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German Pages 642 [643] Year 2018
Oberurseler Hefte Ergänzungsbände Band 20
Festschrift für Werner Klän
Christoph Barnbrock und Gilberto da Silva (Hrsg.) »Die einigende Mitte« Theologie in konfessioneller und ökumenischer Verantwortung
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit 18 Abbildungen. Soweit nicht anders angegeben, folgen Bibelzitate der Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart. Für die Umschlagabbildung wurde ein Foto vom Wendelstein im Torgauer Schloss verwendet, © Christoph Barnbrock 2015, mit freundlicher Genehmigung des Landkreises Nordsachsen, Schloss Hartenfels Torgau.
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
FSC® C083411
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBookAusgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846902981. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2018 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Lektorat und Satz: Christoph Barnbrock und Claudia Matzke Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: Arun Edgar Gill Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0297-4 (Print), 978-3-8469-0298-1 (eBook)
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... 9
Werner Klän: Die einigende Mitte der Konfessionen ............................................ 11
Die einigende Mitte – exegetische Perspektiven .......................................... 17 Achim Behrens: Gibt es eine lutherische Exegese des Alten Testaments? ............. 19 Dieter Reinstorf: Christ’s heart of mercy and the challenge of a Christendom divided at the Lord’s Supper................................................................................ 41 Jorg Christian Salzmann: Konflikt und Einigung im Neuen Testament ................. 57 Volker Stolle: Die narrative Funktion der Mitte im Markusevangelium ................. 76 Über die Distinktion zwischen narrativer und systematischer Theologie
Die einigende Mitte – kirchengeschichtliche Perspektiven .......................... 95 Jacob Corzine: Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch ........ 97 Erich Geldbach: Der hessische Landgraf Philipp als evangelischer Laie und die Einheit der Kirchen .............................................................................. 116 Andrea Grünhagen: Erweckungs-Predigt? ......................................................... 131 Die Hermannsburger Erweckung – ein Predigterfolg? Johannes Hund: Die Religionspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen auf dem Weg zur Konkordienformel .................................................................. 142 Jürgen Kampmann: Werkgerechtigkeit – erledigt? ............................................ 160 Von der Beherzigung einer reformatorischen Einsicht im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 Ernst Koch: „Thut mir auf die schöne Pforte …“................................................. 183 Benjamin Schmolcks Seelsorge für den Weg zur Mitte Robert Kolb: Die Konkordienformel als die einigende Mitte der lutherischen Theologie ......................................................................................................... 201 Robert Rosin: Seeking the Center ..................................................................... 217 A Catholic Case Study (and Context Counts!)
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Inhaltsverzeichnis
Gilberto da Silva: Ein ökumenisches Modell im Kleinen? ................................... 231 Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) als die theologischekklesiologische Mitte ihrer Vorgängerkirchen Armin Wenz: Gepredigte Abendmahlslehre ...................................................... 251 Zwei Gründonnerstagspredigten von Salomon Glass
Die einigende Mitte – systematisch-theologische Perspektiven ................... 267 Frank Martin Brunn: Selbstbestimmt Sterben? ................................................. 269 Diskussion christlicher Argumentationen für die Sterbehilfe Christian Neddens: „Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?................ 291 Konfessorische Bilder der Cranach-Werkstatt am Vorabend des Augsburger Reichstags (1525–1530) Bernd Oberdorfer: Autoritätskritik und Autorisierungsdiskurse ........................ 319 Das „Schriftprinzip“ als archimedischer Punkt – oder als gordischer Knoten?! John T. Pless: Hermann Sasse’s Reception of the Loehe Legacy ......................... 334 Dorothea Sattler: Die Kirche(n) „unablässig auf Christus hin orientieren“ ......... 343 Gedanken zur Ökumene im Jahr 2017 Jobst Schöne: „Von dannen er kommen wird“ ................................................... 359 Was bedeutet diese Aussage für die Existenz der Kirche heute? Jeffrey Silcock: The Significance of the Theopaschite Formula for Lutheran Christology ....................................................................................................... 368 Another look at Divine Impassibility Hans-Jörg Voigt: „Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“ ...................................... 384 Das theologische Problem des generationenüberschreitenden Fortwirkens von Schuld Gunther Wenz: Evangelische Katholizität .......................................................... 395 Ökumenische Implikationen lutherischer Ekklesiologie Roland Ziegler: Lehre, Dogma, Bekenntnis ....................................................... 411 Einige Bemerkungen
Inhaltsverzeichnis
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Die einigende Mitte – praktisch-theologische Perspektiven ....................... 429 Christoph Barnbrock: „Was macht das mit dir?“................................................ 431 Werner Klän als „Praktischer Theologe“ Gottfried Herrmann: „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ .................................. 456 Gedanken zu einem Lied (vgl. EG 67; LG 74; ELKG 46) Wilhelm Rothfuchs: Von der Seligkeit und Anfechtung beim Vorlesen und Zuhören ..................................................................................................... 462 Wenn im Gottesdienst aus der Heiligen Schrift vorgelesen wird Christoph Barnbrock/Michael Schätzel: Taufsprüche ....................................... 474 Ein Beispiel für eine Personalisierung der Kasualpraxis Daniel J. Schmidt: Verbindende Exzentrizität.................................................... 496 Der Christus extra nos als Mitte des Gottesdienstes, der Verkündigung und der christlichen Existenz
Die einigende Mitte – missionswissenschaftliche Perspektiven .................. 513 Thomas Beneke: Remembering Rightly ............................................................ 515 Sermon on Ephesians 2,17–22 Karl Böhmer: Getrenntes Nebeneinander im südlichen Afrika........................... 519 Die Apartheid, die Schwesterkirchen und die einigende Mitte Graham A. Duncan: The Bantu Presbyterian Church of South Africa ................. 540 The first ten years, 1923–1933. From mission to church; from church to mission? Glenn K. Fluegge: The Doctrine of Justification as the “Unifying Center” of Theology and Missions .................................................................................. 554 Markus Nietzke: „… den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht …“ ............................................................................... 569 Völkermord an Armeniern im osmanischen Reich und die Berichterstattung darüber in ausgewählten Zeitschriften aus dem Bereich konfessionell-lutherischer Minoritätskirchen. Wilhelm Weber: Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf ................................. 585 Randnotizen zu lutherischer Freiheit und Freikirche aus Südafrika
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Inhaltsverzeichnis
Anhang ................................................................................................ 603 Curriculum Vitae von Werner Klän......................................................... 605 Bibliographie von Werner Klän ............................................................. 607 Buchpublikationen ........................................................................................... 607 Aufsätze ........................................................................................................... 608 Lexikonartikel .................................................................................................. 614 Buchanzeigen und Rezensionen ........................................................................ 614 Miszellen .......................................................................................................... 616 Bildquellenverzeichnis ........................................................................... 618 Verzeichnis der Beiträger dieses Bandes ................................................. 620 Register ............................................................................................... 622 Personenregister............................................................................................... 622 Sachregister ..................................................................................................... 626 Bibelstellenregister ........................................................................................... 632
Vorwort In der sogenannten Mesotes-Lehre seiner Nikomachischen Ethik entwickelte der griechische Philosoph Aristoteles die Idee der Mitte als des rechten Maßes eines Affektes oder einer Handlung. Man soll demnach weder zu viel noch zu wenig fühlen oder tun, sondern die richtige Mitte treffen.1 Doch es handelt sich hier um ein fast mechanisches Prinzip, indem man einfach die Mitte zwischen zwei Extremen wählt. Komplizierter wird es, wenn es sich nicht um eine einfache Mitte, die die Extreme nur vermeidet, sondern um eine „einigende Mitte“ handelt, die die Extreme – oder sagen wir: die konträren Positionen – versucht mit einzubeziehen, ins Gespräch zu bringen und sie durch einen Konsensus zu überwinden. Wir, die Herausgeber, sind der Überzeugung, dass mit der Suche und Betonung einer „einigenden Mitte“ in den verschiedenen Bereichen von Theologie, Kirche und Ökumene das theologisch-wissenschaftliche und kirchlich-ökumenische Engagement Werner Kläns treffend beschrieben werden kann. Die Idee einer „einigenden Mitte“ ist also der rote Faden, der diese Festschrift durchzieht. Sie ist Werner Klän zu seinem 65. Geburtstag gewidmet und wird ihm anlässlich seiner Emeritierung übergeben. Bei den ersten Kontakten mit den Beitragenden gaben wir ihnen als Schreibanregung drei Gedankenkreise mit auf den Weg: einen ekklesiologisch-ökumenischen mit der Aussage Wilhelm Löhes, dass die lutherische Kirche die einigende Mitte der 2 Konfessionen sei; einen symbolisch-christologischen, mit der Beobachtung Peter Zimmerlings zur Theologie Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs, wonach „das Versöhnungshandeln Jesu Christi […] die einigende Mitte aller christlichen Konfessionen“3 sei und – natürlich – einen hermeneutisch-exegetischen, mit dem „Christum treiben oder nicht“4 Martin Luthers in Sinne von Jesus Christus als der Mitte der Schriftauslegung. Entsprechend groß war unsere Freude, als wir in den Weiten des Internets auf eine Predigt Werner Kläns gestoßen sind, die er mit den Worten abschließt: „In diesem Evangelium, wie es die lutherische Kirche auf der Grundlage der Heiligen Schrift in der Gemeinschaft der einen Christenheit, annimmt, glaubt, ansagt, weitergibt, bekennt, liegt auch ihre wahrhaft ökumenische Weite begründet: Denn dieses Evangelium ist nichts weniger als die einigende Mitte der Konfessionen“.5 Damit war das, was mit der „einigenden Mitte“ gemeint ist, wunderbar zusammengefasst und zugleich thematisch festgelegt. Die Kollegen und Schüler, Freunde und Weggenossen Werner Kläns aus seinen zahlreichen Einsatzgebieten in Wissenschaft, Kirche und Ökumene, im In- und Aus1 2 3 4 5
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg./übers. von Ursula Wolf, Reinbek 2006. Vgl. Wilhelm Löhe, Drei Bücher von der Kirche, 1845, GW 5,1, 162. Peter Zimmerling, Zinzendorfs Trinitätslehre (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Leben und Werk 2 in Quellen und Darstellungen, 32), Hildesheim u.a. 2002, 241. WA.DB 7, 385, 26. Vgl. in diesem Band, 11–15, dort 15.
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Vorwort
land gingen über diese Gedankenkreise hinaus und lieferten eine Vielfalt von Beiträgen, die das Thema der Festschrift aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchten. Diese vielfältigen Aufsätze haben wir in die Kategorien exegetischer, kirchengeschichtlicher, systematisch-theologischer, praktisch-theologischer und missionswissenschaftlicher Perspektiven eingeordnet, wohl wissend, dass viele Texte fachübergreifend sind. Die oben genannte Predigt, die die „einigende Mitte“ deutlich benennt, macht natürlich den Anfang. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass die Mitte in Theologie, Kirche und Ökumene keinesfalls eine aristotelische ist – wie die fünf in einer Skala von null bis zehn –, sondern eine, die in Diskussion, Austausch und dem Ringen um einen Konsensus zu suchen ist. Wenn das ernst genommen wird, ist sie in Theologie, Kirche und Ökumene in erster Linie eine „einigende Mitte“. Dass die Autoren dieses Bandes aus vier Kontinenten stammen sowie verschiedenen Kirchen und Institutionen angehören, macht zugleich auch deutlich, wie sehr Werner Klän daran gelegen war und ist, unterschiedliche Denkhorizonte und Kontexte miteinander ins Gespräch zu bringen und zu einem gegenseitigen Verstehen beizutragen. Wir, die Herausgeber, danken herzlich Frau stud. theol. Claudia Matzke, die in großer Sorgfalt die Einrichtung der Manuskripte für den Druck und mit uns die Erstellung der Register geleistet hat, und Herrn Helmut Fenske für die akribische Forschung und ständige Aktualisierung der Literaturliste. Wir danken auch herzlich allen Institutionen, die durch die Gewährung von Druckkostenzuschüssen die Veröffentlichung dieses Bands ermöglicht haben: der Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel, dem Kreis der Freunde und Förderer der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Lutherischen Kirchenmission (Bleckmarer Mission). Zuletzt danken wir Frau Martina Göbel, unserer geheimen Projektpartnerin, die uns auf vielfältige Weise in den letzten Jahren unterstützt hat. Oberursel, den 31. Oktober 2017 Gilberto da Silva und Christoph Barnbrock
Die einigende Mitte der Konfessionen
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475 Jahre Augsburger Bekenntnis Werner Klän Predigttext: Augsburger Bekenntnis IV Gehalten am 25. Juni 2005 in der Providenzkirche Heidelberg Liebe Schwestern in Christus, liebe Brüder im Herrn! Heute begehen wir das 475-jährige Jubiläum des Augsburgischen Bekenntnisses (Confessio Augustana, CA). Bekenntnis ist ja zunächst eine persönliche Antwort auf das Evangelium, dann auch ein Angebot an die, die solches Bekenntnis hören, und eine Herausforderung, womöglich in das gehörte Bekenntnis einzustimmen. Darum gehört zum Bekennen immer auch das Bemühen um Konsens; möglichst gemeinschaftlich soll Vertrauen, dass Gott, wie er in Jesus Christus offenbar ist, heilvoll bestimmend für mein Leben sein – und für das Leben der Christenheit, zu der ich gehöre. Gemeinschaft gehört also zum Bekennen und spricht sich im Bekenntnis aus, indem der christliche Glaube sich Ausdruck verschafft und kommuniziert werden will/soll. Insofern ist das Bekenntnis auch eine Anleitung, den christlichen Glauben in seiner Bedeutsamkeit für unsere Zeitgenossenschaft zum Ausdruck zu bringen, fokussiert auf die Mitte der Schrift, das Evangelium, dessen Inbegriff und Wirklichkeit Jesus Christus ist. So geht es beim Bekenntnis, recht verstanden, nicht um den Rückbezug auf jahrhundertalte Dokumente, sondern um den Vollzug des Glaubens im Rückbezug auf Gottes Wort in der Schrift und um eine Ermunterung und Ermutigung zum Bekennen der Großtaten Gottes heute. Der vierte Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses, wie wir ihn gerade gehört haben, antwortet auf zwei Fragen, die ihre Bedeutung, wie mir scheint, bis heute nicht verloren haben. Einmal: Wie kann ich vor Gott bestehen? Und die Antwort liegt in der rechten Bestimmung christlicher Gerechtigkeit. Zum andern: Wie kann ich vor Gott leben? Und die Antwort nimmt die christliche Freiheit in den Blick.
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Zuerst veröffentlicht auf https://predigtforum.de/2005/06/25/die-einigende-mitte-der-konfessionen/#predigt (Stand: 08.03.2017). Zum Abdruck in diesem Band leicht bearbeitet.
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1.
Werner Klän
Zur christlichen Gerechtigkeit – Wie kann ich vor Gott bestehen?
Auf diese Frage antwortet das Zentralbekenntnis der lutherischen Reformation, der Lehre von der Rechtfertigung, wie sie im Artikel IV des Augsburgischen Bekenntnisses (Confessio Augustana, 1530) zum Ausdruck gebracht ist. In diesem Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses geht es um die Frage, wie der Mensch vor Gott dasteht und wie er vor Gott bestehen kann. Dabei ist vorausgesetzt, dass der Gottesbezug für die Beurteilung menschlichen Lebens die alles entscheidende Größe ist. Alles wird „verkehrt“, ist die Beziehung von Gott und Mensch gestört, ja zerstört; ist sie jedoch „in Ordnung“, dann ist alles gut. Die erste Möglichkeit nahm der zweite Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses in den 2 Blick und bestimmte die „Ursünde“ als Ausgangslage jedes Menschen in seinem Verhältnis zu Gott. Unser Artikel führt vor Augen, wie dieses Unverhältnis der Sünde, von Gott getrennt zu sein, wieder zurecht kommt. Dabei verfährt das Bekenntnis zunächst nach einem Ausschlussverfahren. Als Mittel zur Bereinigung des Gottesverhältnisses werden alle dem Menschen eignenden Anlagen und Fähigkeiten abgewiesen. Nichts an mir, nichts in mir, nichts von mir lässt mich mit Gott ins Reine kommen. Keine Leistung, kein Vermögen, keine Tat sichert mein Überleben vor Gottes Heiligkeit. Alle Anstrengungen, unser Dasein zu fristen aus eigener Kraft, alle Versuche, unser Leben zu sichern mit eigenen Mitteln, sind zum Scheitern verurteilt. Machtpotentiale bewegen hier nichts, Erfolgsstrategien bewirken hier nichts, Allmachtphantasien sind zur Ohnmacht verurteilt. Selbstrechtfertigung ist ausgeschlossen: Ich kann nicht für mich einstehen vor Gott; wenn ich es eigenmächtig versuchte, wäre es Selbstüberhebung. Ich kann nicht einmal Gottes Urteil über mich günstig beeinflussen. Das wäre Folge, ja mehr noch, Ausdruck der Sünde: Der Mensch versucht, sich vor Gott zu behaupten und zustande zu bringen, was ganz allein Gottes Sache ist. Eben deshalb ist jedes Verdienst unsererseits ausgeschlossen, wenn es um unser Heil geht, und jede Mitwirkung verwehrt. Völlig außerhalb des Menschen und seiner Möglichkeiten wird daher der Grund seiner Gerechtigkeit, nämlich der Freispruch im Urteil Gottes, vor Gott gelegt. Wie aber ist dann Heil möglich? Drei Faktoren führt der Rechtfertigungsartikel an: Erstens: „Aus Gnaden“. Damit ist einmal gesagt, dass Gott allein verantwortlich und wirksam ist, wenn das Verhältnis zwischen ihm und uns in Ordnung kommt. Zum andern ist damit festgehalten, dass Rechtfertigung reine Gabe ist, bedingungsloses Geschenk. Und schließlich ist darin eingeschlossen, dass Gott mit ungeschuldeter Zuneigung uns zugetan und mit unergründlicher Liebe uns zugewandt ist, obwohl wir sind, wie wir sind.
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Vgl. CA II, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 (BSELK), 94–97.
Die einigende Mitte der Konfessionen
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Zweitens: „Um Christi willen“. Dies besagt zum einen, dass Christus mit liebevoller Hingabe geleistet hat, was kein Mensch leisten konnte. Zum andern ist darin eingeschlossen, dass sein Selbstopfer, der Verzicht auf sein Eigenrecht, stellvertretend für uns geschah. Und schließlich ist damit festgestellt, dass Gemeinschaft zwischen Gott und uns greifbare Möglichkeit, ja dass Versöhnung zwischen Gott und Mensch allerwirklichste Wirklichkeit ist. Nirgends ist sie gewisser, als wenn sie ganz und ausschließlich bei Gott liegt. Drittens: „Durch den Glauben“. Damit ist zum einen gesagt, dass diese Wirklichkeit bei mir ankommt, in mir Platz greift, indem ich von aller Selbstmächtigkeit absehe und, was dasselbe ist, mich völlig und vertrauensvoll auf Gottes Erbarmen verlasse. Andererseits ist damit zum Ausdruck gebracht, dass der Glaube nicht eine (Vor-)Bedingung der Rechtfertigung darstellt, sondern die Weise ihrer Annahme meint: So kommt Gottes wirkmächtige Verheißung bei mir zum Ziel. Und schließlich wird dadurch herausgestellt, dass die Gewissheit unserer Rettung daran hängt, dass wir ganz und gar auf Christi Einsatz setzen und uns an seine Heilstat halten. So werden wir hineingenommen in den Raum der Menschenfreundlichkeit Got3 tes. Der neunte Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses wird davon sprechen, dass dies grundlegend durch die Taufe geschieht. Auf dem Hintergrund der ursündlichen Verfasstheit menschlichen Daseins leuchtet ein, dass diese Aufnahme in den Bereich göttlichen Wohlwollens gleichbedeutend ist mit der Vergebung der Sünden. Der Glaube richtet sich auf Christus und empfängt von ihm, was der ist und hat: Gottes Gerechtigkeit. Im Glauben sind wir mit Christus „ein Kuchen“, kann Luther sagen, also fest zusammengebacken. Da kommt es zum „fröhlichen Wechsel“ zwischen meiner Ungerechtigkeit und seiner Sündlosigkeit, zum Tausch meiner Sünde und seiner Gerechtigkeit. So werden wir freigesprochen von dem vernichtenden Urteil Gottes über uns Sünder, das unsere Vernichtung bedeuten müsste. Denn Gott schaut, wenn er uns anschaut, zugleich auf den ewigen Sohn, zu dem wir gehören und an dem wir hängen. Und nur kraft dieser Ansehung Christi ist wahr, dass wir vor Gott als gerecht gelten, obwohl wir Sünder bleiben. Doch bleibt im Blick auf Christus, dem wir im Glauben verbunden sind, das Urteil Gottes gültig: Wir können vor ihm bestehen, wir haben vor ihm Bestand. Daher empfangen wir unsern Wert und unsere Würde, und von daher erhält unser Leben Sinn: Wir sind, so lautet die Antwort der lutherischen Reformation auf die Frage nach unserem Verhältnis zu Gott, Gott angenehm und willkommen, weil wir mit dem verbunden sind, der im Gehorsam sich eingesetzt hat zugunsten der Verlorenen. Dieser Artikel gilt darum in der lutherischen Theologie als „der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt“. Offenbar liegt hier das Herzstück lutherischer Frömmigkeit. Eng verbunden mit dieser Wirklichkeit ist die zweite Frage und ihre Antwort:
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Vgl. CA IX, lat., BSELK 105.
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2.
Werner Klän
Wie kann ich vor Gott beten? – Der Ruf in die Freiheit
Mit großer Leidenschaft hat Martin Luther im Jahr 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ gesprochen und damit das Freiheitsthema in der Christenheit neu in den Mittelpunkt gestellt. Und gewiss ist und bleibt die Frage nach der Gottesbeziehung die „Schlüsselfrage unseres Daseins“. Ist sie aber, eben durch den göttlichen Freispruch, beantwortet, so werden bzw. sind wir, indem wir uns auf diesen Freispruch beziehen und verlassen – also „glauben“ –, freie Menschen. Dem heutigen Menschen in unseren Lebensverhältnissen, der in sich gewiss die Sehnsucht nach Freiheit, nach Entfaltung seiner Möglichkeiten trägt, und sie in Umkehrung des Programms der Freiheit, die er erstrebt, geradezu zwanghaft auszuüben trachtet, ist damit zugleich die Erfahrung des Verlusts von Freiheit zueigen. Es mag ihm die Einsicht verstellt sein, dass er, wenn er die Quelle der Freiheit nicht in Gott sucht, dazu verurteilt ist, sie in sich selbst zu suchen, wie alle anderen auch, für die nicht Gott der Ursprung ihrer Freiheit ist. Und er wird so – un-bewusst oder vor-bewusst –, statt aus Freiheit und in Freiheit zu leben, um seine Freiheit kämpfen müssen. Das hat nahezu notwendig zur Folge, dass die gemeinte Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen führt und zugleich den, der um das, was er für seine Freiheit hält, erbittert kämpft, zum Gefangenen seines eigenen Ichs macht, also unfrei. Indem er seine Freiheit zu behaupten sucht, verliert der Mensch sie zugleich. In diese Lage des noch „modernen“ Menschen hinein und dagegen an ergeht der Ruf zur Freiheit. Wer sich von Gott angenommen weiß, braucht sich nicht länger darum zu mühen, vor Gott bestehen zu sollen. Wer den Freispruch aus dem Gefängnis der schuldbelasteten Vergangenheit vernommen hat, braucht nicht mehr zwanghaft um seine Ehre zu ringen, sich „auf Teufel komm ‘raus“ zu rechtfertigen. Wen die Botschaft von der todesüberwindenden Macht der Auferstehung Jesu Christi erreicht und in der Tiefe ergriffen hat, ist nicht länger genötigt, das Leben und das was das Leben lebenswert macht – oder was er dafür hält – im Hier und Jetzt um jeden Preis und auf Kosten anderer, oder etwa der eigenen Gesundheit zu verwirklichen. Hingegen eröffnet die Ansage des göttlichen Freispruchs den Menschen eine zukunftserschließende Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Freiheit der Kinder Gottes. Im Kern ist dies eine innere Freiheit, die sich gleichwohl äußerlich Ausdruck verschaffen kann, aber nicht beeinträchtigt werden muss, wenn die Lebensverhältnisse nicht durch Freiheit gekennzeichnet sind. Umgekehrt bedeutet äußere, z.B. politische oder wirtschaftliche Freiheit noch längst nicht, dass die „Gefangenschaft unserer Entfremdung von Gott“, die zwanghafte Verweigerung gegen Gottes Herrschaft über mein Leben und die krankhafte, krankmachende und andere kränkende Selbstbezogenheit gebrochen wären. Der göttliche Freispruch aber bricht diese Selbstbezogenheit auf, leitet zum Einstimmen in Gottes grundlegende und weiterführende Bedeutung für mich und meine Lebensvollzüge an und ermöglicht gerade so die Auflösung von Gebundenheiten einer wider-göttlichen bzw. gott-losen Daseinsweise, also Freiheit.
Die einigende Mitte der Konfessionen
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Diese Freiheit ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit unserer Hinwendung zu anderen Mitmenschen und Mitgeschöpfen, unserer Hingabe an andere Mitbewohner unserer Erde, ihre Bedürfnisse und Notwendigkeiten, kurz der Gestaltung unseres Lebens als „Dasein für andere“, also echte Geschwisterlichkeit. Mit einem geprägten Ausdruck Luthers heißt es in Bezug auf diese Perspektiven, dass der Christ „in der Liebe ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ sei. 3.
Versuch, den Grund und Kern lutherischer Theologie in elementarer Weise zu fassen
Versuchen wir, diesen Grund und Kern lutherischer Theologie in elementarer Weise zu fassen; er lautet, als Antwort auf die Frage, wie ich vor Gott bestehen und vor Gott leben kann, so: Du kannst vor Gott bestehen, indem du dich selbst verlässt und allein auf Gott verlässt. Alles Eigene darfst du hinter dir lassen, brauchst dich nicht in dir selbst zu gründen. Vielmehr hast du deinen Stand und Boden außerhalb deiner selbst, nämlich in Jesus Christus. Du kannst absehen von Selbstbehauptung und Selbstmächtigkeit, darfst dich ganz auf Christus ausrichten lassen. Gott selbst räumt aus, was zwischen dir und ihm steht. Er bereinigt, was dich beschmutzt und befleckt. Er bringt in Ordnung, was zwischen Ihm und dir durcheinander und nicht so ist, wie es sein soll. Er befreit dich aus allen Bindungen, die dich einengen, sogar aus der Fesselung an dein eigenes Ich. Du brauchst dich nicht länger kleinzumachen als der „Zwerg deiner Ängste“ und dich nicht länger aufzublähen zum „Riesen deiner Träume“. Gottes Zuwendung, sein Wohlwollen gilt dir. Er ist uns zugewandt und zugetan, wie wir an Jesus Christus sehen. An ihm ist offenkundig, in Ihm ist es greifbar: Gott nimmt dich an, obwohl du bist, wie du bist; und du kannst sein, was du bist – ein von Gott un-bedingt und grenzenlos geliebter Mensch, zur Freiheit, Liebe und Hingabe berufen. In diesem Evangelium, wie es die lutherische Kirche auf der Grundlage der Heiligen Schrift in der Gemeinschaft der einen Christenheit, annimmt, glaubt, ansagt, weitergibt, bekennt, liegt auch ihre wahrhaft ökumenische Weite begründet: Denn dieses Evangelium ist nichts weniger als die einigende Mitte der Konfessionen. Amen.
Die einigende Mitte – exegetische Perspektiven
Gibt es eine lutherische Exegese des Alten Testaments? Achim Behrens 1.
Das kritische Gespräch fortsetzen
Anfang der 1990er Jahre war es Werner Klän, der mir als jungem Studenten ein neues Fenster zur lutherischen Theologie aufstieß.1 Ich wurde mir bewusst, dass es neben dem Bekenntnis immer auch eine so oder so zu bestimmende Bekenntnishermeneutik gibt, und ich wurde nicht zuletzt auch in die kritische Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der eigenen kirchlichen Tradition hineingeführt. So würde ich die Einübung in geschichtliches Denken und die hermeneutische Fragestellung als wichtige Impulse für mein eigenes theologisches Denken benennen, an deren Vermittlung nicht zuletzt Werner Klän prägend beteiligt war. Inzwischen sind wir Kollegen an der Lutherischen Theologischen Hochschule und immer noch in 2 einem kritischen Gespräch über hermeneutische Fragestellungen, verbunden im Bemühen um eine lutherische Theologie zugleich in der Bindung an Schrift und Bekenntnis, in ökumenischer Gesprächsfähigkeit und in verantworteter Zeitgenossenschaft.
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Mein Studienbuch verzeichnet für das Wintersemester 1990/1991 eine Übung zum Thema „Kirchenkampf und Ökumene“ (vgl. zu seinem ökumenischen Engagement, das durchgängig prägend war und ist, z.B. Werner Klän [Hg.], Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit, OUH.E 9, Göttingen 2012; ders., Jürgen Kampmann [Hg.], Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägung, OUH.E 14, Göttingen 2013), im Sommersemester 1992 eine Übung zu „Bekennen und Bekenntnisstand“ bei dem damaligen Lehrbeauftragten für Kirchengeschichte und Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule, der zunächst noch für Blockveranstaltungen aus Bochum anreiste (vgl. zum lutherischen Bekenntnis als seinem theologischen Lebensthema z.B. Werner Klän [Hg.], Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Milleniumswende, OUH.E 4, Göttingen 2007) und schließlich im Wintersemester 1993/1994 ein kirchengeschichtliches Seminar zur „Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen im ‚Dritten Reich‘“ (vgl. z.B. Werner Klän, Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“, LuThK 9 [1985], 16–24; ders., Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“. Versuch einer Zwischenbilanz, LuThK 11 [1987], 72–87) bei dem jetzt frisch gebackenen Dozenten (mit Lehrstuhlvertretung in Systematischer Theologie). Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, Hermann Sasse und der ökumenischen Weite lutherischer Theologie wurden mir vermittelt. Vgl. Werner Klän, Nachwort, in: Achim Behrens, Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments, Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 315–321; Werner Klän, Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt. Anstöße für ein konkordienlutherisches Gespräch über Lesarten der heiligen Schrift, LuThk 40 (2016), 46–80, bes. 72f. 79f.
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Achim Behrens
Mit diesem Beitrag möchte ich das Gespräch im Hinblick auf Fragen nach der wissenschaftlichen Exegese im Kontext lutherischer Theologie und deren hermeneutische Implikationen fortführen und zugleich Werner Klän meinen Dank für die bisherige Offenheit zum Dialog ausdrücken, in dem wir keineswegs immer der gleichen Meinung waren, aber doch stets in kritischer Solidarität einander und der Sache verbunden blieben. 2.
„Denken heißt Differenzieren“ – Unterschiedliche Modi des Schriftbezugs
Für die lutherische Theologie ist der Bezug auf die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments in jedem Sinne Grund legend. Ist es allein Christus, der den Menschen das Heil erwirbt, gegründet allein in der Gnade Gottes und vom Menschen ergriffen allein im Glauben,3 so ist es allein das Wort, das eben allein in der Schrift zu finden ist (oder sich als gepredigtes Wort doch allein auf diese Schrift beziehen kann), das diesen Christus verkündet, den Glauben weckt und dadurch die Gnade Gottes zum Ziel kommen lässt. Daher ist die Schrift die alleinige Regel und Richtschnur kirchlicher Lehre.4 Sie ist dies, weil sie als Gottes Wort verstanden wird,5 dessen zentraler Inhalt „Christus“ ist. Sie wird verkündigt als Gesetz und Evangelium und ist kraft des Heiligen Geistes an den Menschen wirksam, indem sie Glaube weckt. Diese fundamentalen dogmatischen Aussagen gründen ihrerseits im Getroffensein durch das Wort, sind also Glaubenssätze. Als solche hängen sie mit Glaubenserfahrung zusammen. Sie sind aber andererseits Gegenstand der überindividuellen, theologischen Reflexion und der öffentlichen, verbindlichen Kommunikation kirchlicher Lehre. Diese Aussagen stehen also unter der Überschrift der Konkordienformel 6 „Wir glauben, lehren und bekennen […]“ Wo aber kommt in diesem Gesamtzusammenhang der Bibel mit der lutherischen Theologie die Exegese, gar in der Gestalt der von konkordienlutherischer 3
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Die sog. „Exklusivpartikel“ explizit in der Reformationszeit oder gar bei Luther selbst so textlich nachzuweisen, wie sie heute als solus Chistus, sola gratia, sola fide und verbo solo im Schwange sind, gelingt nicht. Aber die Trias Gnade – Glaube – Christus mit exklusivem Anspruch findet sich doch in CA IV: „[…] sonder das wir vergebung der sunden bekommen und vor Got gerecht werhen aus gnaden umb Christus willen durch den glauben […] / […] sed gratis iustificentur propter Christum per fidem […]“ (Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 99). „Wir gleuben, leren und bekennen, Das die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Leren und Lerer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die Prophetischen und Apostolischen Schrifften, altes und neues Testaments“ (FC Ep. Von dem summarischen Begriff, BSELK, 1216). Dies wird deutlich, wenn man neben der Epitome auch die Solida Declaratio zum Verständnis heranzieht. Dort heißt es unter Berufung auf Luther, „das alleine Gottes Wort die einige Richtschnur und Regel sein und bleiben solle“ (BSELK, 1314). So können also die Begriffe „prophetische und apostolische Schriften“ und „Gottes Wort“ promiscue gebraucht werden. Vgl. Werner Klän, „Doctrina, fides & confessio“. Konfessorische Formeln im Werk Nikolaus Selneckers (1530–1592), LuThK 19 (1996), 2–28.
Gibt es eine lutherische Exegese des Alten Testaments?
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Seite immer noch kritisch beäugten historisch-kritischen Exegese zu stehen? Zunächst einmal ist mit den hier eingangs geäußerten Überzeugungen ja noch kein biblischer Text in irgendeiner Weise ausgelegt, sondern es sind Eckwerte der Bibelhermeneutik und der Schriftlehre in lutherischer Perspektive benannt. Mit Werner Klän gilt dann: „Lutherische Theologie und Kirche, wenn und wo sie sich denn als bekenntnisgebunden verstehen, nehmen den Ausgangspunkt bei der Heiligen Schrift als dem unfehlbaren Wort Gottes. Aber mit diesem Grundsatz ist die Aufgabe erst gestellt.“7 Die hier genannte Aufgabe lässt sich genauer bezeichnen als die des Verstehens und Auslegens biblischer Wortlaute. Dabei ist weder ein Verstehen ohne Auslegung zu haben, noch umgekehrt; beides ist also reziprok aufeinander bezogen und ineinander verschränkt.8 Doch ist um der Klarheit der Sache willen hier zwischen unterschiedlichen Modi zu unterscheiden, in denen sich die Theologie auf die Schrift bezieht. Im Sinne des Satzes „Denken heißt Differenzieren“, den Werner Klän gern zitiert, sollen diese unterschiedlichen Möglichkeiten, sich vonseiten der Theologie und Kirche der Heiligen Schrift zu nähern, benannt werden, damit klar wird, was unter „Exegese“ im strengen Sinne zu verstehen ist. Bereits die lutherische Orthodoxie unterschied bei der Auslegung der Bibel die explicatio von der applicatio, also das Verstehen des Wortlautes von dessen verkün9 digender Anwendung auf das zeitgenössische Leben. Auch an der Wiege der modernen historisch-kritischen Exegese steht eine solche Differenzierungsleistung in Gestalt von Johann Philipp Gablers Altdorfer Antrittsvorlesung „De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus“ von 1787.10 Dabei müssen hier die unterschiedlichen Modi des Theologisierens voneinander unterschieden werden, sie dürfen aber nicht voneinander getrennt werden. Dogmatik und „biblische Theologie“ (hier noch verstanden als eine auf die Bibel bezogene, nicht im Sinne der neuzeitlichen „gesamtbiblischen“ Theologie) stehen in einer immer neu zu reflektierenden Beziehung. 7 8
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Vgl. Klän, Gottes Wort (wie Anm. 2), 59. In diesem Sinne Ulrich H. J. Körtner, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, 75: „Innerhalb der theologischen Hermeneutik nimmt die biblische Hermeneutik eine Zentralstellung ein, weil Theologie als umfassende Interpretation von Wirklichkeit ganz wesentlich als Schriftauslegung vollzogen wird. Christlicher Glaube vollzieht seine Selbstauslegung in der Form der Schriftauslegung, indem er darlegt, wie die menschliche Existenz ihrerseits von den Texten der Schrift her ausgelegt und verstehbar wird.“ Freilich gehört in der Reformationszeit und in der Orthodoxie die Unterscheidung von explicatio 4 und applicatio in die Predigt (vgl. Albrecht Beutel, Art. Predigt II. Geschichte der Predigt, RGG 6 [2003], 1585–1591, 1587). Beides sind also homiletische Kategorien. Auch wenn heute stärker – und dies ist sachgemäß! – zwischen Exegese als historischer Sinnbestimmung und Predigt unterschieden wird, so kann der Blick in die alte Homiletik doch eine Erinnerung daran sein, dass Exegese, die sich als Teil der Theologie begreift, im strengen Sinne eben kein Selbstzweck ist. Vgl. die deutsche Übersetzung Johann Philipp Gabler, Von der rechten Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele, in: Otto Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972, 273–284.
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Seit den Tagen Gablers, Johann Salomo Semmlers oder Ferdinand Christian Baurs hat sich die „biblische Theologie“ zur historisch-kritischen Exegese gemausert, von der nun wiederum andere Modi des Schriftbezugs in Theologie und Kirche zu unterscheiden sind. Ich nenne hier die hermeneutische Grundlagenreflektion, den Bibelgebrauch der Dogmatik, die Verkündigung in Predigt und Unterricht, sowie unterschiedliche Spielarten eines pragmatischen, anwendungsorientierten Bibelbezugs, z.B. in tiefenpsychologischer, feministischer oder befreiungstheologischer Bibelauslegung, im Bibliodrama oder Bibliolog, aber auch in Anspielungen in Film, Kunst und Literatur. Davon sind noch einmal linguistische und literaturwissenschaftliche Analysen biblischer Texte zu unterscheiden. Manfred Oeming hat 11 alle diese Modi in eine „Theorie vom hermeneutischen Viereck“ eingezeichnet. Dabei lassen sich die unterschiedlichen Lesarten der Bibel grundsätzlich auf vier Leseinteressen verteilen: Die einen sind vor allem an den Autoren und ihrer Welt interessiert (hierher gehört u.a. die historisch-kritische Exegese), andere fragten nach den Texten (so z.B. narratologische, strukturalistische, literaturwissenschaftliche Zugänge), während z.B. die kirchliche Lehrbildung und Verkündigung vor allem auf die in den Texten ausgesagte Sache ziele und alle „anwendungsorientierten“ Auslegungsmethoden den Lesern und ihrer Welt dienen sollten. Zwischen diesen Feldern gibt es ganz offensichtlich Schnittmengen und auch über die Begrifflichkeit ließe sich trefflich streiten. Aber es wird doch deutlich, dass bei der Bestimmung dessen, was jeweils mit Begriffen wie „Exegese“ oder „Auslegung“ gemeint ist, Differenzierung Not tut und hilfreich ist. In diesem Sinne soll zunächst festgehalten werden, dass ich hier unter „Exege12 se“ die historische Sinnbestimmung eines biblischen Textes verstehe. Bei der Exegese stricte dicta geht es also um das Verstehen des Eigensinnes eines biblischen Wortlautes (immer vorausgesetzt, es gibt solchen Eigensinn). Das Ergebnis dieser Exegese ist nicht eine Predigt und auch nicht die Bestätigung oder Widerlegung eines theologischen Lehrgebäudes. Freilich wird gerade eine Theologie, die sich wie die lutherische auf die Schrift als Quelle und Norm beruft, von den Einsichten der Exegese über den Sinn oder gegebenenfalls auch den „Nicht-Sinn“ biblischer Wortlaute nicht unberührt bleiben. Aber Maßstab exegetischer Erkenntnisse oder der Methoden, mit denen sie gewonnen wurden, kann nicht allein und auch nicht in erster Linie die Frage sein, ob das bestehende Lehrsystem dadurch affirmiert oder kritisiert wird, sondern allein, ob der Sinn eines Textes auf exegetischem Wege tatsächlich angemessen erfasst wurde. Über diese Frage lässt sich im Einzelfall diskutieren, weil Exegese nach einem jedem Gutwilligen nachvollziehbaren Methodenkanon verfährt, so dass exegetische Erkenntnisse intersubjektiv vermittelbar und ihrerseits – wiederum methodisch verantwortet – bestreitbar sind.
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Vgl. Manfred Oeming, Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998, 5f. Vgl. Odil Hannes Steck, Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik, Neukirchen12 Vluyn 1989, 1f.
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Für diesen Methodenkanon hat sich im Laufe der letzten 150 Jahre der Oberbegriff historisch-kritische Exegese eingebürgert, der für die einen eine Art „Heilsversprechen“ auf „Wissenschaftlichkeit“ und für die anderen den Inbegriff gottloser Bibelverdrehung darstellt. Beides ist unangemessen. Vielmehr zeigt schon die Tatsache, dass historisch-kritische Exegese nicht eine Methode, sondern ein ständig sich veränderndes Methodenensemble bezeichnet, dass es sich hier nicht um einen einzigen „Hebel“ zum Bibelverstehen handelt, den man dann eben „gut“ oder „schlecht“ finden kann. Vielmehr handelt es sich um eine Fülle komplexer Fragen an die Überlieferung des Textes, den geschichtlichen und religionsgeschichtlichen Kontext, die Literaturgeschichte der Bibel und in Gestalt der Formgeschichte – schon lange vor dem pragmatic turn der Literaturwissenschaft – an die kommunikative Leistungsfähigkeit von Texten. Heute ist die Exegese offen für Fragestellungen der narrativen Textanalyse, der Sprachpragmatik oder anderer literaturwissenschaftlicher Zugänge. Historisch-kritische Exegese ist eine lebendige und lernbereite Wissenschaft, die sich als leistungsfähig und hilfreich für das Textverstehen erwiesen hat. Sie ist heute nicht mehr mit rationalistischen Engführungen ihrer Frühzeit oder mit 13 dem idealistischen Weltbild des 19. Jahrhunderts zu identifizieren. Allerdings hat die historisch-kritische Exegese Ergebnisse für das Verständnis biblischer Texte zutage gefördert, die bis dahin klassische Bibel- und dann auch Weltbilder in Theologie und Kirche irritiert, ja erschüttert haben. Eine Fülle von Hypothesen, die nicht leicht zu durchschauen ist, tat ein Übriges, um auch in der 13
Wichtig ist, den Begriff „historisch-kritische Exegese“ nicht zu einem positiv oder negativ besetztem Klischee werden zu lassen. Das ständig neuen Feineinstellungen, Korrekturen und Erweiterungen unterzogene Methodenrepertoire der Exegese ist eher ein Kennzeichen eines lebendigen Diskurses. Insbesondere die Eingrenzung der Exegese auf das Feld der Literarkritik oder vermeintliche „Echtheitsfragen“ ist weder der Methodik noch ihrem Gegenstand, den biblischen Texten, angemessen. So spielen seit Langem literatur- und sprachwissenschaftliche Fragestellungen in der Exegese ebenso eine Rolle, wie die Betrachtung des Kanons aus einem intertextuellen Blickwinkel. Die Wirkungsgeschichte wird dabei zunehmend wichtig und deckt eine gewisse „Polyvalenz“ von Textsinn auf, der noch deutlicher unter rezeptionsästhetischen Fragehinsichten in den Blick kommt. Vgl. schon Klaus Koch, Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese, Neukir4 chen-Vluyn 1981, 271–324 („Linguistik und Formgeschichte“); dann: Andreas Wagner, Sprechakte und Sprechaktanalyse im Alten Testament. Untersuchungen im biblischen Hebräisch an der Nahtstelle zwischen Handlungsebene und Grammatik, BZAW 253, Berlin/New York 1997; zur literaturwissenschaftlichen Exegese: Uwe Becker, Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden4 und Arbeitsbuch, Tübingen 2015, 45–56; Georg Steins, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, HBS 20, Freiburg im Breisgau 1999; Achim Behrens, Gen 15,6 und das Vorverständnis des Paulus, in: Ders., Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelischlutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 103–116 (Wirkungsgeschichte); Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (Hg.), Biblische Hermeneutik, Lutherische Orientierung 10, Hannover 2012, 19ff. Zur kritischen Selbstreflexion der Methodologie innerhalb der historisch-kritischen Exegese des AT vgl. z.B. Erhard Blum, Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche Exegetik, in: Bernd Janowski (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel, SBS 200, Stuttgart 2005, 11–40.
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Theologie immer wieder Skepsis gegenüber der Exegese zu fördern. Daher sei an einige Ergebnisse erinnert, über die Konsens besteht und die, so meine ich, im Endeffekt einen Gewinn für das Verstehen der Bibel bedeuten. Vor allem im Hinblick auf literarkritische Einsichten ist die Skepsis gegenüber der Exegese in sog. „bibeltreuen“ Kreisen groß. Dabei ist die Erkenntnis, dass der Pentateuch weder eine ursprüngliche literarische Einheit darstellt, noch von Mose verfasst wurde, zunächst ein Wissenszuwachs. So können – und nur das kann und soll der Anstoß für Rückfragen an den Text sein – im biblischen Wortlaut vorfindliche Phänomene besser verstanden werden. Dazu gehören der Wechsel des Gottesnamens, Dubletten oder Mehrfachüberlieferungen. Beschreibbare theologische Profile der Priesterschrift, der Deuteronomisten oder eines Jahwisten machen die 14 Aussageabsichten unterschiedlicher Texte verständlich. Warum die Ansicht, die Texte seien einheitlich und von Mose verfasst (was sich schon im Hinblick auf Sprache und Schreibmaterialien in keiner Weise historisch plausibilisieren lässt) „bibeltreuer“, „frommer“ oder gar „lutherischer“ sein soll als eine analytische Leseweise, die nichts anderes will, als die Texte zu verstehen, ist nicht einsichtig zu machen. Freilich dürfen in der historisch-kritischen Exegese nicht historische Erkenntnisse unmittelbar in theologische Urteile überführt werden. Wenn also aus der literarischen Uneinheitlichkeit eines Textes gefolgert würde, er sei weniger „wahr“, für die Leser weniger „bedeutsam“ oder für die Kirche weniger „verbindlich“ als ein einheitlicher Wortlaut, so werden hier unzulässig die Ebenen vermischt. Erkenntnisse über die Entstehung eines Textes sagen zunächst nichts über den Wert seines Inhalts. Sodann gehört zur Exegese auch die redaktionsgeschichtliche Frage, wie es zum vorliegenden Endtext gekommen ist. Zur Analyse muss die Synthese treten. Hier haben sich etwa in der Erforschung des Psalters gerade in den letzten Jahrzehnten erstaunliche Einsichten in die Verknüpfung der Einzeltexte zu einem plan15 vollen Ganzen ergeben. Und zu der Erkenntnis, dass das Jesajabuch literarisch nicht von einem einzigen Autor aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. stammt, sondern sukzessive gewachsen ist, gehört auch die Einsicht, dass in dem Buch als Ganzem jetzt gleichsam eine Geschichte und ein theologisches Kompendium beinahe aller Spielarten der alttestamentlichen Prophetie im Kleinen vorliegt.16 Zahlreiche Einsichten der historisch-kritischen Exegese sind heute Gemeingut auch konservativer Theologie, ohne dass über deren „historisch-kritischen“ Cha14
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Vgl. z.B. Jan Christian Gertz, Tora und Vordere Propheten, in: Ders. (Hg.), Grundinformation 4 Altes Testament mit Angelika Berlejung, Konrad Schmid und Markus Witte, Göttingen 2010, 193–311. Vgl. neben ihren bahnbrechenden Kommentaren Erich Zenger, Frank Lothar Hossfeld, Das Buch der Psalmen, in: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, hg. von Christian Frevel, 9 Stuttgart 2015, 431–455. Um die theologische Zusammenschau der literarisch unterschiedenen Buchteile bemüht sich etwa Hans Winfried Jüngling, Das Buch Jesaja, in: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, 9 hg. von Christian Frevel, Stuttgart 2015, 526–552.
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rakter noch reflektiert würde. So geht die Abgrenzung und Auslegung der „KnechtGottes-Lieder“ bei Deuterojesaja auf Bernhard Duhm zurück.17 Die hilfreiche und soweit ich sehe auch überall akzeptierte Unterscheidung in Klagepsalmen des Einzelnen und des Volkes oder Hymnen und Danklieder im Psalter verdankt sich der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkels18, Claus Westermanns19 oder Frank Crüsemanns20. Auch das neue Interesse an der alttestamentlichen Anthropologie und dabei zutage tretenden Erkenntnissen ist Teil der historisch-kritischen Exegese.21 Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Diese Einsichten werden mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen und dienen dem Verständnis der biblischen Texte. Streng genommen sind diese Einsichten weder „jüdisch“ noch „christlich“, weder „katholisch“ noch „evangelisch“, sondern schlicht textgemäß. In diesem strengen, auf die Erhebung des Textsinns konzentrierten Sinn ist Exegese dann auch nicht lutherisch. 3.
„Context counts“ – Warum Exegese doch Theologie ist
Allerdings ist die zuletzt vorgenommene Bestimmung der Exegese als „historischer Sinnbestimmung“ biblischer Texte eine künstliche und bei näherem Hinsehen auch eine eng geführte. Denn so richtig es auf der einen Seite ist, dass der Ursprungssinn etwa eines alttestamentlichen Textes an seinem Entstehungsort nicht einfach mit seiner späteren kirchlichen Verwendung identisch sein muss, so sehr wird andererseits immer deutlicher, dass sich der eine Ursprungssinn aufgrund komplexer Überlieferungsprozesse nicht immer eindeutig bestimmen lässt. Darüber hinaus – und das ist theologisch noch bedeutsamer – macht die Überlieferung selbst, die eben oft schon innerbiblisch in Form von redaktionsgeschichtlichen Rekontextualisierungen und Relectures biblischer Texte als Wirkungsgeschichte zu erheben ist, deutlich, dass der biblische Kanon nicht in erster Linie an der Archivierung alter Texte im Sinne ihrer ursprünglichen Entstehungssituation interessiert ist. Der Kanon als ein Gegenstand der Exegese ist vielmehr ein deutlicher Hinweis darauf, dass biblische Texte in neuen Kontexten neu gelesen und neu als relevant empfunden wurden. Die 17 18 19 20 21
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Vgl. Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja, HKAT III/1, Göttingen 1922, 14f. Vgl. Hermann Gunkel, Joachim Begrich, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, HKAT II Ergänzungsband, Göttingen 1933. Claus Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 1977. Frank Crüsemann, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, Neukirchen-Vluyn 1969. Vgl. Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu hg. von Bernd Janowski, Gütersloh 2010; Bernd Janowski, Kathrin Lies (Hg.), Der Mensch im Alten Testament. Neue Forschung zur alttestamentlichen Anthropologie, Freiburg im Breisgau 2009; Christian Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament, QD 236, Freiburg im Breisgau 2010; Andreas Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, FRLANT 232, Göttingen 2009; Jürgen van Oorschot, Andreas Wagner (Hg.), Anthropologie(n) des Alten Testaments, VWGTh 42, Leipzig 2015.
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so gegebene je und je aktuelle Relevanz ist aber eine ganz spezifische. Denn es geht immer um die Erhellung des Lebens im Angesicht Gottes. Schuld soll aufgedeckt, Hoffnung soll gestärkt werden, und dies von einem Gott her, der in allen geschichtlichen Veränderungen als identisch bezeugt wird. Pointiert gesagt: Die Bibel selbst ist kein Archiv alter Texte, sondern tritt als Wort Gottes mit einem Anspruchscharakter an ihre Leser und Hörerinnen heran. Das jedenfalls ist exegetisch zu erheben.22 Hierzu tritt ein weiterer Faktor: Exegese – auch und erst recht als historischkritische Exegese – ist nicht im Kontext der Religionsgeschichte oder -wissenschaft gewachsen, sondern auf dem Boden der Theologie. Theologie aber ist nicht die objektive Draufsicht auf das Phänomen Religion, sondern die von der Binnenperspektive her betriebene rechenschaftsfähige Selbstreflexion des christlichen Glaubens. Theologie und damit auch Bibelexegese wird betrieben von glaubenden Exegetinnen und Exegeten.23 Sofern Exegese im Kontext der Theologie betrieben wird, kann zumindest prinzipiell vorausgesetzt werden, dass der Glaube der Initiativimpuls ist, der Menschen zum Geschäft der Exegese treibt. Solcher Glaube ist aber notwendigerweise konfessionell bestimmt. Er ist für Exegetinnen und Exegeten unvermeidlich Teil ihres Vorverständnisses. Damit der – wie auch immer zu fassende – persönliche Glaube in der Bibelauslegung nicht den Text dominiert, bedarf es der hermeneutischen Reflexion, der methodisch kontrollierten Exegese und des Diskurses mit anderen. Gerade so aber, indem sich die Exegese zum Glauben der eigenen Rezeptionsgemeinschaft in ein reflektiertes Verhältnis setzt und indem sie sich daranmacht, das biblische Gotteswort als Grund und Quelle dieses Glaubens rechenschaftsfähig zu verstehen, kann die historische Exegese einen theologischen Dienst tun. In der lutherischen Theologie wird einer solchen Exegese geradezu dezidiert ein Platz zugewiesen durch die Rede vom verbum externum, wie sie sich etwa in CA V fin24 det. Und gerade in der lutherischen Theologie wird das biblische Gotteswort nie zu einem integralen Bestandteil eines konfessionellen „Systems“, sondern bleibt stets ein Gegenüber. Das Normengefüge „Schrift und Bekenntnis“ beschreibt nicht zwei gleichberechtigte Größen, sondern verläuft immer in einem Gefälle von der norma 22
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Dazu Horst Dietrich Preuß, Das Alte Testament in christlicher Predigt, Stuttgart u.a. 1984, 49f.: „Der Exeget aber, der nicht bei seiner Exegese biblischer Texte wahrnimmt, daß diese Texte Anspruchs- und Zuspruchscharakter haben, denen ihre Stellung im Kanon jeweils neu zur Verwirklichung verhelfen will, dieser Exeget ist kein ungläubiger Mensch, sondern schlicht ein schlechter Exeget, so wahr wirkliches Verstehen über Kenntnisnahme hinausgeht hin zur Begegnung mi dem Gegenstand und Anliegen des Textes. Das Verstehen von Bibeltexten zielt auf Glauben, und auch daher gehören historisch-kritische und theologische Exegese zusammen.“ Dabei geht es nicht um die wechselnde Frömmigkeitstemperatur einzelner Ausleger, sondern darum, dass es Exegese immer mit Glaube zu tun hat, eben weil sie Teil der Theologie ist. Und insofern wird sie grundsätzlich auch von Glaubenden betrieben. Das aber ist im Vorgang der Auslegung auch zu reflektieren. „Damnant Anabaptistas et alios, qui sentiunt spiritum sanctum contingere sine verbo externo hominibus per ipsorum preparationes et opera“ (BSELK, 101).
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normans zur norma normata. Dahinter verbirgt sich ein hochkomplexer hermeneutischer Vorgang, der mit dem Erscheinen des Konkordienbuches von 1580 keineswegs stillgestellt, sondern erst in Gang gebracht wurde: Das Bekenntnis ist Norm, weil es schriftgemäß ist und wird genau darum auch zu einer Leseanleitung für die Schrift. Aber es kann nur Norm sein, weil es schriftgemäß ist und ist gerade darum immer wieder an der Schrift zu messen. In diesem für die lutherische Kirche noch niemals leicht zu vollziehenden hermeneutischem Prozess kommt auch der Exegese eine zentrale Funktion zu. Im Bemühen um den Textsinn hält sie das Bewusstsein 25 dafür wach, dass in der Bibel die Materialgestalt des extra nos vorliegt. Gerade als methodisch verfahrende historisch-kritische Exegese dient sie, um es mit Gunther Wenz zu sagen, der „Externität des Schriftwortes“26. Für die alttestamentliche Exegese heißt das zunächst, dass die Texte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, die im ersten Kanonteil versammelt sind, als solche ernst genommen und verstanden werden. Für ein Verständnis der Texte in sprachlicher, historischer oder religionsgeschichtlicher Hinsicht ist historische Exegese stricte dicta gefordert. Zugleich schwingt dabei aber die theologische Frage immer mit. Wenn Exegese als Disziplin der Theologie betrieben wird, dann ist der Anredecharakter der Texte, von dem Horst Dietrich Preuß sprach, nicht nur zu beschreiben, sondern es ist auch danach zu fragen, wie die Texte als Gotteswort ihrem eigenen Anspruch nach auch heutige Rezipienten treffen, ob also Exegese ein lediglich deskriptives Geschäft ist oder sich selbst und andere auch dem normativen Anspruch der Texte aussetzt. Da hier Exegese als theologische Disziplin beschrieben wird, ist die Frage im Grundsatz schon beantwortet. Damit beginnt das hermeneutische Geschäft aber erst. Denn es ist ja durchaus zu fragen, welchen Anspruch alttestamentliche Texte an heutige christliche Leser stellen und wie eine solche Anrede an Zeitgenossen zu hören und zu verstehen ist. Es gilt auch im Hinblick auf das Alte Testament, die explicatio und die applicatio nicht vorschnell zu vermischen. Lutherische Theologie – und das gilt auch für „lutherische“ Exegese – ist zunächst vor allem eins, nämlich christliche Theologie. Dann aber ist es keine unbillige Frage, warum das vorchristliche Alte Testament eine normative Rolle für die lutherische Theologie spielt. Das lutherische Bekenntnis jedenfalls hat sich diesbezüglich festgelegt; denn Regel und Richtschnur der Theologie ist nicht allgemein die Bibel, sondern ausdrücklich sind dies „die Prophetischen und Apostolischen 25 26
Vgl. Achim Behrens, Das Alte Testament als Wort Gottes an Christen. Exegese des Alten Testaments in der Perspektive eines erneuerten Schriftprinzips, LuThK 39 (2015), 201–226, 208ff. Gunter Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch 1, Berlin/New York 1996, 191: „Schriftauslegung darf sonach niemals subjektivistisch im Sinne eines bloßen Reflexes eigener Glaubensunmittelbarkeit sein. Die Externität des Schriftwortes und dessen inhaltlich bestimmter eigener Sinn sind vielmehr ernst zu nehmen auch und gerade dann, wenn sie der subjektiven Selbstwahrnehmung als befremdlich erscheinen. Solch strikt geforderte Nichtbeliebigkeit der Schriftauslegung schließt die Kenntnis bestimmter Regeln der Texterschließung notwendig ein, die nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik und Pragmatik von Texten betreffen.“
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Schrifften, altes und neues Testaments“27. Für die lutherische Kirche ist also explizit auch das AT Quelle und Maß aller Lehre. Gleichzeitig ist gerade im Luthertum alle Theologie christuszentriert. Ausdrücklich gilt Christus als Mitte der Schrift. Dies gilt von Luthers Statement „nimm Christus aus der Schrift, was findest du weiter darin“28, über seine Kriteriologie mit Hilfe der Formulierung „was Christum treibet“29 bis zum „propter Christum“ in CA IV30. Das alles sind im Grunde Varianten des Solus Christus. Da nun aber von Jesus von Nazareth expressis verbis im Alten Testament nicht die Rede ist, ist seit den Tagen Marcions die Zugehörigkeit des Alten Testaments zur christlichen Bibel oder doch die Normativität des ersten Kanonteils für Christen immer wieder infrage gestellt worden. Dies gilt erst Recht, seit in den letzten 200 Jahren unter den Bedingungen eines gegenüber dem 16. Jahrhundert veränderten Geschichtsbewusstseins, Christus nicht in demselben Sinne als „Literalsinn“ alttestamentlicher Texte angenommen werden kann, wie dies Luther möglich war. Dennoch hat die evangelische Christenheit – trotz Schleiermacher, Harnack, 31 Hirsch oder Slenczka – unter der Maxime sola sciptura an der ganzen Bibel, und damit eben bewusst auch am Alten Testament festgehalten. So ist es auch kein Zufall, sondern symptomatisch und ein Zeichen der Hochschätzung der Bibel, dass die historisch-kritische Exegese des Alten Testaments in den Reihen des Protestantismus entstand. Lutherische Theologie und Bibelauslegung kann gar nicht anders, als auch das Alte Testament als Heilige Schrift zu verstehen. Gerade wenn man an der Christuszentriertheit der Theologie festhalten will, gilt dies; allerdings unter zwei Voraussetzungen: Erstens ist Christus nicht ohne das Alte Testament zu haben. Die neutestamentlichen Schriftsteller beziehen sich auf Schritt und Tritt auf 27 28 29
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BSELK, 1216. So in De servo arbitrio von 1525: „Tolle Christum e Scripturis, quid amplius in illis invenies?“ (WA 18, 606). Vgl. Luthers Vorrede auf die Briefe des Jakobus und Judas: „Und darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, dass sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu untersuchen, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht […]. Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenn’s gleich S. Petrus oder S. Paulus lehrete. Wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenn’s gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte“ (zitiert nach: Heinrich Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Frankfurt am Main 1983, 216f.). Vgl. BSELK, 99. Vgl. zu dieser Reihung: Friedhelm Hartenstein, Zur Bedeutung des Alten Testaments für die evangelische Kirche. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Notger Slenczkas, ThLZ 140 (2015), 738–751, bes. 747ff. Zur neuesten Begründung einer Ablehnung der Kanonizität des Alten Testaments für die Christenheit vgl. Notger Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt, Reiner Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie, MJTh 25, Leipzig 2013, 83–119. Die dadurch ausgelöste Debatte ist inzwischen unübersichtlich geworden, sodass hier nicht alle Beiträge aufgeführt werden können. Dankenswerterweise hat Notger Slenczka selbst unter https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/AT (Stand: 16.03.2016) wesentliche Texte, vor allem auch seiner Gegner, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Vgl. darüber hinaus auch Behrens, Das Alte Testament (wie Anm. 25), 201–226.
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ihre Heilige Schrift, und es besteht hinreichend Grund zu der Annahme, dass Jesus selbst das auch schon tat. Erst im Licht des Alten Testaments wird deutlich, was der „Christus“ eigentlich ist. In Jesus Christus offenbart sich kein anderer Gott als der Gott Israels. Zweitens gilt umgekehrt: Wir haben das Alte Testament nicht ohne Christus. Wir Christen jedenfalls nicht. Um Christi willen und von Christus her lesen Christinnen und Christen, Theologinnen und Theologen die alttestamentlichen Texte. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass es zuerst immer um den Eigensinn der Texte geht. Im Kontext der christlichen Theologie aber werden die Texte dann auch auf Christus hin gelesen. Dies nun allerdings nicht so, dass Jesus in die Texte hineingelesen würde, sondern dass das Menschenbild und die Rede von der Gnade Gottes im Grunde strukturanalog zum Reden von Gott im Neuen Testa32 ment verläuft. Dass Verheißungen und Denkbewegungen im Alten Testament zu entdecken sind, die über die Zeit der Abfassung hinaus offen sind, schon innerhalb des AT, aber dann auch darüber hinaus. Hier gibt es eine Fülle von hermeneutischen Bemühungen seit dem 20. Jahrhundert, in der sich gerade die alttestamentliche Exegese als Teil der Theologie erweist. Dass es dabei nicht den einen einzigen hermeneutischen Schlüssel für eine christliche Lesart des Alten Testaments gibt, sondern dass unter den Stichworten Verheißung und Erfüllung, Typologie, Heilsgeschichte, Kontinuität und Diskontinuität, Theologische Reflexionsgeschichte oder Existenziale Interpretation eine Vielfalt von Zugängen reflektiert und als schriftgemäß erkannt wird, ist dem Charakter 33 und der Vielgestaltigkeit der biblischen Texte angemessen. Dazu gehört dann auch die Einsicht, dass manches im Alten Testament auch bei näherer Betrachtung fremd oder abständig bleibt. Exegetisch ist vieles davon zu verstehen, theologisch ist manches aber eben nicht immer in ein kirchliches Lehrgebäude zu integrieren. Solch ein differenzierter Zugang auf alttestamentliche Texte findet sich übrigens auch schon in Martin Luthers „Eyn unterrichtung wie sich die Christen yn Mosen sollen schicken“ von 1526.34 Selbst das Bekenntnis dazu, dass „alles Gottes Wort“ sei, führt für Luther nicht dazu, dass seinen christlichen Zeitgenossen gleich
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Vgl. z.B. Markus Witte, Jesus Christus im Alten Testament. Eine biblisch-theologische Skizze, Salzburger Exegetische Theologische Vorträge 4, Münster 2013; Achim Behrens, Christus im Alten Testament. Ein theologisches Problem und ein Blick auf einige messianische Weissagungen des Alten Testaments, in: Ders., Gott und die Welt. Vorträge und Texte für Kirche und Gemeinde, OUH 50, Oberursel 2010, 59–74. Vgl. Claus Westermann (Hg.), Probleme alttestamentlicher Hermeneutik, TB 11, München 1960; Antonius H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, GAT 5, Göt2 tingen 1988; Christoph Dohmen, Thomas Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Biblischtheologische Positionen, Paderborn 1995; Achim Behrens, Das Alte Testament Verstehen. Die Hermeneutik des ersten Teils der christlichen Bibel, Einführungen in das Alte Testament 1, Göttingen 2013; sowie Diethelm Michel, Annäherungen. Gedanken zum Problem der fundamentalen Bedeutung des Alten Testaments und der normativen Bedeutung des Neuen Testaments, in: Ders., Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte, TB 93, Gütersloh 1997, 69–88. WA 16, 363–393.
