landes fallen sollten und ob sich diese Zuständigkeiten bei den verschiedenen Arten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung unterscheiden, ist davon auszugehen, daß bei der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung immer das Recht des Aufnahmestaates gilt, demzufolge auch das in der Kompetenz der berufsständischen Selbstverwaltungsorganisationen angesiedelte Berufsrecht. Ebenso wird im Followup zum Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen165 deutlich hervorgehoben, „daß den nationalen berufsständischen Einrichtungen für freiberufliche Dienstleister eine herausgehobene Bedeutung bei der Fortführung der Reformanstrengungen zukommt“. Die verschiedenen Versorgungssysteme in den Mitgliedstaaten bedingen, daß in den einzelnen Ländern unterschiedliche Behörden und Institutionen auf zentral- oder gliedstaatlicher bzw. regionaler oder lokaler Ebene Zuständigkeiten wahrnehmen. Dies liegt in den grundsätzlich unterschiedlichen Staatsorganisationsstrukturen und Gesundheitssystemen der Mitgliedstaaten begründet, die die EU bei ihren Überlegungen zu Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen in den Blick nehmen muß. Ziel kann es daher nur sein, die jeweiligen Zuständigkeiten transparent zu machen. Die von der Kommission angestrebte Rechtssicherheit ist durch Kontinuität der Rahmenbedingungen der Behandlung bei einer inländischen Behandlung über die Vorgaben der Berufsordnung gewährleistet.166 Um die berufsrechtliche Überwachung, für die in Deutschland die Heilberufskammern zuständig sind, ausüben zu können, ist es erforderlich, daß Heilberufsangehörige, die ihre Dienstleistungen außerhalb ihres Niederlassungslandes erbringen, sich bei der zuständigen Berufsvertretung im Land der Dienstleistungserbringung anmelden bzw. registrieren
165
s. hierzu Europäisches Parlament, Bericht über das Follow-up zum Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen v. 14. 9. 2006 (endg. AG-0272206). 166 So verlangt z. B. § 9 Abs. 2 der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer vom Zahnarzt, daß die Versorgung seiner Patienten durch ihn sichergestellt wird.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
lassen müssen. Dies kann sich insbesondere für Nachsorge- oder Haftungsprobleme als erforderlich erweisen. Die Rechtschutz- und Schadenersatzsysteme des Haftungsrechts für Gesundheitsdienstleistungen der Mitgliedstaaten sind eingebettet in deren – unterschiedliche – allgemeine Rechtssysteme. Die Etablierung eines eigenen spezifischen Haftungssystems für den Bereich der Gesundheitsdienstleistungen erscheint weder praktikabel noch wünschenswert. Maßgebend kann nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen des internationalen Privatrechts nur das Recht des Landes sein, in dem die Behandlung stattfindet. Der Patient wählt von sich aus das Land, in dem er die Behandlung durchführen lassen will. Diese Entscheidung hat zugleich zur Folge, daß die in diesem Land geltenden rechtlichen Bestimmungen zur Anwendung kommen. Der Patient muß die Möglichkeit haben, sich im Vorfeld seiner Behandlung über die rechtlichen Bestimmungen und die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten dieses Landes zu informieren. Grundsätzlich sollte vor der Erbringung einer grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistung sichergestellt sein, daß der Dienstleistungserbringer über eine hinreichende Haftpflichtversicherung verfügt167. Demgegenüber ist eine europaweite Anwendung von rechtlichen Regelungen der Gefährdungs- oder Garantiehaftung oder der Einführung der Beweislastumkehr im medizinischen Behandlungsbereich abzulehnen. Würden nationale Rechtstraditionen des Dienstvertragsrechts im Haftpflichtbereich nicht gewahrt, hätte dies schwerwiegende Folgen für das Arzt-Patienten-Verhältnis als Vertrauensbeziehung und insbesondere das berufliche Verhalten von Ärzten und Zahnärzten. Es bestünde die Gefahr einer Defensivmedizin, wie sie aus dem angloamerikanischen Raum bekannt ist infolge Steigerungen der Haftungsrisiken und der Versicherungsprämien. Diese würden sich zunächst auf den Arzt bzw. Zahnarzt auswirken, der versuchen müßte, sie auf die Behandlungskosten und damit auf die Patienten bzw. die Krankenversicherungen mit erheblichen Folgekosten für die Gesundheitssysteme zu überwälzen. Um sicherzustellen, daß die Behandlung von Patienten aus anderen Mitgliedstaaten mit der Bereitstellung ausgewogener ambulanter und stationärer Versorgung für alle vereinbar ist, müssen die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung zur Patientenmobilität in europäisches Sekundärrecht Eingang finden, um den unionsrechtlich verbürgten Anspruch in die Versorgungsrealität zu transformieren, gesundheitliche Versorgung auch grenzüberschreitend zu nutzen168. Demgegenüber sind die Mobilität von Beschäftigten des Gesundheitswesens oder die Niederlassung von Dienstleistungserbringern für Angehörige der reglementierten Heilberufe durch die Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen 2005/36/EG hinreichend geregelt. Auf der untergesetzlichen Ebene wäre die Erarbeitung europäischer Verhaltenskodizes durch die Berufsorganisationen zu befürworten, wie sie in 167
Wie sie in Art. 23 der Dienstleistungsrichtlinie vorgeschrieben wird. Vgl. den Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments v.18. 12. 2006 zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. 168
II. Die grenzüberschreitende Leistungserbringung
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der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt vorgesehen sind.169 Diese Kodizes sollten u. a. Maßnahmen zur Qualitätssicherung berücksichtigen, darunter die (Selbst)Verpflichtung zur Fortbildung und zu lebenslangem Lernen. e) Die Funktion der Selbstverwaltung bei subsidiärer Selbst- und Koregulierung In zahlreichen Stellungnahmen zum Konsultationsprozeß wurde u. a. von den Organisationen der Heilberufe darauf hingewiesen, daß grundsätzlich Maßnahmen zur Qualitätssicherung, wie sie z. B. in dem Richtlinienentwurf über Dienstleistungen im Binnenmarkt170 vorgesehen waren, nicht auf EU-Ebene geregelt werden sollten. Qualitätscharten und die Einrichtung unabhängiger oder akkreditierter Gremien zur Überwachung der Qualitätssicherung sind genuine Aufgabe der fachkompetenten Profession und ihrer Selbstverwaltung. Dies entspricht sowohl dem Selbstverständnis der Heilberufe und ihrer sozialethischen Verpflichtung als auch dem unionsrechtlichen Leitbild der Subsidiarität, zumal auf europäischer Ebene die Tendenz erkennbar ist, die Selbstverwaltung als Instrument der Selbst- und Koregulierung für bestehende Probleme wie Überregulierung, mangelnde Transparenz und fehlende Marktnähe einzusetzen. Anlaß der Diskussion über die Selbst- und Koregulierung auf EU-Ebene ist u. a. der Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfeldes“, den die Kommission im Juni 2002 verabschiedet hat. Danach sollen Alternativinstrumente zur Vermeidung der Überreglementierung u. a. auch im Bereich der EU-Binnenmarktgesetzgebung untersucht werden. Eine im Dezember 2003 durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission getroffene interinstitutionelle Vereinbarung schreibt dies verbindlich fest. In den Folgejahren wurden verschiedene Initiativen ergriffen, den Normenbestand des EU-Rechts auf Deregulierungspotential zu durchforsten und die Möglichkeiten einer Verlagerung auf die Mitgliedstaaten oder dezentrale Institutionen zu eruieren. Dabei kann gerade im Gesundheitswesen den Rechtsetzungsinstrumenten der Selbstverwaltungen eine spezifische Rolle für sach- und betroffenennahe Normsetzung zufallen. Soweit die EU-Kommission im Konsultationsprozeß die Frage aufwirft, ob die Rechtssicherheit im Zusammenhang mit speziellen Strukturänderungen der Gesundheits- oder Sozialversicherungssysteme verbessert werden sollte, ist darauf hinzuweisen, daß die Union selbst keine originären Kompetenzen zur Gestaltung der Gesundheits- und sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten hat. Allerdings sollte sie darauf hinwirken, daß die Systeme in den Mitgliedstaaten so weiterentwickelt werden, daß sie den Anforderungen der transnationalen Leistungsinanspruchnahme gerecht werden.
169 170
s. Art. 37 des Gemeinsamen Standpunktes des Rates. Art. 26 des Gemeinsamen Standpunktes des Rates.
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Dazu gehören die Einführung des Kostenerstattungsprinzips und ordnungspolitische Rahmenbedingungen, die das Arzt-Patienten-Verhältnis in den Mittelpunkt stellen sowie die Eigenverantwortung der Patienten und die Wahl- und Therapiefreiheit von Patienten und Heilberufsangehörigen respektieren. Im übrigen wird mit der Umsetzung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen ein signifikanter Beitrag zur Erleichterung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung geleistet. Ob weitere legislative Maßnahmen auf EU-Ebene für die Erbringung und Abwicklung von Gesundheitsdienstleistungen durch die Heilberufe angesichts der bestehenden Koordinierungsregelungen für grenzüberschreitende Leistungsinanspruchnahme, der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit und der Anerkennung von Berufsqualifikationen erforderlich bzw. sinnvoll sind, wird die geplante Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zeigen. Alternativ könnten nicht-legislative Mittel, z. B. die Methode der Offenen Koordinierung, als paranormative Instrumente informeller Konzertierung genutzt werden.171 In diesem Zusammenhang ist auch die Bildung europäischer Referenzzentren, wie die Verbesserung der Verfügbarkeit und Vergleichbarkeit von gesundheitsspezifischen Indikatoren zu befürworten. Allerdings werden sich solche Netzwerke der Preis- und Qualitätstransparenz sowie morbiditäts- und versorgungsstruktureller Informationsagenturen schon aus der Marktdynamik heraus entwickeln, so daß es nicht unbedingt einer institutionellen Unterstützung seitens der EU bedürfte. Hinsichtlich der Patientenmobilität könnte eine Kodifizierung der Rechtsprechung des EuGH größere Rechtssicherheit bewirken. Zusätzlich könnten die Erarbeitung europäischer Verhaltenskodizes durch Berufsorganisationen sowie der Nachweis einer Haftpflichtversicherung durch den grenzüberschreitend tätigen Erbringer von Gesundheitsdienstleistungen in einem solchen Rechtsrahmen festgeschrieben werden, wobei letzteres jedoch nicht zu einer garantieförmigen bzw. werkvertragsähnlichen Umgestaltung des Arzthaftungsrechts oder zur Einführung der Beweislastumkehr im medizinischen Bereich führen darf. Schon vor einigen Jahren hat die „Hochrangige Reflexionsgruppe“ der EUKommission mobilitätsfördernde Vorschläge für das Gesundheitswesen erarbeitet172, die die Verbesserung der Patienteninformation, die Erleichterung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung durch bessere Nutzung freier Kapazitäten in anderen Mitgliedstaaten, EU-weiten Netzen von Sachverständigen im Gesundheitswesen und Spitzentechnologiezentren sowie die regelmäßige Evaluierung neuer Gesundheitstechnologien und den systematischen Austausch bewährter Verfahren beinhalten.
171 s. dazu B. Tiemann, in: Ulrich/Ried (Hrsg.), Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, S. 434. 172 s. dazu Gesundheitspolitischer Informationsdienst 13/2004, 14/2004 sowie die Reaktion der EU-Kommission auf die Vorschläge dieses Expertengremiums in Form einer dreigliedrigen Initiative, KOM (2004), 301.
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Auch wenn im Hinblick auf Sprachbarrieren, Mobilitätsschranken oder Nachsorge- und Gewährleistungsproblematiken keine massiven Patientenabwanderungen zu erwarten sind, entstehen unabhängig von normativen Rechtsakten der EU insbesondere in den grenznahen Gebieten transregionale Formen der Zusammenarbeit zwischen deutschen Krankenversicherungsträgern und Heilberufsorganisationen mit den EU-Staaten, die der wechselseitigen Betreuung von Versicherten und Leistungserbringern, der Koordination der Leistungsnachfrage und Abrechnungsmodalitäten sowie der länderübergreifenden Regionalplanung der Versorgungsstrukturen dienen. Auch grenzüberschreitende Verträge von Finanzierungsträgern mit Gesundheitseinrichtungen sind eingeleitet, während die Berufsorganisationen der Heilberufe ihre Kooperation bei der Weiterentwicklung von Selbstverwaltungs- und Versorgungsstrukturen bezüglich Fort- und Weiterbildung, Notdienstorganisation oder Tarifgestaltungen verstärken, die sich an den bereits bestehenden EuregioModellen orientieren und in Richtung der neuen EU-Mitgliedsländer ausgebaut werden.173 Solche dezentral-mitgliedstaatlichen, häufig regionalen oder lokalen Initiativen von Gesundheitsinstitutionen und Selbstverwaltungsorganisationen erweisen sich häufig als effizienter und strukturadäquater als unionseinheitliche normative Vorgaben.
2. Der Entwurf einer EU-Richtlinie über Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung a) Zielsetzung und Eckpunkte des Richtlinienentwurfs Der Konsultationsprozeß der EU-Kommission mündete in einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung174 auf der Grundlage des Binnenmarktrechts (Art. 114 AEUV, ex-Art. 95 EGV), den die Kommission am 2. 7. 2008 vorlegte und der vom Europäischen Parlament am 23. 4. 2009 in erster Lesung angenommen wurde.175 Nach Ablehnung durch den EU-Ministerrat am 1. 12. 2009 und neuen Verhandlungen wurde am 8. 6. 2010 auf Ebene des 173 s. dazu unten 4. Kap. I. 2. sowie B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, aaO, S. 329 ff.; vgl. hierzu die Übersicht bei GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten der EU, S. 17 ff., 83 ff.; vgl. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments v. 9. 6. 2005 zur Patientenmobilität und den Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union (BR-Drucks. 582/ 05). Zu den Wachstumspotentialen und Beschäftigungschancen eines liberalisierten europäischen Gesundheitsmarktes s. Donges/Eeckhoff/Franz/Fuest/Möschel/Neumann, in: Stiftung Marktwirtschaft, S. 39 ff., 56 ff. 174 Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, KOM (2008), 414 endg. v. 2.7.2008. 175 Dok. 8903/03.
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Ministerrates eine Einigung in Grundsatzfragen erzielt,176 die sich derzeit in weiterer ergebnisoffener Beratung mit dem EU-Parlament befinden. Anliegen des Unionsgesetzgebers ist es, den im Lichte der EuGH-Rechtsprechung primärrechtlich durch die Grundfreiheiten, insbesondere die Produkt- und Dienstleistungsfreiheit begründeten Anspruch auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu konkretisieren und damit im Kodifikationsweg rechtssicher und rechtshandbar zu machen.177 Nach diesem Richtlinienentwurf sollen Patienten das Recht erhalten, Gesundheitsdienstleistungen zum Teil auch ohne vorherige Genehmigung durch die Kostenträger in einem anderen Mitgliedstaat der EU in Anspruch zu nehmen. Zugleich soll der Patient einen Anspruch auf Erstattung der damit verbundenen Kosten in der Höhe der Leistung erhalten, die ihm in seinem Heimatstaat gewährt worden wäre. Nur im Falle von aufwendigen und hochspezialisierten stationären Leistungen soll bei Inanspruchnahme der Leistungen eine vorherige Genehmigung erforderlich bleiben. Ferner soll dieses Recht sich auch auf medizinische Produkte erstrecken. Bei Inkrafttreten der Richtlinie würde die grenzüberschreitende Leistungserbringung bezüglich der Kostenerstattung auf Primärrecht, hinsichtlich der koordinierten Sachleistungserbringung auf einer EU-Verordnung und zusätzlich auf einer Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der Gesundheitsversorgung fußen, was Anwendungskonflikte der verschiedenen Rechtsgrundlagen und Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Vielzahl unterschiedlicher Optionen provozieren könnte, auch wenn Art. 3 des Richtlinienentwurfs anderen EU-Rechtsakten für den Fall eines Normenkonflikts mit der Richtlinie Vorrang einräumt und die Richtlinie hinter diesen anderen Rechtsakten zurücktritt. Zur „Gesundheitsversorgung“ sollen nach dem Richtlinienentwurf (Art. 4a)178 ohne Einschränkungen alle Gesundheitsleistungen gehören, die von Angehörigen der Gesundheitsberufe in Ausübung ihres Berufs und unter Aufsicht erbracht werden, unabhängig davon, in welcher Weise diese Leistungen organisiert, bereitgestellt und finanziert werden und ob dies öffentlich oder privat erfolgt.179 In den Erwägungsgründen wird hervorgehoben, daß die Richtlinie nicht im Bereich der Langzeitpflege gilt, mithin nicht für Personen, die über einen längeren Zeitraum einen 176
Vgl. Rat der EU Dok. 9948/10. s. dazu Eureport social 6/2010, S. 12 f. s. Mitteilung der Kommission v. 26. 9. 2006, Konsultation zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen – SEK (2006) 1195. 178 Vgl. die Analyse des Richtlinienentwurfs bei Schulte, Fachtagung des Bundesgesundheitsministeriums „Chancen und Risiken einer EU-Richtlinie zur Ausübung der Patientenrechte bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“, Berlin 29. 9. 2008 (www.bundesgesundheitsministerium.de). 179 Demgegenüber fordert die Bundesregierung eine Beschränkung der Richtlinie auf Kostenerstattungen im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung und eindeutige Bereichsausnahmen für Leistungen der Sozialhilfe, der Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung (s. die Darstellung der Verhandlungsposition der Bundesregierung zum Richtlinienvorschlag der EU in: Fachtagung BMG). 177
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besonderen Pflegebedarf haben, wobei sich rechtliche Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Gesundheits- und Pflegedienstleistungen ergeben.180 Der Richtlinienvorschlag stellt klar, daß auch Patienten, die sich nicht unter den im Rahmen der VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/2004 vorgesehenen Bedingungen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat begeben, in den Genuß der Grundsätze des freien Dienstleistungsverkehrs und der diesen konkretisierenden Bestimmungen der Richtlinie gelangen sollen. Der Patient kann sich mithin entsprechend den bisherigen alternativen Anspruchsoptionen entweder auf die VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/ 2004 oder auf die Richtlinie stützen. Ein Versicherter begibt sich durch die Berufung auf die Richtlinie nicht etwaiger günstigerer Ansprüche nach diesen bestehenden Verordnungen, sondern kann entscheiden, welches Rechtsregime er in Anspruch nehmen will. Die Richtlinie trifft Bestimmungen für die allgemeinen Verfahrensgrundsätze der Gesundheitsversorgung und die Zuständigkeit und Aufgaben der Behörden des Behandlungsmitgliedstaates, auf dessen Gebiet grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen tatsächlich erbracht werden (Art. 5). Dabei ist vorgesehen, daß die EU-Kommission, „soweit dies notwendig ist, um die Erbringung grenzüberschreitender Gesundheitsdienstleistungen zu erleichtern“, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten Leitlinien erarbeitet.181 Der Versicherungsmitgliedstaat hat sicherzustellen, daß der Versicherte nicht an der Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat gehindert wird, sofern die betreffende Behandlung nach dem Recht des Versicherungsmitgliedstaats zu den Leistungen gehört, auf die er Anspruch hat, d. h. daß eine Leistung, die im Inland nicht erstattungsfähig ist, bei einer Behandlung im EU-Ausland ebenfalls grundsätzlich nicht erstattet wird. Die Erstattungshöhe, die der Versicherungsstaat gewährt, orientiert sich an vergleichbaren Gesundheitsdienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet, wobei die tatsächlichen Kosten der erhaltenen Gesundheitsdienstleistung nicht überschritten werden dürfen. Dabei kann der Versicherungsmitgliedstaat für eine grenzüberschreitende Leistungsgewährung dieselben Bedingungen, Anspruchskriterien und administrativen Verfahren für die Leistungsinanspruchnahme und Kostenerstattung wie für eine Inlandsversorgung vorschreiben (Art. 6), so daß es damit weiter möglich sein wird, Leistungen an Bedingungen wie die Überweisung vom Allgemein- zum Facharzt zu knüpfen. Die Erstattung der Kosten einer ambulanten Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat darf nicht von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden, wenn die Kosten dieser Behandlung vom inländischen Sozialversicherungssystem über180 Schulte, in: Bundesgesundheitsministerium, Fachtagung über „Chancen und Risiken einer EU-Richtlinie zur Ausübung der Patientenrechte“. 181 Art und Umfang dieser Leitlinienkompetenz sind zwischen den Mitgliedstaaten umstritten. s. Standpunkt der Bundesregierung in: Fachtagung BMG, sowie Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 18/2009.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
nommen worden wären (Art. 7). Demgegenüber kann für eine Krankenhausbehandlung ein System der Vorabgenehmigung für die Kostenerstattung eingeführt werden, wenn im Falle der Behandlung im eigenen Hoheitsgebiet die Kosten übernommen worden wären und soweit dieses Genehmigungssystem dazu dient, das finanzielle Gleichgewicht des Sozialversicherungssystems des Mitgliedstaats und die Planungssicherheit im Krankenhaussektor zu gewährleisten und zu verhindern, daß Versorgungs- und Behandlungskapazitäten auf dem Territorium des Versicherungsmitgliedstaats destabilisiert werden. Das System der Vorabgenehmigung soll auf das notwendige und angemessene Maß der Vermeidung solcher Auswirkungen begrenzt bleiben.182 Als Krankenhausbehandlungen gelten in diesem Zusammenhang solche Behandlungen, die eine Übernachtung des Patienten erforderlich machen, sowie Behandlungen, die in einer Liste spezifischer Maßnahmen enthalten sind, die nach dem Richtlinienvorschlag von der EU-Kommission erstellt und regelmäßig aktualisiert werden soll183 und die den Einsatz einer hochspezialisierten und kostenintensiven medizinischen Infrastruktur erfordern bzw. besonders risikobehaftet für den Patienten oder die Bevölkerung sind (Art. 8). Die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat soll ferner dadurch erleichtert werden, daß Verfahrensgarantien (Art. 9) und Informationen (Art. 10) implementiert werden, wie die Versorgung von Patienten aus anderen Mitgliedstaaten nach dem Recht des Behandlungsmitgliedstaats zu erfolgen hat. Von den Mitgliedstaaten werden nationale Kontaktstellen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung benannt, die für die Umsetzung und Durchführung dieser Gewährleistungen sorgen sollen (Art. 11). Das Europäische Parlament fordert zudem die Einrichtung eines Ombudsmanns, des „Europäischen Patientenbeauftragten“, dem die Aufgabe zukommen soll, bei Patientenbeschwerden, die die Vorabgenehmigung oder Behandlungsschäden betreffen, zu prüfen und ggf. zu vermitteln.184 In diesem Zusammenhang ist es vorgesehen, daß die Kommission Maßnahmen für die Verwaltung des Netzes nationaler Kontaktstellen ergreift, Regelungen für die Erfassung und den Austausch von Daten trifft und Leitlinien für die für den Patienten bereitzustellenden Informationen erläßt (Art. 12). Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen, die Organisationen der heilberuflichen Selbstverwaltung an den Kontaktstellen zu beteiligen, und klargestellt, daß diese keine Rechtsberatung
182 Die Ausgestaltung der Vorabgenehmigungen ist ebenfalls Gegenstand kontroverser Beratungen unter den Mitgliedstaaten. s. dazu Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 18/2009, 16 f. 183 Demgegenüber möchte die Bundesregierung die vorgesehene Liste von hochspezialisierten und kostenintensiven Behandlungen in der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten belassen. s. Fachtagung des BMG. 184 Zur Stellungnahme des Europäischen Parlaments in der Ersten Lesung des Richtlinienentwurfs (sog. „Bowis-Bericht“) s. Lemor, Der Freie Beruf 5/2009, S. 8.
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betreiben.185 Ungeklärt geblieben ist, wer die Kosten der Kontaktstellen trägt und wer Informationen zu Risiken und Schadensersatzansprüchen bereitstellt. Geplant ist ferner die Entwicklung eines Abrechnungssystems, über das die Kosten für stationäre und hochspezialisierte Leistungen im Ausland direkt an die Leistungserbringer überwiesen werden. In diesem Zusammenhang wird die Einrichtung einer zentralen Verrechnungsstelle (Clearing-Stelle) durch die Kommission geprüft. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung wird eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Unterstützung bei der Durchführung der Richtlinie statuiert (Art. 13) sowie die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen durch eine „zugelassene Fachkraft“ vorgesehen (Art. 14). Die Mitgliedstaaten sollen darüber hinaus den Aufbau sog. europäischer Referenznetze erleichtern (Art. 15), deren Ziel es ist, Fachwissen und Ressourcen im Interesse der Patienten sowie zugunsten einer effizienten und kostengünstigen Gesundheitsversorgung zu schaffen, wobei der Anwendungsbereich dieser Regelung offen bleibt.186 Die Richtlinie konkretisiert die Kriterien für europäische Referenznetze dahingehend, daß es Aufgabe der EU-Kommission ist, eine Anforderungsliste zu erstellen einschließlich der Bedingungen für die Gesundheitsdienstleister, die sich diesen Referenznetzen anschließen möchten. Weitere Vorschriften der Richtlinie betreffen die Gesundheitstelematik (Art. 16) sowie die Datensammlung für Statistik und Überwachung, wobei diese Daten von den Mitgliedstaaten der Kommission zu übermitteln sind (Art. 18). Auf die daraus resultierenden datenschutzrechtlichen Probleme hat das Europäische Parlament nachdrücklich hingewiesen.
b) Offene und kontroverse Regelungsinhalte Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens der EU-Richtlinie ist deutlich geworden, daß der Entwurf eine Reihe von Fragen offen läßt und sensible Regelungsmaterien betrifft, die zwischen den Mitgliedstaaten umstritten sind. Dies betrifft neben dem Ausmaß der durch die Richtlinie angestrebten Kodifizierung der EuGH-Rechtsprechung insbesondere den Ausschluß bestimmter Pflegeleistungen vom Geltungsbereich der Richtlinie, die gegenseitige Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen, Verfahren der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung sowie die Ausgestaltung der Vorabge185 Vgl. Lemor, Der Freie Beruf 5/2009, S. 8. Die Bundesregierung (Fachtagung, aaO.) plädiert für eine Begrenzung der Aufgaben der nationalen Kontaktstellen und der Bereitstellung von Informationen der Leistungserbringer (Art. 5 Abs. 1) „auf ein vernünftiges Maß“ unter Ausschluß von Änderungen der nationalen Berufshaftpflicht- oder Schadensersatzregelungen. 186 Die Bundesregierung (Fachtagung, aaO.) und das Europäische Parlament (s. Lemor, Der Freie Beruf 5/2009, S. 8) fordern eine Begrenzung auf solche Bereiche, die „einen echten europäischen Mehrwert bringen, z. B. im Bereich der seltenen Erkrankungen“.
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3. Kap.: Die Rechtsstellung der Freien Heilberufe
nehmigung bei stationären Behandlungen. Bezüglich des Umfangs der Kodifizierung geht es um die Frage, ob die Richtlinie alle Gesundheitsdienstleister ungeachtet ihres Status umfassen soll und auch ausschließlich private Leistungserbringer im EUAusland einbezieht. Die deutsche Bundesregierung hat sich wiederholt dafür ausgesprochen, private Leistungserbringer im EU-Ausland nicht einzubeziehen, da dies nach ihrer Auffassung eine Inländerdiskriminierung im Hinblick darauf darstelle, daß in Deutschland gesetzlich Krankenversicherten Leistungen außerhalb der vertragsgebundenen Gesundheitsversorgung nicht erstattet werden. Auch das Europäische Parlament regt eine Prüfung an, ob private Gesundheitsdienstleistungen von der Richtlinie ausgenommen werden können,187 wobei angesichts der unterschiedlichen Gesundheitssysteme in Europa mit Mischformen von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Strukturen188 eine solche Differenzierung auf Schwierigkeiten stößt. Von besonderer Bedeutung ist neben der Organtransplantation, die gesondert geregelt wird189, der Ausschluß der Langzeitpflege aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie. Dies soll nach dem Willen des Europäischen Parlaments nicht nur in den Erwägungsgründen, sondern durch einen eigenen Artikel in der Richtlinie klargestellt werden. Allerdings wirft dies erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen Gesundheitsdienstleistungen und Sozialdienstleistungen auf, die im Pflegebereich häufig ineinander übergehen.190 Umstritten ist auch der Umgang mit ethisch problematischen Therapie- und Diagnostikmethoden, für die das Europäische Parlament beschlossen hatte, daß ethische Prinzipien, die in Mitgliedstaaten z. B. für die DNA-Diagnostik oder die künstliche Befruchtung gelten, auch bei der grenzüberschreitenden Versorgung Anwendung finden müssen. Die Mitgliedstaaten sollen also nicht gezwungen sein, Diagnose- oder Therapieformen, die ihren ethischen Standards nicht entsprechen, bei Inanspruchnahme im Ausland durch ihre Gesundheitssysteme zu finanzieren.
187
s. Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 18/2009,16. Zur organisations- und finanzierungsstrukturellen Typenvielfalt der europäischen Gesundheits- und Sozialsysteme s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 113 ff., sowie oben 1. Kap. II. 2. 189 s. die neue am 19. 5. 2010 vom EP verabschiedete Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards sowie einen Organisationsplan zur Organspende. Vgl. Eureport social 6/ 2010, S. 5. 190 s. auch den Hinweis von Schulte, in: Bundesgesundheitsministerium, Fachtagung über Chancen und Risiken einer EU-Richtlinie zur Ausübung der Patientenrechte, auf die Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843), der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit kraft Sachzusammenhangs als Leistungen bei Krankheit i. S. d. europäischen Koordinierungsrechts (Art. 4 Abs. 1a VO (EWG) Nr. 1408/71) qualifiziert. Vgl. auch den Beschluß der Verwaltungskommission der EG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer v. 23. 6. 1999 (RL 2000/142/EG), der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit (Krankenpflege, Haushaltshilfe, Pflegehilfsmittel) den „Sachleistungen bei Krankheit“ zuordnet und zwar unabhängig von ihrer Einstufung gemäß den nationalen Rechtsvorschriften, aufgrund derer sie erbracht werden. 188
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Bei der Frage der Anerkennung von Verschreibungen und der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung steht die Frage im Mittelpunkt, wer die Durchführungsbestimmungen zu der Richtlinie ausgestaltet. Der Vorschlag der Kommission sieht die Einsetzung von Ausschüssen aus Vertretern der Mitgliedstaaten gemäß dem sog. Komitologie-Verfahren vor, bei dem die Kommission ggf. die Mitgliedstaaten überstimmen kann. Auch die in der Richtlinie vorgesehene Leitlinienkompetenz der Kommission für die Erbringung transnationaler Dienstleistungen sowie die Vorgaben für Qualitätsund Sicherheitsstandards (Art. 5) oder die Definition von Art und Dauer der Krankenhausbehandlung (Art. 8), die inhaltlichen Anforderungen an nationale Kontaktstellen (Art. 12) oder Standards im Bereich der Telematik (Art. 16) stehen in einem spezifischen Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EUV (exArt. 5 EGV) und nationalen Kompetenzvorbehalten.191 Dies gilt auch für die konkrete Ausgestaltung des Behandlungsstaatsprinzips, d. h. die Geltung des Rechts desjenigen Mitgliedstaats, in dem die Behandlung erfolgt, hinsichtlich der Rechtsstellung der Heilberufe. Der Richtlinienentwurf gewährleistet einerseits die Priorität der Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG, andererseits sieht sich das Berufsrecht der Heilberufe immer wieder Versuchen konfrontiert, Formen verschuldensunabhängiger Garantiehaftung der Leistungserbringer in Verbindung mit Beweislastumkehrregelungen zu implementieren.192 Vor diesem Hintergrund wird die Forderung nach Einführung eines Patientenanspruchs auf Fortsetzung einer im Ausland begonnenen Behandlung im Versicherungsmitgliedstaat193 im Hinblick darauf kritisch gesehen, daß eine eindeutige Verteilung des Haftungsrisikos zwischen den jeweils behandelnden Heilberuflern und die klare Festlegung der Modalitäten einer Anschlußbehandlung fehlen. Umstritten ist bisher auch der vom Europäischen Parlament in erster Lesung beschlossene Änderungsantrag, daß die nationalen Gesundheitssysteme die Kosten der Behandlung von seltenen Krankheiten wie z. B. der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose unabhängig von der Erstattungshöhe im eigenen Land vollständig übernehmen sollen, wodurch von dem Prinzip abgewichen würde, daß nur die Sätze des Herkunftslandes bezahlt werden. Ein besonders kontroverser Punkt auf Ratsebene ist die Kostentragung für Heimatbehandlungen von sog. Auslandsresidenten. Insbesondere südliche Mitgliedstaaten wie Spanien mit einem hohen Bevölkerungsanteil ausländischer Rentner, die ihren Lebensabend dort verbringen, befürchten eine Überforderung ihrer Gesund191 Vgl. zu einzelnen offenen bzw. unter den Mitgliedstaaten und/oder der Kommission kontroversen Regelungsfragen Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 18/2009, 16 f. 192 Zu entsprechenden Beratungen im Binnenmarktausschuß des Europäischen Parlaments in Anlehnung an den im Jahr 1994 zurückgezogenen Entwurf einer Dienstleistungshaftungsrichtlinie (KOM (1990), 482 endg.) s. Der Freie Beruf 11/2007, 25. 193 Zu diesen Forderungen des Europäischen Parlaments s. Lemor, Der Freie Beruf 5/2009, S. 8.
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heitssysteme bei Inanspruchnahme durch diesen Personenkreis, wenn für die Behandlungskosten dieser Auslandsresidenten, die im heimischen, also im Versicherungsstaat, anfallen, nicht der heimische Kostenträger, sondern das aushelfende System aufkommen müßte. Ein Vorschlag der spanischen Ratspräsidentschaft sieht eine Sonderregelung für diese Gruppe vor, nach der bei der Heimatbehandlung dieser Personen nicht der Wohnstaat die Kosten tragen muß, sondern der Staat bzw. die Krankenversicherung des Staates, in dem die Versicherungsansprüche erworben wurden.194 Ein weiterer die Interessen der Mitgliedstaaten tangierender Konfliktpunkt ist die Ausgestaltung der Vorabgenehmigung bei stationären Behandlungen. Das Europäische Parlament hat den Vorschlag der Kommission unterstützt, ein solches System der Vorabgenehmigung bei stationären Behandlungen einem „Prüfvorbehalt“ zu unterstellen. Demnach darf ein Staat ein solches Vorabgenehmigungssystem bei stationären Behandlungen im Ausland nur vorsehen, wenn er gegenüber der Kommission nachweist, daß die finanzielle Stabilität bzw. die Planungssicherheit des Gesundheitssystems gefährdet ist. Dieser Prüfvorbehalt der Kommission stößt auf Widerstand zahlreicher Mitgliedstaaten, die ihre Organisationshoheit und Gestaltungsverantwortung für ihre Gesundheitssysteme unterminiert sehen.195 Der Kompromißvorschlag der spanischen Ratspräsidentschaft196 sieht dementsprechend in Art. 8 und 9 des Richtlinienentwurfs erweiterte Einschränkungsmöglichkeiten der Vorabgenehmigung und Kostenerstattung durch die Mitgliedstaaten vor: Danach soll ein Staat die Übernahme der Kosten für eine grenzüberschreitende Behandlung aus „übergeordnetem öffentlichen Interesse“ wie z. B. der finanziellen Unterminierung seines Sozialversicherungssystems oder „zwecks Aufrechterhaltung einer ausgewogenen Krankenhausversorgung“ verweigern können. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten an der Möglichkeit festgehalten, für bestimmte Arten von medizinischen Behandlungen ein Vorabgenehmigungssystem einzurichten: Neben der Krankenhausbehandlung mit mindestens einer Übernachtung soll dies für hochspezialisierte medizinische Behandlungen sowie Behandlungen ermöglicht werden, die eine kostenintensive medizinische Ausstattung bedingen bzw. mit einem besonderen Risiko behaftet sind. Zudem wurde auf Ratsebene der Gesundheitsminister vereinbart, daß auch für Gesundheitsdienstleister, die nicht zufriedenstellend nachweisen können, daß sie den Sicherheits- und Qualitätsstandards des Versicherungsstaats entsprechen, ein Vorabgenehmigungssystem zulässig sein soll. Als strittig erwiesen sich auch Regelungsvorschläge zum Bereich des e-Health, da manche Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – ihre hohen Datenschutzstandards zu den Vorgaben für medizinische Datensätze zur Notfallversorgung sowie den Zugriffsberechtigungen, den technischen Rahmenbedingungen und der elektronischen Patientenakte gefährdet sahen. Man einigte sich hierbei auf eine For194 195 196
s. Eureport social 6/2010, S. 12 ff. Vgl. Gesundheitspolitischer Informationsdienst Nr. 18/2009, 17. s. Eureport social 6/2010, S. 12 f.
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mulierung, die die e-Health-Aufgaben der europäischen Ebene konkreter beschreibt, ohne dabei jedoch die Ausgestaltung bestimmter Regelungen dem Komitologieverfahren zuzuordnen. Darüber hinaus soll aufgrund dieses Vorschlags die gesamte Richtlinie auf einer doppelten Rechtsgrundlage, nämlich der Binnenmarktklausel des Art. 114 AEUV sowie der Gesundheitskompetenz des Art. 168 AEUV fußen. Dies ist insofern von Bedeutung, da Art. 168 AEUV mit seinen speziellen Subsidiaritätsklauseln den Mitgliedstaaten mehr Spielraum gäbe, von der Richtlinie abzuweichen. Trotz eines mitgliedstaatlichen Grundkonsenses bezüglich der Sinnhaftigkeit der Herstellung größerer Rechtssicherheit bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung durch eine Kodifikation der Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung und einer daraus resultierenden Überwindung von Einzelfallentscheidungen („case law“) wird dieser flankiert und zum Teil überlagert von Kompetenzkonflikten bei der konkreten sekundärrechtlichen Ausgestaltung der grundfreiheitsbasierten Patientenrechte.
Viertes Kapitel
Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens für Krankenversicherung und Heilberufe I. Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung auf grenzüberschreitende Leistungsnachfrage und -erbringung 1. Der aktuelle Realbefund der Patientenmigration a) Bedarfs- und Motivationsstrukturen für Auslandsbehandlungen Bei einer Analyse der derzeitigen Auswirkungen (lokaler, regionaler, nationaler Art) der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung auf Zugänglichkeit, Qualität und finanzielle Nachhaltigkeit der Systeme der gesundheitlichen Versorgung ist von folgendem Realbefund auszugehen: Das Gesundheitswesen wird zunehmend als dynamischer Wirtschaftsfaktor betrachtet, der mit in Deutschland 4,2 Millionen Beschäftigten und Wachstumsperspektiven einen erheblichen Beitrag für die gesamte Volkswirtschaft eines Landes leistet.1 Im Vergleich mit der transnationalen Dynamik der gewerblichen Wirtschaft erscheint der von der Kommission geschätzte Anteil der grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen von ca. 1 % relativ niedrig. Von daher ist es verständlich, daß die Kommission einen Rechtsrahmen für grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen schaffen will, damit Patienten und Angehörige der Heilberufe von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Es stellt sich jedoch die Frage, worin die Gründe liegen, daß der Anteil der grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen trotz der eindeutigen Rechtslage durch die EuGH-Urteile, die eine breite Resonanz in der Presse gefunden haben, weiter gering ist. 1 Zur Struktur des Gesundheitsmarktes in Europa s. Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des deutschen Gesundheitssystems, S. 33 ff., 143 ff.; Klusen, in: Klusen/Meusch (Hrsg.), Wettbewerb und Solidarität im europäischen Gesundheitsmarkt, 2006, S. 5 ff. Zu den ökonomischen Bestimmungsfaktoren der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen s. Stolze, Das Nachfrageverhalten von Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2010.
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Eine zentrale Rolle spielt dabei, daß Gesundheitsdienstleistungen sehr persönliche Leistungen eines Arztes oder Zahnarztes sind, die das wichtige und sensible Gut der Gesundheit betreffen und in einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung erbracht werden. Diese wird gekennzeichnet durch die kontinuierliche behandlerische Betreuung, das dadurch begründete Vertrauensverhältnis, die räumliche Nähe, die gemeinsame Sprache und das Wissen, im Falle von Problemen den Arzt oder Zahnarzt in seiner Praxis ortsnah sofort aufsuchen zu können. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß ärztliche und zahnärztliche Behandlungen häufig nicht punktuell-situativ oder zeitlich eng begrenzt erfolgen, sondern eine langfristige Betreuung vor und nach der Maßnahme erfordern. Bei der Frage nach den Auswirkungen einer Liberalisierung der Gesundheitsmärkte auf die nationalen Gesundheitssysteme spielt vor allem das Ausmaß der zu erwartenden Inanspruchnahme eine Rolle. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen hängt wiederum von verschiedenen Bedingungen ab, wie z. B. den Preisdifferenzen der Güter und Dienste, Qualitätsunterschieden bzw. Homogenität der Leistung, der Mobilität der Versicherten, der Reputation des jeweiligen Gesundheitswesens bzw. der Fachkompetenz der Behandler und Leistungsanbieter, dem individuellen spezifischen Versorgungsbedarf (Kurz- oder Langzeitbehandlung, Nachsorge) und nicht zuletzt dem Umfang und der Art der Selbstbeteiligung2. Für die Patienten besteht nur dann ein Anreiz, Leistungen im Ausland außerhalb von Notfällen in Anspruch zu nehmen, wenn Preis- und/oder Qualitätsdifferenzen existieren. Im Falle sehr homogener Güter, wie z. B. Arznei- und Hilfsmittel, die europaweit in vergleichbarer Qualität angeboten werden, kommt dem Preis der Leistung eine große Bedeutung zu. Aufgrund nationaler Regulierungen existieren jedoch zum Teil erhebliche Preisdifferenzen, die einen Kauf dieser Produkte in anderen EU-Mitgliedstaaten attraktiv machen können. Bei Gütern und Diensten, die einen geringen Homogenitätsgrad aufweisen, stellen Qualitätsunterschiede einen möglichen Grund für die Entscheidung dar, Leistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen. Als Beispiel bietet sich hier die Kur an, da zahlreiche europäische Regionen klimatische Bedingungen aufweisen, die in Deutschland oder nördlichen EU-Staaten nicht vorhanden sind. Gerade bei Leistungen, die die Anwesenheit der Patienten am Behandlungsort erfordern (Kuren, ärztliche Behandlungen, Krankenhausaufenthalte), bildet jedoch auch die Mobilität der Versicherten eine wichtige Determinante. Häufig stellen Sprachbarrieren ein großes Hindernis bei der Behandlung im Ausland dar und schränken die Bereitschaft zum Ortswechsel ein. Zudem ergeben sich neben den eigentlichen Kosten der Leistung ein höherer Zeit- und Wegeaufwand als im Inland. Solche Transaktions- und Opportunitätskosten spielen insbesondere bei der 2 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Europäisierung des Gesundheitswesens – Perspektiven für Deutschland, S. 35 ff., 82 ff. Zum Qualitäts- und Effizienzvergleich der europäischen Gesundheitssysteme s. Busse/Schlette, Gesundheitspolitik in Industrieländern; Fritz-Beske-Institut für Gesundheits-Systemforschung, Das Gesundheitswesen in Deutschland im internationalen Vergleich; Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aus der Perspektive des deutschen Gesundheitssystems, S. 143 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Nachsorge oder Gewährleistungsfragen wie z. B. beim Zahnersatz eine Rolle3. Ist eine längerfristige Verweildauer erforderlich, z. B. bei stationären Behandlungen, kommt hinzu, daß mit einer Einschränkung der sozialen Kontakte und Gewohnheiten zu rechnen ist. Dies läßt erwarten, daß die Entscheidung, Leistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen, erhebliche Preis- und Qualitätsdifferenzen voraussetzt. Diese Bedingungen sind beispielsweise bei hochspezialisierten Leistungen erfüllt, die im Inland (noch) nicht oder mit geringer Kapazität ausgeführt werden, so daß lange Wartezeiten entstehen. Dagegen dürfte es für die Versicherten unattraktiv sein, Leistungen im Ausland nachzufragen, die wiederkehrend erfolgen oder einer intensiven Nachsorge bedürfen. Dies gilt auch für Leistungen, die im Inland eine weitreichende Qualitätsgarantie erhalten, die im Ausland fehlt4. Wenn Leistungen im Ausland in Anspruch genommen werden, betrifft das einen eingeschränkten Personenkreis überwiegend gut informierter und mobiler Patienten. Bisherige Untersuchungen zur Mobilität der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen zeigen, daß Patienten insgesamt nur sehr unzureichend über ihre Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme informiert sind. Zu dieser Verunsicherung trägt wahrscheinlich auch bei, daß nach einer durch die EU-Kommission vorgelegten Studie trotz der Urteile des EuGH zur Patientenmobilität viele Patienten auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie die Übernahme von Behandlungskosten in einem anderen Mitgliedstaat beantragen, unabhängig davon, ob es sich um einen Arztbesuch, eine Zahnbehandlung, einen Krankenhausaufenthalt oder eine therapeutische Kur in einem anderen Mitgliedstaat handelt5. Die grenzüberschreitende Nachfrage nach Leistungen ist insgesamt durch regionale, personelle und sektorale Schwerpunkte bezüglich des Leistungsspektrums gekennzeichnet. Regional stehen Grenzregionen im Vordergrund, insbesondere wenn die Nähe des ausländischen Versorgungsangebots, seine Kosten, sein Ruf, die Sprache und die Verwaltungsverfahren eine solche Migration von Patienten begünstigen. Im Leistungsspektrum werden vor allem hoch spezialisierte Leistungen nachgefragt, wenn die besondere Qualität oder die Reputation des Leistungserbringers im Ausland förderlich für eine grenzüberschreitende Nachfrage sind. Das Patienteninteresse konzentriert sich vor allem auf diejenigen ärztlichen Eingriffe, die im Wohnland nicht gewährleistet sind – insbesondere auf Grund des Bestehens von Wartelisten. Personell fragen vorwiegend solche Patienten grenzüberschreitend Gesundheitsleistungen nach, die über die erforderlichen Informationen verfügen, um 3 s. dazu die empirische Untersuchung des Instituts der Deutschen Zahnärzte (Hrsg.), Dentaltourismus und Auslandszahnersatz, 2009. 4 s. dazu aus gesundheitsökonomischer Sicht die Beiträge von Neubauer und M. Schneider in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, S. 73 ff., 161 ff. 5 EU-Kommission, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament. Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen KOM (2002), 441 endg.; geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt KOM (2006), 160 endg.