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auch alles im Alten Testament gesagt sei.35 Zum Biblizisten taugt der Reformator gerade nicht. Luther versucht dann über die Faktoren der Adressaten, der Übereinstimmung mit dem allgemeinen Naturrecht, der Übereinstimmung mit dem Neuen Testament oder der Verheißung auf Christus Rezeptionskriterien für alttestamentliche Aussagen zu entwickeln. Das ist im Detail nicht unproblematisch, weist aber auf eine hohe Sensibilität für die Notwendigkeit zur Differenzierung hin. In diesen Spuren kann eine wissenschaftliche Exegese des Alten Testaments, die bewusst im Kontext lutherischer Theologie betrieben wird, heute noch gehen. 4.
„Wo kommst Du darin vor?“ – Explicatio und applicatio am Beispiel des Dekalogs
Der Dekalog ist neben dem Vater Unser der einzige größere Bibeltext, der im lutherischen Bekenntnis eine zusammenhängende Auslegung erfährt. Dies geschieht bekanntermaßen in Luthers Katechismen. Daher sollen hier neuere exegetische Einsichten mit der applikativen Auslegung des Katechismus ins Gespräch gebracht 36 werden. Dies haben andere anderswo schon ausführlicher getan. Daher beanspruchen die folgenden Ausführungen nicht exegetische Originalität und sie können im vorliegenden Zusammenhang nur exemplarisch geschehen. Zunächst soll der biblische Wortlaut in Erinnerung gerufen werden.
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„Ist alles Gottes wort. Gottes wort hyn, Gottes wort her, ich muss wissen und achthaben, zu wem das wort Gottes geredt werde. Es ist noch weyt davon, das du das volck seyst, da mit Gott geredt hat“ (WA 16, 384,14–16). Dass zur Beschäftigung mit Luthers Dekalogauslegung in den Katechismen auch ein Blick in die alttestamentliche Exegese gehört, zeigt in vorbildlicher Weise Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. 1. Die Zehn Gebote / Luthers Vorreden, hg. von Gottfried Seebaß, Göttingen 1990, 53–62. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass auch umgekehrt, also von exegetischer Seite aus immer wieder ein Blick in die Katechismen geworfen wird. Vgl. z.B. Matthias Köckert, Luthers Auslegung des Dekalogs in seinen Katechismen, in: Ders., Leben in Gottes Gegenwart, FAT 43, Tübingen 2004 oder Timo Veijola, Der Dekalog bei Luther und in der heutigen Wissenschaft, in: Ders., Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, BWANT 149, Stuttgart 2000, 29–47. Insbesondere die bei Peters genannte Literatur entspricht nicht mehr dem exegetischen Forschungsstand. Zur neueren Dekalogexegese vgl. daher (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Hans Jochen Boecker, Recht und Gesetz. Der Dekalog, in: Ders., H.-J. Hermisson, J.-M. Schmidt, L. Schmidt, Altes Testament, Neukirchener Arbeitsbü4 cher, Neukirchen-Vluyn 1996, 110–127; Frank Crüsemann, Bewahrung der Freiheit. Das Thema 2 des Dekalogs in sozialgeschichtlicher Perspektive, München 1998; Axel Graupner, Zum Verständnis der Dekalogfassungen Ex 20 und Dtn 5. Ein Gespräch mit Frank-Lothar Hossfeld, ZAW 99 (1987), 206–329; Matthias Köckert, Art. Dekalog/Zehn Gebote, WiBiLex 2007/2012; Eckart 4 Otto, Art. Dekalog I. Altes Testament, RGG 2 (1999), 625–628; ders., Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3,1, Stuttgart 1994, 208–219; Werner H. Schmidt unter Mitarbeit von Holger Delkurt und Axel Graupner, Die Zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik, EdF 281, Darmstadt 1993 oder neuerdings Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 363–388.
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Ex 20,1–1737 1 2
Und Gott redete alle diese Worte und sprach: Nur ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten geführt habe, aus dem Haus der Knechtschaft.
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Es soll für dich keine anderen Götter geben mir ins Angesicht. Du sollst dir kein Götterbild machen oder irgendein Abbild dessen, was oben im Himmel ist oder was unten auf der Erde ist oder was im Wasser ist, unterhalb der Erde. Du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen; denn nur ich bin Jahwe, dein Gott, ein eifernder Gott, der die Sünde der Väter heimsucht an den Söhnen bis in die dritte und vierte Generation derer, die mich hassen, aber der Treue übt bis in die tausendste Generation derer, die mich lieben und meine Gebote bewahren.
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Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes nicht für Nichtiges erheben; denn Jahwe lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen zum Nichtigen erhebt.
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Gedenke des Sabbattages, ihn zu heiligen. Sechs Tage magst du arbeiten und alle deine Werke tun Aber am siebenten Tag ist ein Sabbat für Jahwe, deinen Gott, (da) sollst du alle deine Werke nicht tun, weder du, noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd, noch dein Vieh39, noch der Fremdling, der in deinen Toren lebt.40 Denn sechs Tage lang machte Jahwe den Himmel und die Erde und das Meer und alles, was darin ist, aber er ruhte am siebenten Tag; daher segnete Jahwe den Sabbattag und heiligte ihn.
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Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage lang werden auf dem Boden, den Jahwe, dein Gott, dir gibt.
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Vgl. parallel Dtn 5,6–21. Statt gedenke ( )זכורbietet Dtn 5,12 bewahre ( )שׁמורund verwendet damit eine typisch dtn./dtr. Vokabel. Statt des Kollektivums dein Vieh ( )ובהמתךbietet Dtn 5,14 dein Rind und dein Esel ()ושׁורך וחמרך und greift damit auf das Ende des Dekalogs in 5,21 voraus. Dies dient in der dtn. Fassung des Dekalogs der Betonung der Zentralstellung des Sabbatgebotes. Dtn 5,15 fährt hier fort: Und gedenke, dass du ein Sklave warst im Land Ägypten, aber Jahwe, dein Gott hat dich von dort herausgeführt mit starker Hand und ausgestrecktem Arm; deshalb hat Jahwe, dein Gott dir geboten, den Sabbattag zu halten. Das Vokabular weist zurück auf den Prolog in Dtn 5,6 und betont so wiederum die Zentralstellung des Sabbatgebotes. Ein Bezug auf die Schöpfung wie in Ex 20,11 findet sich in Dtn 5 nicht.
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Du sollst nicht morden! Du41 sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht stehlen! Du sollst deinem Nächsten gegenüber nicht Lügenzeugnis42 ablegen! Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, auch sollst du die Frau deines Nächsten nicht begehren, noch seinen Knecht oder seine Magd, noch sein Rind oder seinen Esel, noch alles, was deinem Nächsten gehört.43
Gerade im Vergleich mit dem kompakten Text, den der Dekalog in Luthers Kleinem Katechismus darstellt, fallen noch einmal die Besonderheiten des biblischen Wortlautes auf. Da ist zunächst der klare Israelbezug (der ich dich aus dem Land Ägypten geführt habe). Vor allem aber fällt auf, dass dieser Text nicht aus zehn klar zählbaren „Geboten“ besteht, sondern aus unterschiedlich langen und auch inhaltlich disparaten Texten. So sind die Sätze in den Versen 1–2 noch gar nicht Gebot, sondern Prolog, nämlich die indikativische Erinnerung an die Befreiungstat Jahwes für sein Volk Israel. Gerade darin hat er sich als wirksam, als „der Herr“ erwiesen. Während darauf im wesentlichen Verbote folgen, finden sich in V. 8 und 12 ausdrücklich zwei positiv formulierte Gebote. Sabbatheiligung und Elternehrung sind so herausgehoben. Fremdgötter- samt Bilderverbot sowie die Gebote der Sabbatheiligung und der Elternehrung erfahren längere oder kürzere Begründungen. Dagegen bleiben die Kurzprohibitive der (später so genannten) Gebote 5 bis 10 als apodiktische Aus44 sagen stehen. In Ex 20,1–6 ist eindeutig Gott der Sprecher, während ab V. 7 über Gott geredet wird und ab V. 13 gar nicht mehr von ihm die Rede ist.45 Zu diesen Beobachtungen kommt die Tatsache, dass in Dtn 5,6–21 eine parallele Fassung des Dekalogs mit kleinen, aber signifikanten Abweichungen vorliegt.46 Dabei ist heute der Gedanke aufgegeben worden, einen beiden zugrundeliegenden „Urdekalog“ rekonstruieren zu können. Auch ist es nicht wirklich eindeutig, ob die
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In der Parallele zu Ex 20,13–17 in Dtn 5,18–21 wird jeweils ein Und ( )ולאzu Beginn jedes Verses eingefügt. Dadurch werden die Verse Dtn 5,17–21 zu einem Block verbunden. Dtn 5,20 redet hier nicht von Lügenzeugnis, sondern von nichtigem Zeugnis ()עד שׁוא. Dies dient dem Rückbezug auf das Namensmissbrauchsverbot in Dtn 5,11. Dtn 5,21 lautet: Und du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren. [ ]סUnd Du sollst dir nicht das Haus deines Nächsten wünschen, sein Feld, noch seinen Knecht oder seine Magd, noch sein Rind oder seinen Esel, noch alles, was deinem Nächsten gehört, sodass anstatt eines hier zwei Begehrensverbote erscheinen. Dabei wird die Reihenfolge umgekehrt, indem die Frau vorangestellt (und damit nicht unter „Hausstand“ subsumiert) wird. Die masoretischen Leseeinteilung mit Setuma unterstreicht das. Vgl. zur Unterscheidung von apodiktischem und kasuistischem Recht Albrecht Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel 1, München 4 1968, 278–332.; kritisch dazu: Erhard S. Gerstenberger, Wesen und Herkunft des „Apodiktischen Rechts“, WMANT 20, Neukirchen-Vluyn 1965. Zu den Bausteinen des Dekalogs vgl. Otto, Ethik (wie Anm. 36), 212–215. Vgl. die Anmerkungen zur Übersetzung von Ex 20,1–17.
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Exodus- oder die Deuteronomiumsfassung die ältere ist.47 Aus diesen und weiteren Gründen hat sich in der alttestamentlichen Exegese der Konsens durchgesetzt, dass der Dekalog kein Text aus einem Guss ist, sondern dass im Zuge einer längeren Überlieferungsgeschichte unterschiedliche Bausteine zusammengewachsen sind. Während die apodiktischen Kurzprohibitive evtl. aus dem israelitischen Sippenrecht stammen48 und sich auch in der Prophetie des 8. und 6. Jahrhunderts v. Chr. niedergeschlagen haben49, stammen das Sabbatgebot oder auch das Bilderverbot in der vorliegenden Form sehr wahrscheinlich erst aus exilisch/nachexilischer Zeit. Auch literargeschichtlich ist die Verortung der Zehn Gebote in der Sinaiperikope, bzw. in einer bereits dtr. bearbeiteten Fassung des Dtn sicher nicht vorexilisch.50 Der Ort des Dekalogs als Offenbarung am Sinai ist kein im strengen Sinn historischer, sondern ein literarisch theologischer. Dies entspricht einem Verständnis vom biblischen Gotteswort, nach dem dieses eben nicht durch die historische Verifizierbarkeit darin geschilderter Ereignisse legitimiert (oder eben delegitimiert) wird, sondern durch seine Glauben schaffende Wirksamkeit als Wort in der Kraft des heiligen Geistes.51 Und es korrespondiert mit Luthers Auffassung, der ja die Geltung des Dekalogs nicht aus seinem Charakter als Offenbarung am Sinai, sondern mit seiner naturrechtlichen Qualität begründet.52 Allerdings kommt dem Dekalog auch innerhalb des Alten Testaments in der Fülle der Gebote, Gesetze und Gesetzeskorpora eine herausgehobene Sonderstellung zu. Darauf weist schon die Bezeichnung „Zehnwort“ (Ex 34,28; Dtn 4,13; 10,4) hin, obwohl sich weder der Text von Ex 20 noch der von Dtn 5 eindeutig auf „zehn Worte“ festlegen lässt. Der Dekalog leitet in beiden Fällen ein umfänglicheres Gesetzeskorpus ein: einmal das Bundesbuch in Ex 20–23 und dann das dtn. Gesetzeskorpus in Dtn 12–26. In beiden Fällen wird deutlich, dass der Dekalog weniger „Gesetze“ im strengen Sinne als vielmehr ethische Grundnormen enthält, die allen 53 Gesetzen zugrunde liegen. Die jeweils folgenden Korpora stehen unter dem Vorzeichen des Dekalogs und können zum Teil als dessen Auslegung interpretiert werden.54 Der Dekalog hat also bereits inneralttestamentlich eine erkennbar besondere 47 48 49 50 51
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Zur Forschungsgeschichte vgl. Schmidt u.a., Zehn Gebote (wie Anm. 36), 25–35; Otto, Ethik (wie Anm. 36), 209–211. Vgl. a.a.O., 212. Vgl. Hos 4,2; Mi 2,2; Jer 7,9 Vgl. Otto, Ethik (wie Anm. 36), 212. Dies gehört zu den Grundsätzen lutherischer Bibelhermeneutik, nach denen Gottes Geschichtshandeln im Wort und die Kunde von diesem Handeln im biblischen Gotteswort Alten und Neuen Testaments zwar aufeinander bezogen, aber doch voneinander zu unterscheiden sind (vgl. Kirchenleitung der SELK (Hg.), Biblische Hermeneutik [wie Anm. 13], 6). Vgl. Köckert, Luthers Auslegung (wie Anm. 36), 252f.; Wenz, Theologie 1 (wie Anm. 26), 264f. Vgl. „Der Dekalog als Summe des Gotteswillens“ bei Otto, Ethik (wie Anm. 36), 215–219; vgl. Jeremias, Theologie (wie Anm. 36), 363f. Allerdings darf dies auch nicht überstrapaziert werden. So kann der Gedanke bei Georg Braulik, Die deuteronomischen Gesetze und der Dekalog, SBS 145, Stuttgart 1991, die Gesetze in Dtn 12– 26 seien insgesamt nach dem Dekalog strukturiert, nicht überzeugen. Dazu müssten z.B. die sog.
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Bedeutung als Summe des Gotteswillens, und es erscheint auch für die christliche Kirche angemessen, dessen Inhalte als Entfaltung des Doppelgebotes der Liebe aufzugreifen.55 In beiden alttestamentlichen Fassungen beginnt der Dekalog nicht mit einem Gebot oder Verbot, sondern mit einem Prolog, in dem Israels Gott an sein Heilshandeln erinnert. Nur ich bin Jahwe,56 dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten geführt habe, aus dem Haus der Knechtschaft. (Ex 20,2//Dtn 5,6). Damit erhält der Dekalog ein indikativisches Vorzeichen.57 Alle Gebotsbefolgung wird damit als Antwort auf Gottes vorausgehendes Heilshandeln gedeutet.58 Dass der Dekalog selbst ganz im Lichte dieses vorauslaufenden Heilshandeln Gottes gelesen werden will, machen deutliche Rückbezüge auf den Prolog deutlich. So wird etwa in Ex20,5//Dtn 5,9 die Formulierung אנכי יהוה אלהיךwieder aufgegriffen und so an Jahwes Ausschließlichkeitsanspruch, der mit dem Exodusgeschehen begründet wurde, erinnert.59 Insbesondere die Begründung des Sabbatgebotes in Dtn 5,14 bindet die Sabbatruhe für die israelitischen Bürger, aber eben auch für
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Ämtergesetze in Dtn 16,18–18,22 als Auslegung des Gebots der Elternehrung verstanden werden. Dazu müssten aber „Eltern“ und „Obrigkeit“ austauschbar oder zumindest komplementär zueinander sein. Das wäre ganz im Sinne Luthers, aber der Textsinn des 4. Gebots im AT eröffnet diese Deutung nicht. So erfolgt seit Augustin die Aufteilung der Gebote 1–3 (Gott lieben) auf die erste und der Gebote 4–10 (den Nächsten lieben) auf die zweite Tafel des Dekalogs. Vgl. als neuere Beispiele: GEBOTE, erarbeitet im Auftrag und unter Mitwirkung der Kommission für Kirchliche Unterweisung der SELK von Hans Peter Mahlke, Groß Oesingen 2006 oder Werner Klän, „Der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will“. Eine Katechismus-Meditation, OUH 46, Oberursel 2006, 16 und 21. Die Übersetzung drückt aus, dass es sich bei אנכי יהוה אלהיךnicht um eine Selbstvorstellung handelt, sondern um eine Prädikation der Ausschließlichkeit: Jahwe allein ist dein Gott, der sich im Exodus als für sein Volk wirksam erwiesen hat. Darin liegt dann auch die Begründung für das folgende Fremdgötterverbot; vgl. ausführlich Anja A. Diesel, „Ich bin Jahwe“. Der Aufstieg der Ichbin-Jahwe Aussage zum Schlüsselwort des alttestamentlichen Monotheismus, WMANT 110, Neukirchen-Vluyn 2006, 224–238; zur Übersetzung auch Otto, Ethik (wie Anm. 36), 215. Dieses Gesetzesverständnis findet sich auch in Dtn 6,20–25, der sog. „Musterkatechese“. Auf die Frage nach dem Sinn der Gesetze wird mit einer Rekapitulation der Heilsgeschichte geantwortet. Die Befolgung der Gebote ist dann die Antwort auf Gottes vorauslaufendes Heilshandeln. Hier ist die Rede von Indikativ und Imperativ, oder lutherisch: von Glaube und Liebe angebracht, nicht aber von „Gesetz und Evangelium“; vgl. dazu Achim Behrens, „Gesetz und Evangelium“ als Kategorie in der neueren Auslegung des Deuteronomiums, in: Ders., Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 117–142. Vgl. Crüsemann, Bewahrung (wie Anm. 36), 41ff.; oder auch: „Die anfängliche Gottestat der Befreiung ist für das späte Israel zur unabdingbaren Grundlage seines Bekenntnisses zu seinem Gott geworden. Es konnte und wollte nicht von Gott reden, ohne auf diese Grunderfahrung zu verweisen – vergleichbar dem Bekenntnis der neutestamentlichen Gemeinde zu Tod und Auferstehung Jesu –, weil in dieser Grunderfahrung die definitive Bindung an die Gemeinschaft von Menschen zum Ausdruck kam, die Rettung erfahren hatte und sich Israel nannte“ (Jeremias, Theologie [wie Anm. 36], 368f.). Vgl. Jeremias, Theologie (wie Anm. 36), 378f.
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Knechte und Mägde an die Erinnerung an die eigene Knechtschaft in Ägypten und damit an den Prolog zurück. Martin Luther lässt in den Katechismen den Bezug auf den Exodus ebenso bewusst weg, wie überhaupt jede Selbstprädikation Gottes in seiner Auslegung des ersten Gebotes fehlt. Dieses lautet schlicht: „Du solt nicht andere Götter haben.“60 Luther bietet also vordergründig keinen Prolog zum Dekalog. Dennoch ist auch, analog zum biblischen Text, in den Katechismen das Gottsein Gottes die hermeneutische Leitkategorie für alle Gebote.61 Im Kleinen Katechismus wird dies durch den ständigen Rückbezug in den Erklärungen aller Gebote mit der wiederkehrenden Formulierung „Wir sollen Gott fürchten und lieben […]“ deutlich. „Das 1. Gebot ist nach Martin Luther der Quellgrund und Inbegriff aller anderen Gebote. Von ihm nehmen sie ihren Ausgang und weisen auf es zurück“62. Dies zeigt sich innerhalb der Auslegung des Großen Katechismus vor allem darin, dass Luther in der Interpretation des Satzes „Du solt nicht andere Götter haben“ zunächst ganz grundsätzlich danach fragt, was das eigentlich heißt: Einen Gott haben. Seine Antwort lautet: Gott ist der Bezugspunkt des Glaubens. „Denn die zwey gehören zu hauffe, Glaube und Gott. Worauf du nu (sage ich) dein hertz hengest und verlessest, das ist eigentlich dein Gott.“63 Sogleich wird dies auch um den Inhalt des Satzes „Ich bin der Herr, dein Gott“ erweitert: „ICH, Ich will dir gnug geben und aus aller not helffen, lass nur dein hertz an keinem andern hangen noch ruhen.“64 Damit ist die Intention des Prologs des alttestamentlichen Dekalogs auch bei Luther präsent.65 Einer der auffälligen Unterschiede zwischen dem biblischen und dem lutherschen Dekalog ist das Fehlen des sog. Bilderverbots in letzterem. Ex 20,4//Dtn 5,8 verbieten unter Verwendung des Begriffs פסלdie Herstellung einer Götterstatue als Kultbild. Dabei ging es ursprünglich um eine Jahwe-Statue.66 Überlieferungsgeschichtlich ist das Bilderverbot sicher ein Spätling im Dekalog. Gegen die im Alten Orient völlig verbreitete Vorstellung, dass die Götter in ihren Kultbildern real präsent (und dann in diesen Bildern auch verletzlich) sind, setzt sich in Israel zuneh60
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BSELK, 862 [KK] und 930 [GK]. Anders übrigens in moderneren Ausgaben. So bietet das Evangelisch-Lutherische Kirchengesangbuch das erste Gebot in der Form „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“ (ELKG, 1263). Vgl. Wenz, Theologie 1 (wie Anm. 26), 267–272. Klän, „Der dir helfen […]“ (wie Anm. 55), 16. BSELK, 932. Ebd. (Hervorhebung so im Original). Dabei zeigt bereits Luthers Auslegung des ersten Gebotes die Grenze seiner naturrechtlichen Begründung einer Geltung des Dekalogs. Denn das betonte ICH des Gottes, an den allein die Leser des Katechismus glauben sollen, ist ja inhaltlich nicht unbestimmt, sondern es ist eben der Gott, der sich im biblischen Wort offenbart. Der Satz „Du sollst nicht töten“ mag universell gelten, die Antwort auf die Frage „Wer ist der Gott, dem unbedingt zu glauben ist?“, ist ohne Bezug auf das biblische Gotteswort nicht zu haben; vgl. so auch Wenz, Theologie 1 (wie Anm. 26), 265 (mit dem Hinweis darauf, dass Luthers Begriff einer lex naturalis eben auch nicht mit einem nachaufklärerischen Naturrechtsbegriff gleichgesetzt werden darf) und Peters, Kommentar 1 (wie Anm. 36), 72. 4 Vgl. Christoph Uehlinger, Art. Bilderverbot, RGG 1 (1998), 1574–1577.
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mend die Vorstellung der Transzendenz Gottes durch.67 In der jetzigen Endgestalt des Dekalogs greift das pluralische Verbot Du sollst sie nicht anbeten aus Ex 20,5 eindeutig über das Bilderverbot hinaus zurück auf das Fremdgötterverbot in V. 3. Dadurch wird aber das Bilderverbot zu einem Aspekt des Fremdgötterverbotes.68 Das Bild enthält die Tendenz zu Apostasie. Der Rückgriff von Ex 20,6 mit der Formulierung auf V. 2 unterstreicht die Zusammengehörigkeit des Prologs, des Fremdgötter- und des Bilderverbots als einer gedanklichen Einheit. Wenn also Luther, darin der Tradition seit Augustin folgend, das Bilderverbot weglässt und sich ganz auf „Du solt nich andere Götter haben“ konzentriert, setzt er damit eine im AT überlieferungsgeschichtlich bereits angelegte Tendenz fort. Dass damit – jenseits eines Ikonoklasmus – theologische Aspekte des biblischen Bilderverbots verloren 69 gehen, die auch heute noch bedenkenswert sind, ist aber ebenso richtig. Schließlich sei noch ein Blick auf das Gebot der Sabbatheiligung geworfen. Das Gebot der Sabbatruhe ist eben vor allem auf diese Ruhe konzentriert. In Dtn 5 geschieht dies als Erinnerung an das Sklavesein in Ägypten, in der wohl späteren priesterschriftlichen Fassung von Ex 20 findet sich ein Rekurs auf die sieben Tage des ersten Schöpfungsberichtes (bes. Gen 2,1–3). Die Ruhe, die da eingehalten werden soll, ist umfassend. Sie gilt für Mensch und Tier und explizit auch für Fremdlinge und Sklaven. Damit ist die Sabbatruhe vor allem eine sozialrechtliche und weniger eine kultische Bestimmung. Allenfalls im Verb heiligen ( )ֹקדשׁdeutet sich von ferne etwas wie „Gottesdienst“ an. Im AT handelt es sich dabei aber zu70 nächst um die privilegrechtliche Aussonderung eines Zeitabschnitts für Jahwe; an Gottesdienst im Sinne einer kultischen Versammlung ist dabei zunächst nicht gedacht. Das Wort Sabbat bezeichnet ursprünglich einen Neumondtag, erst sekundär wir diese Bezeichnung auf den wöchentlichen Ruhetag übertragen.71 Dies ge67
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„Das Bilderverbot sichert als Aussage der Transzendenz Gottes auch seine Unverfügbarkeit. Jede Vergegenständlichung Gottes im Abbild bedeutet Verfügbarkeit für den Menschen“ (Otto, Ethik [wie Anm. 36], 216); vgl. aber die stärker an der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf orientierte Deutung bei Jeremias, Theologie (wie Anm. 36), 371–377. Vgl. die Strukturierung bei Schmidt u.a., Zehn Gebote (wie Anm. 36), 65; sowie das Urteil bei Jeremias, Theologie (wie Anm. 36), 377, „dass im Verständnis des Dekalogs das Bilderverbot nur als eine Spielart des 1. Gebots erscheint und Götterbilder im Blick hat“. Ganz ähnlich Peters, Kommentar 1 (wie Anm. 36), 137: „Das Bilderverbot ist kein eigenständiges Verbot, es ordnet sich dem umgreifenden Abgöttereiverbot als Sonderfall ein und unter. Luther folgt hierin den deuteronomischen Predigern, welche das Bilderverbot dem Fremdgötterverbot zuordneten“. „Darum ist es zu bedauern, daß Luther dieses Gebot in seinen Katechismen übergangen hat, statt nach seiner Eigenart zu fragen und seinen Geltungsbereich im christlichen Glauben abzustecken“ (Schmidt u.a., Zehn Gebote [wie Anm. 36], 60); vgl. zu einer zeitgenössischen lutherischen Adaption des Bilderverbots z.B.: Georg Gremels, Sieben Säulen evangelischer Spiritualität, Göttingen 2003, 53. „Die Privilegrechtstheologie des Ruhetaggebotes unterstellt durch die Aussonderung des siebten Tages für JHWH die menschliche Arbeitskraft und mit ihr die Erträge der Bearbeitung der Natur der Herrschaft Gottes“ (Otto, Ethik [wie Anm. 36], 215). Vgl. ausführlich Alexandra Grund, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur, FAT 75, Tübingen 2011.
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schieht im babylonischen Exil, wo der Sabbat neben der Beschneidung zum identitätsstiftenden Merkmal Israels wird.72 Insbesondere im Kleinen Katechismus legt Luther dann aber alles Gewicht auf Gottesdienst und Gottes Wort.73 In beiden Katechismen legt er das Gebot in der Form „Du solt den Feiertag heiligen“74 aus. Dabei zeigt Luthers Auslegung im Großen Katechismus, dass er den Sinn des alttestamentlichen Gebotes genau erfasst hat und sich sehr bewusst eine andere Deutung zu eigen macht. Luther weiß um das Wort Sabbat, „welches eigentlich heisset feiern, das ist müssig stehen von der arbeit, daher wir pflegen zu sagen, Feierabend machen oder heiligen Abend geben“75. Luther sieht also den sozialen Aspekt des Ruhetagsgebots sehr wohl und gesteht den auch als gut und nötig zu. Ein Feiertag im christlichen Sinne wird der Sonntag, der für Luther nun aus Gründen des Brauchtums der Feiertag ist, erst durch eine strenge Interpretation des Wortes „heiligen“. „Wie gehet nu solchs heiligen zu? Nicht also, das man hinder dem ofen sitze und kein grobe arbeit thue oder ein Krantz auffsetze und seine beste Kleider anziehe, sondern (wie gesagt) das man Gottes Wort handle und sich darin ube.“76 Die intensive Beschäftigung mit dem Wort Gottes macht also den Ruhetag zu einem christlichen Feiertag. Es ist gut, dass ein besonderer Tag der Woche dafür geordnet ist. Luther führt damit eine Wirkungsgeschichte des Sabbatgebotes fort, die im nachexilischen Judentum mit der Etablierung des Synagogengottesdienstes beginnt, im Neuen Testament zu greifen ist und von der christlichen Kirche aufgegriffen wird.77 Der biblische Dekalog dürfte dabei (noch stärker als die Schöpfungsgeschichte) der entscheidende Impuls für die Strukturierung der Zeit im Wochenrhythmus sein.78 Auch am Gebot der Feiertagsheiligung zeigt sich, dass eine ausschließlich naturrechtliche Begründung des Dekalogs insbesondere im Hinblick auf die Gebote der „ersten Tafel“ nicht durchzuhalten ist. Bei aller bewussten Abgrenzung Luthers vom alttestamentlichen Literalsinn des Gebots,79 sind Kontinuitäten doch unübersehbar. Wenn Luther auf die Beschäftigung mit Gottes Wort am Feiertag großen Wert legt, so kann nicht übersehen werden, dass die „( עשׂרת הדבריםZehnworte“) eben Teil dieses Wortes sind, das als Anrede von außen an den Menschen ergeht und eben nicht vollumfänglich jedem und jeder ins Herz geschrieben ist.
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Vgl. Jeremias, Theologie (wie Anm. 38), 380. Vgl. BSELK, 864. Vgl. BSELK, 864 und 958. BSELK, 958. BSELK, 562. Gleichwohl gilt im Hinblick auf den alttestamentlichen Textsinn: „Mit diese Entfaltungen ist Luther weit über den Sinn des Sabbatgebotes hinaus gegangen“ (Köckert, Luthers Auslegung [wie Anm. 36], 274). Zur Wirkungsgeschichte des Sabbatgebotes vgl. Grund, Entstehung (wie Anm. 71), 311–320. „Darumb gehet nu dis Gebot nach dem groben verstandt uns Christen nichts an, denn es ein gantz eusserlich ding ist wie andere Satzunge des alten Testaments, an sonderliche weise, person, zeit und stete gebunden, welche nu durch Christum alle frey gelassen sind“ (BSELK, 960).
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Diese wenigen Beobachtungen zeigen, dass Luther im Grunde nicht den biblischen Dekalog auslegt, sondern einen eigenen Text schafft, den er in das Leben der Christenmenschen seiner Zeit hinein auslegt („appliziert“).80 Er macht das sehr bewusst und in Kenntnis der Unterschiede seiner Auslegung zum Textsinn des alttestamentlichen Wortlautes. Der exegetische Blick auf den biblischen Dekalog schärft diese Einsichten. Dabei kann die Exegese einerseits aufzeigen, dass Luthers Auslegungen zum Teil in einer wirkungsgeschichtlichen Kontinuität der Auslegung des Textes stehen, die z.T. bereits in vorneutestamentliche Zeit zurückreicht. Zwischen seiner Konzentration der Feiertagsheiligung auf die Beschäftigung mit Gottes Wort und Predigt und der Einführung des Synagogengottesdienstes am Sabbat bestehen durchaus Analogien. Andererseits weist die Exegese aber auch deutlich auf Diskontinuitäten zwischen dem biblischen Wortlaut und Luthers Auslegung hin. So ist der explizite Bezug des Dekalogs auf den Exodus im AT unerlässlich und das entscheidende hermeneutische Vorzeichen vor den Geboten. Dieser Indikativ ist 81 bei Luther implizit auffindbar, aber eben nur implizit. Exegetisch wäre zu fragen, ob dem Bilderverbot nicht auch im Rahmen der lutherischen Theologie ein guter Sinn abzugewinnen wäre. Dies ließe sich im Hinblick auf die übrigen Gebote weiter durchspielen. Bemerkenswert ist, dass Luther den Dekalog nicht als Gesetz im Sinne eins usus elenchticus interpretiert82, sondern als Lebensweisung für Christen und damit im besten Sinne als Tora.83 5.
Lutherische Exegese des Alten Testaments in „unentrinnbarer Zeitgenossenschaft“
Exegese im strengen Sinne als das Bemühen darum, biblische Texte in ihrem Wortsinn zu verstehen, ist ein konstitutiver Bestandteil einer Theologie, die sich auf das Wort Gottes gründet und an dieses Wort bindet. Denn wenn „der Herr redet“ und der „Gott der Bibel […] der redende Gott“84 ist, dann entspricht dem auf menschlicher Seite Hören und Verstehen. So richtig es ist, dass die Glauben schaffende Kraft des Wortes im Wirken des Heiligen Geistes gründet und nicht an möglichst genaues Verstehen gebunden ist, so findet das Wort Gottes sein Ziel doch in der Regel nicht 80 81 82
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Vgl. auch Wenz, Theologie 1 (wie Anm. 26), 264f. Zu den möglichen Missverständnissen einer solchen Dekalogfassung vgl. Jeremias, Theologie (wie Anm. 36), 370. Dies findet sich allenfalls in der Struktur des Katechismus, wonach auf die Gebote als Frage danach, was der Mensch tun soll, das Glaubensbekenntnis als Explikation dessen, was Gott tut, folgt; vgl. in diesem Sinne Köckert, Luthers Auslegung (wie Anm. 36), 250f. „Die Zehn Gebote sind für Martin Luther in ihrem evangelischen Sinn hilfreiche Weisung Gottes und sind darum ‚für den höchsten Schatz [zu] halten, den Gott gegeben hat‘.“ (Klän, „Der dir helfen […]“ [wie Anm. 55], 15). Hermann Sasse, Sacra Scriptura. Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Erlangen 1981, 11.
Gibt es eine lutherische Exegese des Alten Testaments?
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ohne Hören und Verstehen. Exegese als das methodisch kontrollierte Bemühen um dieses Verstehen ist in ihrem Verfahren zunächst kein theologisches Geschäft. Sie vollzieht sich nach einer rechenschaftsfähigen, intersubjektiv vermittelbaren Methodik. Dadurch ist sie kommunikationsfähig, vollzieht sich aber auch in „unentrinnbarer Zeitgenossenschaft“85. Die Fragestellungen, Erkenntnisse oder Mentalitäten des 21. Jahrhunderts sind nicht einfach dieselben wie die des 16. oder 19. Jahrhunderts. Vieles hat sich seit der Reformation verändert, aber es gibt auch erstaunliche Kontinuitäten, wie immer wieder ein Blick in Luthers ausführliche Exegesen zeigt. Das Verfahren der Exegese ist also zunächst nicht eigentlich „theologisch“ und insofern auch nicht notwendig konfessionell bestimmt. Dennoch ist, wie eben schon gesagt, Exegese Theologie durch ihren Gegenstand, durch die Prägung derjenigen, die sie betreiben, und durch den Kontext von Theologie und Kirche, in dem sie betrieben wird. Insofern ist sie notwendigerweise 86 (also ebenso „unentrinnbar“) konfessionell geprägt. Das wird deutlich, wenn Exegese im Rahmen der Ausbildung zum Pfarramt betrieben wird und dabei das Pfarramt in einer ganz bestimmten Kirche im Blick ist. Das wird aber auch deutlich im kollegialen Gespräch (das als notwendiger Diskurs immer auch der Vergewisserung oder Korrektur der eigenen exegetischen Erkenntnisse dient) mit den anderen theologischen Disziplinen. Dabei hat die Exegese neben anderen auch den Spannungsbogen zwischen Explikation und Applikation im Blick zu haben.87 Am Ende einer gründlichen Exegese steht weder ein dogmatischer Lehrsatz, noch eine Predigt und auch kein Unterrichtsentwurf, aber auch Exegese dient mit ihrem Geschäft diesen Zielen. Sie tut das, indem sie zunächst möglichst genau ihre eigene Aufgabe erfüllt, wie sie mit dem sich ständig verändernden Instrumentarium der historisch-kritischen Methode zu beschreiben ist. So wird Exegese zum Anwalt des biblischen Wortlautes und dient der „Externität des Schriftwortes“, indem sie seinen Charakter als Materialgestalt des extra nos bewusst hält.
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Für diese Formulierung vgl. Werner Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft. Theologische, historische und methodische Gesichtspunkte für den Umgang mit der jüngeren Vergangenheit der konfessionellen lutherischen Kirchen im südliche Afrika, in: Ders., Gilberto da Silva (Hg.), Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 13, Göttingen 2013, 54–67. Dafür gibt es auch innerhalb der historisch-kritischen Exegese des Alten Testaments durchaus ein Bewusstsein: „So ist es auch nicht überraschend, daß beim Verstehen biblischer Texte im Horizont der Gegenwart der jeweilige konfessionelle Standort des Interpreten und Lesers eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt. Biblische Texte haben ja ihren ‚Sitz im Leben‘ – neben der gleichsam privaten Bibellektüre – im Unterricht, in der Liturgie und in der Verkündigung der Kirche, und wenn es um den normativen Anspruch der Bibel für das Leben der Glaubenden geht, sind Unterschiede zwischen den Konfessionen wahrnehmbar, die man sich bewußt machen muß“ (Becker, Exegese [wie Anm. 13], 143). Vgl. Achim Behrens, Exegese des Alten Testaments als theologische Disziplin, in: Ders., Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelischlutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 64–82, bes. 79ff.
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Achim Behrens
Sodann gehört zum Geschäft der Exegese selbst auch immer wieder die theologische Standortbestimmung der eigenen Disziplin. Exegese als Teil der Theologie kann ihre eigene Aufgabe nicht rein deskriptiv verstehen. So tritt zu den Einzeldisziplinen das „Wagnis des Zusammendenkens“ (Zimmerli) in Gestalt der „Theologie des Alten Testaments“, aber immer wieder auch die hermeneutische Grundlagenreflexion. Diese geschieht wiederum in Zeitgenossenschaft und eigener konfessioneller Bindung – beides unentrinnbar. Für eine lutherische Exegese des Alten Testaments heißt das, wie oben gesagt, dass sie sich ihrem Gegenstand immer um des Neuen Testaments willen zuwendet. Es bedeutet nicht, dass Texte des AT in vormoderner Weise „christologisch“ interpretiert werden, aber doch, dass die Texte von Christus her und auf Christus hin gelesen werden. Exegese im Kontext christlicher Theologie liest alttestamentliche Texte schließlich als Wort Gottes auch an Christen. Was das in praxi bedeutet, muss die Einzelexegese und deren gegenwartsbezogene Auslegung erweisen, deren Ergebnisse dann auch gern den Kollegen zur Diskussion gestellt werden. Ich freue mich darauf, dieses Gespräch mit Werner Klän fortzusetzen.
Christ’s heart of mercy and the challenge of a Christendom divided at the Lord’s Supper Dieter Reinstorf1 1.
Paving the way forward
My task is to make a hermeneutical-exegetical contribution to the over-arching topic of “the unifying center” that characterizes a theology – akin to Klän – that is both confessional and ecumenical. The point of departure is to be Martin Luther’s hermeneutical principle “Was Christum treibet”. The exploration of this principle is not to culminate into an exposition of the central topic of justification in Paul’s letters to the Romans and Galatians that shaped Martin Luther’s theology, but rather in the form of a parable that reveals the very “heart” of Christ (as that which drives Christ), often expressed in his practice of having table fellowship with “tax collectors and sinners.” This is to lead us to look into the topic of church fellowship and altar fellowship and the present day challenges of being both confessional and ecumenical.
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It is a great honor to make a contribution to the Festschrift of my friend Werner Klän. Our friendship developed over many years. We met for the first time in Brazil at the first International Lutheran Council (ILC) World Seminaries Conference held in 2001. Thereafter we met regularly at other international conferences and symposiums, where more often than not Werner Klän was the keynote speaker. Our friendship developed further after he accepted invitations to teach block courses at the Lutheran Theological Seminary in Tshwane (LTS). His working visits to South Africa often culminated in short holidays in particular to our home in Cape Town with extended Tischreden (table talks) that lasted into the late hours of the night. Werner Klän’s theological contributions were often complex and difficult to follow, especially for us South Africans. But it was during these talks that I gained insight into the “heart” of Werner Klän and what defines the core of his theology: Apart from his unwavering commitment to Scripture as the Word of God, it was the experience of God’s mercy expressed in Christ’s justification of the sinner. It graced him with humbleness, deepened our friendship and proved to be the einigende Mitte (the unifying center) in our many and sometimes diverging theological discourses. It may be added that Werner Klän became my personal confidant in matters of theology. Working within a small church with limited resources and few qualified researches, he evaluated most papers, guidelines, handouts, and proposed changes to the constitution of the Free Evangelical Lutheran Synod in South Africa (FELSISA). Most present-day pastors of the FELSISA studied theology under his guiding hand at the Lutherische Theologische Hochschule in Oberursel. As a result of his frequent visits to South Africa to teach at LTS, he has received numerous invitations to present papers at the Synodical Convention of the FELSISA, the Church Convention of the Lutheran Church in Southern Africa (LCSA), pastor’s conventions, youth and women retreats and preaching opportunities, which he always gladly accepted, realizing the importance of ‘Anrede’ in bringing Christ to others. In South Africa we regard him as ‘one of our own’
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Was Christum treibet
Surprisingly little has been published on this well-known principle, although it speaks directly to the use and authority of Scripture. In South Africa it was explored by Andries van Aarde, primarily in defense of criticism levelled at him that in his search for the historical Jesus he had abandoned the basis of the canon as the primary authority for the church. The criticism is valid when “was Christum treibet” is seen to be the canon-within-the-canon (Alexander Schweitzer [1808–1888]), which could boil down to reductionism and relativizing the authority of Scripture. This, however, is not what van Aarde proposes. He is responsible for introducing “the cause of Jesus as the canon behind the canon”2 into the scholarly debate in South Africa.3 Van Aarde’s efforts boil down to highlighting that aspect that is foundational to the authority of the canon. The authority lies not in the book itself, nor its authorship, but rather in a person, Jesus as the Crucified and Risen One.4 This does not make the biblical text redundant. We only go to Jesus through the text. But it is always Him whom we seek. Critical historical scholarship is characterized by the distinction that is made between the authentic words and deeds of Jesus and the faith assertions of his followers. Both, together, constitute the Jesus kerygma which forms the basis of our faith to live by the “cause of Jesus”. These assertions of faith, however, do not equally convey the “cause of Jesus” and should not become the object of our faith.5 This applies both to the assertions of faith of the early followers of Jesus, some of whose assertions have been captured in the canon, but also of the post-canonical period. The temptation for us human beings is always there to put our ultimate trust in the assertions of faith, that is, in the wording in which the faith finds expression, rather than in the cause of faith. Failure to make this distinction, simply equating assertions of faith with the cause of faith, can lead to forms of oppression and alienation. Such oppression takes place when those in power exercise authority (in the sense of manipulative 6 power) over those less knowledgeable. This was clearly the case in the period fol2 3 4
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This phrase originated in the thinking of Willi Marxsen, see inter alia Willi Marxsen, Die Sache Jesu geht weiter, (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1996), in particular 46–63. Andries van Aarde, “The ‘cause of Jesus’ (Sache Jesu) as the Canon behind the Canon”, HTS 57 (2001): 148–171. See also Wilhelm Maurer, “Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons”, in: Wilhelm Maurer, Kirche und Geschichte (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1970), 134–158, in particular 148, summarizing Luther’s understanding regarding Scripture: “Es gibt nur einerlei apostolische Lehre, weil es nur ein Evangelium von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes gibt. Dieses Evangelium ist im eigentlichen Sinn kein Buch, in Buchstaben gefaßt, ‘sondern mehr eyn mundliche predig and lebendig wortt und eyn stym, die da ynn die ganz wellt erschallet und offentlich wirt außgeschryen, das mans uberal höret’, schon gar nicht hat es mit einem Gesetzbuch zu tun.“ The Latin expressions fides qua creditur and fides quae creditor allude to the distinction that is made here. Van Aarde, “Cause of Jesus” (footnote 3), 151, with reference to James Barr, draws attention to the difference between the words “authoritarian” and authoritative.” The former pertains to the
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lowing the canonization of the Old Testament. Scribes influenced the illiterate lower classes by setting up schools in order to interpret these sacred texts within an ideology that constituted a frame of reference among the masses that agreed with their own symbolic and social word.7 This led, among other things, to a number of purity regulations that barred sinners from entering the temple and prohibited the righteous Israelite to have table fellowship with a known sinner. That the church during the time of the Reformation was no different is epitomized by the practice of indulgence as one example of exercising illegitimate ecclesiastical authority over others. Van Aarde asserts that it was none other than Martin Luther himself who taught us to scrutinize the traditions, not only of the church, but also of the apostolic wit8 ness within the Bible itself. For Luther this was the search for the foundation of Scripture, that is the search for Christ (was Christum treibet). This is confirmed by Luther’s understanding of the concept “apostolicity,” one of the criteria used in formalizing the canon. For Luther “apostolicity” was not to be understood in the literal sense. Instead the concept was rather to be understood materially (sachlich). This becomes evident in Luther’s preface to the letters of Saint James and Jude: [In this way] all the correct holy books agree, in that every one of them preaches and drives Christ home [“Christum predigen und treiben”]. This is also the correct touchstone for evaluating all books: to see whether they drive Christ home or not, since all Scripture shows Christ, Rom. 3[:21], and Saint Paul desires to know nothing but Christ, 1 Cor. 2[:2]. Whatever does not teach Christ is not apostolic, even if Saint Peter or Saint Paul teaches it. Once again, whatever preaches Christ, that is 9 apostolic, even if it were to be presented by Judas, Annas, Pilate, and Herod.
The examples provided by Luther are subversive to the extreme and confirm his conviction that some canonical writers drive Christ home more than others. Luther’s utterances also presuppose that inspiration is not confined to the canonical writers.10 A present-day sermon can be more foundational to faith than earlier faith traditions, the measuring rod always being the Christ event, which in turn is defined more specifically by Luther in the way Law and Gospel are to be distinguished. The authority of Scripture lies in its ability to work faith.
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expectation that a command should be obeyed, irrespective of its fairness, because it comes from a power position. The latter pertains to the expectation of obedience because adherence to commands is recommendable. Recognizing Scripture as God’s authoritative revelation of the cause of Jesus would then suggest discipleship to be a wrestling with the saying of its master until they can be seen to mean something in his or her own experience. Cf. Van Aarde, “Cause of Jesus” (footnote 3), 163–164. Cf. ibid., 155. LW 35:396. WA 52:128–129. See also Maurer, “Luthers Verständnis” (footnote 4), 152: “Was Christum treibet, das ist dasselbe, was die Apostel in der Kraft des Heiligen Geistes bezeugt haben.”
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For Oswald Bayer the above quote from Luther makes the dividing line that distinguishes Christian theology from a Bible fundamentalism absolutely clear.11 A scriptural authority that is based on formal grounds will seek to read Scripture in a flat (one dimensional) way that does not have a central message and will inevitably seek to harmonize disputed passages. Faith assertions will however always be diverse. This diversity was well tolerated by Luther, epitomized by the fact that despite his ranking of biblical books and his assessment of James as an “epistle of straw”,12 he never excluded any of the “questionable books” from the canon.13 What was problematic for Luther was that certain faith assertions (in the context in which they were read) could cause alienation from the “cause of Jesus”. If that was the case, he did not hesitate to evaluate such assertions (both in the Bible and in Christendom in general) critically in the light of God’s justifying event in Jesus. “Was Christum treibet” is placed firmly in the foreground. It was in a conversation with Robert Kolb that my attention was drawn to the “heart” of God and indeed of Christ himself when reflecting on “was Christum treibet”. From this perspective Christ is not the object of reflection, but the subject, which are dialectically linked. The lens through which Scripture then is read is “what made the heart of God throb” and “drove Christ” as he sought out the sinner, crossed conventional boundaries, and took the suffering and death of the cross upon himself? Such a reading is validated by Luther’s recurring statements of seeing God’s “heart” in the suffering and resurrection of Christ, most prevalent in A 14 Meditation of Christ’s Passion. After encouraging his friend to meditate on the suffering of Christ and his own sinfulness, he moves to Christ’s resurrection and writes: [Y]ou must no longer contemplate the suffering of Christ (for this has already done its work and terrified you), but pass beyond that and see his friendly heart and how this heart beats with such love for you that it impels him to bear with pain your conscience and your sin. Then your heart will be filled with love for him, and the confidence of your faith will be strengthened. Now continue and rise beyond Christ’s heart to God’s heart and you will see that Christ would not have shown this love for you if God in his eternal love had not wanted this, for Christ’s love for you is due to his obedience to God. Thus you will find the divine and kind paternal heart, and, as Christ says, you will be drawn to the Father through him. Then you will understand 11 12
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Oswald Bayer, Martin Luther’s Theology: A contemporary interpretation (Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 2007), 82. LW 35:362. See also Mark Thomson, A Sure Ground on Which to Stand: The Revelation of Authority and Interpretive Method in Luther’s Approach to Scripture (Carlisle: Paternoster, 2005), 133. Thomson highlights that Luther’s assessment of the Epistle of James was a “comparative assessment” (compared to all others) and that by 1516 his own assessment of the letter had also undergone some change. See Maurer, Luther’s Verständnis (footnote 4), 152: “Das [was Christum treibet] bedeutet nicht Aufhebung des Kanons, auch nicht Überschreitung des Kanons, sondern Auslegung des Kanons im Licht der Christusoffernbarung mit der damit gegebenen Geistesverheißung.” LW 42:7–14.
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the words of Christ, “For God so loved the world that he gave his only Son, etc.” [John 3:16]. We know God aright when we grasp him not in his might or wisdom (for then he proves terrifying), but in his kindness and love. Then faith and confi15 dence are able to exist, and then man is truly born anew in God (my emphasis).
It is my intention to explore the “heart” of God and the “heart” of Christ as I seek to interpret Scripture in what I believe is akin to Luther’s “was Christum treibet”. 3.
A Man had two sons and the feast
The choice to explicate a parable and some other stories in Luke’s Gospel is a conscious choice. The stories which Jesus told were sermons, the preached Word. In Luther’s mind the authoritative power of God’s Word lies especially in the preached Word (as ‘Anrede’) in which Christ himself is present, as is the Spirit, and where his kingdom dawns on us.16 17 In my own research on Luke’s Gospel I have come to the conclusion that not only the parables of Jesus but the whole narrative of Luke-Acts is a story of opposites and reversals.18 Similar to the parables that invariably shock the listener with an unexpected twist in the story, Luke in his narrative juxtaposes opposing entities with the intended goal to challenge a prevalent world-view that would reveal the essence of God’s dawning kingdom. Most people are not aware that the way they see reality is not fixed, but is a particular view into which they have been socialized. Within Israelite society the view of God was central to how that reality should be ordered. God was viewed as the supreme order. In Luke’s narrative God does not 15 16
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Ibid., 13. See also Dennis Ngien, “Reaping the right fruits: Luther’s meditation on the ‘Earnest Mirror, Christ’,” International Journal of Systematic Theology 8/4 (2006): 382–410. Cf. Robert Kolb and Charles P. Arand, The Genius of Luther’s Theology, (Grand Rapids: Baker Academics, 2008), 131–159. See also Oswald Bayer, Martin Luther’s Theology (footnote 11), 77– 78. Bayer stresses the high value that Luther placed on the written word, despite Luther’s remarks that Christ first and foremost “spoke” and the fact that books had to be written was already to the detriment and a weakness of the spirit (WA:537.11f.). The written word is primarily a “revelation-word,” the spoken word is the actual “means-of-grace-word” – see Peter H. Nafzger, “These are Written.” Towards a Cruciform Theology of Scripture (Eugene: Pickwick Publications, 2013), 140. These words of Willi Marxsen are also very informative: “Bei allem muss ich mir nun aber klar sein, dass meine Predigt für die Gemeinde dieselbe Verbindlichkeit hat, die der neutestamentliche Text für jene Zeit hatte […] Hier liegt die grosse Verantwortung des Predigers. Es geht um nicht weniger als darum, dass Christus in meiner Predigt und durch meine Predigt repräsentiert wird. Ich kann es nicht machen, dass es zu dieser Repräsention kommt. Aber ich kann es erschweren oder gar verhindern. Ich verhindere es dann, […] wenn ich erkläre statt zuzusprechen, wenn ich in der Vergangenheit bleibe, statt meinen Hörern zu verkündigen […] Die wirkliche Predigt besteht […] darin, dass der Pastor nicht zuerst erklärt und dann anredet […] sondern die Kunst besteht darin, dass er die ganze Predigt hindurch anredet.” Willi Marxsen, Der Beitrag der wissenschaftlichen Exegese des neuen Testamenten für die Verkündigung, in Der Exeget als Theologe. Vorträge zum Neuen Testament (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1968), 73. Dieter Reinstorf, Metaphorical stories in Luke’s narrative world: A challenge to a conventional worldview (Pretoria: University of Pretoria, 2002), 83–185.
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feature explicitly as a character, but he is nevertheless the unseen central character around whom everything revolves. Jerome Neyrey has highlighted that within the thinking of the Israelites order was expressed in terms of God’s “holiness.”19 The principal refrain that echoes throughout the Old Testament is the phrase “I, the Lord your God, am holy […] therefore be holy, because I am holy” (Lev 11:44–45; 19:2; 20:7, 26, 21:28). God’s holiness is understood as an act of ordering, exercised by means of blessing and cursing. Being set apart by God, the Israelites endeavored to be holy as well, expressed primarily in worship, which in turn was defined by the Torah. A central part of the Torah therefore dealt with the concept of holiness. It contained regulations on proper worship, codes of holiness with regard to other people, animals and places.20 A holy Israelite would therefore not share table fellowship with “tax collectors and sinners.” Although Luke does not present Jesus as totally disregarding the system of Israelite order and holiness, he does by the juxtaposition of his imageries articulate a vision of God in non-conventional terms and values. This is particularly apparent in Luke 6:36 where Jesus in obvious allusion to Leviticus 11:14 says to his disciples, “Be compassionate just as your Father is compassionate.” Here God’s holiness is consciously reinterpreted in terms of the divine attribute of compassion. Both in the Magnificat and the Benedictus God’s compassion or mercy is characterized as God’s central attribute (see Lk 1:50, 54, 47, 72, 78). The social outcasts, the tax collectors (Lk 18:13–14) and the sick (Lk 18:38), experience mercy at the hands of God. The Israelite leaders are admonished for the lack of love (Lk 10:42) and are called upon to show mercy (Lk 10:37–38). God’s mercy and love is repeatedly characterized as an all-inclusive love, which knows no boundaries and extends even to enemies (Lk 6:27, 35). The above also finds expression in the well-known parable of the “Prodigal Son” in Luke 15:11–31, better referred to as the parable of a “Man Who Had Two Sons”. 21 A detailed analysis is not possible given the confined space of this article. Our focus falls on the actions of both sons, the response of the father, and the feast. The parable forms part of Jesus’ response to the criticism leveled at him for welcoming sinners and eating with them (Lk 15:2). The younger son tests his father’s love with a string of scandalous actions within the social dynamics of “challenge-and-response” and “honor-and-shame” – honor being a pivotal value in the ancient Mediterranean societies.22 The younger son
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Jerome Neyrey, ed., The social world of Luke-Acts: Models for interpretation (Peabody: Henrickson 1991), 271–304. For maps of holiness, see ibid., 278–279, as well as Bruce Malina, The New Testament World: Insights from Cultural Anthropology, Rev. ed. (Louisville: Westminster John Knox, 2003), 149–183. For a more detailed analysis with references, see Reinstorf, Metaphorical stories (footnote 18), 270–293. See inter alia Malina, The New Testament World (footnote 20), 28–62, 90–116.
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·
requests his share of the father’s property, thereby implicitly declaring him to be dead;23 · disposes of the property, thereby failing in his responsibilities to care for his father; · leaves for a distant (foreign/unclean) country; · squanders the property through wild living; · in a time of famine does not return home, but seeks work with a citizen of that country; · feeds (unclean) pigs. As astonishing as the younger son’s shameful actions are (he first breaks with his family and then with his religion), are those of the father. There is no reciprocated response of anger to safeguard his honor. The son eventually, driven by hunger, “comes to himself” (Lk 15:17). This phrase in itself does not necessarily indicate repentance.24 The rehearsed speech in verse 17–20a serves the primary purpose to highlight the son’s status: He is no longer “worthy to be called a son.” Luke 15:20b–24 relate the extraordinary events on the younger son’s return. On seeing his son at a distance the father is moved by compassion and runs towards him, thereby violating his own honor. He then embraces and kisses him – all signs of unreserved acceptance and reconciliation. Strikingly the father’s actions precede any words of confession and when the son speaks, he omits the last line of his rehearsed speech about working for his father as a hired servant. This omission signals that the son (in the light of his father’s compassion) has (only now) realized the 25 depth of his sin and comes to true repentance. The subsequent verses convey how the father makes every effort not to restore his own honor but rather the honor of his son, culminating in a feast, to which (by implication) the whole household or even the whole village is invited. Luke 15:25 marks the beginning of the second act of the parable. This act is not a lame appendix. Similar to the first part it is characterized by the juxtaposition of opposites and is marked by numerous spacial markers and contrasting points of view. Although in contrast to the younger son the elder son stayed at home, he is not in the house, but in the fields, far from the father. Like the younger son returned to 23
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See Sirach 33:19–30 for a strong warning issued to fathers not to dispose of their property while still alive, and – should it happen – the implicit warning to the inheritors that disposing of the property should come into effect only after the father’s death. What is shameful is not the father dividing his property (by free choice), but the son “asking” for it, thereby shaming his father. See Kenneth Bailey, Poet and peasant and Through peasant eyes: A literary-cultural approach to the parables in Luke, combined edition (Grand Rapids: William B. Eerdmans, [1976/1980] 1983), 174–176 and Kenneth Bailey, Finding the lost: Cultural keys to Luke 15 (St. Louis: Concordia, 1992), 114. Cf. Bailey, Poet and peasant (footnote 23), 132. Offering to work for his father as a hired servant could been seen as an effort to compensate his father for his sins, which in turn would reveal a lack of insight into the severity of his sins and could be construed as another challenge, to which the father needs to respond. Regarding God’s compassion leading to repentance, see also Rom 2:4.
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him, he approaches the house, but then does not enter. On hearing the music he calls a servant and seeks information. The servant summarizes the events of the first act. The direct speech used by the servant, “your brother” and “your father,” highlights family relationships. But he is overcome by (self-righteous) anger and refuses to enter the house and to join the feast. Notably the events described in the second act clearly parallel the actions involving the younger son in the first act, both concerning the shame caused to the father, and the father’s reaction to his sons behavior. The elder son, tasked to greet the guests, shames his father by not entering the house and joining in the celebrations. His actions are tantamount to a challenge, which signals a break with the family. Again the father has no concern for his own honor. The father goes out (runs towards his son). He does not rebuke him, but pleads with him. Instead the son shames his father further by contrasting his actions with those of the younger son and the lack of reward he has received. He highlights his own faithfulness (never disobeying a “command”) and exaggerates the shameful behavior of his younger 26 son by adding that the squandering of the property happened “with prostitutes.” As in his reaction to the younger son on his return, the father’s response to his elder son is staggering and unconventional. He does not rebuke him. Lovingly he calls his older son “child” and confirms that he inherits everything. The parable remains open-ended. It is clear that the father wants his family to be united, but will the elder son return home and join in the feast? The parable speaks to the heart of the listener. It invites reflection, personal reflection. It forms part of the Lukan ambiguity that the parable has a number of referents, both within the immediate co-text of the parable and within the macro-text of LukeActs. In the immediate co-text Luke leads us to make associations between the taxcollectors and sinners in the person of the younger son, and between the Pharisees and scribes and the elder son. Being “joined to one of the citizens” (Lk 15:15) recalls the deplorable act of tax-collectors enlisted in the service of Gentiles. The claim of the elder son never to have disobeyed a “command” of the father reflects the seemingly responsible and obedient attitude of the Pharisees and scribes towards God and his Law. But the roles have been reversed: the apparent insiders 27 (Pharisees and scribes) are outside and the outsiders (tax-collectors and sinners) 28 are inside. Yet between them stands the father, who has love and compassion for both and hopes for a feast that resembles a great banquet attended by all.
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Arland Hultgren, The Parables of Jesus (Grand Rapids: William B. Eerdmans, 2000), 81, argues that the word “prostitutes” is too formal. By implication the younger son is being accused of having had sex with “gentile whores, pigs!” It is to be noted that although the Pharisees and scribes are urged to see that through their actions they are “outside,” Jesus nevertheless regards them as God’s children (“child” – Lk 15:31). On a macro-level, comparing Luke 15 with Acts 15 (the council of Jerusalem), an association is evoked between the younger son and Gentile believers, who are welcomed in, with the Israelites mirroring the attitude of the elder son opposing table fellowship. Again there is a reversal of roles,
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This draws attention to the parable of the Great Banquet (Lk 14:15–23) and the meal motif that runs like a golden thread through Luke’s Gospel. There are numerous passages where meal-scenes form an integral part of the narrative (Lk 5:27– 6:5; 7:36–50; 9:10–17; 10:38–42; 11:37–54; 14:1–24; 15:1–32; 16–31; 19:1–10; 22,7–38; 24:28–35; 24:41–43).29 To these the Parable of the Leaven (Lk 13:20– 21) – as food that is being served at a meal – can be added. The latter evokes a striking extra-textual reference to Genesis 18:1–16, that is to Abraham who serves as the exemplar of biblical hospitality.30 When Abraham sees three unidentified men standing nearby, he “runs” to greet them. After offering them a little water and something to eat he gets Sarah to prepare a sumptuous meal for them, which includes bread made from “three seahs” of fine flour, the exact same amount the women in the Parable of the Leaven uses. As such Abraham’s meal and hospitality foreshadows the meals in Luke (and Acts) and the presence of God.31 There is no space to explore all of these meal scenes, except to highlight some common themes that reflect life in God’s Kingdom: · No matter who you are (“tax collectors and sinners” – also symbolized by the [unclean] Leaven), you are invited.32 · The meals express ultimate hospitality33 and an overabundance of food. · There is celebration for a lost sinner who is found and returns home. · The meals culminate in the celebration of the Lord’s Supper, the celebration of the new Passover bread, that is the sacrificial body given to all for their salvation, and the new Passover cup of wine, that is the sacrificial blood that establishes the new covenant that atones for and forgives sins. · The celebrations continue after Jesus’ death and advance the theme Jesus’ meals in anticipation of the great eschatological banquet. In light of the above Hans Georg Anniès’ graphic depiction of the Parable of a Man who had Two Sons (Lk 15:11–31) as portraying the celebration of the Lord’s Supper is appropriate (see below).34 From a distance the graphic has the shape of the
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however in anticipation that God’s redemptive purpose will indeed be fulfilled and all will come to the “wedding banquet.” See John Paul Heil, The Meal Scenes in Luke-Acts: An Audience-Orientated Approach, Society of Biblical Literature (Atlanta: SBL-Publications, 1990). See Lee Roy Martin, “Old Testament foundations for Christian hospitality,” Verbum et Ecclesia 35/1 (2014), Art. nr. 752, htttp://dx.doi.org/10.4102/v3.v35i1.752. Genesis 18:1–16 can be seen as an event that foreshadows the “Lord’s table” – an unexpected, yet direct (real) encounter with God within the parameters of a meal. See also Lk 13:29: “They will come from east and west and from north and south, and will recline in the kingdom of God.” With reference to Abrahams’ hospitality, note Heb 13:12: “Do not neglect hospitality, for by this some have unknowingly hosted angels.” See Hermann Mahnke, „Siehe, ich bin bei euch”: Grafiken zur Bibel von Hans Georg Anniès (Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger Verlag, 2014), 82–84. Use of the graphic is granted by Uta Welcker-Anniès. My description of the graphic is largely based on that of Hermann Mahnke’s interpretation, highlighting just parts of the graphic.