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eine rationale Entscheidung zu treffen. Sektoral werden bevorzugt Arzneimittel oder andere medizinische Erzeugnisse grenzüberschreitend in Anspruch genommen, bei denen ein Preis- und Qualitätsvergleich möglich ist und der Fernverkauf im Hinblick auf Zahlungsabwicklung, Gewährleistung etc. keine Schwierigkeiten bereitet6. Denn auch die Rechtssysteme und die Voraussetzungen und Möglichkeiten der Rechtsverfolgung in den Mitgliedstaaten sind unterschiedlich ausgestaltet, so daß sich hierdurch für den Patienten größere Probleme bei der Durchsetzung von Ansprüchen ergeben können als bei einer Versorgung im Heimatland. Eine spezifische Anpassung der Rechtssysteme allein im Gesundheitsbereich erscheint nicht praktikabel, eine Vereinheitlichung der gesamten Rechtsordnungen ohnehin nicht. Grundvoraussetzung für die von der Kommission gewünschte grenzüberschreitende Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen ist die Kostenerstattung. Das in vielen Mitgliedstaaten vorherrschende Sachleistungsprinzip ist für eine grenzüberschreitende Versorgung nicht geeignet.7 Sollte die grenzüberschreitende Versorgung zunehmen, wird dies für die Mitgliedstaaten dazu führen, daß sie ihre Systeme für Auslandsbehandlungen und transnationalen Leistungsbezug leistungsrechtlich modifizieren müssen. Je nach Umfang des Volumens grenzüberschreitender Maßnahmen kann dies aber auch dazu führen, daß die in vielen Mitgliedstaaten vorhandenen Bedarfsplanungen, insbesondere im stationären Bereich, umgestaltet werden müssen8. Ziel einer grenzüberschreitenden Versorgung sollte es sein, das Angebot an medizinischen Leistungen für die Bürger der EU zu erweitern und qualitativ zu verbessern, weil eine qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung für die europäischen Bürger einen hohen Stellenwert hat und der Standard der Versorgung auch bei grenzüberschreitender Leistungserbringung erhalten bleiben muß. Nach Erhebungen der Techniker-Krankenkasse9, in der die Versicherten gefragt wurden, ob sie sich gezielt zur medizinischen Behandlung ins Ausland begeben würden und welche Vor- und Nachteile eine solche Behandlung haben könnte, wollen etwa 80 % der Versicherten ihre Krankenversicherungskarte auch im Ausland nutzen, 67 % erwarten auch Verträge mit Krankenhäusern und Ärzten im EU-Ausland. Als neuer Trend zeichnet sich ab, daß sich offensichtlich immer mehr Versicherte gezielt dafür entscheiden, medizinische Leistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen. Nach Angaben der Kasse gingen 2007 etwa 60 % der Behandlungen auf einen Akut- bzw. Notfall zurück. 40 % der Leistungsinanspruchnahmen waren da6
s. dazu Bertelsmann-Stiftung, S. 32 ff. Zur leistungsrechtlichen Inadäquanz des Sachleistungsprinzips für flexible bedarfsindividuelle Leistungsinanspruchnahme s. G. Schneider, in: Sodan (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung, S. 101 ff.; B. Tiemann, ZMGR 2005, 14 ff. Zur Zukunft des Sachleistungssystems im Binnenmarkt s. Udsching/Harich, EuR 2006, 784 ff. 8 Zu Auswirkungen der Europäisierung auf Steuerungsinstrumente und Regularien der vertragsärztlichen Versorgung s. B. Tiemann, in: Sodan (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der (vertrags)zahnärztlichen Versorgung, S. 127 ff.; Becker, NJW 2003, 2272 ff. 9 „TK-Ergebnisanalyse zu EU-Auslandsbehandlungen 2007“, s. ZM 14 A/2009, 82. 7
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
gegen geplant und wurden nach dem Prinzip der Kostenerstattung abgerechnet. Vier Jahre zuvor seien es lediglich 7 % gewesen. Die Auslandsbehandlungen fanden überwiegend in Spanien, Österreich, Frankreich, Italien, der Schweiz sowie Tschechien, Ungarn und Polen statt. Dabei handelte es sich zumeist um ambulante ärztliche Leistungen, Arznei- oder Heilmittelverordnungen und Kuren sowie Zahnersatz. Als wichtigste Motive konnte die Kasse den Wunsch nach einem im Vergleich zu Deutschland höheren Behandlungskomfort (14 %) und nach finanziellen Einsparungen bei Leistungen ausmachen, die hierzulande zuzahlungspflichtig sind, wie Zahnersatz (13 %). Danach folgte die Inanspruchnahme neuer Behandlungsverfahren (7 %) sowie die Wahl von Behandlungen, die von der Schulmedizin in Deutschland nicht anerkannt werden (7 %). Als Gründe nannten die Befragten auch das gezielte Aufsuchen europäischer Spezialisten (5 %) und Spezialkliniken in Grenzregionen (3 %). Die Zunahme von Auslandsbehandlungen dürfte darauf zurückzuführen sein, daß Tendenzen zu Kostendämpfung und Eigenleistungen im deutschen Gesundheitssystem (z. B. Arzneimittel, Zahnbehandlungen, Kuren und Heilmittel) in Kombination mit der steigenden Qualität der medizinischen Behandlung im EU-Ausland die Inanspruchnahme von EU-Auslandsbehandlungen begünstigen. Allerdings hindern derzeit noch fehlende Informationen viele Patienten daran, Gesundheitsdienstleistungen in der EU in Anspruch zu nehmen. So glauben 21 % der Versicherten, daß sie keinen Anspruch auf eine medizinische Behandlung im EU-Ausland haben, und 13 % sind sich nicht sicher. Hinzu kommen finanzielle Risiken, ungeklärte Haftungszuständigkeiten sowie sprachliche Schwierigkeiten.10 Der Studie zufolge haben mehr als vier Fünftel der Befragten einen Teil der Kosten für die medizinische Leistung im EU-Ausland selbst tragen müssen. Hohe zusätzliche Kosten sind der Studie zufolge in einem Drittel der Fälle auch der Hauptgrund für eine Unzufriedenheit mit der Auslandsbehandlung, wobei 21 % der Befragten sich zudem schlechter behandelt gefühlt haben als im deutschen Gesundheitssystem. Somit wird das Ausmaß der zukünftigen Inanspruchnahme grenzüberschreitender Leistungen ganz entscheidend von der individuellen Kosten-Nutzen-Abwägung der Patienten abhängen. Nachteile wie höhere Reisekosten, fehlende Nachbesserung und Schwierigkeiten mit der Verständigung dürften demnach nur in Kauf genommen werden, wenn dem deutlich wahrnehmbare Vorteile gegenüberstehen – insbesondere preisgünstigere oder qualitativ höherwertige Versorgung und/oder die Nutzung innovativer Behandlungen und Verfahren. Dieser Zusammenhang wird durch verschiedene EU-weite Studien bestätigt. Danach sind Hindernisse für eine stärkere grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen vor allem Sprachprobleme und die damit verbundene Vertiefung der Informationsasymmetrie 10
4 ff.
s. dazu Spielberg, ZM 2009, 1926 ff.; Kimmerle, Grenzenlos gesund, medbiz 10/2009, S.
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zwischen Arzt und Patient, geographische Entfernungen, Wissensdefizite im Hinblick auf andere Gesundheitssysteme und der mit einer Reise ins Ausland verbundene Zeit-, Reise- und administrative Aufwand.11 b) Prognostische Entwicklung grenzüberschreitender Leistungserbringung und -inanspruchnahme Diese sehr praktischen Hindernisse werden auf absehbare Zeit das Ausmaß der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen weiterhin zunächst einschränken, aber nicht vollständig blockieren. Es ist damit zu rechnen, daß das medizinische Leistungsangebot sich vermehrt auf ausländische Patientenbedürfnisse ausrichtet. Dies wird insbesondere die Hochleistungsmedizin und besondere Spezialisierungen betreffen. Die EU-weite Nachfrage nach grenzüberschreitenden Gesundheitsleistungen in der Zukunft hängt darüber hinaus vor allem davon ab, ob die inländische Gesundheitsversorgung der jeweiligen Mitgliedstaaten in der Lage ist, die Nachfrage zum erforderlichen bzw. vom Patienten bevorzugten Zeitpunkt in angemessener Qualität zu befriedigen. Es ist anzunehmen, daß die Bereitschaft zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Leistungen mit der Existenz von Wartelisten für Operationen und mit subjektiv wahrgenommenen Qualitätsmängeln bei der inländischen Versorgung steigt. In Abhängigkeit von den individuellen Präferenzen werden die möglicherweise zusätzlichen Opportunitätskosten, die mit einer Behandlung im EUAusland verbunden sein könnten, mit dem erwarteten Gesamtnutzen abgewogen. Die Höhe dieser Zusatzkosten wird nicht nur von den Reise- und Unterkunftsaufwendungen bestimmt, sondern insbesondere durch die dem Versicherten entstehenden Zuzahlungen, deren Höhe häufig mit einer Einschätzungs- und Rechtsunsicherheit behaftet ist, die zum Teil prohibitiv wirken kann. Noch nicht abzuschätzen ist, in welchem Umfang Anbieter und Finanzierungsträger von Gesundheitsdienstleistungen zukünftig europaweit agieren werden, denn aus der Sicht der Heilberufe können zusätzliche Absatzchancen durch grenzüberschreitendes Angebot von Gesundheitsleistungen die Ertragsaussichten verbessern.12 Dies gilt vor allem dann, wenn die Durchschnittskosten mit zunehmender Leistungserbringung abnehmen und möglicherweise einen Übergang auf eine effiziente Betriebsgröße nach sich ziehen oder Spezialisierungen begünstigen. Darüber hinaus ist zu erwarten, daß auch Versicherer zukünftig eine aktivere Rolle mit dem Ziel einer effizienten und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung ihrer Versicherten übernehmen werden. Grenzüberschreitende Verträge von Krankenkassen können ein 11 s. dazu Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, S. 325 ff.; Stolze, Das Nachfrageverhalten von Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2010. 12 Zu Wettbewerbshemmnissen auf dem europäischen Gesundheitsmarkt s. Donges/Eeckhoff/Franz/Fuest/Möschel/Neumann, in: Stiftung Marktwirtschaft, Dienstleistungsmärkte in Europa weiter öffnen, S. 51 ff.
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Instrument sein, auch inländische Anbieter einem Vertragswettbewerb für mehr Wirtschaftlichkeit und Qualität in der Gesundheitsversorgung auszusetzen, wobei davon auszugehen ist, daß das Kosten-Nutzen-Kalkül der Versicherten zur Nachfrage nach grenzüberschreitenden Gesundheitsleistungen abhängig ist von der Art der nachgefragten bzw. angebotenen Leistungen.13 Daher werden grenzüberschreitende Angebote und Inanspruchnahmen von ambulanten Gesundheitsleistungen (Leistungen von Ärzten und Zahnärzten sowie von Heil- und Hilfsmittelerbringern) wie bisher in erster Linie in grenznahen Räumen stattfinden, zumal die Qualität der Leistungen in einem eingeschränkten geographischen Raum eher vergleichbar ist. Insgesamt wird nicht damit gerechnet, daß es kurz- bis mittelfristig zu einem für den Gesundheitssektor bedeutenden Ausmaß an Nettoimporten oder -exporten an ambulanten Leistungen kommen wird. Im grenznahen Bereich kann sich dies insbesondere dort anders darstellen, wo – z. B. infolge von Vergütungsregelungen oder tatsächlichen Kapazitätsengpässen – lange Wartezeiten bei der Inanspruchnahme ambulanter fachärztlicher Versorgung im einen Land in Kauf genommen werden müssen, während diese in einem anderen EU-Staat vergleichsweise unverzüglich erhältlich ist. Differenzierter stellt sich die Situation bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von stationären Leistungen dar.14 Sobald ein Krankenhausaufenthalt nicht mit einer Notaufnahme verbunden ist, kann er – Transport- und Reisefähigkeit des Patienten vorausgesetzt – auch fernab vom Wohnort des Versicherten durchgeführt werden. Dies ist auch bereits heute innerhalb der nationalstaatlichen Versorgungssysteme immer dann der Fall, wenn es – insbesondere bei hoch spezialisierten Behandlungen – keine entsprechenden Angebote in Wohnortnähe gibt. Aufgrund des wachsenden Wettbewerbsdrucks – insbesondere durch die Einführung leistungs- und qualitätsabhängiger Vergütungssysteme – ist darüber hinaus damit zu rechnen, daß Krankenhäuser zunehmend versuchen werden, Patienten aus anderen EU-Staaten zu behandeln. Wesentlich für die Entstehung von grenzüberschreitender Leistungsinanspruchnahme wird die Gestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern sein. Soweit Krankenkassen oder sonstige Finanzierungsträger die Option haben, ausländische Leistungsanbieter unter Vertrag zu nehmen, dürfte dies zu einem schärferen Anbieterwettbewerb auch im Inland führen. Die kollektivvertraglichen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens und Rechtsunsicherheiten bezüglich der Vergabevoraussetzungen und Ausschreibemodalitäten setzten dieser Entwicklung allerdings bisher Grenzen. Insgesamt gesehen wird angesichts der guten Reputation des deutschen Gesundheitswesens und des im internationalen Vergleich immer noch breit gefächerten Leistungskataloges der GKV eine Abwanderung von Patienten in größerem Ausmaß 13
s. dazu Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Europäisierung des Gesundheitswesens, S. 36 ff.,
82 ff. 14 Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Europäisierung des Gesundheitswesens, S. 87 ff.; Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, S. 39 f., 272 ff., 325 ff.
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für wenig wahrscheinlich gehalten, sondern eher eine gesteigerte Nachfrage aus anderen europäischen Mitgliedstaaten erwartet, bei denen es insbesondere im stationären Bereich zu Engpässen kommt. Größere Nachfrageverschiebungen werden im Bereich der Selbstmedikation vorausgesehen, da dieser kaum Mobilität erfordert.15 Zudem liefern die neuen Medien gute Möglichkeiten, sich über Preisunterschiede zu informieren und Arzneimittel ohne Aufwand aus dem Ausland zu beziehen. Bei Leistungen, die Bestandteil des GKV-Kataloges sind, scheinen auch größere Preisunterschiede einen relativ geringen Anreiz zur Auslandsnachfrage zu bieten. Auch der Zahnersatz, bei dem schon bisher eine Eigenbeteiligung des Patienten vorgesehen war und der versicherungsrechtlich gesondert behandelt wird, hat nur teilweise zu einer verstärkten grenzüberschreitenden Nachfrage geführt.16 In jedem Fall spielt die Besonderheit des medizinischen Versorgungsgutes mit seiner Implikation der Vertrauensbeziehung, der Patientenbindung bei Nachsorge und Gewährleistung eine stabilisierende Rolle. Daher sind auch Fragen der Patientensicherheit und komparativen Einschätzung der Qualität der Gesundheitsversorgung mitentscheidend für die grenzüberschreitende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Eine im April 2010 veröffentlichte im Auftrag der Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission durchgeführte bevölkerungsrepräsentative Umfrage in allen 27 EU-Mitgliedstaaten über Behandlungszwischenfälle und Versorgungsqualität17 kommt zu folgenden Ergebnissen: • Im EU-Durchschnitt geht fast die Hälfte aller Befragten davon aus, daß sie während einer ambulanten oder stationären Behandlung einen Schaden erleiden könnten, wobei als mögliche Ursachen Diagnose- und Behandlungsfehler sowie Krankenhausinfektionen genannt werden. Während rund 30 % der deutschen Befragten angaben, einen Schaden zu erwarten, rechneten z. B. in Griechenland 83 % der dort Befragten damit, bei einer Behandlung Schaden zu nehmen. • Mehr als 25 % der EU-weit Befragten erklärten, daß entweder sie oder ein Familienmitglied bereits einen ernsten Zwischenfall während einer medizinischen Behandlung erlebt hätten. 30 % der deutschen Befragten berichteten von Zwischenfällen, von denen aber nur rund ein Drittel gemeldet wurde. • Unsicherheit herrscht bei den meisten Befragten, welche Einrichtungen für den Patientenschutz zuständig sind, wobei ein Drittel die Gesundheitsministerien in der Pflicht sieht, während über ein Viertel der Befragten Krankenhäuser und Ärzte als zuständig erachten. Die meisten Befragten, die im eigenen Land oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat während einer medizinischen Behandlung einen Schaden erlitten haben, sehen als Formen der Wiedergutmachung eine Untersuchung des Falles und/oder eine finanzielle Entschädigung an. Drei Viertel der 15
Zur grenzüberschreitenden Versorgung mit Arzneimitteln s. Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, S. 252 ff. 16 s. Institut der Deutschen Zahnärzte (Hrsg.), Dentaltourismus und Auslandszahnersatz, S. 27 ff. 17 s. Eurobarometer http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_327_en.pdf.
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deutschen Befragten gaben an, sich dazu eines Rechtsanwaltes bedienen zu wollen. • Für die Motivation, eine Auslandsbehandlung in Anspruch zu nehmen, ist die Qualitätseinschätzung des jeweiligen Gesundheitssystems von besonderer Bedeutung. Im EU-Durchschnitt betrachten 70 % der Befragten die Qualität der Gesundheitsversorgung in Europa als gut, wobei Belgien und Österreich mit 97 bzw. 95 % Spitzenreiter sind und Deutschland mit 86 % der Befragten, die von einer guten Qualität der deutschen Versorgung ausgehen, im oberen Drittel liegt. Im Vergleich dazu findet die Gesundheitsversorgung in Rumänien und Griechenland lediglich bei einem Viertel der Befragten positive Einschätzung. Ein Drittel der Befragten gibt an, daß die Versorgung im eigenen Land besser sei als in anderen EU-Mitgliedstaaten. Diese Überzeugung ist in Belgien und Österreich mit einem Anteil von zwei Dritteln der Befragten besonders hoch, während in Deutschland 54 % der Befragten davon ausgehen, daß die Versorgung in der Bundesrepublik besser ist als im Rest der EU. Unabhängig davon, wie man die methodische Validität der Studie im Hinblick auf die Subjektivität der Einschätzungen oder die Definition einzelner Indikatoren einschätzt,18 zeigt der Ländervergleich, daß es zum Teil deutliche Unterschiede der Patientenzufriedenheit innerhalb der EU-Mitgliedstaaten gibt und daß gerade im Süden und Osten der EU erhebliche Zweifel an der Leistungsfähigkeit der nationalen Gesundheitssysteme und der Patientensicherheit weit verbreitet sind. Dementsprechend wird auf EU-Ebene seit Längerem eine Diskussion über europäische Qualitätsstandards geführt,19 die als Voraussetzungen für Patientensicherheit und Gewährleistung qualitativ hochwertiger Versorgung nicht nur in den einzelnen Mitgliedstaaten, sondern gerade auch für die transnationale Leistungsinanspruchnahme angesehen werden.
2. Regionale Kooperationsformen transnationaler Gesundheitsversorgung Die grenzüberschreitende Nachfrage nach Leistungen ist insgesamt durch regionale, personelle und sektorale Schwerpunkte bezüglich des Leistungsspektrums gekennzeichnet. Regional stehen Grenzregionen im Vordergrund, insbesondere wenn die Nähe des ausländischen Versorgungsangebots, seine Kosten, sein Ruf, die 18
Zur Validität subjektiver Gesundheitsindikatoren im internationalen Vergleich s. Jürges, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 201 ff. 19 Vgl. Mitteilung der EU-Kommission v. 20. 10. 2009 „Solidarität im Gesundheitswesen: Abbau gesundheitlicher Ungleichheit in der EU“. Vgl. auch die fortgesetzte Diskussion über Qualitätsstandards im Gesundheitswesen in der EU-Arbeitsgruppe „Patientensicherheit und Qualität der Gesundheitspflege“ sowie das „Reflection Paper on Quality of Health Care: Policy Actions at EU Level“ der Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission. Zur Qualitätsmessung in der Gesundheitsversorgung anhand von Qualitätsindikatoren s. Drösler/ScheidtNave, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 235 ff.
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Sprache und die Verwaltungsverfahren eine solche Migration von Patienten begünstigen. Das Patienteninteresse konzentriert sich vor allem auf diejenigen hochspezialisierten Leistungen, die im Wohnland nicht oder auf Grund des Bestehens von Wartelisten nicht zeitnah gewährleistet sind. Daher zeichnet sich eine an den Interessen der Bevölkerung orientierte Organisation des Leistungstransfers vor allem an den Rändern der Nationalstaaten ab. Schon 1958 wurde die erste Euregio im deutsch-niederländischen Grenzbereich – im Raum von Enschede (NL) und Gronau (D) – gebildet. Seitdem haben sich – vornehmlich in den 90er Jahren – Euregios und andere Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Europa entwickelt. Heute gibt es mehr als 400 solcher Projekte, in denen auf regionaler Ebene grenzüberschreitend in mehr oder weniger formalisierten organisatorischen Gebilden zusammengearbeitet wird.20 Eine Euregio kann als eine grenzüberschreitende Region aufgefaßt werden, die sich aus der Summe der Grenzregionen benachbarter Staaten zusammensetzt und damit als eigenständiges, transnationales Gebilde im europäischen Kontext etabliert und institutionalisiert ist. Die Europäische Union fördert grenzüberschreitende Euregios unter anderem durch die Gemeinschaftsinitiativen zur transeuropäischen Zusammenarbeit (INTERREG 2000 – 2006 und 2007 – 2013). Ziel der Fördermaßnahmen ist eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des europäischen Raumes. Im Gesundheitsbereich steht die Verbesserung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung im Vordergrund.21 Allein innerhalb der vier Euregios des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (Enschede-Gronau, Rhein-Waal, Rhein-Maas-Nord, Maas-Rhein) sind über 30 Projekte zur grenzüberschreitenden Versorgung mit Gesundheitsleistungen entstanden. Die beteiligten Länder bzw. Regionen stellen sich Teile ihrer gesundheitlichen Infrastruktur gegenseitig zur Verfügung und bilden Kooperationen zwischen den Akteuren wie Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern. Zugleich findet ein Abstimmungsprozeß zwischen den politisch maßgeblichen Stellen statt. Insbesondere in den Grenzregionen ist häufig ein Stadt-/Landgefälle sowie eine unterschiedliche Versorgungsdichte von Basis- und Spitzenmedizin vorzufinden. Durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit soll insbesondere eine unbürokratische, wohnortnahe Versorgung, die bessere Sicherstellung des schnellen Zugangs zu Notfallmedizin und Rettungswesen, eine Verkürzung von Wege- und Wartezeiten, die gleichmäßigere Auslastung der vorhandenen Kapazitäten in den Euregios (insbesondere in der fachärztlichen und stationären Versorgung) sowie eine gemeinsame Nutzung von Laboren und Großgeräten erreicht werden. 20
s. dazu Weihrauch, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den neuen Mitgliedstaaten der EU, 2004, S. 25 ff.; Kimmerle, medbiz 10/2009, S. 4 ff., 6. 21 Zur Rolle der EU-Strukturfonds im Gesundheitsbereich im Allgemeinen und zur besonderen Rolle von INTERREG in den neuen Strukturfondsprogrammen zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit s. Steffner, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 83 ff.
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Insgesamt wird damit in den Euregios angestrebt, durch eine bessere transnationale Auslastung der vorgehaltenen Infrastruktur Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen und Synergieeffekte fruchtbar zu machen. Durch die grenzüberschreitenden Kooperationen entstehen darüber hinaus positive Folgewirkungen. So gibt es Ansätze für einen Informations- und Erfahrungsaustausch von Ärzten und Pflegekräften, für transnationale Gesundheitsberichterstattung, den Aufbau gemeinsamer medizinischer Leitlinien zur gemeinsamen Qualitätssicherung sowie für gemeinsame Fort- und Weiterbildung.22 Die versorgungspolitische Zielsetzung besteht in der auslandsbezogenen Inanspruchnahme fachärztlicher Basisversorgung einschließlich der Arzneimittelversorgung und Krankenhausbehandlung sowie der damit verbundenen Transportkosten. Das Verfahren der Inanspruchnahme wird unterstützt durch die Einrichtung eines grenzübergreifenden gemeinsamen Geschäftsstellenservice sowie die Ausgabe einer „GesundheitsCard international“ und eines Patientenpasses. In den Patientenpaß sollen Befunde und Behandlungsergebnisse eingetragen werden. Er verbleibt beim Versicherten, während der behandelnde Arzt den Abrechnungsschein und die Verordnungsvordrucke erhält. Die Abrechnung der im Rahmen dieser Projekte erbrachten Leistungen geschieht über die zuständige Kassenärztliche Vereinigung, die diese Abrechnungsscheine mit der jeweiligen Krankenkasse gesondert abrechnet. Die erbrachten Leistungen werden außerhalb der budgetierten Gesamtvergütung honoriert und die verordneten Medikamente nicht in das Arzneimittelbudget eingerechnet. Die jeweiligen Einzelleistungen werden nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab bewertet und mit den Punktwerten vergütet, die für das Auslandsversicherungsabkommen gelten. Auch im zahnärztlichen Bereich haben sich grenzüberschreitende Formen regionaler Zusammenarbeit entwickelt, wie z. B. die Arbeitsgemeinschaft „euregiodent“, eine Initiative der Zahnärztekammern Nordrhein, Westfalen-Lippe und zahnärztlicher Vereinigungen in Belgien und den Niederlanden mit dem Ziel, Qualitätssicherung in der Fort- und Weiterbildung zu betreiben. Dies soll unter Einbindung der Hochschulen, denen im Rahmen eines Transfers von wissenschaftlichen Erkenntnissen große Bedeutung zukommt, durch synoptischen Vergleich bestehender Fortbildungsmaßnahmen in den beteiligten Ländern, die Erstellung von Fortbildungs- und Zertifizierungskriterien und die Erarbeitung entsprechender Informationssysteme geschehen. Ziel ist u. a. die Erarbeitung eines Fortbildungsnachweises, der grenzüberschreitend anerkannt wird. Ähnliche Initiativen sind in anderen Bundesländern, z. B. im Saarland in Kooperation mit Lothringen und Luxemburg eingeleitet. Die entscheidende Bedeutung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in den Euregios wird weniger in dem – noch immer bescheidenen Ausmaß – der 22 Zur Zusammenarbeit der ärztlichen und zahnärztlichen Selbstverwaltung im vereinten Europa s. Cihlarova, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 47 ff.
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Inanspruchnahme gesehen als vielmehr in der Chance für das Sammeln von Erfahrungen und von Gestaltungsmöglichkeiten, für das Erkennen von Stärken und Schwächen des benachbarten und des eigenen Gesundheitssystems sowie für das Erfassen von trennenden Barrieren und deren potenzieller Beseitigung. Die Euregios als „Labor praxisnaher transnationaler Vernetzung“ können Modellcharakter für das Gesundheitssystem gerade auch vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung haben, die in den grenznahen Bereichen insbesondere zu Polen, Tschechien und Ungarn zu Kooperationen nach dem Vorbild der etablierten Euregio-Modelle geführt haben.23
3. Auswirkungen der EU-Erweiterung auf die Migration von Patienten und Heilberufsangehörigen Eine Prognose der mittel- und langfristigen Auswirkung der EU-Erweiterung auf die Gesundheits- und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten ist mit erheblichen Einschätzungsunsicherheiten behaftet. Dies gilt insbesondere für die Migration von Heilberufsangehörigen und Patienten. Allgemein wird jedoch mit mehr Mobilität von Patienten – in beiden Richtungen – und von Gesundheitsdienstleistern – in Richtung der bisherigen EU-Mitgliedstaaten – gerechnet. Bei den Heilberufen könnte das extreme Gehalts- und Wohlstandsgefälle zu einer weiteren Abwanderung gerade der hochqualifizierten Mediziner führen, was bereits bestehende Versorgungslücken verstärken würde, während Patientenwanderungen die Finanzierungsgrundlage der Gesundheitssysteme in den Beitrittsländern stark belasten müßten.24 Unabhängig von der jüngeren EuGH-Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden Versorgung in der EU und den Plänen für eine diesbezügliche Patientenrichtlinie ermöglicht das europäische Recht schon bisher auf der Grundlage der VO 1408/71 bzw. der neuen VO 883/2004 in bestimmten Fällen Patienten auf Kosten ihres heimischen Versicherungsträgers eine medizinische Behandlung im Ausland. Nach Übernahme des europäischen Unionsrechts durch die Beitrittsländer wurde dementsprechend auch Patienten insbesondere aus den osteuropäischen Ländern die Möglichkeit einer medizinischen Versorgung im EU-Ausland eröffnet. Die Analyse der VO 1408/71 ebenso wie deren Neufassung in Gestalt der VO 883/ 2004 hat bereits gezeigt25, daß diese Koordinierungsregeln mehrere Konstellationen vorsehen, in denen Patienten auch im EU-Ausland auf Kosten ihres zuständigen 23
s. dazu Steffner, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 83 ff. s. dazu Sodan, in: Walter-Raymond-Stiftung (Hrsg.), Die Ost-Erweiterung der EU und ihre Folgen für Deutschland, 127 ff.; Pellny, BKK 8/2003, 426 ff.; Knieps, Gesundheit und Gesellschaft 4/2004, S. 24 ff.; GVG (Hrsg.), Die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, 2001; Der Gelbe Dienst 16/2001, Die Osterweiterung der Europäischen Union und ihre Auswirkungen auf die deutsche Gesundheitspolitik. 25 s. dazu oben 2. Kap. II. 2., 3. 24
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Versicherungsträgers eine medizinische Versorgung erhalten können. Dies betrifft grundsätzlich einen Personenkreis, der in unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten einen Wohnsitz hat und krankenversichert ist. Sog. Grenzgänger, die regelmäßig zwischen zwei Ländern (z. B. Deutschland und Polen) pendeln, haben ein Wahlrecht hinsichtlich des Landes, in dem sie sich medizinisch versorgen lassen. Einen Anspruch auf medizinische Versorgung auf Kosten ihrer Kasse besitzen auch Saisonarbeiter, die temporär in Deutschland tätig sind. Auch Arbeitslosen, die mit dem Ziel der Arbeitssuche nach Deutschland einreisen, sowie Rentnern kommen weitreichende Versorgungsansprüche zu. Der Anspruch gilt in der Regel auch für die Familienangehörigen der genannten Personengruppen. Darüber hinaus existiert auch das Recht auf Notfallbehandlung bei temporären Auslandsaufenthalten und die Möglichkeit, Auslandsbehandlungen vorher bei der heimischen Versicherung genehmigen zu lassen. In allen genannten Fällen erfolgt die Versorgung nach dem Bestimmungslandprinzip, d. h. Art und Umfang der Leistungen sowie die vom Patienten zu entrichtenden Zuzahlungen richten sich nach den Bestimmungen des bereitstellenden Staates.26 Selbst wenn eine Leistungsinanspruchnahme im EU-Ausland den vom nationalen bzw. vom europäischen Recht geforderten Anspruchsvoraussetzungen nicht entspricht oder auf Mißbrauchstatbeständen beruht, kann er für die Sozialversicherungssysteme relevant werden: Im Versorgungsalltag hängt die Abgrenzung eines „Patiententourismus“ gegenüber der sozialrechtlich normierten Fallkonstellation „Erkrankung während eines vorübergehenden Auslandsaufenthalts“ davon ab, daß der Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung festgestellt wird. Da dies vielfach kaum möglich ist, wird sich nicht verhindern lassen, daß auch Fälle, in denen der Versicherte im Inland erkrankt und sich erst dann zur Behandlung ins Ausland begibt, im Rahmen einer Sachleistungsaushilfe zu Lasten des zuständigen Trägers abgerechnet werden. Für den zuständigen Träger kann der Unterschied beträchtlich sein: Im Falle des „Patiententourismus“ wird er entweder gar nicht oder – soweit sich der Versicherte auf die Waren- oder Dienstleistungsfreiheit berufen kann – lediglich nach Maßgabe der für ihn im Inland geltenden Leistungs- und Vergütungsregeln erstattungspflichtig. Wird die Leistung hingegen als Sachleistungsaushilfe bei Erkrankung während eines vorübergehenden Auslandaufenthalts abgerechnet, kommen Leistungs- und Vergütungsrecht des aushelfenden ausländischen Trägers zur Anwendung. Daraus kann sich vor allem für die sozialen Sicherungssysteme der Beitrittsländer, die unmittelbar an die bisherigen Mitgliedstaaten angrenzen, ein Kostenrisiko ergeben.27 Auch der Umfang der Notfallversorgung ist nicht eindeutig definierbar. Die Entscheidung, welche Leistungen unmittelbar erforderlich sind, trifft im Einzelfall 26
Vgl. Schulte, in: von Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, S. 1611 ff. s. zu verschiedenen Fallkonstellationen der Krankenversorgung im EU-Ausland und der Dualität der Anspruchsgrundlagen aufgrund des koordinierenden EU-Sozialrechts und der unionsrechtlichen Grundfreiheiten Sodan, ASR 2007, 152 ff. 27
I. Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung
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der behandelnde Arzt auf der Grundlage der in seinem Land üblichen Behandlungstraditionen und Versorgungsstandards. Bei der zwischenstaatlichen Abrechnung über die Verbindungsstellen kann dies zu Problemen führen, wenn der zuständige Träger die Kostenübernahme mit dem Hinweis, die erbrachten Leistungen seien über die Notfallversorgung hinausgegangen, ablehnt. Manchen Studien28 zufolge war nach der Ost-Erweiterung der EU von einem signifikanten Anstieg der Nachfrage nach deutschen Versorgungsleistungen aus den mittelosteuropäischen Staaten, insbesondere den unmittelbaren Nachbarstaaten Polen und Tschechische Republik auszugehen, soweit Patienten nach dem Bestimmungslandprinzip in die Lage versetzt wurden, zu etwa gleich hohen Kosten eine wesentlich bessere Versorgung in Anspruch zu nehmen. Es wurde auch darüber spekuliert, inwieweit nicht nur die in der VO 1408/71 genannten Personengruppen davon profitieren würden, sondern eine versorgungsbezogene Migration einsetzen könnte, wie sie zum Teil in der Vergangenheit schon in südeuropäischen Staaten zu beobachten war. Wie zahlreiche internationale Untersuchungen zeigen, ist die Entscheidung von Patienten, sich für eine Behandlung ins EU-Ausland zu begeben („Welfare-Shopping“), neben der Entfernung und Zuzahlungsunterschieden vor allem durch Qualitätsunterschiede und den Schweregrad der Diagnose beeinflußt. Demnach sind Patienten mit schweren und/oder lebensbedrohlichen Erkrankungen bereit, erhebliche Entfernungen und auch Kosten auf sich zu nehmen, sofern sie sich durch eine qualitativ bessere Versorgung eines räumlich entfernten Anbieters einen Einfluß auf ihre Gesundung bzw. Überlebenswahrscheinlichkeit versprechen. Aufgrund der genannten Zusammenhänge spielen Patientenwanderungen vor allem im Bereich der Krankenhausleistungen eine Rolle, da die Qualität der medizinischen Versorgung in den meisten Beitrittsländern deutlich unter dem deutschen Standard liegt. Die ProKopf-Ausstattung mit medizinischer Hochtechnologie beträgt nur einen Bruchteil des deutschen Niveaus. Hochspezialisierte chirurgische Eingriffe wie Herzoperationen oder Transplantationen werden bezogen auf die Bevölkerung sehr viel seltener durchgeführt, obwohl die Morbidität und Mortalität in den mittelosteuropäischen Staaten deutlich größer ist als in Deutschland. Auch sind viele fortschrittliche medizinische Verfahren in diesen Staaten bisher nicht verfügbar. Insbesondere osteuropäische Patienten könnten daher unter dem geltenden EU-Recht einen Anreiz haben, sich bei einer schweren Erkrankung zur Behandlung nach Deutschland zu begeben. Dies gilt umso mehr, als aufgrund der räumlichen Disparitäten der Versorgungsmöglichkeiten in osteuropäischen Staaten (Konzentration auf Groß- und Universitätsstädte) für grenznahe Patienten die Versorgung auf deutschem Boden häufig nicht mit einem großen Reiseaufwand verbunden sein dürfte. Gleichzeitig entspricht die Höhe der Zuzahlungen bei einem Krankenhausaufenthalt, bedingt durch traditionell hohe informelle Zuzahlungen („Gratitude money“), faktisch dem 28 Vgl. z. B. Roland Berger Strategy Consultants, 2003 sowie Der Gelbe Dienst 16/2001, S. 23 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Niveau in Deutschland, so daß Zuzahlungsunterschiede keinen großen Einfluß auf die Wanderungsentscheidung der Patienten haben.29 Soweit nicht die Behandlungen aus eigener Tasche oder über Privatversicherungen bezahlt werden, ist für die mittelosteuropäischen Staaten eine Versorgung ihrer Versicherten in Deutschland mit einem erheblichen Anstieg der Versorgungskosten verbunden. Dies ist zum einen auf den hohen Anteil von Fixkosten im Gesundheitswesen zurückzuführen, der auslastungsunabhängig anfällt und daher auch bei einer Abwanderung der inländischen Patienten finanziert werden muß. Zusätzlich sind vom Krankenversicherungssystem die Kosten der importierten Leistungen zu tragen, die aufgrund der erheblichen Preisunterschiede bei medizinischen Leistungen ein Vielfaches der entsprechenden Versorgungskosten im Heimatland betragen. Simulationen auf der Basis der durchschnittlichen Kosten für Auslandsbehandlungen in der EU lassen, je nach Migrationsszenario, einen Anstieg der Gesamtgesundheitsausgaben von bis über 30 % möglich erscheinen. Dies würde die finanzielle Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme in Mittelosteuropa, die sich schon in der jüngeren Vergangenheit häufiger am Rande der Zahlungsunfähigkeit befanden und durch die weltweite Finanzkrise seit 2007 zusätzlich belastet wurden, eindeutig überfordern.30 Für Deutschland wird erwartet, daß es neben der zunehmenden Nachfrage nach stationären Leistungen auch einen wachsenden Markt für medizinische Geräte geben wird, der einerseits positive Auswirkungen auf die Wirtschaft der neuen EU-Staaten haben wird, andererseits die Gesundheitskosten in diesen Ländern zusätzlich belasten könnte, wie die Preisentwicklung für Medizinprodukte und Arzneimittel in den letzten Jahren zeigt. Insgesamt werden gesundheitsökonomisch betrachtet die Chancen für das deutsche Gesundheitswesen positiv eingeschätzt, sich auf dem europaweiten Wachstumsmarkt Gesundheit zu behaupten und neue Marktanteile gewinnen zu können, soweit die europarechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die sozialversicherungsrechtlichen Koordinierungsprobleme, dies ermöglichen. Dazu müßten vor allem die administrativen Bedingungen für die Rückvergütung von im Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen für Patienten aus den Beitrittsländern entscheidend verbessert werden. Da die hohen Kosten, die im Falle einer Kostenerstattung für Auslandsbehandlungen auf die Beitrittsländer zukommen, die Möglichkeiten der dortigen Gesundheitssysteme übersteigen, haben sich die EUGesundheitsminister mit den Vertretern der Beitrittsländer schon 2003 auf eine engere Zusammenarbeit geeinigt, um durch spezielle Gesundheitsprogramme zur Stärkung der eigenen nationalen Gesundheitssysteme eine massive Patientenabwanderung in andere EU-Mitgliedstaaten zu verhindern.
29 30
s. Pellny, BKK 8/2003, 426 ff. So die Roland-Berger-Studie, aaO sowie Der Gelbe Dienst, S. 23 ff., 27.
I. Auswirkungen europarechtlicher Deregulierung
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Patientenwanderungen in umgekehrter Richtung, d. h. aus Deutschland in eines der Beitrittsländer, waren bisher in geringerem Umfang festzustellen, weisen aber eine steigende Tendenz auf.31 Inwieweit z. B. Ausgliederungen aus dem Leistungskatalog der GKV Konsequenzen für eine gesteigerte Leistungsinanspruchnahme im Ausland haben werden, erscheint angesichts der Nachsorge- und Gewährleistungsproblematik ebenso zweifelhaft wie eine Inanspruchnahme von Krankenhausbehandlungen nach Genehmigung durch die Krankenkasse, solange allein die Kasse von den Einsparungen profitiert und für den Versicherten keine entsprechenden finanziellen Anreize entstehen.32 Auch Ansätze einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Leistungs- und Finanzierungsträgern nach dem Vorbild der Euregios zeichnen sich ab. Modellprojekte zwischen Polen, Tschechien und Deutschland sind in Vorbereitung, um die grenzüberschreitenden Patientenversorgungen sicherzustellen. Dies betrifft sowohl Versicherte mit deutschem Versicherungsanspruch, die sich in einem östlichen Nachbarland wegen der günstigeren Lebenshaltungskosten niederlassen, als auch EU-Bürger aus den Beitrittsländern, in denen für einige Maßnahmen der Spezialversorgung keine ausreichende Kapazität zur Verfügung steht.33 Auch der Einkauf von Rehabilitationsleistungen in den östlichen EU-Nachbarländern durch deutsche Sozialversicherungsträger ist keine Seltenheit und wird in Zukunft zunehmen. Die EU fördert die transnationale und grenzüberschreitende Kooperation sowie interregionale Zusammenarbeit im Rahmen ihres Strukturfonds INTERREG und hat sie in die Programmplanung für den Zeitraum 2007 bis 2013 aufgenommen.34 Die Zusammenarbeit der Leistungserbringer, insbesondere der Heilberufsorganisationen, mit den neuen EU-Ländern gründet sich auf eine Tradition, die mit der Unterstützung der Heilberufsstände beim Aufbau selbstverwalteter Berufsorganisationen durch die westlichen Standesorganisationen nach dem Systemwechsel begonnen hatte und sich inzwischen über die Anerkennung von Weiterbildungszeugnissen, die Organisation des ärztlichen Notdienstes in Grenzregionen und weitere Kooperationsformen bezüglich ärztlicher Tarifverträge, Pensionsfonds u. ä. fortsetzt.35 Die EU-Kommission hat sich bereits in der Agenda 2000 mit der Bedeutung der Sozialen Sicherung und des Gesundheitswesens im Hinblick auf den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten befaßt. In ihrem „Arbeitspapier der Dienststelle der Kommission“ zu „Fragen der Gesundheitspolitik und EU-Erweiterung“ werden darüber 31
s. die Nachweise oben 4. Kap. I. 1. a). Solche finanziellen Vorteile hat der EuGH z. B. in der Rs. Vanbraekel (C-368/98, Slg. 2001, I-5363) dem Versicherten eingeräumt, der grenzüberschreitend eine kostengünstigere medizinische Behandlung im EU-Ausland in Anspruch nimmt und von seiner nationalen Krankenversicherung die Erstattung des höheren Heimattarifs erhält. 33 s. dazu Heese, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, 2004, S. 39 ff. 34 Steffner, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 83 ff. 35 Vgl. Cihlarova, in: GVG (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, S. 47 ff. 32
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
hinaus folgende gesundheitspolitische Prioritäten für den mit dem Beitritt verbundenen Reformprozeß gesetzt:36 Neben der Krankheits- und Seuchenbekämpfung wird die Reform der gesundheitlichen Versorgung von der EU-Kommission als eine unerläßliche Voraussetzung angesehen. Viele Beitrittsländer kämpfen weiterhin darum, für ihre Gesundheitssysteme die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit sowie moderne Planungs- und Organisationsstrukturen – nicht zuletzt effektives Management bzw. effektive Planung für die Ressourcenverteilung – sicherzustellen. Die Kluft zwischen den professionell möglichen und den bezahlbaren Gesundheitsdienstleistungen wächst weiter. In der Heranführungsstrategie wird betont, wie wichtig der Aufbau von Institutionen ist, insbesondere für die Kontrolle des öffentlichen Rechungswesens und der öffentlichen Haushalte. Angesichts der gravierenden wirtschaftlichen Probleme könnte der steigende Bedarf an medizinischen Geräten am besten durch die Förderung von grenzübergreifender regionaler Zusammenarbeit gedeckt werden, um damit eine bessere Ausnutzung der Geräte zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Beitrittsländer, die im Vergleich zu den bisherigen Mitgliedstaaten eher klein sind. Auch der Aufbau eines funktionierenden Rettungsdienstwesens und effizienter Einrichtungen der Notfallbehandlung erweist sich als notwendig. Die EU-Kommission fordert eine Verbesserung der gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung der Heilberufe in den neuen Mitgliedstaaten, weil die finanziellen Anreize und der soziale Status der Angehörigen der Heilberufe im Vergleich zur bisherigen EU niedrig seien, was sich negativ auf deren Motivation auswirke. Es sei mit einem Migrationsanreiz auf diejenigen Angehörigen der Heilberufe zu rechnen, die EU-Sprachen beherrschen und mobilitätsbereit sind, was zu einem Überangebot an Arbeitskräften in den bisherigen Mitgliedstaaten und zu einem Mangel gerade der qualifiziertesten Berufsangehörigen in den Beitrittsländern führen könnte. In der Tat ist das Gehalts- und Wohlstandsgefälle der Heilberufe in den bisherigen und neuen EU-Staaten krass, so daß die Gefahr der Abwanderung und von Versorgungslücken besteht.37 Gesellschaftliche Institutionen sind nach Einschätzung der EU-Kommission für den Aufbau eines freiheitlichen Gesundheitswesens unerläßlich. Das gesellschaftliche Organisationsprinzip der „Zivilgesellschaft“ – gemeinnützige Verbände, karitative Organisationen – und nichtstaatliche Organisationen wie Selbstverwaltungskörperschaften gab es in den ehemaligen Systemen nicht; und diese setzen sich auch erst langsam durch. Dies bedingt eigenverantwortliche Mitwirkung des Einzelnen an Gesundheitsförderung und -vorsorge, auch um mit Gesundheitsgefähr-
36
Vgl. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 347 f. s. dazu Pellny, BKK 8/2003, 426 ff.; Knieps, Gesundheit und Gesellschaft 4/2004, S. 24 ff. 37
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dungen wie AIDS und Drogensucht, Alkohol- und Nikotinmißbrauch umzugehen und sich rasch an neue Herausforderungen anpassen zu können. Von der EU-Kommission wird hervorgehoben,38 daß die Europäische Union eine wichtige Rolle bei der Problembewältigung der Beitrittsfolgen und im Zusammenhang mit Gesundheitsfragen spielen kann, und vorgeschlagen, folgende Reformoption und Umsetzungsstrategie ins Auge zu fassen: Jedes einzelne Beitrittsland soll eigene Aktionspläne ausarbeiten, die eine Bewertung der mit Blick auf den Beitritt wichtigsten Gesundheitsprobleme und die nötigen Prioritäten umfassen sowie die zweckdienlichsten Mechanismen beschreiben, die zur Lösung der Probleme anzuwenden sind. Dabei wird vorrangig der Aufbau einer systematischen Gesundheitsberichterstattung in den Beitrittsländern angestrebt, die die Berichte, die regelmäßig für die Europäische Union erstellt werden, ergänzt und sich erforderlichenfalls auf spezifische Gesundheitsfragen konzentriert. Da die Beitrittsländer den „acquis communautaire“ des unionsrechtlichen Normenbestandes in ihre Rechtsvorschriften zu übernehmen haben, müssen sie die nötige Infrastruktur aufbauen, um die entsprechenden Verpflichtungen erfüllen zu können (z. B. der Aufbau von Institutionen im Gesundheitssektor einschließlich Prävention und Gesundheitsförderung). Dies betrifft auch die Verbesserung der Umweltbedingungen in ihren Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung. Neben der Beteiligung von Forschungseinrichtungen im Bereich der PublicHealth-Forschung an den Forschungsprogrammen der EU hält die Kommission es für vordringlich, den Erfahrungsaustausch bezüglich des Einsatzes von Informationssystemen und -technologien im Gesundheitswesen zu erleichtern. Dies würde eine verbesserte Datenerhebung und -übermittlung betreffen. Ein weiterer Gegenstand der Zusammenarbeit soll der Bereich der angewandten Technologien (z. B. Telemedizin) sein. Ferner werden die Beitrittsländer an den Programmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit beteiligt. Um die Kooperation zwischen den bisherigen und den neuen Mitgliedstaaten zu erleichtern, wird seitens der Kommission der Vorschlag gemacht, zusammen mit jedem Land Schwerpunktbereiche für die Zusammenarbeit zu entwickeln. Zu den spezifischen Materien der Weiterentwicklung der Strukturen des Gesundheitssystems könnten u. a. Fragen der Finanzierung, Prioritätensetzung, Investitionsplanung, Krankheitsvorsorge und Gesundheitsförderung sowie Suchtpräventionsprogramme gehören. Unter den einzelnen Beitrittsländern sowie zwischen diesen und den bisherigen Mitgliedstaaten wird eine Erleichterung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit angestrebt. Diese betrifft Fragen der Umweltmedizin, die Überwachung übertragbarer Krankheiten und den gemeinsamen Einsatz medizinischer High-Tech-Geräte sowie hochqualifizierter Fachleute.
38
s. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 347.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Für ein zentrales Anliegen des Transformationsprozesses in den neuen EUStaaten hält die Kommission die Entwicklung besserer Kommunikationsstrategien im Rahmen einer Zivilgesellschaft, die maßgeblich auf nichtstaatliche Organisationen und Eigeninitiative gegründet ist, um in Fragen der Sozialmedizin, Gesundheitsförderung und Krankheitsvorsorge einschließlich der mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbundenen gesundheitlichen Aspekte Unterstützung zu leisten. Der Aufbau nichtstaatlicher Organisationen könnte gefördert werden, indem man die neuen Mitgliedstaaten veranlaßt, günstigere Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Initiativen und bürgerschaftliches Engagement zu schaffen. Auch Austausch und Kontakte zwischen gemeinnützigen Organisationen in den Beitrittsländern und den Mitgliedstaaten sollten unterstützt werden.39 Die historische Chance der Überwindung der Teilung Europas durch die OstErweiterung der EU wird letztlich nur dann realisiert, wenn sowohl die neuen wie auch die bisherigen Mitgliedstaaten der Union sowie die EU-Instanzen befriedigende Lösungen für Herausforderungen auch im Gesundheits- und Sozialwesen finden. Dazu gehören die Umsetzung der Beitrittskriterien in den neuen EU-Staaten, die Reform der EU-Institutionen und die Bereitschaft in den bisherigen EU-Mitgliedstaaten, diesen Prozeß aktiv zu fördern. Für die Bundesrepublik bietet dieser Transformationsprozeß nicht nur ökonomische Vorteile, sondern eröffnet auch strukturpolitische Optionen im Gesundheitsund Sozialwesen: Analysiert man die Gesundheits- und Sozialsysteme der bisherigen Mitgliedstaaten, so kann man – bei vereinfachter Betrachtung – feststellen, daß elf Länder ein eher staatliches Gesundheits- und Sozialsystem und fünf Staaten ein Sozialversicherungssystem haben. Dem gegenüber haben sämtliche Beitrittsländer insbesondere in Mittel- und Ost-Europa den Weg beschritten, von einem staatlichen Versorgungssystem auf ein Sozialversicherungssystem – bei allen Schwierigkeiten eines unmittelbaren Vergleichs – überzuleiten. Deutschland trifft also in einem größer werdenden Europa vermehrt auf Länder, die in der Organisation ihres Gesundheits- und Sozialsystems strukturverwandt sind. Eine solche „Strukturpartnerschaft“ eröffnet politisch nicht zu unterschätzende Chancen angesichts einer Europäischen Union, die vermehrt Kompetenzen auch im Gesundheits- und Sozialwesen wahrnimmt.40 Ein gegliedertes, beitragsfinanziertes Gesundheits- und Sozialsystem, das auch auf der Eigeninitiative und dem Engagement freiberuflicher Heilberufe, Freier 39
Die deutsche Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine große Anfrage der CDU/CSU zu den gesundheitlichen Auswirkungen der EU-Erweiterung (BT-Drucks. 14/5232) zu den Reformoptionen der EU-Kommission Stellung genommen und ihre Beteiligung an Projekten des Phare-Programmes sowie die Aktionsprogramme der Gemeinschaft im Bereich der öffentlichen Gesundheit hervorgehoben, mit denen in einer Reihe von Beitrittsländern zum dortigen Aufbau eines leistungsfähigen Gesundheitssystems beigetragen wurde. 40 s. dazu den Überblick über den Wechsel der mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten einschließlich Bulgariens und Rumäniens zum Sozialversicherungssystem Bismarckscher Prägung bei Pellny, BKK 8/2003.