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Communion cup. The depiction of the parable is found in the bottom half, in the “base” of the cup, with the Lord’s Supper in the “cup” itself.” The central and largest character is Christ (marked by the Jota-Chi sign). His hands are invitingly open toward us, who look at the graphic, as well as (all) the people depicted below (including the elder son in the background). His right hand invites us to his banquet (the Lord’s Supper), pointing to the table, displaying a cup (wine), a plate with bread, but also a Bible (the Gospel of Christ), as well as flowers and a violin (symbols of festivity,) as the acceptance of the sinner into the fellowship of God are grounds for joy and celebration.
A striking feature of the print is that the figure of Christ above and that of the father below are in perfect likeness: It is for the sake of Christ that the Father forgives us our sins. The sins are depicted as broken stones in the bottom frame, symbolizing the broken relationship with God. The inviting hands of Christ and those of the father resemble the form of the hands of those who reach out to Christ. They have all recognized: We need Christ, the Crucified and Risen One. He restores our relationship and fellowship with God. This graphic depiction is used as it speaks to our “heart” and also reveals the “heart” of God and Christ. For me that is “was Christum treibet”, both in the parable and the Lord’s Supper.
Christ’s heart of mercy and the challenge of a Christendom divided at the Lord’s Supper
4.
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Church and altar fellowship and our present day challenges
What is to follow is neither a detailed historical-systematic exploration of what has become a foundational statement within confessional Lutheranism: Church fellowship is altar fellowship (and vice versa), which also forms part of the constitution of the Free Evangelical Lutheran Synod in South Africa (FELSISA). To make it clear from the outset, I don’t question this statement as such. My intention is to engage in dialogue with historians and systematic theologians on the practical conclusions drawn for church polity from Scripture in a time of denominationalism.35 A central aspect to our understanding of Church and Altar Fellowship is Paul’s engagement with his congregation in 1 Corinthians 10 and 11. Needless to say, there is no unanimity of understanding amongst the exegetes either, with the topic being “revisited” repeatedly.36 The pivotal point is our understanding of 1 Corinthians 11:29 and whether the term “body” (soma) refers to the “sacramental” body of Christ received in the Lord’s Supper or the “church.” If indeed it refers to the sacramental body,37 then the discernment that needs to take place to avoid judgement is, in the first place, the objective or real reality of Christ in the sacrament, which then necessitates a meal in social cohesion amongst the believers partaking of the meal. The failure to confess the objective (“leiblich”) presence of Christ is declared to be unscriptural, which leads to a “necessary” break of table fellowship as all heretics are to be avoided.38 With the importance placed on the proper understanding of the Lord’s Supper, one can rightly lament that Paul did not provide a more extensive analysis on the meaning of the words he had received from the Lord. The reason for it may be that in early Christendom, including Corinth, there was general consensus on its meaning, but “actions speak louder than words.” The critical importance of table fellowship and the symbolic message that actions have, in particular to the world, are not to be underestimated in this passage.39 Praise for adhering to certain custom (nature) defined lines (for the sake of the Gospel) in 1 Corinthians 11:2–16 is fol35
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Whether denominationalism is a modern phenomenon or can be traced back to the first centuries after Christ remains largely irrelevant. See Werner Elert, Eucharist and Church Fellowship (St. Louis: Concordia Publishing House, 1996), 141–142. See inter alia A. Andrew Das, “1 Corinthians 11:17–34 Revisited,” Concordia Theological Quarterly 62/3 (1998), 189–208. This is the majority view of confessional Lutherans; see in particular Hermann Sasse, In Statu Confessiones. Gesammelte Aufsätze von Hermann Sasse, ed. Friedrich Wilhelm Hopf (Berlin and Hamburg: Lutherisches Verlagshaus, 1966), 115–120, and Hermann Sasse, Letters to Lutheran Pastors , Vol. 2: 1951–1956, ed. Matthew C. Harrison (St. Louis: Concordia Publishing House, 2014), 183–202. See Das, “1 Corinthians 11:17–34” (footnote 36), 206, with reference to Rom 16:17; Gal 1:6–9; 4:30, 5:9. The latter is captured in verse 26, that partaking in the Lord’s Supper is a “proclamation” of his death. This proclamation might be construed as a personal testimony, but it also testifies to the world that through Jesus’ death the powers of sin have been defeated and those enslaved by sin have now been rescued and united.
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lowed in verses 17–34 by criticism for marking lines that should have been obliterated altogether. Malina and Pilch40 advocate that the confusion arose in Corinth based on the failure to distinguish between domestic gatherings and public ones. Are the gatherings of the Jesus followers like that of a household or a nonhousehold, even if held in a household setting? Customary behaviors within a kinship setting (husbands and wives, brothers and sisters at home) are quite different to those in the public sphere. There was, for example, no egalitarian public dining. It was status-specific dining as evidenced by the following quote from Pliny:41 It would be a long story […] were I to recount […] [when] I supped lately with a person, who in his own opinion lives in splendor […] Some very elegant dishes were served up to himself and a few more of the company; while those which were placed before the rest were cheap and paltry. He apportioned in small flagons three different sorts of wine; but you are not to suppose it was that the guests might take their choice: on the contrary, that they might not choose at all. One was for himself and me, the next for his friends of a lower order […]; and the third for his own freed men and mine. One who sat next to me took notice of this, and asked me if I approved of it. “Not at all,” I told him. “Pray, then,” said he, “what then is your method on such occasions?” “Mine,” I returned, “is to give all my company the same fare; for when I make an invitation, it is to sup not to be censoring. Every man whom I have placed on an equality with myself by admitting him to my table, I treat as an equal in all particulars.” “Even freed-men?” he asked. “Even them,” I said; “for on those occasions I regard them not as freed-men, but boon companions.” “This must put you to great expense,” says he. I assured him not at all; and on his asking how that could be, I said, “Why you must know my freed-men do not drink the same wine I do – but I drink what they do.”
Obviously in a group professing unity in Christ by his vicarious death for all, a status-specific dining where the rich enjoy a sumptuous meal in the presence of their poor, as was the case in Corinth, is shameful and dishonorable. It defies the very purpose and meaning of the Lord’s Supper and will bring judgement upon them. In the context of the passage the condemnation which is expressed, is for not waiting for one another and eating while others have nothing to eat (1 Cor 11:3–34). The focus of Paul is foremost on the social dimension, albeit against the background of Christ giving his body and blood, thereby inaugurating the new covenant of “mercy.” Mercy is God’s forgiveness, which is to be understood as God not taking revenge for being dishonored through sin, thereby leading to reconciliation. It is striking that despite the looming judgement on those who take the Lord’s Supper in an unworthy manner, 1 Corinthians 11:17–34 remains “open ended.” There is no censoring and the rich are not excluded from sharing in the Lord’s
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Bruce J. Malina and John J. Pilch, Social-Science Commentary on the Letters of Paul (Minneapolis: Fortress Press, 2006), 105. Pliny the Younger, Letters II, 6, LCL 109–113, cited by Malina and Pilch, ibid., 109–110.
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Supper.42 Instead Paul exhorts “self-examination” (1 Cor 11:24). It is the “Lord” who judges and disciplines (1 Cor 11:31–32). The above, very short, exposition of 1 Corinthians 11:17–34 does not and cannot answer all questions posed by confessional Lutherans since the Reformation and in particular since the union-movement era of the 19th century. However together with the preceding paragraphs some criteria for consideration are provided. · Faith assertions, including statements such as “Church fellowship is Altar Fellowship (and vice versa)” and conclusions drawn for church polity and pastoral care, cannot simply be equated with the “cause of Jesus”. In every context it needs to be determined whether they (still) drive Christ home or cause alienation from him. · Central is God’s mercy for all. Jesus crossed conventional boundaries, relinquishing his honor, in particular when laws and regulations defending God’s holiness were used to justify table fellowship divisions. · A proper understanding of the Lord’s Supper does not safeguard against sinful divisions. Actions speak louder than words. · God himself censors and disciplines. The recipients of God’s grace and mercy are exhorted to self-examine whether their actions reflect the mercy experienced in and through the vicarious death of Christ. The task of the apostle is to teach. History records that the union movement led to a widespread persecution of Lutherans who, bound by Scripture and their conscience, refused to join the union of churches.43 Pastors were forced to relinquish the office of the ministry and both clergy and laity were barred from participating in the sacraments (in particular for not conceding to the ambiguity of meaning regarding the Lord’s Supper) – a prime example of manipulative power.44 During the foundation of the “free” Lutheran churches (free from the state), confessional Lutherans, understandably, placed a high value on the Lord’s Supper, confessing clearly what was believed, taught and confessed in the Lutheran Confessions as the correct understanding of Scripture. It was during this time (1871) that the statement “Church fellowship is Altar fellowship (and vice versa)” was first formally used to mark the boundaries of the newly established churches.45 This however has led to a division at the Lord’s Supper and a
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As is the case with Judas Iscariot during the institution of the Lord’s Supper. See, Mk 14:17–26 and Lk 22:14–23. See inter alia Christoph Horwitz, „Evangelisch-Lutherische Freikirchen. Was sie wollen – wie sie wurden,“ Schriftenreihe aus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Heft 4 (Hermannsburg: Missionshandlung, 1964). See footnote 7 above. Werner Klän, ed., „Kirchengemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft. Texte aus der Geschichte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und ihrer Vorgängerkirchen,“ Oberurseler Hefte (2005), 30; also Werner Klän and Gilberto da Silva, eds., Quellen zur Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bericht, Oberurseler Hefte Ergänzungsband 6 (2010), 215. See also Hermann Sasse, Letters to Lutheran Pastors, Vol. 2, (footnote 37), 186–189 on tracing the roots of this statement back to Scripture.
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reversal of roles, whereby Christians of other denominations are now excluded in order to safeguard Christendom from erroneous teachings and to uphold the “holiness” of Christ in this sacred meal, in some way akin to the actions of the Pharisees and Scribes who avoided table fellowship with known and apparent sinners in an effort to remain true to the codes of holiness within the Torah. Assertions of faith can have unintended consequences. The intent of the confessional Lutheran churches is clear, namely to remain true to Scripture and not to lose the treasure of receiving Christ’s redemptive body and blood in the Lord’s Supper. In practice however it has led to a form of censoring, not necessarily to prevent unworthy participants from judgement, but to uphold confessional boundaries and identities. Martin Luther himself asserted that worthiness is determined by faith (alone) – faith in the words “Given […] and shed for you for the forgiveness of 46 sins.” Luther appeals to the “heart” to trust the words of Christ, not the ratio. In contrast to other reformers who engaged in extensive speculations regarding the manner of Christ’s presence (that is, to obtain a plausible explanation) the Augsburg Confession (CA X) resists answering the “what” of the Lord’s Supper, encouraging faith in the words of institution. The understanding was that the sacraments, including the Lord’s Supper, were given to the Church of Christ intended for sinners to “awaken and confirm faith in those who use them” (CA XIII).47 With the Book of Concord, confessional Lutherans have always rejected the accusation that it regards itself as the only Church of Christ, stressing that condemnations are directed against godless doctrines and the fanatical opinion of stubborn and blasphemous teachers (and not at persons who err because of a certain simplicity of mind).48 However if these condemnations lead to exclusions at the Lord’s Supper of all who belong to a particular church other than with those with whom church fellowship has been established, then assertions that the Church of Christ is also found in such churches sound hollow. Actions speak louder than words. This is clearly the case with intermarriages between members of different denominations. In South Africa a high percentage of primarily German speaking FELSISA members marry a partner from another Lutheran Church with whom no Church Fellowship (as agreement in all doctrines of faith) has been established and vice versa. Should both choose to join the same church, the (unintended) consequence is that one of them may (almost) never share the Lord’s Supper with his or her family members again. Some may accede, but often those (ironically for whom the Lord’s Supper has always been a tangible act of Christ’s unmerited grace for all,) will be driven away to the very church that explicitly or in most cases implicitly 46 47 48
Paul Timothy McCain, ed., Concordia. The Lutheran Confessions, 2nd ed. (St. Louis: Concordia Publishing House, 2005), 343. That Luther refused Zwingli altar fellowship is to be read against the backdrop that he regarded him as a “non-Christian,” who in essence denied to incarnation of Christ, LW 38:206, 321. Preface to the Book of Concord, Concordia (footnote 46), 9. See also Hermann Sasse, Letters to Lutheran Pastors, Vol. 2, (footnote 37), 195.
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through fellowship with other church bodies are seen to condone false teachings. Others may have no choice as they have moved to an area where there is no (confessional) Lutheran church at all. Then there also those who moved to the FELSISA through marriage or for other reasons, who have as a result, of the clear teaching experienced the awaking and confirmation of their faith. I concur with Jobst Schöne that confessional Lutherans need to give renewed consideration to realize what our forefathers intended to achieve with what is generally known as the practice of “closed communion.”49 If it was indeed to speak a clear confession and to safeguard against false or ambiguous teachings in other churches, to which these Christians belong, does Scripture demand a break in table fellowship (with Jesus invariably challenging conventional table division boundaries), or can it be achieved by other means? 1 Corinthians 11:17–31 points the way. False practices are countered with the clear testimony of what Paul had “received from the Lord,” leading to self-examination with God himself being the one who judges. The focus is on “apostolic teaching” that drives Christ home. This does not exempt the ordained minister from his God given responsibilities, but creates greater awareness not only of the pitfalls of false teaching in other churches, but also shameful practices within the own church, as was the case in Corinth. Also the FELSISA serves as an example that a proper understanding of the Lord’s Supper does not safeguard against sinful divisions. Although not officially, some FELSISA members have for many years resisted Africans from a partner church, with whom Church Fellowship had been established, from attending “their” church services and celebrating the Lord’s Supper with them. There is no example in the FELSISA of exercising church discipline against such members. Such actions, as indeed those in Corinth, render all talk of teaching the Gospel purely and administering the sacraments correctly (CA VII) hollow – without denying that even in such a fallible church as the FELSISA, there is the Church of Christ. Actions indeed speak louder than words. Recently (in 2012) the FELSISA amended its constitution to highlight the dual responsibility of (a) the pastor and the congregation and (b) that of guests wishing to attend the Lord’s Supper. It is the responsibility of the former, both through clear and unambiguous teaching and a life of reconciliation, to confess the presence and the salvific gift of Christ in the Lord’s Supper, and it is the responsibility of the latter, based on the teaching and confession spoken, to examine themselves. If a guest attends, either after speaking first to the pastor whose is encouraged to assist 50 the guest “in the true understanding and blessed participation of this Sacrament,” or when moved by the Spirit through the preaching and the teaching in the divine service (as God’s Anrede), it is a moment of joy and celebration. Although this is 49
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Jobst Schöne, “Überlegungen und Gedanken zu Fragen von Kirche und Kirchengemeinschaft”. In Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit, edited by Werner Klän (Göttingen: Edition Ruprecht 2007), 29–45. See “Holy Communion (Model Statement),” footnote 5 in the FELSISA Constitution (par. 5.5.9).
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not the purpose of this practice, it has, in particular in a missional situation (of unexpected guests arriving), led to full membership of those who received the Lord’s Supper and were subsequently guided towards a deeper understanding of this sacrament.51 We believe this is a practice that drives Christ home and gives expression of Christ’s heart of mercy. It is both confessional and ecumenical. Zusammenfassung Ausgehend von Luthers Formel „was Christum treibet“ fragt dieser Beitrag nach dem „Herzen“ Christi und dem „Herzen“ Gottes. Dabei werden Glaubensaussagen von der Sache des Glaubens unterschieden. Christus ist so nicht ein Reflexionsobjekt, sondern vielmehr handelndes Subjekt. Am Beispiel des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn wird veranschaulicht, dass die Barmherzigkeit Gottes als seine Haupteigenschaft zu verstehen ist. Christus lädt mit weit geöffneten Armen diejenigen ein, die ihn suchen und brauchen. Im Schlussteil werden die Überlegungen auf die Frage der Abendmahlszulassung in konfessionell-lutherischen Kirchen angewendet. Nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass Taten bisweilen eine deutlichere Sprache sprechen als Worte, drohen bei einer zu restriktiven Abendmahlszulassungspraxis eine Reihe von Sackgassen, in die die Kirche geraten kann. So stellt der Beitrag am Schluss die aktuelle Abendmahlszulassungsordnung der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika vor, die für einen verantwortlichen Empfang der Gaben sowohl die Verantwortung des Pfarrers und der Gemeinde als auch des Gastes, der das Abendmahl empfängt, betont.
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Constantly raising guilt feelings that God’s Law or a church regulation has been transgressed has the opposite effect.
Konflikt und Einigung im Neuen Testament Jorg Christian Salzmann „Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.“ (Act 2,46) Das klingt nachgerade idyllisch, und schon für den Verfasser der Apostelgeschichte schwingt wohl etwas Wehmut in daer Formulierung mit: Solche Eintracht müsste man haben!1 Entgegen der reformatorischen Tendenz, in der Zeit des Neuen Testaments als einer noch nicht korrumpierten Anfangsphase so etwas wie das Goldene Zeitalter des Christentums zu sehen, hat sich spätestens im 20. Jahrhundert die Erkenntnis Bahn gebrochen, dass es in den christlichen Gemeinden von Anfang an mannigfache und zum Teil schwere Auseinandersetzungen gab. Dabei kam es schon früh zu Trennungen und Grenzziehungen, die sich wenigstens zum Teil auch identitätsstiftend oder -erhaltend auswirkten2. Andererseits fanden sich für verschiedene Konflikte auch Lösungen, so dass es zu keiner völligen Zersplitterung der frühen christlichen Bewegung kam. Dazu möchte ich nun einmal der Frage nachgehen, welche Strategien für ein Miteinander und gegen Trennungen zum Tragen kamen. In einem ersten Schritt sollen dazu Konfliktlagen geschildert werden, bei denen es zu Lösungen kam oder bei denen nach der Quellenlage wenigstens Lösungen angestrebt wurden. In einem zweiten Schritt sollen dann die Lösungsstrategien näher in den Blick kommen. 1.
Einige Konflikte
Wegen der Quellenlage sind uns die meisten innergemeindlichen Konflikte der neutestamentlichen Zeit aus den paulinischen Gemeinden bekannt. In manchen Fällen geht es um die Person des Paulus: So muss er sich in Korinth gegen Vorwürfe verteidigen, er beweise keine richtige apostolische Vollmacht (II Kor 10–11) und sei auch ein schlechter Rhetor (II Kor 11,6); außerdem halte er sein Wort nicht (II Kor 1). Davor schon zeigte sich in Korinth, dass es in der Gemeinde bestimmte Vorlieben für einzelne Apostel gab (I Kor 1–2), so dass Paulus sich hier in einer 1
2
Vgl. Gerhard Schneider, Die Apostelgeschichte, Bd. 1, HThK.NT, Freiburg u.a. 1980, 286: „Man geht kaum fehl in der Annahme, daß Lukas seiner Zeit den Spiegel vorhalten möchte.“; Daniel Marguerat, Les Actes des Apôtres (1–12), CNT[N] 5a, Genf 2007, 103: „[…] le sommaire dresse un portrait du groupe issu de Pentecôte, qu'il offre comme une image exemplaire de l'Eglise.“ Jorg Christian Salzmann, Anathema – Zur neutestamentlichen Behauptung christlicher Identität, LuThK 36 (2012), 32–56.
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Jorg Christian Salzmann
Konkurrenzsituation befand, die Konfliktpotential in sich trug. Das zeigt sich u.a. daran, dass er in diesem Zusammenhang ganz grundsätzlich seine Predigt vom Kreuz verteidigt. Allerdings neigt Paulus dazu, die Dinge ins Grundsätzliche zu ziehen; so sagt er bei anderer Gelegenheit, in II Kor 12,19: „Schon lange werdet ihr denken, dass wir uns vor euch verteidigen. Wir reden jedoch in Christus vor Gott! Aber das alles geschieht, meine Lieben, zu eurer Erbauung.“ Man mag das als rhetorischen Trick abtun, doch stellt Paulus die Konflikte um seine Person immer wieder in das Licht der Christologie.3 Zu fragen wäre, ob er dadurch die Gegner gewinnen oder im Gegenteil abqualifizieren möchte. Wenn Paulus hier im Kontext die Befürchtung äußert, es werde bei einem Besuch in Korinth zu größerem Streit kommen (II Kor 12,21), scheint die Sache offen zu bleiben. Theologische Argumente können zu Einsicht und Übereinstimmung führen, und man wird Paulus eine solche Absicht unterstellen dürfen, aber sie können auch eher nebensächliche Konflikte verhärten. Mit scharfer Argumentation geht Paulus gegen seine Gegner im Galaterbrief vor. Hier bestehen klare Fronten, wenn Paulus z.B. davon redet, dass die galatischen Gemeinden von denjenigen, die die Beschneidung forderten, aufgehetzt würden (Gal 5,12). Zugleich aber müht sich Paulus um die Galater und versucht, sie durch seine Argumentation (zurück)zugewinnen. Sozusagen von der anderen Seite begegnen wir einem Konflikt um Paulus im Jakobusbrief. Hier wird gegen eine Haltung polemisiert, die sich ganz auf den Glauben verlässt und die Frage nach der Lebensführung für irrelevant erklärt (Jak 2,14– 26). Die Opposition gegen Paulus ist deutlich; der Jakobusbrief argumentiert für seine eigene Position und ist nicht auf eine versöhnliche Lösung aus. Auch im sogenannten Antiochenischen Zwischenfall ging Paulus nach eigener Auskunft unnachgiebig gegen Petrus vor (Gal 2,11–14); zwar verschweigt er, ob es daraufhin zu einer Aussöhnung kam oder ob Petrus bei seiner Haltung blieb; doch hören wir von keinem bleibenden Zerwürfnis zwischen den beiden. In einen ähnlichen Zusammenhang wie die im Galaterbrief angesprochene Problematik um die judenchristliche Anwendung des Gesetzes gehört das sogenannte Apostelkonzil in Jerusalem, von dem Act 15 erzählt und auf das auch Paulus im Galaterbrief Bezug nimmt. Hier kam es im Streit um die Heidenmission des Paulus zu einer Einigung, über deren Charakter noch zu reden sein wird. Offenbar gab es in den paulinischen Gemeinden, wenigstens in Korinth, auch Konflikte um die Frage nach dem Verzehr von Götzenopferfleisch; im Ersten Korintherbrief versucht Paulus dazu in mehreren Anläufen eine Lösung zu finden (I Kor 8–10). In allgemeinerer Form geht er auf die durch unterschiedliche religiöse Observanz entstehenden Spannungen schließlich im Römerbrief ein (Röm 14–15).
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Vgl. z.B.: II Kor 4,7–10; 13,4; Kol 1,24. Zu II Kor 12,19 vgl. Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, Bd. 2, EKK VIII/2, Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2015, 354–357.
Konflikt und Einigung im Neuen Testament
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Den Korinthern unterbreitet Paulus auch im Streit um das Herrenmahl einen Lösungsvorschlag (I Kor 11). Zwar können wir das Problem nicht mit Sicherheit rekonstruieren – ging es darum, dass die Reichen ihr Mahl vorweg aßen oder darum, dass sie ihr Mahl im kleinen Kreis zu sich nahmen und nicht teilten?4 –, doch lässt sich der Vorschlag des Paulus zur Konfliktbewältigung allemal beschreiben und analysieren. Noch ausführlicher nimmt Paulus zur Auseinandersetzung um das Zungenreden in Korinth Stellung (I Kor 12–14); auch hier hofft er offensichtlich auf eine Klärung für die Gemeinde. Einen weniger argumentativen Weg zur Einheit, nämlich den über Liebe und Vergebung, schlägt Paulus im Zweiten Korintherbrief im Zusammenhang mit dem sog. Tränenbrief ein (II Kor 2,1–4). Leider ist nicht mehr klar auszumachen, um welchen Konflikt es sich eigentlich handelte; waren es persönliche Vorwürfe gegen Paulus, ging es um ethische Vergehen von Gemeindegliedern oder noch um ganz etwas anderes?5 Mit innergemeindlichem Streit rechnet das Matthäusevangelium und stellt in Mt 18 Regeln zur Konfliktbewältigung auf.6 Ebenfalls bei Mt finden wir das Jesuswort, dass man sich mit seinem Gegner versöhnen solle, bevor man zum Altar Gottes geht (Mt 5,23–26). Hier scheint es auch um Streit bis in das Wirtschaftsleben hinein zu gehen.7 Ähnlich führt auch die Antithese zum ius talionis (Mt 5,38–41) Regeln zum Umgang mit Konflikten ein. Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch einmal Paulus erwähnt, der den Korinthern gegenüber zu der Frage Stellung nimmt, wie mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Christen umzugehen sei (I Kor 6,1–8). Den hier skizzierten als (wenigstens weitgehend) lösbar angesehenen Konflikten steht im Neuen Testament eine ganze Reihe von klaren Abgrenzungen entgegen. Deutlicher als in den bisher skizzierten Fällen scheint es dabei um theologische Grundsätze zu gehen; so ist in den späteren Schriften des Neuen Testaments z.B. eine eindeutige Verwerfung christologischer Positionen zu erkennen, welche aus
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Vgl. Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, HNT 9,1, Tübingen 2000, 251 (Vorwegnahme); Anthony C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids 2000, 860– 864 (Besserbehandlung der Reichen). Vgl. dazu Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, Bd. 1, EKK VIII/1, NeukirchenVluyn/Ostfildern 2010, 124–132. Zwar ist die Wendung „sündigt […] an dir – εἰς σέ“ in Mt 18,15 textkritisch nicht ganz sicher, so dass die Möglichkeit besteht, dass hier allgemein an Verfehlungen gedacht ist, die jemandem bekannt werden, aber es wird bei dem beschriebenen Verfahren wegen der ebenfalls bei Mt überlieferten Mahnung Jesu an seine Jünger, dass sie nicht richten sollen (Mt 7,1) doch in erster Linie um Konflikte zwischen Gemeindegliedern gehen – anders Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Leipzig 1998, 324; vgl. zur Textkritik Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 3, EKK I/3, Zürich u.a. 1997, 38; Bruce M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 1994, 36. Auch wenn Mt 5,25–26 ein eigenständiges Logion ist, färbt es doch durch die Zusammenstellung auf Mt 5,23–24 ab.
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Jorg Christian Salzmann
Sicht der Schreiber die Grundlagen des Glaubens gefährdeten.8 Aber auch die Trennung von ethisch verwerflich Handelnden gehört dazu.9 Man kann natürlich fragen, ob nicht auch in diesen Fällen Lösungen möglich gewesen wären. Hier soll es jedoch, wie gesagt, um die im Neuen Testament selbst eingeschlagenen Lösungswege bei Konflikten gehen.10 2.
Lösungsansätze
Grundsätzlich ist damit zu rechnen, dass in den christlichen Gemeinden (noch) keine einheitlichen Maßstäbe zur Beurteilung von Streitigkeiten existierten; was den einen als unüberbrückbare Kluft erschien, mag den anderen als nebensächlich gegolten haben. Ein bekanntes Beispiel für solch unterschiedliche Maßstäbe ist die im Zweiten Jahrhundert sich vollziehende Trennung von der Gnosis: Während die werdende Kirche sich von den gnostischen Richtungen als Häresien trennte, konnten jedenfalls manche Gnostiker die Gegner problemlos in ihr System integrieren und sahen keinen Grund zur Trennung.11 Dass es auch innerneutestamentlich solch unterschiedliche Bewertung von Konflikten gibt, zeigt das Beispiel von den „Starken“ und den „Schwachen“, die Paulus im Römerbrief anspricht: Was für die einen anstößig und Grund für Konflikte war, erschien den anderen eher nebensächlich (Röm 14–15). Mit dieser Kautele im Hintergrund fragen wir nun danach, wie in den angeführten Konflikten Lösungen angestrebt wurden. Nach einem Blick auf die Streitigkeiten um die Person des Paulus und ähnliche Konflikte soll es dann vor allem um die Lösungsansätze bei den eher theologischen Streitpunkten gehen. 2.1
Eher persönliche Zwistigkeiten
Auf Angriffe gegen seine Person reagiert Paulus vor allem apologetisch. Am ausführlichsten sind die entsprechenden Passagen im Zweiten Korintherbrief. Schon im Proömium schildert Paulus seine Leiden (II Kor 1,3ff.) und auch Todesnot (1,10), wohl wissend, dass die Korinther ihm Krankheit und Schwachheit als autoritätsmindernde Schwächen seiner Person auslegten. Sicher schon mit apologetischen Hintergedanken erklärt er, dass ihm solches widerfahren sei, damit er sein
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Zu denken wäre v.a. an die Gegner in den Pastoral- und in den Johannesbriefen. Vgl. zu diesen Konflikten Salzmann, Anathema (wie Anm. 2). Es ist bemerkenswert, dass, soweit ich sehe, in den neueren theologischen Nachschlagewerken das Stichwort Konflikt nicht exegetisch behandelt wird. In der TRE findet sich ein Querverweis zum Stichwort Frieden. Der Artikel von Gerhard Delling, Art. Frieden, IV. Neues Testament, TRE 11, 613–618, ist instruktiv, aber eben lexikalisch auf das Stichwort Frieden hin angelegt und für unsere Fragestellung wenig ergiebig. Hier ist v.a. auf die valentinianische Gnosis zu verweisen; vgl. dazu Christoph Markschies, Art. 3 Valentin, Valentinos, Valentinus, II. Valentinianische Gnosis, LThK 10, 518–520.
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Vertrauen nicht auf sich selbst, sondern auf Gott setze (1,9); damit macht er sich implizit sogar zum Vorbild für die Gemeinde.12 Der erste Vorwurf dann, auf den Paulus explizit eingeht, ist, dass er die Korinther nicht besucht und so sein Wort nicht gehalten habe (1,12ff.). Seine Beteuerung, dass sein Wort gelte, überhöht Paulus mit der Entsprechung zum göttlichen Ja in Jesus Christus (1,19–20); er entschuldigt sich nicht, sondern begründet sein Fernbleiben mit dem Schwur, dass er die Gemeinde habe schonen wollen (1,23).13 Denn er hätte fürchten müssen, dass auf einen früheren Konflikt, der zu dem sog. Tränenbrief geführt habe, nur ein neuerlicher Streit gefolgt wäre (2,1ff.). Im Zuge der weiteren Rechtfertigung der Änderung seiner Reisepläne bleibt Paulus bei seinem apologetischen Ton und spricht davon, dass Gott sich durch ihn an allen Orten offenbare; schließlich auch noch, dass er nicht wie viele andere mit dem Wort Gottes Geschäfte mache, sondern in Reinheit vor Gott rede (2,12–17). Paulus vergleicht sich also mit anderen, die er negativ darstellt, und betont unter Nutzung kultischer Sprache (Wohlgeruch in 2,14–15; Reinheit 2,17) die Untadeligkeit seiner Tätigkeit. Im folgenden Kapitel führt er seine Eignung für den apostolischen Dienst auf Gott zurück (II Kor 3,5). Damit erreicht er zweierlei; zum einen kann er dem Einwand widersprechen, er preise nur sich selbst an, und zum andern wird seine Posi14 tion durch den Rückbezug auf Gott unangreifbar. Danach setzt Paulus sich gegen den Vorwurf zur Wehr, dass er Gottes Wort verfälsche und sein Evangelium eine verschleierte Geheimlehre sei (II Kor 4,2–4). Wenn jemand das Evangelium nicht erkenne, dann liege das nicht an ihm, Paulus, als Verkündiger, sondern an dem Unglauben derjenigen, die verloren werden (II Kor 4,4). Auch seine Leiden sollen nicht das Evangelium beeinträchtigen, sondern dienen letztlich der Demonstration der Lebensmacht Gottes und sollen den Korinthern helfen, ihre Hoffnung auf die ewige Herrlichkeit zu setzen (II Kor 4,7–18).15 Paulus setzt in den Konflikten um seine Person also darauf, dass seine apologetische Argumentation fruchtet. Charakteristisch ist, dass er die ihm vorgeworfenen Fehler und Schwächen indirekt zugibt, aber aus ihnen Tugenden zu machen sucht. Auf verschiedene Weise sucht Paulus dabei sein Handeln theologisch an Gott rückzubinden, so dass das Unerwartete und Schwierige letztlich nicht an ihm, Paulus, sondern an Gott und am Evangelium selbst liegt. 12
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Vgl. dazu Schmeller, Zweiter Brief an die Korinther (wie Anm. 5), Bd. 1, 70–72, sowie Ulrich Heckel, Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2. Kor 10–13, WUNT II,56, Tübingen 1993, 261–265. Zum Ganzen von II Kor 1,15–2,2 vgl. Schmeller, Zweiter Brief an die Korinther (wie Anm. 5), Bd. 1, 91–124. „Die Antwort von V. 5 auf die in V. 1a gestellte Frage ist also: Ich empfehle mich nicht selbst, weil schon meine Fähigkeit zur Selbstbeurteilung von Gott stammt – deshalb empfiehlt mich letztlich Gott.“ (A.a.O., 183). Vgl. Murray J. Harris, The Second Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids 2005, 364– 365.
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Auch im weiteren Verlauf des Zweiten Korintherbriefs verfährt Paulus nach diesem Muster, wenn er z.B. seine eigene Schwachheit nicht beschönigt, aber zugleich verdeutlicht, dass Gott gerade diese Schwachheit nutzt und sagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (II Kor 12,9). Theologisch grundsätzlicher hatte er solche Gedanken schon im 1. Korintherbrief im Blick auf die Botschaft vom Kreuz dargelegt: Was hier der Welt wie Narrheit scheint, ist doch Weisheit bei Gott (I Kor 1–2). Ganz analog kann er in dem Peristasenkatalog von II Kor 6 in paradoxer Manier alle möglichen Schwachpunkte als ihr Gegenteil auslegen (II Kor 6,8–10), weil er, der Apostel, in der Kraft Gottes agiere. An einer Stelle weicht Paulus nun doch von dem aufgezeigten Muster ab, indem er nämlich die Korinther bittet, sie möchten ihr Herz für ihn weit machen, so wie er es für sie tue (II Kor 6,11–13, wiederaufgenommen in II Kor 7,2). Hier erinnert er die Gemeinde an die enge Beziehung, die sie zu ihm hat; er bezeichnet sie als seine Kinder. Auch in diesem Kontext gibt es noch einmal eine Unschuldsbeteuerung des Apostels (7,2b), und auch hier zieht Paulus die Sache ins Grundsätzliche, wenn er zugleich mahnt, die Gemeinde solle sich in der Gegnerschaft nicht gemein machen mit den Ungläubigen (6,14). Aber hier zeigt sich dennoch, dass Paulus sich auch dessen bewusst ist, dass es eine Beziehungsstörung gibt, die er nicht nur argumentativ, sondern durch den Appell, mit dem er um Vertrauen wirbt, und auf der Beziehungsebene überwinden will. Ähnlich emotional geht es im Zusammenhang mit dem schon erwähnten sog. Tränenbrief zu. Wegen der Bemerkung, dass jemand aus der Gemeinde nicht Paulus, sondern mindestens einen Teil der Gemeinde traurig gemacht habe (II Kor 2,5), dürfte es auch hier um die Person des Paulus gegangen sein, wobei aber aus Sicht des 16 Paulus andere mit betroffen waren. Paulus ruft hier nach einer Zeit der – offenbar gemeindeinternen – Strafe (ἐπιτιμία – II Kor 2,6) zu Trost, Liebe und Vergebung auf (V. 7–10). Hier läge die Konfliktbewältigung also in einer Art Gemeindezucht, die nach einem Ermessensspielraum jedoch zur Versöhnung führen soll. Mit einer gewissen Analogie zu dem hinter II Kor 2 stehenden Vorgehen empfiehlt Paulus der Gemeinde in Korinth für innergemeindliche Rechtsstreitigkeiten die Einsetzung eines Schiedsrichters aus der Gemeinde, damit nicht der Streit zwischen „Brüdern“ von „Ungläubigen“ entschieden werde (I Kor 6,1–8). Noch besser als das Austragen des Konflikts in dieser Art sei es allerdings, erlittenes Unrecht zu erdulden (I Kor 6,7). Im Matthäusevangelium (Mt 18,15–18) stoßen wir auf Regelungen für ein innergemeindliches gestuftes Verfahren zur Beilegung von Streit in der Gemeinde. Vorausgesetzt ist dabei allerdings eine klare Verteilung der Schuld; es geht von vornherein darum, wie man mit jemand umgeht, der gegen einen andern in der Gemeinde „gesündigt“ hat. Ziel ist dabei die Umkehr des Sünders. Gelingt das weder im Gespräch unter vier Augen noch unter Hinzuziehung weiterer Gemeinde16
Vgl. Schmeller, Der Zweite Brief an die Korinther (wie Anm. 5), Bd. 1, 133–135.
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glieder oder dann in einer nächsten Stufe der ganzen Gemeinde, folgt daraus die Aufkündigung der Gemeinschaft („er sei für dich wie ein Heide und Zöllner“ – Mt 18,17). Es ist davon auszugehen, dass die Hinzuziehung anderer Gemeindeglieder und der ganzen Gemeinde aber nicht nur den Druck auf den Gegner erhöhen soll, sondern dass es dadurch auch zu anderen Lösungen kommen kann als zum Eingeständnis der Schuld des anfänglich Beschuldigten. Hier wird lediglich ein „Instanzenweg“ beschrieben, ohne dass kasuistisch jeder mögliche Fall der Konfliktlösung durchgespielt wird.17 Schon die Bergpredigt rät ja zur Aussöhnung (Mt 5,23–24) und auch zur Nachgiebigkeit bis hin zum Erleiden von Unrecht anstelle der Durchsetzung eigenen Rechts (Mt 5,38–41). 2.2
Eher theologische Streitfragen
Bei theologischen Streitfragen jedoch werden die bisher aufgeführten Mechanismen nur teilweise greifen. Natürlich spielt der apologetische Ansatz eine wichtige Rolle; im Streit um Fragen der Schriftauslegung und der Glaubensausübung sind die Streitpartner erst einmal darauf aus, sich gegenseitig mit Argumenten zu überzeugen. Paulus scheint auch auf die Durchschlagskraft seiner Argumente vertraut zu haben; eine tatsächliche Aufkündigung der Gemeinschaft als Ergebnis eines Streits findet sich bei ihm eher selten. Am schärfsten zieht er eine Grenze gegen krasse ethische Verstöße in der Gemeinde: „Entfernt den Bösen aus eurer Mit18 te!“ (I Kor 5,13); sehr deutlich grenzt er sich auch gegen seine Gegner in Galatien mit ihrer Beschneidungsforderung ab („Sogar wenn wir selbst oder irgendein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündete als ich euch verkündigt habe, verflucht sei der!“ – Gal 1,8), wobei er aber diejenigen zu gewinnen sucht, die von den Gegnern „verhext“ wurden (Gal 3,1). Über das Ergebnis des sog. antiochenischen Zwischenfalls schweigt Paulus sich zwar aus, aber er scheint doch vorauszusetzen, dass er sich gegen Petrus durchsetzen konnte, auf jeden Fall aber, dass es nicht zum Bruch zwischen Petrus und ihm kam (Gal 2,11–21); sonst hätte er ja Petrus zu seinen Gegnern zählen müssen und könnte gerade nicht damit argumentieren, dass er selbst jemanden wie diesen angesehenen Apostel in Sachen 19 der Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen zurechtgewiesen habe. Im Zuge einer argumentativen Auseinandersetzung gibt es außer dem Versuch, den anderen von der eigenen Position zu überzeugen, auch die Möglichkeit, den
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Zum allgemein rechtlichen Charakter von Mt 18,15–20 vgl. Wiefel, Matthäus (wie Anm. 6), 322– 323. Zur Frage, welche Implikationen die Reminiszenz an Dtn 17,7 hier hat, vgl. Lindemann, 1. Korinther (wie Anm. 4), 132; zur Frage der Anwendbarkeit von I Kor 5 vgl. a.a.O., 133. Vgl. z. St. Jürgen Becker, Der Brief an die Galater, NTD 8,1, Göttingen 1998, 37–44; dass Paulus hier über die Reaktion des Petrus schweigt, wird allerdings von vielen so gedeutet, dass Petrus wenigstens vorübergehend im Antiochenischen Streit den Sieg davongetragen habe; vgl. Richard N. Longenecker, Galatians, WBC 41, 79–80.
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Konflikt zu relativieren und zu einer Einigkeit aufzurufen, die grundlegender ist als der Konflikt. Findet man eine solche Strategie in neutestamentlichen Texten? Als ein Beispiel kann man die Streitigkeiten in der Gemeinde von Korinth um den „besten“ Apostel (I Kor 1–4) benennen. Sie bewegen sich auf der Grenze zwischen dem Streit um Personen und um Theologie. Paulus argumentiert hier, wie schon erwähnt, v.a. damit, dass er alle apostolische Predigt der Botschaft vom Kreuz als der Weisheit Gottes zu- und unterordnet; Gott habe durch diese Botschaft die Apostel als die Allergeringsten hingestellt (I Kor 4,6). Dadurch relativieren sich die Konflikte; zugleich kann Paulus seine eigene Art zu predigen, die wohl keinen rhetorischen Glanz hatte, mit dieser Argumentation in ein gutes Licht stellen, so wie er in dem Vergleich seiner Person mit Apollos unterschwellig auch an seinen persönlichen Vorrang den Korinthern gegenüber erinnert: Er, Paulus, hatte die Gemeinde gegründet (I Kor 3,6–10), in väterlicher Weise kann er sie als seine Kinder bezeichnen (I Kor 4,14–15). Paulus verfolgt also die Strategie, den Positionen in der Gemeinde durch Erinnerung an übergeordnete theologische Zusammenhänge und speziell an das Zentrum des Evangeliums, an die Botschaft vom Kreuz, ihre Schärfe und Zuspitzung zu nehmen; zugleich weiß er auch geschickt denen, die ihn ablehnen, die Vorzüge seiner eigenen Person in Erinnerung zu rufen, die er allerdings nicht mit den normalen Kategorien etwa der „Weisheit“ gemessen wissen will, sondern eben im Licht der Botschaft, die er gebracht hat. Interessant ist hier der Vergleich mit dem Jakobusbrief. Nicht so konkret wie im 1. Korintherbrief des Paulus, aber doch mit starken Worten (Neid, Streit, Kampf und Krieg: Jak 3,14; 4,1) ist hier vom Streit in der Gemeinde die Rede, und es scheint dem Kontext nach vor allem darum zu gehen, dass manche Gemeindeglieder in der Rolle des Lehrers ihre eigenen Positionen durchzusetzen versuchten und 20 es dadurch zu Konflikten kam (Jak 4,1–10 im Anschluss an Jak 3,1ff. ). Der Jakobusbrief fordert hier vor allem zu Selbstdisziplin („die Zunge im Zaum halten“, vgl. Jak 3,3) und zur Demut (Jak 4,6.10) auf. Er tut das mit immer schärfer werdenden Worten und Mahnungen zur Buße und führt die Haltung der Streitenden auf ihre eigenen Gelüste zurück (Jak 4,1–3); Hinwendung zu Gott ist das Mittel, das er empfiehlt, um dem Streit und damit den Klauen des Satans zu entkommen (Jak 4,7–8). Während Paulus gegenüber den Korinthern die Positionen der Streitenden angesichts der zentralen Botschaft des Evangeliums zu relativieren versuchte, wird hier der Streit als solcher verteufelt und dazu aufgerufen, sich in Demut vom Beharren auf der eigenen Position abzuwenden. Es scheint fraglich, ob es auf diese Weise zu echten Konfliktlösungen kommen kann. Auch Paulus versucht explizit, mit dem Ruf zur Demut Konflikte zu lösen. Er tut das im Philipperbrief; zwar lassen sich für uns aus dem Brief keine handfesten 20
Darauf, dass es auch in Kapitel 4 noch um das Lehren und damit einhergehende Konflikte geht, deutet neben der ausführlichen Warnung vor Sünden der Zunge (Jak 3,2–12) die ausdrückliche Verbindung, die Jak 3,13–18 zwischen Weisheit und Frieden herstellt.
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innergemeindlichen Konflikte rekonstruieren,21 aber der Ruf zur Einmütigkeit ist klar. Anders als im Jakobusbrief wird hier nun ganz christozentrisch argumentiert. Denn genau in der Demut sei Christus das Vorbild, dem es nachzueifern gelte. Dieses Vorbild malt Paulus, wieder einmal ganz ins Grundsätzliche gehend, nun mit Hilfe des Philipperhymnus vor Augen (Phil 2,5–11). Eindringlich mahnt er dann noch einmal die Gemeinde, dass sie ihr Heil mit Furcht und Zittern wirken sollten (Phil 2,12), also nicht in selbstsicherer und überheblicher Weise meinen, dass sie bei Gott gut dastünden und deshalb auf andere herabschauen könnten. Letztlich ist aber dann doch Gott selbst die Quelle der Demut und damit der Einheit, wenn Paulus hinzufügt, dass Gott das Wollen und das Vollbringen bei den Gemeindegliedern wirkt (Phil 2,13). Im Philipperbrief gibt es noch ein Beispiel für die Möglichkeit, Konflikte unter Berufung auf die Einheit in einer höheren Ebene beizulegen, nämlich der Umgang des Paulus mit Leuten, die, wie er sagt, aus Streitsucht Christus verkündigen 22 (Phil 1,12–18). Hier geht es wohl um mit Paulus rivalisierende Prediger; Paulus lässt sich aber auf keinen Streit ein, sondern heißt die Verkündigung der anderen gut, solange nur auf alle mögliche Art Christus verkündigt werde. Die Verkündigung ist damit ein höherer Wert als die persönlichen Rivalitäten, die es geben mag; durch Berufung auf sie kann Einigkeit erzielt werden. 2.2.1
Röm 14–15: Die Starken und die Schwachen
Ein weiteres Beispiel für die Strategie der Relativierung wäre der bereits erwähnte Konflikt zwischen den von Paulus so genannten Starken und Schwachen in Rom. Der Apostel engagiert sich an dieser Stelle sehr und fährt verschiedene Argumente auf. Dadurch ist die angestrebte Konfliktlösungsstrategie nicht eindeutig, lässt sich aber doch in ihren Hauptzügen beschreiben. Dazu werfen wir einen Blick auf den Aufbau des entsprechenden Abschnitts im Römerbrief, Röm 14,1–15,13. Mit Röm 14,1 schneidet Paulus ein neues Thema an; es geht jetzt um „Schwache im Glauben“ und „Starke im Glauben“. Überschriftartig richtet sich in diesem Vers die Paränese zunächst an die „Starken“; Paulus appelliert, dass sie durch „Annehmen“ der Gegner Streit vermeiden sollen. Worum es geht, wird nun an zwei Beispielen entfaltet; V. 2–4 befassen sich mit dem Einhalten von Speisegeboten und V. 5 mit dem Einhalten von bestimmten Tagen. Dabei kann man erschließen, dass 21
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Es ist unklar, ob verschiedene Gruppen oder auch Einzelne sich gegenseitig zu übertrumpfen suchten oder ob nur bestimmte Leute sich über die anderen erheben wollten. Vielleicht ist das Ganze auch im Licht dessen zu sehen, dass die Gemeinde von außen bedrängt wurde (Phil 1,27– 30) und man sich über die angemessene Reaktion nicht einig war. Die Auslegung von Wilhelm Egger, Philipperbrief, NEB.NT 11, Würzburg 1985, 56: „Andere hingegen nützen die Haft des Paulus aus, um persönliche Rivalitäten gegen Paulus auszutragen“ paraphrasiert Martin Dibelius, An die Philipper, HNT 11, Tübingen 1937, 66: „Die anderen aber scheinen die Gefangenschaft des Paulus auszunutzen, um ihren Ruhm zu mehren und dem Apostel den Erfolg zu stehlen […]“
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die „Schwachen“ die Vorschriften beachten und die „Starken“ nicht; beiden gilt jeweils der Appell, den andern nicht zu verachten bzw. nicht zu richten (V. 3–4), beide sollen dabei auf ihrer Meinung beharren können (V. 5b). Das erste Hauptargument zur Lösung begegnet uns dann in den Versen Röm 14,6–9,23 dass nämlich bei allen alles „für/bezogen auf den Herrn“ geschieht. Die Verse 10–12 bieten ergänzend zu diesem positiven Kriterium ein negatives: Die Parteien sollen nicht richten, weil Gott allein richtet. Mehr von der Praxis her setzt Paulus nun noch einmal an und argumentiert unter den Stichworten von Anstoß (πρόσκομμα ἢ σκάνδαλον) und Liebe (ἀγάπη) für Rücksichtnahme der „Starken“ auf die „Schwachen“ (Röm 14,13–15); als letzte Begründung führt er an, dass man nicht denjenigen verderben solle, für den Christus gestorben ist (V. 15). Stark verallgemeinernd geht es danach um das Gute, das den Christen geschenkt ist und das gerade nicht in Essen und Trinken bestehe (V. 16–18); Paulus achtet hier „Gerechtigkeit, Frieden, Freude im Heiligen Geist“ deutlich höher als den Streit um das Essen, der seiner Meinung nach sich nicht darauf bezieht, was für das Reich Gottes wesentlich ist. Damit wäre die Argumentation eigentlich zu ihrem Ende gekommen; doch fährt Paulus immer noch fort und schärft unter den Leitbegriffen von Frieden und gegenseitiger Auferbauung noch einmal die Notwendigkeit ein, dass man durch das Essen keinen Anstoß geben dürfe (Röm 14,19–21). Schließlich führt er auch noch den Glauben als Kriterium ein, nach dem die einzelnen handeln sollen (Röm 14,22–23). Aber immer noch nicht gibt Paulus sich zufrieden; erneut rechtfertigt er die Haltung der Rücksichtnahme, diesmal mit dem Motiv, dass man nicht sich selbst, sondern seinem Nächsten gefallen (ἀρέσκειν) soll; das wird wiederum mit dem Vorbild Christi und damit begründet, dass der sich gemäß der Schrift verhalten habe (Röm 15,1–4). Durch Stichwortverknüpfung mündet das Ganze nun in die Mahnung zur Eintracht und zum einträchtigen Gotteslob ein (V. 5–6). Ganz zum Schluss (Röm 15,7) greift der Apostel das Stichwort „annehmen“, mit dem er begonnen hatte (14,1.3), wieder auf und reiht noch eine Gruppe von Schriftworten an, die belegen, dass die Heiden wegen des Dienstes Christi an den Juden und mit diesen zusammen Gott loben sollen (Röm 15,8–12). Damit lenkt Paulus wieder zu dem Grundanliegen seines Briefes zurück und schreibt die Auseinandersetzung um die „Starken“ und „Schwachen“ in die Frage nach dem Verhältnis von Judenchristen und Heidenchristen ein. Eine Doxologie (V. 13) setzt dann wirklich einen Schlusspunkt. Paulus versucht also sein Ziel, dass nämlich die unterschiedlichen Gruppen in den Gemeinden sich miteinander vertragen und einander ertragen, mit unter23
„Sicherlich ist der Zusammenhang V. 7–9 das eigentliche Kernstück des ganzen Abschnitts.“ Otto Michel, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 1966, 340. Anders die Beschreibung des Gedankengangs bei James D.G. Dunn, Romans 9–16, WBC 38B, 794ff., der Röm 14,1–12 als Schilderung des Problems deutet. Hier wird m.E. dem Text ein Schema übergestülpt, das ihm nicht gerecht wird.
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schiedlichen Argumenten zu erreichen. Dabei ist m.E. im Grundsatz der Appell zur Rücksichtnahme mit seinen Begründungen zu unterscheiden von dem Gedanken, dass beide Seiten ihr Recht haben; ein weiteres Argument ist schließlich, dass der Streitpunkt gegenüber dem, was eigentlich wichtig ist, nicht ins Gewicht falle. Es steht zu vermuten, dass für Paulus das zuletzt genannte Argument die Voraussetzung für die beiden anderen Argumentationsstränge ist. Sonst würde er wie z.B. im Konflikt mit den Gegnern in Galatien auf dem einen Standpunkt beharren und gegen den anderen argumentieren. So gesehen steht Röm 14,16–18 im Zentrum der Argumentation (vgl. auch Röm 14,20a). Das Problem dabei ist, dass nur die eine Seite, nämlich die der „Starken“, Paulus in diesem Punkt vorbehaltlos zugestimmt haben wird; Paulus sieht selbst, dass die angesprochenen Fragen der Gebotsbeachtung für die „Schwachen“ einen höheren Stellenwert haben. Dennoch bleibt hier die Denkfigur im Grundsatz gültig, dass Einigkeit auch bei unterschiedlichen Ansichten und Haltungen möglich ist, wenn diese sozusagen auf einer höheren Ebene besteht, also in dem, was für wirklich wichtig erachtet wird. Dieser Gedanke ist uns aus der Kirchengeschichte unter dem Stichwort der Adiaphora geläufig, doch bleibt zu beachten, dass die hier angesprochenen Fragen von Paulus nicht einfach wie ein Adiaphoron abgetan werden, sind sie doch, wie seine lange und immer wieder an Christus rückgekoppelte Argumentation zeigt, weder für ihn 24 noch für seine Adressaten nebensächlich. Während die Einigung auf einer höheren Ebene auch für zwei Parteien möglich ist, deren Argumentationen unterschiedliches Gewicht haben, stellt die Denkfigur, dass beide Seiten ihr Recht haben und am Ende nur Gott Rechenschaft schuldig sind, die Gruppen gleichberechtigt nebeneinander. In diese Richtung gehen im vorliegenden Fall die Gedanken des Paulus, dass man einander nicht verachten oder verurteilen soll, weil Gott auch den anderen angenommen hat (Röm 14,2–4); dass alle in der Gemeinde ihr Leben mit allem, was dazu gehört, im Bezug auf den Herrn führen (Röm 14,6–9); dass Gott allein richtet (Röm 14,10–12); dass alle den Frieden und die gegenseitige Auferbauung anstreben und das Werk Gottes nicht wegen der Frage nach dem Essen zerstören sollen (Röm 14,19–20a); dass für beide Seiten der Glaube der Maßstab ist (Röm 14,22–23); und schließlich auch der zusammenfassende Schluss: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Röm 15,7). Deutlich ist bei alledem, dass immer Gott bzw. Christus der letzte Bezugspunkt ist: Die Gleichheit gilt vor Gott und in Christus, und indem ich sein Wirken und seine Macht anerkenne, mit der er auch denjenigen annimmt, der anderer Meinung ist als ich, kann ich meinen Nächsten meinerseits annehmen. Trotz dieser Gedanken soll nach Paulus der Konflikt im vorliegenden Fall in erster Linie durch die „Starken“ gelöst werden, indem sie ihr Verhalten auf die „Schwachen“ einstellen und Rücksicht nehmen. So ist der Appell zu Frieden und Auferbauung (Röm 14,19–20a) trotz seiner Gültigkeit für beide Seiten in erster 24
Zur Einordnung der Argumentation in das Briefganze vgl. a.a.O., 795.
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Linie an die „Starken“ gerichtet, wie Röm 14,20b–21 zeigt. Wichtig ist dabei, dass die Starken im Sinne der Schwachen handeln können, ohne dabei ihre Überzeugung aufzugeben. Sie ändern nicht ihre Gottesbeziehung, indem sie an den Sitten und Gebräuchen der anderen teilnehmen (vgl. das Wort vom „Glauben vor Gott behalten“, Röm 14,22a).25 Die Rücksichtnahme hat ihre Basis in der Liebe und im Willen zu Frieden und Auferbauung, welche aus der durch Christus begründeten Gottesbeziehung kommen. Sie ist aber für Paulus gerade deswegen möglich, weil sie das Handeln, und nicht die innere Einstellung betrifft. Deshalb empfiehlt er umgekehrt den „Schwachen“ nicht, ihr Handeln auf die „Starken“ einzustellen, weil eine Missachtung z.B. von Speisevorschriften sie in innere Konflikte, ja womöglich ins Verderben stürzen würde (Röm 14,15). Paulus schwebt als Lösung also nicht ein Kompromiss im üblichen Sinne vor, bei dem durch beiderseitiges Nachgeben ein Modus Vivendi gefunden werden kann. Zwar müssen auch die „Schwachen“ etwas beitragen, denn Paulus fordert von ihnen, dass sie die „Starken“, wenn sie ihrer Meinung nach die Vorschriften missachten, nicht verurteilen sollen. Aber wenigstens im Blick auf sich selbst brauchen 26 sie ihre Überzeugungen nicht zu ändern. Wie immer man die Einigungsstrategien des Paulus an dieser Stelle im Einzelnen beurteilen mag, es bleibt allemal die Beobachtung, dass er auch hier „die Dinge ins Grundsätzliche zieht“, indem er bei seinen Argumenten stets Gott und Christus als zentralen Bezugspunkt im Blick behält und in den Blick rückt. 2.2.2
I Kor 8–10: Das Götzenopferfleischessen
Ähnlich gelagert und ähnlich kompliziert wie die Argumentation um Starke und Schwache im Römerbrief ist auch die Auseinandersetzung des Paulus mit der Frage des Götzenopferfleischessens im Ersten Korintherbrief (I Kor 8–10). Auch hier kommt es auf Einigung an, weil die Korinther mit unterschiedlichen Haltungen an dieses Thema herangehen und sich leicht über diese Frage auseinanderdividieren können. Auch hier steht hinter dem unterschiedlichen Umgang mit der Speise eine 27 unterschiedliche Auffassung von der Freiheit. Allerdings scheint es in der Gemeinde von Korinth eher Unsicherheit über das Götzenopferfleisch gegeben zu haben als offene Konfrontation, und es waren weniger die Judenchristen, die wo25 26
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Vgl. dazu Eduard Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 381. Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 1973, 362, interpretiert m.E. zu Recht Röm 14,22 als „Bestätigung für die Freien“, auch wenn damit noch nicht alles zum angemessenen Verhalten gesagt ist. Das Stichwort Freiheit durchzieht geradezu leitmotivisch die Kapitel 8–10; der Gegenpol besteht hier allerdings nicht im Einhalten von Geboten, sondern in dem Bestreben, eine strikte Trennung vom Bereich der heidnischen Götter zu erreichen – daraus würde die Vorschrift erwachsen, Götzenopferfleisch auf jeden Fall zu meiden, während die „Starken“ in ihrer Freiheit mit dessen Verzehr kein Problem hatten. Vgl. zum Gedankengang der Kapitel 8–10 den Kommentar von Lindemann, 1. Korinther (wie Anm. 4), 186–187.236.
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möglich Schwierigkeiten mit dem Essen solchen Fleisches hatten, als vor allem, wie aus der Argumentation des Paulus zu schließen ist, einige unter den Heidenchristen.28 Paulus gibt also Rat und schreibt gewissermaßen vorbeugend; am Ende kommt er zu praktischen Ratschlägen, die für alle gelten sollen und nicht in erster Linie der einen oder der anderen Konfliktpartei. Die hier eingeschlagene Strategie lässt sich zum einen als Konfliktvermeidung beschreiben: Paulus empfiehlt den Gemeindegliedern, nicht nachzuforschen, woher das Fleisch kommt, das sie einkaufen oder das ihnen vorgesetzt wird (I Kor 10,25.27). Zum andern gilt es auch hier, keinen Anstoß zu geben, also Rücksicht zu nehmen (I Kor 8,9–13; 10,28–29). Dabei will Paulus die jeweilige Überzeugung der Christen gewahrt wissen; weder müssen die einen ihre innere Freiheit aufgeben (I Kor 10,29b, vgl. I Kor 8,4–6), noch soll den andern eine solche Freiheit aufgezwungen werden (I Kor 8,9–13; 9,22; 10,29a). In der theologischen Auseinandersetzung verfolgt Paulus beim Götzenopferfleischessen weniger die Strategie klarzumachen, dass es eine höhere Einheit gibt, angesichts derer der vorliegende Konfliktfall sich relativiert; vielmehr stellt er trotz eines klaren Statements für die eine Seite mit ihrer Freiheit (I Kor 8,4–6.8– 9;10,23) dennoch das Denken eben dieser Seite auch in Frage, indem er zwar den Götzen und damit dem ihnen geopferten Fleisch keine Macht zubilligt, aber dennoch vor den hinter ihnen stehenden Dämonen warnt (I Kor 10,20–22). Hier wäre also bei den „Starken“ nicht nur Rücksichtnahme auf die „Schwachen“ angebracht, sondern sie sollten ihre Position auch noch einmal von der Sache her überdenken. Damit will Paulus allerdings keine Verunsicherung erreichen, sondern letztlich die Akzeptanz seiner praktischen Lösungsvorschläge. Über allem steht bei Paulus schließlich der Rückbezug auf Gott: „Ob ihr nun esst oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre“ (I Kor 10,31). 2.2.3
I Kor 11 und 14: Konflikte um Abendmahl und Zungenreden
Entschiedener vertritt Paulus seinen eigenen Standpunkt in zwei weiteren Konfliktfällen, die in der Gemeinde von Korinth aufgetreten waren, nämlich bei den Streitigkeiten ums Abendmahl und um das Zungenreden. Auch in der Argumentation um das Abendmahl bezieht er sich wieder auf theologische Grundsatzfragen, nämlich auf die Verkündigung des Todes Jesu und die sich daraus ergebenden Konsequenzen (I Kor 11,23–26). Er geht davon aus, dass er diejenigen, die sich seiner Meinung nach falsch verhalten, eines Besseren belehren kann. Jedoch unterbreitet er zugleich einen praktischen Lösungsvorschlag, der dazu führen würde, dass das 28
Vgl. I Kor 8,7. Die Trennlinie zwischen „Starken“ und „Schwachen“ verlief also in diesem Fall nicht einfach zwischen Juden- und Heidenchristen. Dass Judenchristen Schwierigkeiten gehabt haben werden, Götzenoferfleisch zu essen, versteht sich geradezu von selbst (vgl. dazu a.a.O., 230–232). Paulus geht hier aber nur auf die im Grunde komplexere Problematik eines zu befürchtenden „Rückfalls“ ins Heidentum ein.
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Problem gar nicht erst aufkäme: Die wohlhabenderen Gemeindeglieder sollen zu Hause etwas essen, wenn sie meinen, vor Hunger mit dem Essen nicht warten zu können. Der Ratschlag erfolgt mit einer ironisch-rhetorischen Frage („Habt ihr denn keine Häuser, wo ihr essen und trinken könnt?“ – I Kor 11,22), ist aber dennoch konkret und geeignet, den Konflikt zu entschärfen.29 Hier würde also neben der sicher als wichtiger einzuschätzenden grundsätzlichen Argumentation zur Änderung einer Haltung auch ein praktischer Weg zur Konfliktvermeidung eröffnet. Gegen die übermäßige Hochschätzung der Gabe des Zungenredens in Korinth geht Paulus ebenfalls grundsätzlich vor; auch in diesem Zusammenhang kommen viele verschiedene Argumente zum Tragen. Nach der Klarstellung, dass jeder den Heiligen Geist hat, der das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn sprechen kann (I Kor 12,1–3), entfaltet der Apostel breit den Gedanken von der Gemeinde als Leib Christi, der nur mit verschiedenen Gliedmaßen richtig existieren kann, und bezieht das auf die Verschiedenheit der Geistesgaben (I Kor 12). Bevor er dann die Überlegenheit des prophetischen Redens gegenüber dem Zungenreden demonstriert (I Kor 14,1–25), versucht er zur Konfliktlösung einen ersten Ratschlag zu geben, dass nämlich die Gemeindeglieder sich um die Liebe bemühen sollen, statt alle nach dem Zungenreden zu streben (I Kor 13). Hier wird also eine Alternative angeboten, die aus dem unguten und problematischen Konkurrenzdenken um das Zungenreden herausführen soll. Auch nachdem der Gabe des Zungenredens ihr (niedrigerer) Platz zugewiesen ist, lässt Paulus das Thema noch nicht los. Vielmehr gibt er in der zweiten Hälfte von I Kor 14 wieder praktische Hinweise, wie mit den Geistesgaben im Gottesdienst umgegangen werden soll (I Kor 14,26–40); Leitgedanken sind dabei die Auferbauung der Gemeinde und das Einhalten guter Ordnung. Auch hier tritt also neben die grundsätzliche Argumentation ein praktischer Lösungsansatz, der helfen soll, das Konflikt30 feld zu entschärfen und die in der Praxis auftretenden Probleme zu beseitigen
29
30
Zur Frage, was genau der Streitpunkt war, vgl. Anm. 4. Nach Lindemann, 1. Korintherbrief (wie Anm. 4), 253, zielt die Aufforderung, in den eigenen Häusern zu essen, „darauf, das Sättigungsmahl des einzelnen […] und das κυριακὸν δεῖπνον klar voneinander zu unterscheiden“ und das Sättigungsmahl aus dem Gottesdienst zu entfernen. Diese Deutung blendet die im Hintergrund stehenden sozialen Konflikte aus und postuliert in m.E. anachronistischer Weise ein rein sakrales Herrenmahl ohne Sättigung; vgl. dazu Jorg Christian Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II.59, Tübingen 1994, 55; ferner Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, TANZ 13, Tübingen 1996, 299, sowie Thiselton, 1. Corinthians (wie Anm. 4), z. St. Zur Struktur der Kapitel 11–14 des 1. Korintherbriefes vgl. Lindemann, 1. Korinther (wie Anm. 4), 237.
Konflikt und Einigung im Neuen Testament
2.2.4
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Act 15: Das Apostelkonzil
Damit kommen wir gedanklich in die Nähe des Kompromisses. Als klassisches Beispiel für einen Kompromiss können die Beschlüsse der Apostelversammlung in Jerusalem zur Heidenmission des Paulus gelten (Act 15). Im Blick auf Paulus handelt es sich hierbei um eine Sekundärquelle, die deswegen problematisch erscheint, weil Paulus im Galaterbrief von einer Begegnung mit den Jerusalemer Aposteln berichtet und ausdrücklich festhält, dass ihm und seiner Mission keine Auflagen erteilt worden seien (Gal 2,6). Verschiedene Lösungen des Problems sind möglich. Unbefriedigend erscheint die Lösung einer Doppelung der Ereignisse, dass nämlich bei einer ersten Zusammenkunft (die Paulus im Galaterbrief meint) keine Auflagen erteilt worden seien, bei einer zweiten Zusammenkunft 31 (die Lukas in der Apostelgeschichte meint) dann doch. Die Annahme solcher Doppelungen dient zu offenkundig der Harmonisierung und hat keine wirkliche historische Plausibilität. Eine andere Lösung wäre, dass Lukas sich irrte bzw. eine ihm geläufige Lösung der Problematik in die Zeit des Paulus zurücktransportierte.32 Das ist nicht auszuschließen; unter dieser Annahme hätte Paulus den von Lukas berichteten Kompromiss nicht geschlossen, wohl aber wenigstens einige seiner Nachfolger. Für die Frage, ob es im Neuen Testament Kompromisslösungen gibt und wie sie aussehen können, wäre diese Einschränkung des Quellenwerts der Apostelgeschichte aber unerheblich, da sie lediglich die Zeit des Paulus beträfe. Es könnte jedoch auch sein, dass Paulus die in der Apostelgeschichte erwähnten Auflagen gar nicht als solche empfand.33 So wie er den Gemeindegliedern in Korinth und Rom Rücksichtnahme in Angelegenheiten von Essen und Tischgemeinschaft empfahl, hätte er auch hier lediglich an solche praktische Rücksichtnahme gedacht, während seine Position zur (Nicht-)Einhaltung der Tora durch die Heidenchristen uneingeschränkt gegolten hätte. Dann wäre Act 15 kein Zeugnis für einen echten Kompromiss, sondern höchstens für einen Vorgang, der nur von einer der beiden Seiten so verstanden wurde.34
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32 33
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Vgl. dazu Ernst Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1977, 452–456; Haenchen will das Problem lösen, indem er behauptet, Lukas habe mit dem Aposteldekret „eine lebendige Tradition beschrieben, die man wahrscheinlich schon damals auf die Apostel zurückgeführt hat“ (a.a.O., 454). Gegen die Annahme zweier Ereignisse ausführlich Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998, 404, Anm. 745. So die in Anm. 31 zitierte Lösung Haenchens, ähnlich auch Jervell, Apostelgeschichte (wie Anm. 31), 4. A.a.O., 406: „Wenn also Paulus das Dekret gekannt hat, erwähnt er es doch nie, nimmt darauf keine Rücksicht und hat es offenbar nicht für sich als verpflichtend angesehen, wie es 1 Kor 8–10 und Röm 14 deutlich zu sehen ist.“ A.a.O., 407: „Dass kurz nach dem Konzil verschiedene Interpretationen des Beschlusses im Umlauf waren, ist wahrscheinlich.“ Vgl. auch Bernd Wander, Gottesfürchtige und Sympathisanten. Studien zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen, WUNT 104, Tübingen 1998, 215.
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Vor einer Entscheidung für eine der Lösungen ist es ratsam, sich die Schilderung des Problems und seiner Lösung, wie Lukas sie bietet, noch einmal genauer anzusehen. Lukas erzählt, dass in Antiochien zwischen judäischen Christen (es bleibt in der Schwebe, ob sie von Judäa aus entsandt waren) einerseits und Paulus und Barnabas andererseits ein Streit darüber entbrannte, ob die Beschneidung der Heidenchristen nötig sei (Act 15,1–2a). Daraufhin sei beschlossen worden, Paulus und Barnabas mit einer Gesandtschaft der Gemeinde nach Jerusalem zu schicken, damit die Sache dort mit den „Aposteln und Ältesten“ diskutiert würde. Als Anwälte der „Jerusalemer“ Sache treten hier ehemalige Pharisäer auf, die fordern, dass die Heidenchristen zu beschneiden seien und das Gesetz des Mose halten müssen 35 (Act 15,2b–5). Nach Lukas geht es also um die Grundfrage, ob die Heidenchristen sich ganz in das Judentum integrieren und Proselyten werden müssen, um zum Heil zu gelangen – nicht nur mit der Beschneidung, sondern auch mit der Einhaltung der Tora. Nach viel Streit (Act 15,7) um diese Frage setzt sich Petrus für Paulus und Barnabas ein (Act 15,7–11); Schlüssel seiner Argumentation ist der Satz: „Wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet zu werden auf dieselbe Weise wie jene“ (Act 15,11). Damit bezieht Petrus letztlich die Position des Paulus, der nun die Möglichkeit bekommt, von seiner Arbeit zu berichten. Jakobus ist es schließlich, der als Lösung vorschlägt, man wolle den Heidenchristen keine Lasten auflegen (Act 15,19), sondern lediglich von ihnen fordern, dass sie sich von der Verunreinigung durch Götzen (Götzendienst, evtl. auch der Genuss von Götzenopferfleisch), von Unzucht, vom Erstickten und vom Blutgenuss fernhalten sollen. Dies sind Forderungen der Tora, welche in Lev 17 und 18 nicht 36 nur an Israel, sondern auch an die „Fremdlinge“ gerichtet sind und die wohl auch 37 in der Synagoge den „Gottesfürchtigen“ galten. Damit ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits insinuiert Lukas, dass mit Hilfe des Petrus sich die Position des Paulus durchsetzt. Andererseits werden den Heidenchristen nun doch Bestimmungen der Tora auferlegt, die sie einhalten sollen. Beide Seiten also setzen Forderungen durch. Wohl nicht nur nach der Darstellung des Lukas handelt es sich aber um keinen Kompromiss, bei dem man sich in der Mitte trifft. Denn die Ansicht, man müsse erst Jude werden, um zum Heil gelangen zu können, ist mit dieser Lösung vom Tisch. Von judenchristlicher Seite kann lediglich noch behauptet werden, die Geltung der Tora bleibe erhalten und ihre Bestimmungen würden nicht einfach aufgelöst. Die Heidenchristen dagegen kön35
36 37
Zweifelhaft scheint mir, ob Lukas wirklich meinte, dass die fraglichen Personen immer noch Pharisäer gewesen seien (so Jervell, Apostelgeschichte [wie Anm. 31], 390). Plausibler scheint mir, dass er den Begriff wie ein Etikett verwendete und insinuieren wollte, dass diese Christen immer noch in ihrem Pharisäertum verhaftet waren. Vgl. Haenchen, Apostelgeschichte (wie Anm. 31), 411. Vgl. Jervell, Apostelgeschichte (wie Anm. 31), 397–399; zu der Gruppe der Gottesfürchtigen und dem unterschiedlichen Umgang der Synagogen mit heidnischen Sympathisanten: Wander, Gottesfürchtige (wie Anm. 34).
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nen sich auf die Position zurückziehen, dass die Tora für sie nicht heilsnotwendig ist und dass sie die ausgehandelten Bestimmungen nur aus Rücksicht bzw. deshalb einhalten, weil das damit geforderte Verhalten sowieso selbstverständlich sei. Demnach handelt es sich zwar um einen Kompromiss zur Frage der Geltung der Tora, nicht aber im Blick auf die Forderung einer vollständigen Konversion zum Judentum. Es scheint möglich, dass Lukas hier die Debatte um zwei verschiedene, allerdings verwandte Fragen, in einer einzigen Szene zusammengefasst hat. Dann wären in der Tat dem Paulus für seine Heidenmission keine Auflagen gemacht worden und man hätte lediglich in einem ursprünglich anderen Zusammenhang die in Act 15 präsentierte Lösung für das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen gefunden. Gibt Lukas in Act 15 hingegen die Debatte wieder, die auch Paulus in Gal 2 meint, dann wäre Paulus wirklich der Ansicht, dass sein Anliegen sich durchgesetzt hätte und es keine nennenswerten Auflagen für seine Mission gab. Wenn wir Act 15 also als Beispiel für einen neutestamentlichen Kompromiss zu theologischen Fragen anführen, dann eigentlich nur im Blick auf die Frage nach der Weitergeltung der Tora, auch wenn für Juden und Heiden das Heil allein in Jesus Christus liegt. Es liegt aber vielleicht auch im Wesen eines Kompromisses, dass wenigstens eine der beiden Seiten behaupten kann, sie hätte nicht nachgegeben. 3.
Folgerungen
Es ergibt sich ein relativ buntes Bild von verschiedenen Konfliktlösungsstrategien im Neuen Testament. Zugleich stellt sich die Frage, ob die Lösungsmodelle für uns normativen Charakter haben oder wenigstens als Vorbild dienen können. Ganz überwiegend zeigen vor allem die paulinischen Briefe das Bemühen, Konflikte argumentativ zu lösen; es kommt dabei darauf an, den Gegner von der eigenen Position zu überzeugen. Dabei wird vor allem an die Einsicht appelliert; daneben aber kommt es auch vor, dass Paulus um Vertrauen wirbt, dass er die Gegner bittet, ihr Herz weit zu machen, und dass er zu Liebe und Vergebung ruft. Auffällig ist, dass Paulus sehr häufig christozentrisch argumentiert: Christus wird als Beispiel angeführt, der Glaube an ihn beschworen, er hat den Grund gelegt für Frieden und Auferbauung der Gemeinde, er hat eine intakte Gottesbeziehung hergestellt, die es nicht zu verlieren gilt. Wenn Argumente versagen, kann auch mit Strafe oder Ausschluss reagiert werden; neben der „Reinhaltung“ der Gemeinde hat es dabei auch das Ziel gegeben, den Gegner zum Einlenken zu bewegen. Ein weiteres Modell zur Konfliktlösung ist die Anrufung eines irdischen Richters (nach Möglichkeit innerhalb der Gemeinde) oder aber auch von Gott selbst als Richter. Sich auf Gott als Richter zu verlassen bedeutet letztlich ein Stillhalten und Aufschieben der Konfliktlösung; in der Zwischenzeit muss ein modus vivendi gefunden werden. Ein solches Vorgehen ist vor allem dann geraten, wenn den Konfliktparteien ein Aufschub bzw. ein Absehen von der eigenen Position möglich ist.
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In dieses Spektrum gehört auch der Appell, die eigene Position noch einmal zu überdenken. Vor allem für Paulus aber ist der Lösungsweg der Rücksichtnahme eine gute Möglichkeit zur Konfliktlösung bzw. Konfliktvermeidung. Rücksichtnahme, Demut, Nachgeben, Erdulden von Unrecht und Liebe können Konflikte entschärfen oder aber vermeiden helfen. Auch hier kommt, besonders als Vorbild, wieder Christus ins Spiel. Wesentlich unkonkreter und ohne den ausdrücklichen Rekurs auf Christus will auch der Jakobusbrief Streitigkeiten in den Gemeinden durch den Ruf zur Demut bekämpfen. Paulus rät zur Rücksichtnahme allerdings immer dann, wenn damit keine Grundpositionen des Glaubens aufgegeben werden bzw. wenn es möglich ist, bei einer grundlegenden Überzeugung zu bleiben, auch wenn man sich z.B. aus Rücksichtnahme anders verhält. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, abweichende Positionen dann zu tolerieren, wenn gezeigt werden kann, dass sie gegenüber der tatsächlichen Einheit (z.B. in Christus) nicht wirklich ins Gewicht fallen. Zur Konfliktvermeidung schließlich dienen manchmal auch ganz praktische Lösungen, die dazu führen, dass es gar nicht erst zum Streit kommt. Relativ selten scheint die Konstellation auf, dass zwei gleichwertige Positionen nebeneinander bestehen können, ohne dass der einen oder der anderen allein Recht gegeben wird. Wenn es etwa um das Verhältnis von Judenchristen und Heidenchristen geht, liegt ein solcher Gedanke nahe; das reicht aber offenbar allein nicht zur Konfliktlösung aus, die dann doch auf anderem Wege gesucht wird. Ebenfalls selten treffen wir auf das Modell des Kompromisses. Beim Apostelkonzil scheint es so, als wäre die Lösung wenigstens eines Teilkonflikts durch Kompromiss nur möglich gewesen, weil beide Seiten ihre Grundposition dadurch nicht wirklich verletzt sahen. Entscheidend war hier wohl außerdem, dass jede der beiden Seiten die Rückbindung der anderen an den Glauben an Jesus Christus anerkannte. Wenn wir im Neuen Testament nach Wegweisung zur Lösung von Konflikten suchen, dann zeigt sich schon aufgrund der wahrzunehmenden Vielfalt, dass es nicht einfach nur einen einzigen gültigen Weg gibt. Angesichts der heutigen Neigung, einander widerstreitende Positionen einfach nebeneinander stehen zu lassen, ist zu beachten, mit welcher Vehemenz im Neuen Testament um die Wahrheit gestritten und bei Konflikten nach einer Lösung durch Argumente und Überzeugung gesucht wird. Dennoch gab es offenbar keine große Bereitschaft, den andern einfach abzuschreiben und getrennte Wege zu gehen, auch wenn dies sowohl in Einzelfällen als ultima ratio vorkam als auch bei Lehrstreitigkeiten zwischen verschiedenen Gruppen. So widmet sich Paulus immer wieder der Vermittlung zwischen den Juden- und den Heidenchristen, die im Gemeindealltag durch ihre unterschiedliche Observanz etwa von Speisevorschriften auseinander zu fallen drohten; er tut das, obwohl er im Galaterbrief kompromisslos gegen die judenchristliche Forderung nach der Beschneidung der Heidenchristen vorgeht. Ein Nebeneinander in Liebe
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und Rücksichtnahme scheint ihm möglich, solange keiner im Glauben an Christus irregemacht wird und dieser Glaube unangetastet bleibt. Der gemeinsame Glaube an die Rettung allein durch Christus kann hier als das einigende Band gesehen werden, welches den Konflikten über- und vorgeordnet ist. Er war offensichtlich auch ein wichtiger Gesichtspunkt für die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, dessen Schriften ja mit teils widersprüchlichen Aussagen nebeneinanderstehen und nicht auf völlige Übereinstimmung „getrimmt“ sind. Versuche in diese Richtung wie die Evangelienharmonie des Tatian oder der „Kanon“ des Marcion haben sich nicht durchgesetzt. Doch befinden wir uns historisch hier schon jenseits der Ansätze zu Konfliktlösungen innerhalb des Neuen Testaments. Für dieses bleibt festzuhalten, dass trotz der Aufrufe zu Rücksichtnahme und Demut nicht einfach ein Rückzug auf den elementaren Glauben als gemeinsame Basis stattfindet, neben der dann alles andere für irrelevant erklärt wird. Das Ringen um Einigung bleibt bestehen. Auffällig ist, dass dabei in aller Regel der Bezug auf Jesus Christus hergestellt oder gewahrt wird. Man kann zwar fragen, ob Paulus immer klug handelt, wenn er Konflikte um seine Person in den Rahmen grundsätzlicher theologischer Fragen stellt und vom Christusglauben her zu lösen versucht. Doch scheint mir vorbildlich, dass er auch in den meisten anderen Fällen die Sache in den Horizont der Erlösung durch Christus und des Glaubens an ihn stellt. So sehr zu beachten ist, dass Gott selbst seine Kirche baut, so selten können wir im Neuen Testament bei Konfliktfällen den Rückzug darauf beobachten, dass Gott die Dinge schon richten werde. Die Bearbeitung von Konflikten in der Gemeinde wird durchaus als menschliche Aufgabe gesehen. Wenn dazu Gesichtspunkte wie die Auferbauung der Gemeinde, Frieden, Demut und Rücksichtnahme sowie die Liebe untereinander als Maßstäbe eingeführt werden, so können und sollen wir uns auch daran orientieren. Doch bleibt die Aufgabe immer neu, Konflikte in Kirche und Gemeinde anzugehen, auszuhandeln und einer Lösung zuzuführen; das Neue Testament gibt uns dazu zwar Orientierung an die Hand, zeichnet aber nicht einfach den einen und einzig möglichen Lösungsweg vor. Das gilt auch und gerade für die mannigfachen Ausdifferenzierungen, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten in der heutigen Ökumene.
Die narrative Funktion der Mitte im Markusevangelium Über die Distinktion zwischen narrativer und systematischer Theologie Volker Stolle Die Evangelien bieten Theologie in narrativer Form, indem sie eine erzählte Welt aufbauen, die sich deutlich von der Welt ihrer Rezipienten unterscheidet. Sie laden dazu ein, sich aus der eigenen, aktuell erlebten in eine fremde und vergangene Zeit hineinzuversetzen. Die systematische Theologie richtet mit Argumenten im Diskurs ein Gedankengebäude auf, das bei den Angesprochenen um direkten Nachvollzug im Mitdenken wirbt und zu entsprechendem Handeln motiviert. Die jeweilige Sprechweise wirkt sich signifikant auf die jeweilige Textgestaltung aus. In einer systematischen Betrachtung wird man Jesus Christus als die integrierende Mitte ansehen müssen. So weist Luther mehrfach auf den Mittelpunkt eines Zirkels hin, den er in unterschiedlicher Weise im Heilandswerk Jesu Christi sieht: „Den er (sc. Christus) ist das mittel punctlein im Circkel und alle Historien in der 1 heiligen schriefft, so sie recht angesehen werden, gehen auff Christum.“ Das Markusevangelium nun beginnt programmatisch mit der Wendung „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ (Mk 1,1) und sieht als Inbegriff dieses Evangeliums dann Jesu Verkündigung des „Evangeliums Gottes“ (Mk 1,14). Damit ist deutlich eine thematische Mitte angegeben. Aber der Evangelist stellt dann Jesus keineswegs auch in die Mitte der Szenerie seiner Erzählung, sondern rückt ihn betont aus der narrativen Mitte heraus.2 Gerade als der „Verkündiger“ (κηρύσσων; vgl. Mk 1,14), nicht etwa nur als Beter (Mk 1,35), wird er programmatisch „draußen“ (ἔξω) an einsamen Orten platziert, so dass die Menschen 1
2
Predigt vom 1. Juni 1538 über Joh 3,14 (WA 47, 66,23f.). Die Erzählungen („Historien“) werden damit in eine Systematik überführt. Vgl. dazu auch die Randnotiz zu Röm 3,23ff. im Neuen Testament. 1522: „Merck diß, da er sagt, Sie sind alle sunder etc. ist das hewbtstuck vnd der mittel platz dißer Epistel vnd der gantzen schrifft. Nemlich, das alles sund ist, was nicht durch das blut Christi erloset, ym glauben gerechtfertiget wirt“ (WA.DB 7, 38); derselbe Text in anderer Orthografie auch in der Bibel. 1546 (ebd., 39). Vgl. Martin Schloemann, Die zwei Wörter. Luthers Notabene zur „Mitte der Schrift“, Luther 65 (1994), 110–123 (= „Was Christum treibet“. Martin Luther und seine Bibelübersetzung, hg. v. Siegfried Meurer, Bibel im Gespräch 4, Stuttgart 1996, 89–99). Luther beschreibt diese bestimmende Mitte etwa auch in seiner Vorrede zum Galaterkommentar 1535: „Nam in corde meo iste unus regnat articulus, scilicet Fides Christi, ex quo, per quem et in quem omnes meae diu noctuque fluunt et refluunt theologicae cogitationes“ (WA 40 I, 33,7–9). Zur Auslegung der Stellen, die aus dem Markusevangelium herangezogen werden, vgl. meine Auslegung dieses Evangeliums in der Reihe Oberurseler Hefte Ergänzungsbände, Göttingen 2015.
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sich zu ihm hinbegeben müssen (Mk 1,45). Dabei gelten die menschenfeindlichen, wüsten Orte eigentlich als Heimstatt böser Geister (Mk 1,12; 5,10). Und zu seiner Hinrichtung wird Jesus ausdrücklich nach „draußen“ geführt (Mk 15,20: ἐξ-άγω; vgl. 12,8). Der Erzähler3 schildert seinen Protagonisten als Außenstehenden, um gerade so doch alle Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Systematische und narrative Theologie erfordern offenbar unterschiedliche „Sprachgeometrien“, um dem Christusevangelium jeweils auf ihre Weise sachgemäßen Ausdruck zu geben. Wieder bietet auch Luther gute Beispiele: Die narrative Beschreibung des eigenen Ergehens zeigt bei ihm nicht Jesus, sondern den Christenmenschen „mitten im Leben, mitten im Tod und mitten in der Höllen Angst“; mit diesem Dreischritt verstärkt Luther die Vorlage der lateinischen Antiphon „Media vita in morte“ intensiv. Das ganze menschliche Leben kann als Weg zum Tod beschrieben werden. Aus dieser eigenen Mitte stellt die flehentliche Anrufung „du, Herr, alleine“ dann eine Relation zu Gott dem Herrn her, der allein den Halt bietet, 4 den die eigene Mittelpunktexistenz nicht erbringen kann. Auch die Christen sind aufgrund ihrer Taufe in ständiger Vorbereitung auf den Tod.5 Doch aus ihrer exzentrischen Gottverbundenheit ergibt sich für Luther dann die Weiterführung der Narration, wie Werner Klän gezeigt hat: „media morte in vita“.6 Die vergängliche Mitte menschlicher Geschichtserzählung wird neu verortet im ewigen Leben. Wenn auch der Begriff „Mitte“ darin nicht begegnet, so ist doch – als weiteres Beispiel – Luthers Erzähllied „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ durchgehend von diesem Perspektivwechsel bestimmt. Während der „Sohn Gottes“ nicht namentlich identifiziert wird, rückt das „Ich“, zu dem sich die „lieben Christen“ zusammenschließen, ganz in die Mitte; selbst wenn sie Worte Gottes des Vaters oder 3
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5
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Dies gilt speziell für Markus. Matthäus und Lukas übergehen diese Positionierung. Während Matthäus die Aussätzigenheilung ohne eine Nachbemerkung berichtet (Mt 8,1–4), begründet Lukas hier den Aufenthalt Jesu an einem einsamen Ort mit seinem Beten (Lk 5,16). Statt „hinausführen“ (Mk 15,20) verwenden beide Seitenreferenten den terminus technicus aus dem Prozessverfahren „abführen“ (Mt 27,31; Lk 23,26). Martin Luther, Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen (EG 518,1–3). Vgl. dazu Ansgar Franz, Mitten wir im Leben sind, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, 2 München 2003, 84–93. Luther versteht die Feststellung des Paulus: „Wir sind mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod“ (Röm 6,4), im Sinne einer Lebensbeschreibung: „Quod credo non solum de morte peccati spirituali intelligi, sed etiam corporali, quod peccatum non moriatur penitus, donec corpus extinguatur“ (Operationes in Psalmos. 1519–1521, zu Ps 3,6; WA 5, 19,12–14). Und deshalb folgert er: „Quare ad mortem statim im baptismo paramur, ut per mortem ad vitam velocius perveniamus“ (a.a.O., 19,13–15). Werner Klän, Das „dreifältig Bild“ Christi, oder: den Tod überleben. Perspektiven Martin Luthers für ein Leben vor und nach dem Tod, in: Wortlaute. FS Hartmut Günther, hg. v. Wolfgang Schillhahn und Michael Schätzel, Groß Oesingen 2002, 337–353, hier: 338 mit Bezug auf Luthers Predigt zu Lk 1 vom 2. Juli 1523 in der Nachschrift Stephan Roths (WA 12, 609,5). Vgl. auch Luthers Enarratio psalmi XC (1534/1535). 1541: „Legis vox terret, cum occinit securis: Media vita in morte sumus. At Euangelii vox iterum erigit et canit: Media morte in vita sumus” (WA 40 III, 496,16f.).
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des Sohnes zitierend aufnehmen, steht ihr eigenes singend erzählendes Ich, das sich als Du angesprochen weiß, im Mittelpunkt: „lass ihn mit dir leben“, „in meiner armen G’stalt“, „ich bin dein“, „dir zugut“, „da bist du selig worden“.7 1.
Sprachlicher Befund
Der Term „mitten/Mitte“ (μέσος) begegnet im Markusevangelium fünfmal. Hinzu kommt das Kompositum „um Mitternacht“ (μεσονύκτιον). Dabei tritt die Besonderheit des Markusevangeliums im Vergleich mit den beiden anderen synoptischen Evangelien deutlich hervor. Die Wendung „in die Mitte“ (Mk 3,3) übernimmt allein Lukas (Lk 6,8, diff. Mt 12,10). Die Wendung „auf der Mitte des Sees“ (Mk 6,47) fehlt bei beiden Seitenreferenten; in der Textüberlieferung erscheint sie allerdings bei Matthäus als varia lectio (Mt 14,24). Die Wendung „mitten hinein in das Gebiet der Dekapolis“ (Mk 7,31), wird von Matthäus, der hier dem Erzählfaden des Markus folgt, ausgelassen. Die Wendung „in ihre Mitte“ (Mk 9,36) behält Matthäus bei (Mt 18,2), während Lukas in „vor sich selbst“ ändert (Lk 9,47). Die Wendung „in die Mitte“ (Mk 14,60) findet sich im synoptischen Vergleich allein bei Markus. Auch die Zeitangabe „um Mitternacht“ (Mk 13,35) ist eine markinische Besonderheit. Schon diese Beobachtungen zeigen, dass Matthäus und Lukas den Einsatz der „Mitte“ im Markusevangelium offenbar der Erzählstrategie dieses Evangelisten zugerechnet und deshalb zur Gestaltung ihres eigenen Programms kaum genutzt haben. Sie selbst setzen den Begriff allerdings durchaus auch mehrfach ein (Mt siebenmal, Lk vierzehnmal), aber eben mit eigener darstellerischen Zielrichtung. 2.
Die narrativen Hinweise auf eine Mitte im Einzelnen
2.1 Die Erzählung von der Heilung der verdorrten Hand (Mk 3,1–6) steht am Ende einer Erzählfolge, in der es um die außerordentliche Vollmacht Jesu geht (Mk 1,16– 3,6). Die Aufforderung Jesu: „Steh auf, in die Mitte!“ erweitert die klassische Form der Krankenheilung, indem sie Raum schafft für eine eingeschobene Auseinandersetzung Jesu mit Leuten, die ihm auflauern und später als Pharisäer identifiziert werden. Erst nach dieser Zwischenszene (Mk 3,2–5a) wird der ursprüngliche Erzählstrang mit einem zweiten Wort an den Kranken fort- und zügig zu Ende geführt (Mk 3,5b). Der Kranke wird also in dem Moment betont in die Mitte gerückt, als es scheinen möchte, von ihm werde abgelenkt. Er könnte ja tatsächlich aus dem Blickfeld geraten, wenn Jesus selbst zur Problemfigur wird, indem er erst argwöhnisch beobachtet und abschließend seine Vernichtung beschlossen wird (Mk 3,2.6).
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Martin Luther, Nun freut euch, lieben Christen gmein (EG 341,1–10). Vgl. nur die Aussage: „Er kam zu mir auf Erden“ (341,6).
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Indem der Kranke durch ein ausdrückliches Jesuswort in die Mitte gestellt wird, bleibt die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Eigentlich interessiert aber allein, wie sich Jesu Verhalten an ihm auswirkt. Der Erzähler zeichnet den Behinderten ohne jeden individuellen Einzelzug. So wird er in seiner Mittelpunktposition ganz zum Deuter der Jesusgestalt und spiegelt dessen Souveränität. Der Mann, der von seiner Behinderung befreit wird, bildet die narrative Mitte, bekommt aber kein Eigengewicht, sondern weist auf Jesus hin, der die Szene gleichsam vom Rande aus beherrscht. 2.2 In der zweiten Seenot-Episode im Markusevangelium (Mk 6,45–52) dient die Positionierung der Jünger „auf der Mitte des Sees“ (Mk 6,47) dazu, ihren Abstand von Jesus anschaulich zu machen; der befindet sich noch an Land. In der früheren Seenot-Erzählung (Mk 4,35–41) war eine präzise Ortsbestimmung, wo genau sich das Boot auf dem See befand, entbehrlich, weil Jesus den Sturm zusammen mit seinen Jüngern erlebte. Jetzt aber hatte Jesus zuvor für sich allein auf einem Berg im Gebet die Nähe Gottes gesucht und seine Jünger vorausgeschickt; sie fühlen sich nun gottverlassen den Chaoskräften ausgeliefert. Im Wasser können sich diese ungestümen Mächte ungehindert austoben, und die Jünger befinden sich mitten 8 drin, in ihrer Gewalt (vgl. Ps 46,3–4 ). Die Ortsbestimmungen haben metaphorischen Klang. Wird das Land mit dem aufragenden Berg als Raum Gottes charakterisiert, so signalisiert die Mitte des Sees das Zentrum abgrundtiefer, unheimlicher Naturgewalten. Diese extreme Distanz zwischen ihnen wird aufgehoben, als Jesus zu ihnen ins Boot steigt. Das gegenseitige Sehen verwirrt zuvor die Jünger noch (Mk 6,48–50a), erst sein Zuspruch an sie beruhigt die Lage einigermaßen, wenn auch nicht völlig (Mk 6,50b–52). Die Jünger werden in ihrer eigenen Hilflosigkeit in die Mitte gerückt und entlarvt. Zugleich wird der Lesegemeinde eine zweite Betrachtungsperspektive angeboten, indem sie in einer Kontrasterzählung mitverfolgen kann, was zu derselben Zeit Jesus tut. Diese Perikope schließt unmittelbar (Mk 6,45: Καὶ εὐθύς) an die Speisung der Fünftausend an (6,32–44), in der Jesus seine Jünger aufgefordert hatte, diese gewaltige Menschenmenge zu sättigen und sie dies wider eigenes Erwarten tatsächlich geschafft hatten, einfach indem sie seinen Anweisungen folgten. Dennoch führt der erneute Auftrag Jesu (Mk 6,45) dazu, dass sie sich der dadurch entstehenden Situation nicht gewachsen zeigen.
8
Der hebräische und der griechische Text bieten hier den Begriff „Herz“ in der Bedeutung „Mitte“. Im Markusevangelium begegnet „Herz“ in anderer Bedeutung und bezeichnet stets das menschliche Bewusstseinszentrum (vgl. meinen Artikel „Herz“, TBLNT I [1997], 948–953, dort 950– 951). Markus verfährt also auch beim Rückgriff auf biblische Redeweise sehr konsistent in seinem Sinne.
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2.3 Die Auskunft, dass Jesus „mitten hinein in das Gebiet der Dekapolis“ kam (Mk 7,31), dient nicht der Verortung Jesu, sondern weist auf die Gesamtszenerie hin, innerhalb derer dann eine Differenzierung vorgenommen wird zwischen einem Einzelnen und einer größeren Menschengruppe (Mk 7,31–37). Die Heilungsgeschichte selbst verbindet schon zwei Aspekte miteinander: Jesus befreit den Mann, der taub und stumm ist, in einer zweifachen Zuwendung von seinen beiden Leiden, indem er sowohl seine Ohren als auch seine Zunge berührt. In diese Doppelheilung baut der Erzähler erneut eine Kontrasterzählung ein, indem er die Menschenmenge separat schildert. Zunächst wird der Einzelne von der Menge entfernt (Mk 7,33a), dann wendet sich Jesus speziell dieser Großgruppe zu, die bis dahin außen vor geblieben war (Mk 7,36–37). Nachdem er bei seinem Bemühen um den Kranken vollen Erfolg gehabt hat, bleibt er ihr gegenüber mit seiner direkten Aufforderung völlig erfolglos. In der Gegenüberstellung eines Einzelnen und seines sozialen Umfelds wiederholt sich mitten im Gebiet der Dekapolis, was sich dort schon einmal ereignet hatte 9 (Mk 5,1–20: Großgruppe 5,14–17; Einzelner 5,18–20). Das „Land der Gerasener“ (Mk 5,1) war ausdrücklich der „Dekapolis“ (Mk 5,20) zugeordnet worden. 2.4 Als sie auf dem Weg nach Jerusalem noch ein letztes Mal nach Kafarnaum kommen, wo Jesu Wirksamkeit in Begleitung seiner ersten Jünger begonnen hatte (Mk 1,21), spricht Jesus seine Jünger auf Diskussionen an, die diese unterwegs über ihre Rangordnung geführt hatten. Er stellt ein Kind „in ihre Mitte“ (Mk 9,37) und schließt es in seine Arme, um so die wirklichen Größenverhältnisse zu demonstrieren und zu klären (Mk 9,33–37). Das Kind in der Mitte des Jüngerkreises veranschaulicht, was es für die Jünger bedeutet, um Jesus geschart zu sein, der, wie er bereits zweimal angekündigt hat (Mk 8,31–32a; 9,31), auf dem Wege ist, für „die vielen“ in den Tod zu gehen (Mk 10,45). Ausdrücklich wurde gerade zuvor auf die Begriffsstutzigkeit der Jünger hingewiesen (Mk 9,32), die nun in ihrem Bemühen um eigene Profilierung konkreten Ausdruck findet. Das Miteinander zwischen Jesus und seiner Begleiterschar wird narrativ beschrieben, indem eine Person szenisch in die Mitte gerückt wird, die danach gleich wieder von der Bühne abtritt. Wieder wendet der Erzähler den Topos der Mitte an, diesmal, um indirekt das rechte Verständnis der Jüngerrolle zu demonstrieren. Die Bedeutung dieser Mitteilung wird dadurch unterstrichen, dass der Evangelist mit der Segnung der Kinder (Mk 10,13–16) seinen Jüngern noch einmal eine solch anschaulich-nachdrückliche Lehre erteilen wird. Das betonte darstellerische Inte9
Auch dort war der Erfolg Jesu gegenüber den Dämonen begleitet von seinem Abblitzen bei der Menschenmenge (Mk 5,13.17).
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resse des Evangelisten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Matthäus und Lukas das Motiv der „Umarmung“ (ἐναγκαλισάμενος – ein durch voran gesetztes ἐν verstärktes Kompositum), das die emotionale Seite der Erzählung nachdrücklich betont, an beiden Stellen übergehen (Mt 18,2; 19,15; Lk 9,47; 18,17). 2.5 Markus fügt in seine Darstellung der Verhandlung über Jesus vor dem Synedrium (Mk 14,55–65) eine eigene Szene zwischen dem Zeugenprozess (Mk 14,55–59; vgl. Dtn 17,6f.; 19,15) und der Verurteilung aufgrund einer angeblichen aktuellen Gotteslästerung ein (Mk 14,62–65; vgl. Lev 24,16), indem er den Hohepriester „sich in die Mitte erheben“ lässt (Mk 14,60–61).10 Matthäus, der dem Erzählablauf bei Markus folgt (Mt 26,62), übergeht „in die Mitte“. Markus dagegen stellt betont den Vorsitzenden des Gerichtsgremiums als Problemfigur heraus, nicht Jesus. Zur fragwürdigen Gestalt wird so nicht etwa der Angeklagte, sondern sein Richter, der sich rechtlich zweifelhafter Methoden bedient, um eine offensichtliche Vorverurteilung (Mk 14,1) nachträglich zu rechtfertigen. Umgekehrt erscheint Jesus in souveräner Integrität, obwohl er seinem gewaltsamen Ende entgegengeht.11 Jesus beugt sich gehorsam dem Willen seines Vaters (Mk 14,36), während die amtlich damit Befassten das Gottesgesetz beugen. Indem Jesus seinen Weg ans Kreuz geht, bestätigt er seine Lehre von der Gottesherrschaft im Anbruch. 2.6 Die Ölbergrede (Mk 13) schlägt als ganze eine hermeneutische Brücke, die von der erzählten Welt der vergangenen irdischen Geschichte Jesu hinüber in die aktuelle Situation der Lesegemeinde führt. Ihr Abschluss stellt diese Weiche besonders markant. Durch die Klammer des zweimaligen Aufrufs „Wachet!“ (Mk 13,35.37) verknüpft der Erzähler ein Gleichnis (Mk 13,34) unmittelbar mit seiner Anwendung, indem er aus der dritten in die zweite Person wechselt (Mk 13,35–37). Die Jünger, die zunächst als Hörer der Gleichnislehre Jesu erschienen, werden jetzt gleichgesetzt mit den Bediensteten in der fiktiven Welt, von der er erzählt. So werden sie als Schüler direkt von ihrem Lehrer zu Aufmerksamkeit gerufen. Zugleich wird der Kreis der Zuhörer auf „alle“ ausgeweitet (Mk 13,37), und so über die kleine
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Durch dieses Verfahren erreicht Markus eine Szenenabfolge in drei Schritten und damit eine strukturelle Angleichung an die Petrus-Erzählung, mit der dieser Prozessbericht verschachtelt ist und für die ein dreimaliges Leugnen charakteristisch ist (Mk 14,54.66–72). Zum narrativen Rollentausch im Gerichtsprozess vgl. auch die Darstellung des gerichtlichen Vorgehens gegen Paulus in der Apostelgeschichte; dort wird der tatsächlich Angeklagte Paulus in die Rolle eines Zeugen für Jesus als dem eigentlich Verantwortlichen gerückt (vgl. meine Untersuchung: Der Zeuge als Angeklagter, BWANT 102, Stuttgart 1973, besonders 140–147).
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Gruppe besonders Ausgewählter (Mk 13,3) hinaus letztlich auf die ganze Lesegemeinde des Evangeliums hin geöffnet. Dieses Umschlagen in die direkte Rede ist verbunden mit einer detaillierten Darstellung der möglichen Zeitpunkte der Rückkehr des Hausherrn. Die Nacht wird in vier Wachen aufgeteilt: „spät abends, um Mitternacht, zum Hahnenschrei oder frühmorgens“ (Mk 13,35b). Die Aufnahme der volkstümlichen Bezeichnungen von vier Nachtwachen, wie sie bei den Römern üblich war, und nicht in der traditionellen jüdischen Zählung von drei Nachtwachen (vgl. Jdc 7,19), unterstreicht sprachlich den Geltungsrahmen der Anweisung Jesu, der sich auf die ganze Lesegemeinde aus Juden und Heiden erstreckt. In dieser Reihe der Nachtzeiten erscheint die natürliche Zeitwende, die Mitte der Nacht, ohne spezielle Gewichtung; ihr soll offenbar keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Herausgehobene Zeitpunkte verlieren ihre Besonderheit, wenn es um die Wachsamkeit geht, die Jesus von seinen Jüngern erwartet. Der entscheidende Augenblick kann jederzeit eintreten. Der Ausfall einer „Mitte“ hilft hier zur Transformation. Die Jünger bleiben ohne besondere Orientierungsmarken (Mk 13,33), wenn sie nach dem Ende der irdischen Weggemeinschaft mit Jesus ihren Weg in seinem Auftrag und unter seinen Zusagen weitergehen. Während sie vom Ölberg aus auf den Tempel blicken und sich auf dessen Zerstörung einstellen sollen, wird diese szenische Mitte nicht neu besetzt, sondern sie bleibt frei. Die erzählte Welt endet; die Mitte der selbst erlebten Welt, der „Hausherr“ (κύριος τῆς οἰκίας), ist selbstverständlich Jesus (Mk 13,35). Die Gestalt, von der im Gleichnis erzählt wird, wird zur Metapher für den Gleichniserzähler selbst. Lukas gestaltet seinen Abschluss der Rede, die er übrigens vom Ölberg in den Tempel verlegt, neu, indem er Jesus „in jedem Augenblick“ Wachsamkeit anmahnen lässt (Lk 21,34–36). Matthäus lässt die abschließende Mahnung bei Markus an dieser Stelle aus, weil er die Rede Jesu noch erheblich erweitert und dabei dann das knappe Gleichnis bei Markus (Mk 13,34) stark ausbaut (Mt 25,14–30), wobei der Aufruf zum Wachen zu einem Aufruf zu entschlossenem Handeln wird und sich eine zeitliche Spezifizierung erübrigt (Mt 25,19: „nach langer Zeit“). 3.
Die narrative Zeichnung des Jesusbildes
3.1 Das Markusevangelium erzählt, wie andere Personen die Mitte einnehmen, nicht aber Jesus. Der ist zwar die gedachte Mitte. Erzählt wird aber so, dass das Christusbild vor der Lesegemeinde entsteht, indem andere Personen in ihrem Verhältnis zu Jesus gezeigt werden. In ihnen, einem Kranken, den Jüngern, einem Kind, dem Hohepriester und neugierigen Zuschauern, spiegelt sich Jesu Eigenart. Charakteristische Gruppen sind damit erfasst, so dass ein mehrperspektivisches Bild von Jesus gezeichnet werden kann. Denn die jeweils geschilderte Mitte bezieht sich auf
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unterschiedliche Kreise bzw. Zirkel: die Synagoge, das aufgewühlte Meer, den Jüngerkreis und den jüdischen Gerichtshof. Damit sind typische Erzählsituationen angesprochen, die für die Darstellung des Jesusbildes überhaupt wichtig sind. 3.2 Diese Erzählstrategie schlägt sich auch an anderen Stellen des Evangeliums nieder, an denen Markus auf den Begriff selbst verzichtet. So erzählt er, wie der Gekreuzigte in der Mitte zwischen zwei Terroristen hängt. Doch diese Mittelpunktposition benennt er nicht direkt, sondern verortet die beiden mit Jesus Hingerichteten „rechts“ und „links“ von ihm, und die Evangelisten Matthäus und Lukas folgen ihm darin (Mt 27,38; Lk 23,33). Obwohl Jesus szenisch die Mitte bildet, wird diese Positionierung im sprachlichen Ausdruck umschrieben und der Blick auch hier in der Weise auf Jesus konzentriert, dass unterschiedliche Reaktionen der anwesenden Gruppen gerade auf sein Schicksal, nicht aber auf das der Mitgekreuzigten, berichtet werden. Johannes freilich bezeichnet die in Jesus gegebene „Mitte“ als solche (Joh 19,18); sein Evangelium ist auch wesentlich stärker meditativ angelegt 12 als narrativ. Bemerkenswert ist, dass Jesus zwar selbst eindeutig „zur Rechten“ Gottes – als Christus (Mk 12,36 im Zitat Ps 110,1) oder als Menschensohn (Mk 14,62) – zu sitzen kommt, die Entscheidung aber darüber, ob er selbst zwischen den Zebedäussöhnen – „einen zur Rechten und einen zur Linken“ – eine Mittelposition einnehmen wird, unentschieden bleibt und es Gott anheimgestellt wird (Mk 10,37.40).13 Hier zeigt sich der theologische Vorbehalt, der auch sonst im Markusevangelium gilt, dass der Vater im Himmel die übergeordnete Instanz bleibt, auf die hin selbst die Vollmacht Jesu (Mk 1,11.22.27; 2,10.28; 4,41) transzendiert wird (Mk 13,32; 14,36). Jesus bleibt als rechte Hand neben dem Vater und rückt nicht etwa in die Mitte. 3.3 Der Evangelist hält Jesus aus der Mitte heraus, um dessen Wirkung in der Auswirkung auf andere zu zeigen. Das fällt besonders ins Auge, wenn er Jesus ein Gleichnis von einem „Sämann“ erzählen lässt (Mk 4,2–9), unter dem die Lesegemeinde doch Jesus selbst erkennen möchte (Mk 4,3). In der „Erklärung“ des Gleichnisses lässt er Jesus jedoch die „Gesäten“ thematisieren (Mk 4,13–20). Die Verschiebung 12
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Jesus steht zwar von Anfang an in der „Mitte“, aber doch unerkannt (Joh 1,26), erst als der Auferstandene tritt er so „in die Mitte“, dass es zum eigentlichen Erkennen kommt (Joh 20,19.26). Auch hier wird also die Mitte narrativ reflektiert. Durch das passivum divinum (Mk 10,40) vermeidet der markinische Jesus die Nennung des Gottesnamens, um nach jüdischem Sprachgebrauch einer Übertretung des Zweiten Gebots vorzubeugen.
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der Perspektive wird deutlich unterstrichen, indem einleitend der „Sämann“ zwar erneut benannt wird, der das „Wort“ sät (Mk 4,14), dann aber die ganze Aufmerksamkeit nicht etwa auf dieses Wort als „Same“ gelenkt wird, sondern sich die Samenkörner unter der Hand in die „Hörer“ des Wortes verwandeln. Statt dass der Sprecher ins Zentrum rückt, finden seine Zuhörer sich dort wieder. An ihnen wird verdeutlicht, was Jesu Wirken bedeutet. 3.4 Auch im Gesamtaufbau des Markusevangeliums ist diese Strategie zu beobachten. Allgemein wird als seine Mitte das Christusbekenntnis des Petrus als Sprecher der Jünger mit der folgenden ersten Ankündigung Jesu angesehen, dass er viel leiden müsse, verworfen und getötet werde und nach drei Tagen auferstehe (Mk 8,27–33). Dieser Scheitelpunkt der Erzählung, der die entscheidende Wende von Galiläa nach Jerusalem anstößt, ist narrativ schrittweise aus den Zentren des sonstigen Geschehens weit nach draußen verlagert. Zuerst führt Jesus einen Blinden aus Betsaida heraus und weist ihn nach seiner Heilung an, nicht wieder in den Ort zurückzukehren (Mk 8,22–26). Seine Tat soll nicht öffentlich werden. Dann entfernt er sich selbst mit seinen Jüngern weiter in die Dörfer bei Caesarea Philippi (Mk 8,27a). Und auf dem Weg dorthin ist die Episode angesiedelt, in der Jesus das entscheidende Ziel seines Weges in intensiver Verdichtung zum ersten Mal ausspricht (Mk 8,27b–33). Es überrascht, dass Jesus unmittelbar danach eine Volksmenge zu sich rufen kann (Mk 8,34), so als wäre er noch mitten in seinem bisherigen Wirkungskreis. Die inhaltlich zentrale Mitteilung wird von ihrer Szenerie her an den Rand geschoben und gerade durch diese ihre exzentrische Positionierung nachdrücklich betont. 3.5 Das offene Ende des Markusevangeliums mit der Flucht der Frauen vom leeren Grab und ihrem Schweigen (Mk 16,1–8) passt zu der narrativen Strategie beim Einsatz des Motivs der Mitte. Der junge Mann sitzt im Grab „zur Rechten“ (Mk 16,5), lässt also die Mitte leer. Und er erinnert zwar an das Wort Jesu, er werde den Jüngern weiter vorangehen (Mk 16,7), aber der Erzähler verzichtet auf die Schilderung einer erneuten Begegnung der Jünger mit Jesus. Allein schon die Worte Jesu schließen die Wahrheit des Gesagten in sich (Mk 13,31). Der Modus des Erzählens endet, weil die Wirklichkeit sich verändert hat. Jetzt ereignet sich die Begegnung mit Jesus in einem neuartigen „Sehen“ (Mk 16,7), nämlich im Lesen oder Hören des im Evangelium Erzählten, das eben in „Galiläa“ anschaulich wird. In der erzählten Welt wurden die Jünger noch nicht als Glaubende dargestellt, sondern in ihrer Verständnislosigkeit. Und doch war „Glaube dem Evangelium gegenüber“ als pragmatisches Ziel der Botschaft angegeben (Mk 1,15). Erst bei
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dem Erzählen des Evangeliums wird dieses Ziel erreicht, bewähren sich die Worte Jesu. Die Lesegemeinde sollte sich nicht mit den Jüngern identifizieren; denn für sie eröffnet sich die Begegnung mit Jesus in anderer Weise. Auch die Ostererscheinungen hatten ihre Zeit und konnten nicht fortgesetzt werden (I Kor 15,1–8). Bleibend begegnet Jesus im Wort der Verkündigung, das seine Worte bewahrt und weitersagt und damit das „Evangelium von der Gottesherrschaft“ nahe bringt (Mk 1,14–15). Aufgrund dieser bis in die Gegenwart reichenden besonderen weiteren Wirkungsgeschichte unterscheiden sich die Evangelien ganz wesentlich von anderen Erzählformen. In der Jesus-Narration fehlen eben die eindeutigen Identifikationsanreize für die Lesegemeinde. Sie soll sich weder Jesus, noch die Jünger, noch andere Gestalten innerhalb der erzählten Welt zum einladenden oder abschreckenden Vorbild für eigenes Verhalten nehmen, sondern die Einzigartigkeit der Erscheinung Jesu wahrnehmen. Jesus soll als der in seinem Wort weiter mächtige Herr erkannt und angenommen werden, in dem Gottes Herrschaft Gestalt gewinnt. Die Verlagerung der sachlichen Mitte aus der Mitte der Erzählung dient genau diesem Anliegen. 4.
Über die Kunst des Unterscheidens
4.1 14
Nach Luther besteht die Kunst des Theologen darin, Distinktionen vorzunehmen. „Wer das Evangelium vom Gesetz wohl zu unterscheiden versteht, der danke Gott und wisse, dass er ein Theologe sei.“15 Und nicht nur zwischen Gesetz und Evangelium gilt es zu unterscheiden, sondern auch zwischen Amt und Gemeinde, Altem und Neuem Testament, Kirche und Welt, normalem Brot und Abendmahlsgabe (I Kor 11,29: διακρίνων τὸ σῶμα – diiudicans). Immer ist dabei eine verbindende Grundgröße vorausgesetzt, nämlich das Wort Gottes16, die Kirche, die Bibel oder die Schöpfung. Auch die jeweiligen Teilgrößen bilden selbst wieder ein solches
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Luther nimmt damit eine scholastische Methode auf, die auf Aristoteles zurückgeht. Die distinctio klärt die differentia (διαφορά), nämlich „was anders ist und doch etwas Gleiches hat“ (Aristoteles, Metaph IV, 1018a12). Im Neuen Testament begegnet differo (διαφέρω) in diesem Sinne in I Kor 15,41 und Gal 4,1. Galaterkommentar 1535, zu Gal 2,14: „Qui igitur bene novit discernere Evangelium a lege, is gratias agat Deo et sciat se esse Theologum“ (WA 40 I, 207,17–18). Die Vorlesungsmitschrift Rörers bietet hier: „qui istas 2 distinctiones bene novit, gratis agat Deo et sciat se Theologum“ (a.a.O., 207,3–4). 1. Disputation gegen die Antinomer. 1537: „Audistis autem iam saepe, meliorem rationem tradendi et conservandi puram doctrinam non esse, quam ut istam methodum sequamur, nempe ut dividamus doctrinam christianam in duas partes, scilicet in legem et evangelium“ (WA 39 I, 361,1–4). Predigt am 1. Januar 1532: „Gottes wort ist nicht einerley, sondern unterschieden“ (WA 36, 29,2.28–29).
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spannungsvolles Ganzes, wie z.B. das Gesetz17. Die Distinktionen heben die entsprechenden Einheiten nicht auf, differenzieren aber zwischen unterschiedlichen Relationen, in denen sie ihre Bedeutung finden.18 Besonders deutlich wird das, wenn Leiden und Sterben Jesu am Kreuz oder auch der Begriff Evangelium unterscheidend diskutiert werden (FC Epit. V, Affirmativa 5–8; BSELK, 1248–1251). Letztlich geht es darum, Gott und Welt so auseinander zu halten, dass sie nicht ineinander vermischt werden, obwohl die Welt von Gott geschaffen und von ihm durchwirkt ist.19 Luther macht damit auf eine Grundvoraussetzung jeder Urteilsbildung aufmerksam. Denken heißt differenzieren, unterscheidende Beziehungen gelten lassen. Der Versuchung, bestimmte Meinungen absolut zu setzen, kann man entkommen, indem man das Wirkliche als ein oft kompliziertes Gewebe (textum) wahrnimmt und dabei Unterschiede würdigt, ohne deshalb Zusammenhänge aufzulösen. Bestimmte Distinktionen sind deshalb an ihren jeweiligen Argumentationszusammenhang gebunden und lassen sich nicht gleichsam ontologisch absolut setzen.20 4.2 Auch die Unterscheidung zwischen narrativer und systematischer Theologie verdient in dieser Weise Beachtung. Systematische Theologie bemüht sich um begriffliche Definitionen, narrative Theologie um anschauliche Schilderungen, die eine metaphorische Valenz in sich schließen. Beide Ausdrucksweisen unterscheiden sich in ihrer rhetorischen Valenz und weisen damit tiefgehende Besonderheiten im kommunikativen Vollzug auf.21
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2. Disputation gegen die Antinomer. 1538: „Ego distinguo legem. Grammatice et civiliter quidem omnium, sed theologice et spiritualiter accepta non est omnium, quia paucissimos terret. Nam lex non potest experiri, nisi cum tremore et morte“ (WA 39 I, 483,14–16). Die Begrifflichkeit διαιρέω/διακρίνω/διαφέρω/distinguo/discerno/differo dient hier also dazu, das Bedeutungsfeld eines Begriffs zu strukturieren, nicht aber zur Bezeichnung des Zweifels (διστάζω/dubito) (Mt 28,17; Jak 1,6; Hebr 5,14), der eine Entscheidung zwischen wahr und falsch sucht. „Qui in theologia studere vult et proficere, stultus esto, et theologus erit. Summa ars futuri theologi est, ut diligentissime discernat inter prudentiam rationis et verbi sive scientiae Dei. Qui enim haec confundunt, coelum terrae miscent“ (WA.TR 2, 2146). Das gilt meines Erachtens auch für die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die im reformatorischen Diskurs sehr wohl Sinn macht, aber doch etwa in der Paulus-Exegese keinen Platz hat. Vgl. dazu Werner Klän, Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt, LuThK 40 (2016), 46–80, hier: 57f. Der Kreuzestod Jesu bleibt eben eine einzige kraftvolle Handlung des richtenden und zugleich rettenden Gottes. Die Bedeutung des Erzählens oder von Storytelling ist in vielen Wissensgebieten näher untersucht worden, u.a. in Psychologie, Geschichts- und Literaturwissenschaft, Linguistik, Journalistik oder Werbung. Auch in der Theologie ergeben sich wertvolle Einsichten, die in die Praxis der Kommunikation des Glaubens hineinführen.
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In solchem Unterscheiden bewährt sich nach Luther christliche Freiheit, aus der heraus man auf die jeweilige rhetorische Situation Rücksicht nehmen kann. So schildert er ein mögliches Gespräch mit einem Juden: „Wie wol es eyn nötiger artickel ist zu glewben, das Christus gottis son sey, dennoch wolt ich davon zum ersten schweygen und mich also gegen yhm lencken und schicken, das er zuvor eyne liebe zum Herren Christo gewunne, und sagen, das er eyn mensch were als eyn ander von Gott gesand, und was Gott durch yhn den menschen fur wolthat than habe. Wenn ich yhm nu das yns hertz brechte, das er brennete und lieb und lust zu Christo hette, wolt ich yhn wol auch weytter bringen, das er glewbte, das Christus Gott were. Also wolt ich mit yhn handlen umb des willen 22 das ich yhn freuntlich herzu brechte an Christum zu glewben.“
Luther wendet die Narration also ganz gezielt an.23 Das Markusevangelium bestätigt diese Vorgehensweise. Innerhalb der erzählten Welt hören nur Jesus selbst (Mk 1,11) und ein kleiner Jüngerkreis (Mk 9,7) von der Gottesstimme, dass er Gottes Sohn ist. Den Menschen, die Jesus begegnen, bleibt diese Besonderheit Jesu verborgen. Die Lesegemeinde jedoch ist bereits von Anfang an (Mk 1,1) und eben durch die fortlaufende Lektüre selbst sehr wohl darüber unterrichtet. Das Bekenntnis des Hauptmanns: „Tatsächlich, dieser Mensch war ein Sohn Gottes“ (Mk 15,39), bietet in dieser Formulierung gleichsam eine Überleitung von der textinternen hinüber zur textexternen Situation, indem dieser Mann in traditioneller Weise (vgl. Sir 4,8–11) von einem frommen Menschen spricht (vgl. Lk 23,47) und zugleich die Lesegemeinde den einen (geliebten) Sohn Gottes assoziiert. Die Unterscheidung der beiden Redeweisen hebt also die Einheit der Verkündigung nicht auf. Der systematische Theologe argumentiert im Horizont von Frage und Antwort, wie es auch Werner Klän in seiner Predigt „Die einigende Mitte“ zum 24 Augustana-Jubiläum am 25. Juni 2005 getan hat, und muss sich persönlich bekennen, wie er eindrucksvoll am Beispiel Nikolaus Selnecker gezeigt hat.25 Zugleich 22 23
24 25
Martin Luther, Predigt am 14. Februar 1524, Von Brauch und Bekenntnis christlicher Freiheit (WA 15, 444–453, hier: 447,13–21). Zu Luther als storyteller vgl. Robert Kolb, Luther and the Stories of God. Biblical Narratives as a Foundation for Christian Living, Grand Rapids 2012. Kolb behandelt vor allem die Frage, wie Luther Erzählungen einsetzt, insbesondere in der Predigt. Er zeichnet damit Luther in die neuere Narrativ-Forschung ein und hebt dabei den Aspekt der Stärkung der christlichen Identität hervor (vgl. X–XIX, 29–64). Auf die sprachliche Eigentümlichkeit von Erzählungen geht er nicht explizit ein. Und er übergeht auch die Unterschiede innerhalb der biblischen Erzählpraxis. Der Evangelist sah sich jedoch vor Herausforderungen gestellt, die für einen Erzähler völlig neu waren und besondere Lösungen erforderten. Eine systematische Zusammenschau, wie sie Kolb bietet: „Luther viewed God as the ultimate storyteller“ (a.a.O., 63), verdeckt – so zutreffend sie natürlich ist – die nötigen Differenzierungen. Neben „the paradigmatic narratives of Scripture“ (a.a.O., 35) finden sich noch anders zu charakterisierende. Vgl. die Dokumentation dieser Predigt in der vorliegenden Festschrift. Werner Klän, „Doctrina, fides & confessio“. Konfessorische Formeln im Werk Nikolaus Selneckers (1530–1592), LuThK 20 (1996), 2–28.
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strebt sie einen Konsens mit denen an, die sich ebenfalls bekennen.26 Diesem theologischen Genre ordnet sich das Bekenntnis von Augsburg (1530) ausdrücklich zu, indem seine Verfasser im Vorwort zitierend sich die Aussage des kaiserlichen Ausschreibens zu eigen machen: „wie wir alle unter einem Christo sind und streitten und Christum bekennen sollen.“27 Der erzählende Theologe bietet eine Sichtweise an, die ihre Überzeugungskraft in sich selbst erweisen muss. Storytelling wirkt auf eine tiefere Schicht des Bewusstseins ein und stößt einen Verstehensprozess an, der nicht schon im Augenblick des Erzählens eintreten muss, sondern längere Zeit beanspruchen kann. Die Sinngenerierung kann bei verschiedenen Rezipienten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Geschichten prägen anders als Sachinformationen und Argumente, und nötigen nicht zu einer Ergebnissicherung, bei der man sich durch Formulierung neuer Texte des Gehörten vergewissert. Eine Erzählung will einfach weitererzählt werden. Auch die Textpragmatik setzt deutliche Unterschiede. Der argumentative Diskurs, der zur Formulierung der Lehre im Bekenntnis führt, impliziert als solcher eine „Handlungsanleitung […] für die Anwendung des Evangeliums […] zur Bewältigung der Lage des als Sünder identifizierten Menschen vor Gott“, wie Werner Klän 28 formuliert hat. Das narrative Evangelium enthält textintern viele Imperative; diese richten sich aber nicht an die Lesegemeinde. Allerdings wird auch sie bisweilen angesprochen, wie Mk 13,34–37 zeigte. Doch bedarf es in solchen Fällen besonderer Hinweise auf die Horizonterweiterung über die erzählte Welt hinaus in die Welt des Erzählens hinein.29 Die Erzählung will vor allem Bilder erzeugen, durch die sich die Rezipienten bei ihren Orientierungen dann leiten lassen. Das Erzählen hat einen besonderen Sitz im kirchlichen Leben bei der kindlichen und missionarischen Erstbegegnung, weckt anfängliches Interesse, spielt aber auch bei der weiteren Vertiefung eine wichtige Rolle.
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Vgl. Werner Klän, Aspekte lutherischer Identität. Eine konfessionelle Sicht, in: Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten. FS Volker Stolle, hg. v. Christoph Barnbrock und Werner Klän, Münster 2005, 323–338, hier: 325f.330. Neben den glücklichen Stunden der Kirchengeschichte, in denen ein (wenn auch nur eingeschränkter) Konsens erreicht wurde, stehen die vielen Enttäuschungen des Misslingens gerade auch in Kreisen, die sowohl den Grundsatz, sich an Schrift und Bekenntnis gebunden zu wissen, als auch die Konsensforderung teilen. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014, 99, 88,26–27; vgl. 86,14–15. Diese Wendung ist im Titel der Festschrift für Friedrich Wilhelm Hopf (1910– 1982) aufgenommen: Unter einem Christus sein und streiten, Erlangen 1980, zu der auch Werner Klän einen Beitrag geliefert hat. Klän, Aspekte lutherischer Identität (wie Anm. 26), 333. Das Markusevangelium überschreitet an mehreren Stellen den Rahmen der Erzählung und bedient sich dabei unterschiedlicher Strategien (Mk 1,15; 4,13–20; 8,35; 10,29–31; 13,3–23; 14,9.28; 16,7); solche auch die Lesegemeinde einschließenden Ankündigungen oder Weisungen stellen sich durchweg als Jesusworte dar (indirekt auch Mk 16,7). Den Jesusworten wird grundsätzlich eine außergewöhnliche Zeitlichkeit zugesprochen, indem sie nicht vergehen (Mk 13,31).