II. Kompetenzvorbehalte und Koordinierungsstrategien
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Träger und selbstverwalteter Strukturen beruht, bietet nicht nur Gewähr für Effizienz, Kompetenz und Qualität, sondern entspricht auch dem europarechtlichen Verfassungsprinzip der Subsidiarität und demokratischen Partizipation als Garant von Bürgernähe und Freiheitssicherung im supranationalen Unionsverbund einer europäischen Völkergemeinschaft.
II. Die Gesundheitsversorgung im Spannungsfeld nationaler Kompetenzvorbehalte und unionsrechtlicher Koordinierungsstrategien 1. Die Neujustierung gesundheitspolitischer Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten a) Die Eigendynamik der OMK als paranormatives Instrument „sanfter“ Steuerung Die Offene Methode der Koordinierung, die zunehmend für das europäische Gesundheitswesen an Bedeutung gewinnt, stellt ein eigenständiges, nicht-rechtliches Einwirkungsverfahren zur mittelbaren Gestaltung der nationalen Sozialschutzsysteme dar, welches unabhängig von den grundsätzlich bei der Europäischen Kommission angesiedelten Initiativbefugnissen praktiziert wird, indem es die einzelstaatlich verantwortlichen Akteure einem transnationalen Steuerungsprozeß nach Art des „management by objectives“ unterwirft und als Kategorie des „soft law“ neben die vertraglichen Prozeduren tritt. Durch verstärkte politische Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten im Rat – auf der Grundlage eines organisierten bzw. strukturierten Austauschs von Informationen, Erfahrungen und bewährten Verfahren – soll ein höheres Maß an Transparenz hinsichtlich notwendiger Reformschritte in den nationalen Sozial- und Gesundheitspolitiken erreicht und so die Konvergenzentwicklung der Einzelsysteme vorangetrieben werden.41 Daß es dadurch zu einer „sanften“ Überlagerung und Erosion nationalstaatlicher Kompetenzen in den betroffenen Sektoren kommen kann, ist allerdings nicht auszuschließen.42 Die Definition von Zielen und Leitlinien, Indikatoren und Benchmarks sowie deren regelmäßige Überwachung, Bewertung und Evaluierung wird mittel- und langfristig auch auf das deutsche Gesundheitswesen einwirken, zumal bereits der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages dieses Instrument nach langen 41 s. auch Bertelsmann-Stiftung, Europäisierung des Gesundheitswesens, 2003, S. 21 ff.; Eichenhofer, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 59 ff. 42 Vgl. B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 91 ff. Zur faktischen Harmonisierung durch die Offene Methode der Koordinierung und Selbstkoordinierung der Mitgliedstaaten s. Ebsen, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nichtharmonisierten Bereich, S. 13 ff., 37.
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Diskussionen in die Kompetenzordnung europäischer und nationalstaatlicher Regelungsbefugnisse aufgenommen und auch der Reformvertrag von Lissabon die Einbeziehung der Offenen Methode der Koordinierung in das Gesundheitswesen nunmehr primärrechtlich „hochgezont“ hat. Während dieser Reformvertrag wie schon der Entwurf eines Europäischen Verfassungsvertrags43 die bisherige Regelung des Art. 152 EGV in Art. 168 AEUV fast wortgleich übernimmt und lediglich den Gesundheitsschutz hinsichtlich der „körperlichen und geistigen Gesundheit“ konkretisiert, tritt als Neuerung hinzu, daß in Zukunft die Kommission auch im Bereich der Gesundheitspolitik die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit dieser bereits aus den bisherigen Sozialvorschriften (Art. 153 AEUV, ex-Art. 137 EGV) bekannten Methode der Koordinierung fördern soll. Dazu erhält sie die Möglichkeit, Initiativen zu ergreifen, um Leitlinien und Indikatoren festzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten. Das Europäische Parlament ist dabei jedoch nur in Form einer Unterrichtung einbezogen, eine explizite Beteiligung in Gestalt eines Mitentscheidungs- oder Zustimmungsvorbehalts ist nicht vorgesehen.44 Die Offene Methode der Koordinierung ist zwar nicht ausdrücklich als eigene Handlungsform der EU im Vertrag von Lissabon definiert. Die Formulierung des Art. 168 Abs. 2 AEUV stellt dennoch eine genaue Umschreibung der Methode dar. Zudem geht das neu definierte Initiativrecht der EU-Kommission über die bislang bloße Koordinationsfunktion hinaus.45 In der praktischen Politikgestaltung wurde die Offene Methode der Koordinierung bisher dazu angewandt, unter Zuhilfenahme von Struktur- und Prozeßindikatoren outcome-orientierte Gesundheitssystemvergleiche zu kreieren, um so die Mitgliedstaaten zu Reformen zu veranlassen und letztendlich auch eine Konvergenz ihrer Gesundheitssysteme herbeizuführen.46 Die Formulierung in Art. 168 Abs. 2 AEUV „… Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind, insbesondere Initiativen, die darauf abzielen, Leitlinien und Indikatoren festzulegen…“ und die erforderlichen Elemente für eine regelmäßige Überwachung und Bewertung auszuarbeiten, könnte dazu führen, daß die Kommission sich veranlaßt sieht, konkrete Behandlungs- und Qualitätsstandards auf der europäischen Ebene zu formu43 Zu den gesundheits- und sozialpolitischen Regelungen im Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages s. Busse, Gesundheit und Gesellschaft 2/2004, 34 ff. 44 s. dazu Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2008; Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 ff. 45 Für Eichenhofer, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 76 strebt die OMK den Einklang zwischen Wettbewerb und Solidarität an, indem sie in der Sozialpolitik die herkömmliche Trennung von supranationalem und intergouvernementalem Handeln überwindet. Schulte, ZSR 2002, 25 spricht von „prozeßgesteuerter Konvergenz der Sozialpolitiken durch Vereinbarung gemeinsamer Zielsetzungen“. 46 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der OMK als Steuerungsmethode durch quantifizierte Ziele und Benchmarking s. die (politikwissenschaftliche) Analyse von Lamping und Kröger in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 85 ff., 111 ff.
II. Kompetenzvorbehalte und Koordinierungsstrategien
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lieren und in Verbindung mit den dafür notwendigen Elementen der Evaluation und des Monitoring mit Hilfe von „Peer-Group-Reviews“ national als verbindlich zu erklären. Die Kommission wurde zur praktischen Umsetzung der OMK bereits im Juni 2001 beauftragt, Leitlinien für die Sicherung des allgemeinen Zugangs zu medizinischen Leistungen, die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung und einer nachhaltigen Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme zu formulieren und dabei neben quantitativen Indikatoren des finanziellen Input auch qualitative, den jeweiligen Gesundheitszustand der Bevölkerung eines Mitgliedstaats reflektierende Indikatoren und soziale Faktoren einzubeziehen. Der daraufhin entwickelte European Community Health Indicator (ECHI) berücksichtigt dementsprechend demographische und sozio-ökonomische Faktoren ebenso wie den Gesundheitsstatus (Morbidität, Mortalität, generischer Gesundheitszustand), die Gesundheitsdeterminanten (persönliche und biologische Faktoren, Gesundheitsverhalten, Lebens- und Arbeitsbedingungen) und die jeweiligen Gesundheitssysteme in ihrer Leistungsfähigkeit in Bezug auf Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz, finanzielle und personelle Ressourcen, Leistungsinanspruchnahmen, Höhe der Gesundheitsausgaben und Qualität der Versorgung.47 Anhand dieser Daten ermittelt der ECHI die länderspezifischen Indikatoren zum Versicherungsschutz bzw. staatlicher Absicherung der Risiken im Krankheitsfall, des Zugangs zu präventiven Leistungen im Rahmen der Impfprogramme („Durchimpfungsraten“), den Anteil der Inanspruchnahme von Maßnahmen der Kariesprophylaxe, Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere oder allgemeiner Screeningprogramme. Ferner wird der Zugang zur ambulanten medizinischen Versorgung anhand der Ärztedichte in der haus- und fachärztlichen Versorgung bzw. der Zahnarztdichte in der zahnärztlichen Versorgung ermittelt. Die OMK will darüber hinaus Indikatoren für den Zugang zur stationären medizinischen Versorgung entwickeln auf der Grundlage der Krankenhausbettendichte, der Wartelisten für Hüftgelenk- und Herzoperationen sowie der stationären Behandlungsdichte je 100.000 Einwohner und der Anzahl der Pflegeeinrichtungen. Bei der Qualitätssicherung der stationären Versorgung stehen der Anteil der Krankenhausinfektionen pro stationärem Behandlungsfall sowie der Reduktion der stationären Infektionsrate, die Wiederaufnahmerate innerhalb von drei Tagen, die Letalitätsraten nach stationären Eingriffen bzw. deren Reduktionsquote und die Überlebenszeit nach Krebsdiagnose im Mittelpunkt der Indikatorenerstellung. Die Qualitätssicherung der ambulanten Versorgung wird anhand der Zahl der Quali47 Vgl. Europäische Kommission, Strategy in European Community Health Indicators (ECHI) „Short List“, Luxemburg 5./6.7.2004. s. dazu Brand/Bardehle/Lenz, Indikatoren für die „Offene Methode der Koordinierung“ im Gesundheitsbereich, Manuskript v. 3. 5. 2005; S. Tiemann, in: GVG (Hrsg.), Offene Methode der Koordinierung im Gesundheitswesen – Zuschauen oder gestalten?, 2004, S. 95 ff.; Lamping und Kröger, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 85 ff.; Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, 43 ff.
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tätssicherungssysteme von Diseasemanagement-Programmen sowie der Integrierten Versorgungsmodelle und dem jeweiligen prozentualen Anteil von Patienten in diesen Programmen ermittelt. Ausgewählte Ergebnisindikatoren in diesem Segment sind Letalitätsraten bei Herzinfarktpatienten, meßbare Ergebnisse von Präventionsprogrammen wie z. B. zur Reduktion des Raucheranteils in der Bevölkerung, der Anteil optimal ambulant behandelter Hypertoniker und Diabetiker sowie die Inzidenz von Komplikationen bei Diabetikern. Komplexe Indikatoren der Sicherung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung betreffen die Perinatalsterblichkeit und ihre Reduktion, die Lebenserwartung bzw. ihre Steigerung sowie die Rate gesunder und behinderungsfreier Lebenserwartung,48 die Anzahl vermeidbarer Sterbefälle und deren Reduktion, die Anzahl „verlorener Lebensjahre“ und die subjektive Gesundheit als Anteil der Personen, die ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ und „gut“ angeben. Zur Sicherung der langfristigen Finanzierbarkeit werden Indikatoren zur demographischen Entwicklung, gestaffelt nach Alterskohorten in deren Relation zum Bevölkerungsaufbau, sowie der prozentuale Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP, die Krankheitskosten nach der Systematik der Health Accounts sowie die Entwicklung des verfügbaren Einkommens der Bevölkerung und des Anteils der Bevölkerung unter der Armutsgrenze ermittelt. Ein weiteres Erkenntnisinteresse komparativer Indikatorenbildung im Rahmen der Gesundheits-OMK bezieht sich auf die Ausgaben der Haushalte für Gesundheit, den prozentualen Anteil der Gesundheitsausgaben am verfügbaren Einkommen sowie gesetzliche Regelungen zur nachhaltigen Finanzierbarkeit der medizinischen Versorgung einschließlich der jeweiligen „Anpassungsgesetzgebungen“. Die im Rahmen der OMK ermittelten Daten sollen nicht nur objektiv, widerspruchsfrei, transparent und valide sein, sondern eine „dynamische Betrachtungsweise“ ermöglichen, um Veränderungsprozesse unter Verzicht auf Indexbildung und Gewichtung wert- und verzerrungsfrei abzubilden. Welche Schlußfolgerungen die Mitgliedstaaten aus einem solchen Indikatorenvergleich ziehen, bleibt ihnen weitgehend überlassen, unterliegt aber einem fortwährenden Beobachtungs- und Evaluationsprozeß durch die Kommission und deren Beurteilungskompetenz für unionsseitige Initiativen.49 Zwar wird im Vertragstext darauf hingewiesen, daß „das Europäische Parlament in vollem Umfang unterrichtet wird“ (Art. 168 Abs. 2 AEUV) und daß „Förderungsmaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit, grenzüberschreitende Maßnahmen der Seuchenbekämpfung oder des Gesundheitsschutzes vor Tabakkonsum und Alkoholmißbrauch“ unter Ausschluß jeglicher 48 Zum Indikator „gesunde Lebensjahre“ s. Thelen/Kroll/Ziese, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 179 ff. 49 s. dazu Ebsen (S. 13 ff., 36 ff.) und Eichenhofer (S. 59 ff., 76 ff.) in: GVG (Hrsg.), EUGesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich; Stein, in: Klusen (Hrsg.), Europäischer Binnenmarkt und Wettbewerb, S. 13 ff.
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Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ erfolgen (Art. 168 Abs. 5 AEUV). Ebenso wird nochmals betont (Art. 168 Abs. 7 AEUV), daß „die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel“ in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten bleibt. Dennoch ist trotz formaler Wahrung der unionsrechtlichen Kompetenzordnung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens und des zentralen Verfassungsprinzips der Subsidiarität50 die Eigendynamik einer prozeßgesteuerten Konvergenz, wie sie in der Offenen Methode der Koordinierung angelegt ist, in ihren künftigen Auswirkungen auf die nationalen Gesundheitssysteme nicht zu unterschätzen. Dies hat wohl auch den Generalanwalt beim EuGH, Yves Bot, in seinen Schlußanträgen im Verfahren zum Fremdbesitzverbot des deutschen Apothekenrechts51 zu dem deutlichen Hinweis veranlaßt, daß die Zuständigkeitsverteilung des bisherigen Art. 152 EGV, der Vorgängernorm des jetzigen Art. 168 AEUV, im Gesundheitswesen eine „gemeinsame Zuständigkeit mit nationaler Dominanz“ und „einen Bereich geschützter nationaler Zuständigkeiten erkennen“ lasse, woraus sich die Folgerung ergebe, daß „der Gerichtshof, wenn er mit einer nationalen Maßnahme in Bezug auf die Organisation des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung befaßt ist, stets dem Umstand Rechnung tragen (sollte), daß es hier um einen gleichsam verfassungsrechtlichen Schutz der nationalen Zuständigkeit in diesem Bereich geht“.52 Der EuGH, der sich in seinem Urteil vom 19.5.200953 diesen Ausführungen weitgehend angeschlossen hat, hebt dementsprechend die Kompetenz der Mitgliedstaaten hervor, darüber zu entscheiden, auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie sie dieses von einem Mitgliedstaat zum anderen differierende Niveau anstreben, wobei ihnen ein Wertungsspielraum zuzuerkennen sei. b) Eckpunkte einer künftigen europäischen Gesundheitsstrategie Nach umfangreichen Konsultationen hat sich die Europäische Kommission Ende 2007 auf die Gesundheitsstrategie der Europäischen Union in den nächsten Jahren verständigt. Mit dem Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit – Ein strategischer
50 Zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips im Hinblick auf sozialpolitische Ziele und Instrumente der Union s. Schulz, S. 213 ff.; S. Tiemann, in: Söller/Gitter/Waltermann/Giesen/ Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 936 ff. 51 Schlußanträge v. 16. 12. 2008 (Rs. C-171/07 und Rs. C-172/07), Rn. 24 ff. (28, 29), PharmZtg 1 – 2/2009, 52 ff.; diesen weitgehend folgend das Urteil des EuGH v. 19. 5. 2009, NJW 2009, 2212 ff. 52 Schlußantrag, Rn. 24 ff. (28, 29). 53 EuGH, NJW 2009, 2112 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Ansatz der EU für 2008 – 201354 setzt sich die Kommission für die nächsten sechs Jahre nicht nur einen strategischen, sondern auch sehr ambitionierten Rahmen für die europäische Gesundheitspolitik. Auch wenn die Hauptverantwortung für die Ausgestaltung der Gesundheitspolitik bei den Mitgliedstaaten liegt, läßt die Kommission keinen Zweifel daran entstehen, daß in den kommenden Jahren allein schon zur Abwehr von Gesundheitsgefahren, des Bioterrorismus sowie der Abfederung der Auswirkungen des Binnenmarktes auf den Gesundheitsbereich ein ergänzendes und unterstützendes Handeln auf europäischer Ebene erforderlich ist. Die europäische Gesundheitspolitik sieht sich nach Auffassung der Kommission in den nächsten Jahren mit drei Herausforderungen konfrontiert: Neben der Überalterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden Belastungen für die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten konstatiert sie eine Zunahme von Gesundheitsgefahren, die sich nicht allein in Panepidemien oder biologischen Zwischenfällen, sondern auch im Klimawandel, wie etwa in Hitzeperioden, niederschlagen. Und nicht zuletzt gelte es, das Potential der neuen Technologien von Informations- und Kommunikations- über Nanotechnologien bis hin zur Genforschung für die Erhaltung der Gesundheit zu nutzen. Die gesundheitspolitische Strategie soll sich nach Ansicht der Kommission an der von den EU-Gesundheitsministern im Juni 2006 verabschiedeten „Erklärung zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien in den europäischen Gesundheitssystemen“55 ausrichten. Ein europäisches Gesundheitssystem müsse auf Universalität, diskriminierungsfreien Zugang zu einer Versorgung von hoher Qualität, Gleichheit und Solidarität bauen. Als weiteres Prinzip wird anerkannt, daß eine „gesunde“ Bevölkerung die Voraussetzung für ökonomische Entwicklung und Produktivität in der EU ist. Diesem Umstand wurde 2005 im Rahmen der Lissabonner Strategie nicht zuletzt mit der Einführung eines „Healthy Life Years Indicators“ in die Strukturindikatoren Rechnung getragen. Dieser Indikator mißt die Zahl der voraussichtlich gesunden Lebensjahre, die eine Person bestimmten Alters zu erwarten hat und ohne Behinderung leben kann.56 Wie sehr die wirtschaftliche Entwicklung durch Aufwendungen für den Gesundheitsbereich belastet wird, zeigt das Beispiel der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Behandlung allein das EU-Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit einem Prozent belastet, während die durch psychische Erkrankungen verursachten Kosten sich sogar auf 3 – 4 % des BIP belaufen. 54 KOM (2007), 630 endg. s. zu den gesundheitspolitischen Zielen der künftigen EUStrategie Gesundheitspolitischer Informationsdienst 35/2007, 17 ff.; 1/2010, 15 ff.; Stein, Gesellschaftspolitische Kommentare 01/2003, 30 ff. 55 2006/C 146/01. 56 Zu Qualitätsaspekten europäischer Gesundheitsindikatoren am Beispiel des Indikators „gesunde Lebensjahre“ s. Thelen/Kroll/Ziese, in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich, S. 179 ff.
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Als besondere Zukunftsherausforderung identifiziert die Kommission Vernetzungsstrategien, wonach gesundheitliche Aspekte in allen Politikbereichen der Gemeinschaft berücksichtigt werden müssen, wie Regional- und Umweltpolitik, Koordinierung der Sozialen Sicherheit, Arbeitsschutz. Dieser „Health in All Policies (HIAP)“-Ansatz soll sich dabei nicht allein auf interne Politikfelder beschränken, sondern auch im Außenverhältnis der EU in der Entwicklungs-, Außen- und Handelspolitik eine Rolle spielen. Ausgehend von dieser Überlegung artikuliert die Kommission die Zielsetzung, das „Gewicht der EU“ bei globalen Gesundheitsthemen stärker in die internationalen Gesundheitsorganisationen wie die WHO einzubringen. Auf der Basis dieser Prinzipien formuliert die Kommission strategische Projektierungen, die von der Förderung der Gesundheit in einer alternden Gesellschaft über Abwehr von Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung bis hin zur Fortentwicklung der Gesundheitssysteme durch den Einsatz von neuen Technologien reichen. Erhöhten Handlungsbedarf sieht die Kommission vor allem mit Blick auf den demographischen Wandel in Europa. Dessen Ausmaß und Rückwirkung auf den Gesundheitssektor lasse sich allein an folgenden Zahlen festmachen: 2050 wird nach Untersuchungen der EU die Zahl derjenigen, die über 65 Jahre alt sind, um gut 70 % gestiegen sein, so daß ihr Anteil an der EU-Bevölkerung bei 30 % liegen wird, während die Anzahl der Achtzigjährigen im gleichen Zeitraum sogar um 170 % gestiegen sein wird. Das bedeute – nach vorsichtigen Schätzungen – wiederum, daß die Kosten für die Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten um 1 – 2 % des BIP steigen könnten. Nach den Prognosen der Kommission ließe sich der Anstieg der Gesundheitsausgaben jedoch halbieren, wenn die Menschen bei höherer Lebenserwartung länger gesund blieben. Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes älterer Menschen sollen daher vorrangig unterstützt werden. Dazu zählen nicht nur Maßnahmen zur Förderung gesunder Lebensweise, sondern auch die Weiterentwicklung der geriatrischen Medizin, die Verbesserung der Palliativversorgung und die Forschungsförderung neurodegenerativer Erkrankungen. Ein Schwerpunkt der europäischen Gesundheitspolitik wird generell auf der gesundheitlichen Prävention und Früherkennung liegen, nicht nur um die Kosten für die Gesundheitssysteme zu senken, sondern auch um die wirtschaftliche Entwicklung der EU durch eine gesunde (Erwerbs-)Bevölkerung sicherzustellen. Das bereits durch den EU-Vertrag vorgegebene Ziel, die Bürger der EU vor Gesundheitsbedrohungen zu schützen (Art. 168 AEUV, ex-Art. 152 EGV), will die Kommission künftig durch eine noch stärkere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Bekämpfung der Epidemien, biologischer Zwischenfälle und Bioterrorismus erreichen. In diesem Zusammenhang soll auch die Patientensicherheit vor iatrogenen Schädigungen oder Infektionen infolge Krankenhaushospitalismus verbessert werden.57 57 Zu methodischen Fragen der Operationalisierung des Indikators „gesunde Lebensjahre“ und zur Validität subjektiver Gesundheitsindikatoren s. die Beiträge von Thelen/Kroll/Ziese,
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Anknüpfend an die aktuelle Debatte zum Klimawandel will sich die Kommission auch der gesundheitlichen Folgen dieser Entwicklung annehmen. Sie bezieht sich hier u. a. auf die durch den Klimawandel bedingte Ausbreitung von Krankheiten, aber auch auf die Hitzebelastungen vor allem für ältere Menschen. Darüber hinaus ist beabsichtigt, die Entwicklungen auf dem Gebiet der Informations-, Kommunikations- sowie der Biotechnologie zu nutzen, um Gesundheitsangebote und -dienste zu verbessern. Der eHealth-Bereich wird nicht von ungefähr als einer der innovativen Wachstumsmärkte in der EU in den nächsten Jahren angesehen. Diese Strategie für die europäische Gesundheitspolitik soll eingebettet sein in einen auf europäischer Ebene neu zu schaffenden Kooperationsmechanismus, innerhalb dessen Vertreter der Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission Prioritäten benennen, Indikatoren festlegen, Leitlinien und Empfehlungen zur Umsetzung der Gesundheitsstrategie geben werden. Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung der Gesundheitsstrategie verweist die Kommission insbesondere auf das Aktionsprogramm Öffentliche Gesundheit (2008 – 2013) und die im Rahmen des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU (2007 – 2013) und im Strukturfonds bereitgestellten Mittel, die verstärkt für die Erreichung ihrer gesundheitspolitischen Ziele eingesetzt werden sollen. Seit dem 1. 1. 2008 verfügt die EU in Gestalt des Zweiten Aktionsprogramms der EU im Bereich der Gesundheit wieder über ein Finanzierungsinstrument, das in den nächsten sechs Jahren mit 321,5 Mio. Euro ausgestattet ist.58 Das Programm, das sich sowohl an staatliche Gesundheitsbehörden, Hochschulen, Forschungsinstitute als auch an nicht gewinnorientierte Einrichtungen im Gesundheitsbereich aus den 27 EU-Mitgliedstaaten und den EWR/EFTA-Staaten richtet, verfolgt im wesentlichen drei Ziele: Angesichts von Gesundheitsgefahren wie z. B. der Vogel- oder Schweinegrippe, die vor Grenzen nicht haltmachen, wird einer der Schwerpunkte des Aktionsprogramms auf dem Schutz der Bürger vor Gesundheitsbedrohungen liegen. Dies umfaßt die Prävention und Abwehr von übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten sowie von Bedrohungen, die von physikalischen, chemischen oder biologischen Quellen ausgehen können. Es wird darüber hinaus die Entwicklung von Impf- und Immunisierungskonzepten sowie von Reaktions- und Katastrophenschutzmaßnahmen unterstützt. Der Erforschung von Gesundheitsrisiken, der Sicherheit von Organen und menschlichen Substanzen, der Verbesserung der Patientensicherheit vor Krankenhausinfektionen sowie vor Unfällen im häuslichen Bereich wurde ebenfalls ein Förderschwerpunkt eingeräumt. Weiterhin zielt das Aktionsprogramm auf die gesundheitliche Prävention, worunter nicht allein die Förderung einer gesunden Lebensweise im Hinblick auf Gesundheitsfaktoren wie z. B. Ernährung, körperliche Betätigung, aber auch Tabak-, (S. 179 ff.) sowie Jürges (S. 201 ff.) in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich. 58 Zum finanziellen Hintergrund des EU-Aktionsprogramms im Bereich der Gesundheit (2008 – 2013) s. Gesundheitspolitischer Informationsdienst 29/2007, 17 ff., 35/2007, 18 ff.
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Alkohol- und Drogenprävention verstanden wird, sondern auch die Bekämpfung und Reduzierung von Ungleichheiten im Gesundheitswesen innerhalb der Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten. Gerade der letztgenannte Förderschwerpunkt ist von Interesse, da hier Fragestellungen im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sowie der Mobilität von Patienten und Angehörigen der Gesundheitsberufe aufgegriffen werden. Das Aktionsprogramm soll ferner auch dem Wissenstransfer zu Gesundheitsfragen dienen. Neben dem Austausch von Wissen und bewährten Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten u. a. durch den Aufbau von europäischen Referenznetzwerken sollen Gesundheitsinformationen und -daten europaweit gesammelt und analysiert werden, wobei der Ausbau von Krebsregistern einen Schwerpunkt bildet. Im Rahmen des Aktionsprogramms können Maßnahmen wie etwa die Durchführung von Studien und Seminaren, Informationsaustausch oder der Aufbau von Netzwerken durch die EU finanziell unterstützt werden. Die Maßnahmen müssen sich allerdings thematisch an dem jährlich vom Programmausschuß (bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten) festzusetzenden Arbeitsprogramm der Generaldirektion SANCO der EU-Kommission orientieren.59 Hinsichtlich künftiger gesundheitspolitischer Initiativen ist im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für die kommenden Jahre60 neben legislativen Maßnahmen wie der Überarbeitung der Richtlinie zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln und einer Novellierung der Medizinprodukte-Richtlinie zur Sicherung eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes und eines reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes im Bereich der nichtlegislativen Aktivitäten ein Aktionsplan eHealth zum integrierten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen (z. B. Gesundheitskarte, Heilberufsausweis, Elektronische Patientenakte) vorgesehen.61 In diesem Zusammenhang soll eine „Roadmap“ für den Zeitraum 2011 – 2015 entwickelt werden, welche die Ziele und operativen Schritte hin zu einer bedeutenderen Rolle von interoperablen elektronischen Gesundheitsakten und telemedizinischen Dienstleistungen ausarbeitet. Des weiteren sollen die Mitgliedstaaten bei der Koordinierung ihrer Reaktionen auf Pandemien unterstützt werden. Darüber hinaus wird das Themenfeld der Interdependenzen von Gesundheit und Ernährung sowie der Prävention von ernährungsbedingten Krankheiten als wichtige gesellschaftliche und sozialmedizinische Herausforderung identifiziert, die durch eine gemeinsame Programminitiative in Angriff genommen werden soll.
59 Die Auswahl der Fördermaßnahmen erfolgt zentral durch die von der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz eingesetzte Agentur für öffentliche Gesundheit http://ec. europa.eu/phea/index_de,html. 60 s. Eureport social 4 – 5/2010, S. 10. 61 s. dazu GVG (Hrsg.), Telematik im Gesundheitswesen, Perspektiven und Entwicklungsstand, 2005, sowie den Überblick über die europäischen und internationalen Perspektiven der Telematik in: GVG (Hrsg.), e-Health 2008 – Telematik kommt an, 2008.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
2. Unitarisierende Tendenzen europäischer Gesundheitspolitik und Rechtsgestaltung a) Die Auswirkungen von EU-Programmen und EuGH-Rechtsprechung In ihrem „Aktionsprogramm der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit (2007 – 2013)“62 und Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit – Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 – 2013“63, in dem die Kommission eine auf gemeinsamen Gesundheitsvorstellungen beruhende Strategie zur „flächendeckenden Versorgung, Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung, Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität“ entwickelt, wird eine stärkere Mitsprache der EU in der Gesundheitspolitik gefordert und ein „neuer Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit auf EGEbene“ vorgeschlagen, der „die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten fördern“ soll. In einer progredienten Ausdehnung der Einwirkungsmöglichkeiten der EU gerade auch auf die Sozialen Sicherungs- und Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten sehen viele Kritiker die Gefahr einer „schleichenden Harmonisierung“64 Dementsprechend hält eine Beschlußempfehlung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages eine Implementierung der Gesundheitsstrategie nur insoweit für sinnvoll, wie sie einen echten Mehrwert für die EU-Bürger darstellt.65 Der Bundestagsausschuß betont, daß die Kompetenzordnung der EU grundsätzlich auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruhe, aus der sich bindende Rechtsakte und damit die explizite vertragliche Ermächtigung der Organe der Union ergeben können. Er wendet sich nachdrücklich gegen eine zunehmende Zuständigkeitsvermischung zwischen nationalstaatlicher Politik und der EU und sieht in der von der EU-Kommission angestrebten Anwendung der Offenen Methode der Koordinierung eine sowohl dem Subsidiaritätsprinzip als auch der Komplexität und Unterschiedlichkeit der nationalen Gesundheitssysteme widersprechende Harmonisierungstendenz. Die in Art. 168 Abs. 2 AEUV des Lissabonner Reformvertrages vorgesehenen Steuerungskompetenzen in Gestalt von Leitlinien und Indikatoren könnten bei der Umsetzung dieser Strategie der Union erhebliche Gestaltungsspielräume eröffnen.66 Die von der EU-Kommission vorgeschlagene und nach einer langwierigen Kompromißsuche im Ministerrat derzeit vom EU-Parlament beratene Richtlinie zur Sicherung der Rechte von Patienten bei grenzüberschreitenden medizinischen Lei62
KOM (2006), 234 endg. KOM (2007), 630 endg. 64 Vgl. Spielberg, Deutsches Ärzteblatt 2008/27 A 1488. 65 s. Eureport social 7 – 8/2008, 25. 66 s. dazu die Einschätzungen bei Ebsen (S. 13 ff., 36 f.) und Eichenhofer (S. 59 ff., 76 ff.) in: GVG (Hrsg.), EU-Gesundheitspolitik im nicht-harmonisierten Bereich; Jaeckel, Monitor Versorgungsforschung 01/2009, 43 ff., 45; ders., Gesellschaftspolitische Kommentare 6/2009, 19 ff.; 1/2010, 21 ff.; Isensee, NZS 2007, 449 ff.; Weber, Gesellschaftspolitische Kommentare 11/2008, 10 ff. 63
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stungen67 wird ein weiterer Prüfstein dafür sein, inwieweit es der EU-Kommission gelingt, die nationalen Systemgrenzen im Gesundheitswesen weiter aufzuweichen, indem neben der Kostenerstattung von grenzüberschreitenden medizinischen Leistungen auch Fragen geregelt werden, die die nationalen Rechtssysteme tangieren, wie Haftungsregelungen, oder Auswirkungen auf die Organisation der mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme haben, wie medizinische Referenzzentren oder elektronische Informations- und Kommunikationssysteme. Während die unionsrechtliche Grundlage für die Regelung transnationaler Nachfrage und Erbringung von Gesundheitsleistungen nach der Rechtsprechung des EuGH in erster Linie die Grundfreiheiten des Vertrages sind, stützen sich zahlreiche andere gesundheitsbezogene Initiativen der Kommission auf die Wettbewerbsbestimmungen der Verträge. Sowohl die Durchsetzung eines EU-weiten Tabakverbotes68 als auch des Versandhandels mit Arzneimitteln69 und die Bemühungen, das Mehr- und Fremdbesitzverbot des deutschen Apothekenrechts zu Fall zu bringen, werden wettbewerbsrechtlich begründet.70 Richtungweisende Signale für die Expansion des Europarechts in die nationalen Gesundheits- und Sozialsysteme hat die Rechtsprechung des EuGH gegeben, der mit seinen Urteilen zur Patientenmobilität und zur Ausdehnung des Wettbewerbsrechts in gesundheitsrelevante Marktsegmente die Kompetenzschranken zwischen Union und Mitgliedstaaten auf dem Gesundheits- und Sozialsektor durchlässig gemacht hat. Die Tendenz der EuGH-Rechtsprechung, „in dubio pro unione“71 zu entscheiden und den „effet utile“ der Erreichung der Vertragsziele als „Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse“72 zu verstehen, hält häufig einer methodenkritischen Prüfung nicht stand.73 Der Rekurs auf Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln wird allzu häufig als Legitimation für die Ausdehnung von Zuständigkeiten herangezogen, die die Verträge explizit den Mit67 s. den Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie des Europäisches Parlaments und Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung v. 2. 7. 2008, KOM (2008), 414 endg. 68 s. EuGH, EuZW 2007, 46. 69 Rs. Doc Morris C-322/01, Slg. 2003, I-14887. 70 s. B. Tiemann. in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 23 ff., 39 ff. Auch der Richtlinienvorschlag für eine Patientenrechterichtlinie wurde von der Kommission auf die Binnenmarktkompetenz (Art. 26 ff. AEUV) gestützt und erst in Änderungsvorschlägen des Ministerrats um die Gesundheitskompetenz (Art. 168 AEUV) erweitert. 71 Stern, AnwBl. 2007, 591. 72 BVerfGE 89, 155 (210); zur Rechtsfortbildung mit Hilfe des effet utile in der EuGHRechtsprechung s. Wieland, NJW 2009, 1841, 1844 f. 73 Jahn, NJW 2008, 1788 spricht sogar von „Methodenwillkür“. s. auch den polemisch zugespitzten Appell von Roman Herzog gemeinsam mit Gerken in der FAZ v. 8. 9. 2008, S. 8, „Stoppt den EuGH“, dem er u. a. vorwirft, „zentrale Grundsätze der abendländischen richterlichen Rechtsauslegung bewußt und systematisch ignoriert“ zu haben. Ähnlich kritisch anläßlich der judikativen Ausweitung von Sozialleistungen Hailbronner, NJW 2004, 2185, 2187.
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gliedstaaten vorbehalten haben. Dies gilt für die Berufung auf eine „drohende Wettbewerbsverzerrung“ auf dem Zeitungswerbemarkt für gemeinschaftsweite Tabakwerbeverbote der EU in der Gesundheitspolitik74 ebenso wie für die Bemühung der Unionsbürgerschaft für den Anspruch auf Sozialhilfebezug75 oder Krankenversicherungsleistungen.76 Dies hat zu einer richterrechtlich ausgestalteten europaweiten Inanspruchnahmeberechtigung nahezu jedweder Sozialleistungen zum Teil abseits der primärrechtlichen Kompetenzordnung und unter Umgehung der sekundärrechtlichen Bestimmungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 bzw. VO (EG) Nr. 883/ 2004 geführt.77 Daß diese Judikatur häufig eine rational und rechtsmethodologisch nachvollziehbare Begründung und richterliche Selbstbeschränkung vermissen läßt, ist oft beklagt worden78 und wird in der EuGH-Rechtsprechung häufig durch Berufung auf „ungeschriebene Rechtsgrundsätze“ oder „allgemeine Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, verbrämt.79 Einerseits ist nicht zu verkennen, daß der EuGH seinem Selbstverständnis als „Motor der Integration“80 entsprechend manche Abschottungstendenzen der Mitgliedstaaten bei der Organisation ihres Gesundheitswesens und Restriktionen ihres Leistungsrechts wie in Deutschland durch das Sachleistungsprinzip zugunsten prioritärer Personen- und Produktverkehrsfreiheiten des Unionsrechts aufgelockert und – wenn auch noch zurückhaltend – wettbewerbliche Elemente in die Leistungsträger- und -erbringungsstrukturen implementiert hat. Diese Rechtsprechung ist aber zum Teil inkonsistent und widersprüchlich geblieben und hat gelegentlich die Freiheits- und Wettbewerbsregeln der Verträge gegenüber dem Prinzip der Subsidiarität und begrenzten Einzelermächtigung kompetenzrechtlich überstrapaziert. Unstreitig dürfte die Ausgangsthese des EuGH sein, daß einerseits die in den EUVerträgen getroffene Entscheidung der Mitgliedstaaten gegen eine prioritäre Gestaltungskompetenz der EU im Gesundheitswesen und der Sozialen Sicherungssy74
EuGH, Rs. C-276/98, Slg. 2000, I–8419 und Rs. C-380/03, Slg. 2006, I–11573. Rs. Grzelczyk C-184/99, Slg. 2001, I–6193. 76 Rs. Baumbast C–413/99, Slg. 2002, I-7091. 77 s. dazu Waltermann, Sozialrecht, Rn. 77, der einen die „Verläßlichkeit der Rechtsordnung in Frage“ stellenden „Wildwuchs“ konstatiert. Differenzierend zum Spannungsverhältnis der EuGH-Rechtsprechung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung Wieland, NJW 2009,1841 ff.; Pfeiffer, AnwBl. 2009, 488 ff. 78 Stern, AnwBl. 2007, 591; v. Arnim, NJW 2007, 2531; Di Fabio, FAZ v. 4. 7. 2007, S. 8; Jahn, NJW 2008, 1788, 1789; Papier, FAZ v. 24. 7. 2007, S. 5. 79 s. dazu die Nachweise bei B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der EU, S. 188 ff. 80 Diese Rolle des EuGH und die Durchsetzung seiner politisch einflußreichen Rechtsprechung wird in der Politikwissenschaft zum Teil kritisch als Prozeß der richterlichen „Selbstautorisierung“ eines Verfassungsorgans bewertet, dem die anderen gemeinschaftsrechtlichen Institutionen und die Mitgliedstaaten nichts Wirkungsvolles entgegenzusetzen haben. s. dazu die Studie von Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten – Der EuGH im Vergleich zum U.S. Supreme Court, 2008, sowie die Hinweise bei Höpner, Usurpation statt Delegation, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper 08/12. 75
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steme zu respektieren ist, andererseits diese Kompetenzverteilung nicht von der Verbindlichkeit des Primärrechts im übrigen, insbesondere den Grund- und Binnenmarktfreiheiten sowie den Regeln des Kartellrechts entbindet. Gleichwohl vernachlässigen manche Urteile des EuGH bis zu einem gewissen Grade einen den vertraglichen Vorgaben geschuldeten „judicial self-restraint“ mit dem Ziel, die Grundentscheidung für die mitgliedstaatliche gesundheits- und sozialpolitische Gestaltungsfreiheit zu respektieren und bei der Auslegung und Anwendung des Primärrechts in der Abwägung mit konkurrierenden Rechtsprinzipien wie dem Subsidiaritätsprinzip zum Ausgleich zu bringen.81 Das aus der Rechtsprechung des BVerfG bekannte methodische Auslegungsprinzip der „praktischen Konkordanz“82, das darauf abzielt, gegenläufige Prinzipien in einer Rechtsgüterabwägung in der Weise zu harmonisieren, daß diese optimal zum Tragen kommen, könnte hier im Sinne einer ausgewogenen Kompetenzbalance zwischen Union und Mitgliedstaaten fruchtbar gemacht werden.
b) Die Wechselwirkung nationaler Strukturvorgaben und europarechtlicher Einordnung Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die Mitgliedstaaten durch nationale Strukturvorgaben ihrer Gesundheitssysteme deren europarechtliche Einordnung unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten maßgeblich präformieren: Je mehr die nationale Politik die Adaption von Marktmechanismen oder Marktanalogien in das Gesundheitswesen vorantreibt, je umfassender das Gesundheitssystem das Prinzip der sozialen Umverteilung ersetzt durch Gestaltungsprinzipien der privaten Versicherungswirtschaft, je mehr im Leistungserbringerbereich privatisiert (und die staatliche Regulierung zurückgenommen) wird, desto mehr werden die betroffenen nationalen Gesundheitssysteme dem Wirkbereich des EG-Wettbewerbsrechts unterworfen.83 Geltungsumfang und -intensität des europäischen Wettbewerbsrechts liegen daher nicht zuletzt in der Hand der Mitgliedstaaten, von denen die Initialzündung für dessen Wirkkraft ausgeht: Je weniger die Umverteilungs- und Solidarkomponente dominiert und je mehr marktanaloge Strukturen implementiert werden, desto stärker kann das EU-Recht Gestaltungsmacht in den mitgliedstaatlichen Sozialsystemen erlangen und desto mehr erhöht sich auch der Rechtferti81 Ähnlich Ebsen, Europäische Grundfreiheiten und sozial-wirtschaftliche europäische Politik – Konflikte mit der sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit der nationalen Gesetzgeber?, Vortrag vor dem EU-Ausschuß der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung am 15.5.2008. 82 Zur verfassungsexegetischen Aufgabe „praktischer Konkordanz“ als „verhältnismäßiger“ Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rnrn. 72, 317 ff. 83 Zur Europäisierung des deutschen Gesundheitssystems durch das europäische Wirtschaftsrecht s. Lamping/Sohns, BBK 2008, 422 ff.; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff. Zum Zusammenhang zwischen Privatisierung und Europäisierung sozialen Schutzes s. Eichenhofer, Die Geschichte des Sozialstaats in Europa, S. 150 f.
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gungszwang für wettbewerbsrechtliche Ausnahmen und Privilegierungen insbesondere im Hinblick auf Art. 106 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 86 Abs. 2 EGV). Dies würde auch für die Einführung einer umfassenden Bürgerversicherung gelten, die nicht nur erhebliche verfassungsrechtliche Probleme aufwirft84, sondern auch europarechtliche Konsequenzen hätte, und beträfe auch ein Kopfpauschalen- bzw. Prämienmodell, das den kompletten sozialen Ausgleich über Steuern vornähme und die Krankenkassen durch Verlagerung des Solidarausgleichs Privatunternehmen wettbewerbsrechtlich gleichstellen würde.85 Der europäische Integrationsprozeß, der u. a. durch das EU-Wirtschaftsrecht bewirkt wird, schränkt daher die nationale Politikgestaltung nicht nur ein, sondern initiiert auch notwendige Adaptions- und Reformprozesse, soweit diese durch das Beharrungsvermögen der nationalen Sozialtraditionen erstarrt waren. Er bedeutet zweifelsohne auch eine Chance für neue Sozialpolitikentwürfe in der globalen Wirtschaftsordnung und bietet den Mitgliedstaaten die Gelegenheit, überkommene Strukturen und verkrustete Interessenpositionen „aufzutauen“ und in diesem Zuge nicht nur die Anbieter- und Nachfrager-Positionen im Gesundheitswesen zu reformieren, sondern die dynamische Entwicklung eines sich herausbildenden entgrenzten Gesundheitsmarktes im Sinne innovativer ordnungspolitischer Umgestaltung strategisch zu nutzen.86 Aktuelle Beispiele für die Wechselwirkung zwischen nationalen Strukturvorgaben und deren europarechtlicher Einordnung sind neben der berufsrechtlichen Statuszuweisung der Freien Heilberufe in den jeweiligen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf öffentlich-rechtliche Einbindung der Niederlassungs-, Vertrags- und Werbefreiheit, von der die unionsrechtliche Beurteilung unter Grundfreiheits- und Wettbewerbsaspekten abhängig ist,87 insbesondere der Apothekenmarkt und die Stellung der Privaten Krankenversicherung in Europa. Am 19. 5. 2009 beschloß der EuGH, daß das im deutschen Apothekengesetz (ApoG) verankerte Fremd- und Mehrbesitzverbot mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist.88 Im Fremdbesitzverbot (§ 2 ApoG) ist festgeschrieben, daß Apotheken nur von Apothekern besessen und betrieben werden dürfen. Das ebenfalls im Apothekengesetz geregelte Mehrbesitzverbot (§§ 1, 2 ApoG) besagt, daß ein Apothekenbesitzer nur bis zu drei Filialen gründen darf. Voraussetzungen dafür sind u. a., daß die Filialen in demselben oder einem benachbarten Landkreis (entsprechende Regelung für kreisfreie Städte) liegen müssen, daß der Filialbetreiber persönlich eine Apotheke führt und daß jede Filiale mit einem verantwortlichen Apotheker besetzt ist (§§ 1, 2 ApoG). Diese Regelungen wollte die Versandhandels84
s. dazu F. Kirchhof, NZS 2004, 1 ff.; Sodan, ZRP 2004, 217 ff. Vgl. Meyers-Middendorf, ErsK 2010, 140, 144. 86 Darauf weisen zu Recht aus politikwissenschaftlicher Sicht Lamping/Sohns, BKK 2008, 425 hin. 87 s. dazu oben 3. Kap. I. 1. sowie unten 4. Kap. III. 2. a). 88 EuGH, NJW 2009, 2112 ff. 85
II. Kompetenzvorbehalte und Koordinierungsstrategien
317
apotheke Doc Morris umgehen, indem sie zum einen im Saarland eine eigene Niederlassung eröffnete, obwohl das deutsche Fremdbesitzverbot dies für Kapitalgesellschaften untersagt, und zum anderen eine Vertriebsvereinbarung mit einer saarländischen Apotheke abschloß. Bei der Klage ging es um die Frage der Niederlassungsfreiheit von Kapitalgesellschaften, die nach europäischem Recht in der gesamten EU Niederlassungsfreiheit genießen, die nur aus zwingenden Gemeinwohlbelangen beschränkt werden darf. Nach Ansicht des EuGH ist es legitim, daß EU-Staaten mittels besonderer Rechtsvorschriften versuchen, Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung zu verringern. Unter diesem Aspekt ist deshalb auch eine nationalrechtliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch das Ziel des Gesundheitsschutzes europakonform und insofern genießen nationale Regierungen einen Bewertungsspielraum bei der Durchsetzung ihrer Gesundheitsziele. Dieser Bewertungsspielraum, der der nationalen Gesetzgebung eingeräumt wird, schließt nicht aus, daß – z. B. durch eine Änderung des Apothekengesetzes – das Mehr- und Fremdbesitzverbot durch die nationale Gesetzgebung aufgehoben oder modifiziert werden, wie es schon in den vergangenen Jahren durch Lockerung des Mehrbesitzverbotes und Liberalisierung des Versandhandels durchaus zu einer gemäßigten Öffnung auf dem Apothekenmarkt gekommen ist, die durch das Urteil nicht in Frage gestellt wird. So dürfte es auch nach dem Urteil dabei bleiben, daß ausländische Versandhandelsapotheken versuchen, über bilaterale Verträge mit Krankenkassen nach § 140e SGB V oder über Franchisekonzepte, bei denen die Apotheken inhabergeführt bleiben, auf den deutschen Apothekenmarkt drängen. Als Konsequenz aus dem EuGH-Urteil und der deutschen Gesetzgebung, der der EuGH die Gestaltungsprärogative einräumt, wird vielfach eine grundlegende Reform des Apotheken- und Arzneimittelmarktes gefordert, der durch die Regelungen der Arzneimittelpreisverordnung für verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel und durch eine Fülle von sich teilweise widersprechenden Bestimmungen überreguliert ist89 Als notwendige Voraussetzungen für mehr Wettbewerb auf dem Apothekenmarkt werden zum Teil eine Flexibilisierung der Apotheken- und Großhandelszuschläge und der Weg des selektiven Kontrahierens mit ausgewählten Anbietern gesehen, wobei der Erfolg von Selektivverträgen von dem Ausmaß abhängt, in dem die Kassen es vermögen, ihre Versicherten z. B. durch Zuzahlungsbefreiungen in Verträge mit Apotheken hineinzusteuern.90 Die EuGH-Rechtsprechung gibt in jedem Fall Anlaß, eine stärker wettbewerbliche Gestaltung des Apothekenmarktes ins Auge zu fassen.