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Die Bekenntnisse, in denen sich die christliche Lehre verdichtet, dienen als Identifikationstexte sowohl für das Christentum im Gegenüber zu anderen Religionen als auch für die konfessionellen Ausprägungen innerhalb der einen Kirche. Insbesondere das Luthertum hat seine spezifische Eigenart in der Bindung an seine Bekenntnisse gefunden. Doch stiften in anderer, eminent bedeutsamer Weise auch die Evangelien kollektive Identität, indem sie die grundlegende Basiserzählung bieten, von der das Zusammenleben in der Kirche immer wieder neu geprägt wird. Die biblische Geschichte zu erzählen ist eine Grundform der Kommunikation, in der sich christliches Gemeinschaftsbewusstsein herausbildet, entwickelt und festigt. Und die Jesus-Narration spielt dabei eine herausragende Rolle, wie es sich in jedem Gottesdienst in der Abfolge von Epistel- zu Evangeliumslesung und auch an dem Ablauf der christlichen Feste im Kirchenjahr zeigt, die jeweils ihr zentrales Evangelium haben. 4.3 Ihre Grundlage haben diese beiden Weisen, Theologie zu treiben, schon in der innerneutestamentlichen Unterscheidung zwischen Evangelien und Briefen. Fast alle Briefe im Neuen Testament nennen ihren Absender. Ein Brief schafft eine Als30 ob-Gegenwart, stellt eine Form persönlicher Begegnung dar. Die Theologie des Paulus ist von seiner Person nicht abzulösen. Und auch die Adressaten, Gemeinden oder Einzelpersonen werden als direktes Gegenüber benannt. Wenn sich der Briefschreiber einer Erzählung (narratio) bedient, bekommt diese eine argumentative Funktion als Tatsachenklärung, die für die Urteilsbildung entscheidend ist.31 Der Evangelist dagegen hält sich fast ganz heraus.32 Als Autor will er nicht argumentierend überzeugen, sondern seine Leserschaft in die Erzählung hineinziehen und sie auf diese Weise allerdings auch lenken oder sogar manipulieren. Ebenso bleibt die Leserschaft anonym und kann nur indirekt aufgrund der Eigenart der Erzählung, inwiefern sie zu einer bestimmten Rezipientengruppe passt, erschlossen werden und gewisse Konturen gewinnen. Das Markusevangelium richtet sich nur in einem einzigen kurzen Satz an seine Lesegemeinde (Mk 13,14). Die Schriftsteller beider 30 31
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Der Briefschreiber der Antike versetzt sich in die Situation des Briefempfängers und wählt die dafür passende Zeitform. Der Brief greift in dem Fall die Rhetorik und Strategie der apologetischen Rede auf. Der Streitfall wird erzählt, um in der Erzählung zugleich die Weichen für eine Entscheidung im Sinne des Anwalts (Ankläger oder Verteidiger) zu stellen. Die Tatsachen werden so dargestellt, wie es für den Verlauf der Verhandlung als günstig angesehen wird. Dabei hat der Erzähler natürlich die eventuelle eigene Erinnerung der Hörer oder Leser zu berücksichtigen. Jedenfalls liegt eine Parteilichkeit vor. Jeder weiß, wer da redet. Paulus etwa beruft sich im Galaterbrief eingangs auf sein Apostolat (Gal 1,10–12), verbunden mit einer ersten narratio (Gal 1,13–24), um dann die beiden Schilderungen folgen zu lassen, die dem gegenwärtigen Streit zugrunde liegen (Gal 2,1–10.11–21; Gal 1,10). Das erzählende Tempus bei Markus wechselt zwischen Aorist und Präsens. Das Präsens kann aber auch dazu dienen, bleibend Gültiges auszusagen, wie das Imperfekt oft iterativ zu verstehen ist. Feste grammatische Regeln sind dabei allerdings nicht zu erkennen.
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literarischen Genres verfolgen Ziele und wollen ihre Leserschaft zu Einsichten führen, die ihnen wichtig sind.33 Auch die Evangelisten wollen keineswegs einfach nur unterhalten; sie wollen genauso die Botschaft Jesu verkündigen wie die Briefschreiber. 4.4 Im Grunde nehmen die Autoren der Schriften, die im Neuen Testament vereint sind, je auf ihre Weise eine der beiden Lehrweisen Jesu auf. Wie Jesus in seinen Gleichnissen Geschichten erzählt hat, so tut es auch der Evangelist. Wie Jesus in Diskussionen mit den Menschen eingetreten ist, die ihm gegenüberstanden, so tut es auch der Briefschreiber. Versucht der Evangelist auf indirekte Weise zu überzeugen, indem er in die Welt, die ihn im Akt des Erzählens über das Medium des Buches mit seinen Lesern und Hörern verbindet, eine zusätzliche, erzählte Welt einbringt, so dient der Brief einer direkten Auseinandersetzung. Die narrative Weise hat den Vorteil, dass sie von ihren zwei Ebenen her mehr Spielraum für eine freie Entscheidung lässt. Ein Gleichnis macht zwar eine Stellungnahme fast unausweichlich, lässt aber dann doch noch offen, ob die Hörer die Erkenntnis in seine eigene Lebensebene übertragen. Den bereits Überführten bleibt die Freiheit, sich einfach zu entfernen (Mk 12,12). Im Streit, der auf der begrifflichen Ebene geführt wird, erfolgt die eigene Festlegung der Beteiligten viel zwangsläufiger, mitunter schon bei Schweigen der einen Seite (Mk 3,4). Die Gemeinschaft der Streitenden ist danach zerstört oder gestärkt (Mk 3,6; 12,28–34). 4.5 Beide Weisen haben sich in der Geschichte der Kirche als hilfreich erwiesen. Immer ist erzählt worden. Und immer ist um Formeln gestritten worden, und beson34 ders auf diesen Aspekt hat Werner Klän den Finger gelegt. Beide Weisen erfordern sich gewissermaßen gegenseitig, differenzierten sich aber zunehmend. Im frühen Bekenntnis durchdringen sie sich ursprünglich eng.35 Doch der Weg vom Romanum zum Nicänum zeigt, wie ein anfänglich stark erzählendes Bekenntnis durch formel-
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Wenn Paulus auch beansprucht, nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit aufzuwarten, so bedient er sich doch rhetorischer Strategien, um sich verständlich zu machen. Gerade weil er den Beweis des Geistes und der Kraft führen will, muss er sich klar ausdrücken, um seine besondere Weisheit zu vermitteln (I Kor 2,4–5.13–16). Vgl. etwa Werner Klän, Was uns eint – II: in Bezug auf Theologie und Bekenntnis, LuThK 33 (2009), 145–160. Hier plädiert er dafür, „im diskursiv-dialogischen Bemühen“ einen Konsens zu erstreben, der zu Verständigung und Entscheidung führt. Vgl. schon das Bekenntnis Israels (Dtn 26,5–9) sowie urchristliche Formulierungen (I Kor 15,3– 8; Phil 2,5–11; 3,4b–11; Act 26,9–23; IgnTrall 9,1).
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hafte Definitionen erweitert36 und Gegenstand einer Konsens suchenden Streitkultur wurde; der Grund für diese Entwicklung liegt im argumentativen Charakter des Bekenntnisses, in dem es der narratio in der Gerichtsrede gleicht.37 Der Bekenner erzählt nicht nur, sondern fällt zur Begründung seiner persönlichen Stellungnahme zugleich Urteile. Eine einseitig narrative Theologie könnte in den Verdacht geraten, in ihrer fiktionalen Rede eine rein fiktive Welt zu vermitteln wie im Märchen. Die erzählte Geschichte ist hier jedoch von ihrer Nachgeschichte nicht abzutrennen.38 Der irdische Jesus, von dem die Evangelien erzählen, ist kein anderer als der erhöhte Christus, der lebt und gegenwärtig und zukünftig alles in seiner Macht hat. Ohne die Osterbotschaft von der Auferstehung Jesu wäre die Erinnerung an die Gestalt, von der hier erzählt wird, überhaupt nicht wach geblieben. Und eine einseitig systematische Theologie könnte in die Gefahr geraten, sich in Lehrformeln zu verlieren. Inhalt der christlichen Botschaft ist aber keine „Lehre“, sondern eine „Person“. Jesus Christus wird als Herr bekannt und bezeugt. Das aber gelingt nicht allein in gedanklicher Abstraktheit, sondern nur in Verbindung mit einer narrativen Anschaulichkeit, die ein persönliches Begegnen mit dem irdischen Jesus ermöglicht. Aufgrund eigener Erfahrung kommt es im Hören oder Lesen der Evangelien dazu, sich mit den Akteuren in gewissen Hinsichten auseinanderzusetzen, indem man die 39 Ereignisse miterlebt. Damit sind die Evangelien ein wichtiges Korrektiv zu einer lehrmäßig-dogmatischen Christologie, die von Naturen, Wesensbestimmungen und Eigenschaften handelt, während umgekehrt das christologische Bekenntnis ein Abgleiten in eine naive Jesusfrömmigkeit verhindert. 4.6 Wenigstens ein Seitenblick sei auf eine dritte theologische Ausdrucksweise erlaubt. Anders als die narrative Theologie stellt die visionäre Theologie, wie sie in der Tradition schon des Alten im Neuen Testament ebenfalls ihren Platz gefunden hat und im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder durch bedeutende Vertreterinnen und Vertreter repräsentiert wurde, Jesus eindeutig in die Mitte. Das zeigt eindrück36 37 38
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Das Chalcedonense (451) verzichtet dann auf den narrativen Teil und führt den systematischen weiter aus. Vgl. den Fachausdruck ἀπολογεῖσθαι (sich verteidigen) in der Rede des lukanischen Paulus vor Agrippa II (Act 26,2) sowie die Märtyrerbekenntnisse. Der schwebend ungewisse Schlusssatz des Märchens: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ gilt hier gerade nicht. Er ist gestorben. Und er lebt und wirkt von jenseits des Todes her auch heute und morgen. Als der eingeborene Sohn Gottes ist er ohne Geschichte nicht denkbar; denn Gott ist lebendiges Geschehen. Die Jesus-Narration meint nicht etwa die historisch-kritische Erarbeitung eines historischen Jesusbildes. Werner Klän verhandelt in seiner Besprechung des ersten Bandes des Jesusbuches von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. die Diskussion an der Konfliktlinie historisch-kritisch versus dogmatisch (Der Papst und Jesus, LuThK 32 [2008], 135–160); außerhalb dieses Betrachtungshorizonts bleibt dabei die sich narrativer Sprache bedienende Theologie der Evangelisten.
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lich die Offenbarung des Johannes. Der Apokalyptiker schildert eine überirdische Welt. Dabei rückt der Menschensohn in die Mitte zwischen die sieben Fackeln (Apk 1,12–13; 2,1). Und nachdem die Thronmitte zunächst mit den vier Lebewesen (Apk 4,6) und dann auch mit 24 Ältesten (Apk 5,6) ausgestattet war, bildet das Lamm diese Mitte dann in letzter Konzentration (Apk 5,6). Beim Aufbrechen der Siegel löst das Lamm gerade von dieser Mitte her eine Stimme aus (Apk 6,6), übt aus eben dieser Mitte seine Regierungsfunktion als Hirte aus (Apk 7,17) und spendet von hier aus seine Lebensfrüchte (Apk 22,1–2). In seiner metaphorischen Sprache rückt der Visionär den in die Mitte, der in der narrativen Sprache des 40 Evangelisten szenisch beiseite gestellt wird. Insofern bildet die Vision die tatsächlichen Verhältnisse direkter ab als die irdisches Geschehen erzählende Erinnerung an das Leben Jesu. Die Szenerie wird in der Sprachgeometrie jeweils auf deutlich unterschiedliche Weise vermessen.41 Auch die Rolle der Erzähler ändert sich. Die Seherin oder der Seher geben sich als unverzichtbare Größe der Vermittlung zwischen der erzählenden und der erzählten Welt zu erkennen (Apk 1,1–20).42 Die irdisch-geschichtlich erzählte Welt des Evangelisten unterscheidet sich von der himmlisch-überzeitlich erzählten Welt des Apokalyptikers. Spiegelt die erste die Vielfalt menschlicher Existenz mit all ihren verwirrenden Erscheinungen, so die zweite die klärende Auflösung aller verunsichernden Vorläufigkeiten. Die visionäre Theologie ist gleichsam einen Schritt weiter als die narrative auf dem Weg von einer vermittelten Theologie (theologia viatorum) hin zu einer Theologie am Ziel der direkten Begegnung mit Gott (theologia beatorum), ist aber aus sich selbst heraus nicht verständlich, sondern bedarf der 43 entschlüsselnden Erläuterung. 40
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Einen solchen visionären Aspekt weist auch das Lied zum Jahreswechsel von Jochen Klepper „Der du die Zeit in Händen hast“ (1938) auf, indem es den Gottesnamen „Ich bin das A und das O“ (Apk 1,8) erweitert zu „Anfang, Ziel und Mitte“ (EG 64,6) und in Jesus Christus „die Mitte fest gewiesen“ (EG 64,1) bekennt. Der eigentliche Textbezug sind die Psalmen 90 und 102,25–29, die ihrerseits visionär über die Grenzen der geschaffenen Welt hinausblicken. Auch die Außenposition ändert sich entsprechend. „Draußen (ἔξω) sind die Hunde und die Giftmischer und die Dirnen und die Mörder und die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut“ (Apk 22,15), während die Überwinder als Säulen fest verankert sind und nicht mehr entfernt werden können (Apk 3,12: ἔξω οὐ μὴ ἐξέλθῃ). Vgl. als anderes Beispiel: Die Miniatur, die den Scivias eröffnet, zeigt seine Autorin Hildegard von Bingen mit ihrem Mitarbeiter Volmar, und zu Beginn stellt die Autorin sich vor mit ihrem Auftrag zum Schreiben. Schon die alttestamentlichen Visionsschilderungen weisen als konstante Merkmale den Beginn „der Herr ließ mich sehen/ich sah“ und einen Kontextbezug auf, so dass der Visionär sich als Person zu erkennen gibt; und die gilt gerade bei Beachtung des literarischen Charakters der Texte. Vgl. Achim Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament, AOAT 292, Münster 2003, zusammenfassend 377–380. Vgl. die Gestalt des angelus interpres in der Johannesapokalypse (in Gestalt eines Ältesten Apk 5,5; 7,13–17 oder eines Engels Apk 17,1–18; 21,9–10; 22,8–9; vgl. aber auch schon die Erklärung, die Jesus selbst gibt Apk 1,20, sowie seine eigenen Worte an Johannes). Vgl. auch bereits den jungen Mann im leeren Grab im Markusevangelium, der berichtet, was nicht zu beschreiben ist, nämlich die Auferstehung Jesu (Mk 16,5–7).
Die narrative Funktion der Mitte im Markusevangelium
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4.7 Bleibt eine visionäre Theologie an bestimmte Widerfahrnisse gebunden, so sind die narrative und die systematische Theologie jederzeit verfügbar. Eine konfessionelle Theologie, die in die kontroverstheologische Auseinandersetzung hineinführt, drückt sich stärker in systematischer Theologie aus. Sie bestimmt den Punkt außerhalb der eigenen Existenz (extra nos), auf den sich der Glaube bezieht, das Bekenntnis zu dem einen Gott, und versucht von da aus die eigene Wirklichkeit in den Blick zu bekommen. Der Ökumenischen Theologie bieten sich größere Möglichkeiten in der narrativen Theologie. Sie erfasst die Begegnung mit dem einen Herrn der Kirche aus unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven, blickt von verschiedenen Standorten, Traditionen und Kontexten her auf die eine Mitte hin, die als von 44 allen anerkanntes Zentrum die Christenheit zusammenschließt. Wie schon bei der Vierzahl der Evangelien erschließt sich die Wirklichkeit, die es zu erfassen gilt, gerade in der Wahrnehmung unterschiedlicher Erzählungen.45 Dabei erfüllt die Jesus-Narration eine wichtige Funktion bei der Entwicklung und Festigung einer gesamtchristlichen Gruppenidentität. Die christliche Kirche ist eine, weil sie unter einem Herrn versammelt den einen Gott bekennt. Zugleich kann sie den Verwerfungen nicht entgehen, die sie vielfältig gespalten erscheinen lässt. Beide Wahrnehmungsweisen, die von Gottes Zusage her und die aus menschlicher Erfahrung, dürfen nicht vermischt werden, indem man etwa in einer äußeren Weise eine Einheit darzustellen oder aber die wahre Kirche in einem doktrinären Reinigungsprozess herauszufiltern versucht. Fehlende Distinktion führt entweder zu einer „Verweltlichung“ der Kirche als gesellschaftlicher Institution oder aber zu einer „Missachtung“ der Kirche im (rechthaberischen) Rückzug auf den persönlichen Glauben. Die Unterscheidung zwischen narrativer und systematischer Theologie hält die Spannung in der christlichen Verkündigung aus.
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Vom systematischen Ansatz aus bleibt dieser Weg unbefriedigend, weil dann etwa von Christus als dem der Kirche unverfügbar gegenüber stehenden Herrn gesprochen werden muss, womit die Glaubensgewissheit ihre feste Basis im persönlich zugesprochenen Wort Christi verliert; oder es muss von dem Evangelium als einer den konkreten Theologien unverfügbar vorgegebenen, nicht mehr definierbaren Größe gesprochen werden, wobei seine Sprachlichkeit letztlich aufgegeben wird. Zurück bleiben konfessorische Feststellungen ohne argumentativen Hintergrund, die man ebenso als reine Postulate wie als tragende Glaubensüberzeugungen ansehen kann. Vgl. den Einsatz von Storytelling als Analysemethode im Unternehmensmanagement.
Die einigende Mitte – kirchengeschichtliche Perspektiven
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch Jacob Corzine 1.
Die Hoffnung auf das dritte Jahrtausend „Ich wage nicht voraus zu bestimmen, was im Jahre 2000 als das reine Gold gelten wird, welches das Schmelzfeuer der Kritik bestanden und mittelst desselben gewonnen sein wird, aber Eins wissen wir, dass die heilige Schrift A. und N. T. die Offenbarungsurkunde des Einen wahren Gottes sein und bleiben wird. “1 – Franz Delitzsch, 1890
Diese Worte des lutherischen Alttestamentlers Franz Delitzsch, die am Ende der Einleitung zu seinen 1890 erschienenen Messianischen Weissagungen in geschichtlicher Folge stehen, zeugen von einer Hoffnung gegen die Indizien, die ihm in seiner Zeit erkennbar waren. Der Zusammenhang bestätigt es: Nachdem das Gebiet der Forschung am Alten Testament durch die These Wellhausens zur Geschichte Israels auf den Kopf gestellt wurde, und gerade auch die Geschichte Israels komplett neugeschrieben wurde,2 veröffentlichte Delitzsch eine Analyse der messianischen Weissagungen im Alten Testament, die chronologisch aufgebaut war und mit Genesis 3 anfing. Vor dem Hintergrund ist nicht zu übersehen, dass sein erstes Unterkapitel die Überschrift trägt: „Berechtigung des Anhebens von Gen. c. III.“3 Wohl bewusst, dass er mit der im Alten Testament bezeugten geschichtlichen Reihenfolge auf einer längst nicht mehr allgemein akzeptierten Grundlage arbeitete, hielt Franz Delitzsch seine Hoffnung fest. Biblische Gewissheit erhielt bei ihm sicherlich nicht die Jahresangabe „2000“, doch glaubte er an ein göttlich gewährtes Ziel des geschichtlichen Fortschritts. Dieser Fortschritt geschehe zwar „unter allerlei Abweichungen und Rückläufen“4, aber auf ein bestimmtes Ziel zu. Dies zu wissen, war ihm genug, dass er gegen die Entwicklungen der Zeit – in seinem Fall gerade gegen die exegetischen – dennoch hoffen könnte. „Wir erleben es nicht mehr, einen anerkannten Consensus zu sehen, vielleicht erlebt es das 20. Jahrhundert nicht. Vielleicht darf das dritte Jahrtausend hoffen, was
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Franz Delitzsch, Messianische Weissagungen in Geschichtlicher Folge, Leipzig 1890, 22. Vgl. hierzu Rudolf Smend, The Work of Abraham Kuenen and Julius Wellhausen, in: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation. From Modernism to PostModernism (the Nineteenth and Twentieth Centuries), Bd. III/1, Göttingen 2013, 436–453. Delitzsch, Messianische Weissagungen(wie Anm. 1), 25. A.a.O., 21.
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man zwei Jahrtausende nicht erlangte, – den Consensus zu sehen, mit dem man dann etwa gerade am wenigsten da konsentiren wird, wo man am lautesten sich darauf beruft.“5 – Wilhelm Löhe, 1845
Auch Löhes Denken hält bei Überlegungen zur Jahrtausendwende zumindest kurz an. Nicht auf den Glanz des 20. Jahrhunderts, der noch etwa fünfzig Jahre hin war, schaute er, sondern gleich darüber hinaus auf das 21. Jahrhundert. Hoffnung hatten die beiden Theologen allemal, aber eine, die angesichts der Entwicklungen ihrer Zeit lange würde währen müssen. Die Zeit, auf die beide Theologen gehofft haben, ist mittlerweile angebrochen. Jedoch wird kaum jemand meinen, ihre Hoffnungen seien rechtzeitig in Erfüllung gegangen. Im Folgenden soll weder der Gang der alttestamentlichen Forschung noch irgendein Stand der Erkenntnis eines consensus patrum ins Auge gefasst werden, sondern die Teilnahme überhaupt an dem, was Wolfhart Schlichting im 6 gleichen Zusammenhang eine „fortschrittsgläubige Zeit“ nennt. Löhes ekklesiologisches Denken war, so zeigt Schlichting, stark von dieser Fortschrittsgläubigkeit geprägt, aber auch eines, das sich mit der Zeit änderte. Wie dies von Schlichting dokumentiert wird, wird unten referiert. Da Franz Delitzsch in dieser Erklärung eine Schlüsselrolle spielt, sollen dabei die Eckdaten seiner Hoffnung für den Leib Christi aus seinen Vier Büchern herausgearbeitet werden. Nachdem, anhand der ekklesiologischen Hoffnung, der Vergleich zwischen beiden Schriften gezogen wird, werde ich versuchen, Hinweise auf ihre Relevanz im veränderten ekklesiologischen Milieu des 21. Jahrhunderts zu geben. Dies soll gezielt aus nicht-europäischer Perspektive geschehen. Als in Südafrika tätiger, aus den Vereinigten Staaten stammender Pastor empfinde ich durch die weite Ausbreitung der verschiedenartigen evangelikalen und charismatischen Gemeinden und Kir7 chen eine Verschiebung des Zentrums jenseits der drei „Konfessionen“ , die Löhes Aussage, die lutherische Kirche sei „die einigende Mitte der Confessionen“ einiges an Überzeugungspotential kostet. Dennoch befindet sich die lutherische Kirche in diesem Milieu und gar nicht ohne Hoffnung. Es stellt sich die Frage, wie die ekklesio-
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Dietrich Blaufuß (Hg.), Wilhelm Löhe, Drei Bücher von der Kirche 1845, Neuendettelsau 2006, 57. Aus dem Zusammenhang gerissen ist diese Passage schwer verständlich. Sie entstammt dem Kapitel aus dem ersten der drei Bücher mit der Überschrift „Das helle Wort kann die Tradition entbehren“. Löhe kommt darauf zu sprechen, was allein aus der Tradition nützlich wäre, nämlich ein consensus patrum, und hält die Möglichkeit fest, dass der später zu erreichende consensus vielleicht gar nicht mit dem übereinstimmen würde, was diejenigen glauben, die sich jetzt darauf berufen. Wolfhart Schlichting, Kirche – Bekenntnis – Pluralität bei Wilhelm Löhe, in: Dietrich Blaufuß (Hg.), Wilhelm Löhe. Erbe und Vision, Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 26, Gütersloh 2009, 131. In Südafrika oder den Vereinigten Staaten wird viel weniger von „confessions“ gesprochen als von „denominations“. In beiden Ländern gilt es als Sieg für die Einheit der Kirche, „non-denominational“ zu sein. Etymologisch hat das nichts mit dem Wort „konfessionslos“ zu tun, jedoch liegt in der Wirklichkeit vielleicht gerade da die Schwierigkeit in der Umsetzung von Löhes „einigender Mitte“.
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch
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logischen Hoffnungen unserer Zeit zu beurteilen sind und welche Rolle eine lutherische Hoffnung in diesem Zusammenhang spielen kann. 2.
Löhes Fortschrittshoffnung
Wer von Wilhelm Löhe nur die Drei Bücher von der Kirche kennt, kommt von alleine nicht auf die Problematik, die Wolfhart Schlichting in seinem Aufsatz „Kirche – Bekenntnis – Pluralität bei Wilhelm Löhe“ schildert und in ihrer Entstehung zu beleuchten versucht. Dafür muss Löhe vielmehr im geschichtlichen Zusammenhang gelesen werden, ja auch Biographisches herangezogen werden, jedenfalls so Schlichting, der seine Beobachtung, Löhe habe an der „Entwicklungsfähigkeit des Luthertums“ gezweifelt, auf „ernüchternde Erfahrungen“ zurückführt.8 Diese Feststellung führt unvermittelt in das Thema dieses Beitrags ein. Denn es handelt sich um den Charakter der christlichen Hoffnung und um die Folgen davon, wenn sie stärker ins Diesseits hereingeholt wird, sodass sie nicht rein eschatologisch verstanden, sondern durchaus mit menschengeschichtlichen Erwartungen verknüpft wird.9 Löhes Hoffnungen waren vornehmlich ekklesiologisch und führten bei seiner Enttäuschung in die Suche nach anderen Ansätzen für das Verständnis der Kirche Jesu Christi. Schlichting referiert in Kürze bzw. verweist auf einige Positionen Löhes sowie Haltungen, die ihm von Zeitgenossen unterstellt wurden. Das Bild, das entsteht, ist das eines Theologen, der in großer Unzufriedenheit bezüglich der eigenen, lutherischen Kirche seiner Zeit sich Verbesserung erhofft und sich auch, gefühlt vergeblich, engagiert, um diese Verbesserung herbeizuführen.10 Neben und teilweise als Folge dieses Engagements habe sich Löhe bemüht, „aus dem Schatten finsterer Orthodoxie, in dem viele Gegner […] ihn nahe sahen, herauszutreten“, habe dies aber nicht erfolgreich machen können, ohne sich auf der anderen Seite vor den Vorwürfen, „katholisierend“ oder „vom flüssigen Standpunkt“ zu sein, verteidigen zu müssen.11
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Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 128. Löhe und Delitzsch sind zu den lutherischen Millenialisten des 19. Jahrhunderts zu zählen. Diese Sicht auf das Ende, das zur Apokalyptik ein tausendjähriges Reich auf Erden dazu zählt, hat Ähnlichkeiten zu ekklesiologischen Ansätzen, die eine diesseitige Siegeszeit der Kirche in Aussicht stellen. Jedoch kommt der Millenialismus weder in den drei Büchern noch in den vier Büchern vor, und es kann weder Löhe noch Delitzsch eine zu simple Sicht auf die Herrlichkeit Christi in der Welt unterstellt werden. Vgl. Jacob Corzine, Loehe as an Example of 19th Century Lutheran Chiliasm, in: Dietrich Blaufuß (Hg.),Wilhelm Löhe. Theologie und Geschichte/Theology and History. Arbeiten Zur Kirchengeschichte Bayerns, Nürnberg 2013, 87–103. Schlichting folgt an einer Stelle einer Aussage des Adolf von Harleß, und sagt von Löhe: „Es ergab sich, das schließlich auch Löhe am kranken Leib seiner Landeskirche die Schwären leckte, was dieser Wohltat, nur zwischenein seufzend an den Traum erinnerte, das alles viel besser sein könnte.“ Schlichting, Kirche (wie Anm.6), 132. A.a.O., 134–135. Vgl. Corzine, Loehe (wie Anm. 9), 94–99.
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Der Gegensatz zwischen Repristination und Fortschritt hebt Schlichting immer wieder an Löhe hervor. Nicht nur die „finstere Orthodoxie“ sondern auch die Bekenntnisschriften könnten Gegenstand der Löhe nicht bekommenden Repristination sein, sowie auch Luther selbst.12 Die Kritik an den überkommenen Schriften der Vergangenheit fällt bei ihm sehr unterschiedlich aus, aber verbindet sich nach Schlichting immer mit diesen beiden Themen: erstens reiche es nicht, dass man bloß das festhalte, was früher gesagt würde, und zweitens: man erhoffe sich in der gegenwärtigen Zeit einen Fortschritt. Genauer genommen hat sich Löhe wohl die Fortsetzung desjenigen Fortschritts erhofft, den man schon in der Erweckungsbewegung erfahren zu haben meinte.13 Darauf ist gleich im Zusammenhang mit den Drei Büchern und Delitzschs Vier Büchern einzugehen. Ferner enthält der Aufsatz von Schlichting eine Auseinandersetzung mit dem Verdacht, Löhe habe es für einen wesentlichen Teil des Fortschritts der lutherischen Kirche gehalten, dass die Rechtfertigungslehre von ihrer Hauptposition abrückt, zugunsten entweder der richtigen Auffassung der Amtslehre oder einer viel stärkeren Konzentration auf das Heilige Abendmahl. Er bezieht die Diskussion wieder auf die Hoffnung und macht damit deutlich, dass Löhes Hoffnung entscheidend ekklesiologisch ausgerichtet ist. Und da diese ekklesiologische Hoffnung sich als Kritik zum Teil an der zu reformiert tendierenden Amtslehre geäußert habe, die sich nach Löhes Meinung in der lutherischen Kirche, etwa von den Erlangern oder den Missouriern, vertreten wurde, habe sich damals die Frage gestellt, ob nicht Rom ein wünschenswertes Ziel des Fortschritts wäre. Diese wurde aber von Löhe, trotz Verdacht und Vorwürfe, entschieden abgelehnt. In einer Rückkehr zur römi14 schen Kirche liege die Hoffnung also nicht. Die Kernposition von Löhes Fortschrittshoffnung für die lutherische Kirche stellt sich bei Schlichting erst am Ende heraus, und zwar im Altarsakrament. Dabei sollte nicht eine Korrektur der Lehre vom Sakrament im Raum stehen, sondern eine ekklesiologische Betonungsverschiebung zu ihr als Materialprinzip zusammen mit einem breiter aufgestellten Verständnis vom Sakrament, wie unter dem Stichwort „sakramentliches Leben“ zu verstehen ist. Es handelt sich dabei nicht um fortgeschrittene Missionsmethoden aus dem 21. Jahrhundert15, sondern um die Bildung der Gemeinde und der Gemeindeglieder in Zucht und in einer Abendmahlserfahrung.16 Schnell ist Schlichting jedoch bei der ekklesiologischen Hoff12 13 14 15
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Vgl. Schlichtings Abschnitte über „Das unvollendete Luthertum“ (Schlichting, Kirche [wie Anm. 6], 135–136) und „Vorbehalte gegenüber Luther“ (a.a.O., 138–140). Die Rede ist in dem Zusammenhang von den „anbrechenden besseren Zeiten“ (a.a.O., 128). A.a.O., 140–143. Das „FiveTwo Network“ in den Vereinigten Staaten bietet zwecks der Mission eine Art Ausbildung zum „Sacramental Entrepeneur“ an. Die Sache bedarf einer informierten Kritik, die sehr wahrscheinlich bei diesem Gebrauch des Begriffs „Sacramental“ anzusetzen hätte. Vgl. die Internetseite www.fivetwo.com (Stand: 30.11.2017). Vgl. Wolfhart Schlichting, Hinführung Zum Abendmahl Als Einweisung in Gelebte Rechtfertigung. Löhes „Fortschritt“ in „Sakramentlichem Leben“, in: Dietrich Blaufuß, Jacob Corzine
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch
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nung und der Beobachtung, dass Löhe dem Abendmahl und der richtigen Zulassungspraxis so viel Bedeutung zugemessen habe, weil er es schlicht für Sünde gehalten hatte, Abendmahlsgemeinschaft mit jemand zu pflegen, der nicht das Gleiche vom Abendmahl hält. Gelungene Ökumene entscheidet sich also, nach Löhe, am Abendmahlsverständnis. Löhes Widerstand gegen eine „programmatische Union“17 wird am Inhalt seiner Fortschrittshoffnung festgemacht. Jedoch besteht seine Hoffnung gerade nicht in einer gelungenen Repristination, etwa im verstärkten Festhalten der lutherischen Christen an ihrem Bekenntnis oder gar in der gelungenen Überzeugung anderer Kirchen, endlich das Licht des lutherischen Bekenntnisses zu sehen, sondern, so Schlichting, in „einer zukünftigen besseren, über die Begrenztheit des historischen Luthertums hinausgehenden, die Pluralität der Konfessionskirchen in apostolischer Ordnung zusammenfassenden Kirche.“18 Dieses Konzept wird nicht von einer Abendmahlsgemeinschaft zu trennen sein, aber etwa die Zulassungspraxis der angedachten Kirchenentwicklung wird nicht beschrieben. Erkennbar ist, dass es nicht mehr der Gedanke einer Mittelposition ist, welche die Extreme einigend an sich heranzieht, sondern der einer Gemeinschaft, die sich um die lutherische Abendmahlslehre und die episkopale Amtsform bildet und in die Partikularkirchen hineinstreckt. 3.
Der Wandel in Löhes Denken
Neben der Beschreibung von Löhes Hoffnung ist aber die eigentliche Absicht von Schlichting die Präzisierung des Zeitpunkts, zu welchem diese Hoffnung sich von einer bloß auf die lutherische Kirche bezogene in eine „über die Begrenztheit des historischen Luthertums hinausgehende“ verwandelte. Von da aus macht er einige Schlussfolgerungen darauf, welche Einflüsse auf Löhe zur Verwandlung hingewirkt haben. Schlichting erkennt den Wandel an einer Passage in einem Brief an Franz Delitzsch. Dort lautet der entscheidende Satz: „Ich bin also wohl mit Ihnen einiger als 19 mit mir.“ Löhe bezieht sich auf seine Drei Bücher und die von Franz Delitzsch darauf antwortenden, sie ergänzenden Vier Bücher, auf deren Zusendung vom Verfasser er in diesem Brief reagiert. Es waren seit der Erscheinung der Drei Bücher mehr als zwei Jahre vergangen und die Vier Bücher von Delitzsch verfolgten in der Tat eine andere Absicht als Löhes ursprüngliche. Zudem war genug Zeit dazwischen vergangen, dass Schlichtings These, Löhe habe neu Stellung bezogen, äußerlich plausibel ist.
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(Hg.), Wilhelm Löhe und Bildung/Wilhelm Loehe and Christian Formation, Neuendettelsau 2016, 1–22. Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 144. A.a.O., 146. A.a.O., 136.
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Da der Brief nun doch wesentliche Bedeutung hat, wird er hier einmal gegliedert und zusammengefasst. Das verleiht den von Schlichting herausgenommenen Zitaten den notwendigen Zusammenhang: Einleitend entschuldigt sich Löhe für die verzögerte Reaktion auf Delitzschs Zusendung des Buchs, das ihn am Osterabend 1847 erreicht hatte.20 Gleich darauf schreibt er, wie er sein eigenes Buch bereut und es nicht mit dem von Delitzsch vergleichen würde, wenn Delitzsch sein Buch nicht als „Seitenstück“ zu Löhes bezeichnet hätte. Er bemerkt, Delitzschs Buch sei ihm mittlerweile mehr präsent als sein eigenes. Es empfiehlt sich deshalb, Löhes Brief nicht nur als Verteidigung seiner 1845er Schrift vor einer Korrektur von Delitzsch zu verstehen, sondern durchaus auch als eine in weiteren Überlegungen gegründete, spätere Reaktion darauf. Er beginnt mit einer Schlichtung beider Schriften: Sie hätten unterschiedliche Absichten. Löhe versucht „in der Zerrissenheit der Kirche denjenigen Fleck aufzu21 zeigen, wo die Wahrheit ihr völliges Zeugnis gibt“ . Mit anderen Worten: Er ist in seinem eigenen Buch darum bemüht, im konfessionellen Spektrum seiner Zeit das lutherische Bekenntnis als Wahrheitszeugnis hervorzuheben. Ihm geht es laut eigenen Angaben in seinen Drei Büchern also doch, wie Schlichting zur Voraussetzung seines Aufsatzes macht,22 um das lutherische Bekenntnis und die lutherische Kirche sowie um deren Fähigkeit, Hoffnung zu erwecken. Dem steht das Ziel von Delitzschs Buch gegenüber: „[Sie] zeigen […] ein allgemeines Band, das alle die zerrissenen Glieder der einen Kirche dennoch verbindet, und nicht Unterscheidung, sondern ein vergleichender und einigender Geist beherrscht alles, was Sie sagen, und gibt Ihnen jene bußfertige Gerechtigkeit, auch gegen die eigene Kirche […]“23 Laut Löhe also sucht Delitzsch in allen Kirchen das, was auf die einigende Grundlage der gesamten Christenheit hinweist. Er sieht zwischen beiden Büchern keinen Widerspruch, sondern hebt gerade diese unterschiedlichen Absichten hervor, damit er beiden Verfassern Recht geben und beide Bücher so stehen lassen kann. Es folgt die Gleichsetzung von dem, was Franz Delitzsch über die Taufe schreibt, mit dem, was Vertreter der katholisch-apostolischen Gemeinden (sogenannte Irvingianer) zu der Zeit in Deutschland lehrten. Das ist für Löhe positiv, da er selber zu einem dieser Männer, namens Caird, Kontakt gepflegt hatte und von 24 dem anderen, viel bekannteren Thiersch, die Schriften kannte. Mir ihrer Hilfe
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Ostern im Jahr 1847 ist am 4. April gewesen. Löhes Brief ist mit dem 15. Juli datiert. Also vergingen etwa drei Monate, bis Löhe sich dankend meldete. Klaus Ganzert (Hg.), Wilhelm Löhe, Gesammelte Werke (GW), 5/2, Neuendettelsau 1956, 1138. Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 128. Ganzert, GW 5/2 (wie Anm. 21), 1138. Es ist hier wahrscheinlich an die 1846 in Erlangen erschienenen „Vorlesungen über Katholicismus und Protestantismus“ von Heinrich W. J. Thiersch (1817–1885) zu denken.
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch
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wäre er schon früher auch zu dieser Ansicht über die Taufe gekommen, sodass er auch schon so predigen würde, obschon seine Drei Bücher es noch nicht zeigen.25 Ehe er festhält, wie Schlichting hervorhebt, dass er sich mehr in Delitzschs Buch wiederfinde als im eigenen, versucht Löhe einmal an der Frage, ob die Blickrichtung in die Zukunft oder in die Vergangenheit gelenkt ist, den Unterschied der Bücher zu erklären. Löhe sei selbst ungelehrt und deshalb nur in der Lage, Vergangenes wiederzugeben, nicht aber, so wie Delitzsch, die „Zeichen der Zukunft“ zu erkennen. Deshalb verweist Löhe nach hinten auf das Bekenntnis, während Delitzsch nach vorne schaut, auf „mögliche Fortschritte“ und „zukünftige bessere Ge26 staltungen“ der Kirche. Schlichting ist zuzustimmen, dass Löhe gerade hier die Stärke von Delitzschs Buch im Gegensatz zum eigenen sieht.27 Er verteidigt sich, beruft sich auf andere, die seine Fortschrittsfreude bezeugen, gibt andererseits aber zu, dass er sich in seinem Buch teilweise zu beschränkt ausgedrückt hätte. Trotz der schon festgehaltenen Einigkeit der beiden Bücher setzt er sie einander gegenüber, stellt sich selbst auf die Seite von Delitzschs Vier Büchern und richtet von da aus eine Selbstkritik an die eigenen Drei Bücher. Zuletzt gibt er ein Beispiel für seine Fortschrittlichkeit: „Ich könnte ganz bestimmte dogmatische Punkte bezeichnen, wegen deren ich meiner Kirche größere Siege, siegreichere Darstellungen gönne, und will nur einen nennen, der aus dem Mund eines Pfarrers vielleicht am bescheidensten lautet, den 28 locus de mínîsterìc [sic] und von der Ordination.“ Als letzter inhaltlich interessanter Punkt kritisiert Löhe drei Stellen in Delitzschs Buch: Die erste Kritik ist sehr praktisch gedacht und hat mit der Realisierbarkeit von Delitzschs Erwartungen zu tun. Delitzsch habe zwar mit Recht auf die wachsende Liebe und Liebestätigkeit verwiesen, aber er habe dies letztlich zu sehr betont, da der Diskurs über das Bekenntnis schon die Art angenommen habe, dass jeder Liebesfehler der Bekenntnistreuen als große Sünde gegen ihre Bekenntnistreue ausgespielt würde. Für diejenigen also, die das Richtige suchen, würde der Hinweis auf die wachsende oder gewachsene Liebe nicht überzeugen; somit würde es die objektive Wahrheit des Bekenntnisses sein müssen, die in erster Linie gilt, und nicht die subjektive Liebestätigkeit. Die zweiten und dritten Einwände behandeln das Thema einer heranwachsenden Bekenntnisgemeinschaft und die Frage, inwiefern diese an einem Ort versam25
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Diese Passage ist einer der Hauptbelege dafür, dass Löhe Kontakt zu den vom schottischen Prediger Edward Irving (1792–1834) stammenden Theologen der selbst-genannten „katholischapostolischen“ Gemeinden hatte, und dass diese ihn auch theologisch beeinflusst haben. Ein ähnlicher Beleg zum Kontakt Delitzschs mit ihnen ist mir nicht bekannt. Über Klaus Ganzerts Versuch (Ganzert, GW 5/2 [wie Anm. 21], 1136–1137) hinaus fehlt auch noch eine Untersuchung der Beziehung dieser Lutheraner zu den katholisch-apostolischen Theologen. Ganzert, GW 5/2 (wie Anm. 21), 1138–1139. Vgl. Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 136. Ganzert, GW 5/2 (wie Anm. 21), 1139.
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melt sein muss, um Kirche zu sein. Löhe verteidigt, hier wieder in deutlicher Nähe zum Konzept der katholisch-apostolischen Gemeinden, die Möglichkeit eines „kraft ihres Bekenntnisses […] zusammengehörige[n] Christenhaufe[s]“.29 Delitzsch hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die Gesamtkirche in der Bibel nur als „geordnetes Gemeinwesen“ vorkomme, und abgesehen davon ein „Phantom“ sei.30 Für Löhe betrifft dies direkt die Frage danach, was man sich in der Zeit noch erhoffen darf, und damit auch die nähere Bestimmung mancher neutestamentlicher Weissagungen als entweder apokalyptisch-eschatologisch oder innergeschichtlich. Sein Anliegen der Sammlung der zerstreuten Christen treuen Bekenntnisses, zunächst mal innerhalb der lutherischen Kirche, dann aber im viel breiteren Sinne,31 war davon abhängig, dass eine Versammlung der Christen nicht ortsgebunden sein musste, bzw. erst in eschatologischer Vollendung so wird. Wenn hingegen Delitzsch mit seinem „geordneten Gemeinwesen“ Recht behält, ist Löhes Bemühung, wie sie Schlichting beschreibt, in einer falschen Hoffnung gegründet.32 In diesem Brief schaut Wilhelm Löhe zurück auf seine im Nachhinein so wichtig gewordenen Drei Bücher von der Kirche und nimmt Stellung zu der Hoffnung, die er darin zum Ausdruck gebracht hatte. Diese Hoffnung war schon an der Formulierung „einigende Mitte“ prägnant formuliert.33 Schlichtings Leistung ist aber, gezeigt zu haben, dass Löhes Hoffnung sich inhaltlich verwandelt hat. Die lutherische Kirche als einigende Mitte rückt zugunsten einer wachsenden Infusion von lebendigen Christen in Gemeinden unterschiedlicher Konfessionen in den Hintergrund. 4.
Delitzschs Hoffnung in den Vier Büchern
Schlichting verweist auf den Brief an Delitzsch, den Löhe als Antwort auf die Vier Bücher schrieb, um den Wandel in seiner Hoffnung und in seinem ekklesiologischen Denken zu markieren. Doch geht er nicht näher auf das ein, was Löhe mit seiner Aussage meinen könnte, wonach er mit Delitzschs Buch einiger sei als mit dem eigenen. Dieser Sachverhalt soll durch diese Ausführungen zu Delitzschs Buch erläutert werden. Somit wird das Bild von Löhes Hoffnung etwas mehr ausgefüllt werden und gleichzeitig das ekklesiologische Denken und Hoffen eines verwandten Theologen charakterisiert werden. 29 30 31
32
33
A.a.O., 1140. Franz Delitzsch, Vier Bücher von der Kirche: Seitenstück zu Löhe’s Drei Büchern von der Kirche, Dresden 1847, 131. Es sind solche Erscheinungen in Löhes Denken, die den Einfluss von den katholisch-apostolischen Gemeinden beigetretenen Theologen wie Thiersch und Carlyle nahelegen. Diese sammelten ihre Mitglieder in Deutschland aus den Gemeinden der drei großen Konfessionen, jedoch nicht aus diesen heraus. Die Gemeindeglieder blieben in ihren Herkunftskirchen. Vgl. Dietrich Blaufuß, (Hg.), Wilhelm Löhe, Apostolisches Leben. Vorschlag und Katechismus 1848, Neuendettelsau 2011, 55–56. Löhe empfiehlt als Form des Vereins für apostolisches Leben den gleichzeitig in vielen Häusern stattfindenden Familiengottesdienst. Löhe, Drei Bücher (wie Anm. 5), 170–178.
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Delitzsch leitet seine Vier Bücher von der Kirche mit einem Vorwort ein, worin er den Unterschied seiner Schrift von Löhes herausstellt. Dort schreibt er: „Wort und Bekenntnis sind die zwei Kennzeichen, auf welche hin Löhe die Kirche und die Kirchen ansieht und nach denen er sie würdigt. Von den Sacramenten lesen wir wenig. Es ist mehr von dem Thun der Kirche die Rede, nach welchem sie gerichtet werden soll, als von den Gottesthaten, auf die sie gegründet ist; mehr von dem Leben, das sie zu beweisen hat, als von dem Lebensgrunde, aus dem es emporquillt; mehr von dem kirchlichen Gemeinwesen, welches in dem Bekenntnisse seine Einheit hat, als von dem Leibe der Gemeinde, der nicht durch eine menschliche Bethätigung, sondern durch sein Haupt und dessen Geist zusammengehalten wird. Sprechen die drei Bücher von den Früchten der Kirche, so diese vier von ihren Wurzeln. Jene nehmen die Geschichte und Erfahrung zu Zeugen, und diese wenden sich zunächst an die Schrift und erfragen bei dieser das Wesen der Kirche. Jene sind ein Triumphruf über das gute Bekenntnis, welches die Heerfahne unserer Kirche ist, und diese eine Mahnung zur Demut, die den Triumphruf nicht aufhebt, 34 sondern nur vorbeugt, daß sich nicht fleischliche Freude in die heilige mische.“
Delitzsch konstatiert also den Unterschied, vielleicht sogar den Vorzug seines Buches gegenüber Löhes darin, dass er bemüht ist, die Kirche mehr an Gottes Handeln zu beschreiben und festzumachen als am Menschenwerk. Es muss als ein gegen Löhe gerichteter Tadel verstanden werden, wenn Delitzsch in dessen Buch mehr die Rede vom Tun der Kirche erkennt als von Gottes Handeln. Im ersten Absatz zeigt er mit einigen Beispielen, wie er mit seinem Buch tiefer geht und näher an die Grundlage kommt als Löhe es geschafft hat, und zwar jedes Mal so, dass es das göttliche Handeln ist, das ans Licht rückt. Im zweiten Absatz setzt seine Kritik fort: Schrift statt Geschichte und Erfahrung, Mahnung zur Demut statt Triumphruf. Aber trotz dieses Tadels bleibt klar, dass Delitzsch Löhes Buch wertschätzt. Im Vorwort schreibt er darüber: „[Diese lebensvolle Schutzschrift] ist ein Thatbeweis und wird es bleiben, daß die Kirche, die man todt sagt, noch lebt in der Kraft Gottes und daß ihr Bekenntniß, dem man das treibende Leben abspricht, noch grünt und blühet gleich dem Stabe Aaron.“35
Somit ist zu verstehen, wenn Delitzsch an anderer Stelle schreibt, dass er Löhes Schrift ergänzen möchte, dass er die Ergänzung für notwendig hält. Obwohl Delitzsch zu einem polemischen Ton fähig war, wie sich in seinen Schriften der 1840er Jahre mehrmals gezeigt hat,36 greift er hier nicht dazu. Hier hat man es also nicht
34 35 36
Delitzsch, Vier Bücher (wie Anm. 30), I–II. Ebd. Einige frühe Schriften von Delitzsch wie „Lutherthum und Lügenthum“ (Grimma, 1839) und „Wer sind die Mystiker“ (Leipzig, 1842) begründen den Ruf als eifriger Polemiker, der Delitzsch viele Jahre später immer noch belastet hat. Vgl. dazu Karl Heinrich Rengstorf, Die Delitzsch’sche
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mit einer trotz schöner Verkleidung scharfen Kritik, sondern mit wohlmeinender Würdigung, Aufnahme und Fortführung dessen zu tun, was Löhe mit seiner Schrift geleistet hat. Der Blick auf die Vier Bücher ist schon deshalb lohnenswert, weil Delitzsch und Löhe die Verschiedenheit der Schriften sehr unterschiedlich beschreiben. Hier soll, nachdem ein notwendiger Überblick über den Inhalt der Vier Bücher gegeben wird, die Hoffnung Delitzschs noch einmal ins Visier genommen werden, damit sie mit der von Löhe verglichen werden kann. 4.1
Überblick über die Vier Bücher
Die Vier Bücher haben folgende Überschriften: Erstes Buch: „Der Lebensgrund der Kirche oder die unwandelbare Einheit des Leibes Christi kraft göttlicher Thaten“; zweites Buch: „Die Lebensbethätigung der Kirche oder die werdende Einheit des Leibes Christi mittelst fortschreitenden Wachsthums“; drittes Buch: „Die Lebensgestaltungen der Kirche oder die äussere Zerrissenheit des Leibes Christi in Folge ungleicher Treue“; viertes Buch: „Die lutherische Kirche oder die Sonderkirche des schriftgemässen Bekenntnisses“. Delitzschs ersten beiden Bücher behandeln also, was die Kirche ist und was sie wird. Das Merkmal und die Grundlage seiner Auffassung ist, dass er bei der Beschreibung des Wesens der Kirche gleich mit einer „unwandelbaren Einheit“ beginnt. Alles, was in den nächsten Büchern über die Kirche folgt, setzt diese Einheit voraus und ergänzt sie, aber keineswegs kann sie zerstört oder, nachdem sie bewirkt ist, wieder rückgängig gemacht werden. Diese unwandelbare Einheit der 37 Kirche liegt darin, dass sie Jesus Christus zu ihrem Haupt hat. Sie entsteht durch Mittel, zunächst einmal durch das „lebendige Wort“, „durch welche[s] uns die Thatsachen der Gnade, welche eine neue Menschheit gestiftet haben, kund werden“.38 Aber nicht nur die Kundwerdung, sondern gerade auch die begleitende Betätigung des Heiligen Geistes ist es, die die Einheit der Kirche erzeugt.39 Deshalb
37
38 39
Sache: Ein Kapitel Preußischer Kirchen- und Fakultätspolitik im Vormärz. Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums, Berlin 1967. „Die neutestamentliche Schrift weiß von keiner sichtbaren und unsichtbaren Kirche, die sich wie Schale und Kern, wie Leib und Seele zu einander verhielten, nicht von einer Kirche der Berufenen und einer Kirche der Auserwählten, nicht von einer Kirche der Unwiedergeborenen und einer Kirche der Wiedergeborenen – sie weiß nur von einer Einzigen Einigen Kirche, und diese ist der Eine Leib, der an Christo als seinem Einen Haupte hangen und von seinem Einen Geiste belebt ist.“ Delitzsch, Vier Bücher (wie Anm. 30), 34–35. A.a.O., 18–19. „Worin aber liegt die Bürgschaft, daß das neutestamentliche Wort die Tatsachen des Heils in unentstellter und glaubhafter Weise bezeuge? Darin daß auch die Verkündigung der Erlösung eine göttliche Veranstaltung ist, die mit dem Werke der Erlösung unzertrennlich zusammenhängt, darin daß der aufgefahrene Erlöser, damit das Zeugniß von seinem Werke wahrhaftig wäre, verheißungsgemäß seinen Geist herniedergesandt hat und selbst in wirksamer Gegenwart jenes Zeugnis mit seiner thatsächlichen Selbstbezeugung begleitet.“ A.a.O., 19.
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setzt er zum Wort als „Mittel, wodurch der Leib Christi zu Stande kommt“ die Sakramente hinzu.40 Die Sakramente und dabei an erster Stelle die Taufe, sind es also für Delitzsch, die diese unwandelbare Einheit der Kirche erkennbar machen: „Wer nur immer getauft ist und Theil nimmt an des Herrn Mahle, der ist ein Glied am Leibe Christi. Der Leib Christi ist die Gesammtheit aller derer, die zu Einem Leibe getauft und zu einem Geiste getränkt sind.“41 Im zweiten Buch über die „werdende“ (statt, wie im ersten Buch, „unwandelbare“) Einheit der Kirche behandelt Delitzsch nicht die Existenzgrundlage und Erkennbarkeit der Kirche, sondern das, was in ihr unter den Bedingungen dieser Unwandelbarkeit dynamisch bleibt: „die Lebensbethätigung […] oder die werdende Einheit des Leibes Christi“. Nachdem die statische Einheit der Kirche steht, geht er hier darüber hinaus und bespricht das, was sich lebendig verändert. Jedoch behauptet er nicht, dass die Kirche mehr Einheit erlangen oder der Christ mehr in die Kirche Jesu Christi einverleibt werden könne. Für die Gesamtkirche sowie für das individuelle Glied gibt es aber, so Delitzsch, ein fortschreitendes Wachstum, das sich unmittelbar auf die Einheit der Kirche bezieht. Dies wird durch den „vielseiti42 gen Inhalt der apostolischen Lehre“ gewirkt und hat drei Aspekte: Glaube, Liebe 43 und Bekenntnis. Zunächst wäre es natürlich, beim Wachstum der Kirche an Zahlen zu denken, aber Delitzsch weist darauf hin, dass auch unabhängig von einer Zunahme an Personen ein Wachstum in der Kirche möglich und verheißen ist. Das zahlenmäßige nennt er äußeres Wachstum der Kirche, aber das innere wird nach diesen drei Aspekten geordnet. So beschreibt Delitzsch in seinem zweiten Buch, dass die Kirche der unwandelbaren Einheit zusammenwachsen wird zu einer Einheit des Glaubens, einer gegenseitigen christlichen Liebe und einem gemeinsamen Bekenntnis. Jedoch schließt das Buch sehr nüchtern: Delitzsch hatte auch schon im ersten Buch festgehalten, dass manch ein Mitglied des Leibes Christi nicht lebendig sei, und nun weist er darauf hin, dass das Neue Testament einen Abfall vor dem Ende ankündigt. Er folgert, dass die lebendigen Glieder des Leibes Christi dennoch 44 innerlich wachsen werden, auch wenn ihre Zahl unvermeidlich schrumpfen werde. Das Thema des dritten Buches ist das Bekenntnis im Allgemeinen, also noch nicht das spezifisch lutherische Bekenntnis, und gerade seine Rolle als Lebensbetätigung der lebendigen Kirche. Delitzsch beginnt das Buch mit einer Aussage, die er einige Kapitel später vor Missverständnis bewahren möchte: Die Kirche habe zum Ziel eine „göttlich verbürgte Einheit“, aber nicht nur zum Ziel, sondern diese sei 40 41
42 43 44
A.a.O., 22. A.a.O., 33–34. Delitzsch konstatiert also eine Objektivität in der sakramentalen Handlung, die nicht von der wesentlichen Rezeptionshaltung des Glaubens abhängig ist. Die Wirkung der Sakramente geschieht zum Heil oder zum Unheil, weil sie zunächst äußerlich vernommen wird, noch ganz unabhängig von dem Glauben. Die Wortverkündigung hingegen, hat ihre Wirkung erst in der gläubigen Aufnahme. A.a.O., 66. A.a.O., 67. A.a.O., 100–102.
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„das Strebeziel freier menschlicher Bethätigung, mittelst welcher die Kirche, geleitet vom Geiste Christi, in den Einen Lebensgrund, der sie trägt, immer völliger und vollzähliger sich einlebt und alle Spaltungen innerhalb ihrer selbst wahrhaft überwindet“.45 Die Einheit bleibt also nach wie vor das wesentliche Element der christlichen Hoffnung, und es zeigt sich im Laufe des dritten Buches, wie die vom Heiligen Geist geleiteten Lebenshandlungen in Liebe und Bekenntnis die Bewegung auf dieses „Strebeziel“ hin antreiben. Gegen Missverständnisse hält Delitzsch aber fest: „Wir können […] nicht scharf genug das Bekenntniß als menschliche Handlung oder als Erzeugniß einer solchen, wie es im Symbol vorliegt, von dem Inhalte des Bekenntnisses oder von den göttlichen Thatsachen unterscheiden, von denen es ausgeht und die es auszusprechen strebt.“46 Hier zeigt sich wieder sein Haupteinwand gegen Löhe, der seiner Meinung nach in den Drei Büchern zu sehr das Bekennen betont. Weil aber Delitzsch das Bekennen ganz als menschliches Handeln betrachtet, hält er es für unfähig, die grundsätzliche Einheit der Kirche in ihrem Haupt Christus zu zerstören. Deshalb kann er die Teilung der Kirche in konfessionsgebundene Gemeinden gelassen sehen.47 Im dritten Buch erscheint das Bekenntnis als notwendiger Bestandteil kirchlichen Lebens, der in viele Richtungen abgegrenzt werden muss. Es ist gottwohlgefällig und baut die Gemeinde parallel zur Predigt auf48, schafft jedoch Raum für pharisäische Heuchelei, wenn es nicht der Herzensgesinnung entspricht.49 Schon oben wurde deutlich, dass es eine Handlung der Kirche ist, jedoch ist es eine, die geschieht, auch ohne dass die Gemeinde sich zu ihr entschließt, nämlich bei jeder Taufe und bei jeder Abendmahlsfeier.50 Überhaupt kann eine Gemeinde nicht ohne schriftliches Bekenntnis bleiben, da auch schon Liturgie und Lieder vom Glauben der Gemeinde zeugen.51 Das Bekenntnis dient nach Delitzsch als Ziel, auf das hin das persönliche Bekenntnis der einzelnen Gemeindeglieder gebildet wird, darf aber dabei nicht als in sich abgeschlossen und also der ewigen Wahrheit gleichgesetzt werden.52 So ist es auch nicht Grundlage des Bestands und der Einheit der Kirche, sondern Beweis, dass diese bestehen.53 Somit sieht Delitzschs das Bekenntnis nicht als Kraft in der Kirche, sondern als Mittel, durch das auch die Kirche in der Wahrheit getragen wird. Die Kraft liege aber in der Wahrheit.54
45 46
47 48 49 50 51 52 53 54
A.a.O., 105. A.a.O., 122. Vgl. auch a.a.O., 121: „Wir haben es schon oft wiederholt und wiederholen es immer wieder: die Kirche hat ihren Bestand und ihre Einheit nicht in ihrem eignen wandelbaren Handeln sondern in unwandelbaren göttlichen Taten.“ A.a.O., 127–129. A.a.O., 115. A.a.O., 116. A.a.O., 117. A.a.O., 118. A.a.O., 119. A.a.O., 122. A.a.O., 123–124.
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Im vierten Buch wendet Delitzsch die in den ersten drei Büchern entwickelte Ekklesiologie auf die Kirchengeschichte an, wobei die Konzentration auf den drei Konfessionen des post-reformatorischen Zeitalters liegt. Der lehrmäßige Verfall der westlichen Kirche wird festgehalten, erst einmal mit Hinweisen auf Stellen im Neuen Testament, dann anhand von Irrtümern mancher wichtigen altkirchlichen oder mittelalterlichen Theologen und zuletzt durch Luthers Kritik des Papsttums.55 Wichtig ist ihm dabei, dass der Leib Christi trotz dieses Verfalls nicht untergegangen war. Erst in den Schlusskapiteln des vierten Buches geht Delitzsch auf das lutherische Bekenntnis ein. Das Bekennen und also das Bekenntnis bleiben ihm unveräußerliche Betätigung der lebendigen Kirche, sodass es etwa für die lutherische Kirche Pflicht ist, an ihrem Bekenntnis gegenüber reformierten Irrtümern festzuhalten.56 Demzufolge ist eine Union der konfessionsunterschiedlichen Kirchenorgane nicht nur nicht möglich, sondern auch keine Lebensbedingung der Kirche, da dem Leib Christi in seinen unwandelbaren Grundlagen trotzdem eine unverbrüchliche Einheit erhalten bleibt. Jedoch ist das Ziel einer Bekenntniseinheit von Gott verbürgt und deshalb trotzdem immer anzustreben. Für Delitzsch bleibt es wichtig, gegen ein Missverständnis zu betonen, dass die Einheit der Kirche nicht durch dieses Streben hergestellt wird, sondern durch Wirkung des Geistes in Erfüllung geht.57 Delitzschs Hoffnung am Ende des vierten Buches steht vor dem Hintergrund eines Gerichts, das über die lutherische Kirche gekomen sei. Das Gericht sieht er in einem „dreifachen knechtischen Joch“, das „auf der Jünger Hälsen“ lag: „dort das Joch unverbrüchlicher Phrasen (also der „Orthodoxismus“, JC), hier das Joch unerläßlicher Gefühle und Geberden (der Pietismus, JC), und über beiden das Joch eines bald auf dieses bald auf jenes drückenden Staatskirchenregiments.“58 In der Überwindung dieses dreifachen Jochs soll die erneute Kirche hervorgehen, die im alten Bekenntnis tiefer gewurzelt und in neuer Entfaltung von Liebe und Bekenntnis erscheinen soll. Hier wird Delitzschs Fortschrittsgedanke deutlich: er besteht nicht darin, dass man sich vom Alten befreit, sondern in der – man könnte hier in Delitzschs Sinne hinzufügen: organischen59 – Weiterentfaltung dessen, was schon in der heiligen Schrift gegeben ist und durch den Geist auch zum Bekenntnis wird. Es wird deutlich, dass Delitzsch eine Hoffnung trägt, die am lutherischen Glaubensbekenntnis hängt. Jedoch hängt sie nicht davon ab. Er bestätigt den Inhalt des Bekenntnisses, erkennt in ihm aber nicht die Kraft, neues Leben in die Kirche hineinzubringen. Seine Hoffnung liegt vielmehr darin, dass das Leben in der ewigen 55 56 57 58
59
A.a.O., 143–146. A.a.O., 153. A.a.O., 156. A.a.O., 161. Auch im Rationalismus sieht Delitzsch ein weiteres Gericht, nur ist er seines Erachtens nicht in der lutherischen Kirche geboren, wie er dies für Orthodoxie, Pietismus oder das Staatskirchenregiment annimmt. Vgl. a.a.O., 159. Vgl. Franz Delitzsch, Entgegnung auf die Recension meines Buches, Zeitschrift für Protestantismus und Kirche NF 10 (1845), 319–326.