89 Vgl. Cassel,/Wille, Für mehr Markt und Wettbewerb in der GKV-Arzneimittelversorgung, in: G+G Wissenschaft 1/2007, S. 23 ff.; Sodan/Zimmermann, Das Spannungsfeld zwischen Patienteninformierung und dem Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, 2008. 90 s. BKK 7/2009, 282, 286.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Auch die Marktentwicklung und Stellung der PKV im deutschen System der Sozialen Sicherung geben nicht nur unter nationalen Aspekten, sondern gerade auch im Hinblick auf die Interdependenzen von mitgliedstaatlichen Strukturvorgaben und deren europarechtlichen Einordnung Anlaß zur künftigen Standortbestimmung einer Krankenversorgung im dualen Nebeneinander von Gesetzlicher Krankenversicherung und substitutiver Privatversicherung.91 Die Grenzziehung zwischen GKV und PKV verläuft im Spannungsfeld zwischen subsidiärer Eigenvorsorge und sozialstaatlicher Solidarität. Die PKV ist demzufolge grundsätzlich zuständig für die Absicherung derjenigen Personenkreise und Leistungen, die vom Sozialauftrag nicht erfaßt sind. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zur Privaten Pflegeversicherung vom 3.4.200192 dem Gesetzgeber bestätigt, daß er die Abgrenzung von Sozial- und Privatversicherung verfassungsgemäß vorgenommen hat, indem er die Personengruppe, die in die Sozialversicherung einbezogen ist, danach abgrenzt, welcher Personenkreis zur Bildung der Solidargemeinschaft erforderlich ist und diesen Schutz benötigt. Dieses Prinzip ist auch in dem Grundsatzurteil des BVerfG vom 10.6.200993 nicht in Frage gestellt worden, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit von Regelungen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes ging, die die Prämienkalkulation und den Kontrahierungszwang beim Basistarif, die Portabilität von Altersrückstellungen bei Wechsel des Versicherers und die Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze in drei aufeinanderfolgenden Jahren als Voraussetzung für einen Wechsel in die PKV betrafen. Zwar hat das Gericht die Einschränkungen der Berufsausübungsfreiheit der privaten Krankenversicherungsunternehmen im Hinblick auf die damit verfolgten Ziele für gerechtfertigt gehalten, weil die Funktionsfähigkeit der PKV dadurch nicht gefährdet werde. Für das künftige Verhältnis von PKV und GKV ist aber die Feststellung des Gerichts von Bedeutung, daß verschiedene einzeln für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen können, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet. Das BVerfG legt dem Gesetzgeber diesbezüglich eine Beobachtungspflicht auf,94 die Folgen der Neuregelungen, insbesondere des Basistarifs, im Auge zu behalten und Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn immer mehr Versicherte aus dem Normaltarif in den Basistarif 91 Zur Rechtsstellung der Privatversicherung im Verhältnis zur Sozialversicherung s. Isensee, Privatautonomie der Individualversicherung und soziale Selbstverwaltung, 1980; Schnapp/Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001; Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, 2007; ders., in: Depenheuer/Hentzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 982 ff.; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes, 2009. 92 BVerfGE 103, 197 ff.; s. dazu die Hinweise bei Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes, S. 368 ff. 93 1 BvR 706/08 u. a., NJW 2009, 2033. 94 Zur Beobachtungspflicht des Gesetzgebers bezüglich der Auswirkungen seiner Regelungen auf das Verhältnis von GKV und PKV s. Sodan, BZB 7/8, 2009, S. 6 f.
II. Kompetenzvorbehalte und Koordinierungsstrategien
319
wechseln und dies eine Auszehrung des eigentlichen Hauptgeschäfts der PKV bewirken würde. Eine Bestandsgarantie für das duale System von PKV und GKV gibt das Gericht jedenfalls insoweit, als es die Verpflichtung des Gesetzgebers statuiert, darauf zu achten, daß keine unzumutbaren Folgen für Versicherungsunternehmen und die bei ihnen Versicherten entstehen, wenn er der PKV die Aufgabe zuweist, im Rahmen eines privatwirtschaftlich organisierten Marktes für den bei ihr versicherten Personenkreis einen Basisschutz bereitzustellen. Von der konkurrierenden GKV und Teilen des politischen Spektrums der Bundesrepublik Deutschland wird die Existenzberechtigung einer substitutiven PKV immer wieder in Frage gestellt. Jüngste Gesetzesreformen haben diesbezüglich immer höhere Hürden für die Eintritts- und Wechselvoraussetzungen zur PKV errichtet und durch die Assimilierung von GKV- und PKV-Strukturen im Beitrags-, Mitgliedschafts- und Leistungsrecht einschließlich von Wahl- und Zusatztarifen Voraussetzungen geschaffen, beide Systeme auch europarechtlich, insbesondere wettbewerbsrechtlich, in vieler Beziehung ähnlich einzuordnen.95 Mittlerweile verfügt nur noch Deutschland über ein duales System der Vollversicherung durch gesetzliche und private Krankenkassen. Eine ähnliche duale Struktur hat es zuletzt nur noch in den Niederlanden gegeben, wo beide Versicherungssysteme 2006 integriert wurden.96 Für die Abkehr von der dualen Struktur werden seit geraumer Zeit stereotyp die gleichen Gründe angeführt:97 Die für Versicherte mit hohem Einkommen, Selbständige und Beamte bestehende Möglichkeit, aus der GKV in die PKV zu wechseln, führe zu einer „negativen Auslese“. Insbesondere gesunde junge Singles mit hohem Einkommen entzögen sich dem gesetzlichen Solidarsystem. Menschen mit mittleren oder unteren Einkommen, chronisch Kranke und kinderreiche Versicherte blieben in der GKV, zumal ihnen die Versicherungspflichtgrenze und mangelnder Kontrahierungszwang der PKV eine Alternative verwehrten. Durch zunehmende Marktkonzentration und beschränkte Portabilität der Altersrückstellungen in der PKV sei ein Versicherungswechsel wesentlich erschwert und das Geschäftsmodell der PKV nicht wettbewerbstauglich. Dadurch bestehe die Gefahr von Unter- und Fehlversorgung, durch die zusätzlich vermeidbare gesundheitliche Schäden entstünden. Dem werden Modelle gegenübergestellt, in deren Rahmen für alle Krankenversicherungen die gleichen Regeln gelten, um systematische Wettbewerbsvor- oder -nachteile für einen bestimmten Versicherungs95
Zur europarechtlichen Einordnung der PKV s. Sodan, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 64 ff.; Karl/v. Maydell, Das Angebot von Zusatzkrankenversicherung, S. 55 ff.; v. Maydell, in: Sodan (Hrsg.), Krankenkassenreform und Wettbewerb, 2005, S. 67 ff.; Isensee, NZS 2007, 449 ff. 96 Zur Krankenversicherungsreform in den Niederlanden s. oben 1, Kap. II. 2. sowie Bieber, Die Krankenversicherung 2/2006, S. 40 ff.; J. Meyer, BKK 4/2010, 225 ff.; PKV Publik 4/2010, 3 ff. 97 So z. B. in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung vom Juli 2009 (s. dazu Eureport social 7 – 8/2009, 30) und in einem gemeinsam mit Rürup erarbeiteten Gutachten des Berliner Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (s. dazu PKV publik 4/2010, S. 8 ff.).
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
typ zu vermeiden, indem der Gesetzgeber einen Mindestkatalog der von der Standardversicherung abzudeckenden medizinischen Leistungen vorgeben sollte und es den Versicherungsträgern freistünde, ihren Mitgliedern weitere Leistungen anzubieten. Auch die EU-Kommission veröffentlichte 2009 eine Studie, die sie bei der London School of Economics (LSE) in Auftrag gegeben hatte und die einen Überblick und eine Analyse bezüglich des Marktes der Privaten Krankenversicherung in der EU gibt, wobei die Marktrolle, Größe und Struktur der PKV bewertet und der Einfluß der EU-Gesetze auf die PKV dargelegt werden.98 Zudem betrachtet die Studie die Auswirkungen der PKV auf die Ziele der Gesundheitspolitik innerhalb der EU und gibt einen detaillierten Überblick über die diversifizierte Struktur des privaten Krankenversicherungsmarktes in Europa. So erlaube zwar jedes Land in der Europäischen Union neben öffentlichen Gesundheits- bzw. gesetzlichen Krankenversicherungssystemen auch private Anbieter, aber es gebe eine enorme Vielfalt hinsichtlich der Rolle, die diese privaten Anbieter spielen. Die Private Krankenversicherung habe in allen anderen EU-Mitgliedstaaten nur eine Zusatzfunktion, d. h. Deutschland sei das einzige Land, in dem die Möglichkeit einer privaten Krankenvollversicherung besteht. Zudem sei eine hohe Marktkonzentration in der Branche zu beobachten. 2006 hatten die drei größten privaten Krankenversicherer einen Marktanteil von über 50 % in den meisten Mitgliedstaaten. Insgesamt signalisiert der Bericht die Tendenz der EU-Kommission, die Marktentwicklung und Stellung der PKV in Europa im Verhältnis zu den öffentlich-rechtlichen Systemen verstärkt in den Blick zu nehmen und wettbewerbsrechtlich zu bewerten, wobei die weitere Entwicklung durch die deutsche Gesetzgebung die jeweiligen Vorgaben für die unionsrechtliche Bewertung gibt.
98 s. die Zusammenfassung der Studie in Eureport social 7 – 8/2009, 31 sowie den vollständigen Bericht auf der Webseite der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der EUKommission.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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III. Die Folgen nationaler und europarechtlicher Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe 1. Die Freien Heilberufe im Kontext sozialstaatlicher Prägung der EU und deren Mitgliedstaaten a) EU-weite Kriterien der Freiberuflichkeit zwischen Typus- und Rechtsbegriff Für die Freien Berufe im allgemeinen und die Freien Heilberufe im besonderen sind die europäische Integration und das Recht der EU von zunehmender Bedeutung. Dies gilt sowohl für die Grundfreiheiten der EU wie die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit als auch das Berufs- und Wettbewerbsrecht. Den Chancen, die der europaweite Markt für ihre Berufsausübung bietet, stehen große Herausforderungen an Aus-, Fort- und Weiterbildung, Verbesserung der Sprach-, Kultur-, Rechtsund Sozialkompetenz sowie die Weiterentwicklung des Berufsrechts in Richtung Wettbewerbsfähigkeit und Qualitätsanforderungen gegenüber.99 Die Erscheinungsformen und rechtlichen Strukturen der Freiberuflichkeit in der EU stellen sich als äußerst vielgestaltig dar.100 Dies gilt auch für die Freien Heilberufe. Trotz unterschiedlicher Ausprägung gibt es jedoch essentielle Gemeinsamkeiten der jeweiligen Berufsbilder101, ihrer berufsrechtlichen Bindungen und Organisationsformen102, die insbesondere bei den Heilberufen zum Teil eine europarechtliche Harmonisierung ermöglichten. Europaweit ist die Bedeutung der Freien Berufe im Hinblick auf ihr Leitbild hoher Professionalität, Selbstkontrolle, Eigenverantwortlichkeit und Gemeinwohlverpflichtung sowohl für eine freiheitliche Gesellschaft wie auch für einen effizienten Verbraucherschutz unbestritten. Gerade die Freien Heilberufe in Europa erblicken in Freiberuflichkeit die Garantie für eine qualitativ hochwertige, fachlich unabhängige und an medizinischen Kriterien ausgerichtete Patientenversorgung.103
99
s. dazu S. Tiemann, WPK-Mitt. 1/2001, 2 ff. s. hierzu den Überblick über Freie Berufe in Europa und die EU-rechtlich einschlägigen Regelungen vor Erlaß der Berufsanerkennungs- und Hochschuldiplomrichtlinie bei Berscheid/ Kirschbaum, Freie Berufe in der EG. 101 s. dazu Oberlander, Der Freie Beruf 4/2010, 16 f. 102 Zur Rechtsstellung berufsständischer Selbstverwaltungsorganisationen in der EU s. Tettinger, NWVBl. 2002, 20 ff.; Hellwig, AnwBl. 2007, 257 ff. 103 Zum Selbstverständnis und Rollenwandel der Freien Heilberufe zwischen Sozialstaatsumbau und Wettbewerbsorientierung in Deutschland und Europa s. B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 23 ff. 100
322
4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Außer dem gesellschaftspolitischen „Mehrwert“ des Freien Berufes als Träger von Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Eigenverantwortung und Gemeinwohlorientierung ist die ökonomische Bedeutung der Freien Berufe mit ihren 1,14 Millionen Selbständigen und insgesamt 4,13 Millionen Erwerbstätigen allein in Deutschland, davon 335.000 Freien Heilberuflern und über 700.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen mit hoher Ausbildungskapazität, ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor, der einen Anteil von 9,7 % am Bruttoinlandsprodukt hält. Gerade die Freien Heilberufe stellen dabei ein nicht zu unterschätzendes Potential für den Wachstums- und Innovationsmotor Gesundheitswesen dar.104 Umso erstaunlicher erscheint das oft widersprüchliche Reformszenario, dem sich die Freien (Heil-) Berufe ausgesetzt sehen und in dem sich politisch höchst heterogene Protagonisten unterschiedlicher Reformansätze liberal-deregulierender bzw. sozialistischer oder staatsinterventionistischer Provenienz im Ruf nach Abbau des Berufsrechts und korporatistischer Strukturen oder Wettbewerbsöffnung bei gleichzeitiger Zunahme staatlicher Kontroll- und Ingerenzvorbehalte zusammenfinden. Der Freie Heilberuf sieht sich damit von zwei aus gegensätzlicher Richtung operierenden Tendenzen unter Druck gesetzt: Durch eine Strömung, die ihn stärker einem regulierten Wettbewerb im Rahmen einer staatlich gelenkten Gesundheitswirtschaft aussetzen will, indem sie ihn – wie im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz und GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz geschehen – weiter in das Sozialrecht einbindet105, und auf der anderen Seite von Bestrebungen politischer Akteure wie der Monopolkommission oder der Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission, die einer weitestgehenden Deregulierung und damit verbundenen Vergewerblichung das Wort reden.106 Sowohl die Versozialrechtlichungs- als auch die Vergewerblichungstendenzen mit ihren teilidentischen, zum Teil aber völlig konträren, höchst widersprüchlichen und inkonsistenten Reformansätzen stellen für das tradierte Leitbild des Freien Berufes eine geradezu existenzielle Herausforderung dar und geben Anlaß, über eine Neubestimmung des Identitätsprofils der Freien Berufe und der Freien Heilberufe auf nationaler Ebene und im europäischen Kontext nachzudenken.107 Bei dem Begriff des Freien Berufes handelt es sich nicht um einen eindeutigen Rechtsbegriff, sondern um einen soziologischen Topos, der zur Kennzeichnung eines aus der gesellschaftlichen Entwicklung des frühen Liberalismus erwachsenen Sachverhalts entstanden ist und erst später partiell von der Rechtsordnung aufge104 s. dazu Institut für Freie Berufe an der Universität Nürnberg/Erlangen, Die Freien Berufe in Deutschland im Zahlenbild 08/2007; zum Wirtschaftsfaktor Gesundheit in Europa, der seit 1995 mit einem jährlichen Zuwachs von 2,4 % und einem Anteil von 18 % an den insgesamt neu geschaffenen Arbeitsplätzen in der EU einen Spitzenplatz als Wachstumsbranche innehält, die etwa jeden zehnten Erwerbstätigen in Europa beschäftigt, s. Spielberg, ZM 16/2006, 2126; Statistik des BFB zum 1. 1. 2010, Ärzte-Zeitung v. 14.6.2010. 105 s. dazu Sodan/Schüffner, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung; Sodan, NJW 2007, 1313 ff. 106 Kluth, NZB 2008, 6 ff. 107 s. dazu Bundesverband der Freien Berufe, Leitbild der Freien Berufe 2009, 2009.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
323
griffen wurde.108 Als Rechtsbegriff ist er nirgendwo allgemeingültig definiert, sondern jeweils nur für den Anwendungsbereich spezifischer Gesetze in Einzelbestimmungen enthalten. So finden sich in § 6 Abs. 1 GewO und § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG lediglich Aufzählungen einzelner Freier Berufe, deren durchaus heterogene Kataloge nicht deckungsgleich sind. Durch die Verwendung des Begriffs „und ähnliche Berufe“ in Erweiterung der enumerativen Auflistung Freier Berufe entsteht in diesen Gesetzen ein Interpretationsspielraum, der es erforderlich macht, nach gemeinsam verbindlichen Kriterien zu suchen, die den Freien Beruf vom Gewerbe unterscheiden.109 Den höchsten Allgemeinverbindlichkeitsgrad definitorischer Verankerung als Rechtsbegriff weist bisher § 1 Abs. 2 Satz 2 PartGG auf, der bestimmte typologische Kriterien des Freien Berufes benennt. Da der Freie Beruf kein klar konturierter Rechtsbegriff, sondern ein Begriff soziologischer Genese ist, kommt ihm methodologisch keine trennscharfe Distinktionswirkung zu, wie sie juristischen Definitionen eigen ist. Vielmehr handelt es sich beim Freien Beruf rechtsmethodisch um einen Typusbegriff.110 Dies bedeutet, daß nicht alle Begriffsmerkmale in jedem Detail vorliegen müssen, sondern daß es genügt, wenn ein Berufsbild unter Beachtung einzelner Merkmale insgesamt das Gepräge eines Freien Berufes aufweist. Der Typusbegriff beinhaltet also ein Merkmalsgefüge, das Eigenschaften nach Maßgabe von Topoi ordnend gruppiert, wobei nicht alle Merkmale zugleich erfüllt sein müssen, sondern im Einzelfall weniger ausgeprägt oder nicht vorhanden sein können, ohne daß deshalb die Zugehörigkeit zum Typus entfiele.111 Ausschlaggebend für die Zuordnung zum Typus „Freier Beruf“ ist nur, daß in einer Gesamtbewertung eine deutlich überwiegende Vielzahl der ausschlaggebenden Aspekte im jeweiligen Berufsbild enthalten ist.112 Der Definitionsansatz in § 1 Abs. 2 PartGG bringt diesen Zusammenhang mit der Formulierung „Die Freien Berufe haben im allgemeinen …“ zum Ausdruck, bevor die einzelnen Tatbestandsmerkmale benannt werden, die als kennzeichnend für den Freien Beruf angesehen werden.113 Als freiberuflich im steuer- und gewerberechtlichen Sinn gelten wissenschaftliche, künstlerische und schriftstellerische Tätigkeiten höherer Art sowie Dienstleistungen höherer Art, die grundsätzlich eine wissenschaftliche Qualifikation in Form
108
BVerfGE 10, 354, 364. Vgl. Mann, NJW 2008, 121 ff.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 68 ff., 70 ff., 73 ff.; Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der Freien Berufe, 1979; Michalski, Der Begriff des Freien Berufes im Standes- und Steuerrecht, 1989; Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das Gewerbe, 2007, S. 31 ff. 110 Hummes, S. 83 ff.; Taupitz, Die Standesordnungen der Freien Berufe, 1991, S. 23 ff.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 66 f.; Gesellensetter, S. 36 f. 111 Zur rechtsmethodischen Bedeutung des Typusbegriffs s. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, S. 461 ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 237 ff. 112 s. BVerfGE 46, 224, 240 ff.; Mann, NJW 2008, 123. 113 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 66; Taupitz, S. 26; Gesellensetter, S. 37; Mann, NJW 2008, 121 ff. 109
324
4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
eines abgeschlossenen Hochschulstudiums erfordern.114 § 1 Abs. 2 Satz 1 PartGG präzisiert die Variante der „Dienstleistung höherer Art“ durch die Benennung von zusätzlichen Kriterien. Danach haben die Freien Berufe „im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt“. Funktional lassen sich neben den Heilberufen die rechts- und wirtschaftsberatenden Berufe, die Architekten, Ingenieure und naturwissenschaftlich geprägten Berufe, pädagogische, geistes- und kulturwissenschaftliche Berufe sowie künstlerische und publizistische Berufe unterscheiden.115 Die Freien Berufe und insbesondere auch die Heilberufe haben unter den Auspizien der europäischen Rechtsentwicklung die Anerkennung ihres unverzichtbaren Wertes für eine qualifizierte Leistungserbringung in ethischer Bindung und personaler Vertrauensbeziehung und damit ihrer zentralen gesellschaftspolitischen Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung erfahren. Erstmals hat der EuGH in einer Entscheidung vom 11.10.2001116 die Bedeutung der Freien Berufe im Rahmen des europäischen Rechts hervorgehoben und ihren Rechtscharakter definiert: „Die Freien Berufe sind Tätigkeiten, die ausgesprochen intellektuellen Charakter haben, eine hohe Qualifikation verlangen und gewöhnlich einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterliegen. Bei der Ausübung einer solchen Tätigkeit hat das persönliche Element besondere Bedeutung und diese Ausübung setzt auf jeden Fall eine große Selbständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen voraus.“ Auch in der Berufsanerkennungsrichtlinie der EU117 finden die Freien Berufe – ebenso wie schon in den vorgängigen sektoralen Richtlinien – eine spezifische Regelung im Rahmen der reglementierten Berufe (Art. 2 I, 3 I lit.a). wobei als freiberufliche Tätigkeiten gemäß Erwägungsgrund 43 Berufsanerkennungsrichtlinie solche Tätigkeiten definiert werden, die auf der Grundlage einschlägiger Berufserfahrungen persönlich, in verantwortungsbewußter Weise und fachlich unabhängig ausgeübt werden, die für ihre Klienten und die Allgemeinheit geistige und planerische Dienstleistungen erbringen.118 Gemeinwohlverpflichtung, wirksame Selbstkontrolle, Eigenverantwortlichkeit sowie hohe Qualifikation und Professionalität werden durchgängig von der Unionsgesetzgebung und -rechtsprechung als konstitutive Merkmale der Freiberuflichkeit angesehen.119
114
Vgl. BVerwGE 78, 6, 8; BVerwGE, NJW 1977, 772. Vgl. Hermann, Recht der Kammern und Verbände Freier Berufe, 1996, S. 46; Tettinger, MedR 2001, 288; Zuck, NJW 2001, 2055 ff.; Quaas, Der Freie Beruf 3/2000, 10 ff. 116 Rs. C-267/99. 117 RL 2005/36/EG. 118 s. Lemor, EuZW 2007, 136. 119 Oberlander, Der Freie Beruf 4/2010, 16. 115
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
325
b) Das Leit- und Berufsbild der Heilberufe im System der Freien Berufe Als typusbestimmende Merkmale eines Freien Berufes schlechthin und eines Freien Heilberufs in jeweils unterschiedlicher berufsbildspezifischer Ausprägung gelten in nationaler – wie zum größten Teil auch europarechtlicher – Hinsicht: • der Vorrang „ideeller“ Leistungserbringung gegenüber Gewinnmaximierung. Prägend für die freiberufliche Arbeitsleistung soll nach herkömmlicher Ansicht die ideelle, nicht die materielle Wertschöpfung der beruflichen Betätigung sein. Dies bedeutet keine primär altruistische Ausrichtung, da auch der Freie Beruf der Sicherung des Lebensunterhaltes dient und gerade die wirtschaftlichen Zwänge unternehmerischer Betätigung selbständiger Heilberufe dem ökonomischen Aspekt als materieller Basis der Berufstätigkeit eine erhebliche Bedeutung zuweisen120, sondern betont den Vorrang des ideellen Mehrwerts der „artes liberales“ gegenüber bloßem Gewinnstreben und bezeichnet speziell für die Heilberufe ihre ethische Verpflichtung, dem „salus aegrotii“ zu dienen. • die persönliche und eigenverantwortliche Leistungserbringung. Prägend für die Freien Berufe ist bis heute die grundsätzlich persönliche Leistungserbringung. Dadurch sind der Organisation der Arbeitsabläufe, insbesondere der Leistungsvermehrung durch Delegation an nicht Gleichqualifizierte, Grenzen gesetzt. Die erbrachte freiberufliche Leistung soll den „Stempel der Persönlichkeit des Berufsträgers“ tragen121 und seine individuelle fachliche Qualifikation widerspiegeln. Der Freiberufler unterliegt in seiner beruflichen Sphäre keinem Direktionsrecht des Auftraggebers, das sich auf Einzelheiten seiner Tätigkeit und seine professionelle Eigenverantwortlichkeit bezieht. Dies gilt sowohl gegenüber dem Klienten/Patienten als auch im Angestelltenverhältnis gegenüber Fremdbestimmung durch Direktionsbefugnisse des Arbeit- oder Kapitalgebers. Die fachliche Selbstbestimmtheit steht also in einem spezifischen Spannungsverhältnis zu Wünschen des Klienten oder Patienten und/oder Weisungen „übergeordneter“ Berufsträger wie z. B. dem Chef einer Klinik oder Arztpraxis.122 • besondere berufliche Qualifikation. Ein zentrales Merkmal Freier Berufe – soweit sie Dienstleistungen höherer Art erbringen und nicht künstlerischer Provenienz sind, so daß eher die schöpferische Betätigung im Vordergrund steht – ist die qualifizierte, insbesondere wissenschaftlich fundierte akademische Ausbildung, die die bewertende, beurteilende und gestalterische „Expertenfunktion“ der Freiberufler in gehobener gesellschaftlicher
120 121 122
Zur Kritik an der Altruismus-These s. Gesellensetter, S. 42 f., 58. So Pitschas, Recht der Freien Berufe, § 9 Tz. 13. s. dazu Pitschas, Recht der Freien Berufe, § 9 Tz. 14; Kluth, NZB 2008, 5.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Bedeutung widerspiegelt.123 Zwar stellt die Erforderlichkeit einer hohen fachlichen Qualifikation kein Alleinstellungsmerkmal der Freien Berufe dar, weil auch andere vergleichbare akademische Berufe über eine in der Regel gesetzlich geforderte hohe fachliche Qualifikation verfügen müssen, jedoch gehört eine qualifizierte akademisch-wissenschaftliche Ausbildung zu den typusbestimmenden Merkmalen des Freien Berufs. Bezüglich der Anforderungen an diese akademisch-wissenschaftliche Qualifikation wird es wie bereits in der Vergangenheit für einzelne Berufsbilder durch die aktuelle Neuorientierung der Hochschulausbildung auch in Zukunft weitere Grenzverschiebungen geben, die insbesondere durch den Bologna-Prozeß bedingt sind, der anstelle der Diplom-, Magister- und Staatsexamens-Studiengänge gestufte und stärker modularisierte Bachelor- und Master-Studiengänge einführt, die nicht auf die Universitäten beschränkt sind, sondern auch die sich zunehmend stärker wissenschaftlich orientierenden Fachhochschulen einbeziehen124 und neue freiberufliche Berufsbilder – auch im Heil- und Pflegeberufssektor – generieren könnten. Hinzu kommt, daß die Entwicklungsdynamik der modernen postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mit ihren Implikationen des demographischen Wandels, der Alterung der Gesellschaft, der Individualisierung, Flexibilisierung und Mobilität der Arbeitswelt sowie einer globalisierten Wissensgesellschaft die Entwicklung veränderter und neuer Aufgabengebiete und Berufsfelder insbesondere über fachliche Differenzierung und Spezialisierung stimuliert und zunehmend neue Berufsbilder mit unterschiedlichsten Aufgabenstellungen auch im Gesundheitswesen entstehen läßt, die möglicherweise aufgrund charakteristischer Merkmale den Freien Berufen zugerechnet werden können.125 • ethische Verpflichtung und Gemeinwohlbindung. Der Freie Beruf wird in vielen Zusammenhängen insbesondere des Steuer- und Gewerberechts vom Gewerbetreibenden abgegrenzt126, indem seine Gewinnerzielungsabsicht wenn nicht negiert, so doch im Sinne eines idealtypisch geminderten Gewinnstrebens relativiert wird. Dies bedeutet, daß nicht den eigenen wirtschaftlichen Interessen Vorrang eingeräumt und ein übertriebenes Gewinnstreben verhindert werden soll. Ein solcher „Grundakkord des Altruismus“127 gerät in Zielkonflikt mit der unternehmerischen Komponente und den wirtschaftlichen Zwängen niedergelassener freiberuflicher Tätigkeit, die notwendigerweise auf die Erzielung aus-
123
s. dazu Taupitz, S. 51; Pitschas, Recht der Freien Berufe, § 9 Tz. 16; Kluth, NZB 2008, 5. Kluth, NZB 2008, 5 ff. unter Hinweis auf Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl., 2004, Rnr. 343 ff.; Gieseke, WissR 2005, 55 ff. 125 Zur Entstehung neuer freiberuflicher Dienstleistungen s. den Überblick bei Oberlander, Der Freie Beruf 1 – 2/2008, S. 14. 126 Eine Sonderstellung nehmen in diesem Rahmen die Apotheker ein, bei denen neben ihrer freiberuflich-gemeinwohlorientierten Funktion der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung die unternehmerisch-gewerbliche Komponente traditionell ein integraler Bestandteil ihres Berufsbildes ist. 127 Pitschas, Recht der Freien Berufe, § 9 Tz. 17. 124
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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kömmlicher Einkünfte ausgerichtet ist.128 In den jeweiligen Berufsgesetzen und -ordnungen spiegelt sich normativ die besondere Gemeinwohlverantwortung der Freien Berufe wider129. So werden vor allem bei den Rechtsanwälten und Notaren als Organen der Rechtspflege oder Ärzten und Zahnärzten für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung besondere Sozialpflichten statuiert, um durch eine soziale Komponente ihrer Leistungsdarbietung den flächendeckenden Zugang aller sozialen Schichten zu den entsprechenden Dienstleistungen abzusichern.130 Die Bedeutung der Verantwortung der Freien Berufe für das Gemeinwohl hat auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder hervorgehoben und sie insbesondere aus der über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Vertrauensbeziehung zur eigenen Klientel abgeleitet.131 • die besondere Vertrauensbeziehung zum Patienten/Klienten. Den Angehörigen der Freien Berufe wird in der Regel ein besonderes Vertrauen entgegengebracht, das an ihre fachliche Qualifikation und die Bedeutung der erbrachten Dienstleistungen für die persönliche Sphäre und individuellen Rechtsgüter der Patienten und Klienten anknüpft. Diese besondere Vertrauensbeziehung garantiert den Verbraucherschutz bzw. bei den Heilberufen den Patientenschutz und bildet gleichsam den gesetzlich geschützten Arkanbereich der Beziehung zwischen Patient bzw. Mandant und dem Freiberufler, die durch gesetzliche Berufsgeheimnis- und Aussageverweigerungsrechte sowie Datenschutzbestimmungen vor einem staatlichen Informationszugriff oder der Kenntnisverschaffung Dritter geschützt wird. Umso bedenklicher sind Tendenzen, diese Vertrauenssphäre zur Disposition zu stellen, wie es durch das Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung geschehen ist.132 Das Arztgeheimnis könnte in Zukunft verstärkt auch durch technologische Prozesse wie Datenübermittlung an Kostenträger, elektronische Gesundheitskarte oder sonstige Formen der Telematik im Gesundheitswesen gefährdet werden,133 zumal im Umgang mit datenschutzrechtlichen Bestimmungen auch im Gesund-
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Zur Frage, inwieweit wirtschaftliches Profitstreben mit dem ärztlichen Berufsideal vereinbar ist, s. Gesellensetter, S. 59. 129 Vgl. Pitschas, Recht der Freien Berufe, § 9 Tz. 18. 130 Zur diesbezüglichen Funktion des freiberuflichen Gebührenrechts s. Kluth/Goltz/Kujath, Die Zukunft der Freien Berufe in der Europäischen Union, 2005, S. 22 ff. 131 So z. B. in der Hebammen-Entscheidung (BVerfGE 9, 338, 347), in der Entscheidung zum Status der Rechtsanwälte als Organen der Rechtspflege (BVerfGE 15, 226, 234) oder im Apotheken-Urteil (BVerfGE 17, 232, 239 f.). 132 Vgl. § 160a StPO, der mit wenigen Ausnahmen wie z. B. Strafverteidigern das Berufsgeheimnis der Freien Berufe dem staatlichen Lauschangriff aussetzt. s. hierzu die verfassungsrechtlichen Einwände der Bundesrechtsanwaltskammer, zit. in Kammerforum (Hrsg. RAK Köln) 1/2008, S. 20. 133 Zu den mit dem Informations- und Kommunikationsgeschehen im Gesundheitswesen, insbesondere der elektronischen Verwaltung von Patientendaten und der Einführung der Gesundheitskarte verbundenen Rechtsprobleme s. Bales/Dierks/Holland/Müller (Hrsg.), Die elektronische Gesundheitskarte, 2007.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
heitswesen eine zunehmende Desensibilisierung in Politik und Gesellschaft festzustellen ist. • wirtschaftliche Selbständigkeit. Die wirtschaftliche Selbständigkeit und der mittelständische Charakter der Freien Berufe zählen traditionell zu einer tragenden Säule ihres professionellen Selbstverständnisses. Als typenbildendes Charakteristikum hat dieses Merkmal allerdings an Verallgemeinerungsfähigkeit und Prägekraft verloren, weil eine steigende Zahl von angestellten Freiberuflern nicht nur in den rechts- und steuerberatenden Berufen, sondern gerade auch in den Heilberufen dieses Kriterium wirtschaftlicher Unabhängigkeit nicht ohne weiteres aufweist. Gleichwohl behält das Merkmal wirtschaftlicher Unabhängigkeit eine zentrale Bedeutung für die selbständig niedergelassenen Freiberufler und gewinnt auch spezifisch rechtliche Relevanz bezüglich der Grenzen staatlicher Regelung der Organisation ihrer Berufsausübung oder ihres Praxiseigentums.134 • Gemeinwohlfunktion und Selbstverwaltung durch Berufskammern. In vielen Freien Berufen manifestiert sich europaweit die ihnen eigene Gemeinwohlfunktion in Gestalt von Selbstverwaltung in Kammern, verbunden mit der Befugnis zum Erlaß von Berufsordnungen sowie einer Selbstkontrolle durch eine eigene Berufsaufsicht und Berufsgerichtsbarkeit. Da fachliche Kompetenz und Eignung sowie Bereitschaft zur Übernahme öffentlicher Aufgaben zum identitätsstiftenden Grundbestand des Freien Berufes zählen, hat der moderne demokratische Staat dieses Potential zu öffentlicher Aufgabenübernahme in Form von selbstverwalteten Körperschaften des öffentlichen Rechts als Modell dezentraler bürgerschaftlicher Partizipation nutzbar gemacht, wobei die Pflichtmitgliedschaft als konstitutives Merkmal der Verantwortungsbindung des Freien Berufes gesehen wird.135 Freiberufliche Selbstverwaltung in korporativer Form ist also das Korrelat individueller Gemeinwohlverpflichtung des Freien Berufes. Die Rolle der Freien Heilberufe im Sozialstaat bezeichnet nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Mitgliedstaaten der EU eine berufs-, gesundheits- und sozialpolitische Problemstellung, die trotz jahrzehntelanger politischer, rechts- und sozialwissenschaftlicher Diskussionen angesichts einer Flut neuer gesetzgeberischer Aktivitäten zum Umbau des Sozialstaates nichts an Aktualität eingebüßt hat und bei jeder Gesundheitsreform erneut auf dem Prüfstand steht. Bis in die jüngste Zeit haben sich zahlreiche grundlegende Untersuchungen mit der Status- und Funktionsmetamorphose heilberuflicher Tätigkeit unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen und 134 s. hierzu Kluth, in: Weißbuch der Zahnmedizin, S. 295 ff., der einerseits auf die abnehmende Prägekraft des früheren Leitbilds wirtschaftlicher Eigenständigkeit hinweist (S. 295), andererseits zu Recht die wirtschaftliche Selbständigkeit als Grundlage für den Leistungswettbewerb und einen hohen Qualitätsstandard herausstellt (S. 298). 135 Vgl. Schulte, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, 2007, S. 263 ff.; Hörnemann, Die Selbstverwaltung der Ärztekammern, 1995; Hellwig, AnwBl. 4/2007, 257 ff.; Tettinger, NwVBl 2002, 20 ff.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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der Rolle der Freien Heilberufe in ihrer Ambivalenz zwischen freiberuflicher Eigenverantwortung und zunehmend restriktiver werdenden sozialstaatlichen Bindungen befaßt.136 Bei einer Standortbestimmung der Heilberufe im modernen Sozialstaat und dessen sich abzeichnender Umgestaltung sind die Einwirkungen des Berufs- und Vertragsarztrechts auf die Berufsausübung, die vielfältigen Determinanten des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts, das sich wandelnde Morbiditätspanorama, die komplexen gesundheitsökonomischen Bestimmungsfaktoren137 und nicht zuletzt die sich entwickelnde Dimension einer Europäischen Sozialunion zu berücksichtigen.138 Die viel beschworene Kernfrage, ob z. B. der deutsche Heilberufsangehörige insbesondere in seiner Erscheinungsform als Vertrags(zahn-) arzt noch ein Freier Beruf ist, begegnet von vornherein der Schwierigkeit der bereits dargelegten Unschärfe eines Freiberuflichkeitsverständnisses, das auch in seiner für die Freien Heilberufe zutreffenden Genese nicht juristischer, sondern soziologischer Natur ist. Ein solches Vorverständnis der Freiberuflichkeit liegt nicht nur der die Freien Heilberufe übergreifenden Gesetzgebung, sondern auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung139 zugrunde, soweit sie die Heilberufe als Freie Berufe im Sozialstaat verortet. Normative, insbesondere grundrechtliche Schranken für staatliche Eingriffe und Statuszuweisungen des Freien Heilberufes durch den Gesetzgeber ergaben sich daher bisher nicht aus dem Rechtsgehalt der Freiberuflichkeit, sondern aus den allgemeinen Schranken, Vorbehalten und grundgesetzlichen Gewährleistungen, insbesondere der Berufsfreiheit des Art. 12 GG, der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 GG), dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) oder der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) sowie rechtsstaatlichen Kriterien wie dem Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzprinzip. Der Befund, daß der Begriff der Freiberuflichkeit in seiner Vieldeutigkeit und Unschärfe berufssoziologisch höchst unterschiedliche Berufsbilder und Berufstypen aggregiert140 und sowohl gegenüber gewerblichen Implikationen als auch Selbständigkeitskriterien und staatlicher Einbindung schwer abzu136 B. Tiemann, MedR 1983, 176 ff., 211 ff.; ders./S. Tiemann, Kassenarztrecht im Wandel, 1983; ders., VSSR 1994, 407 ff.; ders./Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland; ders., in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer; ders., in Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg (Hrsg.), 50 Jahre LZK Baden-Württemberg, 2005; ders., Zukunftsperspektiven der zahnärztlichen Versorgung, S. 127 ff.; Engel, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, 2007, S. 205 ff. 137 Zur Vernetzung interdependenter juristischer, gesundheitsökonomischer und sozialmedizinischer Entwicklungstendenzen des (zahn-)medizinischen Versorgungssektors in interdisziplinärer Sicht s. Die zahnärztliche Versorgung im Umbruch, 2001, mit Beiträgen von B. Tiemann (S. 15 ff.), Reich (S. 29 ff.), Wille (S. 39 ff.), Tettinger (S. 57 ff.). 138 s. dazu B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union; ders., in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für M. Heinze, S. 921 ff.; ders., in: Ulrich/Ried (Hrsg.), Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, S. 139 BVerfGE 10, 354, 364; 12, 144. 140 s. Tettinger, MedR 2001, 288.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
grenzen ist, trifft sowohl auf das Verhältnis der Freien Heilberufe zu anderen Freien Berufen als auch auf die Binnenstruktur der einzelnen Freien Heilberufe selbst zu: Sowohl teilweise gewerblich ausgerichtete Berufe wie die Apotheker als auch staatlich Beliehene wie die Notare werden zu den Freien Berufen gezählt. Freie Berufe können in angestellter oder selbständiger Form oder in Kombination von beiden Ausübungsmodalitäten praktiziert werden: § 1 BÄO und § 2 BRAO definieren den Arzt oder Rechtsanwalt als ihrer Natur nach Freien Beruf, dessen Tätigkeit kein Gewerbe ist, unabhängig davon, ob sie in freiberuflicher Niederlassung oder als Angestellter, z. B. als Krankenhausarzt oder Syndikusanwalt, praktiziert wird. Der „Dichtegrad“ der öffentlich-rechtlichen Einbindung Freier Berufe ist ebenfalls höchst unterschiedlich: Neben weitgehend „staatsfreien“ Freiberuflern wie Künstlern und Publizisten stehen staatlich gebundene Berufe wie z. B. Rechtsanwälte, die von der BRAO als „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ bezeichnet werden, Apotheker, denen nach dem ApoG die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung obliegt, oder Ärzte und Zahnärzte, die nach der BÄO und dem ZHKG bei der Ausübung ihres Berufes der medizinischen Versorgung der Bevölkerung ebenfalls in staatliche Sozialpflichten eingebunden sind. Den höchsten Dichtegrad öffentlichrechtlicher Einbindung weisen Freie Berufe auf, die wie z. B. Notare oder öffentlich bestellte Vermessungsingenieure mit staatlichen Hoheitsfunktionen beliehen sind, so daß ihre Freiberuflichkeit durch die Indienstnahme für Staatsfunktionen weitgehend öffentlich-rechtlich überlagert ist. Auch Heilberufsangehörige als Angestellte öffentlicher Institutionen oder sogar im Beamtenverhältnis des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bleiben im Kern des fachlich-ethischen Gehalts ihrer Profession Freiberufler. Umgekehrt zeigt die Debatte um Zulässigkeit von Werbung oder gesellschaftsrechtlicher, besonders kapitalgebundener, Formen der Berufsausübung Freier Berufe die Probleme einer Abgrenzung zur Vergewerblichung, die auch vor dem Berufsbild des Heilberufsangehörigen in seinen verschiedenen Ausübungsformen nicht Halt macht.141 Besonders das Berufsbild des deutschen Vertrags(zahn)arztes muß sich vor dem Hintergrund der Systembedingungen der GKV und seiner zunehmenden Funktionalisierung für die Zwecke der Sozialen Krankenversicherung auf seine Freiberuflichkeit befragen lassen. Die Kumulation vielfältiger Einschränkungen beruflicher Freiheiten, die sowohl die medizinisch-therapeutische Komponente (Einschränkung der Therapiefreiheit durch Arzneimittelbudgets, Richtlinienvorgabe, Kontrolldichte der Wirtschaftlichkeits- und Qualitätssicherung) als auch die ökonomisch-betriebswirtschaftliche Dispositionsfreiheit (Restriktionen durch Budgetierung, Degression, Realwertverluste, gesetzgeberische Vergütungsinterventionen) sowie das berufliche Umfeld freier Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf Bedarfsplanung, Altersgrenzen oder Praxisübergabebeschränkungen umfassen, 141 Vgl. Ganster, Freier Beruf und Kapitalgesellschaft – das Ende der freien Professionen?, 2000, S. 148 ff., 577 ff., 607 ff.; Knüpper, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 227 ff.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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haben dazu geführt, den Kassen- bzw. Vertrags(zahn)arzt als „Amtswalter der Gesetzlichen Krankenversicherung“, als „Semi-Beamter“, als „Quasi-Beliehener mit Sozialanspruch auf Teilhabe an der aus Zwangsabgaben gespeisten Gesamtvergütung“142 oder – neuestens infolge des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes – als „Vertrags-Dienstleister“143 anzusehen. Die Berufstätigkeit der Freien Heilberufe innerhalb des Systems der medizinischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland ist in der Regel – nämlich soweit es sich um den Vertrags(zahn)arzt handelt – bestimmt von zwei Komponenten: dem (zahn)ärztlichen Berufsrecht, das sich insbesondere in der BÄO und im ZHKG sowie den Approbationsordnungen für Ärzte und Zahnärzte und den landesrechtlichen Heilberufs- und Kammergesetzen niedergeschlagen hat, ferner den vertragsarztrechtlichen Bestimmungen des SGB V sowie in den Richtlinien, Mantelund Gesamtverträgen als normenkonkretisierenden Kollektivverträgen.144 Sowohl in der BÄO als auch im ZHKG und den Musterberufsordnungen für die deutschen Ärzte und Zahnärzte werden diese ärztlichen Heilberufe als ein ihrer Natur nach Freier Beruf bezeichnet, der nur in Diagnose- und Therapiefreiheit ausgeübt werden kann und dessen Ausübung kein Gewerbe darstellt. Jeder Arzt und Zahnarzt ist demnach verpflichtet, seinen Beruf nach den Regeln der ärztlichen Kunst und nach den Geboten der Menschlichkeit auszuüben, dem ihm im Zusammenhang mit dem Beruf entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen, sein Wissen und sein Können in den Dienst der Pflege, der Erhaltung und der Wiederherstellung der Gesundheit zu stellen. Diese generelle Definition der Berufspflichten wird in den Berufsordnungen in eine Vielzahl von Einzelpflichten ausdifferenziert, die von der Fortbildungspflicht über Schweigepflicht, Dokumentationspflichten, Kollegialitätspflichten bis hin zu Übernahmepflichten von Notfalldienst reicht.145 Die freiberufliche Komponente der (zahn)ärztlichen Berufsausübung als eigenverantwortlicher, weisungsunabhängiger, nicht in erster Linie erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit paart sich bei einer Teilnahme
142 s. dazu S. Tiemann, ZSR 1983, 184 ff., 230 f.; H. Bogs, in: Gesundheitspolitik zwischen Staat und Selbstverwaltung, 1982, S. 415 ff. Nach Zuck, in: Festschrift für Geiß, 2000, S. 323, 330 stellt sich sogar die Frage, ob der Vertragsarzt heutiger Prägung nicht bereits ein eigenständiger Beruf ist, da er „so gut wie alle Merkmale freiberuflicher ärztlicher Tätigkeit verloren“ habe. Dagegen kritisch Tettinger, MedR 2001, 287; Kluth, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 295. 143 Pitschas, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen der vertraglichen Konkretisierung von Rechtsnormen im Sozialrecht, Vortrag am 31. 10. 2007 auf dem Speyerer Zahnärzte-Symposium „Die Gesundheitsreform 2007 als Herausforderung an Beruf und Status der Vertragszahnärzte“. 144 s. dazu überblickhaft B. Tiemann/Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 66 ff. 145 s. dazu den Überblick bei S. Tiemann, Das Recht in der Zahnarztpraxis, 2008, S. 14 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
an der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung mit den Bindungen des Kassenarztrechts.146 Die Rollen- und Statusambivalenz zwischen der Eigenverantwortlichkeit des Freien Berufes und dem rechtlichen Standard des Kassensystems hat das Bundesverfassungsgericht im Grundsatzurteil zur Rechtsstellung des Kassenarztes bzw. Kassenzahnarztes 1960/61147 dahingehend umschrieben, daß der Kassenarzt kein eigener Beruf sei, der dem des nicht zu den Kassen zugelassenen, frei praktizierenden Arztes gegenübergestellt werden könne. Vielmehr sei die Tätigkeit des Kassenarztes nur eine Ausübungsform des Berufes des frei praktizierenden Arztes. Die Rechtsstellung des Kassenarztes sei auch kein öffentlicher Dienst; zwar sei der Kassenarzt durch die Zulassung in ein öffentlich-rechtliches System einbezogen; innerhalb dieses Systems stehe er jedoch weder zu den Kassen noch zur Kassenärztlichen Vereinigung in einem Dienstverhältnis. Mit der Krankenkasse verbinde ihn keine unmittelbare Rechtsbeziehung. Der Kassen(zahn)arzt sei nicht Dienstnehmer, sondern Mitglied der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung als genossenschaftlichem Zusammenschluß der Ärzte und Zahnärzte zur korporativen Erfüllung der Verpflichtung, die medizinische Versorgung der Kassenmitglieder sicherzustellen. Der Kassenarzt trage das wirtschaftliche Risiko seines Berufes selbst. Die Krankenversicherung bediene sich des Freien Berufes der Ärzte zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Nur in gewissen für das Gesamtbild nicht entscheidenden Punkten sei diese Tätigkeit besonderen Beschränkungen unterworfen, die sich aus der Einbindung in das vertragsärztliche Versorgungssystem ergäben.148 Der Freie Heilberuf in Deutschland steht also in einem spezifischen Spannungsverhältnis freiberuflicher Eigenverantwortung und sozialstaatlicher Bindung. Die Grenzen dieser Bindungen zu bestimmen ist im Hinblick auf die grundgesetzliche Gewährleistung der Berufsfreiheit der Heilberufsangehörigen, aber auch wegen der gesellschaftspolitischen Relevanz der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung durch Freie Heilberufe und die Grundrechtssensibilität der involvierten Rechtsgüter von zentraler Bedeutung. Auch wenn den Angehörigen eines Freien Berufes nicht „grundsätzlich und von vornherein ein irgendwie bestimmbarer erhöhter Anspruch auf Freiheit vor gesetzgeberischen Eingriffen rechtlich verbürgt“ ist,149 wird ihre Berufsausübung in selbständiger und unselbständiger Form150 durch Art. 12 GG geschützt. Das breite Spektrum der aus Art. 12 Abs. 1 GG ableitbaren Gewährleistungen der Freiheit der Berufsausübung garantiert die Gesamtheit der mit der Berufstätigkeit, ihrem Ort, ihren Inhalten, ihrem Umfang, ihrer Dauer, ihrer 146
Vgl. die Darstellung der Besonderheiten des vertragszahnärztlichen Sektors im System des Kassenarztrechts bei Muschallik, in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2006, S. 465 ff. 147 BVerfGE 10, 354; 12, 144. 148 BVerfGE 12, 144, 150. 149 BVerfGE 10, 354, 364. 150 BVerfGE 7, 377, 398 f.
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äußeren Erscheinungsform, ihren Verfahrensweisen und Instrumenten zusammenhängenden Modalitäten der beruflichen Tätigkeit und umfaßt eine Reihe von Einzelfreiheiten,151 die sowohl die berufliche Qualifikation und Selbstbestimmung als auch die Außenbeziehungen zum Patienten und „Gesundheitsmarkt“ betreffen, wie z. B. • die berufliche Entfaltungsfreiheit mit den für den medizinischen Bereich zentralen Komponenten der Therapiefreiheit, • die berufliche Organisations- und Dispositionsfreiheit bezüglich der privatautonomen Rechtsformenwahl und der Freiheit gemeinsamer Berufsausübung, der Investitionsfreiheit sowie der freien Vertrags- und Preisgestaltung, • die Wettbewerbsfreiheit einschließlich der Freiheit der beruflichen Selbstdarstellung durch sachliche Informationswerbung, der Führung erworbener akademischer Grade und Tätigkeitsschwerpunkte, • die Eigenverantwortlichkeit für die Erbringung und wirtschaftliche Verwertung beruflicher Leistungen.
c) Berufs- und Vertragsarztrecht als Determinanten heilberuflicher Freiberuflichkeit in nationaler und unionsrechtlicher Dimension Das Berufsrecht der Heilberufe weist seit Jahrzehnten eine Tendenz auf, durch staatliche Vorgaben für die Praxisführung und wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit die Berufstätigkeit stärker zu reglementieren. Die den Heilberufsangehörigen wirtschaftlich belastenden Anforderungen an Praxisausstattung, Qualitätssicherung und Fortbildung nehmen ständig zu, während die wirtschaftliche Basis, die Gebührenordnungen, nicht oder unzulänglich an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt wurden, so daß der Realwert der Leistungsvergütung häufig nicht in Einklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung steht. Insbesondere das engmaschige Netz kassenärztlicher Pflichten, denen Arzt und Zahnarzt in der Berufsausübungsform des Vertragsarztes unterworfen sind und die sowohl die Berufsausübung im engeren Sinne, d. h. die diagnostisch-therapeutische Kernzone der Berufstätigkeit, tangieren, als auch die wirtschaftliche Komponente der Berufsausübung sowie die allgemeine berufliche Entfaltungs- und Dispositionsfreiheit einschränken, hat dazu geführt, daß verschiedentlich Zweifel laut wurden, ob der Vertrags(zahn)arzt überhaupt noch die Kriterien des Freien Berufes erfülle. Von den zentralen Definitionsmerkmalen der Freien Berufe, nämlich der besonderen beruflichen Qualifikation, der Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit sei nur noch Ersteres übrig geblieben und im
151 Zur exemplarischen Konturierung des mehrdimensionalen Schutzumfanges grundrechtlicher Gewährleistungen für Freie Berufe s. Tettinger, MedR 2001, 290; Sodan, Grundgesetz, Art. 12 GG, Rnrn. 13 ff.
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Grunde ein neues eigenständiges Berufsbild des „Vertragsarztes“ entstanden.152 Kausal für diese Entwicklung des Vertrags(zahn)arztes zu einem öffentlich-rechtlich gebundenen Freiberufler „sui generis“ sind größtenteils die Systembedingungen der GKV. Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts deutlich, die den ärztlichen Leistungserbringer in die Nähe des Beliehenen rückt, wenn sie feststellt:153 „Insoweit beleiht das Gesetz den jeweils vom Versicherten frei gewählten Kassenarzt mit der öffentlich-rechtlichen Rechtsmacht (Kompetenz), die medizinischen Voraussetzungen des Eintritts des Versicherungsfalles der Krankheit für den Versicherten und die Kasse verbindlich festzustellen.“ Die Entwicklungsgeschichte des ärztlichen und zahnärztlichen Leistungs- und Vertragsrechts in der GKV ist gekennzeichnet durch Zyklen einer progredienten Leistungs- und Vertragsausweitung, die sich in den Wachstumsjahren der 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beschleunigte und später durch Vergütungsrestriktionen, partielle Leistungsausgrenzungen und Selbstbehalte periodisch eingedämmt wurde. Der dadurch bewirkte Paradigmenwechsel des Kassenarztrechts hat sich in einem Evolutionsprozeß vollzogen, der sowohl die Rechtsstellung des Versicherten als auch Funktion und Binnenstruktur der Krankenversicherungsträger und den Status des Kassen- bzw. Vertragsarztes betrifft. Seine verstärkte Instrumentalisierung für das System der Gesetzlichen Krankenversicherung, die Einwirkung einer makrosozialen Globalsteuerung auf das Leistungs- und Vergütungssystem sowie stringente öffentlich-rechtliche Bindungen der ärztlichen Berufstätigkeit sind Marksteine dieses Wandlungsprozesses.154 Die engere soziale Einbindung des Kassenarztes, die Einwirkung gesamtwirtschaftlicher Prozesse auf die kassenärztliche Behandlungstätigkeit und das Arzt-Patienten-Verhältnis haben das System der kassenärztlichen Versorgung in eine kontradiktorische Beziehung zwischen den grundrechtlich garantierten Anforderungen an die autonome, von persönlichem Vertrauen und fachlicher Kompetenz getragene Arzt-Patienten-Beziehung mit ihren vielschichtigen Implikationen (Wahl- und Persönlichkeitsrechte des Patienten, Therapiefreiheit, Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten) einerseits und den sozialstaatlichen Anforderungen gesamtgesellschaftlicher Organisationsprinzipien andererseits gestellt. Dies hat insbesondere unter den seit den 90er Jahren bestehenden Budgetzwängen und der Überwälzung des Morbiditätsrisikos auf die Ärzteschaft zu einer mehrdimensionalen Antinomie des Kassenarztrechts geführt, die rechtsstaat152 s. dazu Zuck, in: Festschrift für Geiß, S. 323, 330; Engel, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 205 ff., 216; Pitschas, Vortrag Speyerer Zahnärzte-Symposium, der diesen Rollenwandel auf den durch das GKV-WSG induzierten Vertragsdienstleister-Status fokussiert; Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten im Spannungsfeld von Sozial-, Verfassungs- und Europarecht, 2009. 153 So BSGE 79, 190, 194; zur Frage des Beliehenen-Status des Vertragsarztes s. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 85; Gesellensetter, S. 89 f. 154 Zu diesem Entwicklungsprozeß der Strukturveränderung durch die KostendämpfungsGesetzgebung s. B. Tiemann/S. Tiemann, S. 108 ff., 133 ff.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 66 ff.; Quaas, MedR 2001, 34 ff.; v. Maydell, NZS 1996, 243 ff.; Tettinger, MedR 2001, 288 ff.; ders., GesR 2004, 449 ff.
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lich einwandfrei nur aufgelöst werden kann, wenn die beteiligten Rechtsgüter und Interessen in grundrechtskonformer Weise harmonisiert werden.155 Eine dieser Antinomien ist rechtskonstruktiver Art und betrifft die Trias von Sachleistung, Kollektivvertrag und Gesamtvergütung, die das System der GKV fast ausnahmslos beherrscht. Die Krankenkassen haben dem Versicherten in diesem Rahmen nicht nur das finanzielle Risiko der Krankheit abzunehmen, sondern zu gewährleisten, daß er mit ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung sowie mit Arzneimitteln versorgt wird. Dienst- und Sachleistungen sind dadurch gekennzeichnet, daß sich der Anspruch des Sozialversicherten gegen den Leistungsträger unmittelbar auf die Leistung selbst richtet. Eine finanzielle Beteiligung des Versicherten erfolgt dabei in der Regel nur über dessen Beitrag zur Sozialversicherung. Mit der Einführung dieses Naturalleistungsprinzips bezweckte der Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die ärztliche Versorgung aller Krankenkassenmitglieder sicherzustellen, wobei die Unmittelbarkeit der Bedarfsbefriedigung ohne Kostenbeteiligung des Versicherten, die das Sachleistungsprinzip kennzeichnet, in ihrer ursprünglichen Sinngebung darauf abzielte, durch Ausschluß einer Vorleistungspflicht der Versicherten die Hemmschwelle für die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen gerade für das Hauptklientel des damaligen Versichertenbestandes, nämlich die finanziell minderbemittelten Patienten, herabzusetzen, damit diese nicht aus materiellen Gründen von der Inanspruchnahme notwendiger Behandlungen absehen müßten.156 Die öffentlich-rechtlichen Konstruktionen innerhalb eines sozialrechtlichen Vierecksverhältnisses zwischen anspruchsberechtigtem Versicherten, seiner Krankenkasse, der mit ihr kollektivvertraglich verbundenen K(Z)V und deren Mitgliedern, den Vertragsärzten, haben den Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient im Sachleistungssystem weitgehend verdrängt und seiner privatrechtlichen Konstitutionsfaktoren entkleidet, so daß sich ein privatautonomer Behandlungsvertrag zwischen Vertrags(zahn)arzt und sozialversichertem Patienten als inhaltsleere Hülse darstellt157, die im wesentlichen auf ein haftungsrechtliches Sorgfaltspflichtverhältnis (§ 76 Abs. 4 SGB V) reduziert ist.158 Der Vertrags(zahn)arzt tritt dem Patienten damit als Leistungsmittler in Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Anspruchs 155 Zur Antinomie des Kassenarztrechts und des Leistungsrechts der GKV s. B. Tiemann, VSSR 1994, S. 412 ff.; Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2002, 286 ff.; Sodan/Schlüter, NZS 2007, 455 ff. 156 Vgl. B. Tiemann/Klingenberger/Weber, System der zahnärztlichen Versorgung, S. 18 ff., 61 ff. 157 Eberhardt, AcP 1971, 219 ff.; B. Tiemann, MedR 1983, 176 ff., 179 ff.; ders., VSSR 1994, 407 ff. 412 ff. 158 Eberhardt, S. 289; Rohwer-Kahlmann, SGb 1980, 1990. Zur Darstellung der kontroversen Standpunkte, inwieweit dem kassenarztrechtlichen „Dritterfüllungsverhältnis“ zwischen Vertragsarzt und sozialversichertem Patienten schuldrechtliche Elemente zugrunde liegen, s. Waltermann, Sozialrecht, S. 102 ff.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer in der GKV, S. 126 ff.; Quaas, MedR 2001, 36; B. Tiemann/Muschallik, NJW 1990, 743 ff.
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gegenüber, der in einer Drittbeziehung, dem Versicherungsverhältnis, wurzelt. Das Arzt-Patienten-Verhältnis im Kassenarztrecht gestaltet sich damit als öffentlichrechtlich präformiertes Erfüllungsverhältnis, das sowohl die Aufgabe der Anspruchsrealisierung als auch die Funktion einer Gewährleistung wirtschaftlicher und lege-artis-konformer Versorgung für den Patienten hat. Allerdings konnte das Sachleistungsprinzip in Zeiten jahrzehntelang praktizierter Kostendämpfungspolitik schon lange nicht mehr puristisch „durchgehalten“ werden und mußte mit Formen der Eigenbeteiligung und Wahlrechten angereichert werden, was dazu führte, daß der Versicherte sich nicht mehr in allen Fällen mit einer das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden Leistung zufrieden geben muß.159 Während im ärztlichen Bereich der Anteil außervertraglicher Wunsch- und Wahlleistungen (IGEL-Leistungen) zunahm, wurden besonders im Bereich der zahnmedizinischen Versorgung beim Zahnersatz und der Füllungstherapie Wahlformen und befundorientierte Festzuschüsse implementiert, durch die das starre Korsett der Sachleistung mit ihrer Allesoder Nichts-Beschränkung gesprengt wurde, indem der Versicherte, wenn er sich für aufwendigere Mehrleistungen entscheidet, den Festzuschuß in diese Versorgungsform „mitnimmt“.160 Der im übrigen weitgehende Ausschluß der Privatautonomie im Sachleistungsprinzip, die Herauslösung konstitutiver Gestaltungskomponenten des Vertragstypus, nämlich Leistung und Gegenleistung, aus der Vertragsbeziehung zwischen Behandler und Patient zerreißt das duale Schuldverhältnis als synallagmatisches Regelungsgefüge und autonome Gestaltungseinheit und wirft darüber hinaus bedeutsame Fragen des Selbstverständnisses (zahn)ärztlicher Berufsausübung im System der GKV auf: Im Sachleistungssystem treten sich die Rechtssubjekte des Behandlungsverhältnisses als Personen gegenüber, deren Privatautonomie durch öffentlichrechtliche Regelungen weitgehend aufgezehrt ist, so daß für einen rechtlichen Konsens über die Inhalte des Behandlungsverhältnisses kein Raum zwischen ihnen bleibt, da ihnen im Binnenverhältnis keine privatrechtliche Disposition über gegenseitige Ansprüche zusteht. Der für privatrechtliche Vertragsverhältnisse charakteristische Konsens wird damit bereits auf öffentlich-rechtlicher Ebene antizipiert, nämlich in den mitgliedschaftlichen Beziehungen Versicherter/Krankenkasse 159
Das Auseinanderklaffen zwischen der starren Finanzierung des Leistungsanspruchs im Sachleistungssystem und dem tatsächlichen Bedarf des Versicherten veranlaßte schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die höchstrichterliche Rechtsprechung z. B. im Bereich von Sehhilfen, orthopädischen Schuhen oder der Krankenhausbehandlung, die Inanspruchnahme von außervertraglichen Leistungen unter Übernahme der Mehrkosten durch den Versicherten zuzulassen. Sie wurden von der Rechtsprechung als „zeitgemäße Weiterentwicklung des Sachleistungsprinzips“ bezeichnet. Vgl. BSGE 42, 229. Zu Verfassungsfragen der mit dem Sachleistungsprinzip verbundenen Einschränkung der Wahlfreiheiten des Patienten bezüglich der Arztwahl und des Leistungsangebots s. Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten im Spannungsfeld, S. 79 ff. 160 s. dazu B. Tiemann, ZMGR 1 – 2/2005, S. 14 ff. In umgekehrter Richtung werden Wahlrechte der Patienten in den Sachleistungsstrukturen der GKV immer wieder auch eingeschränkt, wie z. B. in der Hilfsmittelversorgung. Zu verfassungsrechtlichen Fragen der Eingriffslegitimität in die Patientenrechte s. Sodan, VSSR 2008, 1 ff.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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einerseits und kollektivvertraglichen Relation Krankenkasse/Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung andererseits. Die Sachleistungsgewährung und das Arzt-PatientenVerhältnis sind damit gekennzeichnet von der Anonymität und Intransparenz der Leistungsbeziehung.161 Die durchgängig öffentlich-rechtliche Präformierung des Behandlungsverhältnisses wird aber der Vertrauensbeziehung zwischen (Zahn)Arzt und Patient, in die elementare Persönlichkeitsrechte wie die körperliche Integrität eingebracht werden, nicht gerecht. Im Arzt-Patienten-Verhältnis ist mehr zu regeln als die bloße Kostenfrage. Es betrifft Aufklärung und Einwilligung ebenso wie Wahlund Selbstbestimmungsrechte oder Mitwirkungspflichten des Patienten. Angesichts der Grundrechtssensibilität der beteiligten Rechtsgüter und der Rechte-PflichtenRelation im Kassenarztrecht müssen auch im Arzt-Patienten-Verhältnis die konstitutiven Elemente des Privatvertrages erhalten bleiben, die der Subjektstellung von Arzt und Patient Rechnung tragen und der individualrechtlichen Prägung des Behandlungsverhältnisses entsprechen. Eine weitere Inadäquanz des Sachleistungsprinzips als leistungsrechtlicher Handlungsform auch unter Freiberuflichkeitsaspekten betrifft seine Europakompatibilität.162 Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Grundsatzentscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit festgestellt, daß nationale Genehmigungsvorbehalte der Finanzierungsträger für die Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Behandlungen oder den Erwerb von Heil- und Hilfsmitteln im Ausland nur unter engen Voraussetzungen zulässig sind.163 Regelungen wie das territorial gebundene Sachleistungsprinzip, das den Versicherten durch Genehmigungsvorbehalte faktisch daran hindert, ärztliche und zahnärztliche Dienstleistungen in einem anderen EUStaat frei in Anspruch zu nehmen, verletzen deren Grundfreiheiten und die der Heilberufe.164 Eine Ausnahme kann für den stationären Sektor nur dann gelten, wenn bei einer Öffnung des Systems für grenzüberschreitende Leistungsnachfrage eine „erhebliche Gefährdung“ des nationalen Sicherungssystems der gesundheitlichen Versorgung droht. Von dieser Rechtsprechung des EuGH und den daran anknüpfenden Bemühungen der EU-Kommission für eine Gesundheitsdienstleistungsrichtlinie165 werden auch in Zukunft Impulse für eine auf Kostenerstattung beruhende Umgestaltung des deutschen Leistungsrechts erwartet, um der erforderlichen Mo161 Zu verfassungsrechtlichen Problemen der Einschränkung von Selbstbestimmungsrechten des Patienten im GKV-System s. Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten, S. 78 ff.; B. Tiemann, MedR 1983, 176 ff., 179 ff.; ders., VSSR 1994, 407 ff., 412 ff.; ders./ Muschallik, NJW 1990, 743 ff.; Muschallik, MedR 2000, 213 ff. 162 Zur Zukunft des Sachleistungsprinzips im künftigen europäischen Gesundheitsmarkt s. Udsching/Harich, EuR 2006, 784 ff. 163 Daß dieser Grundsatz sowohl für auf Kostenerstattungsbasis beruhende wie für sachleistungsgeprägte Gesundheitssysteme gilt, hat der EuGH in seiner Entscheidung Müller-Faur/ van Riet C-385/99 bestätigt, die eine Zahnbehandlung von Niederländern in Deutschland betrifft, und in einem weiteren Grundsatzurteil klargestellt, daß diese Prinzipien unabhängig von der Beitrags- oder Steuerfinanzierung eines Gesundheitssystems sind (Fall Watts C-372/04). 164 s. dazu oben 1. Kap. III. 3, 4. 165 Zum Vorhaben einer EU-Richtlinie für Gesundheitsdienstleistungen s. oben 3. Kap. II. 2.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
bilität und Transparenz der Leistungsnachfrage und -erbringung gerecht zu werden und das deutsche sozialversicherungsrechtliche Leistungs- und Vertragsrecht „europafest“ zu machen. d) Europakompatibilität sozialstaatlicher Bindungen professioneller Selbstbestimmung Sowohl die berufliche Entscheidungsfreiheit als auch die wirtschaftliche Komponente vertrags(zahn)ärztlicher Berufstätigkeit sind zunehmend in den Bannkreis makrosozialer Steuerungsmechanismen und gesamtwirtschaftlich orientierter Daten geraten und damit an Kriterien gekoppelt, die außerhalb des individuellen Leistungsbezugs liegen. Die Einschränkung der Therapiefreiheit durch ein engmaschiges Regelwerk von Richtlinien und Budgetvorgaben, die Kontrolldichte der Wirtschaftlichkeits- und Qualitätssicherungsprüfungen, die Restriktionen durch Honorarverteilungsmaßstäbe und Degressionsregelungen sowie durch gesetzgeberische Interventionen in das Vertrags- und Vergütungssystem bezeichnen Tendenzen der Unterordnung medizinisch-therapeutischer Erfordernisse und betriebswirtschaftlicher Sachzwänge unter das Kalkül Kosten-Nutzen-analytischer Betrachtungsweise.166 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Gemeinwohlbedeutung der finanziellen Stabilität der GKV einen weiten Gestaltungsspielraum sozialpolitischer Normsetzung eingeräumt167 und sowohl gesetzgeberische Eingriffe in das Vertrags- und Vergütungssystem168 als auch Bedarfsplanungsregelungen und Altersgrenzen für verfassungslegitim erklärt.169 Diese Rechtsprechung vermag im Hinblick darauf nicht zu befriedigen, daß sie die Grundrechtsbelange der Heilberufe als Leistungsträger in den Hintergrund treten läßt. Die Anerkennung der Finanzierungsfähigkeit der Sozialen Sicherungssysteme als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut rechtfertigt nicht eine einseitige Lasten- und Risiko-
166 Die schon von Herder-Dorneich, Gesundheitspolitik zwischen Staat und Selbstverwaltung, 1982, S. 176 ff., beklagten ordnungspolitischen Steuerungs- und rechtsstaatlichen Strukturdefizite durch eine die Innensteuerung über eigenverantwortliche Selbstbeteiligungen und Leistungsbegrenzungen vernachlässigende Globalsteuerung mittels Budgetierung haben sich im letzten Jahrzehnt durch sinkende Beitragseinnahmen, demographische Entwicklung und medizinischen Fortschritt potenziert und die Krankenversicherung teilweise zu einem Kontingentierungs- und Zuteilungssystem denaturieren lassen. 167 BVerfGE 103, 172, 185; 103, 392, 404. s. dazu Jäger, NZS 2003, 225 ff.; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der GKV, 2007. 168 Vgl. Schneider, SGb 2004, 143 ff., der insbesondere im Sachleistungsprinzip ein Hindernis für die Richtigkeitsgewähr der Preisfindung für vertrags(zahn)ärztliche Leistungen sieht. Zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütungen durch die Vergütungsreform des GKVWSG (§§ 87, 87a, 87b SGB V) s. Knieps/Leber, VSSR 2008, 177 ff. 169 s. dazu die Rechtsprechungsnachweise bei Tettinger, MedR 2001, 290 f.; Steiner, MedR 2003, 1 ff., 6.
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überwälzung auf freiberufliche Ärzte und Zahnärzte,170 sondern erfordert eine sorgfältige Ausbalancierung der Lastenverteilung und Harmonisierung der involvierten Rechtsgüter und Grundrechtsbelange im Sinne „praktischer Konkordanz“.171 Schon die Zulassung zum Status des Kassen- bzw. Vertragsarztes und die Modalitäten seiner Ausübung unterliegen einer Fülle von Restriktionen und Reglementierungen, die zum Teil durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz modifiziert wurden. Charakteristisch hierfür sind dabei die – für Zahnärzte inzwischen aufgehobene – Bedarfsplanung (§§ 101, 103 SGB V) sowie die bis 2007 bestehende Altersbegrenzung für den Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit und die Regelung für das Erlöschen der Zulassung mit Vollendung des 68. Lebensjahres (§ 95 Abs. 7 SGB V). Diese subjektiven Zulassungsbeschränkungen sah das Bundesverfassungsgericht als gerechtfertigt an, da sie ein geeignetes Mittel seien, um die Kosten des Gesundheitswesens zu begrenzen. Denn eine steigende Anzahl von Ärzten führe zu einem Anstieg der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung. Abgesehen davon, daß dieser Befund angebotsinduzierter Nachfrage im zahnärztlichen Bereich nicht in einem dem ärztlichen Sektor vergleichbaren Maße besteht, erscheint es sehr zweifelhaft, ob ein partielles „Berufsverbot“ eine dem Übermaßverbot entsprechende Beschränkung ist, da sie in ihren Wirkungen einem Eingriff in die freie Berufswahl zumindest nahe kommt.172 Selbst vor dem Hintergrund des auf der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie beruhenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) hielt das Bundesverfassungsgericht173 die Altersbeschränkung für zulässig, nachdem der EuGH174 entschieden hatte, daß Altersbeschränkungen zwar gegen das EU-Diskriminierungsverbot verstoßen, jedoch zulässig seien, wenn die Ungleichbehandlung zur einer besseren intergenerativen Verteilung der Beschäftigung führe, was bei Altersgrenzen der Fall sei. Demgemäß hat auch das
170 Dabei kann als verfassungsrechtlicher Maßstab nicht die Grenze der Existenzbedrohung durch eine gesetzliche Maßnahme dienen, wie es das BSG (Urt. v. 14. 3. 2001, B 6 KA 54/00; BSGE 75, 187, 189) andeutet, oder die gesetzgeberische Einschätzungsprärogative bei den Auswirkungen von Sparmaßnahmen (BVerfGE 96, 330, 340) als Blankovollmacht die einseitige Inanspruchnahme von Freiberuflern für Sparzwänge der GKV legitimieren. s. dazu auch Engel, S. 210; Schaks, S. 127 ff.; Hufen, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenevrsicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 27 ff., 37 ff. 171 Zur Aufgabe „praktischer Konkordanz“ als „verhältnismäßiger“ Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rnr. 72, 317 ff. Gerade weil die Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung ein „schillernder Gemeinwohlbelang“ ist, wie Jäger, NZS 2003, 223 bemerkt, kann der judicial self-restraint nicht soweit gehen, dem Gesetzgeber einen Freibrief für das Austarieren widerstreitender Interessen und Grundrechtsbelange jenseits der Verhältnismäßigkeitskriterien auszustellen. S. dazu auch Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 315; Kluth, MedR 2005, 65 ff. 172 s. dazu Maaß, NJW 1998, 3390, 3392; Sodan, NJW 2003, 257, 258; Hufen, NJW 2004, 14, 17; Schaks, S. 152. 173 BVerfG, 1 BvR 1941/07. 174 Rs. C-411/05.
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BSG175 die Altersgrenze von Vertragsärzten unbeschadet des AGG für zulässig erklärt.176 Der EuGH hat in Fortführung seiner diesbezüglichen Rechtsprechung in einer neueren Entscheidung festgestellt, daß die frühere Zwangsruhestandsregelung für Ärzte und Zahnärzte177 ebenso wie eine Einstellungsaltersgrenze für Feuerwehrleute nicht grundsätzlich eine unzulässige Diskriminierung darstelle. Die Beschränkung sei allerdings unzulässig, wenn sie ausschließlich das Ziel verfolge, die Patienten vor der nachlassenden Leistungsfähigkeit der Vertrags(zahn)ärzte zu schützen, und zugleich außerhalb des Vertrags(zahn)arztsystems Ärzte und Zahnärzte unabhängig von ihrem Alter Privatpatienten behandeln dürfen. Lediglich die intergenerative Verteilung der Berufschancen, die den Berufseinsteigern unter Berücksichtigung der Situation auf dem Arbeitsmarkt den Zugang zum Beruf erleichtert, sieht der EuGH unter Verhältnismäßigkeitsaspekten als tragfähig für eine Altersbegrenzung an. An Regelungen der Berufsausübung mit nachhaltigen Auswirkungen auf die Berufswahl legt das Bundesverfassungsgericht ansonsten einen strengen verfassungsrechtlichen Maßstab an und hält sie nur für gerechtfertigt, wenn sie durch besonders wichtige Belange der Allgemeinheit gefordert werden, die nicht anders geschützt werden können. Insofern sind auch Regelungen problematisch, die den Vertrags(zahn)arzt hindern, seine Praxis oder den Anteil an einer Gemeinschaftspraxis frei zu veräußern oder zu vererben (§ 103 Abs. 4 SGB V). Die Rechte an Praxis und Praxisanteil genießen Eigentumsschutz, weil sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Heilberufsangehörigen beruhen178 und der Sicherung seiner Existenz dienen, so daß solche Regelungen einer staatlichen „Zwangsbewirtschaftung“ unter Verhältnismäßigkeitsaspekten bedenklich sind.179 Das Gleiche gilt für Regelungen des kollektiven Verzichts auf die Zulassung nach § 95 b Abs. 1 SGB V, die Vertragsärzte, die gemeinsam mit anderen Berufsangehörigen auf die Zulassung als Vertragsarzt verzichten, mit einer sechsjährigen Zulassungssperre belegen. Eine solche existenzvernichtende Strafsanktion käme angesichts eines Bevölkerungsan-
175
B 6 KA 41/06 R. Zur verfassungs- und europarechtlichen Problematik der Altersgrenze s. Boecken, NZS 2005, 393 ff.; ders., in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen im Umbruch, 2006, S. 71 ff.; Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten, S. 47 ff. 177 s. Urt. v. 12. 1. 2010, Rs. Petersen C-341/08, NJW 2010, 587; zur Höchstaltersgrenze für Feuerwehrleute s. Rs. Wolf C-229/08. 178 Zu diesen Voraussetzungen des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG s. BVerfGE 50, 290, 339 f. Gemäß Urt. des LSG Bad-Württ v. 22. 11. 2007 (L 5 KA 41/07) hat der Zulassungsausschuß das Recht, eigene Ermittlungen zur Höhe des Verkehrswerts der Praxis durchzuführen und den Kaufpreis auf den Verkehrswert der Praxis zu beschränken, so daß die Vertragsfreiheit der Vertragsärzte, die aus der Versorgung ausscheiden und ihre Praxis an einen Nachfolger verkaufen, deutlich eingeschränkt ist. 179 Zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Regelung s. Schachtschneider/Sodan, in: BZÄK spezial (hrsg. von der Bundeszahnärztekammer) 1993 Nr. 112, S. 6 ff.; zur Übertragung von Arztpraxen s. auch Gesellensetter, S. 65 f. m.w.N. 176
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teils von mehr als 90 % sozialversicherter Patienten einem Berufsverbot gleich.180 In die gleiche Richtung gingen Regelungsvorschläge, den Erhalt der Zulassung als Vertrags(zahn)arzt an die Pflicht zur Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen zu knüpfen und damit die Zulassung zeitlich begrenzt zu erteilen oder unter den Widerrufsvorbehalt nachgewiesener Kompetenzerhaltung zu stellen. Selbst wenn eine Pflicht zur Fortbildung, die ohnehin Bestandteil des Berufsrechts ist, verfassungsrechtlich zu legitimieren ist, bedeutet das noch nicht, daß auch eine Zwangsfortbildung in Gestalt eines „Ärzte-TÜV“ oder einer an den Zulassungsbestand geknüpften Rezertifizierung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren wäre. Abgesehen davon, daß die intrinsische Motivation zur Fortbildung durch extrinsische Zwangsmaßnahmen eher gedämpft wird181 und zu Ausweichstrategien führt, bleibt der rechtsstaatlich fundierte Vertrauensschutz der Heilberufsangehörigen in die Dauerhaftigkeit der mit der Zulassung erworbenen Rechtsposition zu beachten,182 die nicht nachträglich entwertet werden darf, soweit das Vertrauen schützwürdiger ist als das mit dem Gesetz verfolgte Anliegen und der Gesetzeszweck nicht grundrechtsschonender verwirklicht werden kann. Der Gesetzgeber hat in § 95d SGB V ein gestuftes Sanktionsinstrumentarium zur Durchsetzung der Fortbildungspflicht etabliert, das von Honorarkürzungen bis zum Zulassungsentzug reicht. Die zunehmende Funktionalisierung des Vertrags(zahn)arztes für Systembedingungen der GKV wird auch im Verhältnis zum Patienten deutlich. Die Überlagerungen einer an fachlich-wissenschaftlichen Kriterien orientierten Therapieentscheidung durch Wirtschaftlichkeitsgebote und Regreßsanktionen läßt den Vertragsarzt seinem Patienten gegenüber nicht in einer vertrauensgeschützten Zweierbeziehung im freiberuflichen Sinne gegenüberstehen, sondern in der instrumentellen Funktionserfüllung für die GKV als Realisator öffentlich-rechtlicher Systembedingungen. Mangelnde Transparenz des Leistungsgeschehens, fehlende Selbstbestimmung und Vertragsautonomie der Partner sowie die normative Therapiefremdsteuerung durch Richtlinien, Richtgrößen und Budgets beeinträchtigen die ArztPatienten-Beziehung ebenso wie die zum Teil sachwidrigen, insbesondere an Durchschnittswerten orientierten Regresse der Behandlungs- und Verordnungsweise (§§ 106 ff. SGB V).183 Exemplarisch hierfür ist die Bonus-Malus-Regelung des § 84 Abs. 7a SGB V, die den Vertragsarzt bei der Arzneimittelverordnung einem Ziel180
s. dazu Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten, S. 105 ff.; Schüffner/Schnell, Hypertrophie des ärztlichen Sozialrechts, 2009, S. 42 ff. 181 Dies betont zu Recht Engel, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 215 unter Hinweis auf Selbstverpflichtung der Profession als dynamischen Prozeß freiberuflicher Individualität und Selbstbestimmung. 182 Zu den verfassungsrechtlichen Problemen der Zwangsfortbildung und Rezertifizierung im Rahmen (zahn)ärztlicher Tätigkeit insbesondere im Hinblick auf Art. 3 GG, das Rechtsstaatsprinzip und EU-rechtliche Implikationen s. Tettinger, MedR 2003, 1 ff. 183 Zur Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber in der GKV s. Hillgruber, in: Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, 2005, S. 155 ff.; Sodan, Vertrags(zahn)ärzte und ihre Patienten, S. 18 ff., 26 ff.; Schüffner/Schnell, S. 27 ff.
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konflikt zwischen Heilauftrag und wirtschaftlicher Verordnungsweise von Arzneimitteln aussetzt, indem sie ihn entweder einem Schadensersatzrisiko bei Unterlassen einer indizierten Verschreibung oder einem Regreß unterwirft.184 Zusätzlich leidet das Arzt-Patienten-Verhältnis der GKV daran, daß durch technologische Prozesse und die Aufweichung des Datenschutzes (§§ 284 f. SGB V) das Arztgeheimnis und das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Patienten gefährdet werden. Neben den zunehmend engmaschiger werdenden Instrumentarien der Wirtschaftlichkeitsprüfung werden dem Vertragsarzt im Gewande der Qualitätssicherung (§§ 138a ff. SGB V) immer neue Therapie- und Organisationsvorgaben sowie Prüfungsmodalitäten auferlegt. Das Spektrum der Maßnahmen reicht von Dokumentationspflichten über Einhaltung von Hygienevorschriften und Richtlinien über verpflichtende Vorgaben der Qualitätssicherung, Indikationskataloge diagnostischer und therapeutischer Leistungen (§ 136b SGB V) bis zu evidenzbasierten Leitlinien diagnostischer und therapeutischer Ziele (§ 137e SGB V). Tendenzen, die organisatorische und therapeutische Selbstbestimmung des Heilberufsangehörigen medizinbürokratischen Standards zu unterwerfen, bewirken eine Verschleierung der Verantwortung und Einschränkung fachlicher Expertise, die letztlich zu einer Schädigung des ArztPatienten-Verhältnisses führen könnte.185 Auch auf europäischer Ebene läßt sich eine stärkere Instrumentalisierung der originären professionellen Eigenverantwortung des Heilberufes für ökonomische Belange zu Lasten des Verhältnisses zu seinem Patienten beobachten. So hat in einem neueren bezüglich der Einbeziehung der Ärzte in die Rabattverträge auch für die deutsche Krankenversicherung bedeutsamen Vorabentscheidungsverfahren der EuGH186 entschieden, daß Art. 94 der Richtlinie 2001/83/EG über Humanarzneimittel, die es pharmazeutischen Unternehmen untersagt, Ärzten im Rahmen der Verkaufsförderung materielle Vorteile zu gewähren, anzubieten oder zu versprechen, keine Anwendung auf finanzielle Zuwendungen findet, die staatliche Behörden Ärzten dafür gewähren, daß sie bestimmte von ihnen bezeichnete Arzneimittel verschreiben. Der Entscheidung des EuGH liegt ein Verfahren zugrunde, bei dem es um finanzielle Anreize geht, die die Primary Care Trusts als organisatorische Untereinheiten des nationalen Gesundheitsdienstes Großbritanniens (NHS) den Praxen niedergelassener Ärzte gewähren, die bestimmte von ihnen vorgeschriebene Arzneimittel anstelle von anderen Arzneimitteln verschreiben, die zwar einen anderen Wirkstoff enthalten, aber ebenfalls für die vorliegende Krankheit indiziert sind. Eine 184 s. zu dieser durch das Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung v. 24. 6. 2006 (BGBl. I S. 984) eingeführten Regelung Sodan/Schlüter, NZS 2007, 455 ff. 185 Zur Vereinbarkeit der Steuerungsprinzipien des Gesundheitswesens mit ärztlicher Freiberuflichkeit s. Kluth, in: Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 127 ff., 140 ff.; zur Hypertrophie des das Berufsrecht überlagernden Sozialrechts s. Schüffner/Schnell, S. 19 ff., 27 ff. 186 Rs. C-62/09, http://curia.europa.eu/jurisp/cgi_bin/form.pl?lang=DE&Submit=rechercher&numaff=C-62/09.
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Gefahr für die öffentliche Gesundheit sei nicht erkennbar, weil das Wesen der Aufgabe dieser Behörde gerade darin bestehe, für die Gesundheit zu sorgen, und die Objektivität des ärztlichen Verschreibungsverhaltens ungeachtet des Bestehens staatlicher finanzieller Anreize nicht tangiert sei, zumal ein Arzt aufgrund standesrechtlicher Vorschriften keine für die therapeutische Behandlung des Patienten ungeeigneten Arzneimittel verordnen dürfe.187 Im übrigen verweist der Gerichtshof explizit auf Art. 168 Abs. 7 AEUV und betont die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme, was auch Vorschriften zur Regulierung des Arzneimittelverbrauchs mit dem Ziel der finanziellen Stabilität des nationalen Krankenversicherungssystems beinhalte, ohne daß dadurch die Freiheiten des Binnenmarktes beeinträchtigt werden, solange die Regelungen auf nachweislich objektiven Kriterien beruhen und die Nichtdiskriminierung ausländischer Arzneimittel gewährleistet ist.188 Kennzeichen des Freien Berufes ist neben der eigenverantwortlichen und unabhängigen Berufsausübung eine leistungs- und kostenadäquate Vergütung der persönlichen Dienstleistung des Freiberuflers. Dementsprechend wird im SGB V die angemessene Vergütung des Vertragsarztes gewährleistet und die Ausbalancierung zwischen den Leistungs- und Finanzierungskomponenten des Systems („Beitragssatzstabilität“) postuliert (§ 85 Abs. 3 SGB V). Da der Vertragsarzt aber zunehmend durch Budgetierung, Honorarverteilungsmaßstäbe und Degressionsparameter an Durchschnittswerten gemessen wird, steht nicht mehr die freiberufliche Verantwortung für seine Patienten im Mittelpunkt, sondern seine öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Mittelbewirtschaftung der GKV.189 Auf diese Weise wird der Arzt dazu gedrängt, Kostenerwägungen zu Lasten einer individualbezogenen Behandlung in den Vordergrund zu stellen. Die Überwälzung des Morbiditätsrisikos auf die Heilberufe führt dazu, daß die Vergütungsvereinbarungen sich der Realisierung eines bloßen Teilhabeanspruches an der kollektiven Gesamtvergütung nähern statt einer kosten- und leistungsadäquaten Vergütung für den freiberuflichen Arzt oder Zahnarzt. Dieser wird damit in einen unlösbaren Zielkonflikt zwischen ethisch-professionellen Pflichten, gesetzlichem Behandlungsauftrag und wirtschaftlichen Rentabilitätserwägungen versetzt.190 Die Budgetierung der Vergütungen führt schließlich dazu, daß es zu Rationierungen von Gesundheitsleistungen kommt, zu einer offenen 187 s. dazu die kritische Urteilsbesprechung in Gesundheitspolitischer Informationsdienst 14/2010, S. 17 mit dem Hinweis darauf, daß in den Urteilsgründen weder die Vernachlässigung des Zielkonflikts der britischen Behörde, die zugleich für die Kostenentwicklung zuständig ist, noch die Differenzierung nach privater und staatlicher Quelle finanzieller Anreize überzeugt. 188 s. dazu Bourgeois, BKK 5/2010, S. 256 „Arzneimittel – auch auf europäischer Ebene tut sich was“. 189 Zur fragwürdigen These vom Verfassungsrang des Grundsatzes der finanziellen Stabilität der GKV als universellem Rechtfertigungsgrund für Einschränkungen der ärztlichen Berufsfreiheit s. Schaks, S. 62 ff., 122 ff. 190 s. hierzu die Beiträge von Hoppe (S. 61 ff.), Hillgruber (S. 155 ff.) und Thomas (S. 183 ff.) in: Thomas (Hrsg.), Ärztliche Freiheit und Berufsethos, 2005; Boecken, MedR 2000, 165 ff.; Gesellensetter, S. 104 ff.
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oder verdeckten „Triage“ und zu einer Mehrklassenmedizin191, die gerade auch von denen abgelehnt wird, die beharrlich an umfassenden Vollversorgungsverheißungen festhalten. Es ist aber vor allem ein Mosaikeffekt zunehmender gesetzlicher Einzelrestriktionen, der die freiberuflichen Defizite der GKV kennzeichnet und ärztliche Freiberuflichkeit zum Teil nur mehr als deklaratorische Fassade erscheinen läßt. Die Kumulation von Einschränkungen beruflicher Freiheiten von der medizinisch-therapeutischen Komponente über die ökonomisch-betriebswirtschaftliche Dispositionsfreiheit bis zum beruflichen Umfeld freier Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten haben dazu geführt, daß der Kassen- bzw. Vertragsarzt sich statusmäßig in einer Grauzone, einer eigentümlichen Zwitterstellung zwischen freiberuflicher Risikoträgerschaft und staatlicher Einbindung bewegt.192 Durch eine Vielzahl von Kostendämpfungs- und Strukturveränderungsgesetzen der vergangenen 30 Jahre ist es zu einer schleichenden Status- und Funktionsmetamorphose des Kassenarztes gekommen,193 die sich von der freiberuflichen Grundkonzeption, von der die Kassenarzturteile des Bundesverfassungsgerichts Anfang der 60er Jahre ausgingen, abgelöst hat, die darauf beruhte, daß sich der Arzt als Freiberufler dem System der GKVanschließt, um seinen Heilauftrag zwar unter Beachtung öffentlichrechtlicher Systembindungen im Kontext der GKV, nicht aber primär als Funktionsträger eines Sozialen Sicherungssystems zu erfüllen. Der Gesetzgeber ist deshalb im Sinne des Grundsatzes der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung sowie sachgerechter und verhältnismäßiger Systemkonsequenz vor die Entscheidung gestellt, diese im Wege einer stillen Evolution vollzogene Umfunktionierung des Kassenarztes entweder im Sinne eines eigenständigen Kassenarztberufes als Amtswalter der GKV oder eines jederzeit kündbaren Vertragsdienstleisters rechtlich eindeutig zu konzeptionieren oder die freiberufliche Grundkonzeption wieder aufleben zu lassen. Auch wenn die Verfassungsrechtsprechung bisher kein übergreifendes Verfassungsprinzip der Systemgerechtigkeit anerkennt und dem Gesetzgeber weitestgehende Gestaltungsspielräume zugesteht194, müssen die gewählten Gestaltungsoptionen in sich grundrechtsfest und im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich, sachgerecht und geeignet sein.195 Dies gebietet die 191 s. dazu Igl/Naegele (Hrsg.), Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen, 1998; Sommer, Gesundheitssystem zwischen Plan und Markt, 1998; Krämer, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 39 ff.; Wille (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen und ihre Alternativen, 2003. 192 s. dazu Sodan, Vertrags(zahn)ärzte im Spannungsfeld, S. 18 ff. 193 Vgl. B. Tiemann, VSSR 1994, 407 ff.; ders., in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 23 ff., 28 ff., 33 ff.; Hufen, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, S. 27 ff. 194 So Pitschas, Vortrag Speyerer Zahnärzte-Symposium; zum Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung s. Sodan, JZ 1999, 864 ff. 195 Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des rechtsstaatlichen Prinzips der Systemgerechtigkeit für die Freiberuflichkeit s. B. Tiemann/S. Tiemann, S. 151 ff., 371 ff.
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rechtsstaatliche Gewährleistungsfunktion des Staates für die Schaffung eindeutiger, grundrechtskonformer und dem sozialstaatlichen Zweck der GKV adäquater Versorgungs- und Finanzierungsbedingungen in einem System, das maßgeblich auf Pflichtmitgliedschaft beruht, elementare Lebensbedürfnisse tangiert und daher in besonderem Maße grundrechtssensibel ist.
2. Der Rollenwandel der Freien Heilberufe im Spannungsfeld von Sozialstaatsumbau und Wettbewerbsorientierung a) Wettbewerbliche Deregulierungstendenzen auf nationaler und europäischer Ebene Während die Bindungen des Kassenarztrechts in den letzten Jahrzehnten zunehmend stringenter geworden sind und den Trend zu einer staatlich gelenkten Gesundheitswirtschaft aufzeigen, ist auf der Ebene des Berufsrechts eine gegenläufige Strömung festzustellen, die bei den Heilberufen – wie auch in anderen Freien Berufen – zu einer Deregulierung und Liberalisierung geführt hat. Angestoßen wurde diese Entwicklung durch Entscheidungen des EuGH und des BVerfG zur Niederlassungsfreiheit, zu Werbeverboten, Berufsausübungsgemeinschaften und gesellschaftsrechtlichen Formen der Berufsausübung. Eine erste Liberalisierungswelle wurde von der EuGH-Rechtsprechung ausgelöst, durch die auf der Grundlage der europäischen Grundfreiheiten und entsprechenden EU-Richtlinien alle Hemmnisse der Niederlassungsfreiheit aufgrund nationaler Reservate, insbesondere der Berufsqualifikationen, beseitigt wurden.196 Dies geschah zum einen durch die Interpretation des Sekundärrechts, wie es sich in den EU-Richtlinien manifestiert, zum anderen durch die konsequente Anwendung primärrechtlicher Freizügigkeits- und Niederlassungsprinzipien auf das nationale Berufsrecht und seine Handhabung in der Verwaltungspraxis. Das Berufsrecht der Freien Heilberufe wird auch in anderer Beziehung als der Niederlassungsfreiheit zunehmend zum Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH, der insbesondere die Dienstleistungsfreiheit, aber auch unionsrechtliche Diskriminierungsverbote oder Wettbewerbsbestimmungen zum Anlaß nimmt, nationale Berufsregelungen am Maßstab des EU-Rechts zu prüfen. Betroffen sind davon insbesondere Regelungen, die die Werbung oder gemeinsame Berufsausübung tangieren.197 Die Rechtsprechung des EuGH wirkt wiederum maßstabgebend auf die Rechtsprechung des BVerfG zurück. So hat der EuGH Entscheidungen zum Werberecht der Freien Berufe getroffen, die auf entsprechenden Richtlinien des Rates
196 197
s. dazu Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff., sowie oben 3. Kap. I. 3. s. dazu die Rechtsprechungsnachweise oben 3. Kap. I. 1. b., c).