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Wahrheit, die im Bekenntnis zum Ausdruck kommt, immer noch in der Lage ist, die Kirche zu tragen und fortleben zu lassen. Was er sich für die Kirche erhofft, ist einerseits bescheiden, weil er von den Prophezeiungen vom Abfall am Ende der Zeit weiß, andererseits aber nicht inhaltslos, da er bei denen, die bleiben, ein Wachstum in Glaube, Liebe und Bekenntnis erwartet. Die Mittel dieses Wachstums sind die Predigt und die Sakramente, die er in bewusster Distanz zu Löhes Ansatz in den Drei Büchern als „Lebensgrund der Kirche“ bezeichnet.60 4.2
Vergleich der Ansätze mit Blick auf den Hoffnungsgehalt
Löhes Vergleich beider Schriften, zu dem Delitzschs „Güte […] [ihn] herausforderte“61, bewegt sich um zwei Themen, wovon er bei beiden die Ansichten Delitzschs als die besseren hervorhebt: das, was die Kirche als gesamten Leib Christi zeitlich und örtlich vereint, und den Blick auf Fortschritt und Zukunft. Löhes Brief habe ich schon oben referiert. Im Hinblick auf die Hoffnung ist dabei wichtig, dass Löhe sowohl die Grundlage wie auch die zeitliche Ausrichtung von Delitzschs Hoffnung übernimmt. Die Grundlage ist die göttliche Objektivität der Taufe, die von keiner menschlichen Haltung abhängig ist. Vielmehr ist nach Delitzsch – und wohl dann auch nach Löhe – jeder Christ angehalten, die stiftungsgemäße Taufe in anderen Konfessionen anzuerkennen und also die betroffenen Getauften als Brüder und 62 Schwestern im Herrn zu betrachten. Diese Grundlage, wie oben gesehen, ermöglicht Delitzsch erst seine anhaltende Hoffnung trotz schlechter Zeiten in der Kirche, was Gegenstand des zweiten Themas ist. Weil Delitzsch an die Objektivität der Taufe glaubt, ist er sich sicher, dass die Einheit einerseits trotz Irrtümer und konfessioneller Spaltung erhalten bleibe und andererseits nicht durch menschliche Unionsbemühungen, die Lehrunterschiede ausblenden, vorangetrieben werde. Doch hofft er auf einen Fortschritt innerhalb der Gemeinde und innerhalb des Christen. Das Wachstum in Glaube, Liebe und Bekenntnis geschieht trotz äußeren Verfalls. Dies steht aber im Unterschied zu Löhe, dessen Hoffnung von einem äußeren Gegenstand, der Einigung der Konfessionen um ihre lutherische Mitte, zum anderen, 63 der „apostolisch-episkopalen Brüderkirche“ , wechselt. Beim Stichwort „Bekenntnis” schließt Löhe sich Delitzsch an, als er schreibt: „[…] wir [haben] in den Bekenntnissen unsrer Väter vor allen Dingen den historischen Boden wieder gefunden […]“64 Delitzsch hatte nämlich auch das Bild aus der Botanik gebraucht: „Mittelst des Wortes von neuem erweckt und lebendig gemacht 60 61 62
63 64
Delitzsch, Vier Bücher (wie Anm. 30), II. Ganzert, GW 5/2 (wie Anm. 21), 1138. Der Große Katechismus Martin Luthers klingt im Ohr: „on glauben ist es nichts nütz, ob es gleich an im selbst ein Göttlicher uberschwenglicher schatz ist.“ (Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 1118). Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 129. Ganzert, GW 5/2 (wie Anm. 21), 1139.
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durch den Geist soll ihr Glaube, möglichst erkenntnissreicher und lebenserfüllter, als der Glaube der Väter, tiefer wurzeln nach unten, und in Bekenntniß und Liebe sich weiter entfalten nach oben.“65 Weder der eine noch der andere ruft einfach auf, zum lutherischen Bekenntnis zurückzukehren.66 Löhe möchte im Gegensatz zu einer einfachen Erneuerung der Selbstverpflichtung auf das Bekenntnis an manchen Stellen eine Korrektur durchsetzen. Und Delitzsch spricht, obwohl nicht von einer Korrektur, doch vom Wachsen über das tradierte Bekenntnis hinaus. Dieses Wachstum ist für ihn Kennzeichen der Lebendigkeit der Kirche und neben der wachsenden Liebe die andere Haupteigenschaft des Fortschritts in der Kirche. Für ihn hat das Bekenntnis seinen Wert in seiner Brauchbarkeit für das Zusammenwachsen des Leibes Christi. Sein Wesen ist es, Wahrheit von Irrtum zu unterscheiden. Denn das Zusammenwachsen, also die zunehmende Einigkeit der Kirche, besteht darin, dass man sich um die Wahrheit einigt und nicht darin, dass man das 67 wahr nennt, worauf man sich einigen kann. Die Bekenntnispflicht ist für Delitzsch also eine Selbstverpflichtung auf die Lehren, die in den Bekenntnisschriften gegen Irrtum festgehalten werden. Wo Delitzsch auf die Verschiedenheit der Schriften schaut, hat er den von Schlichting bei Löhe hervorgehobenen Fortschritt nicht im Blick, sondern allein das, was die Kirche vereint, und in dieser Sache hält er Löhes Buch für zu sehr auf menschliches Handeln und zu wenig auf göttliche Heilstaten fokussiert. Bei ihm hingegen tritt stark die Verbindung der Ekklesiologie mit dem Glauben und den Sakramenten hervor. Aber Löhe hatte es bis zu seinem Brief an Delitzsch erkannt. Indem dieser die Taufe so stark als Ausgangspunkt der Gemeinschaft versteht, erlaubt er es überhaupt, auf Fortschritt zu hoffen. Dann ist die Grundlage von Gott gelegt und als objektive, nicht menschenabhängige Tatsache zu betrachten. Dennoch bleibt der Unterschied im Gehalt der Hoffnung beider Theologen deutlich erkennbar: Delitzsch hofft auf ein inneres Wachstum in Glaube, Liebe und Bekenntnis, der eventuell nur Gott sichtbar bleibt. Löhe hofft hingegen auf ein äußeres Wachstum in der vor Menschen sichtbaren Einigung der wahren Christen. Dieser Unterschied deckt sich nicht ganz mit der Unterscheidung zwischen eschatologischen und diesseitigen Erfüllungen der christlichen Hoffnung, die am Anfang dieses Aufsatzes mit den Hinweisen von Delitzsch und Löhe auf das 21. Jahrhundert angeführt wurde. Vielmehr erhoffen sich beide Theologen etwas noch in der Zeit, ganz wie die Zitate andeuteten.
65 66 67
Delitzsch, Vier Bücher (wie Anm. 30), 163. Dafür ist vermutlich die Zuhörerschaft, die schon mal Bücher von öffentlichen Gegnern des Unionismus liest, die falsche. A.a.O., 165–166.
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4.3
Die christliche Hoffnung und der Chiliasmus
Wolfhart Schlichting weist in seinem Aufsatz auf den „Traum von Fortschritt“68 und die „fortschrittsgläubige Zeit“69 hin. Dass er damit sehr wohl Recht hat, zeigt sich am Gehalt der Hoffnung bei Wilhelm Löhe ebenso wie bei Franz Delitzsch. Die hier in Betracht gezogenen Texte demonstrieren gerade auch, dass dies bei der Hoffnung auf die Zukunft der Kirche zutrifft und nicht etwa nur bei vereinzelten anderen Themen, wie zum Beispiel in Delitzschs Ansichten über den Fortschritt in der wissenschaftlichen Forschung am Alten Testament. Merkwürdigerweise fehlt in den Texten eine Verknüpfung mit den chiliastischen Vorstellungen, welche beide Theologen hegten. Dies zu suchen hatte sich deshalb nahegelegt, weil es zum Kern der chiliastischen Eschatologie gehört, dass die Erfüllung mancher christlichen Hoffnungen diesseits der Wiederkunft Christi zu erwarten ist. Doch, obwohl beide den Hinweis auf das tausendjährige Reich weglassen, ist in ihrem theologischen Denken eine innergeschichtlich ausgerichtete Fortschrittshoffnung erkennbar. Die Nüchternheit, mit der Delitzsch das Wachstum mehr im Herzen oder im internen Gemeindeleben verortet als Löhe dies tut, wird dadurch wieder in Frage gestellt, dass er den Vollzug dieses fortschreitenden Wachstums über mehrere Generationen erwartet. Es kann im Sinne Schlichtings und zur Bestätigung seiner Analyse gefolgert werden, dass die Erscheinung des Chiliasmus im Luthertum des 19. Jahrhunderts nicht nur in einer Fehlinterpretation des 20. Kapitels der Johannesoffenbarung liegt, sondern auch in einer breit vorhandenen hoffnungsvollen Haltung gegenüber der Geschichte, die auch theologisch bei Delitzsch, Löhe und ihresgleichen zur Anwendung kam. 4.4
Kriterien für christliche Hoffnung
Dieser Einblick in die ekklesiologischen Schriften von Löhe und Delitzsch hat einige Aspekte der christlichen Hoffnung an den Tag gebracht. Ausgang der Untersuchung war die Frage, ob die ekklesiologische Hoffnung rein eschatologisch sei oder auch eine diesseitige, geschichtliche Komponente habe, weil der Einfluss des chiliastischen Denkens oder der gemeinsame Einfluss des geschichtlichen und – so Schlichting – fortschrittsgläubigen Denkens des 19. Jahrhunderts auf ekklesiologische Hoffnung und chiliastische Eschatologie daran erkennbar werden sollten. Zwar blieb der Chiliasmus gänzlich im Hintergrund, aber bei beiden Theologen wurde eine Hoffnung auf Fortschritt innerhalb der Geschichte, d.h. der Erwartung des Jüngsten Tages zeitlich vorgeordnet, beobachtet. An diesem Kriterium haben sich Löhe und Delitzsch noch nicht voneinander unterschieden. Doch zeigte sich ein anderer Unterschied, der durchaus als Kriterium für die Analyse ekklesiologischer Hoffnungen geeignet ist. Löhes Hoffnung, sei es die 68 69
Schlichting, Kirche (wie Anm. 6), 129. A.a.O., 131.
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch
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frühere auf die Einigung der Konfessionen um das lutherische Bekenntnis oder die spätere auf eine neu entstehende, Gemeinden übergreifende Brüderkirche, ist eine durchaus äußere, indem sie vor den Augen der Menschen geschieht. Delitzsch hingegen hegt eine weitestgehend innere Hoffnung, indem er Wachstum in Glaube, Liebe und Bekenntnis in der Person und der Gemeinde erwartet, aber gleichzeitig vor dem äußerlich erkennbaren Abfall am Ende der Zeit warnt. Das, was er für die Kirche hofft, wird möglicherweise nur vor Gottes Augen als Fortschritt erkennbar. Als dritten Aspekt ist das aufzunehmen, worauf Franz Delitzsch durch und durch mit seinem Buch hinweist, nämlich die Unterscheidung zwischen dem, was die Existenz einer Hoffnung begründet und berechtigt, und dem, was Kraft und Mittel der Erfüllung dieser Hoffnung ist. In der Anwendung dieser Unterscheidung auf die Sakramente folgt ihm Löhe, und in der differenzierten Haltung zum Bekenntnis stehen die Theologen einander auch sehr nahe. Bei diesem Aspekt ist entscheidend, sofern, zumindest bei Delitzsch, Ausführungen dazu vorhanden sind, dass Grundlage und Kraft der Hoffnung göttliche Handlungen sein müssen, wohingegen das Bekennen für eine menschliche Handlung zu halten ist und höchstens als Mittel zur Erfüllung der Hoffnung verstanden werden darf. Ob die Hoffnung für die Zukunft der Kirche Jesu Christi diesseitiges oder jenseitiges Gehalt habe, ob ihre Erfüllung nur Gott oder auch den Menschen sichtbar sein wird, ob Bedingung dieser Erfüllung göttliches Handeln allein oder auch Menschenwerk sei: diese drei Kriterien einer ekklesiologischen Hoffnung ergeben sich aus der Analyse von Löhe und Delitzsch. Alle drei setzen voraus, dass der jetzige Zustand der Kirche unvollendet ist, sodass eine Hoffnung darüber hinaus von der Heiligen Schrift her Berechtigung erhält. Unter anderem gilt als Nachweis dieses unvollendeten Zustands die allen sichtbare Division in der Kirche. Auf den Umgang mit diesem Einheitsmangel ist abschließend noch einzugehen. 5.
Ausblick: die Herausforderung des 21. Jahrhunderts
Am Anfang des 21. Jahrhunderts kann festgehalten werden, dass die Hoffnung, die Kirche Jesu Christi möge ihre innere Einheit auch äußerlich zeigen, von sehr vielen weitergetragen wird. Die breiten ökumenischen Bemühungen des vergangenen 70 Jahrhunderts sind ein kräftiges Zeugnis davon. Die Verabschiedung von Einigungstexten wie der Leuenberger Konkordie und der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre haben sich allerdings in ihrer Reichweite auf die drei aus der Reformation hervorgegangenen Konfessionskirchen – die reformierte, die lutherische und die römisch-katholische – beschränkt. Unter ähnlichen Bedingungen haben Löhe und Delitzsch auch gedacht und geschrieben, weshalb Löhe überhaupt 70
Sasses Hinweis auf chiliastische Aspekte in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts sind Auslöser meines eigenen Interesses an diesem Thema. Hermann Sasse, Corpus Christi. Ein Beitrag zum Problem der Abendmahlskonkordie, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Hermannsburg/Erlangen 1979, 11.
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von einer einigenden Mitte schreiben kann. Doch heute erlebt man in Ländern wie den USA oder Südafrika, deren Bevölkerungen nicht die eine oder andere konfessionelle Prägung in gleicher Weise wie Deutschland in ihrer Geschichte tragen und sich als kirchlich und konfessionell viel flexibler zeigen, ein entsprechend anderes Milieu, in dem aber ebenso von der vollendeten Einigung aller Christen geträumt und gehofft wird.71 Mit diesem Unterschied zwischen dem Milieu von Delitzsch und Löhe und unserem heutigen außerhalb von Europa ist ein zusätzlicher Unterschied verwandt und von großer Bedeutung: Indem man sich von den drei westlichen Konfessionen entfernt, entfernt man sich gleichzeitig von der gemeinsamen Basis, die durch die Kindertaufe gebildet wird. Löhe könnte Delitzsch darin zustimmen, dass die innere Einheit der Kirche durch die Taufe gewährt war, auch wenn sie äußerlich zerstritten bliebe. Diese geglaubte innere Einheit hatte in der Taufe sogar eine äußerliche, sichtbare Erscheinung. So etwas fehlt dem heutigen Konsens, in dem die lutherische Konfession kaum in der Mitte, sondern vielmehr deutlich am Rande zu den – im übrigen häufig außerhalb bleibenden – Römisch-Katholiken ihren Platz hat. Nicht nur geht der Konsens vielmehr dahin, entschieden die Taufregeneration zu 72 leugnen, sondern auch überhaupt die Taufe von Kindern nicht anzuerkennen, sodass man immer wieder auch vor erwachsenen Mitgliedern anderer Gemeinden steht, die ungetauft sind. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: weder ist man geneigt, einen breiten Teil des modernen Christentums aufgrund der Erwachsenentaufe die Teilnahme am Reich Gottes abzusprechen, noch sich gegen die Notwendigkeit der Taufe und damit gegen die CA auszusprechen.73 Einen ersten Schritt aus dieser Problematik heraus bietet eventuell Delitzsch in seinen Vier Büchern.
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Meine eigenen Erfahrungen mit dieser Haltung der Kollegen aus anderen Kirchen sind der Hintergrund dessen, was ich hier abschließend schreibe. Doch findet man diese Hoffnung ebenfalls literarisch belegt. Ich verweise exemplarisch auf das pünktlich zum Reformationsjubiläum erschienene Buch des reformierten Theologen Kevin Vanhoozer, Biblical Authority after Babel: Retrieving the Solas in the Spirit of Mere Protestant Christianity, Grand Rapids 2016. Das Buch ist eigentlich eine Programmschrift für die Einigung der protestantischen Kirchen, komplett mit einer Reihe von Thesen zur Gestaltung seines „Mere Protestant Christianity“. Vgl. meine Rezension von Vanhoozer in Logia 26:2 (2017), abrufbar unter http://www.logia.org/logia-online/book-reviewbiblical-authority-after-babel2017 (Stand: 30.11.2017). Vgl. das Statement of Faith der Fellowship of Independent Evangelical Churches (http://scopemagazine.co.za/statement-of-faith/, Stand: 06.04.17), das etwa in meinem Umfeld der südafrikanischen Universitätsarbeit als Glaubenserklärung des ökumenischen christlichen Studentenmagazins „Scope“ übernommen wird. Da lautet die entscheidende Stelle: „Baptism is a symbol of union with Christ and entry into his Church but does not impart spiritual life (Die Taufe ist Symbol der Einigung mit Christus und des Eingangs in seine Kirche, geistliches Leben jedoch verleiht sie nicht).“ Eine ähnliche Leugnung der unio sacramentalis folgt im Abschnitt über das Abendmahl. Dieses Glaubensbekenntnis enthält nur diese zwei Negativa. Luthers Kritik an den Enthusiasten, sie würden die Taufe irrtümlicherweise als Menschwerk verstehen, bleibt hier auch relevant. Siehe BSELK, 1110–1116. CA IX: „De Baptismo docent, quod sit necessarius ad salutem […]“ (a.a.O., 105).
Christliche Hoffnung bei Wilhelm Löhe und Franz Delitzsch
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Für Delitzsch war die innere Einheit der Kirche Folge der äußeren göttlichen Handlung der Taufe. Jedoch ist diese Handlung nicht bloß äußerlich, als ob sie tatsächlich nur die Reinigung des Leibes wäre, sondern tatsächlich auch innerlich, indem dabei die Seele dem Bad der Wiedergeburt unterzogen wird. Die göttliche Handlung, die damit geschieht, unterscheidet sich in dem, was sie anbietet, nicht von der Wortverkündigung: das ist die Sündenvergebung und die Aufnahme unter die, welche Jesus Christus als ihr Haupt anerkennen. Delitzsch geht näher auf die Unterschiede zwischen Wortverkündung und Sakramenten ein, aber für die Frage der Einheit der Kirche ist der Unterschied in der Erkennbarkeit relevant: Bei jemandem, der nicht getauft ist, bleibt nur noch eine subjektive Beurteilung übrig, wonach zu sagen ist, ob er Christ ist. Durchaus ist es möglich, dass man in solchen Fällen positiv beurteilt, einerseits weil die Wortverkündigung allein schon fähig ist, Sünder zu Christus zu bekehren, und andererseits, weil damit noch nicht gesagt wird, dass das Bekenntnis einer Person oder Kirche tadellos wäre, auch nicht im Blick auf die Sakramentenlehre. Doch werden – und dieses Urteil ist nun nicht rein theoretisch, sondern konkret über das Christentum unserer Zeit zu fällen – mit dem Verlust der Taufe die Möglichkeiten der auf Einheit bedachten ökumenischen Begegnungen von Christen unterschiedlicher Konfessionen deutlich und erkennbar erschwert und eingeschränkt. Es wird Platz gemacht für das subjektive Urteilen über den Glauben und die Ernsthaftigkeit des Glaubens der anderen, oder dies Urteilen über die anderen wird sogar notwendig gemacht. Und es muss ein neuer äußerlicher, vor der Welt erkennbarer Nachweis der geglaubten inneren Einheit gesucht werden. Dieser Platz scheint mir am häufigsten durch den ökumenischen Lobpreisgottesdienst eingenommen zu werden. Somit werden in der Abwesenheit der göttlichen Handlung der Taufe und der objektiven Erkennbarkeit des Leibes Christi, die sie gewährt, menschliche Handlungen – das Urteil, das über den Nächsten gefällt wird, und das Lob Gottes – gesetzt. Dann ist die erhoffte Einheit der Kirche diesseitig, den Menschen und nicht nur Gott sichtbar und maßgeblich durch menschliche Handlung gewirkt. Und doch, trotz des unterschiedlichen Hoffnungsgehalts gründen beide darin, dass der Leib Christi eine innere, von Gott gewährte Einheit schon hat, die sogar konfessionelle Unterschiede überspannt. Deshalb kann der Lutheraner mit Löhe und Delitzsch immer wieder auch seinen Platz am ökumenischen Tisch suchen. Doch wäre dabei die Hoffnung ein Gesprächsthema, das vielen anderen Themen aus prinzipiellen 74 Gründen vorgeordnet werden sollte.
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Im Übrigen würde für ein solches Gespräch fruchtbar sein, Apologie 16 als Ergänzung zu dem knapp formulierten Artikel 17 zu lesen, denn da werden einige eschatologische Fehlerwartungen, die man heute häufig antrifft, identifiziert und korrigiert.
Der hessische Landgraf Philipp als evangelischer Laie und die Einheit der Kirchen Erich Geldbach 1.
Einleitung
Zu den bedeutendsten und sicher auch umstrittensten Gestalten der Reformationszeit gehörte der hessische Landgraf Philipp, der am 13.11.1504 in Marburg zur Welt kam und am 31.3.1567 in Kassel verstarb. Sein Beiname magnanimus, der Großmütige, trifft die eine Seite seines Charakters. Die andere Seite ist bestimmt durch seine Doppelehe mit ihren verheerenden Folgen für die Reformation insgesamt. Freilich sind beide Seiten, wie noch zu zeigen sein wird, durch seine religiösen Anschauungen miteinander verknüpft. Beim Tod seines Vaters Wilhelm II. 1509 (*1469) übernahm seine Mutter Anna von Mecklenburg (1485–1525) die Regentschaft und erwirkte, dass Philipp bereits 1518 von Kaiser Maximilian I. (1459– 1 1519) für mündig erklärt wurde. Der junge Landgraf erlebte den Wormser Reichstag, wohin er mit mehr als vierhundert Gewappneten als Zeichen seines besonderen Selbstbewusstseins zog und wo er mit Martin Luther zusammentraf. Seine 1523 geschlossene Ehe mit Christine, einer Tochter Georgs des Bärtigen von Sachsen, ließ ihn im sog. „Bauernkrieg“ auf Seiten seines Schwiegervaters eingreifen. Philipps Truppen hatten entscheidenden Anteil in der Schlacht bei Frankenhausen 1525, in deren Folge Thomas Müntzer (1489–1525) gefangen genommen und wenige Tage später hingerichtet wurde. Als der gerade einmal zwanzigjährige Landgraf sich 1524 zunächst vorsichtig zu den Lehren der Reformation bekannte, änderte sich damit sein Verhältnis zu seinem Schwiegervater, der von einer grundsätzlichen Gegnerschaft zur Wittenberger Reformation beseelt war. Freilich blieb die Hinwendung zu reformatorischen Einsichten zunächst im Rahmen der spätmittelalterlichen Vorstellung von den religiösen und politischen Aufgaben eines Landesherrn. Als auf Geheiß Philipps am 13. März 1525 Johannes de Campis als evangelischer Prediger in Marburg und am 2 15. August desselben Jahres Adam Krafft (1493–1558) als Prediger und Visitator eingesetzt wurden, waren die Weichen endgültig für eine landesherrliche Reform gestellt. Dabei muss man Philipp bescheinigen, dass er zu eigenständigen und sehr weitsichtigen Erkenntnissen kam. Seine Hinwendung zur Reformation ließ ihn 1 2
Vgl. Richard A. Cahill, Philipp of Hesse and the Reformation, Mainz 2001, 13–31. Vgl. Johannes Schilling, Adam Krafft, der erste hessische Landesbischof, Fuldaer Geschichtsblätter 70 (1994), 87–100.
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entdecken, dass die reformatorischen Erkenntnisse eine grundsätzliche Wandlung im kirchlichen, sozialen, politischen und individuellen Leben nach sich ziehen würden. Es ging also nicht einfach nur um eine religiöse Angelegenheit. Man könnte Philipp als einen Herrscher charakterisieren, der in Fortführung spätmittelalterlicher Vorstellungen eines christlichen Fürsten in der Verantwortung vor Gott, der kaiserlichen Majestät und den Gesetzen noch den entscheidenden Schritt weitergeht und zu einem neuen Typ eines evangelischen Laien wird und der als Laie die Folgen seiner religiösen Einsichten zum Tragen zu bringen suchte. Dass er als Landesherr mehr Möglichkeiten hatte als gewöhnliche evangelische Laien spricht nicht gegen diese Charakterisierung, sondern unterstreicht nur noch Philipps persönliche Ergriffenheit von der evangelischen Erneuerung. Sein Ziel war es hinfort, seine Landeskinder an der Erneuerung der Kirche, des Individuums und der sozialen und politischen Verhältnisse teilhaben zu lassen. Dass sich bei ihm seine Politik und seine Kirchenpolitik verbinden, ergibt sich aus der Zeit und der Natur seiner Stellung als Landgraf. 2.
Homberg und die Reformation in Hessen
Auf dem Reichstag zu Speyer 1526 erschien er zusammen mit Johann, Herzog von Sachsen, mit gleichen Gewändern, auf denen die Abkürzung VDMA = Verbum Dei Manet in Aeternum = „das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ zu lesen war. Offenbar ist für den hessischen Landgrafen das Wort Gottes der entscheidende Maßstab für seine Überlegungen und Handlungen. Gemäß diesem Reichstag sollte es jeder mit der Durchführung des Wormser Edikts so halten, wie er es vor Gott und der kaiserlichen Majestät verantworten könne. Der Landgraf ging jedoch weit darüber hinaus; er unternahm den Versuch, das kirchliche Leben neu zu regeln, indem er den ehemaligen Franziskaner Franz Lambert von Avignon (1487–1530) damit beauftragte, für eine einzuberufende Versammlung der Stände eine Art Grundlagenpapier zu entwerfen. Das war die Voraussetzung für das, was oft in der Literatur als „Homberger Synode“ bezeichnet wird. Allerdings ist diese Bezeichnung insofern irreführend, als eine Synode eine Kirche zur Voraussetzung hat, die dann in der Synode repräsentiert ist. Nach dem Willen des Landgrafen sollte die Kirche aber erst geschaffen werden, so dass es angemessen ist, von einer Zusammenkunft der Stände zu sprechen. Diese Zusammenkunft fand auf Einladung Philipps vom 21. bis 23. Oktober 1526 in Homberg an der Efze statt. Dass es der Landgraf war, der das Heft in die Hand nahm, liegt zum einen in der Kontinuität zur spätmittelalterlichen Praxis und zum anderen im Gefolge Martin Luthers, der in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ keinen Grund in der Heiligen Schrift entdecken konnte, ausschließlich dem Papst das Recht einzuräumen, Konzilien einzuberufen. Luther führte vor allem das Konzil von Nizäa als Beleg an, dass nicht der Bischof zu Rom, sondern Kaiser Konstantin „das berühmteste Konzil“ einberufen und bestätigt
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habe. Auf diese Vorgabe konnte sich auch der hessische Landgraf stützen: Was für die Ebene des römischen Reiches galt, konnte auf der Ebene der Landgrafschaft im selben Maß in Geltung stehen. An Stelle des zuständigen Bischofs konnte daher der Landgraf zu der Versammlung nach Homberg einladen. Dazu sah sich Philipp nicht nur berechtigt, sondern auch aus Verantwortung gegenüber den Landeskindern und der Kirche verpflichtet. Dies wird man seinem neuen, evangelischen Bewusstsein zuschreiben können. Der evangelische Laie handelt in Verantwortung vor Gott und seinem Land, um ein „freundliches und christliches Gespräch“ in Gang zu setzen, wie es im Einladungsschreiben hieß. Gegen heftigen Widerstand vor allem aus den Klöstern wurde die Erarbeitung einer Kirchenordnung, der Reformatio ecclesiarum Hassiae, beschlossen. Dass der Landgraf die Kirchenordnung an Luther übersandte, muss wohl so verstanden werden, dass er sie nicht ohne die Befürwortung des „Hauptes“ der evangelischen Bewegung umsetzen wollte. Bekannt ist, dass Luther die Ordnung als „ein hauffen gesetze“ einordnete und zur Vorsicht gemahnte, jedenfalls von einer Drucklegung oder einer sofortigen Umsetzung abriet. Luther wollte einen allmählichen Prozess des Kirchenaufbaus. Offenbar war Luthers Autorität in Fragen des Glaubens so umfassend, dass der Landgraf davon absah, die Kirchenordnung als Ganze umzusetzen. Dennoch aber wurden entscheidende Eckpunkte dieses Modells verwirklicht. Im Einzelnen muss darauf nicht eingegangen werden, doch fallen einige Punkte auf, die den evangelischen Laien kennzeichnen. Ein wichtiger, in Homberg bereits bedachter Schritt war die Errichtung einer Universität, die nach Lage der Dinge auch ohne die kaiserlichen und päpstlichen Privilegien bereits im April 1527 gegründet wurde. Darin wird sehr deutlich die Weitsicht des evangelischen Laien erkennbar. Die evangelische Bewegung verlangte eine Universität, weil zur Verwaltung des Territoriums und zur Reform der Kirche ein neuer Beamten- und Pfarrerstand nach den Regeln der Heiligen Schrift erforderlich war. Die evangelische Bewegung war nicht darauf aus, eine „BanausenLandgrafschaft“ hervorzubringen, sondern ein wohlgeordnetes Staats- und Kirchenwesen, das sich allerdings von den überlieferten Traditionen durch eine bewusste „evangelische“ Ordnung unterschied. Das war dem Laien Philipp offensichtlich ein Herzensanliegen und dazu benötigte er entsprechend ausgebildete Funktionsträger. Eine weitere „evangelische“ Maßnahme war die Abschaffung der Klöster, was allerdings erst nach anfänglichem Zögern erfolgte. Das Zögern bezog sich darauf, dass es Mönche und Nonnen freigestellt sein sollte, ob sie unter Verzicht auf die „gottlosen Zeremonien“ in den Klöstern bleiben wollten oder ob sie es vorziehen würden, die Landgrafschaft zu verlassen. Vielleicht lässt sich diese zögerliche Haltung als Respekt vor dem religiösen Gewissen interpretieren, ähnlich wie es Philipp auch gegenüber Täufern und Juden an den Tag legte. Doch im Laufe des Jahres 1527 setzte sich durch, die Klöster aufzulösen und sie in Schulen oder Anstalten für Kranke umzuwandeln. Die Schulen waren nicht nur für „manns-“, sondern auch für „frauenperso-
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nen“ gedacht. Im Rahmen der Neuordnung des gesamten gesellschaftlich-kirchlichen Lebens ist die Schulbildung aller nicht zuletzt deshalb notwendig, weil das Lesen der Heiligen Schrift für alle zugänglich sein muss, damit der evangelische Maßstab „sola scriptura“ zur Anwendung kommen kann. Bedeutsam ist zudem, dass die bildungspolitischen Maßnahmen auch die weibliche Jugend einbezog. Als dritter wichtiger Punkt aus der Kirchenordnung sei hier genannt, dass die „gottlosen Zeremonien“ nicht nur die Klöster betraf, sondern die Gottesdienste überhaupt. Es kam daher zur einer Reform der Gottesdienste, zur Einsetzung evangelisch gesinnter Prediger und zu Visitationen der einzelnen Gemeinden durch die Bestellung von Visitatoren. Diese Maßnahmen sind unter dem Gesichtspunkt des evangelischen Laien, der hier handelt, unmittelbar einleuchtend. Wenn der Glaube aus der Predigt folgt, wie Philipp bei Paulus nachgelesen hatte, fiel das Gewicht auf die mit der Predigt betrauten Personen als den Schlüsselfiguren der kirchlichen Reformen. Warum wurden u.a. diese drei wegweisenden Punkte aus der nicht als Ganze umgesetzten Reformatio ecclesiarum Hassiae dennoch verwirklicht? Die Antwort auf die Frage ergibt sich aus einem anderen Grundsatz des Landgrafen, der zugleich das Band ist, was diese Punkte miteinander verbindet und was erneut den evangelischen Laien hervortreten lässt. Es ist der Grundsatz, dass alle Maßnahmen dem „gemeinen Nutzen“ zu dienen haben. Das springt bei der Universitätsgründung so unmittelbar ins Auge, dass es keiner besonderen Darlegung bedarf. Aber auch die Auflösung der Klöster gehört in die Überlegungen zum „gemeinen Nutzen“. Die Gelder bzw. die Besitztümer flossen nicht einfach in die landgräfliche Schatulle, sondern wurden für die Universität, die Einrichtung von Elementarschulen, die Einsetzung von Stipendien für begabte, aber über wenige Mittel verfügende Landeskinder und nicht zuletzt zur Errichtung von Landesspitälern genutzt. Das Zisterzienserkloster Haina, das Augustinerchorherrenstift Merxhausen sowie etwas später Hofheim und das Kloster Gronau sollten zur Betreuung von Kranken, auch psychisch Kranken dienen. Die Überführung der Klöster in Spitäler erklärte im Jahre 1969 der damalige Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Fakultät der Philipps-Universität, Hermann Stutte (1909–1982), mit Verweis auf das, was der nachmalige Landgraf in seiner Kindheit beobachten musste, als sein Vater im Endstadium der Syphilis von seinen ihm Untergebenen regelrecht malträtiert wur3 de. Das sollte nach dem Willen Philipps nicht geschehen; er wollte sicherstellen, dass die Kranken, ganz gleich ob physische oder psychische Krankheiten vorliegen, nicht einfach schutzlos ihrem Schicksal überlassen oder respektlos behandelt werden, sondern dass die Gemeinschaft als Ganze unter Leitung des für die Gesamt-
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Vgl. Hermann Stutte, Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen aus medizinischer Sicht, Hessisches Ärzteblatt 30 (1969), 1085–1097.
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heit verantwortlichen Herrschers darauf gerichtet sein soll, dem Eigennutz zu wehren und dem „gemeinen Nutz“ in gegenseitiger Hilfestellung zu dienen.4 3.
Das erste Marburger Religionsgespräch
Die Betonung auf dem „freundlichen und christlichen Gespräch“, mit dem Philipp nach Homberg eingeladen hatte, ist so etwas wie ein Motto, das über weite Strecken die Kirchenpolitik Philipps bestimmt hat. Was in Homberg begann, fand 1529 seine Fortsetzung, als sich auf Einladung des hessischen Landgrafen die Häupter der evangelischen Bewegung, allen voran Martin Luther und Huldreich Zwingli, auf dem Schloss in Marburg zu dem „Marburger Religionsgespräch“ trafen. Auch hier gilt, dass der Landgraf die aufgebrochenen Gegensätze zwischen den Wittenberger und den Süddeutschen sowie den Schweizer Reformatoren durch ein Gespräch zu überbrücken suchte. Dieses Religionsgespräch, das vom 1. bis 4. Oktober 1529 stattfand, wird in jedem Lehrbuch der Kirchengeschichte erwähnt. Nicht erwähnt wird dagegen ein anderes Religionsgespräch, das nur wenige Jahre später erneut in Marburg stattfand, bei dem auf der einen Seite der Straßburger Reformator Martin Bucer (1491–1551) und auf der anderen Seite in Marburg gefangen gehaltene Täufer aufeinandertrafen und erstaunliche Ergebnisse erzielten. Auch dieses Gespräch war von Philipp in die Wege geleitet worden. Noch andere Gespräche, die weniger spektakulär, aber ebenso intensiv waren, können angeführt werden; dazu zählen auch persönliche Unterredungen des Landgrafen mit einzelnen Personen, die Philipp als einen modernen, auf den Dialog setzenden Herrscher zeigen. Wie schon in Homberg ging es dem hessischen Landgrafen in allen Gesprächen darum, dem neuen Maßstab der evangelischen Bewegung, der Heiligen Schrift, zu folgen. In Marburg musste er freilich erleben, dass der neue Maßstab für sich genommen nicht ausreicht, um Gegensätze abzuschwächen oder gar zu überwinden. Jeder blieb bei seiner Meinung und pochte auf entsprechende biblische Belege. Hinter den Kulissen arbeitete daher der Landgraf „heftig“, wie Luther am 4. Oktober an seine Frau schrieb, um die Reformatoren davon zu überzeugen, sich gegenseitig als Brüder und Christi Glieder anzuerkennen. Wenn auch die Gegensätze blieben, sollte doch die feindliche Polemik einer wechselseitigen Achtung weichen. Das war das erklärte Ziel des evangelischen Laien, der die theologischen Feinheiten als vergleichsweise zweitrangig gegenüber der „brüderlichen“ Anerkennung erachtete. Dabei stieß er offenbar bei den Süddeutschen eher auf Zustimmung als bei
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Vgl. zum ganzen Komplex die trefflichen Ausführungen von Gury Schneider-Ludorf, Der fürstliche Reformator. Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006, bes. Teil B III, 99–126. Sie verweist auf eine interessante Schrift von Johannes Eisermann, einem der Professoren an der neuen Universität, mit dem Titel „Von dem Gemeinen nutze“ von 1533.
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Luther. Dieser erklärte in dem erwähnten Brief seinem „lieben Herrn Käthe“ trotzig: „Aber wir wollen des Brüderns und Gliederns nicht.“5 Wenngleich eine Einigung in Grundsätzen des Glaubens in den 15 Marburger Artikeln erreicht wurde, blieb der 15. Artikel über das Abendmahl umstritten. Es gelang nicht, den Abendmahlsstreit zu entschärfen. Als der Moderator des Gesprächs, der Kanzler des Landgrafen Johannes Feige, auf eine Einigung drängte, war die Antwort: „Ich [= M. Luther] weiß kein ander Mittel, denn dass sie Gottes Wort die Ehre geben und glauben mit uns. Darauf die anderen: Sie können es weder begreifen noch glauben, dass der Leib Christi da [= in Brot und Wein] sei.“6 Damit war die Entzweiung in dieser Frage endgültig. Keine Seite konnte der anderen in ihrer Argumentation folgen: die eine klammerte sich an das Wort (est), die andere blieb bei der symbolischen Bedeutung (significat), weil Christi Leib nicht zugleich im Himmel und in den vielen Mahlfeiern sein könne. Damit war aber zugleich eine politisch-militärische Angelegenheit, die dem Landgrafen am Herzen lag, gescheitert. Die brüderliche Achtung sollte einer gesamtevangelischen Allianz dienen, die Philipp für dringend geboten hielt. Er hatte auf dem zweiten Reichstag zu Speyer erleben müssen, dass die Durchführung des Wormser Edikts von 1521 befohlen wurde, wogegen er und die anderen evangelischen Stände am 19./20. April 1529 Protestationen einlegten. Philipp aber erkannte, dass er handeln müsse und ließ noch von Speyer aus eine Einladung an Zwingli zu einem Religionsgespräch übersenden. Daran erkennt man die unumgängliche Verquickung der religiösen mit der politischen Frage. Nach Meinung Philipps bedurfte es einer Allianz aller Evangelischen gegen die Habsburger, und dazu musste der Konflikt um das Abendmahl beigelegt werden. Dass es dazu in Marburg nicht kam, zeigt einerseits die Stärke der Reformatoren, ihre jeweiligen Erkenntnisse den politisch-militärischen Notwendigkeiten, wie es Philipp sah, nicht unterzuordnen. Andererseits wurde das Zerwürfnis auf dem nächsten Reichstag in Augsburg 1530 sichtbar, als neben der von Philipp Melanchthon verfassten Confessio Augustana die vier Städte Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen ihre Confessio Tetrapolitana und Zwingli ein eigenes Bekenntnis einreichten. Als es dem Straßburger Reformator Martin Bucer 1536 gelang, in zähen Verhandlungen einen Ausgleich in der Abendmahlsfrage zwischen den Wittenbergern und den Süddeutschen zu erreichen, war Philipp seinem Ziel einer antihabsburgischen Koalition einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Der Schmalkaldische Bund, der entstand, erwies sich zumindest eine Zeitlang als Bollwerk der evangelischen Stände und war auch international von Bedeutung, weil etwa König Christian von Dänemark 1538 dem Bund beitrat. Zwingli hat diese Entwicklung nicht mehr erlebt, weil er bereits 1531 in der Schlacht bei Kappel ums Leben gekommen war. Alle reformatorischen Kräfte konnte Philipp nicht in dem einen Bund 5 6
Zitiert in dem Heft: Orte der Reformation. Marburg, hg. von Volker Knöppel, Burkhard zur Nieden und Wolf-Friedrich Schäufele, Leipzig 2013, 21. Gerhard May, Das Marburger Religionsgespräch 1529, Gütersloh 1970, 56.
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vereinen. Aber er erwies sich auch in diesem Punkt als evangelischer Laie, weil er sich als Landesfürst herausgefordert sah, die reformatorische Erneuerung politisch und militärisch zu verteidigen. 4.
Das zweite Marburger Religionsgespräch
Mit Bucer hatte der Landgraf einen ausgedehnten Briefwechsel geführt, was ihm gelegen kam, weil er den Straßburger Reformator zu dem bereits erwähnten zweiten Marburger Religionsgespräch einlud. Bucer stellte in seiner Zusage vom 23. August 1538 in Aussicht, Mitte Oktober in Marburg eintreffen zu wollen.7 Tatsächlich suchte er den Landgrafen in Kassel auf, begab sich dann nach Marburg, wo am 30. Oktober das Gespräch mit den gefangen gehaltenen Täufern begann. Es müssen hier nicht die historischen, geografischen und anderen Faktoren aufgeführt werden, die das Täufertum in Hessen kennzeichnen. Dazu hat sich Martin Rothkegel unter Hinzuziehung aller einschlägigen Literatur trefflich geäußert.8 Die Zusammenfassung seiner Täuferpolitik hat der Landgraf in seinem Testament geliefert. Bereits der erste Satz lässt aufhorchen, weil Philipp davon ausgeht, dass die Täufer unterschiedlich sind. Das verweist auf seine Vertrautheit mit dem Täufertum, jedenfalls auf seine Fähigkeit zu differenzieren. Die Söhne als Testamentsvollstrecker, so schärft er ihnen ein, sollten sich der Hilfe der Gelehrten versichern, damit diese die Täufer von ihrer „Sekte“ abbringen sollen. Gelingt dies jedoch nicht, sollen die Täufer des Landes verwiesen werden, damit sie keine anderen Bürger verführen. Entscheidend und einzigartig in der Reformationszeit heißt es dann: „Einichen menschen aber umb des willen, das er unrecht glaubt, zu toidten, haben wir nie getan, wollen auch unsere sohne ermanet haben, sollichs nicht zu tun, dan 9 wirs, dass es widder gott seie, halten, wie das im evangelio clar angezeiget […].“
Die Duldsamkeit des Landgrafen bezieht sich einzig auf seine Weigerung, die Täufer wegen ihres falschen Glaubens hinrichten zu lassen. Diese Haltung entnimmt er dem Evangelium, so dass man auch hier sagen kann, dass er dem neuen evangelischen Maßstab folgen will. Das hält ihn aber nicht davon ab, die Täufer nach wie vor der Sektiererei zu bezichtigen, weshalb sie in Verhöre verwickelt werden sollen mit dem Ziel, sie von dem Sektierertum abzubringen oder sie bei bleibender Hartnäckigkeit des Landes zu verweisen. Den Verführern sollen keinerlei Möglichkeiten geboten werden, sich auszubreiten. Das bedeutet, dass es in der Vorstellung des Landgrafen nicht darum gehen kann, mehrere kirchliche Ausprägungen des Chris7 8
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Alfred Uckeley, Die Kirchenordnungen von Ziegenhain und Kassel 1539, Marburg 1939, 19. Martin Rothkegel, Die Täuferbewegung in Hessen im Zeitalter Philipps des Großmütigen, in: Inge Auerbach (Hg.), Reformation und Landesherrschaft, Marburg 2005, 121–136. Vgl auch Wolfgang Breul, Vom Humanismus zum Täufertum. Das Studium des hessischen Täuferführers Melchior Rinck an der Leipziger Artistenfakultät, ARG 93 (2002), 26–42. Günther Franz (Hg.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, vierter Band, Wiedertäuferakten 1527–1626, Marburg 1951, 341. Im Folgenden UQHR.
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tentums gleichzeitig in seinem Territorium zu dulden. Das Ziel ist vielmehr die eine Territorialkirche, die gegenüber Abweichlern entweder durch gelehrte Überredungskünste oder durch Landesverweise der Unbelehrbaren erreicht werden soll.10 4.1
Die Ethik als inhaltlicher Auslöser des Gesprächs
Die Frage, warum der Landgraf sich überhaupt auf die Täufer einließ, führt auch hier zu dem einen Kriterium, dem er folgen wollte. Er war überrascht, in den Täufern ernsthafte und standfeste Menschen kennenzulernen, die dem „sola scriptura“ konsequent zu folgen bereit waren. Erstaunlich ist, dass er sich als Landgraf auf ein Gespräch z.B. mit dem hessischen Täuferführer Melchior Rinck verstand.11 Weil Rinck durch die obwaltenden Umstände ein unstetes Wanderleben führen musste, ist es bemerkenswert, dass die Gefolgsleute des Landgrafen es dennoch verstanden, ihn ausfindig zu machen, damit der Landgraf auf seinem Jagdschloss Friedewald mit ihm diskutieren konnte. Rinck hatte die Meinung vertreten, dass „so bald ein gemein [eine täuferische Gemeinde] auffgericht wirt / darin man nit allein mit Mund und Hertzen / sonder auch mit wercken und lieb den gehorsam Christi beweise“12 das falsche Christentum seiner Gegner offenbar werde. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die hohe ethische Haltung anziehend auf den Landgrafen wirkte, vermutlich auch deshalb, weil die Täufer durch ihren Lebenswandel das Gegenteil dessen darstellten, was er selbst verkörperte. Unumwunden schrieb er 1531 an seine Schwester Elisabeth von Sachsen: „Ich sehe auch meher besßerung bej den, dj man schwermer heist, dan bej den dj luterisch
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Zu den verschiedenen Versuchen einer Ordnung, wie man den Täufern begegnen könne vgl. G. Schneider-Ludorff, Der fürstliche Reformator (wie Anm. 4), 133–144. Ich vermag freilich nicht zu erkennen, warum sie die Abschnitte zu den Täufern und den Juden unter die Überschrift „Wahrheitsfrage“ stellt. Um die Wahrheit ging es auch im ersten Marburger Religionsgespräch. UQHR, 4 heißt es: „In des ist m.g.h. Gein Fridtwaldt kommen und daselbst nach genantem Melchiorn gefragt und auf seiner f.g. Gelait zu sich ha heissen brengen und selbst mit ime geredt, verhort und gutlich gehandelt.“ Freilich war das Ergebnis, dass Rinck geirrt und Leute verführt habe. Daher soll er entweder des Landes verwiesen oder seine Lehre öffentlich vor der Gemeinde in Hersfeld, wo er gepredigt hatte, widerrufen, oder er soll vor den Gelehrten der Universität Marburg seine Lehre mit der Schrift beweisen. Diese letzte Möglichkeit ergriff Rinck. Zugrunde lag eine zwölf Punkte umfassende Zusammenfassung des Gesprächs in Friedewald durch den Hersfelder Pfarrer Balthasar Raidt (4–6), eine Entgegnung Rincks auf diese Punkte (6–7) und eine fünf Artikel umfassende „Berechnung meines Glaubens“ von Rincks Hand (8–9). In seiner Schlussrede bemerkte Raid, „dieweil mir der ersten drei artikel im verstand eins sint gewesen“, solle Rinck jetzt den vierten Artikel, der von der Taufe handelte, heranziehen und mit der Heiligen Schrift seine Meinung „beweisen“ (10). Rinck führte viele Schriftstellen an (10–13), die Raid zu widerlegen suchte (11–16). Das Ergebnis war wie in Friedewald: „Milchior hat sich nit wollen lassen uberwinden“ (18), was weniger der Wahrheit als vielmehr der ungleichen Ausgangslage der Diskutanten und ihres Auftraggebers geschuldet ist. Zitiert in: Erich Geldbach, Die Lehre des hessischen Täuferführers Melchior Rinck, Jahrbuch der hessischen kirchengeschichtlichen Vereinigung 21 (1970), 119–135 (Zitat 134).
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sein […].“13 Auffallend ist, wie sehr das ethische Kriterium den Landgrafen mit einfachen Leuten verbindet. Der Schmied Adam Angersbach aus Niederhaun bringt den Sachverhalt wie folgt zum Ausdruck: „So habe er bis daher wenig guts gesehen, das von der Lutherische pfaffen predigen komme, dan alle ergernus, freiheit, buberei, und sei boser und erger dan underm bapstum; und woe gotes wort, die warheit und der heilig geist rechtschaffen gelert, da breng es frucht, stehen die leut von sunde ab, bessern sich. Darumb konne er nit erkennen, das gotes wort warhaftig durch sie gelert, dan sie, die prediger, selbst furen offentlich ein sundlichs, ergerlichs leben. So sage Christus: An fruchten soll man sie erkennen die falschen lerer, dan ein schleen dorn brenge kein weindreubel etc. [Mt.7, v. 16]. Darumb glaub er nit, das sie den heiligen geist haben, dan der heilige geist wank nit wie sie, sei auch nit geizig etc., wie itzt under den Lutherischen befunden als wol, als underm bapstum gewesen etc. Und woe nun der heilige geist nit warne und leer, do moge auch nit die warheit gelert und erkent werden. So hab er nun Melchior Rincken erkent an der leer und leben, das 14 er nit anders erkennen habe konnen, das er die warheit gelert;“
Die Übereinstimmung von Lehre und Leben ist für den Landgrafen und den Schmied gleichermaßen das unverzichtbare Kriterium, die Wahrheit als solche zu erweisen. Das Auseinanderfallen lehrmäßiger Äußerungen von dem Lebensvollzug dürfte gerade für Laien eindeutiger sein, um die Richtigkeit von Positionen zu erkennen als das einseitige Pochen auf in Worte geronnene Dogmatik. Auch Adam Krafft konnte so argumentieren, wenn er bei den Verhandlungen des Landtagsausschusses im August 1536 zur Verabschiedung einer Täuferordnung sagte: „Es sein vil guter ordnungen usgangen, werden nit gehalten. Wo das huren, saufen und an15 der sunde abgestelt, wurde sich die widerteufer auch bessern und bekeren.“ Ähnlich äußerte sich auf der Sitzung auch der Kasseler Hofprediger Dionysius Melander: „[…] auch das volk zu besserung ermanet, auch daruber gehalten wurde, das alle laster gestraft werden, darmit die widerteufer von uns kein ursach nemen, ein neu kirch ufzurichten, und die wiederteufer auch ermanet und freundlich underricht wurden.“16 Man kann davon ausgehen, dass der Landgraf zwar von den beiden Sakramenten Taufe und Abendmahl die schriftgemäßen Ansichten hören wollte, dass er aber der Zwingli’schen Auffassung näherstand als der Luthers. Neben der Ethik als Maßstab hegte er wohl auch aus diesem Grund gewisse Sympathien für die Täufer, weil auch sie Luthers Position ablehnten. So unternahm Philipp den Versuch, die in Marburg gefangenen Täufer für die Kirche „zurück“zugewinnen. Bucer war dazu ausersehen, diese Aufgabe zu bewerkstelligen, was ihm mit Bravour gelang. Es 13 14 15 16
Christoph von Rommel, Philipp der Großmütige, Landgraf von Hessen, III. Band Urkunden, Gießen 1830, 40. UQHR, 43. A.a.O., 134. A.a.O., 135.
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müssen jetzt keine Einzelheiten dargelegt werden, sondern es sollen kurz die Ergebnisse vorgestellt werden. 4.2
Zur Frage der Taufe
Man kann im Protokoll an zwei Stellen eine Art Zusammenfassung der Darlegungen Bucers erkennen. Die erste lautet: „Die ordenung der aposteln ist gewesen, die alten zu taufen der ordenung, wie sie Jorg17 angezogen, die kinder aber nach ordenung der beschneidung, und sol man die kinder, wan sie erwachsen, treuelich catagisieren und leren halten alles, was der herr bevolhen hat.“18 An der zweiten Stelle sagt Bucer: „Und ist das unser grund [sc. für die Kindertaufe]: wie die juden angenomen, also seind wir und unser kinder mit dem sacrament der widergeburt auch angenomen.“19 Schnabel hatte in seinen Ausführungen den ganzen Reichtum der neutestamentlichen Bilder und Aussagen von der Taufe dargelegt.20 Dem konnte sich Bucer nicht entziehen und konzediert Schnabel, dass er die Ordnung der Apostel dargestellt habe. Das Entscheidende ist jetzt, dass Bucer die eine Taufe in zwei Taufordnungen zerlegt und dass er die Kindertaufe durch ein Analogiedenken zu retten sucht: Wie die Frauen nicht vom Abendmahl ausgeschlossen werden, bloß weil bei der Einsetzung des Abendmahls keine Frauen dabei waren, und es im Neuen Testament keinen ausdrücklichen Befehl gebe, und so wie die Kinder zum Volk Israel durch das Bundeszeichen der Beschneidung gezählt werden, so werden auch die Kinder nicht vom Sakrament der Wiedergeburt ausgeschlossen, sondern dadurch zum Volk Gottes gezählt. Bucer muss auch zugeben, dass keines seiner Argumente tatsächlich im Neuen Testament zu finden ist. Die Methode der Analogie führt ihn dazu, das zu rechtfertigen, was bestehende Gepflogenheit ist. Für ihn ist nur zu Beginn der Kirche die apostolische Taufe der Gläubigen durchführbar gewesen. Sobald aber die Alten durch die Taufe der Kirche einverleibt sind, gehören auch die Kinder durch das Sakrament der Wiedergeburt dazu. Bucer konnte sich freilich auch hier Argumenten der Täufer nicht verschließen, wenn es um Missbräuche im Zusammenhang der Taufe geht, wie „Gevatter bitten, fressen und saufen“, was Bucer auch verdammte oder wenn er zugab, dass die Kinder, wenn sie erwachsen geworden sind, katechisiert werden müssen. Damit schälte sich eine Ordnung heraus, die bei der in Analogie zur Beschneidung eingestuften Säuglingstaufe als Wiedergeburt ansetzt, die zugleich Gliedschaft am Leib Christi und identisch mit Gliedschaft im gesamten, getauften Volk ist. In der Phase 17 18 19 20
Es handelt sich um den Wortführer der Täufer, Georg (oder Jörg) Schnabel, der zuvor seine Auffassung von der Taufe dargelegt hatte. A.a.O., 226. A.a.O., 227. Liest man die Ausführungen, fühlt man sich an die Eingangsparagraphen der Lima-Erklärung zur Taufe erinnert.
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des Erwachsenenwerdens der Getauften erfolgt dann eine Unterweisung und die Konfirmation als Taufvollendung. Diese Ordnung kennt klar zu unterscheidende Schritte. Schnabels Ausführungen liefen auf eine andere Ordnung hinaus, deren Merkmale mit der Predigt des Evangeliums einsetzt, was zu Buße und Glauben führen kann. Die ungetauften Kinder werden christlich erzogen, sodann, wenn sie ihren entsprechenden Willen bekunden, getauft, was Gliedschaft am Leib Christi und Absonderung von der sündigen Welt einschließt. Diese Aufzählung ist nicht unbedingt im Sinne einzelner Schritte aufzufassen, weil etliche Faktoren ineinan21 derfließen können. Es bleibt aber festzuhalten, dass das zweite Marburger Religionsgespräch als erstes Ergebnis zur Einführung des Konfirmandenunterrichts als eines nachgeholten Taufunterrichts führte, der in der Konfirmation gipfelte. Dies gelang, weil Bucer nicht von einer Taufe ausging, sondern von zwei unterschiedlichen Taufen, wobei für die Gegenwart die Säuglingstaufe als einzige und allein gültige Taufform in Frage kam. Das war er der Tradition und seinem Auftraggeber schuldig. Für die Täufer schien es zu genügen, dass der Taufunterricht eine christliche Erziehung ermöglichte. Freilich waren damit nicht alle Fragen gelöst, insbesondere nicht die Gestalt der Kirche, was wiederum mit der Ethik aufs Engste verflochten war. 4.3
Die ethische Dimension
Immer und immer wieder tauchen in den Täuferakten Beschwerden und Klagen darüber auf, wie wenig die Menschen christlichen Maßstäben genügen. Fluchen, Huren, Fressen, Saufen, Büberei, Räuberei und Diebstahl, Wucherzinsen sowie zänkisches und abgöttisches Wesen werden oft genannt und zwar nicht nur von Täufern, sondern auch von ihren Gegnern. Bucer klagt sogar die Pfarrerschaft an, dass sie zu lässig mit der Seelsorge umgehe, zu unfreundlich sei und ihr Amt nicht mit ganzem Ernst versehe. Insbesondere dass öffentliche Sünder zum Abendmahl gehen konnten, ohne Buße getan zu haben, war den Täufern ein Dorn im Auge. In seinem Gespräch mit dem Marburger Täufer Herman Bastian wird die ethische Frage von beiden Seiten auf die Formel gebracht, dass es wahr sei, „wo gar kein zucht und ban ist, da ist auch kein gemein“ (Bucer) oder: „Nu konne aber auch die 22 kirch one ban und one glauben nit sein“ (Bastian). Dieser Grundgedanke, dass eine Kirche auch Maßnahmen der Aufsicht und der Zucht bis zum Ausschluss, dem Bann, ergreifen kann, führte zu der sog. Ziegenhai21
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Bei seiner Vernehmung im November 1531 sagte der Vachaer Bürger Hans Werner [oder Wagner], Rinck habe sie gelehrt, dass die Kindertaufe von Menschen erdacht worden sei zu der Zeit, als „man weiber den geistlichen verboten. Item Kinder haben keinen glauben [sc. weil der aus dem Hören folgt]; darumb sollen sie nit getauft werden. Item ein kind sei kein christ, […] sol aber zu einem gezogen werden etc. und sollen, wie [die] alten, zuvor durch das wort gelart werden; daraus volg glaub, darnach tauf etc., dan mit dem herzen wert gegleubt und durch das bekenntnius kom man zur seligkeit.“ (A.a.O., 46). A.a.O., 234.
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ner Zuchtordnung, wie sie vom 25. bis 30. November 1538 zu Papier gebracht wurde. Bezeichnend ist, dass einer der in Marburg mit Bucer im Gespräch hervorgetretenen Täufer, Peter Tesch, mit den führenden Landestheologen zusammentraf, um sein Einvernehmen zu sichern.23 Das war ganz im Sinne Bucers, der darin eine besondere Chance des Gelingens der Integration der Täufer in die hessische Kirche sah, wenn die Anführer in den Prozess eingebunden werden könnten: „Wo aber uns der herre nun helfen wölte, durch ire selb fursteher, warlich, da wirde etwas geschaffet werden“. Für Bucer war dies umso dringlicher, als er erfahren musste, dass mehr Täufer im Land seien, als er bisher angenommen habe, „und under denselbigen fil gutherziger leut“24. Diese Auffassungen wurden auch von Philipps Kanzler Feige bestätigt.25 Die Ziegenhainer Zuchtordnung gefiel nicht in allen Punkten dem Landgrafen, dennoch stellte sie den Versuch dar, die im Dialog zwischen Bucer und den Täufern gezeitigten Ergebnisse in eine Ordnung zu fassen. Der evangelische Laie erkannte, dass die Durchführung einer „Zuchtordnung“ erhebliche Unruhen in der Bevölkerung auslösen würde, und weil nicht alle Pfarrer geeignet seien, Gemeindeglieder zu disziplinieren, sollte vorerst nur in Kassel und Marburg versuchsweise begonnen werden. Philipp sah, dass die Kirche anders hätte strukturiert werden müssen, um eine Zucht zur Anwendung zu bringen. Ansätze dazu gab es auch, weil sich auch die Aufgabe stellte, die auf Pfarrer zentrierte Kirche auf eine breitere Basis zu stellen, weshalb in dem Amt des Ältesten den Pfarrern Helfer zur Seite gestellt werden sollten. Diese Laien sollten sogar mit den Aufgaben des Katechismus-Unterrichts betraut werden und über der Ehrbarkeit des christlichen Lebens der Gemeindeglieder wachen. Die „Zucht“ hat daher das Ziel, nicht nur die Täufer zu integrieren, was gelang, sondern auch das Gemeindeleben zu beleben und zu stärken. Der Landgraf machte sogar den Versuch, auch seinen früheren und jetzt im Gefängnis schmachtenden Gesprächspartner Melchior Rinck umzustimmen, indem er am 26. Dezember dem Statthalter zu Marburg befahl, Peter Tesch zu Rinck zu schicken und mit „ime vleissig reden wolle […], ob er ine auch uf di meinunge, der 26 Tasch und sein mitgesellen sein, bringen mochte“ . Als dies jedoch fehlschlug und Rinck standhaft blieb, war offenbar Bucer zu Rinck gereist; denn der Landgraf schreibt am 17. März 1540 an Bucer: „so vil die bewarung des Rincken betrifft, haben wir abermaln […] bepholen, inen in glindere haft zu setzen und im derwegen eignes gemach zu bauen“. Für diese „christliche verwilligung“ bedankt sich Bucer beim Landgrafen am 25. März 1540.27 Das zweite Marburger Religionsgespräch, an dem der Landgraf nicht persönlich teilnahm, sich aber unterrichten ließ, war auf seine Initiative zustande gekom23 24 25 26 27
A. Uckeley, Kirchenordnungen (wie Anm. 7), 33. UQHR, 241. A.a.O., 211. A.a.O., 261. A.a.O., 270.
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men. Offenbar hatte er nicht nur gewisse Sympathien für die Täufer, sondern fühlte sich auch für sie als seine Landeskinder verantwortlich. Wenngleich er ihnen nicht zugestehen konnte, eine eigene Kirche aufzurichten, unternahm er dennoch viel, um sie für die Territorialkirche zu gewinnen. Ein bleibendes Signum dieses Versuchs war die Einführung einer Unterweisung in den christlichen Glauben für die heranwachsende Jugend, die zuvor die traditionelle Neugeborenentaufe empfangen hatte. Bei der Frage der Einführung von Disziplinarmaßnahmen oder gar des Banns, d.h. des Ausschlusses aus der Gemeinde, blieb Philipp mit Blick auf die Landeskinder zurückhaltend. Hier überwog offenbar die politische Raison gegenüber theologisch-ethischen Überlegungen. Die Ethik spielt in einer speziellen Frage eine große Rolle: der Doppelehe des Landgrafen. 5.
Die Doppelehe des Landgrafen
Der Landgraf hatte in einer für ihn misslichen Lage auch die Heilige Schrift zu Rate gezogen. Es ging um seine Ehe mit Christine von Sachsen, mit der er seit dem 11. Dezember 1523 verheiratet war, von der er aber behauptete, sie sei hässlich, unfreundlich und zudem noch von üblem Geruch. Daher habe seine Ehe auch keine drei Wochen gehalten, weil er von da an fortgefahren habe, in zahlreichen außerehelichen Affären seine Befriedigung zu suchen. Je länger, desto deutlicher stand ihm freilich vor Augen, dass Paulus davon spricht, kein Hurer oder Ehebrecher werde das Reich Gottes ererben. Infolgedessen widersetzte er sich auch der Ermahnung seitens der Wittenberger Theologen, zum Abendmahl zu gehen. In der Heiligen Schrift las er, dass er angesichts seines Lebenswandels nicht mit gutem Gewissen zum Abendmahl gehen konnte, es sei denn, er würde sich selber den Leib 28 des Herrn zum Gericht essen und trinken (I Kor 11,29). Welche Lösung verfolgte Philipp? Schon früh, nämlich Ende 1526, hatte er Luther die Frage vorgelegt, ob es erlaubt sei, mehr als eine Ehefrau zu haben. Was zu der Zeit noch als „theoretische“ Möglichkeit zur Diskussion stand, wurde dann 1539/1540 aufgrund praktischer Überlegungen und in einem komplizierten Verfahren Wirklichkeit. Infolge erneuter Erkrankung an Syphilis sann der Landgraf auf eine moralische Besserung seines Lebens. Auf Vermittlung von Martin Bucer gelang es, die seelsorgerlich motivierte Zustimmung der Wittenberger Theologen zu einer Zweitehe zu erreichen. Seine Frau Christine gab ihre Einwilligung ebenso wie die Mutter des ausersehenen, erst 17-jährigen Hoffräuleins Margarethe von der Saale, so dass am 4. März 1540 im Schloss in Rotenburg an der Fulda die Ehe28
Gury Schneider-Ludorf, Der fürstliche Reformator (wie Anm. 4), 191 hält diese „Legitimationsstrategie“ des Landgrafen angesichts der fünf Söhne und der fünf Töchter, die Christine zwischen 1527 und 1547 zur Welt brachte, für wenig überzeugend. Das mag sein. Andererseits gibt es keinen Grund, an der Aufrichtigkeit des Landgrafen zu zweifeln, was sein schlechtes Gewissen betrifft. Ansonsten sind die Ausführungen von Schneider-Ludorf zu der Bigamie des Landgrafen sehr differenziert und einleuchtend, a.a.O., 190–198.