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
über irreführende und vergleichende Werbung beruhen,198 und hervorgehoben, daß Einschränkungen der Werbefreiheit nur erlaubt sind, um unfairen Wettbewerb sowie wahrheitswidrige oder irreführende Werbung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verhindern.199 Diese Urteile des EuGH gehen konform mit der Judikatur des BVerfG zu den berufsrechtlichen Werbeverboten in den Berufsordnungen Freier Berufe, so daß es zu einer Rückwirkung der europarechtlichen Rechtsprechung auf die nationale Gerichtsbarkeit kommt. Dies gilt für die Tendenz des BVerfG, für alle Formen der Einschränkung von Informationswerbung auf die Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe abzustellen200, ebenso wie die für die differenzierte Judikatur zur werbenden beruflichen Selbstdarstellung der Apotheker201 bis zu Hinweisen auf Interessen- und Fortbildungsschwerpunkte oder Spezialisierungen bei Ärzten und Zahnärzten202. Angesichts der dem EuGH bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts einschließlich seiner grundrechtlichen Bezüge vom BVerfG eingeräumten Prärogative gehen diese Urteile in ihrer Bedeutung über die Einzelentscheidung hinaus. Ähnliches gilt für Liberalisierungserscheinungen in der vergütungsbezogenen Vertragsfreiheit, wie sie das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Verbots eines anwaltlichen Erfolgshonorars artikuliert hat.203 Den bisherigen Höhepunkt der Lockerung der Werbungsregelungen stellt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Versteigerungsmöglichkeit von Rechtsrat über die Internet-Auktionsplattform Ebay dar.204 Solche Versteigerungspraktiken von „Exklusivberatungsservice“, der auch manche Heilberufe zu erfassen scheint, die kosmetische Operationen oder Heil- und Kostenpläne für prothetische Behandlungen im Internet versteigern, sollen nach dieser Rechtsprechung weder auf die Vernachlässigung von Berufspflichten hindeuten noch die ordnungsgemäße Berufsausübung gefährden. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH, die sich auch auf das Berufsrecht der Heilberufe und das Vertragsarztrecht auswirkt, sind nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den EU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten einschränken, nur unter der Voraussetzung zulässig, daß sie in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sind und nicht über das 198 Die EU-Richtlinie v. 10. 9. 1984 über irreführende und vergleichende Werbung hebt in Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich hervor, daß sie sich auch auf die Werbung der Freiberufler bezieht. 199 Vgl. Jäger, Arzt und Recht 2002, 153 ff.; 2003, 13 ff. 200 BVerfGE 85, 284. 201 BVerfGE 94, 372. 202 So z. B. für Homöopathie, Akkupunktur, Sportmedizin (1 BvR 873/00), Implantologie (1 BvR 873/00) oder Knie- bzw. Wirbelsäulenchirurgie (1 BvR 1147/01). 203 BVerfG v. 12. 12. 2006, AnwBl. 2007, 297. 204 1 BvR 1886/06. Zur Befugnis von Anwälten, über sog. „Gegnerlisten“ zu informieren, s. FAZ v. 28. 1. 2008 und 5.3.2008. Zu Zahnersatzauktionsportalen im Internet s. BGH (I ZR 55/ 08) v. 1. 12. 2010.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
347
hinausgehen, was zur Zielrealisation erforderlich ist. Vor dem Hintergrund dieser Verhältnismäßigkeitskriterien hat der EuGH in seinen bereits erörterten Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Leistungsnachfrage und -erbringung von Gesundheitsleistungen darauf hingewiesen, daß eine Begrenzung der freien Arztwahl des Patienten und der freien Dienstleistungserbringung durch den Heilberufsangehörigen mit den europäischen Grundfreiheiten nicht in Einklang steht, so daß der deutsche Gesetzgeber und die Berufsorganisationen veranlaßt wurden, diesbezügliche Beschränkungen im SGB, den Heilberufsgesetzen und berufsrechtlichen Regelungen aufzuheben. Dementsprechend wurden nicht nur das Werberecht der Heilberufe zugunsten sachlicher Informationswerbung, sondern auch die Kooperationsformen der Berufsausübung nachhaltig verändert: So trifft z. B. die zahnärztliche Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer in Übereinstimmung mit ärztlichen Bestimmungen liberalisierte Regelungen nicht nur für die unbegrenzte Anstellung von Zahnärzten und den Betrieb von Zweigpraxen und überörtlichen Berufsausübungsformen, sondern auch für die Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Heilberufe. Danach dürfen Ärzte und Zahnärzte ihren Beruf einzeln oder gemeinsam in allen für die medizinischen Berufe zulässigen Gesellschaftsformen ausüben, „wenn ihre eigenverantwortliche, medizinisch unabhängige sowie nicht gewerbliche Berufsausübung gewährleistet ist“ (§ 16 Abs. 1 Satz 1 MBO-Z). Ärzte und Zahnärzte können sich dabei unter derselben Prämisse auch „mit selbständig Tätigen und zur eigenverantwortlichen Berufsausübung berechtigten Angehörigen anderer Heilberufe oder staatlicher Ausbildungsberufe im Gesundheitswesen in den rechtlich zulässigen Gesellschaftsformen zusammenschließen“ (§ 17 Abs. 1 Satz 1 MBO-Z). Dadurch wird eine neue Formenvielfalt von Kooperationen ermöglicht, die zu den tradierten Formen der Zusammenarbeit wie Praxisgemeinschaft oder Gemeinschaftspraxis oder Partnerschaft nach dem PartGG hinzutritt.205 Neben Personengesellschaften sind auch andere Formen der Berufsausübung in Gestalt juristischer Personen wie GmbH oder AG in vielen Bundesländern inzwischen heilberufsgesetzlich zulässig. Unter berufsrechtlichen Kautelen und Freiberufsaspekten steht dabei die berufliche Qualifikation der Gesellschafter sowie der Geschäftsführung einer Ärzte-GmbH sowie die Frage im Mittelpunkt, ob Gesellschafter nur Heilberufsangehörige sein dürfen und inwieweit diese selbst in der Gesellschaft tätig werden und die Mehrheit der Gesellschaftsanteile und Stimmrechte halten.206 Die Liberalisierung und Diversifizierung des Berufsrechts bietet zweifellos neue Chancen freiberuflicher Betätigung im Sinne einer Förderung von Spezialisierung, Qualität und Professionalität in Gestalt vielfältiger Praxiskonzepte und Praxisformen.207 Für den Erhalt der Freiberuflichkeit ist es essentiell, daß die höchstpersönliche und eigenverantwortliche Leistung jedes Partners 205 s. dazu S. Tiemann, Das Recht in der Zahnarztpraxis, S. 52 ff.; Knüpper, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 227 ff. 206 Vgl. § 23a Abs. 1 MBO-Ä 2004. 207 Knüpper, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 243.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
und die individuelle Zuwendung und Vertrauensbeziehung zum Patienten auch in Berufsausübungsgemeinschaften gewahrt bleiben. Sowohl auf deutscher als auch europäischer Ebene sind die bisherige Struktur des Berufsrechts grundsätzlich in Frage stellende Bestrebungen zu verzeichnen. Paradigmatisch hierfür ist der Vorschlag der (deutschen) Monopolkommission zur Deregulierung des Rechts der Freien Berufe im 16. Hauptgutachten 2004/2005 „Mehr Wettbewerb auch im Dienstleistungssektor“ vom 30. 6. 2006 sowie entsprechende Deregulierungsbestrebungen der Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission.208 Auch wenn die Hauptkritik in beiden Fällen auf andere Freie Berufe zielt (im Vordergrund stehen Rechtsanwälte, Apotheker und Architekten), sind die Forderungen nach Deregulierung im Bereich der Preisregelung, der Werbung sowie der interprofessionellen Zusammenarbeit in Zukunft auch für das Berufsrecht der Heilberufe von Bedeutung. Von der Monopolkommission wird u. a. die Verlagerung der Apothekerausbildung von den Universitäten an die Fachhochschulen und eine Aufhebung des Mehrund Fremdbesitzverbotes vorgeschlagen. Ähnlich weitreichende Forderungen finden sich in dem Gutachten für andere Freie Berufe. So wird etwa die weitgehende Öffnung des Anwaltsmarktes für Bachelor-Absolventen und die Abschaffung der Honorarordnung für Architekten gefordert. Auffällig ist dabei, daß die Monopolkommission aus dem Wettbewerbsrecht deutlich strengere Maßstäbe für Beschränkungen der Berufsausübung ableitet als das Bundesverfassungsgericht aus dem Verfassungsrecht. Zudem fehlt es an einer kritischen Reflektion über die zu erwartenden Folgen, wenn etwa das Apothekenwesen dem Einzelhandel angepaßt wird und es zur Bildung weniger Oligopole kommt, die eine verstärkte Mißbrauchsaufsicht verlangen.209 Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum 16. Hauptgutachten der Monopolkommission210 zunächst grundsätzlich – entsprechend der Forderung der Monopolkommission – die Überprüfung bestehender Regulierungen, insbesondere vor dem Hintergrund von Änderungen der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen befürwortet. Gleichwohl macht sie deutlich, daß generell übergeordnete Regulierungsziele im Auge zu behalten seien, etwa sozial- und gesundheitspolitische Erwägungen, der Verbraucherschutz oder die Gewährleistung einer geordneten Rechtspflege. In dieser Einschätzung sieht sie sich durch den Bericht der EU-Kommission über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen ebenso bestärkt wie durch die Rechtsprechung des EuGH. Danach können Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein, deren Vorliegen durch die nationalen Gerichte zu überprüfen sind. In der sich an208
s. dazu B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 39 ff.; vgl. ferner Donges/Eeckhoff/Franz/Fuest/Möschel/ Neumann, Stiftung Marktwirtschaft, S. 39 ff. 209 s. zur Kritik Kluth, NZB 2008, 6. 210 Drucks. 16/5881 v. 3.7.2007.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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schließenden Bezugnahme auf ausgesuchte Freie Berufe (Rechtsanwälte, Apotheker, Architekten und Ingenieure) verstärkt die Bundesregierung ihre Bedenken gegenüber den Änderungsvorschlägen der Monopolkommission, so etwa in Hinsicht auf eine weitergehende Öffnung des Rechtdienstleistungsgesetzes, die Betonung der Sinnhaftigkeit einer einheitlichen Gebührenberechnung sowie der Regulierungsbedürftigkeit im Arzneimittel- und Apothekenmarkt, die Empfehlung zur Lockerung bei apothekenpflichtigen Medikamenten oder des Zugangs zum Apothekerberuf. Zurückhaltender ist die Stellungnahme in Bezug auf andere Regelungen, beispielsweise bei der Forderung nach einer Aufhebung des Mehr- und Fremdbesitzverbotes für Apotheken.211 In die gleiche Richtung weitgehender Deregulierung gehen Forderungen einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zur Regulierung der Freien Berufe in Deutschland im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vom 1.11.2007. Die Autoren des Instituts betonen, daß die Freien Berufe in Deutschland im OECDVergleich derzeit noch starken Regulierungen unterlägen. Gelänge Deutschland eine Liberalisierung auf das Niveau von Staaten wie Dänemark oder Schweden, könnten – so die These – dadurch viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Konkret seien hierfür Gebührenordnungen der Freien Berufe in Frage zu stellen und der Zugang zum Freien Beruf zu liberalisieren. Zum Beispiel sollte bei Apotheken das Mehr- und Fremdbesitzverbot aufgehoben werden. Architekten und Ingenieure sollten ihre Honorare mit den Auftraggebern künftig frei aushandeln dürfen, statt sich an Mindest- und Höchstpreise halten zu müssen. Wettbewerbsbeschränkende Vorbehaltsregeln sollten liberalisiert und dem Verbraucher Wahlmöglichkeiten zugunsten kostengünstigerer Alternativen bei Rechts- und Steuerberatung eröffnet werden. Die Studie, die der verbraucherschützenden Wirkung von Regulierungen bei Freien Berufen und diesbezüglichen Untersuchungen wenig Bedeutung schenkt,212 nimmt eine Diskussion insbesondere auch von der europäischen Ebene auf, die von Teilen des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission vorangetrieben wird.213 Die Bundesrepublik hat einen auf gesetzlicher Grundlage beruhenden Nationalen Normkontrollrat installiert,214 der den gesamten Normenbestand durchforsten soll, um durch eine Entbürokratisierung Belastungen und Wettbewerbshindernisse u. a. für die wirtschaftliche Entwicklung zu beseitigen. Das Europäische Par-
211
s. Der Freie Beruf 9 – 10/2007, S. 25. Zur Kritik an der Studie s. Der Freie Beruf 3/2008, S. 8; vgl. auch Lemor, Der Freie Beruf 5/2008, 21 ff. zur Bedeutung des Berufsrechts für den Verbraucherschutz. 213 Zu Deregulierungsbemühungen in den EU-Mitgliedstaaten s. z. B. das Decreto Bersani (2006), durch das das Berufsrecht der italienischen Freiberufler in wesentlichen Teilen abgeschafft wurde, sowie die von Präsident Sarkozy eingesetzte „Commission pour la Libration de la Croissance FranÅaise“, die u. a. Vorschriften zur Beseitigung wettbewerbshemmender Regulierungen erarbeiten soll. 214 s. Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates v. 14. 8. 2006 (BGBl. I, 1866). 212
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
lament hat 2004 in einer Entschließung215 den Vorwurf formuliert, „daß in manchen Mitgliedstaaten Berufskörperschaften allzu häufig ihre Selbstregulierungsbefugnis mehr zur Förderung der Interessen ihrer eigenen Mitglieder als zur Förderung derjenigen der Verbraucher nutzen“. Die Europäische Kommission hat in verschiedenen Mitteilungen, in denen sie die Freien Berufe als einen „Schlüsselsektor der europäischen Wirtschaft“ anerkennt, deren „Dienstleistungen erhebliche öffentliche Bedeutung zukommt“,216 Initiativen zur wettbewerbsfördernden Ausdünnung des Berufsrechts der Freien Berufe ergriffen. Anstelle berufsständischer Selbstregulierung und präventiver berufsrechtlicher Qualitätssicherung wird auf europäischer Ebene zunehmend auf Verhaltenskodizes und Erweiterung der haftungsrechtlichen Sanktionen gesetzt, die sich überwiegend an den anglo-amerikanischen Rechtskreis und dessen Fokussierung auf nachgängige Schadenskompensation anlehnen. So hat das Europäische Parlament in seiner Entschließung zum Follow-up zum Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen auf den Stellenwert ethischer Normen für den Verbraucherschutz hingewiesen und sich für die Schaffung von Verhaltenskodizes ausgesprochen217. Darüber hinaus fordert die Dienstleistungsrichtlinie (2006/123/EG) die Mitgliedstaaten dazu auf, die Ausarbeitung von „Codes of Conduct“ bzw. „Codes of Ethics“ auf Gemeinschafts- bzw. Unionsebene zu unterstützen. Unter anderem sollten diese Verhaltenskodizes je nach Art der einzelnen Berufe sog „Standesregeln“ bzw. Verhaltensregeln enthalten, die insbesondere die Wahrung der Unabhängigkeit und des Berufsgeheimnisses gewährleisten sollen. Die Mitgliedstaaten sollen Berufsorganisationen dazu ermutigen, europaweit Verhaltenskodizes auszuarbeiten, welche die Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat erleichtern sollen.218 Ein Blick auf die derzeitigen Entwicklungen zur Vollendung des Binnenmarktes besonders bei Dienstleistungen zeigt, daß das Bild des Verbrauchers im Wandel begriffen ist. Die Europäische Kommission geht zunehmend vom Leitbild eines informierten, mündigen Bürgers aus, der durch umfangreiche Informationspflichten der Dienstleister „auf Augenhöhe“ aufsteigt und durch Ersatzansprüche und Rechtsschutzsysteme gut geschützt wird. So glaubt man auf berufsrechtliche Regelungen und die Kodifizierung von berufsrechtlichen Verhaltensnormen verzichten zu können. Angesichts der bei vielen Freien Berufen und gerade auch bei den Heilberufen bestehenden Asymmetrie der Informationsbeziehung, die zwar partizipative Kodezisionsverfahren ermöglicht, aber nicht ohne Vertrauen in die professionelle Fähigkeit und ethische Verantwortung des Heilberufes auskommt, muß die 215 216
Entschließung des EP zur Wettbewerbspolitik (P5TA (2004) 0053). „Freiberufliche Dienstleistungen – Raum für weitere Reformen“ (KOM (2005), 405
endg.). 217
A6 – 0272/2006. Art. 37 der RL 2006/23/EG sowie die von der Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen vorgelegte Bestandsaufnahme der europäischen Verhaltenskodizes, vgl. http://ec.europa.eu/internal_market/services/docs/services-dir/codeconduct/codeconduct_de.pdf. 218
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
351
Annahme der gleichen Augenhöhe, die Bürger nach Ansicht der Europäischen Kommission dazu befähigt, Produkte und Dienstleistungsangebote kompetent beurteilen und einschätzen zu können, kritisch hinterfragt und differenziert beurteilt werden.219 Gerade im Gesundheitswesen mit seinen besonders sensiblen und höchstpersönlichen Rechtsgütern kommt der Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten, der abhängig ist von spezifischen Faktoren wie bestehenden Therapiealternativen, der physischen und psychischen Verfassung, dem Informationsstand und Bildungsgrad eine besondere Bedeutung zu. Alters- oder genderbedingte, soziale und kulturelle Unterschiede stellen trotz erhöhten Gesundheitsbewußtseins und verbesserten Aufklärungsniveaus der Bevölkerung nicht zu unterschätzende Hürden dar, wie europaweite Untersuchungen belegen. Schichten- und kulturspezifische Ungleichheiten des Zugangs zur Gesundheitsversorgung bilden daher auch ein Schwerpunktthema der aktuellen Gesundheitspolitischen Agenda der EU.220 b) Die Gegenläufigkeit der Versozialrechtlichung des Heilberufsrechts In welchem Ausmaß der Sozialgesetzgeber das (zahn)ärztliche Berufsrecht und -bild präformiert, deutete sich bereits in der durch das GMG neu geschaffenen Regelung der Medizinischen Versorgungszentren (§ 95 SGB V) an. Obwohl das Heilberufsrecht der Länderkompetenz (Art. 70 GG) und nicht der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes für die Sozialversicherung (Art. 74 Nr. 12 GG) unterliegt, setzte der Bundesgesetzgeber sich über landesrechtliche Regelungen zu gesellschaftsrechtlichen Formen der Berufsausübung hinweg und favorisierte fachübergreifende Versorgungszentren und gesellschaftsrechtliche Organisationsstrukturen. Er verabschiedete sich damit vom Leitbild der freiberuflichen Niederlassung in eigener Praxis als idealtypischem Versorgungsträger und begünstigte hinsichtlich der Bedarfsplanung (§ 103 Abs. 4a SGB V) und Arbeitszeitregelungen (§ 101 Abs. 1 S. 6 SGB V) die Zentren, wodurch ein erheblicher Anpassungsdruck auf die ärztlichen und zahnärztlichen Selbstverwaltungen hinsichtlich ihrer Berufsordnungen erzeugt wurde, um den niedergelassenen Freiberufler konkurrenzfähig zu erhalten. Dies führte zu einer Liberalisierung des Berufsrechts insbesondere bezüglich Praxisformen und Anstellungen. Die Gesetzesbegründung gab der Erwartung Ausdruck, daß sich die landesrechtlichen Heilberufs- und Kammergesetze und die auf ihnen
219
Ebenso Bundesverband der Freien Berufe, Leitbild der Freien Berufe, 2009, mit dem Hinweis, daß der aus professioneller Kompetenz erwachsende Wissensvorsprung der Freien Berufe in der Regel zu groß sei, als daß die Klienten/Patienten die Leistung des Freiberuflers wirklich überwachen oder kontrollieren könnten. Umso wichtiger ist umfassende ärztliche Aufklärung als selbstverpflichtende Prinzipienethik der ärztlichen Profession. S. dazu Weißhaupt, ZM 2010, 530 ff., der zu Recht die ärztliche Selbstverpflichtung zur Wahrung der Patientenautonomie und zur Anerkennung der selbstbestimmten Entscheidungsfähigkeit des Patienten hervorhebt. 220 s. dazu oben 1. Kap. II. 3. e).
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
basierenden Berufsordnungen den bundesgesetzlichen Vorgaben anpassen werden.221 Im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz und Wettbewerbsstärkungsgesetz setzt der Bundesgesetzgeber diese Tendenz der Versozialrechtlichung fort – ungeachtet föderativer Kompetenzschranken und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, daß sich die Sozialversicherung des Arztes und Zahnarztes als Freiberufler zur Versorgung ihrer Versicherten bedient und auf dem freiberuflichen Berufsrecht aufbaut, das Vorrang vor sozialrechtlichen Regelungen haben muß und durch das Vertragsarztrecht nicht vom Berufsrecht abgekoppelt werden darf. Angesichts dieser zunehmenden sozialrechtlichen Überlagerung ärztlicher bzw. zahnärztlicher Berufsausübung und der Kollision einzelner Bestimmungen des Heilberufsrechts mit dem sozialgesetzlichen Systemwandel ergeben sich eine Fülle von Rechtsproblemen, die einer Lösung harren, sofern sie überhaupt de lege lata lösbar sind. Ausgangspunkt dieses Systemwandels ist die im GKV-WSG postulierte Erweiterung des Vertragswettbewerbs. Dies betrifft Fragen der Sicherung freiberuflicher Selbstverantwortung der Berufsangehörigen in gesellschaftsrechtlichen Kooperationsformen ebenso wie die Tatsache, daß die Tätigkeit von Ärzten und Zahnärzten an mehreren Orten bzw. die Wanderung von Vertragsärzten im Hinblick auf den Sitz der überörtlichen Gemeinschaftspraxis sozialrechtlich ohne Bezug auf das Berufsrecht definiert wird. Abgesehen davon, daß die Liberalisierung des Vertragsarztrechts nur halbherzig und mit Systembrüchen im Verhältnis zu fortbestehenden Regularien des Vertragsarztrechts und berufsrechtlichen Vorgaben erfolgte, bleiben Restriktionen wie Bedarfsplanung, Budgetierung auf der Grundlage von Gesamtverträgen und Honorarverteilungsmaßstäbe prinzipiell aufrechterhalten.222 Durch die Einführung eines Basistarifs in der PKV und die Ausweitung des Kollektivvertragssystems in den PKV-Vergütungsbereich werden kassenarztrechtliche Regulative wie Sicherstellungsauftrag und Honorarrestriktionen auf den Privatsektor ausgedehnt, so daß es erforderlich war, diese Eingriffe in die Berufsausübung und Privatautonomie der Heilberufe und Versicherungsunternehmen verfassungsrechtlich insbesondere im Hinblick auf ihre kompetenzrechtliche, grundrechtliche und rechtsstaatliche Legitimation zu überprüfen.223 Das BVerfG hat zwar diese Grundrechtseinschränkungen im Hinblick auf die damit verfolgten Ziele und die Auswirkungen für die Betroffenen 221 s. dazu Orlowski, MedR 2004, 202, 203. Kritisch zu dieser Normenkollision von Sozialversicherungsrecht und ärztlichem Berufsrecht Butzer, MedR 2004, 177, 187 f.; Tettinger, GesR 2004, 449 ff.; Schüffner/Schnell, S. 18 ff., 27 ff.; Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2002, 286 ff. 222 s. den Überblick über die gesetzliche Neuregelung bei Sodan, NJW 2007, 1313 ff. 223 Vgl. Sodan, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 21 ff.; ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007; ders., in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/ Axer (Hrsg.), Festschrift für Isensee, S. 983 ff.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
353
im wesentlichen für verfassungskonform erklärt, dem Gesetzgeber aber eine Beobachtungspflicht hinsichtlich der Folgen der Neuregelungen auferlegt.224 Das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz hat die Möglichkeiten kollektiver Berufsausübung in Berufsausübungsgemeinschaften unterschiedlichster Rechtsform als Gemeinschaftspraxis, Partnerschaft, überörtliche Gemeinschaftspraxis bzw. Partnerschaft, als Ärztegesellschaft sowie Medizinische Versorgungszentren ermöglicht. Neben der herkömmlichen Gemeinschaftspraxis in Form der BGB-Gesellschaft und der Partnerschaft oder Teil-Partnerschaft nach dem PartGG sind auch andere Gesellschaftsformen wie GmbHs oder Medizinische Versorgungszentren als Institutionen fachübergreifender-interdisziplinärer Zusammenarbeit niedergelassener (Zahn)Ärzte oder als fachübergreifende Einrichtungen mit Angestellten zulässig, wobei MVZs sektorübergreifend, d. h. ambulant und zugleich stationär tätig sein dürfen (§ 95 SGB V).225 Ein Novum, das die Bindung der Berufstätigkeit des Heilberuflers an einen bestimmten Praxissitz auflöst, stellt die überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft dar, die eine Berufstätigkeit an unterschiedlichen Praxissitzen ermöglicht. Bei unterschiedlichen Vertragsarztsitzen der beteiligten Ärzte und Zahnärzte – auch über die Grenzen einer K(Z)V hinaus – ist die überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft zulässig, wenn die Erfüllung der Versorgungspflicht der einzelnen Heilberufsangehörigen an ihrem jeweiligen Vertragsarztsitz gewährleistet ist und der einzelne Arzt, Zahnarzt oder angestellte Berufsangehörige an den Vertragsarztsitzen der anderen Beteiligten nur in zeitlich begrenztem Umfang tätig wird. Unabhängig von den Komplikationen bereichsübergreifender Honorarverteilung, Abrechnungs-, Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung verändert dies die Berufswirklichkeit der Heilberufe von ortsgebundener kleinteilig-individueller Praxisführung in Richtung unternehmensförmiger überregionaler Berufsausübung nachhaltig.226 Dies gilt insbesondere für die MVZs, die in jeder zivilrechtlich zulässigen Rechtsform betrieben werden dürfen, insbesondere auch als juristische Person, also als GmbH, AG oder Genossenschaft, wobei allerdings eine Kollision mit Beschränkungen der Heilberufsgesetze in einigen Bundesländern besteht und bei manchen Gesellschaftsformen wie OHG oder KG die Grenzen zu gewerblich-unternehmerischen Zusammenschlüssen verwischt werden. Ähnlich wie in anderen Freien Berufen, insbesondere bei Rechtsanwälten, aber auch Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern oder Architekten wird durch die gesetzlichen Neuregelungen die Form der Berufsausübung Freier Heilberufe dadurch verändert, daß vermehrt angestellte Berufsangehörige beschäftigt werden können.227 Das Berufsrecht sieht diesbezüglich keine zahlenmäßigen Beschränkungen vor. 224
s. BVerfG 1 BvR 706/08 u. a., NJW 2009, 2033 sowie dazu Sodan, BZB 7/8, 2009, 6 ff. und oben 4. Kap. II. 2. b). 225 s. S. Tiemann, Das Recht in der Zahnarztpraxis, S. 54 ff.; Orlowski, Gesundheits- und Sozialpolitik 11 – 12/2004, 60 ff.; Ziermann, MedR 2004, 540 ff. 226 Vgl. Knüpper, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 242 ff. 227 s. S. Tiemann, Das Recht in der Zahnarztpraxis, S. 63 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Berufsausübung als Einzelpraxis, Zweigpraxis oder Berufsausübungsgemeinschaft örtlicher oder überörtlicher Provenienz wird der angestellte Heilberufsangehörige fachlich unabhängig, wenn auch arbeitsrechtlich in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis als Freiberufler tätig. Auch ein MVZ kann unabhängig von fachgebietlichen Beschränkungen oder Bedarfsplanungsgrenzen Angestellte beschäftigen, so daß der Trend zu angestellten Berufsausübungsformen, den die aktuellen Statistiken ausweisen, zunehmen wird. Die steigenden Risiken eigener Praxisführung und die in den meisten Heilberufen festzustellende Zunahme weiblicher Berufsangehöriger mit ihren Bedürfnissen, berufliche und familiäre Verpflichtungen untereinander vereinbaren zu können, verstärken diesen Prozeß. Für den vertragszahnärztlichen Sektor wird die vom Gesetzgeber intendierte Liberalisierung der Berufsausübungsform dadurch eingeschränkt, daß die vertragszahnärztliche Zulassungsordnung (§ 32 ZV-Z) Regelungen bezüglich der zulässigen Zahl der Angestellten vorsieht, wobei die Versorgungspflicht des anstellenden Zahnarztes zu berücksichtigen ist. Inwieweit die Gewährleistung persönlicher Praxisführung diesbezügliche Begrenzungen durch bundesmantelvertragliche Regelungen verfassungsrechtlich legitimieren kann, wird kontrovers diskutiert228 und ändert nichts an der unverkennbaren Absicht des Gesetzgebers und der Berufsordnungen der Heilberufe, größere und ortsübergreifende Zusammenschlüsse von Heilberufsangehörigen zu ermöglichen. Das tradierte Leitbild ortsgebundener freiberuflicher Niederlassung in eigener Praxis tritt damit in Konkurrenz zu kollektiven unternehmensförmigen Zusammenschlüssen wie überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaften oder Kapitalgesellschaften in Form von MVZs, wodurch – was insbesondere die Entwicklung der Anwaltschaft zeigt – eine stärkere wirtschaftlich-gewerbsförmige Ausrichtung als auch eine Zunahme unselbständig-freiberuflicher Berufsangehöriger befördert wird. c) Statusperspektiven der Freien Heilberufe im Widerstreit von markt- und staatsorientierten Paradigmen Eine stärkere Wettbewerbsorientierung der Krankenversicherung und Leistungserbringer als Ausweis einer Modernisierung des Sozialstaats ist eine erklärte Zielsetzung der Gesundheitsreform 2007 in Gestalt des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes und des GKV-WSG. Als Instrument eines Systemwandels der GKV bedient sich der Gesetzgeber allerdings eines Mix widersprüchlicher Regelungsinhalte und Institutionen, die zum einen das Leistungsgeschehen im Sinne von mehr Markt und Wettbewerb deregulieren, zum anderen genau gegenläufig in Staatsnähe rücken. Während der Gesetzgeber mit einem Gesundheitsfonds als zentralstaatlicher Gesundheitsagentur die bisherige finanzielle Selbstregulierung und Beitragsautonomie der Kassen aufhebt, 228 Vgl. Orlowski, Vortrag „Erste Erfahrungen mit der Gesundheitsreform im Jahre 2007, Speyerer Zahnärzte-Symposium, 29.10.2007.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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diese durch Fusion zu einem Spitzenverband zentralisiert und durch Einführung eines Basistarifs in der GKV die Wettbewerbsstrukturen von gesetzlichen und privaten Krankenkassen verändert,229 wird andererseits im Verhältnis zu den Leistungserbringern auf Vertragswettbewerb gesetzt, dessen Ziel darin besteht, die Entgelte für Vertragsleistungen zu verringern und insgesamt kostendämpfend zu Einsparungen in der Leistungserbringung zu gelangen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, daß nach § 73c SGB V die Kassen ihren Versicherten die Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung durch Abschluß von besonderen Versorgungsverträgen anbieten dürfen. Dadurch soll ein zentrales vertragliches Wettbewerbsfeld entwickelt werden, um die bisherigen Kollektivverträge nach und nach zu unterlaufen bzw. zu unterbieten. Vertragswettbewerb wird insoweit mit einer spezifischen Steuerungsfunktion versehen, einen „Systemwandel“ des Gesundheitswesens zu induzieren, wobei durch den Gesetzgeber zugleich das Berufsbild des freiberuflichen (Zahn)Arztes prinzipiell am Leitbild des „Vertrags“(zahn)arztes „re-strukturiert“ wird.230 Dieses Vertragsarztmodell impliziert, daß er vertraglich in das System der Sozial- bzw. Krankenversicherung einbezogen wird und auch „gekündigt“ werden kann, als Unternehmer weitere Berufsangehörige anstellen und sich an mehreren Praxisorten betätigen darf. Die gesetzgeberische Strategie eines gelenkten Vertragswettbewerbs als Steuerungskonzept des System- und Berufsbildwandels kommt nicht nur in den Sonderverträgen nach §§ 73 b, 73 c und 140 a SGB V zum Ausdruck, sondern zielt ab auf ein durchgängiges Muster des Umbaus des Sozialstaates im Übergang von anspruchsbegründenden gesetzlich fundierten Rechten und Pflichten zum konsensualen Leistungsaustausch und Interessenausgleich im Vertragswege.231 Für die Freien Heilberufe gewinnen solche Vertragsinstrumente als Faktoren des Berufsbildwandels besondere Relevanz durch die Bereitstellung spezifischer Vertragstypen, wie sie §§ 73c für den Abschluß von Einzel- oder Strukturverträgen vorsieht, wodurch es den Kassen möglich wird, spezifische Versorgungsaufträge im Rahmen von Einzelverträgen zu erteilen, die sowohl die versichertenbezogene gesamte ärztliche Versorgung als auch einzelne Bereiche der ambulanten ärztlichen Versorgung umfassen. Ergänzt wird das Vertragsinstrumentarium durch integrierte Versorgungsverträge im Rahmen der §§ 140a, 140b SGBV, die Verträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung und neben Kollektivab-
229 s. dazu Sodan, NJW 2007, 1316; ders., Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung; ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007. 230 Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium. 231 Daß dieser Übergang vom Status zum Kontrakt ähnlichen Bindungsmustern sozialstaatlicher Leistungsvermittlung in Dritterfüllungsverhältnissen wie z. B. der Pflegeversicherung, der Jugend- und Sozialhilfe oder auch der Einbeziehung von Leistungsempfängern selbst durch vertragliche Konkretisierung von Mitwirkungspflichten wie bei Eingliederungsvereinbarungen nach dem SGB XII oder Arbeitsförderungsmaßnahmen nach dem SGB III entspricht, hebt Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium, hervor.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
sprachen ebenfalls Einzelverträge ermöglichen.232 Welche Rolle im System des selektiven Kontrahierens die Dienstleistungsgesellschaften künftig spielen werden, die die Kassen(zahn)ärztlichen Bundes- und Landeskörperschaften nach § 77a SGB V gründen können, um ihre Mitglieder beim Abschluß und bei der Abwicklung von Versorgungsverträgen oder in Fragen der Datenverarbeitung bzw. -sicherung und des Datenschutzes sowie in allgemeinen wirtschaftlichen Fragen der vertragsärztlichen Versorgung zu beraten oder Verwaltungsaufgaben für Praxisnetze zu übernehmen, bleibt abzuwarten. Außer den Einzelverträgen als „Einkaufsinstrumenten“, die es den Heilberufsangehörigen gestatten, als einzelner oder gemeinsam mit Kollegen regional oder örtlich außerhalb der Kollektivverträge einer K(Z)V unter Nutzung privatautonomer Vertragsabschlußkompetenz mit einer gesetzlichen Krankenkasse zu kontrahieren, hat der Gesetzgeber durch Ausweitung der Normsetzungsverträge und des Sicherstellungsauftrags auf den PKV-Vergütungsbereich auch im Sektor der Kollektivverträge berufsbildrelevante Veränderungen geschaffen, indem er im sog. Basistarif einen Kontrahierungszwang statuiert, der die Vertrags(zahn)ärzte verpflichtet, auch im Privatsektor zu gebundenen Gebührensätzen zu behandeln.233 Hinter einer solchen gesetzgeberischen Konzeption steht offensichtlich ein technokratisches Professionsverständnis des Dienstleistungserbringers, der losgelöst von einer gesundheitsvor- und -versorgenden Gesamtverantwortung als Spezialist vertraglich vereinbarte qualitätsgesicherte Gesundheitsleistungen erbringt. Inwieweit dies mit einer „wertethisch verstandenen Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung“234 und eigenverantwortlicher Hinwendung zum Patienten vereinbar ist oder sich eher einem „neuen Berufsbild vom Funktionsarzt an der Wertschöpfungskette Patient“ nähert und dem Konzept einer „staatlich gelenkten Gesundheitswirtschaft“235, muß vor allem auch vor dem Hintergrund bewertet werden, daß der propagierte Vertragswettbewerb keineswegs völlige unternehmerische Freiheit als Kompensation für Bedrohungsszenarien der Freiberuflichkeit verheißt. Dies wird besonders deutlich bezüglich der vertrags(zahn)arztrechtlichen Einschränkung der Zahl angestellter Heilberufsangehöriger, gilt aber erst recht für die fortbestehenden Restriktionen der Budgetierung und Honorarverteilung, der Bedarfsplanung, Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung. Dieser sozialstaatliche Entwicklungsprozeß und die durch diesen induzierte Statusmetamorphose vom „Amtswalter“ der GKV zu ihrem „Vertrags-Dienstleister“ 232 s. dazu Wille, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 1 ff., 7 f.; Rehborn, VSSR 2004, 157 ff.; von Schwanenflügel, NZS 2006, 285 ff. 233 Zur verfassungsrechtlichen Problematik s. Sodan, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 43 ff. 234 Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium. 235 So der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Hoppe, auf dem Deutschen Ärztetag 2007 in Münster, zit. in ZM 2007/97, S. 26.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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stellt die Freien Heilberufe vor neue professionspolitische Herausforderungen und besondere verfassungsrechtliche Anforderungen an grundrechtskonforme Gestaltungen. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß die in der langjährigen Diskussion um „Einkaufsmodelle“ der Krankenkassen beschworenen ordnungs- und wettbewerbspolitischen Nachteile236 aus einer solchen Indienstnahme der Privatautonomie für sozialstaatliche Leistungszwecke resultieren können. Denn das Vertragskonzept setzt zwar formale Rechtsgleichheit in dem Sinne voraus, daß man nicht verpflichtet ist, den Vertrag zu den Konditionen der anderen Vertragsseite zu schließen. Doch ist für den vertrags(zahn)ärztlichen Sektor in der GKV eine gewisse Asymmetrie der Vertragsbeziehungen festzustellen. Denn im Verhältnis zu den oligopolistischen und zunehmend zentralisierten Vertragspartnern auf der Kassenseite fehlt es an einer Vertragsparität aus der Sicht der (Zahn)Ärzteschaft.237 Das Vertragskonzept vermag seine Funktion nur zu erfüllen und den Verlust des durch die Kollektivverträge mit den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen gewährleisteten Status durch Vertragssicherheit zu kompensieren, wenn alle Vertragspartner – auch bei Einzelverträgen – „mit gleichlangen Spießen“ handeln würden. Inwieweit diese „Balance of Countervailing Powers“ jedoch im staatszentrierten und korporatistisch vermachteten Gesundheitswesen gewährleistet ist, erscheint, höchst fraglich. Die Vertrags(zahn)ärzte verfügen ohne höheren Organisationsgrad im Regelfall nicht über das für selektives Kontrahieren erforderliche Maß an wirkmächtiger Vertragsautonomie,238 die durch die Erosion des Sicherstellungsauftrags der K(Z)Ven durch Einzelleistungsverträge und die Sogwirkung zentraler Steuerungsmechanismen über einen Spitzenverband der Krankenkassen weiter gefährdet ist. Inwieweit die durch die Gesundheitsreform 2007 gewählte Vertragskonzeption dem Status des Vertrags(zahn)arztes in seiner janusköpfigen Funktion als öffentlich-rechtlicher Sach- und Dienstleistungserbringer in Erfüllung öffentlich-rechtlicher Leistungsansprüche der Versicherten und freiberuflich-unternehmerischer Tätigkeit gerecht wird, ist vor allem an den grundrechtlichen Verbürgungen der Art. 2, 12 und 14 GG sowie an rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsaspekten zu messen. In besonderer Weise sind in diese Betrachtung die Strukturmaßgaben einer durch die Grundrechte geforderten öffentlich-
236 Zur ordnungspolitischen Dysfunktionalität und zu wettbewerbsrechtlichen Problemen von Einkaufsmodellen der Krankenkassen, bei denen der Nachfragemacht öffentlich-rechtlicher Oligopole einzelne oder Gruppen von „Leistungsanbietern“ gegenüberstehen, s. B. Tiemann, in: Gesellschaftspolitische Kommentare 35/1994, S. 282 ff.; Weber, SozFortschritt 2001, 254 ff.; Wille, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 1 ff., 8 f. 237 Wille, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 9, weist darauf hin, daß die KVen keine monopol- oder kartellartige Position einnehmen, weil sie erhebliche Interessengegensätze zwischen den einzelnen Facharztgruppen ausgleichen müssen und die Preise für ärztliche Leistungen als Resultat eines Verhandlungsprozesses nicht autonom bestimmen können. 238 Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
rechtlichen Wettbewerbsordnung einzubeziehen,239 die Wettbewerbsnachteile im Dienstleistungsangebot der Freien Heilberufe – sei es in Gestalt von Kollektiv- oder Einzelverträgen – auszuschließen bzw. zu kompensieren hat.240 Dies gilt in besonderem Maße für die Einschränkung des Sicherstellungsauftrages der K(Z)Ven im Falle des § 73 SGB V bzw. für Sonderverträge überhaupt. Auch durch den Gesundheitsfonds könnte es zu einer Vertragssteuerung kommen, die risikobezogen das Vergütungsvolumen bestimmt. Die Frage ist, in welchem Ausmaß künftig vertragliches Zusammenwirken – ob durch Einzelvertrag oder über Kollektivverträge mit K(Z)Ven – eine Freiberuflichkeitsanforderungen entsprechende und risikoadäquate Vergütung bewirken kann.241
d) Funktionswandel freiberuflicher Selbstverwaltung Die Status- und Funktionsmetamorphose des Vertrags(zahn)arztes kommt auch im Funktionswandel der vertrags(zahn)ärztlichen Selbstverwaltungsorgane zum Ausdruck. Anstelle ihres selbstverantwortlichen, staatsdistanzierten Gestaltens durch funktionale Selbststeuerung tritt auf der einen Seite immer mehr die nach innen gerichtete Vollzugsfunktion einer ausufernden Sozialgesetzgebung, die den Selbstverwaltungsorganen Disziplinierungsfunktionen gegenüber ihren Mitgliedern zuweist und diesen in Gestalt von Prüfungs- und Regreßverpflichtungen, ausgebauter Disziplinargewalt und Bedarfsplanung vorrangiges Gewicht verleiht. Auf der anderen Seite werden die Handlungsräume der (zahn)ärztlichen Selbstverwaltung zur Erfüllung ihres Interessenwahrungsauftrags in zunehmendem Maße restriktiv ausgestaltet.242 Der Gestaltungsrahmen genossenschaftlicher Selbstverwaltung wird eingeengt durch selbstverwaltungsüberwölbende Gremien, die dem Aufsichts- und Beanstandungsrecht bzw. Genehmigungsvorbehalten der Ministerialverwaltung unterliegen oder in einer staatsnahen parakorporativen Grauzone neben der Selbst239 Zu den Anforderungen an eine Wettbewerbsordnung für ein vertragsorientiertes Gesundheitswesen s. Oberender/Zerth, in: Ulrich/Ried, Effizienz und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, S. 389 ff. 240 Zur Zukunft des Sicherstellungsauftrags der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen unter Berücksichtigung neuer Versorgungsformen und stärkerer Wettbewerbsorientierung s. Muschallik, MedR 2003, 139 ff.; Kluth, MedR 2003, 123 ff.; Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, S. 12, 70, 78, 333 f.; Schüffner/Schnell, S. 50 ff. 241 Wille, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 9, bezweifelt, ob unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten eine Abschaffung oder Einschränkung der korporativen Koordination im Gesundheitswesen im Vergleich mit alternativen Steuerungskonzepten die fiskalischen, allokativen und verteilungspolitischen Zielsetzungen effizienter und effektiver erreichen würde, und plädiert für einen Wettbewerb zwischen korporativer Koordination und dezentral-selektivem Kontrahieren. 242 Zum Funktionsverlust der freiberuflichen Selbstverwaltung s. Kluth, MedR 2003, 123 ff.; Schimmelpfeng-Schütte, ZRP 2004, 253 ff., die insbes. im GBA das „Machtzentrum und den eigentlichen Gesetzgeber“ in der GKV sieht und in dieser erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken begegnenden Entwicklung die Absicht der Politik erkennt, den Medizinbetrieb in Deutschland dirigistisch zu steuern.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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verwaltung operieren und dieser quasi-normative Vorgaben für Therapie- und Fortbildungsstandards oder Qualitätssicherungsmaßnahmen machen. Der (Zahn)Arzt sieht daher in seiner Selbstverwaltung häufig nicht mehr die genossenschaftliche Ausformung seiner freiberuflichen Interessenwahrung, sondern eine administrative Kontrollinstanz in der Gestalt mittelbarer Staatsverwaltung zur Realisierung von Systembedingungen. Dieser Prozeß der Ver- und Entfremdung der Selbstverwaltung lähmt die freiberufliche Innovationskraft des (zahn)ärztlichen Berufsstandes und erschwert seine freiberufliche Verantwortungsvermittlung gegenüber dem Patienten. Dieser Erosionsprozeß kassenärztlich-genossenschaftlicher Selbstverwaltungsstrukturen, der flankiert wird durch die mit dem Schlagwort der „Professionalisierung“ verbrämte hauptamtliche Umgestaltung der kassen(zahn)ärztlichen Selbstverwaltung und deren weitere Kompetenzbeschränkung, wird durch den vom GKV-WSG induzierten Einstieg in Einkaufsmodelle der Krankenkassen beschleunigt. Kollektivvertragliche Regelungen wie die Normsetzungsverträge im Vertragsarztrecht folgen aus der Selbstverwaltungsautonomie der Vertragspartner, d. h. der gesetzlichen Krankenkassen und ihrer Verbände einerseits, der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen andererseits, die durch funktionale Selbststeuerung die sachgerechte Interessenrepräsentation und funktionsgerechte Interessenkoordination im Gesundheitswesen effektiv und effizient organisieren soll.243 Allerdings verlieren nach dem GKV-WSG die bisherigen Spitzenverbände der Krankenkassen („Bundesverbände“) ihre gesetzlichen Funktionen zum größten Teil und werden organisationsrechtlich umgestaltet. Stattdessen ist ein Spitzenverband „Bund“ in der Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ins Leben gerufen worden mit der Folge, daß die bisherigen Bundesverbände und ihre Selbstverwaltungen weitgehend ihre gesetzliche Funktion eingebüßt haben.244 Somit ist es zu einer Konzentration des gesamten nicht-wettbewerblichen Kollektivvertragsrechts in einer Hand gekommen, um einheitliche vertragliche Rahmenbedingungen auf Bundesebene für die daran anknüpfende Vertragskonkretisierung zu schaffen. Auch hierzu wird die bisherige Entscheidungsfindung unter den Kassenarten in den von den Einzelkassen selbst getragenen neuen Spitzenverband verlagert.245 Das Ergebnis ist die „verschlankte“ Meinungsbildung,246 die sich auch in der Verdichtung der Organisationsstrukturen des Gemeinsamen Bundesausschusses auf nur ein Beschlußgremium widerspiegelt, in dem der Spitzenverband Bund der Gesetzlichen Krankenkassen als alleiniger 243
s. dazu Kluth, MedR 2003, 122 ff.; Muschallik, MedR 2003, 139 ff. Vgl. Hess, in: Ulrich/Ried, Effizienz und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, S. 985 ff. 245 Zu den Funktionen des neuen Spitzenverbandes Bund der GKV s. Pfeiffer, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/2009, 488 ff.; Oberender/Zerth, BKK 4/2008, 202 ff. sehen in der Entwicklung eines einheitlichen Spitzenverbandes Bund auf Kassenebene ein neues zentralistisches Organisationsmodell, das dem Prinzip dezentraler Wettbewerbsprozesse im Wege stehe. 246 Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium. 244
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Vertragspartner der Gemeinsamen Selbstverwaltung auf Bundesebene vertreten ist, so daß auf Seiten der Kassenverbände die Pluralität verschiedener Kassenarten und damit eine wettbewerbliche Komponente verlorengeht.247 Auch wenn von Verfassungs wegen die Gewährleistung einer sozialen Selbstverwaltung durch Art. 87 Abs. 2 GG auf ein Mindestmaß beschränkt ist, um dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum für die Weiterentwicklung der Sozialen Sicherung zu geben,248 stellen sich verfassungsrechtliche Probleme unter dem Aspekt, daß die Regelungen des GKV-WSG in den Bereich der PKV hineinwirken. Dadurch erweitert sich die staatliche Einflußnahme auf die Private Krankenversicherung und greift nicht nur erheblich in die Freiheitsrechte von Unternehmen und Versicherten durch vertragliche Entscheidungen im öffentlich-rechtlichen Sektor zu Lasten Dritter ein,249 sondern tangiert durch die Einführung eines Basistarifs und diesbezüglicher Kontrahierungszwänge sowie Gebührenbindungen auch die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte250. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht sowohl die Erstreckung des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen auf den privatversicherungsrechtlichen Basistarif gebilligt251, als auch die Verpflichtung der PKV, einen solchen Tarif mit einem der GKV vergleichbaren Leistungsumfang und mit Kontrahierungszwang anzubieten, sowie weitere Eingriffe des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes in die Vertragsfreiheit der PKV für verfassungsgemäß erklärt252 ; es hat jedoch nicht grundsätzlich das duale System einer Gesetzlichen und Privaten substitutiven Krankenversicherung in Frage gestellt. Die Einschränkung der Vertragsautonomie der PKV durch Einführung eines Basistarifs mit gebundenen Beiträgen und Kontrahierungszwang, absolutem Kündigungsverbot und einer Portabilität der Altersrückstellungen sowie das Erfordernis einer Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze um drei aufeinander folgende Jahre für die Wahl einer PKV stellen nach Feststellung des BVerfG zwar Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit 247 s. GVG (Hrsg.), Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialen Sicherung, 2007. Zum Stellenwert der Gemeinsamen Selbstverwaltung auf Bundesebene nach dem GKV-WSG s. Hess, in: Ulrich/Ried, Effizienz und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen, aaO, S. 985 ff.; Welti, VSSR 2006, 133 ff.; Klenk, ErsK 2006, 466 ff. 248 s. dazu BVerfGE 77, 340 ff.; 89, 365 ff. sowie die Nachweise bei Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 453 ff. Zur Schrumpfung der Gestaltungsmöglichkeiten der sozialen Selbstverwaltung s. Axer, Die Verwaltung (2002) S. 377 ff. 249 Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium. 250 Vgl. Sodan, Staatsmedizin auf dem Prüfstand der Verfassung, S. 39 ff.; ders., Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform 2007, S. 71 ff.; Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Das Gesundheitswesen im Umbruch, S. 25 ff., 27. 251 Zur Erweiterung des Sicherstellungsauftrags auf die Versorgung der im Standard- bzw. Basistarif Versicherten (§ 75 Abs. 3a-c SGB V) s. Huster, in: Becker/Kingreen (Hrsg.), § 75 SGB V Rdnr. 10. 252 BVerfG, Urt. v. 10. 6. 2009, NJW 2009, 2033. Zur Bedeutung des Urteils für die Wechselwirkung nationaler Strukturvorgaben und deren europarechtlicher Einordnung s. oben 4. Kap. II. 2. b).
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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der PKV-Unternehmen und die allgemeine Handlungsfreiheit der Versicherten dar, seien aber durch das Sozialstaatsprinzip und legitime Gemeinwohlinteressen gerechtfertigt. Den Gesetzgeber treffe allerdings dann, wenn er privatwirtschaftlich organisierten Märkten im öffentlichen Interesse besondere Aufgaben zuweist, eine Beobachtungspflicht, die dazu führe, daß bei Prämiensteigerungen bei Vollversicherten und erheblichen Wechselbewegungen in den Basistarif die gesetzlichen Regelungen zu überprüfen sei, um eine Auszehrung der Privatversicherung zu verhindern. Unabhängig von diesem Prüfungsvorbehalt räumt das BVerfG dem Sozialgesetzgeber einen erheblichen Gestaltungsspielraum ein, den er auch durch Kontrahierungszwang und Kündigungsverbot sowie die Portabilität der Altersrückstellungen und die Dreijahresfrist der Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze nicht überschritten sieht.253 Neben der Einebnung der Unterschiede von PKV und GKV führen diese Entwicklungen zu einer Schwächung der vertragsärztlichen Selbstverwaltung, die sich als Garant flächendeckender und wohnortnaher Versorgung zunehmend Legitimationsproblemen ausgesetzt sieht, die zum Teil aus den binnenstrukturellen Verteilungskämpfen, zum Teil aus Zielkonflikten des Vertragswettbewerbs resultieren. Das Einzelvertragssystem wird den innerärztlichen Verteilungskonflikt durch Preis- und Qualitätswettbewerb verschärfen, weil Krankenkassen sich aus mehreren Angeboten von Ärzten oder Arztgruppen das preisgünstigste und qualitativ attraktivste auswählen können.254 Paradigmatisch hierfür sind die Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V). Gleichzeitig nehmen aber auch Verwerfungen im Kollektivvertragssystem zu, weil die finanziellen Vorteile durch neue Verträge für eine Gruppe stets zu Lasten aller anderen Gruppen gehen müssen. Hinzu kommt, daß die künftige Vertragsgestaltung zwischen Ärzten und Krankenkassen aller Voraussicht nach unter neuen Kautelen stehen wird. Den Heilberufen steht in Zukunft als Vertragspartner überwiegend als zentrale körperschaftlich verfaßte Organisation der Spitzenverband Bund der Krankenkassen gegenüber, dessen Bedeutung und Einfluß bei sich verschärfenden finanziellen Engpässen wachsen.255 Die künftige Bedeutung der K(Z)Ven ergibt sich aus dem Entwicklungspfad, dem das deutsche Gesundheitswesen in den kommenden Jahren folgt: Die Alternative zu einem einseitig staats- oder preiswettbewerbszentrierten Gesundheitssystem liegt in 253
Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Eingriffe des GKV-WSG in die Vertragsfreiheit der PKV s. Sodan, PKV und Gesundheitsreform 2007; Zimmermann, Sozialversicherung und Privatversicherung, S. 365 ff. 254 s. dazu Wille, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 1 ff., 8. 255 Beske, Ärzte-Zeitung v. 28. 2. 2008 weist darauf hin, daß schon kurz nach der gesetzlichen Neuregelung rd. 70 % des Gesamtvolumens kassenärztlicher Leistungen vom Spitzenverband Bund verhandelt wurden. Zur Rolle des Spitzenverbandes s. Pfeiffer, Gesellschaftspolitische Kommentare 1/2009, 488 ff.; zu den gesundheitsökonomischen Auswirkungen der Konzentration auf den Wettbewerb in der GKV s. Oberender/Zerth, BKK 4/2008, 202 ff.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
der Weiterentwicklung eines sich selbst verwaltenden pluralen Gesundheitswesens mit dezentraler Orientierung an Leistungs- und Qualitätskriterien. Wenn nicht eine staatsnahe Medizin ebenso wie eine hauptsächlich von ökonomischen Kriterien dominierte Gesundheitsversorgung angestrebt wird, werden wohl auch künftig – zur Vertretung ärztlicher Belange und unabhängig von der konkreten Ausgestaltung – Formen kollektiver Interessenvertretung vertragsärztlicher und/oder berufsständischer Prägung erforderlich sein.256 Dies gilt auch vor dem Hintergrund einer periodisch immer wieder aufflammenden Kritik am „Verbändestaat“ und „Neokorporativismus“, die die demokratische Legitimation des Verbandswesens im allgemeinen und der körperschaftlich verfaßten funktionalen Selbstverwaltungen im besonderen in Frage stellt.257 Gewarnt wird gerade in Bezug auf das Gesundheitswesen vor einer Gefährdung des Gemeinwohls durch interessengeleitete Lobbystrukturen, denen gegenüber sich der Staat durch weitere Liberalisierung und Deregulierung korporativer Strukturen entlasten müsse: „Die neokorporatistischen, verbändestaatlichen Formen der Politik haben bisher vielfach notwendige Sachentscheidungen von weitreichender und vor allem zukunftssichernder Dimension verhindert.“258 Auch wenn bei der seit Jahren verbreiteten Forderung „Kammern auf den Prüfstand!“ in erster Linie Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern im Fokus stehen, bleiben freiberufliche Kammerorganisationen unter Berufung auf Interessen des Verbraucher- und Konkurrentenschutzes keineswegs ausgespart. Demgegenüber ist festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht bereits im sog. Facharzt-Beschluß aus dem Jahre 1972 zur freiberuflichen Selbstverwaltung deutlich hervorgehoben hat: „Die Verleihung von Satzungsautonomie hat ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat niemals in Zweifel gezogen, daß sich der Autonomiegedanke sinnvoll in das System der grundgesetzlichen Ordnung einfügt.“259 Erfordernisse der Qualitätsförderung gesundheitlicher Versorgung, aber auch die Verwirklichung von Subsidiaritätspostulaten wie Orts- und Sachnähe sowie einer Partizipation im Wege von Mitgestaltung der Betroffenen stellen auch in Zukunft 256
So Beske, Ärzte-Zeitung v. 28.2.2008. s. dazu Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 70 f. 258 So der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, H.-J. Papier, zit. in FAZ. Nr. 89 v. 15. 4. 2003, S. 13. 259 BVerfGE 33, 125, 156 f. mit weiteren Rspr.nachweisen. 257
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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eine Legitimationsbasis für berufsständische Selbstverwaltung in Form von körperschaftlich verfaßten Berufskammern dar. Den Kammern der Freien Berufe, darunter denen der Heilberufe, sind dabei berufs- und gesellschaftsspezfische Aufgaben zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung durch staatliche Kompetenzverleihung zugewiesen,260 die mit nationalem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht konform sein müssen: Diese betreffen sowohl die Berufsaufsicht im Sinne der Überwachung und Durchsetzung normativ vorgegebener Standards im öffentlichen Interesse als auch die Vertretung der Interessen der Berufsangehörigen im Rahmen von Gemeinwohlbelangen und sozialstaatlichen Bindungen sowie die umfassende Förderung beruflicher Belange des Berufsstandes, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Beratung und vielfältige berufsbezogene Dienstleistungsfunktionen. Eine solche Aufgabenerfüllung setzt funktionsadäquate Organisationsstrukturen voraus, wie sie die Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft und Selbstverwaltung darstellt.261 Die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben in Eigenverantwortung ermöglicht eine wirksame Selbststeuerung und Kontrolle der Aufgabenerfüllung durch die Betroffenen und konkretisiert das demokratische Prinzip bürgerschaftlicher Partizipation. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Selbstverwaltung ein eigenständiges Gestaltungspotential staatsund weisungsfreier Aufgabenerfüllung zugewiesen ist und auch staatlich übertragene Aufgaben die Heilberufskammern nicht zu bloßen Vollzugsorganen der Landesverwaltungen degenerieren lassen, sondern auch in diesem Rahmen Handlungsräume eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung bestehen bleiben.262 Leitbild künftiger (Heilberufs-)Kammeraufgaben ist weniger die regulative Berufsaufsicht als die Absicherung normativer Mindeststandards für Fort- und Weiterbildung sowie Qualitätsförderung. Patienteninformation und -schutz müssen dabei ebenso im Mittelpunkt stehen wie eine transparente berufliche Selbstkontrolle. Zu den Zukunftsherausforderungen der Kammern gehört insbesondere der Ausbau einer objektivierenden Interessenvertretung gegenüber Staat und Gesellschaft durch Sachkompetenz und Dialogfähigkeit bei der Entwicklung gesundheits- und versorgungspolitischer Konzepte, die in glaubwürdiger Weise die Belange des Berufsstandes mit Gemeinwohlinteressen verknüpfen. Auch der Ausbau von Dienstleistungsfunktionen für die Berufsangehörigen und Patienten wird eine künftige „Baustelle“ körperschaftlicher Aktivitäten sein, soweit sich diese im Bereich der Kammeraufgaben bewegen. Dabei kann es zu Aufgabenabgrenzungen gegenüber den Dienstleistungsgesellschaften der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen nach § 77a SGB V oder konkurrierenden Angeboten freier Heilberufsverbände und auch der Privatwirtschaft kommen. Jenseits zünftischer oder gruppenegoistischer Verkrustungen liegt die Zukunft der Kammern in ihrer Funktion als Agenturen einer 260 Tettinger, Kammerrecht, 1997, S. 132 ff.; ders., in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 68 ff. 261 Schulte, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 267 ff., 270. 262 s. Kluth, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 275 ff., 288 f.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
„Kultur der Selbständigkeit und Eigenverantwortung“, die freiberufliche Innovationskraft stärkt und sowohl innerprofessionelle Akzeptanz der Berufsangehörigen als auch gesellschaftliche und politische Resonanz findet. Unter diesen Voraussetzungen einer innovativen Weiterentwicklung des Kammerwesens ist der deutsche Typus der Berufskammer durchaus zukunftsfähig und kann sich auch als berufsrechtliches Ordnungsmodell in und für Europa bewähren.263 Die europarechtliche Präformierung von Berufsqualifikationen, Niederlassungsund Berufsausübungsregeln wirkt auch auf die Stellung freiberuflicher Selbstverwaltungsorganisationen zurück. Das Proprium freiberuflicher Selbstverwaltung, autonome Rechtsvorschriften für die Berufsregelung mit zum Teil wettbewerbsrelevanten Auswirkungen bezüglich Anerkennung von Berufsqualifikationen, Werberestriktionen oder Formen der Berufsausübung erlassen zu dürfen, wird dabei immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Insbesondere zur Stellung der Selbstverwaltungsorganisationen hat der EuGH mit seiner Entscheidung in Sachen Wouters264 zur Rechtsetzungskompetenz der niederländischen Rechtsanwaltskammer sowie im Fall Arduino265 zur Rechtmäßigkeit der vom italienischen Anwaltsrat entworfenen Gebührenordnung für Rechtsanwälte Kriterien für die autonomen Rechtsetzungskompetenzen von Selbstverwaltungskörperschaften aufgestellt. Der Gerichtshof hat diese grundsätzlich als unternehmerische Vereinigungen qualifiziert, wobei Umfang und Grad der Erstreckung des Gemeinschaftsrechts davon abhängig gemacht werden, inwieweit sich der Staat bei Übertragung autonomer Satzungshoheit die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält. Je stärker der staatliche Einfluß und je geringer die Selbstverwaltungsautonomie ist, desto eher sind berufsständische Einrichtungen und ihr Handeln dem Staat zuzuordnen und damit dem GemeinschaftsWettbewerbsrecht entzogen.266 Immerhin hat die EuGH-Rechtsprechung klargestellt, daß ein Mitgliedstaat bei der Regulierung eines Freien Berufes durch Berufsrecht und Honorarordnungen eine selbstverwaltete Berufsorganisation einschalten kann, sofern die zentralen Vorgaben auf gesetzlicher Basis formuliert und hinreichende Kontrollmechanismen vorgesehen sind. Dementsprechend hat der EuGH in seinem Cipolla-Urteil267 zur italienischen Anwaltsgebührenordnung grundsätzlich anerkannt, daß die durch Festsetzung von Mindesthonoraren bewirkte
263 Ebenso Tettinger, NWVBl 1/2002, 20 ff., 25; Hellwig, AnwBl. 4/2007, S. 257; Oberlander, Der Freie Beruf 4/2010, S. 16 ff., 17 weist darauf hin, daß vergleichende Untersuchungen des Kammerwesens in Europa zu dem Ergebnis kommen, daß in keinem Mitgliedstaat der EU ein „Entkammerungstrend“ festgestellt wurde. 264 Rs. C-309/99 Slg. 2002, I-1577. s. dazu oben 3. Kap. 3. a). 265 Rs. C-35/99 Slg. 2002, I-1529. 266 s. dazu Boecken, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 59 ff., 64 ff.; Vallone, Auswirkungen des Kartellverbots auf das Standes- und Berufsrecht der verkammerten Freien Berufe, 2006. 267 EuGH, C-94/04 und C-202/04 – Cipolla/Marcino u. a. sowie Capodarte/Meloni, NJW 2007, 281.; s. dazu Lörcher, BRAK-Mitt. 1/2008, 2 ff.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit aus Gründen des Verbraucherschutzes und der Wahrung einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sein könne.268 Auch die Erbringung medizinischer Behandlungsleistungen durch niedergelassene Heilberufsangehörige stellt vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung unternehmerische Tätigkeit im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts dar. Aus Sicht des dem Art. 106 AEUV (ex-Art. 86 EGV) zugrunde liegenden funktionalen Unternehmensbegriffs könnten berufsständische Einrichtungen wie Kassen(zahn)ärztliche Vereinigungen oder Kammern als Unternehmensvereinigungen zu qualifizieren sein.269 Inwieweit die Kompetenz der K(Z)Ven zum Abschluß von Kollektivverträgen nach deutschem Krankenversicherungsrecht mit Art. 101 AEUV (exArt. 81 EGV) in Einklang steht, hängt – soweit man eine unternehmerische Aktivität zugrunde legt – davon ab, ob Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbracht werden, deren Erfüllung durch Befolgung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verhindert wird. Hier könnte auf die sozialen und versorgungspolitischen Aufgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung bei der Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung sowie die Gewährleistung von Wirtschaftlichkeits- und Qualitätskriterien verwiesen werden.270 Trotz dieses Gemeinwohlbezugs und der Gestaltungsprärogative der EU-Mitgliedstaaten für ihre Sozialen Sicherungssysteme sind allerdings Verhältnismäßigkeitskriterien zu beachten, die anstelle einer Abschottung des inländischen Gesundheitsmarktes durch vertragsärztliche Restriktionen wie Bedarfsplanung und Kollektivverträge ein auf grenzüberschreitende Inanspruchnahme und Leistungserbringung angelegtes gesundheitliches Versorgungssystem wettbewerbsrechtlich geboten erscheinen lassen. Die berufsständischen Normsetzungen sollen nach dem Willen der Kommission künftig nur noch dann europarechtlichen Bestand behalten, wenn sie aus Gründen des Gesundheits- oder Verbraucherschutzes oder der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen sind. Auch wenn bei solchen Abwägungsprozessen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit eine hohe Priorität eingeräumt wird, besteht durchaus ein Risiko, daß bewährte berufsrechtliche Verfahren bzw. Strukturen unter Rechtfertigungsdruck geraten, zumal die Kommission immer wieder darauf hinweist, daß das Regulierungsniveau bei den Freien Berufen durch staatliche Reglementierung und Selbstverwaltungsregelungen höher als im sonstigen Dienstleistungsbereich sei und trotz gewisser Deregulierungsbestrebungen in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung stehe.271
268
Vgl. Lörcher, BRAK-Mitt. 1/2008, 2 ff., 4. s. dazu Koenig/Beer, ZESAR 2002, 54 ff.; Heinze, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 94 ff.; Vallone, Auswirkungen des Kartellverbots auf das Standes- und Berufsrecht der verkammerten Freien Berufe, S. 38 ff., 149 ff., 180 ff. 270 B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 249 ff.; Rixen, in: Sozialrecht in Europa, S. 53 ff., 63 ff. 271 Vgl. auch Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 71. s. auch oben 3. Kap. 3. c). 269
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
3. Die Strukturmetamorphose des Gesundheitswesens als professionspolitische und berufsrechtliche Herausforderung der Heilberufe in Europa a) Versorgungs-, demographie- und genderstrukturelle Entwicklungen im europäischen Gesundheitssystem Die Europäische Kommission hat im Dezember 2008 ein „Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa“272 vorgelegt, dessen Ziel es ist, die Probleme der Gesundheitsberufe in der EU stärker in den Vordergrund zu rücken und eine Diskussion darüber anzustoßen, was auf EU-Ebene zur wirksamen Lösung dieser Probleme unternommen werden kann. Inhaltlich geht das Grünbuch dabei insbesondere der demographischen Entwicklung (alternde Gesamtbevölkerung und alternde Arbeitskräfte im Gesundheitswesen), dem Wandel des Sektors aufgrund innovativer Technologien (Telemedizin) und den festzustellenden Zu- und Abwanderungen von Beschäftigten des Gesundheitswesens in die und aus der EU, also insbesondere der Migration von Fachkräften (sog. „Brain Drain“) z. B. von Osteuropa nach Westeuropa, aber auch aus Europa in attraktive Drittstaaten nach.273 Nicht nur die ostdeutschen Bundesländer versuchen Versorgungslücken mit Personal aus dem Ausland zu füllen. Zahlreiche Regionen in Europa leiden unter einem zunehmenden Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und setzen auf den Mobilitätswillen der Angehörigen von Gesundheitsberufen aus anderen europäischen Ländern sowie aus Drittstaaten, um der drohenden Unterversorgung zu begegnen.274 In Großbritannien beispielsweise stammt bereits rund ein Drittel der Ärzte aus anderen Staaten, in Norwegen sind es 16 %. Beim Pflegepersonal übersteigt die Zahl der neu zugelassenen Kräfte aus dem Ausland sogar die des britischen Fachpersonals. Grund für den Mangel sind zum einen unattraktive Arbeitsbedingungen in einigen Regionen Europas, aber auch die zunehmende Überalterung der Fachkräfte im Gesundheitswesen. Die Zahl der Ärzte im Alter von unter 45 Jahren sank nach Angaben der Europäischen Kommission zwischen 1995 und 2000 europaweit um 20 %, während der Anteil der über 45-Jährigen um mehr als 50 % zugenommen hat. Auch die Krankenpflege leidet unter Nachwuchsproblemen. In fünf Mitgliedstaaten ist laut EU nahezu die Hälfte des Krankenpflegepersonals über 45 Jahre alt. Hinzu kommt, daß der Anteil der Frauen an den Gesundheitsberufen stetig zunimmt, was eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben erforderlich macht. Drei Viertel der Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in der EU besteht aus weiblichen Berufsangehörigen; in einigen Ländern, zu denen auch Deutschland zählt, beträgt die Quote der Studienanfängerinnen im Fach Medizin schon über 50 %.275 Dieser Trend ist auch in der Zahnmedizin spürbar. So ist der Frauenanteil im zahnmedizinischen 272 273 274 275
KOM (2008), 725 endg. s. Eureport social 7 – 8/2009, S. 9 ff. s. zum Grünbuch der EU-Kommission Spielberg, ZM 15/2009, 79. Laut Mitteilung des Comit Permanent des Mdecins Europens.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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Grundstudium innerhalb der EU zwischen 2003 und 2008 von 52 auf 60 % gestiegen.276 Zu beobachten ist, daß der Arbeitskräftemangel in der gesundheitlichen Versorgung in den letzten Jahren zugenommen hat und sich verstärken könnte, wenn die EU-Regierungen nicht gezielt in Arbeitsplätze in diesem Bereich investieren. Das „Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa“ soll die gesundheitspolitisch Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten dazu anregen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann. Dabei zeichnet sich zweierlei ab: Bislang fehlen Daten, die genauen Aufschluß über die Wanderungsbewegungen von medizinischem und pflegerischem Fachpersonal sowie über die Motive für einen Wechsel ins Ausland geben, wenngleich davon auszugehen ist, daß die meisten Fachkräfte ihre Heimat aus wirtschaftlichen Erwägungen verlassen. Auch scheint es keinen europaeinheitlichen Königsweg zur Lösung des Problems zu geben. Einig ist man sich auf EU-Ebene lediglich darin, daß einerseits der Abzug von Personal aus anderen Ländern unethisch wäre, da er zur Unterversorgung in den Heimatregionen beiträgt, andererseits sich rechtliche Einschränkungen der Freizügigkeit mit dem EU-Recht nicht vereinbaren ließen. Nutzen verspricht man sich beispielsweise davon, in eine Erhöhung der Studien- und Ausbildungsplätze zu investieren. Begrüßt wird auch eine längere Integration von älteren Erwerbstätigen in den Arbeitsmarkt. Ferner sollten europäische Fördergelder stärker zur nachhaltigen Qualifizierung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen insbesondere in strukturschwachen Regionen eingesetzt werden, lautet eine weitere Forderung. Deutlich wird auch, daß keine „allgemeingültigen Lösungen“ für alle Gesundheitsberufe gefunden werden können, deren Berufsbild, Ausübungsformen und Organisationsstrukturen äußerst vielgestaltig sind. So ist z. B. auf die besondere Stellung der Zahnärzte in Europa zu verweisen, die ihren Beruf zu 90 % selbständig in eigener Praxis ausüben. Im übrigen dürfte bilateralen Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten zur Beseitigung von Unterversorgung durch Nutzung etwaiger Überschüsse an Ärzten und Krankenpflegepersonal in anderen Mitgliedstaaten der Vorzug vor EU-weiten Konzepten zu geben sein.277 Als weitere sinnvolle Option wird die sog. Zirkuläre Migration von Arbeitskräften im Gesundheitswesen genannt, die es ausländischen Fachkräften ermöglicht, nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Man verspricht sich davon, daß ausländisches Gesundheitspersonal, das in EU-Staaten ausgebildet wurde, nach der Rückkehr nicht nur zu einer Verbesserung der Versorgung in den Heimatländern beiträgt, sondern ein wichtiges Netzwerk bildet, auf das Internationalisierungsstrategien aufbauen können. Im übrigen stehen mit den EU-Programmen Erasmus, Leonardo und Sokrates bereits sinnvolle Ansätze zur Förderung der Aus-, 276
Gemäß Angaben des Council of European Dentists. Zur deutschen Entwicklung des Anteils weiblicher Berufsangehöriger s. Statistisches Jahrbuch der Bundeszahnärztekammer 2008/2009, S. 114. 277 s. Spielberg, ZM 15/2009, 79.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Fort- und Weiterbildung zur Verfügung, die sich auch auf die Gesundheitssysteme anwenden ließen. Die im Rahmen des von der Kommission zum Grünbuch eingeleiteten Konsultationsprozesses abgegebenen Stellungnahmen der europäischen Gesundheitsberufe278 lassen erkennen, daß wesentliche Zukunftsherausforderungen in Fragen des sog. „Skill mix“ (Frage der Aufwertung nicht-ärztlichen Hilfspersonals mit dem Ziel einer Erweiterung der quasi-ärztlichen Tätigkeit vor allem in strukturschwachen Regionen der EU), der Bedeutung der Bachelor- und Masterabschlüsse im Bereich der Gesundheitsberufe sowie im Verhältnis des Grünbuches zu Fragen der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen liegen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuß (EWSA) betont in seiner Stellungnahme zum Grünbuch über Arbeitskräfte des Gesundheitswesens in Europa279 die Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, um Gesundheitsberufe für junge Menschen attraktiver zu gestalten, damit diese vermehrt Gesundheitsberufe ergreifen. Der EWSA empfiehlt die Schaffung ausreichender personeller Kapazitäten im Gesundheitswesen, um den Pflegebedarf abdecken zu können und Vorsorge, Gesundheitsförderung und Prävention zu stärken. Der unerwünschten Abwanderung von Gesundheitsfachkräften in andere Länder kann nach Meinung des Ausschusses durch eine höhere Entlohnung, bessere Arbeitsbedingungen und ggf. neue Verantwortungen entgegengewirkt werden. Berufliche Kompetenzerweiterungen bedingen die entsprechenden Qualifikationen, wodurch auch allgemein die Attraktivität des Gesundheitssektors erhöht würde. Der Einsatz neuer Technologien im Gesundheitswesen, die zu einer Entlastung der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen führen, die Qualität der Leistungserbringung erhöhen und die Patienten unterstützen, sei zu fördern. Der EWSA ist sich bewußt, daß dies dazu führen kann, daß die Funktionsweise der Verantwortungskette im medizinischen Bereich erneut überdacht werden muß. Er betont die wichtige Rolle von Sozialstandards zur Sicherung einer hohen Versorgungsqualität in der Patientenversorgung und der Patientensicherheit und erteilt allen Versuchen, diese aufzuweichen, eine klare Absage (kein „race to the bottom“), wobei er die herausragende Rolle der Sozialpartner und des sozialen Dialogs bei der Gestaltung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sowie der Qualifizierung für die Arbeitskräfte des Gesundheitswesens hervorhebt. In diesem Kontext begrüßt der EWSA in seiner Stellungnahme280 zur Mitteilung der Europäischen Kommission bezüglich der Telemedizin281 die Kommissionsmitteilung, mit der die Mitgliedstaaten zur Aufnahme von e-Health-Infrastrukturen und Telemedizin282 in ihre Gesundheitspolitik angehalten werden sollen, und fordert die 278
http://ec.europa.eu/health/phsystems/results_oc_workforce_eu.htm. CESE/2009/1208. 280 CESE/2009/1197. 281 KOM (2008), 689 endg. 282 Vgl. zu den Aktivitäten der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf den Gebieten von e-Health bzw. Telematik und Telemedizin zum integrierten Einsatz von Informations- und Kommuni279
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die in der Kommissionsmitteilung empfohlenen Maßnahmen konsequent und zeitnah umzusetzen. Nach Meinung des Ausschusses kann und darf die Telemedizin die medizinische Behandlung nicht ersetzen, sie sollte stattdessen als ergänzendes Verfahren betrachtet werden, bei dem die für jedwede medizinische Handlung geltenden Rechte und Verpflichtungen Anwendung finden. Die Entwicklung der Telematik und Telemedizin zum Vorteil der Patienten, der Sozialversicherungssysteme und der Bürger müsse daher im Rahmen der allgemeinen Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung erfolgen, wobei eine Definition der Anwendungsbereiche und die Schaffung einer soliden Rechtsgrundlage für die Telematik bzw. Telemedizin erforderlich seien. Positiv bewertet wird der Vorschlag, eine europäische Plattform für die Mitgliedstaaten einzurichten, über die sie Informationen über geltende nationale Rechtsvorschriften für die Telemedizin austauschen können. Der Ausschuß fordert außerdem die Europäische Kommission zur Förderung von Informationskampagnen im Hinblick auf die Nutzung dieser neuen Technologien auf, wobei Zielgruppen sowohl die Angehörigen der Gesundheitsberufe als auch die Bevölkerung sein sollten, um das Vertrauen der Anwender zu stärken.283 b) Anforderungen eines patientenzentrierten und qualitätsorientierten Gesundheitswesens in Europa Auf europäischer Ebene gewinnen Fragen des Verbraucher- und Patientenschutzes und der aktiven Qualitätskontrolle durch den Klienten bzw. Patienten im Spannungsfeld von Wettbewerbsparametern und Marktmechanismen immer größere Bedeutung. Der Orientierungsrahmen für diesen Politikbereich im Kontext von Deregulierung, Dienstleistungsqualität und Verbraucherschutz bzw. Patientensicherheit spiegelt sich über die nationale Entscheidungsebene hinaus in der Willensbildung der EU-Organe und wird maßgeblich auch von der EuGH-Rechtsprechung mitgeprägt. Während in Kontinentaleuropa ein präventives System des Patienten- und Verbraucherschutzes – nicht zuletzt getragen von berufsständischen Selbstverwaltungsorganisationen – mittels Regelungen für Berufszugang und Berufsausübung existiert, wird in angelsächsischen Staaten überwiegend ein kompensatorisches System praktiziert. In diesen Ländern wird Verbraucherschutz vorwiegend nicht durch Prävention, sondern über Haftungsmechanismen angestrebt, die durch eine teilweise auf freiwilliger Basis beruhende Aufsicht privatrechtlicher Natur ergänzt wird. In der Regel werden Freiberufler nur bei Fehlverhalten mit dem Sanktionssystem konfrontiert, wobei weitere aufsichtsrechtliche Maßnahmen nur dann erfolgen, soweit Freiberufler sich einer meist nicht obligatorischen Berufsaufsicht unterwerfen. Allgemeingültige Standards oder Kriterien für die Ausübung berufsaufsichtsrechtlicher Maßnahmen mit verbindlichem Charakter gibt es häufig kationstechnologien in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung durch Koordinierung der Strategien und Abstimmung der Interoperabilitäts- und Standardisierungsfragen die Übersicht in GVG (Hrsg.), e-Health 2008 – Telematik kommt an. 283 Vgl. Eureport social 7 – 8/2009.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
nicht.284 Auch wenn sich bei den Heilberufen durch die in vielen EU-Staaten gewährleistete Aufsicht berufsständischer Organisationen die Qualitätssicherung und der Patientenschutz teilweise positiver darstellen als bei manchen anderen Freien Berufen, sind wirkliche oder vermeintliche Defizite der Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit der Patienten auch einer der Gründe dafür, daß immer wieder in den EU-Organen Pläne für ein verschuldensunabhängiges Dienstleistungshaftungsrecht diskutiert werden285, durch das die dienstvertragliche Arzthaftung unter Umkehr der Beweislast in eine werkvertragsförmige Garantiehaftung umgestaltet würde. Eine präventive Qualitätssicherungs- und Schadensvermeidungsstrategie durch Berufsregeln und –aufsicht ist einer nachgelagerten forensischen Schadenskompensation überlegen und vermeidet eine überzogene Defensivmedizin und exorbitante Berufshaftpflichtprämien, wie sie aus den angelsächsischen Ländern bekannt sind. Für eine solche präventive Konfliktvermeidungsstrategie haben sich gerade in Deutschland Einrichtungen der berufsständischen Selbstverwaltung wie Zweitmeinungsmodelle und außergerichtliche Gutachter- und Schlichtungsstellen bei Ärztebzw. Zahnärztekammern und Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen bewährt, die Patienten als Anlaufstelle eine Möglichkeit geben, ihre Rechte durchzusetzen. Die Behandlungsfehler-Statistik der Bundesärztekammer belegt, daß diese paraforensischen Gutachter-, Mediations- und Schlichtungsstellen zunehmend genutzt werden, um Behandlungsfehler zu überprüfen.286 Insofern ist das Schutzniveau des Patienten, das in Deutschland in verschiedenen Rechtskreisen des Zivilrechts, Heilberufsrechts und Sozialversicherungsrechts angesiedelt ist, relativ hoch; allerdings sind die rechtlichen Regelungen zum Teil kompliziert oder unübersichtlich und könnten durch eine Zusammenfassung transparenter und kohärenter gestaltet werden. Dies gilt sowohl für die nationale wie die unionsrechtliche Ebene. Entsprechende Gesetzgebungsprojekte der strukturellen Verbesserung und Erleichterung der Rechtsdurchsetzung werden seit Jahren in Deutschland und auf EU-Ebene in Angriff genommen und weisen in ihrer inhaltlichen Zielsetzung bemerkenswerte Parallelitäten auf: In der sog. Charta der Patien-
284 Zu den diesbezüglich „ambivalenten Beziehungen zwischen Freien Berufen und EU“ s. Oberlander, Der Freie Beruf 4/2010, S. 16 f. mit dem Hinweis, daß es in Europa somit eine Konkurrenz von Systemen gibt und es bei einem über die gesamte EU hinweg „harmonisierten“ Verständnis von Verbraucherschutz nicht nur einer Diskussion über Institutionen und Rechtsnormen bedürfe, sondern vor allem um Prinzipien und Handlungsmaximen für freiberufliche Dienstleistungen gehe, die für Individuen und Gesellschaft einen besonderen Stellenwert haben. Zu europäischen Anforderungen der Qualitätssicherung an das Berufsrecht der Freien Berufe s. S. Tiemann, WPK-Mitt. 1/2001, 1 ff., 4. 285 So zuletzt bei den parlamentarischen Beratungen über die Dienstleistungsrichtlinie in Anlehnung an den im Jahr 1994 zurückgezogenen Entwurf einer sog. Dienstleistungshaftungsrichtlinie (KOM (1990), 482 endg.); s. den Bericht über die Abstimmung im Binnenmarktausschuß des Europäischen Parlaments in Der Freie Beruf 11/2007, S. 25. 286 s. Ärzte-Zeitung v. 24.6.2010.
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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tenrechte vom 16.10.2002287, die durch eine von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe aus Vertretern der Patienten, der Heilberufe, Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, Verbraucherzentralen sowie des Gesundheits- und Justizministeriums mit dem Ziel erarbeitet wurde, die Patientenrechte transparenter zu machen, stehen das Behandlungsverhältnis, seine Qualität, die Bedeutung der Einwilligung des Patienten, seine Selbstbestimmung, Aufklärung und Information, Dokumentationserfordernisse, Persönlichkeits- und Vertrauensschutz, Beratungs- und Haftungsfragen im Mittelpunkt. Durch die Bestellung eines Patientenbeauftragten der Bundesregierung und Eckpunkte eines Patientenrechtegesetzes288, das schon der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion in seinem Jahresgutachten 2000/ 2001 gefordert hatte289 und dessen Qualitätsimplikationen im Jahresgutachten 2007 näher konturiert wurden,290 gewannen die diesbezüglichen politischen Vorstellungen konkrete Gestalt. Die kurz vor Ende der Legislaturperiode im Juni 2009 vorgelegten Vorschläge zielten darauf ab, • den Behandlungsvertrag zur Grundlage und zum Zentrum der Arzt-PatientenBeziehung zu machen, • die Selbstbestimmungsrechte des Patienten durch Information, Aufklärung und Einsichtsrechte in die Patientenakten zu verbessern, • die kollektiven Vertretungsrechte der Patienten nicht nur in Organen der gemeinsamen Selbstverwaltung, sondern auch auf der operativen Ebene der Krankenkassenaufgaben wie bei Vertragsverhandlungen zu stärken, • das Schadens- und Fehlermanagement zu intensivieren in Form von Unterstützungsaktivitäten der Krankenkassen, Dokumentations- und Meldepflichten für Behandlungsfehler, Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr über die bisherige Arzthaftpflicht-Rechtsprechung zum „groben Behandlungsfehler“ hinaus, • Informations- und Transparenzverbesserung bezüglich der Qualitätskriterien und Kosten der Behandlung. Zahlreiche dieser Vorschläge, die zum Teil auch Bestandteil einer angekündigten Patientenrechtegesetzgebung werden sollen291, korrespondieren mit den Zielset287
s. hierzu die Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz Nr. 54/02 v. 16.10.2002. 288 Vgl. Gesundheitspolitischer Informationsdienst 25/2009, 14 ff.; 14/2010, 11 ff. 289 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion, Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bd. I Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation; Bd. II Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege; Bd. III Über-, Unter- und Fehlversorgung, 2002. 290 Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Kooperation und Verantwortung – Voraussetzungen für eine zielorientierte Gesundheitspolitik, Bd. I, II, 2008. 291 s. zu den aktuellen Plänen für ein Patientenrechtegesetz den derzeitigen Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Zöller, in: Gesellschaftspolitische Kommentare 4/2010, S. 17 ff. Zur Forderung des 113. Deutschen Ärztetages in Dresden, Mai 2010, nach einer von
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
zungen und Ausgestaltungen der Entwürfe einer europäischen Patientenrichtlinie für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung292, die neben der Kodifizierung der diesbezüglichen EuGH-Rechtsprechung die Patientensicherheit und Qualität der Leistungen erhöhen soll. So ergeben sich Parallelitäten bezüglich der Einführung kollektiver Patientenrechte, die im EU-Richtlinienentwurf in Gestalt der Nationalen Kontaktstellen für Patienteninformation konturiert werden; die Stärkung der Patientenrechte gegenüber Finanzierungsträgern und Leistungserbringern durch Herstellung von Transparenz oder der Implementierung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen entspricht den Leitlinien zur Qualität und Informationsbeschaffung sowie den Europäischen Referenznetzwerken für Qualität und Sicherheit des EU-Richtlinienentwurfs ebenso wie die im seinerzeitigen Eckpunktepapier und aktuellen Gesetzgebungsplänen für ein Patientenrechtegesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Bekämpfung und Kompensation von Behandlungsfehlern durch eine obligatorische Berufshaftpflichtversicherung oder Beweiserleichterungen und Verbesserungen der Gutachterverfahren und Rechtsverfolgung.293 Auch auf dem Gebiet konkreter Qualitätssicherungsmaßnahmen zeichnet sich ein paralleles Vorgehen auf EU-Ebene und im deutschen Gesundheitswesen ab: Die EU-Arbeitsgruppe „Patientensicherheit und Qualität der Gesundheitspflege“ hat mehrere Papiere für eine EU-Qualitätsinitiative vorgelegt,294 die davon ausgehen, daß es eine Vielzahl von Qualitätsförderungsmaßnahmen in den Mitgliedstaaten gibt, daß jedoch die Qualitätsstrategie wie auch schon das Verständnis von Qualität in den Ländern sehr verschieden sind und vergleichende Informationen über die Qualität der Gesundheitsversorgung oder ein Austausch über best practice in den Mitgliedstaaten fehlen. Ziele einer möglichen EU-Qualitätsinitiative sollen darin bestehen, • ein gemeinsames Verständnis von Qualität in den Mitgliedstaaten zu erreichen, • politische und praktische Schritte zu Qualitätsverbesserungen einzuleiten bzw. zu fördern, • eine gemeinsame, vergleichbare Datensammlung zu generieren, Marktinteressen unabhängigen Patientenberatung, für die das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin Instrumente zur Qualitätssicherung von Patienteninformationen und Arztbewertungsportalen entwickelt hat, s. Gesundheitspolitischer Informationsdienst 14/2010, S. 11 f., 14. Vgl. auch die Einrichtung der Unabhängigen Patientenberatung in Deutschland durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) als Regelleistung für die Versicherten ab 1. 1. 2011. 292 s. dazu oben 3. Kap. II 2. 293 s. hierzu die Vorschläge bei Zöller, S. 17 für die Implementierung eines flächendeckenden Risikomanagement- und Fehlermeldesystems und zeitnahe Entscheidungen der Krankenkassen durch Fristenregelungen für Antragsbearbeitung, Untätigkeitsklagen oder die Sanktionierung der Verletzung von Verfahrensvorschriften. 294 s. z. B. das Reflexionspapier zur Qualität des Gesundheitswesens v. 18. 9. 2009 (s. dazu auch oben 4. Kap. I. 1. b)).
III. Die Folgen der Reformbestrebungen für die Freien Heilberufe
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• eine Kultur gegenseitigen Lernens in den Mitgliedstaaten zu etablieren. Um diese Ziele zu erreichen, werden vier Optionen vorgeschlagen, die unterschiedliche Verbindlichkeiten haben: • Nutzung bestehender Instrumente durch Weiterführung und -entwicklung bisheriger Programme, • Intensivierung und Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, z. B. die Einrichtung von Netzwerken, Informationsplattformen oder eines Europäisches Büros mit der Aufgabe einer Bestandsaufnahme, Bewertung, Informationsverbreitung und Beratung über Qualitätssicherungssysteme und Best Practice-Modelle, • Empfehlung des Rates an EU-Kommission und Mitgliedstaaten für wirksame Qualitätsverbesserungsstrategien, z. B. gemeinsame Qualitätsindikatoren, Dokumentationsblätter, Berichte, Informationsverbreitung, • Verabschiedung gemeinsamer EU-Qualitätsstandards für Mitgliedstaaten im Rahmen bestehender europäischer Gesetzgebung unter Einbindung des europäischen Ausschusses für Normung CEN. Die verbindliche Festlegung einheitlicher europäischer Qualitätsstandards für das gesamte Gesundheitswesen ließe sich wohl kaum von der Ermächtigungsnorm des Art. 168 Abs. 2 AEUV legitimieren, sondern geriete in einen deutlichen Zielkonflikt mit der in Art. 168 Abs. 7 AEUV anerkannten originären Gestaltungsverantwortung der Mitgliedstaaten. Daß gleichwohl eine gewisse Wechselwirkung zwischen den EU-Initiativen und nationalen Aktivitäten auf dem Gebiet der Qualitätssicherung festzustellen ist, zeigt die Einführung der gesetzlichen Qualitätssicherungsaufträge – in §§ 137, 137a SGB V durch das GKV-WSG v. 1. 6. 2008 – an den Gemeinsamen Bundesausschuß für einrichtungsübergreifende, an der Ergebnisqualität ausgerichtete Maßnahmen zur sektorenübergreifenden Qualitätssicherung und zur Umsetzung der Qualitätssicherung in Gestalt von Verfahren zur Messung und Darstellung der Versorgungsqualität.295 Durch die vom GBA am 19. 4. 2010 beschlossenen Richtlinien für die Qualitätssicherung296 mit dem „Ziel, die Ergebnisqualität zu verbessern, valide und vergleichbare Erkenntnisse über die Versorgungsqualität der Leistungserbringung zu gewinnen und damit die Selbstbestimmung der Patienten zu stärken“, sollen „eine Bewertung der Auffälligkeiten und Durchführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen“ erfolgen und entsprechende Aktivitäten ermöglicht werden, die von einem „Stellungnahmeverfahren“ mit Beratungsgesprächen über „Vereinbarungen“ zu Fortbildungen bis hin zu Sanktionen wie Vergütungsabschlägen reichen.
295 Zur Richtlinienkompetenz des GBA für Qualitätssicherung s. Becker, in: Becker/Kingreen, SGB V – GKV, § 137, 137a SGB V. 296 s. Internetseite des GBA, www.g-ba.de, Unterausschuß Qualitätssicherung.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
Die Parallelität der sich auf dem Gebiet der Qualitätssicherung und Patientenrechte abzeichnenden funktionsteiligen nationalen und unionsrechtlichen Normsetzung kann eine Übersichtlichkeit und Durchschaubarkeit der diesen Sektor bestimmenden Rechtsnormen fördern, läßt aber nicht übersehen, daß zum einen gerade das deutsche GKV-System und Sachleistungsprinzip einer Selbstbestimmung des Patienten Grenzen setzt und daß eine Überregulierung der Arzt-Patienten-Beziehung eher kontraproduktiv ist. Das Alles- oder Nichts-Prinzip der Sachleistungsstrukturen mit ihren kollektivvertraglichen Einbindungen und der Reduzierung der Vertragsbeziehungen zwischen Arzt und Patient auf ein haftungsrechtliches Sorgfaltspflichtverhältnis haben eine synallagmatische private Rechtsbeziehung substantiell ausgedünnt. Die zunehmende sozialrechtliche Regelungsdichte durch immer wiederkehrende Gesetzesinterventionen haben die Entscheidungsfreiheit von Arzt und Patient tendenziell eingeschränkt und von der Individualbeziehung auf externe Institutionen und kollektive Regelungen verlagert, wobei ökonomische Vorgaben die Rahmensetzung sowohl für Wahlrechte des Patienten als auch Therapieentscheidungen des Arztes präformierten.297 Zwar ist durch die Freiheit der Kassenwahl und die Implementierung von Wahlund Zusatztarifen der Selbstbestimmungsradius des sozialversicherten Patienten in jüngerer Zeit erweitert worden; inwieweit durch Selektivverträge in Zukunft neue Entscheidungsräume eröffnet werden oder neue Abhängigkeiten durch Einschränkung der freien Arztwahl entstehen, bleibt abzuwarten.298 Ebensowenig dürfte den Patienteninteressen durch eine dem deutschen Dienstvertrags- und Arzthaftungsrecht fremde garantieförmige Haftung bzw. Beweislastumkehr – entsprechend dem seinerzeit gescheiterten EU-Entwurf einer Dienstleistungshaftungsrichtlinie – gedient sein, wenn man Defensivmedizin und kostentreibende Versicherungsprämien vermeiden will. Dem begrüßenswerten Anliegen der Transparenzverbesserung würde am ehesten eine Einführung von Kostenerstattungsformen in das Leistungsrecht entsprechen und sich als wesentlich effizienter erweisen als bloße Informationsformen, die – nachweislich bisheriger Erfahrungen mit Versichertenansprüchen auf Quittungserteilung – auf begrenztes Interesse stoßen und den bürokratischen Aufwand erhöhen.299 Entscheidend bleibt, daß sinnvolle und wünschenswerte Maßnahmen der Transparenz- und Qualitätsverbesserung nicht den Kernbereich des „höchstpersönlichen Vertrauensverhältnisses“300 der Arzt-Patienten-Beziehung durch Überregulierung 297
s. dazu B. Tiemann, MedR 1983, 176 ff., 179 ff.; ders., VSSR 1994, 407 ff., 412 ff.; Schüffner/Schnell, Die Hypertrophie des ärztlichen Sozialrechts sowie die Hinweise oben 4. Kap. III. 1. c), d), 2 b). 298 Zu Elementen eines Vertragswettbewerbs zwischen den Krankenkassen und seinen Auswirkungen auf die Versicherten Sodan, NJW 2007, 1313, 1315; Wigge/Harney, MedR 2008, 139 ff. 299 s. dazu oben 4. Kap. III. 2. a). 300 So eine Formulierung des BVerfG, 1 BvL 2/04, Rn. 95, zit. in: BFB, Leitbild des Freien Berufs 2009, S. 23.
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und Pseudo-Justiziabilität erodieren, die weniger der Rechtsdurchsetzung und Qualitätsverbesserung als einer „Kultur des Mißtrauens“ und verantwortungslähmender formaler Absicherung dienen.301 c) Wandel des freiberuflichen Selbstverständnisses und Neubestimmung des Identitätsprofils im Kontext nationaler und europäischer Reformen Der Realbefund des aktuellen Rollenwandels Freier Heilberufe aufgrund des skizzierten Sozialstaatsumbaus in Deutschland und Europa und des Entstehens einer globalisierten Dienstleistungsgesellschaft mit zum Teil gegenläufigen Tendenzen partieller Liberalisierung bei Zunahme staatswirtschaftlicher Bindungen, der Deregulierung bei gleichzeitiger Versozialrechtlichung, der Wettbewerbsöffnung unter asymmetrischen Rahmenbedingungen einer ordnungspolitisch unausgewogenen Wettbewerbsordnung, der Dienstleistungsorientierung bei teilweisen Restriktionen privatautonomer Gestaltungsfreiheit ist zwiespältig, weil ein inkohärenter Systemmix von liberalen und staatsdirigistischen Versatzstücken entstanden ist, der ergebnisoffen in jedem Fall zu einer stärkeren Diversifizierung der Freien Heilberufe führen wird. Dies ist nicht nur eine Folge gesetzgeberischer Aktivitäten der Sozialstaatsmodernisierung, sondern auch außerrechtlicher und paraökonomischer, zum Teil sozialmedizinischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, die den Rollenwandel der Freien Heilberufe prägen. Neben der hochgradigen Technisierung, Globalisierung und Spezialisierung des „Medizinbetriebs“ wirkt sich der Paradigmenwechsel von der kurativen Medizin zur Präventionsorientierung302 ebenso auf das Rollenverhalten der Patienten und Heilberufler aus wie das erheblich gestiegene Gesundheitsbewußtsein, der Anspruchs- und Erwartungshorizont der Patienten gegenüber der modernen hochleistungsorientierten medizinischen Versorgung in einem dynamisch wachsenden Gesundheitsmarkt303, die stärkere Einbeziehung des Patienten in den therapeutischen Prozeß durch shared-decision und compliance, schließlich auch die zunehmenden wissenschaftlichen und forensischen Legitimationsanforderungen an Diagnostik und Therapie im Zeichen einer evidence-based medicine/dentistry304, die steigende Qualitäts-, Fort- und Weiterbildungsanforde-
301 s. auch den berechtigten Hinweis bei Zöller, S. 17, daß ein Patientenrechtegesetz kein Allheilmittel für ein gutes Gesundheitswesen ist und daß partnerschaftliche Kommunikation, ein respektvoller Umgang mit den Patienten, ein Vertrauensverhältnis zwischen Patienten, Ärzten und medizinischem Personal nicht durch Gesetzesanordnung, sondern nur durch ein Miteinander entstehen kann. 302 s. dazu Wagner, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 104 ff. 303 Vgl. Schwarz (S. 169 ff.), Oberender/Zerth (S. 187 ff.) in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1; Wille/Knabner (Hrsg.), Qualitätssicherung und Patientennutzen, 2010. 304 s. Evidence-Based Dentistry, hrsg. v. Institut der Deutschen Zahnärzte, 2003.
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4. Kap.: Zukunftsperspektiven der Europäisierung des Gesundheitswesens
rungen an den Heilberufler stellt,305 bis hin zum Fehlermanagement, das die für die Vertrauensbeziehung unerläßliche Transparenz schaffen soll. Impulse für Strukturveränderungen gehen auch von einer stärker ressourcengesteuerten Outcome-Orientierung im Gesundheitswesen aus, die den Mitteleinsatz anhand von Preis- und Qualitätsparametern an der medizinischen Nutzen- und Ergebnisrelation mißt.306 Diese stärkere Outcome-Orientierung im Kontext der intendierten Stimulation des Preis- und Qualitätswettbewerbs ist nicht zuletzt eine Triebfeder der vom GKV-WSG initiierten „Statuspassage“ vom „zugelassenen“ Kassenarzt zum kontraktuell gebundenen „Vertrags-Arzt“, der in vielfältiger Form vertragliche Beziehungen zu Kostenträgern eingehen und seine Berufsausübungsform als Einzelpraxis, im – zum Teil interprofessionellen – Personenverbund und in gesellschaftsrechtlichen Kooperationsformen lokal oder überregional gestalten kann. Zu beobachten ist ferner, daß mehr als früher Freiberufler und auch Angehörige der Freien Heilberufe multifunktional in verschiedenen abhängigen und selbständig ausgeübten Tätigkeitsformen zum Teil auch außerhalb der durch das Berufsrecht erfaßten Vorbehaltsaufgaben gewerblich tätig werden. Dies trifft nicht nur auf Rechtsanwälte als Syndikusanwälte, Unternehmens- oder Anlageberater, sondern auch auf Ärzte als Gesundheitsmanager, Pharma- oder Krankenkassenberater, Angestellte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit Teilzeitpraxis oder Zahnärzte als Betreiber von zahntechnischen Labors zu.307 Die Mischung von freiberuflichen Aktivitäten mit gewerblichen, von selbständigen Betätigungsformen mit denen eines Angestellten oder sogar Beamten läßt das Profil des Freien Berufes oft diffus erscheinen. Mit den skizzierten berufssoziologischen Veränderungen und dem Wandel der Gesetzeslage hat sich auch das Selbstverständnis mancher Angehöriger der Freien Heilberufe und ihrer Organisationen gewandelt. Tradierte Standesregeln wie Vorschriften über Werbung, Preisregulierung oder sozialethische Verpflichtungen sind durchaus in den jeweiligen Berufsständen nicht mehr opinio communis, sondern werden zum Teil von Erwartungen weiterer Liberalisierung insbesondere bezüglich Preis- oder Wettbewerbsbeschränkungen überlagert, wodurch – unter den Zwängen eines sich verschärfenden Wettbewerbs – Vergewerblichungstendenzen gefördert werden.308 Die Zurückführung des Leistungskatalogs der GKV im Zuge des Sozialstaatsumbaus läßt neben der sachleistungsgeprägten Grundversorgung einen Gesundheitsmarkt entstehen, der, wie bei den IGEL-Leistungen der Vertragsärzte oder den befundorientierten Festzuschüssen im Rahmen der prothetischen vertragszahn305 Vgl. Engel (S. 219 ff.), Butz (S. 131 ff.), in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1; Schrappe (S. 11 ff.), Munte (S. 29 ff.), Jonitz (S. 37 ff.), Weitkamp (S. 55 ff.), Hermann (S. 65 ff.) in: Wille/Knabner (Hrsg.), Qualitätssicherung und Patientennutzen. 306 s. dazu Rychlik (S. 495 ff.), Scriba (S. 503 ff.) in: Ulrich/Ried (Hrsg.), Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen; Pitschas, Speyerer Zahnärzte-Symposium. 307 s. Kluth, NZB 2008, 6 ff. 308 Zu Vergewerblichungs- und Kommerzialisierungstendenzen der Heilberufe s. Gesellensetter, S. 143 ff., 150 ff.