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schließung vollzogen wurde. Der Landgraf hatte mit der Heiligen Schrift argumentiert, dass etliche Väter und Könige des Alten Bundes mehrere Frauen hatten und dass die Vielehe nirgendwo im Neuen Testament ausdrücklich verboten sei. In bestimmten „Not“fällen sah Philipp die Bigamie als vor Gott vertretbar.29 Sie einzugehen war für den Landgrafen wie der Eintritt in ein neues Leben, weil das, was seinen Körper und sein Gewissen belastet hatte, jetzt überwunden schien. Weder verheimlichte er die Zweitehe, wie es Bucer und die Wittenberger gern gesehen und es ihm auch geraten hatten, noch wich er, wie es in seinen Kreisen üblich war, auf ein Konkubinat aus. Wenige Wochen nach Eingehen der Zweitehe, zu Ostern 1640, ging der Landgraf öffentlich in der Gemeinde in Rotenburg zum Abendmahl, was er eine Woche später Luther anvertraute. Seit dem Bauernkrieg habe er, von einer Ausnahme abgesehen, wieder mit fröhlichem Gewissen den Leib und das Blut des 30 Herrn genossen. Mit Fug und Recht kann man an dieser Stelle fragen, ob das Eingehen der Doppelehe Ausdruck des evangelischen Laien ist. Diese Frage ist oberflächlich zu verneinen. Allerdings zeigt sich an dem Vorgang, dass Philipp durchaus auf sein Gewissen zu hören bereit war und dass sich dieses Gewissen an der Heiligen Schrift geschärft hatte. Daher befielen ihn wegen seines ausschweifenden Lebenswandels und weil er dadurch kein Vorbild für seine Landeskinder war, heftige Skrupel. Die Tatsache, dass er bald nach dem Eingehen seiner zweiten Ehe öffentlich wieder zum Abendmahl ging, zeigt, dass er seine Absicht ernst nahm, von Hurerei Abstand zu nehmen und sein Gewissen nicht wieder zu belasten. Außerdem spricht es für die Ehrlichkeit des Landgrafen, dass er sein Vorgehen nicht heimlich ausführte, sondern sich mit seiner neuen Schwiegermutter Anna von der Saale darin einig war, die Zweitehe auch öffentlich zu vertreten. Freilich bleibt die Frage, ob er sein Verhalten einfach nur seiner Stellung verdankte und ob er seinen Landeskindern in derselben „Notlage“ auch dieselbe Konzession zugestanden hätte, und es bleibt die sehr viel weitreichendere Frage, ob er die Konsequenzen seiner Handlung tatsächlich überlegt hatte oder ob er meinte, dass die Rückendeckung aus Wittenberg sozusagen mit einem päpstlichen Dispens vergleichbar wäre und er dadurch vor Kaiser und Reich im Reinen sein könnte. Die Schwierigkeit, ja die lebensbedrohende Lage, in die er sich manövriert hatte, lag an dem Rechtsproblem der Bigamie. In der „Constitutio Criminalis Carolina“, die Philipp zuvor in Hessen eingeführt hatte, stand Bigamie unter Todesstrafe. Daher hatte sich Philipp mit seinem Schritt Kaiser Karl V. ausgeliefert. Er musste gewissermaßen bei dem Kaiser zu Kreuze kriechen, um sein Leben zu retten. Jedes
29
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In seiner „Reformation und gemeine Landesordnung“ von 1537 hatte Philipp verfügt: „Item welcher glaubt oder heldet, das ein christenmanauf ein mal mehr dan ein eheweib haben möge […], dieselbigen alle irren im glauben und seint in unser christlichen gemeine nicht zu gedulden, wie das alles hiebevor durch göttliche schrift widerlegt ist […].“ UQHR, 141. William W. Rockwell, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, Marburg 1904, 44.
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kirchengeschichtliche Lehrbuch31 gibt Auskunft über die verheerenden Folgen der Doppelehe für die reformatorische Sache, fehlte doch von da an die treibende Kraft des Schmalkaldischen Bundes. Die unmittelbaren Folgen waren, dass der Schmalkaldische Bund keine Bündnisse mit Frankreich oder England eingehen konnte, dass der Herzog von Cleve besiegt und die Reformation in seinen Gebieten rückgängig gemacht wurde und dass die geistlichen Gebiete Köln und Münster katholisch blieben. Auf längere Sicht war dadurch der Schmalkaldische Krieg unabwendbar geworden. Diese Umstände werfen einen langen Schatten auf das Wirken des evangelischen Laien, der außerdem in die Gefangenschaft des Kaisers kam und daher auch persönlich die verheerenden Folgen seines Schritts durchleben musste.
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Wahllos sei verwiesen auf Kurt Dietrich Schmidt, Grundriss der Kirchengeschichte, Göttingen 1984, 347f.
8
Erweckungs-Predigt? Die Hermannsburger Erweckung – ein Predigterfolg? Andrea Grünhagen Immer wieder ist das Phänomen „Erweckung“ als eine Frucht der Predigten von Louis Harms geschildert worden. So stellt Hugald Grafe, von dem das noch immer nicht überholte Buch zur Predigtweise von Louis Harms stammt, fest: „Aber in wenigen Gegenden geht das Erwachen der Frömmigkeit auf breiter Ebene so spürbar auf die Predigtwirksamkeit eines einzelnen zurück wie in der Lüneburger Heide und weit über ihre Grenzen hinaus. Die Erweckungsbewegung in Hannover, die hier verhältnismäßig spät einsetzt, ist auf ihrem Höhepunkt und in ihrer konfessionellen Phase ohne die Predigt von Ludwig Harms nicht zu denken.“1 Andere haben Vergleichbares gesagt. Aber waren es wirklich nur oder hauptsächlich seine Predigten, durch die die Erweckung ausgelöst wurde? Dies ist die Frage, die mich seit einiger Zeit bewegt und zu diesen Ausführungen angeregt hat. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung anhand der Heiligen Schrift. In Röm 10,17 heißt es: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ Durch das Nachdenken über die Ausführungen, die Christoph Barnbrock in seinem „Hörbuch“2 zu diesem Bibelvers, speziell zur Bedeutung des Hörens (der Predigt) macht, entstand bei mir eine Rückfrage. Bei aller Bewunderung für das Vertrauen in die Alleinwirksamkeit des Wortes Gottes gemäß dem biblischen Zeugnis und der der lutherischen Theologie sicher angemessenen Hochschätzung der Predigt – was ist mit den Dimensionen oder Phänomenen, die die Verkündigung des Wortes Gottes umgreifen und begleiten? Es geht mir bei diesem Nachdenken nicht um die Scheinalternative zwischen Predigt und Sakrament, wenngleich durch das Sakrament als verbum visibile die Beteiligung anderer menschlicher Sinne über das Hören hinaus unzweifelhaft gegeben ist. Sondern ich habe begonnen mich zu fragen, was es in diesem Zusammenhang bedeutet, wenn in Bezug auf die Predigt der Apostel von „mitfolgenden Zeichen“ (Mk 16,20) die Rede ist, die das Wort bekräftigen. Für die Predigt Jesu ist dies besonders im Matthäusevangelium gut zu beobachten. In zusammenfassender Weise kann zunächst gesagt werden: „Und er [Jesus, AG] zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen im Volk.“ (Mt 4,23) Und auf die Frage Jo1 2
Hugald Grafe, Die volkstümliche Predigt des Ludwig Harms, Göttingen 1965, 7. Vgl. Christoph Barnbrock, Hörbuch, Göttingen 2016, 34–38.
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hannes des Täufers lässt Jesus ausrichten: „Geht aber hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht […]“ (Mt 11,4, Hervorhebung AG) Es könnte also durchaus sinnvoll sein, neben dem Hören auch auf das Sehen zu achten. Offensichtlich gilt dieses Neben- und Ineinander nicht nur für die Predigt Jesu, sondern auch für die seiner Apostel. Bei der Aussendungsrede an die Zwölf heißt es in Mt 10,7: „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus.“ Haben wir uns vielleicht schon so sehr an den Gedanken gewöhnt, dass das nahende Gottesreich sich zur Zeit Jesu eben in den genannten Phänomenen konkretisierte, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie Predigthörer darunter leiden, dass sie das Gefühl haben, nur zu hören und nichts konkret zu sehen? Und ist dies im Falle einer Erweckung nicht anders? Also am Beispiel Hermannsburg im 19. Jahrhundert: von Louis Harms werden weder Krankenheilungen noch Exorzismen berichtet, es geht nicht um etwas vordergründig Sehenswertes, weil Spektakuläres. Es ist ja ein Spezifikum der Hermannsburger Erweckung, dass die Phänomene gerade nicht außergewöhnlich sind, sondern sich in den bestehenden Kontext einfügen. Aber einige interessante Beobachtungen sind in dieser Hinsicht doch zu machen. Auf den Gedanken gestoßen bin ich durch ein Zitat aus der Lebensbeschreibung, die Theodor Harms über seinen Bruder verfasst hat. Da heißt es, als Theodor versucht in Worte zu fassen, wie es zum „Erfolg“ seines Bruders kam: „Es kamen seine gewaltigen Glaubenspredigten, dazu sein heiliger Ernst im Wandeln nach Gottes Wort, seine mächtigen Gebete, seine volkstümliche Art mit den Leuten zu verkehren, seine herzgewinnende Freundlichkeit, seine Liebe gegen 3 die Kranken und Armen, daß es kein Wunder war, daß aller Herzen ihm zuflogen.“ Die „Glaubenspredigten“ stehen am Anfang. Neben die Wirkung der Predigt tritt die asketische Ausstrahlung bzw. Authentizität des Predigers, seine außergewöhnliche Spiritualität, seine sozialen Fähigkeiten im Umgang mit den Gemeindegliedern und ein gewisses Maß an diakonischem Engagement. Da hat man in gewisser Weise die Zutaten für einen Erweckungsprediger, die sozusagen mitpredigen, beisammen. 1.
Louis Harms
Aber wer war dieser Erweckungsprediger eigentlich? Georg Ludwig Detlef Theodor Harms, genannt Louis, wurde am 5. Mai 1808 in Walsrode geboren. Im Jahr 1817 zog seine Familie nach Hermannsburg, wo sein Vater, Christian Harms, die zweite Pfarrstelle übernahm. Louis Harms wuchs mit neun Geschwistern auf, darunter auch sein Bruder Theodor, geboren 1819. Louis Harms studierte von 1827–1830 Theologie in Göttingen. Von 1830–1843 war er Hauslehrer in Lauenburg bzw. Lüneburg. Das war auch für damalige Verhältnisse eine ungewöhnlich lange Zeit. Endlich, 1844, wurde er ordiniert und als Hilfsprediger seines alternden Vaters 3
Theodor Harms, Lebensbeschreibung des Pastor Louis Harms, Hermannsburg 1868, 68.
Erweckungs-Predigt?
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nach Hermannsburg geschickt. 1848 berief ihn die Gemeinde nach dem Tod des Vaters. Schon während seiner Zeit als Hilfsprediger begann das, was man später die Hermannsburger Erweckung nannte. Was diese Erweckung besonders macht, ist, dass sie von einer konfessionellen Bewusstwerdung oder Gewisswerdung, sozusagen einem Erwachen auch in Fragen des lutherischen Bekenntnisses getragen und umfangen war. 1849 gründete Louis Harms die Hermannsburger Mission. 1851 wurde das erste der später berühmt gewordenen Missionsfeste gefeiert. 1853 konnten die ersten Missionare nach Afrika ausgesandt werden. 1854 beginnt Louis Harms mit der Herausgabe des Hermannsburger Missionsblattes. 1861 wurde das zweite Missionshaus gebaut. Gestorben ist Louis Harms am 14. November 1865 in Hermannsburg. 2.
Die Hermannsburger Erweckung und ihre spezielle lutherische Prägung
Schon während Louis Harms’ Zeit als Hilfsprediger, also ab 1844, kam es im Kirchspiel Hermannsburg zu Veränderungen des kirchlichen und persönlichen Lebens. Bereits im Kirchen- und Schulbericht 1846/1847, den er an Stelle seines Vaters als Jahresstatistik für den zuständigen Superintendenten schreibt, konstatiert er: „Die Religionskenntnisse sind durchweg gründlich. In der Bibel wird fast in allen Häusern täglich gelesen; fast allenthalben findet sich eine fleißig gebrauchte Hauspostille; die Augsburgische Konfession ist meist gründlich bekannt und fast in jedem Hause eine kleine religiöse Bibliothek. […] Es herrscht zunehmende Empfänglichkeit für Belehrung sowohl in der Religion, als in anderen Kenntnissen. Die Gnadenmittel werden fleißig gebraucht. Die Zahl der Kommunikanten, die 1844 2100 betragen hatte, 1845 auf 2761 gestiegen war, hat sich im letzten Jahre auf 3041 belaufen. Hausandachten werden in allen Häusern, 2 ausgenommen, gehalten. Der Sonntag wird streng geheiligt, der Gottesdienst zunehmend fleißig besucht. […] Das sittliche Betragen ist sehr befriedigend. Es wurde nur ein uneheliches Kind geboren; es ist in der Gemeinde nur ein Mann vorhanden, der zuweilen der Trunksucht sich schuldig macht; es ist kein Ehestreit, geschweige denn eine 4 Ehescheidung vorgekommen.“
Dieser Bericht beschreibt alle Elemente der kirchlichen Erweckung, wie sie für den Hermannsburger Kontext üblich wurde. Dazu gehörte die Einführung oder Neubelebung der Hausandacht in den Familien, bei der gemeinsam in der Bibel gelesen, gesungen und gebetet wurde. Der Gottesdienstbesuch und die Kommunikanntenzahlen stiegen zunächst sprunghaft und dann kontinuierlich an, bis sie bei 8759 Abendmahlsgängen im Jahr 1864 lagen. Bedenkt man, dass das Kirchspiel Hermannsburg in diesen Jahrzehnten zwischen 2000 bis 2500 Seelen zählte, kann man dies eigentlich noch nicht als einen häufigen Abendmahlsempfang aus heuti4
Kirchen-und Schulbericht für das Jahr 1846/1847 IC, Hermannsburg Specialia Kirchenkreisarchiv Soltau/A111, Pfarrarchiv St. Peter und Paul Hermannsburg Geschäftsberichte; auch zitiert bei: H. Alpers, Auf den Spuren von Ludwig Harms, 163f.
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ger Sicht bezeichnen, obwohl jeden Sonntag Abendmahl gefeiert wurde. In den späteren Jahren kamen ja auch noch zahlreiche Gäste von auswärts dazu. Offensichtlich war der Anstieg der Abendmahlsbeteiligung, des Gottesdienstbesuches und damit des Spendenaufkommens jedenfalls schon in der Anfangszeit merklich. Der Sonntagsheiligung galt Louis Harms besonderes Bemühen, auch wenn an diesem Punkt „seine Beweisführung nicht streng lutherisch war“5, wie sein Bruder Theodor einmal anmerkte. Nach und nach entwickelte er ein geistliches Programm für den ganzen Sonntag, welches den positiven Nebeneffekt hatte, dass keine Zeit für weltliche Vergnügungen blieb, diese aber auch nicht vermisst wurden. Weitere Aspekte sind die persönliche Bibellese, und allgemein die Beschäftigung mit religiösen Inhalten. Damit einher ging das, was Harms immer wieder unter dem Stichwort „Heiligung“ einschärfte und vorlebte, nämlich die Durchdringung und Bestimmung des ganzen Lebens nach christlichen Maßstäben. 3.
Amt und Gnadenmittel
Dazu kam die konfessionelle Dimension der Erweckung. Auch wenn Louis Harms sich besonders in den Predigten zu Beginn seiner Amtszeit eines pietistischerwecklichen Vokabulars bedient, trägt immer mehr eine konfessionell-bewusste Grundströmung die Erweckungsbewegung. Ich möchte hier nur die Aspekte herausgreifen, die für das Thema „Predigt“ wichtig sind. Besonders deutlich wird diese lutherische Grundhaltung bei Louis Harms in seiner Hochschätzung der Gnadenmittel, zu denen er das Wort Gottes bzw. die Predigt, das Abendmahl, die Taufe und 6 die Beichte zählt. Fragt man, wie er selbst das Verhältnis von Predigt und Sakrament gesehen hat, so ist man überrascht. Wer hätte einem „Erweckungsprediger“ einen solchen Satz zugetraut: „Durch die Predigt werden den Menschen die Gnadengüter angeboten und mitgetheilt, […] aber in den heiligen Sakramenten wird ihnen das Heil dargeboten und mitgetheilt in anderer Weise, so daß sie es in Predigt und Sakramenten ganz und vollständig haben, wie sie es bedürfen in ihrem Leben und Stande in Christo.“7 Seine Auffassung kann sogar so weit gehen, dass er unter dem Gnadenmittel des Wortes das Wort Gottes in seiner quasi verdichteten Form im Wort der Absolution verstehen kann: „Merket euch diese drei Gründe, meine Lieben, Taufe, Gottes Wort welches du hörst in der Absolution, und Abendmahl; dieses ist der einzige gewisse Grund der Seligkeit.“8 Inhaltlich aufs engste verbunden mit der Überzeugung, Wiedergeburt und Bekehrung der Menschen geschehe durch die Gnadenmittel, ist Louis Harms Amtsverständnis. Er achtete das Predigtamt so hoch wie kaum ein anderer der geistli5 6 7 8
Th. Harms, Lebensbeschreibung (wie Anm. 3), 73. Vgl. Louis Harms, Nachlaßpredigten über die Episteln des Kirchenjahres, hg. v. Theodor Harms, 2 Hermannsburg 1872, 39. Louis Harms, Festbüchlein, hg. v. Theodor Harms, Hermannsburg 1871, 267. Louis Harms, Katechismuspredigten, hg. v. Theodor Harms, Hermannsburg 1886, 210.
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chen Väter der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, nur vergleichbar mit Wilhelm Löhe und August Vilmar. Auch dazu wieder ein Zitat: „Da sagt der Apostel dreimal in einem Athem hintereinander, daß die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist, völlig unnütz sei ohne das Predigtamt. Christus hat wohl die Versöhnung erworben, aber mitgetheilt wird sie uns durch das Predigtamt. […] Daher haben wir unter allen Wohlthaten, die Gott uns gegeben hat, keine so sehr zu rühmen als das Predigtamt; denn ohne dasselbe wäre die Erlö9 sung Jesu Christi für uns ganz unnütz.“
Es bleibt zunächst zu konstatieren, dass diese Prägung der Hermannsburger Erweckung (liturgisch, sakramental, geprägt von einem hohen Amtsverständnis) sich nicht durchgehalten hat, da die Freikirchenbildung im Königreich Hannover maßgeblich von seinem Bruder und Nachfolger Theodor Harms geprägt wurde, der andere Akzente setzte bzw. in Bezug auf Amt und Gemeinde auch andere Ansichten vertrat. Bleibend war aber das erwachte konfessionelle Bewusstsein in Bezug auf die Lehre der lutherischen Kirche, wie sie im Konkordienbuch enthalten ist. 4.
Die Bedeutung der Postillen
Zunächst stellt sich ja die Frage, warum Louis Harms als ein so bedeutender Prediger wahrgenommen wurde. Die erste Antwort darauf ist recht schlicht und empirisch: weil er uns fast nichts anderes Schriftliches hinterlassen hat als Predigten. Abgesehen von einem umfangreichen Briefwechsel, zahlreichen Ausführungen im Missionsblatt und kleineren Gelegenheitsarbeiten. Anders als beispielsweise Vilmar und auch Scheibel schrieb und dachte er nicht für den universitären Diskurs oder Kontext. Und das liegt nicht daran, dass er ein minderbegabter Theologe gewesen wäre, sondern dass er sich für nichts Zeit nahm, was nicht unmittelbar mit seiner Arbeit als Gemeindepastor zu tun hatte (oder als Leiter der Mission, die er aber als eine Sache der Hermannsburger Gemeinde verstand). Er selbst hat zu seinen Lebzeiten einige Predigtsammlungen veröffentlicht. So hat er (auf Verlangen der Gemeinde – es gehört sich jedenfalls, es so zu behaupten) die „Sechs Predigten“ in Druck gegeben, Festtagspredigten, auch seine Antrittspredigt in Hermannsburg am 2. Advent 1844. Diese Predigten, noch dazu aus der Anfangszeit seiner Wirksamkeit, stellen authentische Ausarbeitungen dar, die nur geringfügig für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Ähnliches kann für die „Zwölf Predigten“ aus dem Jahr 1849 gelten. Die größte Wirksamkeit entfalteten allerdings die zwei großen Predigtbände, die er in den Jahren 1858–1860 10 bzw. 1862–1865 herausgegeben hat, die Epistel- und die Evangelienpredigten. Diese Postillen, entstanden auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit, sind aller 9 10
L. Harms, Festbüchlein (wie Anm. 7), 266f. Vgl. Louis Harms, Predigten über die Episteln des Kirchenjahres, Hermannsburg 1865; ders., Predigten über die Evangelien des Kirchenjahres, Hermannsburg 1860.
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Wahrscheinlichkeit für die Veröffentlichung konzipierte und auch formulierte Predigten, die vermutlich in einzelnen Fällen auf real gehaltene Auslegungen zurückgehen, aber keine Manuskripte oder Nachschriften sind. Die Postillen verschaffen uns einen Eindruck davon, was der Prediger Louis Harms hat sagen wollen, nicht, was er gesagt und wie er es gesagt hat. Und trotzdem waren die Postillen ein Erfolg und wurden bis ins 20. Jahrhundert gelesen. Sein Bruder und Nachfolger hat dann dafür gesorgt, dass immer weitere Predigtnachschriften veröffentlicht wurden. Die Wirkung der Predigtbücher, besonders der Epistel- und der Evangelienpostillen ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Heute ist uns der Gebrauch solcher Bücher fremd geworden. Vergleichbar ist vielleicht, dass Predigten im Internet zugänglich gemacht werden. Vergleichbar in dem Sinne, als dass dadurch die Möglichkeit eröffnet wird, an der Verkündigung teilzuhaben, ohne räumlich anwesend sein zu müssen. Für die Zeit von Louis Harms kann man es sich so vorstellen, dass Menschen damit ein Stück „Hermannsburg“ für Zuhause besaßen und wie das mit den sogenannten „Alten Tröstern“ war, so ein Predigtbuch war ein Schatz in den Familien, in dem sonntags gelesen wurde, wenn man nicht zur Kirche gehen konnte oder die Predigt des erreichbaren Pastors als wenig erbaulich erlebt wurde. Daraus ist dann eine Tradition geworden, die sich verselbständigt und irgendwann auch selbst überholt hat. (Allerdings war sie bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts noch lebendig in den Gemeinden der Lüneburger Heide, was bedeutet, dass das Lesen von Harmspredigten noch zur aktiven Erinnerung von Gemeindegliedern im mittleren Alter zählt.) 5.
Hagiographie?
Der zweite mögliche Erklärungsversuch für die Wahrnehmung von Louis Harms als Erweckungsprediger ist momentan noch mehr eine Vermutung. Könnte die als außergewöhnlich beschriebene Wirkung seiner Predigten beispielsweise ein hagiographisches Motiv sein, das quasi dazugehört? Sodass zur Erweckung notwendigerweise auch ein Erweckungsprediger gehört? Der Vergleich mit Johann Gottfried Scheibel liegt hier zum Beispiel nahe. „Ohne zu übertreiben, werden wir Scheibel 11 als den Erweckungsprediger Breslaus bezeichnen können.“ Von Scheibel wird berichtet, dass er als Diakonus an der St. Elisabethkirche in Breslau durch seine Predigten eine Personalgemeinde von „Beichtkindern“ sammelte, die rasch von 115 auf 900 Gläubige anwuchs, deren Seelsorger und Beichtvater er wurde. Das war sicher ein „Erfolg“, auch wenn man bedenkt, dass Breslau 1840 schon 97.664 Einwohner hatte, wovon 13.000 zur Parochie St. Elisabeth gehörten. Aber trotzdem wird Scheibel nicht in erster Linie als Prediger wahrgenommen, sondern als Theo-
11
Werner Klän, Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), in: Peter Hauptmann (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783– 1843), Göttingen 1987, 11–29, hier 16.
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loge. Dies liegt natürlich zum einen am weiteren Gang der Dinge, zum anderen aber an der Literatur, die uns von ihm überliefert ist. 6.
Wie hat Louis Harms gepredigt?
Kommen wir also zu der Frage, wie Louis Harms denn gepredigt hat. Ein guter Freund sagte einmal zu mir, es sei doch ein großer Trost für einen Pastor, dass Louis Harms mit seinen Predigten eine Erweckung ausgelöst habe, obwohl er doch gar nicht predigen konnte. Da ist etwas dran, jedenfalls sei es allen Studenten und Vikaren zum Trost gesagt, dass Louis Harms bei seinem zweiten Examen 1833 ein „fast gut“ für seine Predigt erhielt, im dritten Examen 1837 war es dann nur noch ein „mittelmäßig“ und er musste eine neue Predigt einreichen.12 Was allerdings an seiner an den Topoi Sünde und Gnade orientierten Predigtweise gelegen haben mag, die seine kirchlichen Vorgesetzten, die ja weitgehend vom Rationalismus geprägt waren, nicht goutierten. Die Lektüre seiner gedruckten Predigten ist mitunter ermüdend, was man allerdings auch von Scheibels Predigten behaupten kann, deren zum Teil pietistische Diktion sich recht eigentümlich mit wissenschaftlichen Diskursen mischt. Die Augenzeugenberichte sprechen jedoch dafür, dass Harms als Prediger polarisierte, überzeugte, abstieß – kurz gesagt, jedenfalls niemanden kaltließ. Und vielleicht ist das ja das höchste Lob, dass es wenigstens nicht langweilig war. Dabei hätte es durchaus langweilig werden können, bedenkt man die schiere Länge der Predigten. Eine Predigt am Sonntagvormittag dauerte damals in Her13 mannsburg etwa anderthalb Stunden, der ganze Vormittagsgottesdienst fünf Stunden, von 9.30 bis 14.30 Uhr. Es konnte sogar noch länger werden, falls es viele Kommunikanten gab oder Taufen stattfanden. Der Nachmittagsgottesdienst begann um 15.30 Uhr und dauerte wiederum drei Stunden. Dieser Gottesdienst war der Unterweisung im Katechismus und dem Abfragen desselben gewidmet. Dazu kamen dann als ein besonderer Brauch der Hermannsburger Erweckung die Abendversammlungen im Pfarrhaus. Dabei legte Louis Harms einen Seitentext zum Sonntagsevangelium aus, den er aus der plattdeutschen Bugenhagenbibel vorlas und auch die Predigt und die Aussprache darüber fanden in der plattdeutschen Sprache statt. Aber nicht nur sonntags hatte L. Harms Gelegenheit zum Predigen. Am Mittwoch fand der Wochengottesdienst statt. Am Samstagnachmittag gab es eine Vesper mit Beichte für die Kommunikanten des kommenden Sonntags. Dazu kamen Trauungen und Beerdigungen. Diese Predigtfülle lässt erahnen, warum Louis Harms nach den ersten Amtsjahren die Predigten allenfalls noch mit Stichworten, meistens jedoch völlig frei hielt. Die Beschwerden wegen der Länge der Gottesdienste waren zahlreich und Louis Harms wurde recht häufig sogar für seine Predigten verklagt, besonders auch,
12 13
Vgl. Gerhard Uhlhorn, Art. Ludwig Harms, ³RE VII (1899), 439–445, hier 440. Vgl. L. Harms, Predigten über die Evangelien (wie Anm. 10), 259.
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weil er die groben Sünden beim Namen nannte und dies als unflätig empfunden wurde. Er selbst sagt zu diesem Vorwurf: „Erkennet hieraus zuerst, dass öffentliche Ärgernisse öffentlich gestraft werden sollen, und der Prediger, welcher es nicht thut, ist ein stummer Hund und kein rechtschaffener Diener Christi […] Ja, mancher Prediger wagt es gar nicht mehr z.B. die Worte Hurerei, Ehebruch und dergleichen auf der Kanzel in den Mund zu nehmen, weil er ja sonst von den vornehmen Weltleuten für einen ungebildeten Mann würde angesehen werden. Und das ist wahr, es giebt eine Menge gebildeter Leute, namentlich aus den vornehmen Ständen, die das niederträchtigste Hurenleben führen trotz ihrer Bildung, aber wenn man das Wort Hurerei nennt, so be14 kommen sie Krämpfe und fallen in Ohnmacht vor lauter Bildung.“
An dieser Stelle ist übrigens noch einmal der Vergleich mit Scheibel angebracht. Wer hätte gedacht, dass die erste Predigt Scheibels, die im Druck erschien, den Titel trägt: „Dringende Ermahnung zur Ehre des Erlösers uns der sinnlichen Lüste zu enthalten.“15 Auch von Scheibel wird berichtet, er habe so schön anschaulich über die Sünde gepredigt. Nun ja, anschaulich war es bei L. Harms durchaus auch. Man darf nun allerdings nicht schließen, seine Predigten hätten sich in drastischer Kanzelschelte erschöpft. Ich möchte ihn an dieser Stelle einmal selbst zu Worte kommen lassen und aus einem Brief zitieren, den er an einen Pastor aus Mecklenburg geschrieben hat, der ihn um Rat gebeten hatte, was Predigt und Seelsorge anging: „Aber wie soll ich Ihnen Rath ertheilen? Ich kann es nicht in einem Briefe, kann es überhaupt nicht nach einer Theorie. Ich bin den Theorien so durch und durch feind, daß ich glaube, daß alles verkehrt angefangen ist, was nach Theorien geschieht. Ich lasse nur eine Theorie gelten, die des Heiligen Geistes. Mit des Heiligen Geistes Kraft, akkurat nach dem Worte getrieben von der Liebe Christi, und dann ohne weiteres darauf und daran, und gesprochen, wie einem der Schnabel gewachsen ist, und gethan, was man nicht lassen kann, und in jeder Seele eine Seele sehn, die Christus mit Blut erkauft hat, und die ihm gehört, und die man ihm wiedergewinnen muß, das, glaube ich, ist der frische Lebensweg. Predigen Sie rücksichtslos entschieden Gottes Wort, nehmen Sie keine Rücksichten, strafen Sie die Sünden und Gottlosigkeiten der Gutsbesitzer und Pächter, sie mögen da sein oder nicht, und die Sünden und Gottlosigkeiten der Tagelöhner, auch sie mögen da sein oder nicht, und beide mögen es übelnehmen oder nicht; nie kommt das Wort leer zurück. Malen sie Jesum Christum, und zwar dies vor allen Dingen, den Leuten vor die Augen, in seiner ganzen Kreuzesgestalt und Herrlichkeit, beten Sie in der Gemeinde brünstig um den heiligen Geist. Machen Sie ihre Predigten nicht, sondern erbeten sie sich auf den Knien Ihre Predigten […] Unter Gottes Wort muß sich alles beugen, und kein Verhältnis und keine Folgen dispensieren davon. Dabei bitte ich Sie, wandeln sie heilig, predigen Sie kein Wort, das sie nicht selber thun, 14 15
L. Harms, Predigten über die Evangelien (wie Anm. 10), 806. Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation, Göttingen 1985, 82.
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meiden Sie gänzlich alles, was nach der Welt schmeckt oder riecht. Und nennen Sie alles beim rechten Namen, daß man es mit Händen greifen kann, was Sie mei16 nen, so konkret wie möglich, damit es nicht über den Köpfen hingeht. […]“
Diesen Text hat Theodor Harms einmal „die schönste Pastoraltheologie“17 genannt. Er ist vor allem bemerkenswert, weil man nicht nur etwas über die Theorie hinter den Predigten von Louis Harms erfährt, sondern auch schön beobachten kann, wie man Theorien entwickelt, obwohl man denselben doch gänzlich feind ist. Louis Harms vermochte es, die Herzen seiner Zuhörer zu erreichen, was umso unerklärlicher ist, als dass er äußerlich kein glanzvoller Redner war. Sein Bruder hat es einmal so beschrieben: „Stand er vor dem Altar oder auf der Kanzel, fing er ganz sacht an, dass die Hintenstehnden ihn nicht völlig verstehen konnten, ruhig, fast tonlos, dazu die schmächtige, abgemagerte Gestalt. Aber bald kam er in Feuer, wanderte vor dem Altar auf und ab und immer mächtiger und gewaltiger wurde seine Rede, immer durchdringender seine Stimme, so daß sie oft überschlug, da war nichts Schönes, wie man es von einem Redner fordert, aber mein Bruder war auch kein Redner, sondern ein 18 Prediger von der Fußsohle bis zum Scheitel.“
Die Beobachtung, dass es gelegentlich hilfreich ist, wenn ein Prediger einen erfreulichen Anblick bietet und eine sympathische Ausstrahlung besitzt, scheint in Bezug auf Louis Harms nicht zuzutreffen. An diesem Punkt hat sein Bruder in der Lebensbeschreibung offensichtlich ein realistisches Bild gezeichnet, denn andere Augenund Ohrenzeugen berichten ganz Ähnliches. Elise Averdiek kam, angeregt durch zwei Freundinnen, die ihr von Louis vorgeschwärmt hatten, zu Besuch nach Hermannsburg. Sie schreibt: „Die Folge war, dass wir uns schon ein Bild gemacht hatten und nun eine Verlobungsanzeige erwarteten: ein junger Pastor mit guter Pfarre und zwei liebenswürdige Mädchen, da dachte man sich ja leicht eine Hochzeit als Ende vom Liede […] Der erste Eindruck dieser Erscheinung war ein beängstigender, und unwillkürlich sagte ich mir: Huch, ein Jesuit! […] Wo war der junge verlobte Pastor im vollen 19 Amt? – weg – Hier stand ein Gottesknecht und nur ein Gottesknecht.“
Dass ein gewisser Hauch von Askese natürlich ebenso anziehend wirkt bei einem Prediger ist also offensichtlich auch wahr. Allerdings kommt es dabei wohl auf Authentizität an. Soweit wir bisher gesehen haben, war Louis Harms aus homiletischer Sicht nicht leicht einzuordnen. Und trotzdem galt er als begnadeter Prediger und es ist unbestreitbar, dass seine Predigten enorme Anziehungskraft besaßen. Aber war die Erweckung deshalb ein Predigtphänomen? 16 17 18 19
Th. Harms, Lebensbeschreibung (wie Anm. 3), 96ff. Ebd. Th. Harms, Lebensbeschreibung (wie Anm. 3), 72. Elise Averdieck, Vom tiefen Strom und Quell des Lebens, HMB 121.
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7.
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Gottesdienst als Gesamtkunstwerk
Der evangelische Gottesdienst wird, zu Recht oder vielleicht auch eher zu Unrecht, mit der Predigt identifiziert. Schaut man sich aber einmal die Weise an, wie der „Erweckungsprediger“ Louis Harms Gottesdienste gefeiert hat, wird schnell deutlich, dass die Predigt dabei durchaus nicht alles ist. Und damit sind wir beim „Hören und Sehen“. Was sahen die Menschen, die zum Teil weite Wege auf sich nahmen oder sogar ihren Wohnsitz nach Hermannsburg verlegten dort? Zunächst einmal erlebten sie Gottesdienste. Stellen wir uns einmal einen solchen Menschen vor: Er ist zu Fuß mehrere Stunden unterwegs gewesen, nun betritt er die alte Peter-PaulKirche. Die Kirche ist überfüllt. Hermannsburger, Gäste aus der Umgebung, vereinzelt vornehme Leute aus Hamburg oder anderen Orten. Der Gesang ist mächtig. Louis Harms hatte es eingeführt, dass nicht mehr plan, sondern wieder rhythmisch gesungen wurde. Ein gemischter Chor singt, ein Posaunenchor begleitet die Lieder. Der Pastor betet auf Knien und seine Gemeinde tut es ihm nach. Er betet auch frei und sehr inbrünstig. Die alten liturgischen Wechselgesänge erklingen wieder, woanders sind sie schon lange abgeschafft. Auch die Taufen sind ganz anders. Sie finden in der Kirche statt, nicht daheim bei den Leuten. Der Pastor konsekriert das Taufwasser und er besteht auf der Teufelsentsagung. Die Predigt ist gewaltig, einfach und voller Bilder aus der Lebenswelt der Landbevölkerung. Bei der Abendmahlsfeier drängen sich die Kommunikanten am Altar, sie knien auf der Decke, die dort extra dafür ausgelegt wird. So etwas hat der gedachte Besucher noch nie gesehen, gehört, gespürt. Am Nachmittag erlebt der Gast, wie sich die Kirche wieder füllt zur Kinderlehre. Die Acht- bis Dreißigjährigen stehen dicht gedrängt um den Altar, der Pastor erklärt und fragt den Katechismus ab. Alles ist ganz praktisch und lebensnah. Wenn es nicht auf hochdeutsch geht, wechselt Harms ins Plattdeutsche, damit ihn auch das kleinste Kind versteht. Und abends haben die Leute immer noch nicht genug. Der Pastor öffnet sein Haus, dicht gedrängt sitzen und stehen alle im großen Hausflur. Der Pastor raucht seine Pfeife, es wird erzählt und gefragt, alles auf Plattdeutsch, man liest aus der Bugenhagenbibel, dann folgen erbauliche Erzählungen, dann Berichte aus der Mission. Man hört von fernen Ländern und was die Missionare dort alles bewirkt haben. Wollte man es modern ausdrücken, so könnte man sagen, Louis Harms habe es verstanden, aus dem Sonntag ein Event zu machen, zur Freude der Bekehrten und zum Leidwesen der Hermannsburger Wirte und der Nachbarpastoren. Die Menschen damals kamen kirchlich aus der Zeit des ausgehenden Rationalismus. Bei Louis Harms erlebten sie ein Kontrastprogramm: sie haben eben nicht nur seinen Predigten gelauscht, sie waren mit allen Sinnen beteiligt am Geschehen. Das machte gerade die Gottesdienste ja so besonders. Dazu kam sicher das Gefühl, an etwas Besonderem beteiligt zu sein. Teilhabe ist sicher ein wichtiges Stichwort. Da war die Musik. So ein Posaunenchor war etwas ungeheuer Innovatives damals. Menschen, die sonst in ihrem Kontext nie die Chance erhalten hätten ein Instrument zu erler-
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nen, waren auf einmal dadurch an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligt. Auch das Engagement für die Mission hat etwas mit Teilhabe zu tun. Durch das Missionsblatt und die Erzählungen von Louis Harms, die natürlich quasi aufbereitet waren für den Hörerkreis, erschloss sich den Missionsfreunden ein ganz neuer weiterer Horizont. Und es ist immer ein gutes Gefühl, an einer großen und wichtigen Sache beteiligt zu sein, und sei es mit der kleinsten Missionsgabe. Auch das Missionsblatt ist ein gutes Stichwort. Man kann daran lernen, wie wichtig es ist, seine Arbeit, besonders, wenn sie erfolgreich ist, laufend zu kommentieren – und so natürlich auch die Deutungshoheit zu bewahren, abgesehen von der Werbung, die das bedeutet. Heute würde man sagen, wenn man eine Vision hat, muss man sie auch vermitteln. Und um sie zu vermitteln muss man nah bei den Menschen, nah bei den Predigthörern sein. Louis Harms hat natürlich geholfen, dass er in Hermannsburg aufgewachsen ist, dass er Plattdeutsch sprach und vor allem, dass er seine Heimat liebte. Er hat sich ganz auf seine Gemeinde eingelassen. Es war ja auch z.B. Wilhelm Löhe Pfarrer einer Dorfgemeinde. Aber Löhe hat nie aufgehört, mit einem Auge nach Nürnberg oder Fürth zu schielen und mehr den Gästen aus der Großstadt und seinen Diakonissen gepredigt als den fränkischen Bauern. Das war bei Louis Harms anders. Es ist sicher richtig zu sagen: es war maßgeblich die Beschäftigung mit dem Wort Gottes, die die Hermannsburger Erweckung ausgelöst hat. Indem es Louis Harms gelungen ist, sozusagen in einem Komplettprogramm aus persönlicher Bibellese, Hausandacht, geistlichen Liedern, abendlichen Versammlungen im Pfarrhaus und den vielfältigen Gottesdiensten seine Gemeindeglieder zu einer Beschäftigung mit dem Wort Gottes zu bewegen, wurden die Veränderungen in Gang gesetzt. Seine Predigten waren ein Baustein in diesem Programm. Entscheidend war aber auch, dass in dem überschaubaren Kontext eines Heidedorfes die Veränderungen durch die Erweckung sichtbar waren. Gottesdienstbesucher konnten etwas von dem sehen, was sie in den Predigten hörten. Es kam quasi ein Zirkel von Hören und Sehen zustande. Es liegt in der geistlichen Natur einer Erweckungsbewegung, dass man lediglich Phänomene beschreiben und diese z.B. an überlieferte Predigten rückbinden, nicht aber im Umkehrschluss ein „how-to-do“ der Erweckungspredigt entwickeln kann. Es mag auch den heutigen Predigthörern helfen, wenn neben das Hören das Sehen der „mitfolgenden Zeichen“ tritt, d.h. wenn das Gehörte von etwas umfangen und gestützt wird, dass die Menschen in ihrer Lebenswelt sehen und spüren können. Und dass man sich seine Predigten auf den Knien erbitten sollte, ist auch kein schlechter Gedanke.
Die Religionspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen auf dem Weg zur Konkordienformel 1
Johannes Hund Als Kaiser Maximilian II. im Frühjahr 1575 seinen mächtigsten und einflussreichsten Fürsten in dessen Residenzstadt Dresden besuchte, ließ Kurfürst August von Sachsen ein beeindruckendes Feuerwerk veranstalten, bei dem er selbst als Herkules dargestellt wurde, der die Hydra Calvin besiegte.2 Mit dem durch das Feuerwerk drastisch vor Augen geführten kürzlich errungenen Sieg über seine vermeintlich im Verborgenen calvinistische Ränke schmiedenden kursächsischen Räte und Theologen schwenkte der Herr an der Elbe aber zugleich auch auf den dezidiert anticalvinistischen Kurs der Reichspolitik seines Habsburger Gastes ein, gegen den er bislang auf Reichsebene recht erfolgreich opponiert hatte, ohne dabei jedoch selber jemals mit dem Gedanken an eine Konversion zum Calvinismus gespielt zu haben. Die blutigen Verfolgungen der Calvinisten in den Niederlanden und in Frankreich gegen Ende der 1560er Jahre, über die August bestens informiert war, hatten jedoch, je länger sie anhielten, den sächsischen Landesherrn vor die Wahl gestellt, seinen procalvinistischen religionspolitischen Kurs im Reich auch auf seine Politik in Westeuropa auszudehnen und den verfolgten Calvinisten in den beiden westlichen Nachbarländern militärisch zu Hilfe zu eilen oder auf einen anticalvinistischen Kurs zu wechseln, der sich primär auf die Reichsbelange konzentrierte. Am Ende entschied sich August für die zweite Option, ausgelöst auch durch das Aufdecken einer vermeintlichen calvinistischen Verschwörung in seinen eigenen Landen. Kurfürst August setzte sich in der Folge selber an die Spitze der innerlutherischen Konkordienbemühungen Jakob Andreaes, die bekanntlich zur Abfassung der Konkordienformel führten, mit der das Luthertum die Reihen gegenüber dem Calvinismus schloss und seine eigene konfessionelle Identität erlangte. Dieser konfessionspolitische Umbruch änderte aber wenig an den Grunddaten der kursächsischen Außenpolitik, die von den Anfängen der Herrschaft Kurfürst Augusts an bestimmt war durch die Sicherung der Stabilität des Reiches durch die Einhaltung des Augsburger Religionsfriedens von 1555, die Wahrung der eigenen 1
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Zuerst veröffentlicht in: Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Dirk Syndram u.a., 1. Nationale Sonderausstellung zum 500. Reformationsjubiläum, Dresden 2015, 187–199. Vgl. Hans-Peter Hasse, Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569 bis 1575, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 5, Leipzig 2000, 217.
Die Religionspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen auf dem Weg zur Konkordienformel
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Kurwürde und den Schutz des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses.3 Wir beschränken uns im Folgenden auf den konfessionspolitischen Richtungswechsel in der Religionspolitik Kurfürst Augusts und gehen dabei zunächst der Phase der den Calvinismus integrierenden Religionspolitik Kursachsens vor 1574 nach (1.), bevor das „kryptocalvinistische“ Trauma Kurfürst Augusts (2.) und seine konfessionspolitische Neuausrichtung in den Fokus geraten, die ihn zum Schrittmacher im lutherischen Einigungsprozess auf dem Weg zur Konkordienformel machte (3.). 1.
Die integrative Religionspolitik Kurfürst Augusts bis 1574
Als Kurfürst August nach dem Tod seines Bruders Moritz in der Schlacht bei Sievershausen im Jahre 1553 die Herrschaft im albertinischen Sachsen antrat, herrschte im Lager der Theologen der Wittenberger Reformation im Reiche heillose Zerstrittenheit, die sich vor allem an der Bereitschaft der albertinischen Theologen, allen voran Melanchthons, festmachte, im sogenannten „Leipziger Interim“ dem 4 Kaiser ein Stück weit entgegenzukommen. Hinzu kam die Verbitterung der Ernestiner darüber, dass sie die Kurwürde im Gefolge des Schmalkaldischen Krieges an die Albertiner hatten abtreten müssen, die in ihren Augen Verrat an der evangelischen Sache geübt hatten, indem sie dem Kaiser gegen die Evangelischen militärische Hilfe geleistet hatten. Daran sollte auch die Fürstenverschwörung, während der Moritz von Sachsen die Seiten wieder wechselte und in deren Folge mit dem Passauer Vertrag von 15525 das Augsburger Interim von 15486 seine Wirkung ver3
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Zu den Grunddaten der kursächsischen Außenpolitik vgl. Jens Bruning, Caspar Peucer und Kurfürst August. Grundlinien kursächsischer Reichs- und Konfessionspolitik nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555–1586), in: Caspar Peucer (1525–1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, hg. v. Hans-Peter Hasse u.a., Leipzig 2004, 157–174, hier: 164; vgl. hierzu auch Günther Wartenberg, Caspar Peucer – ein Humanist und Universalgelehrter im konfessionellen Zeitalter, in: A.a.O., 19–31, hier: 27. Zum adiaphoristischen Streit um die im Leipziger Landtagsentwurf erkennbar werdende Bereitschaft Melanchthons, dem Kaiser in kirchlichen Gebräuchen, die in der Schrift weder verboten noch geboten waren, den sogenannten Adiaphora, entgegen zu kommen, vgl. Ernst Koch, Der Ausbruch des adiaphoristischen Streits und seine Folgewirkungen, in: Politik und Bekenntnis. Die Reaktionen auf das Interim von 1548, hg. v. Irene Dingel und Günther Wartenberg, LeucoreaStudien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 8, Leipzig 2006, 179– 190; Robert Kolb, Controversia perpetua. Die Fortsetzung des adiaphoristischen Streits nach dem Augsburger Religionsfrieden, in: A.a.O., 191–209, sowie die Quellenedition zum adiaphoristischen Streit, in: Der Adiaphoristische Streit (1548–1560), Controversia et Confessio 2, hg. v. Irene Dingel, Göttingen 2012. Zu den Verhandlungen über die Religionsfrage in Passau vgl. Volker Henning Drecoll, Verhandlungen in Passau am 6. Juni 1552. Eine Einigung in der Frage der Religion?, in: Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, hg. v. Winfried Becker, EKGB 80, Neustadt an der Aisch 2003, 29–44. Der Passauer Vertrag liegt ediert vor in: Volker Henning Drecoll, Der Passauer Vertrag (1552). Einleitung und Edition, AKG 79, Berlin u.a. 2000, 95–134. Das Reichsgesetz liegt ediert vor in: Joachim Mehlhausen, Das Augsburger Interim von 1548. Nach den Reichstagsakten deutsch und lateinisch, TGET 3, Neukirchen-Vluyn ²1996. Das Stan-
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lor, nichts mehr ändern. Die Rivalität zwischen Ernestinern und Albertinern bestimmte die folgenden Jahre. Als das Wormser Religionsgespräch von 1557 aufgrund der Zerstrittenheit der evangelischen Theologen nach kurzer Zeit vorzeitig abgebrochen werden musste, zerbrach damit auch die Einheit der evangelischen Partei vor den Augen der altgläubigen Delegierten.7 Kurfürst August sprach sich in Übereinstimmung mit Melanchthon8 gegen Theologenkonvente aus, um diesen Riss wieder zu heilen, weil man befürchtete, dass durch sie lediglich neue Konflikte und Verbitterung entstünden. Stattdessen einigte man sich darauf, im Anschluss an die anstehende Königswahl in Frankfurt, an der die drei evangelischen Kurfürsten August von Sachsen, Ottheinrich von der Pfalz und Joachim II. von Brandenburg ohnehin teilnehmen mussten, auf Fürstenebene eine Lösung zu suchen. Zusammen mit dem Pfalzgrafen Wolfgang, Herzog Christoph von Württemberg und Landgraf Philipp von Hessen unterzeichneten sie am 18. März 1558 den Frankfurter Rezess, der auf Formulie9 rungen Melanchthons zurückging und einen integrativen Minimalkonsens anbot. Doch stieß die Frankfurter Einigung vor allem aufgrund ihrer nicht entschieden genug den Calvinismus ausschließenden Abendmahlsformulierungen auf Ablehnung im ernestinischen Sachsen,10 wo man für den 16. Mai 1558 zu einem Gegenkonvent einlud, den nur die kursächsische Diplomatie noch verhindern konnte.11 Die Abendmahlsfrage war mit der Einigung der Zürcher und Genfer Reformation
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dardwerk zum Augsburger Interim ist nach wie vor Horst Rabe, Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/1548, Köln 1971. Ergänzend dazu ders., Zur Entstehung des Augsburger Interims 1547/1548, ARG 94 (2003), 6– 104. Vgl. außerdem Joachim Mehlhausen, Art. Interim, TRE 16 (1987), 230–237. Neuere, auch die Theologiegeschichte einbeziehende Perspektiven bietet: Das Interim 1548/1550. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hg. v. Luise Schorn-Schütte, SVRG 203, Gütersloh 2005. Zum Wormser Religionsgespräch vgl. jetzt die Studie von Björn Slenczka, Das Wormser Schisma der Augsburger Konfessionsverwandten von 1557. Protestantische Konfessionspolitik und Theologie im Zusammenhang des zweiten Wormser Religionsgesprächs, BHTh 155, Tübingen 2010. Vgl. Philipp Melanchthon, Bedenken vom Synodo aller Chur- und Fürsten und Stände Augsburgischer Confession vom 4. März 1558, CR 9, 462–478 (Nr. 6471) = MBW Nr. 8543. Die Confession und Vereinigung der drei weltlichen Chur- und beineben anderer Fürsten zu Frankfurt geschehen in electione Ferdinandi Imperatoris, CR 9, 489–507 (Nr. 6483), basierte auf der von Überarbeitung der Formula Consensus durch Melanchthon, CR 9, 403–411 (Nr. 6425). Zum Frankfurter Rezess vgl. Irene Dingel, Melanchthons Einigungsbemühungen zwischen den Fronten: der Frankfurter Rezeß, in: Philipp Melanchthon. Ein Wegbereiter für die Ökumene, hg. v. Jörg Haustein, BenshH 82, Göttingen 1997, 119–141, besonders: 131–141. Vgl. die Darstellung bei Johannes Hund, Vom Philippisten zum Melanchthonianer. Die Entwicklungen in Paul Ebers Abendmahlslehre im Kontext des Zweiten Abendmahlsstreits, in: Paul Eber (1511–1569). Humanist und Theologe der zweiten Generation der Wittenberger Reformation, hg. v. Daniel Gehrt und Volker Leppin, Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 16, Leipzig 2014, 341–374, hier: 342–344. Vgl. Rudolf Leeb, Der Kurfürstentag zu Frankfurt 1558, in: Der Kurfürstentag zu Frankfurt 1558 und der Reichstag zu Augsburg 1559. Bd. 1, bearbeitet von Rudolf Leeb, Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556–1662, Göttingen 1999, 132–228, hier: 211f.
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im Consensus Tigurinus von 1549, die 1551 in den Druck ging,12 wieder auf die Tagesordnung der evangelischen Theologen und ihrer Landesherren im Reich gelangt und sollte zu einer Differenzierung im Lager der Wittenberger Reformation führen: Während Melanchthon, aber auch die meisten Flacianer sich in der Debatte auf die Einsetzungsworte beschränkten, entwickelte sich in Württemberg, das durch seine Nachbarn im Süden und Westen besonders herausgefordert war, mit der Stuttgarter Synode von 1559 unter Federführung von Johannes Brenz eine Reformulierung der christologischen Absicherung, die Luther in der Debatte mit Zwingli entwickelt hatte und die von ihren Gegnern, unter denen sich auch Melan13 chthon befand, als „Ubiquitätslehre“ abgelehnt wurde. Der ernestinische Herzog Johann Friedrich II. positionierte sich in seiner eigentlichen Antwort auf den Frankfurter Rezess, dem Weimarer Konfutationsbuch von 1559, deutlich auf der Seite der Gegner jeder kirchlichen Gemeinschaft zwischen Wittenberger und Genfer Reformation.14 In Kursachsen hingegen stellte Melanchthon im Jahre 1560 eine Reihe seiner Schriften zusammen als Corpus doctrinae Philippicum und positionierte sich darin auch in der Abendmahlsfrage als weiterhin offen für eine mögliche Einigung auch mit der Genfer und Zürcher Reformation auf einer zukünftigen Synode. Dieses Corpus doctrinae, entstanden zunächst als Privatunternehmen des Leipziger Druckers Ernst Vögelin, machte sich Kurfürst August im Jahre 1566 als
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CONSEN||SIO MVTVA IN RE || SACRAMENTARIA MINI-||strorum Tigurinae ecclesiae, & D. Io-||annis Caluini ministri Geneuen-||sis ecclesiae, iam nunc ab || ipsis authoribus edita […], Zürich: Rudolf Wyssenbach 1551 (VD16 C 4918). Vgl. hierzu auch die Edition sowohl des lateinischen Originals wie auch der deutschen, französischen, italienischen und englischen Übersetzungen, in: Consensus Tigurinus (1549). Die Einigung zwischen Heinrich Bullinger und Johannes Calvin über das Abendmahl. Werden – Wertung – Bedeutung, hg. v. Emidio Campi, Zürich 2009. Vgl. Ernst Koch, Der Weg zur Konkordienformel, in: Vom Dissensus zum Konsensus. Die Formula Concordiae von 1577, Hamburg 1980, 10–46, hier: 25–29; Theodor Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem und Geschichte seiner Begründung, Gütersloh 1969, passim. Das von Flacius noch verschärfte Weimarer Konfutationsbuch identifizierte die Abendmahlslehre Calvins mit der Zwinglis und lehnte sie entschieden ab: ILLVSTRISSIMI || PRINCIPIS AC DOMINI, DO= || MINI IOHANNIS FRIDERICI SECVNDI, DVCIS || Saxoniae, Landgrauij Thuringiae, & Marchionis Mi= || sniae, suo ac Fratrum D. Iohannis Vuilhelmi, & D. Iohannis Friderici natu || iunioris nomine, solida et ex Verbo DEI sumpta Confutatio & condem= || natio praecipuarum Corruptelarum, Sectarum, & errorum, hoc tempore ad || instaurationem & propagationem Regni Antichristi Rom. Pontificis alia= || rumque fanaticarum opinionum, ingruentium & grassantium, contra ue= || ram sacrae Scripturae, Confeßionis Augustanae & Schmalkaldicorum Arti= || culorum Religionem [...] || IENAE. || EX OFFICINA TYPO= || GRAPHICA THOMAE || REBARTI. || ANNO M. D. LIX (VD 16 S 1100), 18r–26r: CONFVTATIO CORRVPTELARVM ZVVINGLII ET CALVINI de coena Domini. Zur Entstehungsgeschichte und Wirkung des Weimarer Konfutationsbuchs vgl. Daniel Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 34, Leipzig 2011, 129–137.
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identitätsstiftendes Landesbekenntnis zum theologischen Ansatz Melanchthons und gegen die „flacianischen“ Angriffe zu eigen.15 In der Zwischenzeit war mit dem Regierungsantritt Kurfürst Friedrichs III. von der Pfalz im Jahre 1559 die Frage nach dem Umgang mit dem Calvinismus im Reich selber angekommen. Der Verlauf des Heidelberger Abendmahlsstreites zwischen Tileman Heshusius und Wilhelm Klebitz,16 vor allem aber Melanchthons Gutachten dazu,17 hatten bei dem neuen Pfälzer Landesherrn die Hinwendung zum Calvinismus befördert, die durch die Disputation, die seine Heidelberger Theologen Pierre Boquin und Thomas Erast am 3. Juni 1560 mit den Weimarer Theologen Maximilian Mörlin und Johann Stössel führten,18 nur noch bestätigt wurde. Ende 1561 führte Friedrich III. mit dem Brotbrechen den ersten sichtbaren Wechsel in der Liturgie ein.19 Es waren sowohl der Konfessionswechsel, der sich in der Kurpfalz ankündigte, als auch die Spannungen zwischen den Albertinern und den Ernestinern, die bestimmend wurden für den Naumburger Fürstentag, der vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1561 mit dem Ziel stattfand, dem Kaiser ein erneut von allen Augsburger Religionsverwandten unterschriebenes Exemplar der Confessio Augustana überreichen zu können, um damit die in Worms augenfällig zerbrochene Lehreinheit der Evangelischen wieder erweisen zu können und geeint auf dem Trienter Konzil,
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Vgl. Irene Dingel, Melanchthon und die Normierung des Bekenntnisses, in: Der Theologe Melanchthon, hg. v. Günter Frank, Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5, Stuttgart 2000, 195– 211, hier: 206. Friedrich III. hatte den Streit beendet, indem er beide Kontrahenten am 16. September 1559 entließ. Vgl. zum Heidelberger Abendmahlsstreit Thilo Krüger, Empfangene Allmacht. Die Christologie Tilemann Heshusens (1527–1588), FKDG 87, Göttingen 2004, 31–38. Dieses Gutachten, das auf den 28. Oktober 1559 datierte, ging 1560 in den Druck. Vgl. IVDICIVM D. || PHILIPPI MELANTHO-||nis de controuersia Coenae Domini, || ad Illustrissimum Principem, ac D. || D. Fridericum, Comitem Palatinum || Rheni, Sacri Romani Imperij Ar||chidapiferum, Electorem, || Bauariae Ducem, || &c., Heidelberg: Ludwig Lucius 1560 (VD 16 M 3531), ediert in Melanchthons Werke in Auswahl. Bd. 6: Bekenntnisse und kleine Lehrschriften, Gütersloh 1955, 483–486. Zur Abendmahlstheologie dieses Gutachtens vgl. Johannes Hund, Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574, FSÖTh 114, Göttingen 2006, 93–95. Den Hauptstreitpunkt bei dieser Disputation stellte die Frage nach dem mündlichen Empfang der Abendmahlsgaben dar, den die Weimarer Theologen auch bei den gottlosen Abendmahlsempfängern vertraten. Vgl. Maximilian Mörlin, Johann Stössel, PROPOSITIO=||NES, IN QVIBVS VERA || DE COENA DOMINI SENTENTIA, || iuxta Confessionem Augustanam, ad=||uersus quorundam Sacramentariorum || certamina adferitur, Ad disputan=||dum in Academia Heydelber=||gensi, 3. & 4. Iunij, pro=||positae, Anno || 1560. || ADIECTA SVNT SI=||mul impia Sacramentariorum || Themata, Heydelberge || disputata, Erfurt: Georg Baumann 1561 (VD 16 M 5900), A 3v–4r. Zur Umorientierung Kurfürst Friedrichs III. vom Luthertum hin zum Calvinismus vgl. Eike Wolgast, Reformierte Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Kurpfalz im Reformationszeitalter, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 10, Heidelberg 1998, 38f.
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das Ostern 1561 fortgesetzt werden sollte, auftreten zu können.20 Die Fürsten und ihre Theologen erarbeiteten in Naumburg eine Vorrede, die sich auf die ungeänderte Augsburger Konfession als Referenztext berief, auf Drängen der Kurpfalz, die in August von Sachsen einen prominenten Fürsprecher fand, die Apologie und die den Calvinisten näher stehende Variata jedoch in ihre Linie stellte. Diesen Kompromiss, der die Kurpfalz integrieren wollte, lehnte Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen jedoch ab, weil damit weder die Irrlehren, die seiner Ansicht nach seit dem Tode Luthers aufgekommen waren, verdammt würden, noch seine Formulierungen wirklich als ausreichend zur Abgrenzung gegenüber dem Calvinismus zu bewerten waren, den zu unterstützen er indirekt auch Kursachsen vorwarf. Johann Friedrich reichte seine Protestnote ein und reiste am 2. Februar von Naumburg ab. Von den verbliebenen Fürsten zur Erläuterung seiner Abendmahlslehre aufgefordert, legte Kurfürst Friedrich III. sein Abendmahlsbekenntnis ab, das einhellig als mit dem Frankfurter Rezess übereinstimmend approbiert wurde. Am 8. Februar 1561 wurde der Abschied des Naumburger Fürstentags unterzeichnet. Doch hatte das forsche Eintreten Kurfürst Augusts für die Kurpfalz vor allem bei den süddeutschen Fürsten Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken und Herzog Christoph von Württemberg auch Fragen aufgeworfen. Als ihnen Kurfürst August am 24. März 1561 einen kursächsischen Formulierungsvorschlag für einen Brief an Johann Friedrich II. zuschickte, der ihn doch noch zur Unterschrift unter den Naumburger Abschied bewegen sollte, erhielt er zur Antwort, dass man den Vorschlag des Ernestiners für zielführender halte, die unmissverständlichen Formulierungen aus Luthers Schmalkaldischen Artikeln als Richtschnur zu verwenden. Die beiden Fürsten baten überdies um eine Stellungnahme der kursächsischen Theologen zu den mit der Himmelfahrt und dem Sitzen Christi zur Rechten Gottes zusammenhängenden Fragen, baten also im Grunde genommen um eine Zustimmung zu ihrem Kurs, die alte Lehre Luthers von der Allgegenwart auch der 21 menschlichen Natur Christi zu reaktivieren. In einem Gutachten, das die Universitäten Wittenberg und Leipzig am 30. August 1561 an Kurfürst August schickten, lehnten sie diese Württemberger Positionierung dezidiert ab, hielten dabei aber trotzdem an der Realpräsenz von Christi Leib und Blut im Abendmahl fest. Den gedanklichen Widerspruch zwischen dem im Himmel lokalisierten Leib Christi und seiner Realpräsenz in den irdischen Abendmahlsfeiern gelte es auszuhalten. Die beiden kursächsischen Universitäten wollten die Zwinglianer und Calvinisten „lie20
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Zum Verlauf des Naumburger Fürstentages vgl. Heinrich Heppe, Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555–1581. Bd. 1: Die Geschichte des deutschen Protestantismus von 1555 bis 1562 enthaltend, Marburg 1852, 364–405; Robert Calinich, Der Naumburger Fürstentag 1561. Ein Beitrag zur Geschichte des Luthertums und des Melanchthonismus aus den Quellen des Königlichen Hauptstaatsarchivs zu Dresden, Gotha 1870, 138–228; Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 14), 178–184. Vgl. Wolfgang Pfaltzgraf bei Rhein und Christoph Herzog von Württemberg an Kurfürst August von Sachsen, 16. Juli 1561, in: Hauptstaatsarchiv Dresden (DrHSA), Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 10326/4, 11r–13r. 25r–26v.