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ärztlichen Versorgung oder den Rabattleistungen der Apotheker, einen „Verkaufswettbewerb“ induziert und den Heilberufler aus der Position des Zuteilers und Mittelbewirtschafters von Kassenleistungen zum Marktakteur als Vertragspartner des Patienten werden läßt. Ein anderer EU-weit zu beobachtender „Mainstream“ des Rollenwandels wird durch die zunehmende Zahl abhängig beschäftigter Freiberufler gekennzeichnet, die sowohl in multinational operierenden Anwaltskanzleien als auch in Kliniken, Ärztehäusern und Medizinischen Versorgungszentren309 anzutreffen sind. Der genderbezogene Strukturwandel durch die Feminisierung vieler Freier Berufe, insbesondere auch fast aller Heilberufe310, mit den Wünschen weiblicher Berufsangehöriger nach Vereinbarkeit von familiären Anforderungen mit Erwerbstätigkeit in Form von Teilzeitbeschäftigung verstärkt diesen Trend zu arbeitnehmerförmiger Freiberuflichkeit. Interdisziplinäre Kooperationsformen und Kapitalgesellschaften bieten neue Chancen multiprofessioneller Selbstverwirklichung, aber auch Risiken neuer Abhängigkeiten von Kapitalgebern.311 Die Gestaltungsfreiheit bei der Bestimmung der Organisationsform freiberuflicher Berufsausübung wirkt auch auf die Beziehung zum Patienten zurück. Unklare Verantwortungs- und Kompetenzzuweisung, Intransparenz und Anonymisierung der Vertrauensbeziehung von Arzt und Patient in medizinischen Großorganisationen sind gegen den Zugewinn an fachlicher Kompetenz und infrastruktureller Perfektion abzuwägen. Die Problematik der Wahrung der Eigenverantwortlichkeit und fachlichen Unabhängigkeit des Berufsangehörigen in kollektiver Berufsausübungsform verlagert sich also in binnenstrukturelle Organisationsanforderungen an freiberuflichkeitsadäquate Rahmenbedingungen, die solche Organisationseinheiten als Mediatisierungsagenturen freiberuflicher Dienstleistungen ausweisen sollten. 309
Zu Medizinischen Versorgungszentren im Gefüge des Krankenversicherungsrechts und ihren Auswirkungen auf die Vorrangigkeit der Freiberuflichkeit als Organisationsprinzip s. Orlowski, Gesundheits- und Sozialpolitik 11 – 12/2004, 60 ff.; Ziermann, MedR 2004, 540 ff. 310 Zu genderstrukturellen Veränderungen in ihren Auswirkungen auf das berufliche Selbstverständnis und den Berufsalltag der Heilberufe s. Olbertz, ZM 2008/98/11, S. 88 ff.; zur Vereinbarkeit von Medizinstudium, Beruf und Familie s. Der Freie Beruf 6/2010, 26 ff.; zur Entwicklung des Frauenanteils an der zahnmedizinischen Profession s. exemplarisch Statistisches Jahrbuch der Bundeszahnärztekammer 2008/2009,114; zu den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Zahl der Berufsangehörigen, die nicht in eigener Niederlassung, sondern als Angestellte arbeiten, deren Anteil sich zwischen 2007 und 2008 fast verdoppelt hat, s. KZBV (Hrsg.), Jahrbuch 2008 – Statistische Basisdaten zur vertragsärztlichen Versorgung. 311 Zu Gefahren einer Fremdbestimmung in Kapitalgesellschaften, die als eigene juristische Personen zum Beruf zugelassen sind, wenn nicht die Berufsträger selbst als Kapitalgesellschafter, Vorstände oder Geschäftsführer fungieren, s. Der Freie Beruf 3/2008, S. 5 ff. in kritischer Auseinandersetzung mit entsprechenden Deregulierungsforderungen des 16. Hauptgutachtens der Monopolkommission. Zu den gewerbesteuerrechtlichen Konsequenzen s. die Entscheidung des BVerfG v. 24. 3. 2010 (1 BvR 2130/09), in der das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Gewerbesteuerpflicht einer Freiberufler-GmbH bestätigt, weil die Tätigkeit einer Kapitalgesellschaft nach § 18 EStG keine freiberufliche Tätigkeit, sondern Ausübung eines Gewerbebetriebes sei, s. Der Freie Beruf 6/2010, 23.
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Alle diese vielschichtigen, zum Teil gegenläufigen und widersprüchlichen Entwicklungen machen eine eindeutige professionsübergreifende Standortbestimmung oder puristische Abgrenzung der Freiberuflichkeit gegenüber verwandten qualifizierten Berufsbildern in Zukunft noch schwerer. So unstreitig berufliche Qualifikation, fachliche Unabhängigkeit und persönliche Verantwortung oder Vertrauensbindung und Gemeinwohlorientierung zu den typusprägenden Merkmalen der Freiberuflichkeit zählen, so wenig sind diese Kriterien Alleinstellungsmerkmale der Freien Berufe oder auch nur allen Freien Berufen in gleicher Weise eigen. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Freien Berufe und der Unschärfe der Begrifflichkeit wird daher immer häufiger die Forderung nach einer Neubestimmung des Identitätsprofils der Freien Berufe erhoben, auch im Hinblick darauf, daß sich insbesondere die abnehmende Zahl Selbständiger und die Zunahme von Anstellungsverhältnissen als offene Flanke der Freiberuflichkeit erweisen könnte. Daß mit Letzterer automatisch eine Angestelltenmentalität und schwindendes Eigenverantwortungsbewußtsein verbunden sind, kann nicht ohne weiteres unterstellt werden. Daß aber die unternehmerisch-mittelständische Komponente des Freien Berufs als eine das Berufsbild in der gesellschaftlichen Wahrnehmung prägende Kraft damit schwindet und die Kultur der Selbständigkeit, die zum unvordenklichen Traditionsbestand der artes liberales zählt, in den Hintergrund treten könnte, läßt sich wohl nicht ganz von der Hand weisen. Die Schwierigkeit, das Leitbild des Freien Berufes auf ein allgemeingültiges und europaweit verbindliches „Kern-Leitbild“ zu reduzieren, wie es zum Teil gefordert wird,312 besteht darin, das Proprium des Freien Berufes, seine typischen „Essentials“ zu definieren, ohne den Bestand der Wesensmerkmale zu minimieren oder die Kriterien beliebig und profillos werden zu lassen. Jedenfalls erscheinen als substanzwahrende Freiberuflichkeitsmerkmale in deutscher wie europäischer Dimension unverzichtbar: • der Erhalt der Vertrauensbeziehung zum Patienten/Klienten gegenüber Staatseingriffen auf der einen, Vergewerblichungstendenzen auf der anderen Seite, • das Weiterbestehen hoher Qualifikationsanforderungen an die Aus- und Weiterbildung gegenüber Tendenzen der Nivellierung der Berufsqualifikationen infolge des Bologna-Prozesses, • die Pflicht zur persönlichen und unabhängigen Leistungserbringung und Beschränkung der Delegationsmöglichkeit an Minderqualifizierte im Gegensatz zu Weisungsgebundenheit gegenüber Kapitalgebern und Verantwortungsvermischung in Großorganisationen, • die Beschränkung der Organisationsformen beruflicher Betätigung bei Nutzung von Kapitalgesellschaften auf Berufsträger, die durch die Mitgliedschaft in Berufskammern dem Berufsrecht und der Berufsaufsicht verpflichtet bleiben statt
312 s. dazu Kluth, NZB 2008, 6 f.; Bundesverband der Freien Berufe, Leitbild der Freien Berufe 2009, 2009.
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fremdprofessioneller Kapitaleigner mit ausschließlichen Renditemaximierungsinteressen, • eine Wettbewerbsordnung, die freiberuflichen Kriterien entspricht bezüglich Preisregulierung, kollektiven Berufsausübungsformen, Werberegelungen im Gegensatz zu kassendominierten Einkaufsmodellen. Wesentlich für die Berufs- und Leitbildentwicklung der Heilberufe erscheint ferner, daß angesichts der Pluralität freiberuflicher Berufsausübung stärker typenspezifisch differenziert wird, wenn über rechtliche Anforderungen oder ökonomische und gesellschaftliche Problemlagen der Freien Berufe diskutiert wird. Auch wenn die gemeinsame Schnittmenge in einem Kern-Leitbild definiert werden kann, muß die typenspezifische Betrachtung sich den konkreten Funktionsbedingungen des einzelnen Berufstyps zuwenden und hinterfragen, welche Anforderungen die Freiberuflichkeit an das jeweilige Berufsbild stellt. Dies bedeutet für die Freien Heilberufe insbesondere die Frage nach dem konkreten Rechtsgehalt der Freiberuflichkeit im Spannungsfeld sozialstaatlicher Bindungen und einer neuen Wettbewerbsorientierung im Hinblick auf die grundgesetzlichen Gewährleistungen der Berufs- und Handlungsfreiheit, des Eigentumsschutzes, der Verhältnismäßigkeit und nach den rechtsstaatlichen Schranken gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit im dynamischen Prozeß des Sozialstaats- und Berufsbildwandels.313
d) Freiberuflichkeit als Ferment einer europäischen Zivilgesellschaft und eines freiheitlichen Gesundheitswesens Dabei zeigt sich, daß die Problemzonen und Gefährdungspotentiale für die verschiedenen Freien Berufe einerseits, die Freien Heilberufe andererseits und innerhalb der jeweiligen Heilberufe selbst unterschiedlich sind: Während für die Berufsangehörigen im Anstellungsverhältnis die Einschränkung freiberuflicher Unabhängigkeit aus der Direktionsbefugnis der Arbeitgeber – sei es Angehörigen der eigenen Profession oder des Organisationsmanagements – resultieren kann, besteht gerade bei den selbständigen Freien Heilberufen das größte Bedrohungspotential für ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit durch staatsinterventionistische Reglementierung und Verdrängungswettbewerb zwischen den Mühlsteinen der staatswirtschaftlichen Versozialrechtlichung und merkantilen Vergewerblichung.314 Gerade die Selbständigkeit ist aber nicht nur eine tragende Grundlage und Voraussetzung vieler Ausübungsformen der Freiberuflichkeit besonders im Gesundheitswesen, sondern bleibt für die gesellschaftliche Rolle der Freien Berufe in einer 313 Zu diesen konkreten und spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen s. B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 54 ff., 56; Tettinger, NWVBl 1/2002, 20 ff. 314 s. dazu B. Tiemann, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 56 ff.
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freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar. Weit über die rechtstechnische Ausgestaltung Freier Heilberufe hinaus prägen Eigenverantwortung, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit sowohl das Selbstverständnis vieler Freiberufler als auch die Rollenerwartung ihrer Patienten und Klienten. Freie Heilberufe bewirken einen über ihr berufliches Wirken im eigentlichen Sinne hinausgehenden sozialethischen, sozialökonomischen und sozialkulturellen Mehrwert für die Gesellschaft: Ihre berufsethische und gemeinwohlbezogene Verpflichtung, die sich selbststeuernd durch ihre Berufsorganisationen realisiert, vermeidet die globalisierungsbedingten Steuerungsverluste der staatlichen Rechtsordnung gegenüber mulitinationalen Konzentrationsprozessen. Der mittelständische Charakter freiberuflicher Praxen mit ihrer Orts- und Bürgernähe stiftet einen sowohl von Sozialstaats- wie Marktideologen häufig unterschätzten sozial-ökonomischen Nutzen durch innovativ-bedarfsorientierte und arbeitsmarktpolitisch flexible Wettbewerbsstrukturen gegenüber wettbewerbsfeindlichen zentral gesteuerten Oligopolen, wie sie bei Einkaufsmodellen der Krankenkassen oder der Bildung fremdfinanzierter Klinik- oder Apothekenketten entstehen können.315 Auch der sozial-kulturelle Wert selbstbestimmter und zugleich sozialethisch verpflichteter Freiberuflichkeit mit ihrem eine dynamische Gesellschaft prägenden Kreativitäts- und Innovationspotential wird bei einer rein staats- oder wettbewerbszentrierten Betrachtungsweise zu wenig beachtet. Die Verwurzelung des selbständigen Freiberuflers mit seiner mittelständischen Anwaltskanzlei, Arzt- bzw. Zahnarztpraxis oder Apotheke in einer lokalen oder regionalen Struktur erschließt nicht nur Beschäftigungs- und Investitionspotential, sondern wirkt auch als gesellschaftlich stabilisierendes Element, weil es gerade freiberuflichem Selbstverständnis und besten Traditionen Freier Berufe entspricht, sich über den Wirkungskreis des eigenen Berufs hinaus für Belange der Gemeinschaft in politischer, sozialer oder kultureller Hinsicht zu engagieren. Die Verbundenheit des Freiberuflers mit seinem Patienten/Klienten und seiner Lebenswelt in ihrem sozialen und regionalen Umfeld wirkt gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen entgegen. Dies gilt in besonderem Maße für die ethischen Bindungen der Freien Berufe angesichts einer viel beklagten Erosion des allgemeinen Wertefundus und von auf gesellschaftlichem Grundkonsens beruhenden Einstellungs- und Verhaltensnormen.316 Aus der persönlichen Zuwendung und Verantwortung für seine Patienten/Klienten, die eingebunden ist in eine spezifische Gemeinwohlbindung, erwächst damit ein Potential, das anonymen staatswirtschaftlichen oder kapitalgesteuerten Großorganisationen überlegen ist. Bei der Frage nach der Zukunft der Freien Heilberufe steht also mehr auf dem Spiel als das Schicksal einzelner Berufsgruppen im Wandel einer globalisierten Dienstlei315
Auf diese von Politik und Wissenschaft häufig vernachlässigte Wahrnehmung und Anerkennung der Rolle der Freien Berufe als gesellschaftliche Stabilisatoren weist auch Kluth, NZB 2008, 7 hin. 316 Zur Bedeutung ethischer Handlungsmaximen und Werteorientierungen auch und gerade im Kontext wettbewerblicher Herausforderungen s. L. Mohn/B. Mohn/Weidenfeld/Meier (Hrsg.), Werte. Was die Gesellschaft zusammenhält, 2007.
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stungsgesellschaft; es geht um die Bewahrung elementarer Rechtsgüter und Wertehaushalte einer freiheitlichen Gesellschaft, die auf die Kultur der Selbständigkeit und wertethischen Verantwortung nicht verzichten kann. Dieses Anliegen bildet auch das Leitmotiv der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. 12. 2003, „daß die Freien Berufe Ausdruck einer auf dem Gesetz beruhenden demokratischen Grundordnung sind und insbesondere ein wesentliches Element der europäischen Gesellschaften darstellen“317. Darüber hinaus unterstreicht das Parlament, daß die Freien Berufe einen „Stützpfeiler des Pluralismus und der Unabhängigkeit der europäischen Gesellschaft“ darstellen und Aufgaben im öffentlichen Interesse wahrnehmen, die insbesondere dem Verbraucherschutz und der Qualität der Dienstleistungen dienen, wobei den Freien Berufen des Gesundheitswesens im Hinblick auf die Bedeutung und Einhaltung der Grundsätze des Art. 152 EGV (jetzt: Art. 168 AEUV) eine besondere Rolle zugewiesen wird.318 Die Freien Berufe und insbesondere auch die Heilberufe haben unter den Auspizien der europäischen Rechtsentwicklung durchaus eine Entfaltungs- und Entwicklungsperspektive, insbesondere wenn es gelingt, ihren unverzichtbaren Wert für eine qualifizierte Leistungserbringung in personaler Vertrauensbeziehung und damit ihre gesellschaftspolitische Relevanz für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung unter Beweis zu stellen. Gerade auch die Tradition der deutschen sozialen Selbstverwaltung319 und die Selbstverwaltungsstrukturen der Freien Heilberufe320 fügen sich – unbeschadet einer immer wieder aufflammenden Korporativismuskritik – in das Werte- und Organisationssystem der EU ein, weil sie die Mitwirkung der Unionsbürger an staatlichen Aufgaben fördern und das von ihnen entwickelte Berufsrecht und Berufsethos Ordnungsfunktionen im Binnenmarkt besonders im Hinblick auf den Verbraucher- bzw. Patientenschutz übernehmen. Die vom Vertrag von Lissabon in Anlehnung an den EU-Verfassungsentwurf angestrebte Förderung demokratischer, freiheitssichernder Partizipation321 findet insofern im deutschen Modell 317
B5 – 0431, 0432/2003. Daß freiberufliche Dienstleistungen als „öffentliches Gut“ gelten und für die Gesellschaft als Ganzes von Bedeutung sind, hat auch die Europäische Kommission (KOM (2005), 405 endg., S. 5) hervorgehoben. Die Freien Berufe üben also nicht nur eine kommerzielle Tätigkeit aus, sondern erfüllen darüber hinaus eine Aufgabe für die Allgemeinheit. So steht der Heilberuf sowohl im Dienste des individuellen Patienten als auch der Gesundheit im Allgemeinen. Vgl. Bundesverband der Freien Berufe, Leitbild der Freien Berufe, S. 20. 319 Zu Formen, Aufgaben und Entwicklungsperspektiven des deutschen Modells der Selbstverwaltung der Sozialversicherung, der Gemeinsamen Selbstverwaltung sowie der berufsständischen Selbstverwaltung s. GVG (Hrsg.), Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung, 2007; Welti, VSSR 2006, 133 ff.; Klenk, ErsK 2006, 464 ff. 320 Zur Funktion der berufsständischen Selbstverwaltung in Deutschland und Europa s. B. Tiemann, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinze, S. 921 ff.; Tettinger, NWVBl 1/2002, 20 ff.; Hellwig, AnwBl. 4/2007, 257 ff.; Lörcher, BRAKMitt. 1/2008, 2 ff. 321 Vgl. z. B. Art. 11 EUV i. d. F. des Vertrages von Lissabon. s. dazu Fischer, Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 121. 318
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der freiberuflichen Selbstverwaltung mit seinen demokratisch legitimierten Mitwirkungsmöglichkeiten und seinem auf Subsidiarität, Sach- und Bürgernähe fußenden Deregulierungs- und Dezentralisierungspotential seine idealtypische Entsprechung.322 Die Einwirkungen des Rechts der Europäischen Union auf die Gesundheitsversorgung und die Freien Heilberufe in Deutschland müssen sich vor allem daran messen lassen, inwieweit sie dem Anspruch gerecht werden, diese bewährten Strukturen zu bewahren, sie weiterzuentwickeln und ihnen durch einen europäischen „Mehrwert“ neue Impulse zu verleihen, um sie im Interesse der Patienten, der Berufsangehörigen und des europäischen Gesundheitswesens zukunftstauglich zu machen.
322 s. dazu Tettinger, in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), 50 Jahre Bundeszahnärztekammer, S. 71 ff.; Kluth, in: Weißbuch der Zahnmedizin, Bd. 1, S. 882 ff.; B. Tiemann, Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union, S. 312 ff.; ders., in: Bundeszahnärztekammer (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wettbewerb und Regulierung, S. 23 ff., 45 ff.
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Sachwortverzeichnis Abrechnungssysteme, transnationale 279 Acquis Communautaire 301 Äquivalenzprinzip 151, 165, 168, 192, 196 Ärzte, angestellte 97, 215 ff., 218, 220 f., 223, 240, 254, 261, 285 f., 294, 325 f., 329 f., 332, 338, 346 f., 353 f., 356 ff., 361, 366, 378, 380 Ärzte, niedergelassene 97, 99, 132, 215 ff., 218, 220 f., 223, 240, 254, 261, 285 f., 294, 326, 329 f., 333, 338, 346 f., 353 f., 357 f., 361, 366, 376, 378, 380 Allgemeine Handlungsfreiheit 329, 357, 360, 379 Allgemeine Hochschuldiplomrichtlinie 132, 170, 213 f. Alte Menschen 106 f., 116, 119, 124, 309, 351, 366 Altersbegrenzungen 220, 330, 338 f. Altersrückstellungen 318 ff., 360 Altersvorsorge 159 f., 166, 233 f. Ambulante Behandlung 74, 78, 80, 85, 97, 108, 138, 141 f., 192 f., 201 f., 272, 277, 285, 288, 290, 355 Apothekenrecht 131 f., 307, 313, 316 f., 348 f. Apotheker 97, 99, 132 ff., 162, 164, 169 f., 172, 223, 254, 329 f., 346, 348, 380 Arbeitnehmer 37, 124, 129 ff., 193, 212, 232 ff., 377 Arbeitnehmerfreizügigkeit 188, 191, 212, 232 Arbeitslose 37, 57, 81, 105, 113, 117, 194, 296 Arbeitsmarktpolitik 37, 42, 53 Arbeitsschutz 37, 43 f., 65, 96 Arbeitsvermittlung 149 f. Armut 100 ff., 107 ff., 112, 120, 306 Arzneimittel 21, 49, 96, 98, 133, 135, 190, 193, 285, 287, 298, 348 Arzneimittelgenehmigungen 133 f. Arzneimittelversandhandel 134, 222, 313, 317
Arzneimittelversorgung 79 f., 108 ff., 132 ff., 162, 170, 172, 193, 201, 245, 254, 288, 291, 294 Arztwahl, freie 74, 173, 267, 274, 334 Aufenthalt 129 f., 194, 203, 215, 268 Auftraggeber, öffentlicher 182 ff. Ausgleichszahlungen 186 Ausschreibungsverpflichtung 181 ff., 290 Ausschuß der Regionen 30 f., 34 Basistarif 107, 167 f., 244, 246, 318 f., 360 Bedarfsplanung 23, 247, 261, 330, 338 f., 351 f., 356, 358, 365 Behandlungsfehler 262, 266, 291, 371 Behandlungsmitgliedstaat 277, 281 Behandlungsstandard, wissenschaftlicher 138 ff., 145, 202, 204, 207 Behandlungsvertrag 335, 371, 374 Behinderteneinrichtungen 186 Behinderung 81, 106 f., 111, 116 f., 124 Beihilfen 148 f., 176, 178 f., 186 Beihilferecht 180, 185 Beitragsfinanzierung 69 ff., 73, 75 f., 78, 82 f., 99, 135, 161, 354 Beitragspflicht, berufsständische 238 Beitragsrückerstattung 84, 165 ff., 168, 175 Beliehene 329, 333 Berufsanerkennung 21, 63, 132, 207, 214 ff., 223, 225 ff., 230, 248, 262 ff., 270, 272, 281, 324, 364, 368 Berufsausübungsformen 239 f., 243, 246, 249, 332, 345, 347, 352 ff., 364, 377 f. Berufsbild 321, 323 f., 329 ff., 344, 351, 353, 355 f., 363, 375, 377 ff. Berufsethik 262, 280, 321, 323 ff., 350 f., 356, 376, 380 f. Berufsfreiheit 123, 238, 329, 332 f., 340, 346, 348, 357, 360, 379 Berufshaftpflicht 259, 272, 274, 370 Berufskammern 228 ff., 236, 240 f., 242, 246, 265, 271, 328, 362 ff., 370
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Sachwortverzeichnis
Berufsrecht 21, 211, 215, 217, 220, 222 ff., 229 f., 238 f., 242 f., 250, 254 ff. , 271, 316, 321, 330 f., 345 ff., 350 f., 370, 376 Berufsständische Versorgungseinrichtungen 159 f., 234 f. Beschäftigungsstaat 191 ff., 197 ff. Beschäftigungszeiten 192, 235 Besondere ambulante Versorgung 184 Bestimmungslandprinzip 224, 229, 266 Bewertungsmaßstab 247, 294 Binnenmarkt 21 f., 247, 262, 283 Bioethikkonvention 39 Bonusmodelle 84, 176, 341 Brillenversorgung 134 f., 137 Budgetierung 79 f., 119, 220, 261, 294, 330, 334, 336, 341, 343, 352, 356 Bürgerversicherung 316 Bundesverfassungsgericht 32, 35, 50 ff., 68, 103, 111 f., 164, 219 f., 246, 318, 326, 331 f., 338 f., 344 ff., 348, 352, 360, 362 Daseinsvorsorge 42, 56, 65, 150, 171, 184, 254 f. Datenschutz 271, 282, 327, 341, 355 Demographische Entwicklung 78 f., 94, 119, 155, 309, 326, 366 (De-)Regulierung 172 ff., 247 f., 259, 263, 285, 322, 345, 347, 349, 352, 354, 362, 365, 369, 374 f., 382 Dienstleistungen, freiberufliche 254 f., 257, 262 f., 323 ff. , 377 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse 42, 65, 147 f., 169 f., 171 ff., 180, 184 ff., 252 f., 365 Dienstleistungsauftrag 182 Dienstleistungsfreiheit 63, 122, 129, 131 ff., 135, 140 f., 144, 188, 201, 214 f., 220, 223, 239, 258, 261, 274, 277, 296, 321, 345, 364 Dienstleistungskonzession 183 Dienstleistungsrichtlinie 21, 257 ff., 259 Diskriminierungsverbot 22, 41, 116, 123 f., 130 f., 133, 147, 181, 184, 211, 213, 237, 343 Drei-Säulen-Modell 27, 31 ff., 41, 45 ff. Drittstaaten 231, 366 E-Commerce 214, 222 Economie Sociale 177
EFTA 25 f. Eigentumsgarantie 329, 340, 357, 379 Eigenverantwortung 108, 274, 321, 324 f., 332 f., 337, 341 f., 352, 363, 373 f., 377 ff. Einheitliche Europäische Akte 26, 33 Einheitlicher Ansprechpartner 258 ff., 265 Einkaufsmodelle 172, 356, 359, 379 Einkaufssektor 162 ff. Einstimmigkeitsprinzip 43 Einzelermächtigung 22, 34, 51 ff., 65, 314 Einzelverträge 172 f., 189, 209 f., 355, 357 f. Entgeltfortzahlung 75 f., 193 Entsendearbeitnehmer 199 Entsenderichtlinie 260 Entsendetatbestand 199, 259 Erweiterung der EU 38, 40, 98 ff., 189, 221, 295 ff. Euregios 98, 293 ff. Europäische Atomgemeinschaft 25, 27, 41 Europäische Gemeinschaft 22, 24, 26 f., 32 f. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 24, 27 Europäische Kommission 25, 28 f., 32 ff., 38, 42 f., 46 f., 49 f., 76 f., 88 ff., 99, 117 f., 120 f., 148, 154, 247, 248 ff. , 253, 264, 266 f., 271, 273, 275, 278 f., 281 f., 284, 286, 299 ff., 303, 305 f., 308 ff., 312, 320, 322, 348 ff., 365 Europäische Krankenversicherungskarte 145, 196, 203, 268, 287 Europäische Menschenrechtskonvention 26, 36, 122, 125, 128, 218 Europäische Referenzzentren 94, 269, 279, 311 Europäische Sozialagenda 57 Europäische Sozialcharta 26, 39, 57, 122, 127 Europäische Sozialunion 23, 329 Europäische Union 24, 26 f., 30, 41, 45 ff., 57 ff. Europäische Verteidigungsgemeinschaft 24 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 25 ff., 33 Europäische Zentralbank 33, 42 Europäischer Behandlungsschein (E 111 und 112) 192, 203 Europäischer Gerichtshof 21 f., 25, 28 ff., 32 ff., 56, 62, 92, 123, 127, 130 f., 133 f., 135 ff., 225, 229, 236 f., 239 ff., 246 f.,
Sachwortverzeichnis 249 f., 259, 267, 270, 274, 279, 283, 284, 286, 295, 307, 313 f., 317, 337, 339, 342, 345 f., 369, 372 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 26, 218 Europäischer Patientenbeauftragter 278 Europäischer Präsident 45 Europäischer Rat 28 f. Europäischer Rechnungshof 28 ff. Europäischer Sozialfonds 30, 57, 77, 95 Europäischer Verfassungsvertrag 26, 40 ff., 45, 303 f., 381 Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuß 130 f., 185, 368 Europäisches Gesundheitsforum 90 Europäisches Niederlassungsabkommen 26 Europäisches Parlament 25, 28 ff., 32 ff., 36, 39, 42, 44, 46 f., 49, 52, 92, 121, 125, 227 f., 255, 262, 266, 273, 275, 278 f., 281, 304, 306, 312, 349 f., 381 Europäisches Sozialmodell 49, 58, 71 f., 121 Europarat 26, 126 EWR-Staaten 188, 191, 193, 206 f. Existenzminimum 103, 109, 111 f., 124 Familienangehörige 129, 193 f., 197 ff., 200 f., 234, 296 Festbetragsregelungen 75, 108, 163 f., 171, 376 Festzuschuß 108, 336, 376 Finanzierungsfähigkeit 338, 342 Flexicurity 233 Forschungsrahmenprogramme 77, 90 Fort- und Weiterbildung 82, 99, 230, 245 f., 273, 294, 321, 331, 333, 340, 358, 368, 375 Freie Berufe 233, 239 f., 254, 256, 264, 320 ff., 348 ff., 353, 356, 377 Freie Wohlfahrtspflege 71, 176 f., 179, 303, 371 Freistellungs-Verordnung 185 f. Freiwillige Versicherung 159 ff., 165 f. Freizügigkeit 21, 38, 50, 57, 62, 65, 93, 122, 125, 127, 129 ff., 135, 148, 211, 268, 284 Früherkennung 113, 309 Fusionsvertrag 25 Gebührenordnungen 240, 246 f., 356, 360 Geldleistungen 193, 235
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Gemeinnützige Gesundheits- und Sozialdienstleister 178 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 27, 32, 36, 41 Gemeinsame Selbstverwaltung 164, 169 f., 365, 371 Gemeinsamer Bundesausschuß 163, 167 f., 171, 359, 373 Gemeinschaftsrecht, primäres, sekundäres 21, 27 f., 31 f., 128 f. Gemeinwohlorientierung 171 ff., 175 f., 180, 237, 243, 249, 253 f., 321, 324, 326, 328, 346, 360, 363, 365, 380 Gender 96, 351, 354, 366, 377 Genehmigungsvorbehalte 135, 137 ff., 140, 145, 192, 195 ff., 202 ff., 206 f., 249, 276, 278, 280, 282, 337, 358 Generalermächtigung 35 Genfer Flüchtlingskonvention 39 Gericht Erster Instanz beim Europäischen Gerichtshof 163 Gesamtvergütung 210, 294, 334, 343 Gesetzgebungsverfahren der EU 45 ff., 49 ff. Gesetzliche Unfallversicherung 157 ff., 161 f., 235 Gesundheitsausgaben 72 ff., 76 ff., 306 Gesundheitsberichterstattung 89, 91, 96, 294, 301 Gesundheitsdienstleistungen 267, 270, 274, 276 f., 284 f., 290 Gesundheitsförderung 301 f., 305 Gesundheitsfonds 168, 358 Gesundheitsgefahren 89, 91, 96, 190, 300, 306, 308 ff. Gesundheitspolitik der EU 47 ff., 59, 77, 88 ff., 307 ff., 314, 351 Gesundheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten 76 ff. Gesundheitspolitisches Aktionsprogramm 88 ff. Gesundheitsreformen 82 ff., 166 f., 335 Gesundheitsschutz 62, 65 f., 88, 94, 124, 133, 139, 141 Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedstaaten 69 ff. Gesundheitsversorgung, Anspruch auf 124 f., 126 ff., 306 Gesundheitszustand 77, 89, 96, 105 ff., 305 f.
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Sachwortverzeichnis
Gewährleistungsansprüche 99, 262, 272, 275, 278, 281, 286 ff., 292, 299 Gewerbe 243, 331 Gewinnerzielung 177 f. Gleichbehandlung 22, 37, 41, 109, 121, 123 f., 131, 211, 229, 234, 253 f., 308, 32, 357 Grenzgänger 197 f., 296 Grenznahe Inanspruchnahme 286, 288, 290, 292 f. Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung 92, 94, 99, 122, 133, 135 ff., 146 ff., 187 ff. Grundfreiheiten 21, 36, 57, 63, 128 ff., 135 ff., 142, 145 f., 162, 195, 205, 209, 211, 237, 313 ff., 346 Grundrechtecharta der EU 38 ff., 41, 43, 45 f., 57, 103, 112, 116, 122 ff., 18, 253 Grundrechtsschranken 39, 125, 127 f., 329 ff., 352 Grundsicherung 70, 83, 156, 166 Härtefallregelungen 73, 103 Harmonisierung 59 ff., 69, 89, 129, 132, 146, 187, 258 f., 307, 312 Hausärztliche Versorgung 82, 85, 87, 142, 184, 245, 361 Heilberufe 21, 122, 131, 211 ff., 255, 285, 295, 300, 302, 316, 323, 328 f., 331, 345, 353, 370 f., 376, 378, 380, 382 Heilberufsorganisationen 99, 129 f., 265, 298, 350 Heil- und Hilfsmittel 73, 108, 133, 135, 138, 162, 169, 184, 193, 201, 285, 288, 337 Herkunftslandprinzip 223, 258 ff., 261, 265, 281 Hohe Behörde 23 ff. Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik 45 Honorarverteilung 210, 338, 343, 352 f., 356 Information(ssysteme) 270 f., 274, 278, 286, 288, 294, 301, 310 f., 313, 369, 371, 373 Inländerdiskriminierung 131, 133, 210, 213, 220, 227, 280 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen 86
Integrierte Versorgungssysteme 82, 119, 163, 166, 182 Kapitaldeckungsprinzip 155, 165 Kartelle 147, 164, 169 ff., 173 ff., 246 Kartellrecht 184, 239, 241, 253, 315 Kassen(zahn)ärztliche Vereinigungen 162, 169 ff., 236 f., 244 ff., 247, 331 f., 355, 357, 359, 361, 363 f., 370 Kinder- und Jugendhilfe 177, 181 Kindersterblichkeit 76 f. , 306 Kodifikation 274, 279 f., 372 Kohäsionsfonds 34, 95 Kollektivverträge 169 ff., 210, 244, 247, 290, 331, 334, 352, 355 f., 358, 365 Komitologieverfahren 281 Kompetenzordnung der EU 21 f., 33 ff., 40 ff., 46, 57 ff., 92, 125, 202, 303 ff., 315 Kontrahierungszwang 85, 167 f., 319, 360 Konvergenz 66 ff., 304 Koordinierendes Sozialrecht 26 ff., 57 ff., 60 ff., 63 ff., 66 ff., 196 ff., 205, 215, 232, 295 Koordinierungsbefugnisse der EU 43 f., 46, 48 f., 55, 57 ff., 66 ff., 72, 88, 186 ff., 312 Korporativismus 361, 381 Kostenerstattungsanspruch 143 ff., 189, 192, 201, 206, 208, 270, 276 Kostenerstattungsverfahren 75, 135, 137, 176, 200 f., 204 ff., 208, 246, 259, 270, 273, 276, 281, 287 f., 313, 337, 374 Kostenträger, aushelfender 193 f. Kostenträger, zuständiger 194 Kostenverteilung 200 Krankengeld 75 f., 193, 207 Krankenhausversorgung 73 ff., 79 ff., 87, 93, 98, 108, 135, 204, 207, 278, 281, 285 f. , 287, 290, 294, 297 Krankenkassen 73, 84, 86, 113 f., 161 ff., 166 ff., 174, 334, 357, 359, 361, 371 Kuren 108, 144, 190, 285 f., 287 Lebenserwartung 76 f., 96, 98, 101, 104 f., 306 Leistungserbringung, grenzüberschreitende 187 ff., 201 ff., 209, 224 f., 257 ff., 265, 270, 282, 284, 286 f., 365
Sachwortverzeichnis Leistungsinanspruchnahme, grenzüberschreitende 187 ff., 201 ff., 282, 286 f., 291, 298 f., 337, 365 Leistungskatalog 73, 81, 108 f., 135, 166, 195, 209, 290, 299, 334, 376 Leitlinien(kompetenz) 36, 49, 303 ff., 310, 312 Letztentscheidungsbefugnis des Staates 241 f., 364 Lieferauftrag 182 f. Lissabon-Vertrag (EUV/AEUV) 22, 26 ff., 30, 45 ff., 53 ff., 68, 72, 92, 120 ff., 131, 253, 256, 304, 381 Marktmechanismen 82, 248, 253, 255, 262, 315 f., 354, 360, 376 Medizinische Versorgungszentren 186, 244, 351, 353, 377 Medizinprodukte 21, 43, 49, 96, 135, 201, 298, 311 Medizintechnik 78, 300 f. Menschenrechte 22, 26, 36, 39, 41, 103, 111 f., 121 Migranten 118 f. Migration von Heilberufsangehörigen 99, 366 ff. Mindeststandards 39, 47, 226 Ministerrat 24 f., 29, 32, 42, 45, 50, 262, 266, 273, 276, 281 f., 308 Mitwirkungspflichten 336 Monopole 180 f., 246, 357, 380 Montanunion 24 Morbidität 79, 101, 103, 119, 297, 305, 308, 334 Mortalität 101, 103 f., 297, 305 Nachfragesektor 162 ff., 314 Nationale Kontaktstellen 278, 281 Niederlassungsfreiheit 21, 38, 63, 122, 129 ff., 132, 135, 188, 212, 215, 220, 223, 232, 237 f. , 258, 274, 317, 321, 345, 364 Notbremseverfahren 50 Notfallversorgung 194 f., 290, 293, 296, 331 Notifizierungspflicht 186 OECD 27, 101 f. Öffentliches Gesundheitswesen 190, 254, 301
413
Offene Methode der Koordinierung 22, 43 f., 49, 58, 66 ff., 72, 76, 93 f., 120, 274, 303 ff. Opportunitätskosten 289 Organtransplantation 280 Paramedizinische Berufe 294, 366 ff. Parlamentarische Versammlung 24 Partizipation 303, 328, 350, 381 Patientenmobilität 21, 92 f., 96, 99, 190, 192, 266, 268, 274 f., 285 f., 291, 299, 311 Patientenrechte 371 ff. Patientenrechterichtlinie 62 f., 203, 274 f., 283, 295, 312, 372 Patientenschutz 255 f., 259 f., 292, 327, 350, 364, 369 ff., 372, 381 Pflegedienstleistungen 66, 76, 177, 268, 277, 279 Pflegegeld 111, 197, 235 Pflegesachleistung 197 Pflegeversicherung 75, 107, 181 Pflichtmitgliedschaft 237 f., 344, 363 Pharmaindustrie 164, 169 Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit 27, 29, 32, 36, 45 Prämiengestaltung 84 f., 167 f. Prämienmodell 316 Prävention 72, 89, 91, 96, 100, 106, 111 ff., 117, 300 f., 305, 309 ff., 368, 375 Praxisgebühr 111 Preisgestaltung 80, 164, 169 ff., 249, 274, 285 ff., 332, 376 Privatautonomie 336, 352, 374 Private Gesundheitsdienstleistungen 280 Private Krankenversicherung 64, 81 f., 84 f., 152, 166 ff., 246, 298, 316, 318 ff., 352, 356, 360 f. Privatversicherungsunternehmen 82, 86 f., 164 f., 316 Qualitätssicherung 210, 245, 254, 257, 259, 261, 266, 269, 273, 290, 294, 305, 333, 337, 341, 353, 356, 358, 362, 370, 373 Qualitäts- und Sicherheitsstandards 43, 49, 69, 82, 86 f., 89, 253, 256, 261, 281 f., 285 ff., 291 f., 304, 308, 321, 365, 367, 371 ff., 374 f. Quersubventionierung 156
414
Sachwortverzeichnis
Rabattverträge 181 ff., 342, 377 Rahmenverträge 176, 183, 245 Rationierung 162 f. Rechtsanwälte 239 ff., 24, 254, 292, 326, 329 f., 348, 353, 364, 376, 380 Rechtssicherheit 267, 269 f., 370 Rechtsstaatlichkeit 36 Regulierungsbehörden 251 f. Rehabilitation 177, 193, 299 Rentnerkrankenversicherung 198, 296 Risikostrukturausgleich 84 f. Römische Verträge 25, 27, 33 Ruhensgrundsatz 191
Sachleistungen 193, 195, 206 f. Sachleistungsaushilfe 194, 296 Sachleistungsprinzip 75 f., 135, 138, 140 ff., 144, 170, 209, 287, 314, 334 f., 336, 374 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 113 Satzungen 239 ff., 364 Schadenskompensation, transnationale 262, 269, 272, 291, 350, 369 f., 372, 374 Schadensversicherung 64, 152 Schlichtungsstellen 370 Selbständige 193, 213 f., 232 ff., 235, 327, 347, 354, 363, 378 f., 381 Selbstbeteiligung 72 f., 75, 80 ff., 84, 119, 285, 335 Selbstverwaltung 69 f., 74, 99, 303, 381 Selbstverwaltung der Heilberufe 172, 211, 236, 246 f., 252, 254, 260, 265, 273, 275, 328, 358 f., 361 ff., 364, 369, 381 Selektivverträge 167, 172 f., 176, 244, 317, 355, 374 Sicherstellungsauftrag 84, 162, 244, 352, 355, 357 Solidaritätsprinzip 22, 39, 41, 44, 55, 76 f., 117, 120 f., 124, 127, 151, 156 f., 159 ff., 165, 168, 170, 173, 308 Sozialdienstleistungen 175, 185, 187, 190, 263, 268 Soziale Ausgrenzung 41, 55, 66, 96, 100 f., 106, 117, 120 Soziale Dimension 21 f., 37 ff., 55 f., 68 Soziale Grundrechte 39, 55, 111, 122 ff. Soziale Marktwirtschaft 22, 41, 55, 349
Soziale Sicherungssysteme 69 ff., 137, 141, 203, 271, 273, 280, 302, 338, 342 Sozialer Dialog 58 Sozialhilfe 70 f., 81, 107, 109 f., 162, 177, 181, 314 Sozialleistungsträger 175 f., 179 ff. Sozialmodell, europäisches 23 ff. Sozialpolitische Agenda 58 Sozialrechtsstatut, einheitliches 192 Sozialstaat(sprinzip) 54, 103, 111 f., 124, 328, 332, 355, 360, 376, 379 Sozialversicherungsträger 149 ff., 155 ff., 166 ff., 175 f., 179 Spitzenverband Bund der Krankenkassen 174, 357, 359, 361 Sprachkenntnisse 190, 219 f., 229 f., 275, 285, 288 Staatenverbund, supranationaler 31 ff., 50 ff. Standardtarif 244, 246, 320 Stationäre Behandlung 74, 80 f., 135, 138, 141 f., 143, 170, 192 f., 204, 272, 280, 286 Steuerfinanzierung 69 ff., 73, 76, 78 f., 82 f., 119, 135, 140 ff., 168, 316 Steuervorteile 176 f., 179 Strukturfonds 77, 90, 95 Strukturverträge 10, 355 Studierende 193 Subsidiaritätsprinzip 22, 33 ff., 41, 47, 49, 53, 58, 65 f., 68, 90, 121, 255, 273, 281, 283, 303, 307, 312, 314, 382 Substitutive Krankenversicherung 319, 360 Supranationales Recht 27, 50 ff., 189 Tarifsystem 84, 89, 165, 275 Telematik im Gesundheitswesen 93, 268, 279, 281 f., 301, 311, 327, 366, 368 f. Territorialitätsprinzip 189 Therapiefreiheit 274, 330 ff., 334, 337, 341, 358, 374 Transparenzrichtlinie 186 Typusbegriff 324 f., 378 Ungleichheit, soziale 75 f., 101 ff., 111 ff., 116 ff., 351 Unionsbürgerschaft 33 f., 40 f., 55, 65, 122, 125, 130, 193, 211 f., 314 Universaldienstleistungen 175
Sachwortverzeichnis Unternehmen 16 ff., 155 ff., 167, 170 ff., 238 f., 255 Unternehmensbegriff des EuGH 149 ff., 155 ff., 161 ff., 170, 173 ff. Unternehmensvereinigungen 147 ff., 172 ff., 238 f., 249, 364 Verfassungsidentität 52 f. Vergaberecht 63, 180 ff., 184 f., 290 Vergewerblichung 322, 330, 376 ff. Vergütungen 295, 300, 326, 330, 333, 358 Vergütungssysteme 78 ff., 85, 294, 296, 338, 343, 364 Verhältnismäßigkeit 22, 35 f., 41, 47, 58, 60, 90, 123, 133, 141, 144, 214, 243 f., 249, 329, 340, 344 ff., 357, 365, 379 Verhaltenskodex 262, 273, 350 Verordnungen zur Koordinierung der Systeme Sozialer Sicherheit 50, 127, 135 f., 138, 141, 143 ff. Verschreibungen 279, 281 Versicherungsmitgliedstaat 277, 281, 282 Versicherungspflichtgrenze 361 Versicherungsverhältnis 336 Versicherungszeiten 192 f., 234 f. Versorgungsdefizit 207, 367 Versorgungs- und Dienstleistungsmonopole 180 Versozialrechtlichung 322, 351 f, 375, 379 Vertragsarztrecht 220 f., 229 f., 245, 261, 331, 334 f., 339, 345, 352, 354, 359, 365, 370, 376 Vertragsärzte 172, 219 f., 329 f., 333, 343 Vertragsverletzungsverfahren 251 f. Vertrag über die Europäische Union/Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag) 22, 26 ff., 30, 45 ff., 53 ff., 68, 72, 92, 120 ff., 131, 253, 256, 304, 381 Verwaltungskommission für Soziale Sicherheit 196 f. Wahlmöglichkeiten (Leistungen, Tarife) 83 f., 162, 165 ff., 176, 268, 274, 319, 334 ff., 374, 376 Wanderarbeitnehmerverordnung 50, 93 f., 188, 191 ff., 196 ff.
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Warenverkehrsfreiheit 133 f., 137, 142, 188, 201, 239, 296 Wartezeiten 141 f., 195, 202, 205, 208, 286, 289 f., 293 Werbung 217 ff., 243, 246 f., 333, 345, 346, 364, 376, 379 Wertegemeinschaft 22, 253, 266 f. Wertungsspielraum 202, 307, 317, 365 Westeuropäische Union 27 Wettbewerbsbeschränkungen 62, 147 ff., 239, 241, 251 f., 332 Wettbewerbsrecht 21, 28 f., 138, 146 ff., 155 ff., 161 ff., 166 ff., 173 ff., 184, 239, 241, 243, 245, 246, 249, 253, 313, 315 ff., 321, 352 Wettbewerbsstrukturen 21, 55, 84 f., 173, 239, 251, 290, 354, 356 f., 361, 375, 379 f. Wirtschaftlichkeitsgebot 162 f., 172, 290, 365 Wirtschaftlichkeitsprüfung 210, 261, 330, 337, 341, 353, 356, 358 Wirtschaftsfaktor Gesundheitswesen 284 ff., 298 Wirtschafts- und Währungsunion 22, 33 Wohnsitzstaat 192, 195, 197 ff., 234 f., 282, 293
Zahnärzte 97, 99, 132, 215, 218, 220 f., 222, 240, 254, 285, 326, 330, 333, 338, 342 f., 353, 357 f., 366, 376, 380 Zahnärztliche Behandlung 73, 81, 108, 111, 135 ff., 140, 201 f., 286 Zahnersatz 133, 205, 286, 288, 291 Zahntechnische Leistungen 133, 190, 286, 291 Zivilgesellschaft 300, 379 Zugang zur Versorgung 85 f., 92, 94 f., 101 ff., 116 ff., 127, 141, 160, 192, 194, 269, 305, 326 Zulassungsverzicht, kollektiver 340 Zusammenrechnung (Versicherungszeiten) 191 Zusatzversicherungen 84 f., 119, 155 ff., 162, 165 ff., 176, 334 Zuschüsse 179 Zuzahlungen 80 f., 103, 108, 206, 208, 246, 288, 296 ff., 317