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ber mit freuntlikeit zu vns locken vnnd durch sanfftmütige vnterricht zur christlichen einigkeit bringen [...], denn sie mit gewohnlichem schrecken vnnd verdamen als schwermer, sacramentsschender vnd ergste Ketzer vnd teuffelsköpf, wie man sie nennen darf, gantz vnd gar von vns stossen.“22 Das Festhalten an der Lehre Melanchthons in Abgrenzung von den stets mit den Ernestinern assoziierten Gnesiolutheranern, aber auch die Ablehnung der Württemberger Omnipräsenzlehre, verbunden mit einem Werben bei der Kurpfalz, doch wieder zur alten lutherischen Lehre zurückzukehren, wurden bestimmend für die nächsten Jahre der kursächsischen Religionspolitik und fanden ihren Ausdruck auch in der Hochzeit Elisabeths, der Tochter Augusts, mit dem jüngeren Sohn des Pfälzer Kurfürsten, Johann Casimir im Jahre 1570.23 Die deutliche Ablehnung der Württemberger Omnipräsenzlehre zeigte sich auch, als Herzog Christoph zeitgleich mit dem Maulbronner Kolloquium (10.–15. April 1564) Schriften und Disputationen seiner Theologen Brenz und Andreae an den kursächsischen Hof sandte, versehen mit der Bitte, er möge eine Stellungnahme bei seinen Theologen einholen. In ihrem Gutachten vom 25. April 1564 lehnten Eber, Major und Crell die Vorstellung von einer Allgegenwart der menschlichen Natur Christi als Bedingung der Möglichkeit einer Realpräsenz von Leib und Blut Christi im Abendmahl erneut ab und insistierten auf die Unabhängigkeit der beiden 24 Glaubensartikel voneinander. Die Spannungen innerhalb der Augsburger Religionsverwandten in der Frage nach dem Umgang mit dem Calvinismus wurden auf dem Augsburger Reichstag von 1566 auf Reichsebene ausgetragen.25 Denn in der Zwischenzeit hatte Fried-
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Paul Eber, Stellungnahme zur Kritik am Gutachten der beiden kursächsischen Universitäten zur Abendmahlslehre (Entwurf, Autograph Eber), o.O. 21. August 1561, in: Forschungsbibliothek Gotha: Chart. A 128, 19r–27v, hier: 27v. Kurfürstin Anna hatte vor der Hochzeit einen vertraulichen Rat bei Paul Eber eingeholt, der die Hochzeit unter der Bedingung befürwortete, dass Elisabeth von Sachsen ein Hofprediger mitgegeben würde, der ihr das Abendmahl „nach sächsischem Ritus“ austeile. Der kursächsische Hof willigte in die Hochzeit mit dem Kurpfälzer Johann Casimir ein, weil er hoffte, auf diesem Weg die Kurpfalz wieder zum Luthertum zurückführen zu können. Dieses Projekt scheiterte jedoch und hinterließ zwei unglückliche Ehepartner. Vgl. hierzu Dr. Ehem an Dr. Craco, in: Briefe Friedrich des Frommen, Kurfürsten von der Pfalz mit verwandten Schriftstücken. Bd. 2/1, hg. v. August Kluckhohn, Braunschweig 1870, 226–231 (Nr. 527). Die Wittenberger Theologen baten ihren Landesherrn darum, er möge ihr Gutachten nicht nach Württemberg schicken, um keinen erneuten Streit zu provozieren. August kam dieser Bitte zwar nach, über einen „Freund“ geriet das Gutachten jedoch dennoch an die Württemberger, die sich am 13. November 1564 in einem erneut an Kurfürst August abgesandten Schreiben zur Wehr setzten. Zur Analyse dieser beiden Schlüsselgutachten für die beiden Abendmahlspositionen innerhalb des Luthertums der 60er Jahre vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 97–111. Zu den Diskussionen um die Kurpfalz auf dem Augsburger Reichstag von 1566 vgl. Albrecht Pius Luttenberger, Kurfürsten und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II., VIEG 149, Mainz 1994, 277–306; Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 14), 278–280.
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rich III. mit der Publikation des Heidelberger Katechismus26 und einer neuen Kirchen- und Kirchenratsordnung auch den offiziellen Übergang seines Territoriums zum Calvinismus vollzogen.27 Kaiser Maximilian II. wollte seine Chance nutzen, den Pfälzer Kurfürsten einer Konfession, die nach seiner Interpretation nicht durch den Augsburger Religionsfrieden gedeckt war, zu überführen, um ihn politisch zu isolieren und dadurch seine Macht gegenüber dem Kurfürstenrat zu vergrößern. Kurfürst August, der in vertraulichen Gesprächen mit Joachim II. von Brandenburg und dem Kaiser seinem Ärger über den Konfessionswechsel Friedrichs III. Luft gemacht hatte,28 war doch nicht bereit, den Ausschluss des Pfälzer Kurfürsten aus dem Augsburger Religionsfrieden voranzutreiben, hätte eine Dreiteilung des Kurfürstenrates doch einen erheblichen Machtzuwachs für den Kaiser bedeutet. Die Evangelischen erklärten die Kurpfalz in allen Glaubensartikeln als der Augsburger Konfession religionsverwandt mit Ausnahme der Abendmahlslehre. Dieses Problem verwiesen sie auf ein internes Kolloquium, das in Erfurt stattfinden sollte, mangels Teilnehmern aber nie stattfand.29 Hatte sich Kurfürst Augusts Religionspolitik zumindest auf diplomatischer Ebene der Kurpfalz gegenüber als integrativ gezeigt, so verhärteten die kommenden Jahre das Verhältnis zum gnesiolutherischen Flügel der Reformation. Unversöhnlich standen sich die Theologen der beiden wettinischen Fürstenhäuser auf dem Altenburger Religionsgespräch von 1568/1569 gegenüber. Es kam zum Streit um die Bekenntnisgrundlage, bei dem die ernestinischen Theologen das Corpus doctrinae Philippicum einer Fundamentalkritik unterzogen, weil es die tertia aetas der Loci Melanchthons und keine einzige Schrift Luthers enthielt. Am 9. März 1569 wurde das Altenburger Kolloquium ergebnislos abgebrochen. Es hatte weder theologisch noch religionspolitisch irgendetwas erbracht. Die innerwettinische Rivalität, als deren höchster Ausdruck das Altenburger Kolloquium gelten kann, und ihre religions- und berufungspolitischen Entscheidungen verhinderten jede Einigung 30 zwischen albertinischem und ernestinischem Sachsen. 26 27 28
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Zum Heidelberger Katechismus vgl. jetzt die Beiträge, in: Macht des Glaubens – 450 Jahre Heidelberger Katechismus, hg. von Karla Apperloo-Boersma u.a., Göttingen 2013. Vgl. hierzu Wolgast, Reformierte Konfession (wie Anm. 19), 40–44. Vgl. Luttenberger, Kurfürsten und Reich (wie Anm. 25), 302; Maximilian Lanzinner, Dietmar Heil, Einleitung, in: Der Reichstag zu Augsburg 1566. Bd. 2, bearb. v. Maximilian Lanzinner und Dietmar Heil, Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556–1662, München 2002, 59–134, hier: 120. Vgl. die Antwort der CA-Stände an den Kaiser auf dessen Anfrage vom 17.5.: kurpfälzisches Bekenntnis, in: Der Reichstag zu Augsburg 1566. Bd. 2, bearb. v. Maximilian Lanzinner und Dietmar Heil, Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556–1662, München 2002, 1336–1338, hier: 1337; zum Beschluss, ein Kolloquium in Erfurt zur Klärung der Frage, ob die Kurpfalz weiterhin in den Kreis der Augsburger Religionsverwandten gehörten sollte oder nicht, abzuhalten vgl. den Beschluss der CA-Stände zur Vorbereitung eines Religionsgesprächs vom 31. Mai 1566, in: A.a.O., 1370 (Nr. 327). Zum Altenburger Religionsgespräch von 1568/1569 vgl. Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 14), 328–334.
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Dass die theologische Orientierung der kursächsischen Theologen am Corpus doctrinae Philippicum sich nicht nur auf den Dialog mit den ernestinischen Gegnern beschränkte, zeigte sich in den Ereignissen um den Zerbster Konvent von 1570. Jakob Andreae hatte sich bereits 1568 auf eine Reise nach Norddeutschland begeben und an den Fürstenhöfen für die Unterstützung seiner fünf Unionsartikel geworben, mittels derer er die Einigkeit im Luthertum wieder herstellen wollte,31 und war dabei auf breite Zustimmung gestoßen. Braunschweig, der Senior der Wittenberger Fakultät, Georg Major, und Süddeutschland stimmten zu, selbst Flacius schien bereit zu sein zum Dialog. Im Sommer 1569 zeigte sich Kurfürst August erfreut vom Konkordienprojekt Andreaes und gab ihm ein Empfehlungsschreiben an die Wittenberger Fakultät mit. Die dortigen Theologen jedoch beharrten auf einer Einigung auf der Grundlage ihres kursächsischen Corpus doctrinae. Doch nahm Andreae diese Einwände allem Anschein nach nicht ernst. Als er genügend Unterstützer gefunden hatte, ließ er einen Konvent nach Zerbst einberufen, der vom 7. bis 10. Mai 1570 stattfand. Dort versuchte er, die Theologen auf die ungeänderte Confessio Augustana, ihre Apologie, die Schmalkaldischen Artikel und den Kleinen Katechismus zu verpflichten, die als hermeneutische Hilfe beim Verständnis der Schriften Melanchthons und Luthers dienen sollten. Doch schon kurz nach dem frühen Abreisen der kursächsischen Theologen, die zu ihrer Promotion nach Wittenberg eilten, wurde bekannt, dass sie in Zerbst heimlich einen Gegenentwurf erstellt hatten, in dem sie sich auf die Schriften des Corpus doctrinae und die Schriften Luthers bezogen und dafür bereits die Unterschriften der hessischen und markgräflichen Delegierten erhalten hatten. Dadurch aber war der offizielle Zerbster Abschluss torpediert und die Konkordienbemühungen Andreaes vorerst ge32 scheitert. Die Religionspolitik Kurfürst Augusts kann in ihrer Frühphase zusammenfassend charakterisiert werden als bestimmt durch den ausgleichenden Kurs Philipp Melanchthons und seiner Anhänger und die dezidierte Gegnerschaft zum Gnesioluthertum, das für August identisch war mit der flacianischen Kriegstreiberei und Hetze im benachbarten ernestinischen Territorium. Der sächsische Landesherr vertrat auf Reichsebene, um die Machtbalance auf Reichstagen nicht zu gefährden und um die Hoheit bei der Entscheidung darüber nicht zu verlieren, wer zu den Evangelischen gehört und wer nicht, die Integration der Kurpfalz in das Lager der Augsburger Religionsverwandten. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Pfälzer in internen evangelischen Beratungen oder durch Heiratspolitik wieder zum lutherischen Lager zurückzugewinnen. Die integrative Religionspolitik des Kurfürs-
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Vgl. die Edition der fünf Artikel von 1568/1569, bearb. v. Hans-Christian Brandy, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien. Bd. 2: Die Konkordienformel, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der EKD, Göttingen 2014 (BSELK.QuM 2), 14–20. Zu den Zerbster Ereignissen und ihren weiteren Folgen vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 139–143.157–162.
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ten war dabei allerdings zu keinem Zeitpunkt verbunden mit Sympathie oder Konversionsüberlegungen zum calvinistischen Glauben. 2.
Das „kryptocalvinistische“ Trauma Kurfürst Augusts
Um den Jahreswechsel 1570/1571 veröffentlichte die Wittenberger Fakultät einen neuen Katechismus, der zusammengestellt war aus Formulierungen des kursächsischen Corpus doctrinae Philippicum, darüber hinaus aber auch die lateinische Übersetzung von Act 3,21 bot, die der Genfer Theologe Theodor Beza von Johannes Calvin übernommen hatte33 und die ihm als exegetische Stütze der lokalen Anwesenheit des Leibes Christi exklusiv am himmlischen Ort diente. Der Sturm der Entrüstung, der über die Theologen der Elbestadt hereinbrach, mündete im Niedersächsischen Bekenntnis, das, verfasst von Martin Chemnitz, die Konsequenzen für die Abendmahlslehre in aller Schärfe darlegte.34 Da fast alle norddeutschen Territorien dieses Bekenntnis unterschrieben und dem Kurfürsten implizit mit dem Ausschluss aus dem Augsburger Religionsfrieden drohten, falls er nicht gegen seine heimlich mit dem Calvinismus sympathisierenden Theologen vorginge, berief August, der bereits die Drucklegung der „Grundfest“, des christologischen Hauptwerkes der Wittenberger Fakultät im Sommer hatte verhindern wollen,35 einen Konvent aller kursächsischen Theologen nach Dresden ein, auf dem nach seinem Wunsch eine Confessio bene Lutherana36 erstellt werden sollte.37 Intern wurde berichtet, der Kurfürst würde ein Vermögen dafür zahlen, wenn die Wittenberger Bücher nicht veröffentlicht worden wären.38
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Vgl. die Übersetzung Calvins: „Iesum Christum, quem oportet caelum capere vsque ad tempora restitutionis omnium“, in: Johannes Calvin, COMMENTA-||riorum Ioannis Caluini || IN ACTA APOSTOLORVM, || LIBER I. || AD SERENISS. DANIAE REGEM, Genf: Jean Crespin 1552, 39 und seine exegetischen Bemerkungen zu dem Vers Act 3,21, a.a.O., 41. Vgl. hierzu die Übersetzung von Act 3,21 durch Beza aus dem Jahre 1565: Theodor Beza, IESV CHRISTI D.N. Nouum testamentum, siue Nouum foedus. Cuius Graeco textui respondent interpretationes duae: vna, vetus: altera, noua, Theodori Bezae, diligenter ab eo recognita. […], Genf: Henricus Stephanus 1565, 18. Im Jahre 1567 bestätigte Beza seine passive Übersetzung in einem Kommentar zum Neuen Testament: Quem oportet quidem caelo capi, vsque ad tempora restitutionis omnium, Theodor Beza, IESV CHRISTI D. N. Nouum testamentum, Gr. & Lat. Theodoro Beza interprete […], Genf: Henricus Stephanus 1567, 183. Vgl. zu diesem Sammelbekenntnis Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 406–419. Vgl. hierzu a.a.O., 311–319. Vgl. den Brief des Dresdener Superintendenten Daniel Gresser an seinen Schwiegersohn Nikolaus Selnecker vom 3. Oktober 1571, in: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 64.8 Extrav., 571–574, hier: 571: „Quam Elector ab eis talem exigit, vt sit bene Lutherana, nam hisce uerbis vsus est Elector.“ Zur Entstehungsgeschichte und Analyse des Consensus Dresdensis vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 432–447. Vgl. den Brief des Dresdener Superintendenten Daniel Gresser an seinen Schwiegersohn Nikolaus Selnecker vom 3. Oktober 1571, in: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 64.8 Extrav., 571–574, hier: 571.
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Mit dem Consensus Dresdensis, der am 10. Oktober 1571 fertiggestellt und in hoher Auflage auch in lateinischer Übersetzung gedruckt wurde, dachte Kurfürst August, die Wogen wieder geglättet und die auswärtigen Anschuldigungen zum Verstummen gebracht zu haben. Ein Exemplar des Dresdener Konsenses schickte August auch an seinen Schwiegersohn, Pfalzgraf Johann Casimir, in der Hoffnung, auch seine Unterschrift unter die Confessio bene Lutherana, für die er sie hielt, zu bekommen. Am 19. Dezember 1571 antwortete der Pfalzgraf und erklärte seine völlige Übereinstimmung mit der neuen kursächsischen confessio. Auch der Hof seines Vaters habe den Consensus Dresdensis als mit der Confessio Augustana und ihrer Apologie übereinstimmend bewertet und anerkannt. Johann Casimir bat den sächsischen Kurfürsten darum, die Theologen, die sein Bekenntnis verfasst hatten, zu bitten, die Unterschiede zum Heidelberger Katechismus zu benennen, die er 39 selbst nicht sehen könne. In einem Brief, den Kurfürst August am 13. Februar 1572 an seine beiden Universitäten Leipzig und Wittenberg aufsetzte, führte er die Ansicht seines Schwiegersohnes von der Einigkeit zwischen Dresdener Konsens und Heidelberger Katechismus zurück auf die Überredungskünste der kurpfälzischen Theologen und erbat sich eine kurze Zusammenstellung der Unterschiede auf einem Blatt, um Johann Casimir besser unterrichten zu können. Bei der Wittenberger Fakultät musste er indes ein zweites Mal nachbohren, da sich die Theologen der Elbestadt beim ersten Mal rundweg geweigert hatten, ein entsprechendes Gutachten zu erstellen. Da beim zweiten Mal dem Boten aufgetragen worden war, auf die Wittenberger Antwort zu warten, erstellten die Wittenberger ein Gutachten, in dem sie aber im Grunde genommen nur die Offenheit des Heidelberger Katechismus für zwinglianische Vorstellungen kritisierten. Da aber dieses wie auch die anderen Gutachten zu lang war, schickte Kurfürst August schließlich die Auflistung der Unterschiede zu seinem Schwiegersohn, die der Pirnaer Superintendent Johann Stössel aus dem zweiten Wittenberger Gutachten extrahiert hatte, mit der Bekräftigung des Lehrunterschiedes, der seiner Ansicht nach zwischen der Kurpfalz und seinem Territorium weiterhin bestand. Das Verhalten der Wittenberger aber hatte den Landesherrn erzürnt. Auch auf das Konkordienangebot Theodor Bezas, das ihn in diesen Tagen ebenfalls erreichte, antwortete August ablehnend, nachdem er seine Räte und Hofprediger befragt hatte und von ihnen ein durchaus zwiespältiges 40 Bild erhalten hatte. Die Gutachten, die Kurfürst August für die Antwort auf die Konkordienangebote eingeholt hatte, zeigten ihm die tiefe Zerrissenheit der theologischen Fakultäten aber auch seiner Räte und Hofprediger in der Frage nach einem möglichen Zusammengehen mit calvinistischen Territorien auf kirchlicher oder politi39 40
Vgl. den Brief Pfalzgraf Johann Casimirs an Kurfürst August vom 19. Dezember 1571, in: DrHSA: Loc. 10312/1, 24r–v. Zu den calvinistischen Konkordienangeboten und den sich dabei langsam herausbildenden Parteien am kursächsischen Hof vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 541–557.
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scher Ebene. Kurfürst August und seine Frau aber hatten sich in dieser Frage längst entschieden. Am 18. Juni 1572 schrieb Kurfürstin Anna an Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz und bekräftigte die Einigkeit des kursächsischen Herrscherehepaares in der lutherischen Abendmahlslehre.41 In einem Brief, den er am 30. Dezember 1572 an seinen Hofprediger Christian Schütz schrieb, hielt der Kurfürst Rückschau auf die Ereignisse der letzten beiden Jahre und beschwerte sich darüber, dass die Wittenberger Theologen so viel Ursache zum Streit gegeben hatten. Er habe sich auch von seinen nächsten Blutverwandten anhören müssen, dass er Calvinisten schützen wolle. „Nun wyst ir, In was meynunck ich in dem selbygen artickel erzogen, Wie ir mich als meyn beychthorer disfals vnterwysset. Solte Ich nun samptt dysen ganzen landen vmb zweyer oder 3 schwermer willen, ander leutte halben, dye doch dys buchleyn on meyne vnd meyner Rete Vorwyssen gestellet, in eynen sollichen Vordacht, do ich doch meyn leben langk nicht yn syn genommen der Calfynisten lehre beyzupflichten, geseztt werden, das hatt mir nichtt vnbyllich wehgethan vnd verdriest mich so lange Ich lebe, Vnd dyße vnd keyne ander Vrsach hatt mich zu dem leztten consensu zu Dressen verursachtt; man hatt mir auch alda sagen durffen, sye dye teologen, Weren aller dynge eyns, wye aber solliches gewessen, solliches hatt 42 sych balt darnach ausgeweysett.“
Als Nachfolger für den verstorbenen Hofprediger Philipp Wagner, der 1571 Verständnis für die Kritik der auswärtigen Territorien am Wittenberger Katechismus gezeigt hatte, bestellte Kurfürst August im Januar 1573 den Superintendenten von Liebenwerda, Georg Listhenius, nachdem dieser in den Vorstellungspredigten, die er in Torgau über das Abendmahl halten musste, deutlich gegen den Calvinismus und Theodor Beza Stellung bezogen hatte.43 Nicht lange nach seinem Amtsantritt beschuldigte Listhenius seinen Kollegen Schütz und den Pirnaer Superintendenten Stössel des Calvinismus. Um die Jahreswende 1573/1574 kam es zur letzten Auseinandersetzung zwischen den beiden Hofpredigern um die Abendmahlsfrage.44 Inzwischen hatte der Leipziger Drucker Ernst Vögelin die Exegesis perspicua, ein Bekenntnis zu den möglichen abendmahlstheologischen Konsequenzen der philippistischen Position, veröffentlicht, gedruckt auf französischem Papier und mit einer Genfer Druckerangabe versehen, was zu Verboten ausländischer Schriften und Untersuchungen der Buchmärkte in Leipzig und Wittenberg geführt hatte.45 Am 25. und 29. März 1574 positionierten sich die beiden Hofprediger Schütz und Listhenius jeweils in Predigten vor dem Hof zum Abendmahl. Während Schütz
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Vgl. Hasse, Zensur (wie Anm. 2), 256 mit Anm. 212. DrHSA: Loc. 10312/5, 46r–49v, hier: 48r–v. Zur Neuanstellung des Listhenius als Hofprediger vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 558. Vgl. hierzu a.a.O., 561–564. Zu den Details rund um das Erscheinen der Exegesis perspicua und der in ihr vorgetragenen theologischen Position vgl. a.a.O., 565–594.
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gegen die „Ubiquitätslehre“ polemisierte und die lokale Anwesenheit der menschlichen Natur Christi im Himmel behauptete, vertrat Listhenius die manducatio oralis und bezichtigte seinen Kollegen der Irrlehre. In dieser ohnehin bereits aufgeheizten Situation bei Hofe händigte Listhenius dem Kurfürsten überdies noch zwei Briefe aus, die Johann Stössel an die Frau des Hofpredigers Schütz adressiert hatte, die der Postbote aber irrtümlich dem anderen Hofprediger ausgehändigt hatte. Kurfürst August reagierte sofort und ließ Schütz und Stössel inhaftieren und ihre Wohnungen nach weiteren Briefen absuchen. Die beiden konfiszierten Kisten aus den Wohnungen der Inhaftierten enthielten Briefe, in denen Stössel über die starke Bindung der Kurfürstin an Luther klagte und darüber, dass das „Weiberregiment“ ihm die Möglichkeit geraubt habe, der Nachfolger des Hofpredigers Wagner werden zu können. Listhenius als neuer Hofprediger verstärke noch die „Gynaikokratie“ am Hofe. Stössel berichtete Schütz, was ihm der Kurfürst gebeichtet hatte. Die Exegesis sei so gut geschrieben, dass niemand es wagen würde, dagegen zu schreiben. Ein mündlicher Empfang der Abendmahlsgaben mit dem Mund finde nicht statt. Aber auch ein Brief des Melanchthonschwiegersohns Caspar Peucer fand sich unter dem konfiszierten Material, in dem er Schütz tröstete mit dem Hinweis darauf, dass auch in den Niederlanden und Frankreich die wahre Lehre nicht lange unterdrückt geblieben sei. Für Peucer stellte die Behauptung eine Gotteslästerung dar, dass der Leib Christi im Abendmahl ausgeteilt werde, da ihm damit seine wah46 re Menschheit geraubt würde. In den kommenden Wochen wurden auch die Wittenberger Studenten in die Untersuchungen nach kompromittierenden Vorlesungsmitschriften mit eingebunden. Auch dort wurde man fündig. Kurfürst August deutete die heimlichen Sympathien für den Calvinismus in seinem Territorium aber auch in seiner nächsten Nähe – Caspar Peucer war sein Leibarzt – als Verschwörung zum Umsturz. Denn den Calvinismus deutete der kursächsische Landesherr als aktive Aufstandsideologie gegen die Obrigkeit: „Vnnd solches seint die früchtte, der Caluinischen lehre, den wo dieselbige regiret, vnd im schwange gehet, da ist allemal wiederwill zwischen Hern vnd Vndterthanen, Wie dan die bluttigen exempel In Franckreich, vnd den Niederlanden solchs leyder 47 altzusehr ausweisen, Gott wolle es erbarmen.“
Für Kurfürst August waren demnach der politische Ungehorsam, Aufruhr und Bluttaten die notwendige Folge der calvinistischen Lehre. Diese Position lässt sich nur durch eine Traumatisierung des Kurfürsten durch das wochenlange Massaker in Frankreich, das sich an die Bartholomäusnacht vom 23./24.8.1572 anschloss, und die politischen Unruhen in den Niederlanden, die unter dem Spanier Fernando von Alba mit seinen Hinrichtungen unzähliger calvinistischer „Ketzer“ in den Jah46 47
Zu den konfiszierten Briefen und Handschriften vgl. a.a.O., 605–613. Des Churfursten tzu Saxen etc. Meines gnedigsten Herren auffgetzaichenter bericht Doctor Johan Stösseln belangend, in: DrHSA: Loc. 10313/1, 45r–47v, hier: 46r.
Die Religionspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen auf dem Weg zur Konkordienformel
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ren 1567–1573 ihren Höhepunkt erreichten, erklären. Vielleicht waren es auch die Ereignisse vor der Haustür, die dem Kurfürsten sozusagen den Schlüssel zur Interpretation der Ereignisse in Frankreich und den Niederlanden boten. Der Kurfürst unterstellte Stössel, dass es seine Absicht gewesen sei, eben solche politischen Aufstände und Unruhen auch in Kursachsen einzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, hätten er und seine Gesinnungsgenossen bereits die Jugend an den Universitäten mit dem Calvinismus derartig infiltriert, dass die Studenten schon begonnen hätten, über die Trinität Disputationen anzustellen. Diese „calvinistischen Umtriebe“ an seinen Universitäten bereits im Keim zu ersticken, sah der Kurfürst als seine dringlichste Aufgabe an. Denn sollte man dem nicht entgegentreten, so würde alsbald nach calvinistischer Manier jeder Respekt vor der Obrigkeit und den Professoren aufhören und Tumulte an den Universitäten ausbrechen. Im Nachhinein betrachtet, stellten sich so die Vorwürfe der theologischen Gegner Kursachsens, an den Universitäten werde calvinistische Lehre vertreten, teilweise als wahr heraus. 48 Durch die Machenschaften dieser „verlogenen falschen buben“ sei über ihn selber und seine Landschaft der Verdacht aufgekommen, von der rechten Lehre abgefallen und zum Calvinismus übergetreten zu sein. „Vnd ist dieser Langwirige Zanck in diesen Landen allein aus der Vrsachen her geflossen, das die heimlichen Caluinisten sich nicht offentlich zu Irer lehre haben 49 bekennen wollen, Sonsten […] hette diß vngetziefer hirinn nicht nisteln sollen.“
Dieses „gifftige geschmeis“ gelte es nun „mit der wurtzel“50 auszureißen, damit wieder Ordnung und Ruhe an den kursächsischen Universitäten und Schulen herrsche. Kurfürst August verließ mit den Torgauer Artikeln, die er von „unverdächtigen“ Theologen aufsetzen ließ und die eine namentliche Verdammung der prominentesten Calvinisten enthielten, die von allen Theologen seiner Lande unterschrieben werden mussten, seinen alten integrativen religionspolitischen Kurs und schwenkte auf die calvinismusfeindliche Haltung seines Kaisers, aber auch vieler lutherischer Fürsten ein. Die Wittenberger Theologen mussten ihre Professuren verlassen. Da 51 August auch der Meinung war, dass viele seiner alten Räte wie etwa Georg Cracow es ebenfalls heimlich mit den Calvinisten hielten, entließ er sie oder setzte sie gefangen.52 Er emanzipierte sich in den kommenden Jahren von seinen Räten und traf seine Entscheidungen zunehmend in autokratischer Weise. 48 49 50 51 52
DrHSA: Loc. 10313/1, 46v. DrHSA: Loc. 10313/1, 47r. DrHSA: Loc. 10313/1, 47r. Zu den Vorwürfen, die Kurfürst August gegen Cracow erhob und seinem weiteren Schicksal vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 627–629. Dass Kurfürst August den „Verrat“ im eigenen Territorium auch persönlich übel nahm, zeigte sich nicht zuletzt auch in seinem Umgang mit Caspar Peucer, seinem Leibarzt und Schwiegersohn Melanchthons, dem seine Bitte auf Empfang des Abendmahls in seiner Leipziger Haft nach einem Verhör am 16. November 1576, das Jakob Andreae und Nikolaus Selnecker durchführten, verweigert wurde und der erst im Kontext der Wiederverheiratungspläne Kurfürst Augusts im Jahre 1586 aus seiner Leipziger Haft entlassen wurde. Vgl. Johannes Hund, Das Beichtverhör Caspar Peucers
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Johannes Hund
In einem Brief an Kurfürst Friedrich III. vom 1. Juli 1574 beendete Kurfürst August ebenfalls den freundlichen Ton, der bislang zwischen den beiden Kurfürstentümern geherrscht hatte: „So kann ich doch diß vnwiederholet vnd vngesagt nicht lassen, das ich Inn solchem Artickel, weder mit E.L. noch mit derselbenn Theologen, niehmalß einig gewesen, auch noch nicht bin, Vnd das auch E.L. vnd deren Theologen sich derentwegen auff die Augspurgische Confession mit nichten zuberuffen, Noch sich 53 derselben zuberuhmen [haben].“
Damit war die pragmatische Achse Heidelberg-Dresden endgültig Geschichte. Die beiden Kurfürsten gingen in Zukunft getrennte Wege. 3.
Kursachsen als Schrittmacher auf dem Weg zur Konkordienformel
Am 21. November 1575, also nicht lange nachdem die Torgauer Verhöre der kursächsischen Theologen, die in der Wahrnehmung des Kurfürsten die calvinistischen „Verschwörer“ von den treuen lutherischen Amtsträgern schieden, beendet waren,54 bekundete Kurfürst August sein Interesse an der Mitarbeit an Andreaes Konkordienprojekt, um dem wiederhergestellten Luthertum in seinem Territorium eine sichere Lehrgrundlage zu verschaffen.55 Als sich die Württemberger und die niedersächsischen Theologen vom 15. bis zum 18. Februar 1576 erstmals mit dem „gereinigten“ Restbestand der kursächsischen Theologen auf dem Schloss Lichtenburg unweit von Wittenberg trafen, nahm Kursachsen erstmals Abstand von seiner bisherigen Bekenntnissammlung, dem Corpus doctrinae Philippicum, und stieg damit auch offiziell in die Verhandlungen um ein überterritoriales lutherisches Bekenntniswerk ein, als deren Grundlagen mittlerweile die Maulbronner Formel und die Schwäbisch-Sächsische Konkordie dienten.56 Auf Wunsch und auf Kosten Kurfürst Augusts von Sachsen trafen am 28. Mai 1576 auf dem Schloss Hartenfels in Torgau die beiden Hauptredaktoren der schwäbisch-sächsischen Konkordie, Martin Chemnitz aus Braunschweig und David Chyträus aus Rostock, mit den zwei kurbranden-
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im November 1576. Eine Miniatur der Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre, LuThK 31 (2007), 160–189; Joachim Castan, Caspar Peucers letzte Lebensperiode in Anhalt – eine Wiederentdeckung, in: Caspar Peucer (1525–1602). Wissenschaft, Glaube und Politik im konfessionellen Zeitalter, hg. v. Hans-Peter Hasse u.a., Leipzig 2004, 283–297. Kurfürst August an Kurfürst Friedrich. 1. Juli 1574, in: DrHSA: Loc. 10313/1, 186r–188r, hier: 186r–v. Zu den Torgauer Verhören der „verdächtigen“ Theologen vgl. Hund, Das Wort ward Fleisch (wie Anm. 17), 644–664. Vgl. die Analyse des „Memorials“, das Kurfürst August am 21. November 1575 mit eigener Hand aufsetzte, bei Hasse, Zensur (wie Anm. 41), 234f. Vgl. Koch, Der Weg zur Konkordienformel (wie Anm. 13), 40; Inge Mager, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag–Rezeption–Geltung, SKGNS 33, Göttingen 1993, 241–259. Die Schwäbisch-Sächsische Konkordie und die Maulbronner Formel liegen ediert vor, bearb. v. Marion Bechtold-Mayer, in: BSELK.QuM 2, 141–275. 279–340.
Die Religionspolitik Kurfürst Augusts von Sachsen auf dem Weg zur Konkordienformel
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burgischen Delegierten, Andreas Musculus und Christoph Körner aus Frankfurt/Oder und den Theologen des Lichtenburger Konventes zusammen. Jakob Andreae, seit April 1576 an der Wittenberger Stadtkirche beschäftigt, vertrat die Württemberger Fraktion. In konzentrierter Arbeit wurde auf der Grundlage der Schwäbisch-Sächsischen Konkordie das sogenannte Torgische Buch erstellt,57 das Kurfürst August am 7. Juni 1576 überreicht wurde. Dieses Ergebnis des Torgauer Konventes versandte Kurfürst August an alle Augsburger Religionsverwandten im Reich mit der Bitte um Durchsicht und Verbesserungen.58 Als nach dem intensiven Beratungsprozess, der sich bis in den März 1577 hinzog, die ersten überwiegend positiven Gutachten einliefen, versammelten sich wieder auf Einladung Kurfürst Augusts die drei Theologen Andreae, Chemnitz und Selnecker am 1. März 1577 im Kloster Bergen bei Magdeburg, um die Voten und Gutachten in das Torgische Buch einzuarbeiten. Zu einer zweiten Sitzung im Kloster Bergen lud Kurfürst August zum 19. Mai dann auch die drei restlichen Delegierten Chyträus, Musculus und Körner wieder mit ein.59 In ihrem Abschlussbericht vom 28. Mai 1577 konnten die Bergener Theologen dem sächsischen Landesherrn Vollzug melden. Mit dem Bergischen Buch lag der Text der Konkordienformel fertig vor und wurde am nächsten Tag von den sechs Konkordienvätern unterschrieben.60 Den wenig später einsetzenden, längere Zeit beanspruchenden Prozess der Einholung der Unterschriften in den ratifizierenden Territorien, der nach dem Willen der Bergener Theologen in den „sicheren“ Territorien begann, versuchte Königin Elisabeth I. von England noch zu torpedieren, indem sie am 29. Oktober 1577 einen Brief an König Friedrich II. von Dänemark,61 einen Gegner des Konkordienprojektes, schrieb, den dieser an seinen Schwager August von Sachsen weiterleiten sollte. Die Antwort Kurfürst Augusts ist insofern interessant, weil sich in ihr seine neue Konkordienpolitik ausspricht. Da mit den Anhängern Zwinglis und Calvins ohnehin niemals Einigkeit in der Abendmahlsfrage bestanden habe, stifte das Konkordienwerk keine größere Zertrennung innerhalb der bestehenden konfessionspolitischen Positionen als sie nicht ohnehin bereits vorher bestanden habe. Kurfürst August sah seine Aufgabe nun darin, die Augsburger Konfessionsverwandten wieder zusammenzubringen und die Uneinigkeit innerhalb des Luthertums zu 57 58
59 60
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Das Torgische liegt ediert vor, bearb. v. Marion Bechtold-Mayer, in: BSELK.QuM 2, 344–507. Das Exemplar an Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel versandte Kurfürst August am 11. Juli 1576. Zu den Diskussionen, die das Torgische Buch in Niedersachsen auslöste, vgl. Inge Mager, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag– Rezeption–Geltung, SKGNS 33, Göttingen 1993, 260–272. Zu den beiden Sitzungen im Kloster Bergen vgl. a.a.O., 273–281. Der Bericht über die Verhandlungen in Kloster Bergen vom 19. bis 28. Mai 1577 ist ediert in: Karl Themel, Dokumente von der Entstehung der Konkordienformel, ARG 64 (1973), 287–313 (Nr. I), hier: 301–305. Vgl. hierzu auch die Neuedition der Konkordienformel (FC), bearb. v. Irene Dingel, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. v. ders. im Auftrag der EKD, Göttingen 2014 (BSELK), 1184–1607. Vgl. den Brief der Königin Elisabeth I. an König Friedrich II. von Dänemark vom 29. Oktober 1577, in: Themel, Dokumente (wie Anm. 60), 306f.
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beenden. Sollten die Vorzeichen für eine Einigung mit den Calvinisten sich in Zukunft ändern, so könnte ein geeintes Luthertum viel besser mit den Calvinisten verhandeln als ein zerstrittenes.62 Im Verlauf des Ratifizierungsprozesses der Konkordienformel wurde dem gesamten Konkordienbuch auf dem Konvent in Jüterbog 1579 eine neue Vorrede vorangestellt, die darauf abzielte, bislang noch zögernde politische Obrigkeiten wie etwa Ludwig VI. von der Pfalz, mit dessen Herrschaftsbeginn das Luthertum in die Pfalz zurückgekehrt war, mit einzubinden. Die bisherige Theologenvorrede, die vor allem mit der Kontinuität zur Alten Kirche argumentiert hatte, fiel fort.63 Die vielen Kirchenväterzitate, von der die Theologenvorrede geprägt war, fanden im Catalogus Testimoniorum, der als Anhang dem Konkordienbuch beigegeben wurde, ihren Ort.64 Zum fünfzigsten Jubiläum der Übergabe der Augsburger Konfession, das man am 25. Juni 1580 beging, lag das Konkordienbuch gedruckt vor.65 Mit seinem entschiedenen Vorgehen gegen die „Kryptocalvinisten“ im albertinischen Sachsen hatte Kurfürst August auch im ernestinischen Nachbarterritorium Eindruck hinterlassen. Überdies war man in Weimar politisch nicht mehr dazu in der Lage, diesen Konkordienversuch zu blockieren. Herzog Johann Wilhelm I. war 1573 kurz nach der Landesteilung der ernestinischen Besitzungen verstorben und sein Sohn Friedrich Wilhelm I. von Sachsen-Weimar noch zu jung, um selbständig regieren zu können. Es blieb darum beim obligatorischen ernestinischen Protest dagegen, dass die Lehrverurteilungen innerhalb der Konkordienformel ohne Namensnennungen auskamen. Nach einem Besuch der Herzogenwitwe Dorothea Susanna mit ihren Kindern am Dresdener Hof vom 3. bis zum 6. Dezember 1576, bei dem die innerwettinische Aussöhnung gelang, unterschrieb auch das ernestini66 sche Sachsen die Konkordienformel. 4.
Zusammenfassung und Ertrag
Die konfessionspolitische Umorientierung Kurfürst Augusts von Sachsen änderte nichts an seiner persönlichen religiösen Überzeugung. Der kursächsische Landesherr sah sich vielmehr durchgehend als Lutheraner, füllte diesen Begriff allerdings im Laufe seines Lebens unterschiedlich.67 Bis 1574 vertrat er, mit seinem Bruder 62 63
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Vgl. das Antwortschreiben des Kurfürsten August von Sachsen an den König Friedrich II. von Dänemark vom 1. Februar 1578, in: Themel, Dokumente (wie Anm. 60), 310–312 (Nr. IV). Vgl. die Edition der Theologenvorrede, bearb. v. Marion Bechtold-Mayer, in: BSELK.QuM 2, 518– 550 sowie die Vorrede zum Konkordienbuch von 1580, bearb. v. Irene Dingel, in: BSELK, 8–33. 1184–1215. Der Catalogus Testimoniorum ist ediert, bearb. v. Johannes Hund und Marion Bechtold-Mayer, in: BSELK, 1611–1652. Zur Druckgeschichte des Konkordienbuches und zu seiner Rezeption vgl. Irene Dingel, Die Konkordienformel (1577). Einleitung, in: BSELK, 1165–1182. Vgl. Gehrt, Ernestinische Konfessionspolitik (wie Anm. 14), 511–522. Vgl. Hasse, Zensur (wie Anm. 41), 222.
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Moritz ganz in der albertinischen Tradition stehend, den religionspolitischen Kurs der Fortschreibung der Wittenberger Reformation durch Philipp Melanchthon, die nach dessen Tod verbürgt wurde durch die Sammlung seiner Schriften im Corpus doctrinae Philippicum. Dieser philippistischen Grundausrichtung Kursachsens entsprachen auch die Abgrenzungen gegenüber den ernestinischen Nachbarn und die Ablehnung der „Ubiquitätslehre“ Württembergs. Zu den Grunddaten der Außen- und Reichspolitik Kurfürst Augusts – Sicherung des Augsburger Religionsfriedens von 1555, Wahrung der gewonnenen Kurwürde und Schutz des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses – trat ab 1566, wohl auch mitverantwortet und angestoßen von seinem Rat Georg Cracow, eine Politik der pragmatischen Toleranz des Calvinismus, der seit 1563 in der Kurpfalz seinen Ort im Reich gefunden hatte, zur Sicherung der evangelischen Macht innerhalb des Reiches. Die blutigen Ereignisse in den Niederlanden und in Frankreich, über die der Kurfürst bestens informiert war, lösten in ihm aber nicht den Wunsch aus, den verfolgten Reformierten im Ausland zur Hilfe zu eilen, wie es sein Rat Georg Cracow ihm anriet, sondern er konzentrierte sich zunächst ganz auf das Reich, dem er dasselbe Schicksal der Unordnung und des Aufstandes ersparen wollte, und interpretierte nach den Ereignissen um die konfiszierten Briefe in seinem Territorium den Calvinismus als Quel68 le des politischen Ungehorsams, die es galt „mit der Wurzel auszurotten“. Die Politik der pragmatischen Toleranz fand nach 1574 ebenso ein Ende wie die Orientierung einzig an der philippistischen Tradition im kursächsischen Corpus doctrinae. Mit seinem religionspolitischen Umschwung setzte sich August an die Spitze der innerlutherischen Konkordienbewegung Jakob Andreaes, die unter seiner maßgeblichen Führung die Konkordienformel erstellte, die aber ihrerseits auch philippistische Elemente aufnahm und damit dann in gewissem Sinne doch die alte kursächsische Politik der Einheit von Luther und Melanchthon fortschrieb, freilich jetzt unter neuem Vorzeichen: Die sachliche Priorität lag bei Luther, während in methodischen Fragen die melanchthonische Bildung der Autoren der Konkordienformel 69 deutlich spürbar blieb.
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Jens Bruning redet in diesem Zusammenhang von einem „Stabilitätskurs“, den Kurfürst August vertreten habe. Vgl. Jens Bruning, Landesvater oder Reichspolitiker? Kurfürst August von Sachsen und sein Regiment in Dresden 1553–1586, in: Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, hg. v. Manfred Hettling u.a., München 2002, 205–224, hier: 218. Zum Ringen um die beiden Autoritäten Luther und Melanchthon im Vorfeld der Konkordienformel vgl. Ernst Koch, Auseinandersetzungen um die Autorität von Philipp Melanchthon und Martin Luther in Kursachsen im Vorfeld der Konkordienformel, LuJ 59 (1992), 128–159.
Werkgerechtigkeit – erledigt? Von der Beherzigung einer reformatorischen Einsicht im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 Jürgen Kampmann 1.
Reformation – ein Fall für die Geschichte und Archäologie?
„500 Jahre Reformation“ – das klingt zunächst wie ein Fall für die Geschichtsbücher. 500 Jahre – das heißt: mehr als 15, wenn nicht 20 Generationen zurückliegend. Zeitzeugen, die ein Erfahrungswissen aus jener Zeit an gegenwärtig Lebende weitergeben könnten, gibt es längst nicht mehr. Wenige Bauten aus dieser Ära sind noch vorhanden – die aber in den Jahrhunderten oftmals zumindest innen erheblich umgestaltet oder ganz durchgebaut worden sind. Darüber, wie Menschen vor 500 Jahren gelebt und gedacht haben, gibt es zwar eine ganze Reihe schriftlicher Dokumente, handschriftlich in Archiven, gedruckt in Bibliotheken überliefert und erreichbar – aber die Zeit liegt dennoch so fern, dass sie schon ein Forschungsfeld der Archäologen ist, die bei Ausgrabungen aus aufgefundenen Relikten wichtige Informationen über den Lebensalltag der Menschen jener Zeit des frühen 16. Jahr1 hunderts gewinnen. 2.
Reformation – ein Fall für die generationenübergreifende „Gemeinschaft der Heiligen“
Wenn wir uns im Jahr 2017 mit „500 Jahren Reformation“ in der abendländischen Kirche befassen, dann hat das seinen Grund aber dennoch gerade nicht darin, einen – möglichst interessanten – Geschichtsunterricht bieten zu wollen. Es geht auch nicht (wie man das vielleicht modern formulieren würde) um „historische Bildungsarbeit“, am besten „generationenübergreifend“. Die hat auch ihr sehr gutes Recht – aber in der Kirche gibt es einen anderen Grund, in diesem Jahr das zum Thema zu machen, was nun vor einem halben Jahrtausend einen ersten Anstoß erfahren hat. Und dieser „andere“ Grund ist auch nicht etwa nur ein „weiterer“, ein
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Wer sich dafür etwa mit Blick auf die Verhältnisse in Westfalen interessiert, findet dazu eine hoch interessante Dauerausstellung im Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes WestfalenLippe in Herne; siehe dazu Peter Kracht, Das neue Westfälische Museum für Archäologie lockt nach Herne, Heimatpflege in Westfalen 16 (2003), 14–16.
Werkgerechtigkeit – erledigt?
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„zusätzlicher“ Grund, sondern er ist der eigentlich entscheidende. Kirche ist kein Geschichtsverein, sie ist auch kein Verein zur Brauchtums- und Traditionspflege. Das gilt, auch wenn man sich in der Kirche immer wieder und auch ganz zentral mit Sachverhalten befasst, die gerade nicht erst in der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit erfunden und entwickelt worden sind. Dafür verantwortlich ist aber nicht ein geschichtliches Interesse, sondern eine Glaubensüberzeugung. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis ist sie festgehalten, wenn in dessen drittem Abschnitt zum Ausdruck gebracht wird: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige, christliche [allgemeine] Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen“. Das heißt nichts weniger, als dass ich als Christ überzeugt bin und bekenne, im Glauben nicht allein zu stehen, sondern in einer Gemeinschaft – einer Gemeinschaft, die sich gerade nicht sich selbst verdankt, die nicht aus dem Interesse der Mitglieder lebt, sondern die Gott selbst herstellt (durch den Heiligen Geist) in der Gestalt der Kirche – in der er alle zu einer „Gemeinschaft der Heiligen“, zu einer Gemeinschaft, die von ihm und durch ihn geprägt und bestimmt wird. Das aber bedeutet nichts weniger, als dass ich, der ich heute lebe, der ich durch Gottes Wirken in der Taufe in Kirche hineingestellt bin, ob ich will oder nicht mit denen verbunden bin, die auch in dieser Gemeinschaft stehen. Das gilt – wenn ich zur Seite blicke – für alle, die neben mir stehen, die mit mir heute leben, das gilt aber genauso – wenn ich zurück, hinter mich, in die Geschichte blicke – auch für alle, die vor mir gelebt haben. Auch mit denen bin ich in Sachen des Glaubens weiter verbunden, auch über deren Lebenszeit hinaus. Gott stellt in der Kirche eine Gemeinschaft her, die die verstreichende Zeit und damit auch meine Lebenszeit übergreift. Denn diejenigen, die vor mir gelebt haben, hat er mit ein und derselben frohen Botschaft erreichen wollen und erreicht, mit der er mich heute erreichen will und erreicht. Mit denen, die vor mir gelebt und geglaubt haben, bin ich in der Kirche auf ein und denselben Gott ausgerichtet, der Gegenstand des Glaubens, dass Gott Interesse hat an mir, dass er mir in Christus begegnen will, dass er nicht meinen Untergang, meinen Tod, mein Verderben will, sondern dass er mir Heil und Leben zueignet – das verbindet mich mit allen anderen, die heute und die früher zur Kirche gehört haben. Die Gemeinschaft der Heiligen verbindet überzeitlich; denen die vor mir gelebt haben, hat kein anderes „Wort Gottes“ gegolten, als es mir heute gilt, sie haben kein anderes Sakrament empfangen, als mir heute eingesetzt und zum Empfang gereicht wird. Vor Gott sind alle Glaubenden, auch alle Generationen von Glaubenden gleich – in gleicher Weise auf ihn angewiesen, in gleicher Weise von ihm angeredet, in gleicher Weise zum Glauben und Vertrauen auf ihn berufen. Auch wenn das jetzt hier so unterstrichen wird, ist das überhaupt nichts Neues. Es ist auch konfessionell gar nicht strittig – es sei einfach nur an Frage 54 aus dem Heidelberger Katechismus erinnert, also einer zentralen Bekenntnisschrift der Christen reformierter Konfession, in der die Frage „Was glaubst du von der heiligen, allgemeinen christlichen Kirche?“ beantwortet wird mit: „Daß der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewi-
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gen Leben durch seinen Geist und sein Wort, in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammle, schütze und erhalte, und daß ich in dieser ein lebendiges Glied bin und ewig bleiben werde.“2 Von daher sind und bleiben wir mit den Glaubenden – und den Glaubenszeugen – früherer Zeiten verbunden. Das gilt selbstverständlich für die Glaubenszeugen, deren Glaubenszeugnis in den alt- und neutestamentlichen Schriften überliefert ist, das die Kirche als grundlegend ansieht und an dem sie sich immer wieder neu orientiert. Um es konkret zu machen: Was Paulus, was die Evangelisten, was andere biblische Zeugen von Gottes heilvollem Wirken für uns Menschen bezeugt haben, das lesen wir in den Gottesdiensten der Gegenwart nicht deshalb vor, weil es so viele Jahrhunderte alt ist, sondern weil wir überzeugt sind, dass deren Glaubenszeugnis auch heute orientierende Kraft hat – weil sie Zeugnis geben von dem Gott, der nicht nur einst, sondern der sich auch heute in genau gleicher hingebungsbereiter Weise den Menschen zuwendet. Darum wird in der Kirche – der Gemeinschaft der Heiligen – auch nicht einfach „drauflosgepredigt“, sondern darum ist die Predigt grundgelegt, rückgebunden an das Zeugnis der biblischen Zeugen. Das stellt den sachlichen Zusammenhang des einen Glaubens in der einen Kirche her, in der wir von Gottes Seite her verbunden sind. 3.
Verbunden unter gleichem Maßstab
Anders formuliert: Die Kirche lebt – das ist die Grundüberzeugung – nicht von dem her, was Menschen an ihr attraktiv machen oder sie als annehmbar und angenehm erscheinen lässt, sondern von dem her, was Gott mit ihr seinerseits schafft und einrichtet. Und er zielt nicht auf Geselligkeit, Hobbypflege, Freizeitgestaltung, Verfolgung gemeinsamer Interessen oder Ziele der Menschen – also die üblichen Gründe, die Menschen veranlassen, einen Verein, eine Partei, eine Genossenschaft zu bilden, sondern er bezieht Menschen ein in einen Bund – in seinen Bund. Die Maßstäbe, die dafür gelten, sind seine Maßstäbe – es sind Maßstäbe, die denen, die unter Menschen gelten, gerade nicht entsprechen. Biblisch könnte man das an zwei Beispielen erörtern: 1. Der Rahmen des alten Bundes, den Gott mit seinem Volk am Berg Sinai eingeht, ist bestimmt durch die Zehn Gebote – die eben auch nicht von den Menschen erfunden und per Abstimmung oder Mehrheitsmeinung in Kraft gesetzt werden, sondern die Gott seinerseits gibt – und bei denen er allem, was da im Einzelnen 3 dann als Bundesregel markiert ist, voranstellt: „Ich bin der Herr, dein Gott“ – eine Willenserklärung eben nicht seitens der Menschen, sondern Gottes selbst. Die ist
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Rudolf Mau, Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Teilband 2, hg. im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche der Union gemeinsam mit Irene Dingel u.a., Bielefeld 1997, 153. Ex 20,2.
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(wenn man das so vergleichen will) das Vorzeichen, das vor der folgenden Klammer mit allen weiteren darin vorkommenden Faktoren steht. 2. Neutestamentlich lässt es sich nicht weniger eindeutig erläutern – mit Hilfe des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg, das ja regelmäßig alle Jahre wieder am Sonntag Septuagesimae, zu Beginn also des Osterfestkreises, im Gottesdienst als Evangeliumslesung vorgesehen ist: „[Jesus sprach zu seinen Jüngern]: Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 4 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Das ist ein Himmelreichsgleichnis – es will auf den Punkt bringen: „So geht es bei Gott zu.“ Und da ist es so (ob einem das nun gefällt oder nicht), dass sich alle Trümpfe in der Hand des Hausherrn, von dem in dem Gleichnis die Rede ist, befinden: Ihm gehört der Weinberg, er ist es, der Arbeit im Weinberg zu vergeben hat, er stellt ein, und: Er hat auch das Vermögen, den Lohn zu zahlen. Und mehr noch: Er hat auch die Freiheit, mit seinem Vermögen zu machen, was er will, er hat die Freiheit, sein Vermögen einzusetzen und zur Anwendung zu bringen, wie er es will. Und das Großartigste: Der Hausherr macht von dieser Freiheit zugunsten derer Gebrauch, die er in seinen Weinberg zur Arbeit holt. Die bekommen alle genug – den Tagelohn, den sie zum Leben, zum Durchkommen unbedingt brauchen, den erhalten alle. Den erhalten alle, obwohl das nach den üblichen menschlichen Maßstäben 4
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von Gerechtigkeit ungerecht ist. Unter Menschen wird nach tatsächlicher Leistung abgerechnet – dieser Hausherr vergütet aber nach seinem ganz anderen Maßstab: dem Maßstab der Barmherzigkeit und der Güte. Und: Er behauptet diesen Maßstab auch selbstbewusst gegenüber denen, die meinen, es müsse vorrangig (im menschlichen Sinne) gerecht zugehen. Das stimmt bei Gott nicht. Bei ihm geht es zuerst nach seinem Willen und damit gütig zu – so dass alle bei ihm das bekommen, was sie zum Leben, zum Durchkommen, nötig haben. Worauf es bei Gott, der sich in Jesus, dem Christus, zu verstehen gibt und der sich für die Menschen hingibt, ankommt, kann man an diesem Himmelreichsgleichnis bestens erkennen: Er, Gott, verhält sich gerade nicht so, wie es sich die Menschen erträumen. Die römische Göttin Justitia wird in der Kunst und bis in die Gegenwart hinein immer weder so dargestellt, dass sie eine sich genau im Gleichmaß befindende Balkenwaage in der Hand hält, bei der sich keine der beiden Waagschalen nach links oder nach rechts neigt, also alles genau ausgeglichen ist. Und dabei ist Justitia blind, ihr sind die Augen verbunden – sie soll beim Herstellen dieses Gleichmaßes durch nichts und niemanden beeinflusst werden. Bei Gott ist es anders: Der handelt nicht blind, sondern sieht die Menschen an, und wirkt aus Güte und Barmherzigkeit, was die Menschen nötig haben. Bei Gott bestimmt nicht die menschliche Leistung den von ihm gewährten göttlichen Lohn, sondern seine göttliche Gnade. Das ist seine befreiende, frohmachende Botschaft, sein Evangelium. Damit allerdings eckt Gott an – damit will er auch anecken und unser übliches menschliches Denken mit einem großen Fragezeichen versehen. Er will zeigen: „So wie bei euch, so wie ihr euch das vorstellt, so geht es bei mir gerade nicht zu!“ Wie immer man es auch drehen und wenden mag: Das stellt sich jeder Idee in den Weg, man könnte als Mensch mit Gott irgendwie seinerseits, also vom Menschen aus, „ins Geschäft kommen“. Das Himmelreichsgleichnis zeigt: Nicht wir sind es, die bei Gott irgendetwas erreichen wollen sollen – sondern er will etwas bei uns erreichen, für uns und mit uns. 4.
Reformation statt Deformation: Ein Wittenberger Bild Lucas Cranachs des Jüngeren
5 1573/1574 hat Lucas Cranach der Jüngere zu dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ein Bild für die Stadtkirche in Wittenberg gemalt – in Erinnerung an den 1569 dort verstorbenen sächsischen Generalsuperintendenten und Zeitgenossen Martin Luthers, Paul Eber6 und dessen Familie.7
5 6 7
Siehe zu Leben und Werk Lucas Cranachs des Jüngeren Hans Düfel, Art. Cranach, Lucas der Jüngere (1515–1586), TRE 8, 225f. 4 Vgl. Heinz Scheible, Art. Eber, Paul, RGG 2, 1040. Siehe dazu im Detail: Albrecht Steinwachs, Der Weinberg des Herrn. Epitaph für Paul Eber von Lucas Cranach d. J., 1569. Stadt- und Pfarrkirche St. Marien Lutherstadt Wittenberg. Fotografien von Jürgen M. Pietsch, Spröda 2001.
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Lucas Cranach d. J.: „Arbeiter im Weinberg“
Was hat Cranach dargestellt?8 Zunächst, wie es der Bildseite des Gleichnisses entspricht, einen Weinberg. Aber in dem ist nun nicht eine einheitliche Gruppe von Arbeitern, von eingestellten Tagelöhnern tätig, sondern es werden zwei verschiedene Gruppen gezeigt – die deutlich unterschiedlich gekleidet sind und die auch in krass verschiedener Weise in dem Weinberg zu Werke gehen. Die eine Gruppe (vom Betrachter aus rechts) ist ähnlich gekleidet wie es evangelische Pastoren heute auch noch sind – in einfachen, meist schwarzen Gewändern. Auch wenn sie an ganz unterschiedlichen Stellen im Weinberg tätig sind, sind sie dennoch allesamt damit befasst, Sinnvolles zu tun, damit der Zweck des Weinbergs möglichst erfüllt wird – dass da Weinreben wachsen und gedeihen können, dass dort mit Mist gedüngt wird, dass da der Boden mit Hacken und Harken gelockert wird, dass störende Steine beiseitegeschafft werden, dass für ausreichend Wasser aus dem Brunnen gesorgt ist. Nichts ist da zu erkennen, was diese Gruppe von der nötigen Arbeit ablenkt. Auf der anderen (vom Betrachter aus linken) Seite des Weinbergs, da machen indes diejenigen, die dort noch an der Arbeit sind, allen möglichen Unfug: Sie hacken die Rebstöcke ab, sie reißen sie aus dem Boden, sie verbrennen sie in einem Feuer, sie schütten Steine auf den Boden und in den Brunnen – kurz: sie, bunt und prächtig gekleidet, sind dabei, den Weinberg zu zerstören. Die allermeisten aber, die offenkundig in dieser Hälfte des Weinbergs tätig waren, haben aber längst damit aufgehört, überhaupt noch irgendetwas zu tun. Sie haben ihre Werkzeuge, Hacken und 8
Vgl. a.a.O., 37.
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Schaufeln, Sensen und Sicheln, über die Schulter gelegt – und sind in einem langen Geleitzug gerade dabei, durch die Pforte den Weinberg zu verlassen. Sie folgen demjenigen, der am allerprächtigsten nicht nur in rot wie ein Kardinal, sondern in Weiß und Gold gekleidet ist und eine dreifache Krone auf dem Haupt trägt, – dem Papst. Und der tritt nun – das hat der Maler, wenn man genau hinsieht, sehr präzise beachtet – gegenüber Christus, dem er gegenübersteht, nicht etwa demütig, sondern fordernd auf. Er positioniert sich nicht auf Augenhöhe, sondern über Christus, und mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand verlangt er allem Anschein nach mehr als nach dem einen, fast unscheinbaren silbernen Groschen, der schon auf seinem Handteller liegt. Doch die Forderung wird sichtlich nicht erfüllt, die rechte Hand Christi ist abweisend erhoben – und sie greift nicht etwa in Richtung des Geldbeutels in der anderen Hand, um dort noch etwas zusätzlich an Lohn herauszuholen. An dieser ganzen Szene sind diejenigen, die auf der anderen Seite des Weinbergs arbeiten, völlig unbeteiligt – dort befindet sich niemand, der auch nur neugierig hinüberschauen würde, was sich da gerade tut. Ohne Frage ist das Bild konfessionell scharf polemisch gegen die katholische Kirche gerichtet, und wer daran vielleicht noch einen Zweifel haben sollte, den belehrt darüber die in Reimform gebrachte Bildunterschrift: „[1] Wundern magst dich o leser mildt, Was das sey fur ein seltzam Bildt. So stehenn thutt ann diser stadt, Unnd viell gemeldes inn sich hatt. [//] [2] So wiss und mercke vleissigk drauff. Was deutung hann die zweene hauff. Der Bergk die Christlich Kirch bedeütt, Darin sindt böss und frumme Leuhtt. [//] [3] Auff einner seitt Papistenn sinndt, Ein gottlos böss und frech gesinndt. Die reissenn gottes Weinnberg einn, So er gebawtt durchs wortte feinn. [//] [4] Den Brunn dess Lebens sie auch fül[l]n Durch Ihre Werck, gotts gnad zuhül[l]n; Verfinstern also gottes Wortt, Das leüchtet klar an allem Ortt. [//] [5] Dagegenn auff der ander seitt, Stehenn viell dapffer gelarter Leuhtt, Mitt ihrenn Instrumentenn all, So mann Im Weinnberg haben soll. [//] [6] Die reümen, schneiden, binden, hawenn, Den Bergk gottes sie wieder bawenn, Sie tilgen aus all falschen lehr; Thun trewlich fördern gottes ehr, [//]
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[7] Den Brunn des lebens auch gar rein, Sie wieder thun aufreumen feinn. Unnd machenn wieder offennbar Gottes gnad, so vor verfinstert war [//] [8] Die Recht meinung O frommer christ, dieses kunstreichenn Bildes ist. Drumb danck du gott für seine gnadt, 9 Das er sein Wort uns wieder geben hatt.“
Das sind vier Strophen – in solcher Weise im Versmaß gedichtet, dass man sie auch als achtstrophiges Lied auf die Melodie des bekannten, von Martin Luther 1543 mit Text und Melodie geschaffenen, sehr ernsten Bitt-Liedes „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“10 singen könnte. Das dürfte ebenso wenig ein Zufall sein wie der chiastische Aufbau des Liedes – also mit den im Mittelpunkt des χ („chi“), des Schnittpunktes stehenden Aussagen in den Strophen 2 und 3 als dem auf diese Weise hervorgehobenen zentralen Anliegen, auf dem der Akzent liegt: „Auff einner seitt Papistenn sinndt, Ein gottlos böss und frech gesinndt. Die reissenn gottes Weinnberg einn, So er gebawtt durchs wortte feinn. [//] [4] Den Brunn dess Lebens sie auch fül[l]n Durch Ihre Werck, gotts gnad zuhül[l]n; Verfinstern also gottes Wortt, 11 Das leüchtet klar an allem Ortt.“
Und dem entgegengesetzt: „Dagegenn auff der ander seitt, Stehenn viell dapffer gelarter Leuhtt, Mitt ihrenn Instrumentenn all, So mann Im Weinnberg haben soll. [//] [6] Die reümen, schneiden, binden, hawenn, Den Bergk gottes sie wieder bawenn, Sie tilgen aus all falschen lehr; 12 Thun trewlich fördern gottes ehr“.
Wir begegnen hier dem Selbstverständnis der Reformation in kaum zu überbietender Klarheit:
9 10
11 12
A.a.O., 22. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche in Gemeinschaft mit der Evangelischreformierten Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), in Gebrauch auch in den evangelischen Kirchen im Großherzogtum Luxemburg, Gütersloh/Bielefeld/Neukirchen-Vluyn 1996, (= EG), Nr. 193. Siehe Steinwachs, Weinberg (wie Anm. 7), 22. Ebd.
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In der Kirche, im Weinberg des Herrn, hat große Unordnung um sich gegriffen – mit schlimmsten Folgen für den Weinberg, der an sich gepflegt werden soll. Stattdessen wird das, was gute Frucht bringt, ausgerissen, und der Brunnen, der doch das Wasser liefern muss, damit aus den Pflanzen etwas werden kann und sie Frucht bringen, der gute Quell, wird verschüttet – und dafür wird dann auch noch göttlicher Lohn eingefordert. Auf der anderen Seite begegnen die Leute, die die Unordnung wieder beseitigen, die in Angriff nehmen, was nötig ist, die den nötigen Quellgrund im Brunnen wieder freilegen – und das alles ohne irgendein Fragen oder Schielen nach Lohn oder Belohnung. Was die Arbeiter in der rechten Hälfte des Weinbergs tun, ist indes nicht weniger, als das Verschüttete wieder freizulegen und Wachsen und Gedeihen der Pflanzen wieder möglich zu machen – also den Weinberg wieder zu dem zu machen, was er sein soll: Ein Ort, an dem Frucht wachsen und gedeihen kann, also: diesen Weinberg wieder in Form zu bringen, ihn zurückzuformen, zu re-formieren, ganz wörtlich verstanden. Das ist hier ein ganz wichtiger Aspekt: Dort, wo sinnvoll gearbeitet wird, da wird nicht de-formiert, also aus der richtigen, angemessenen Form herausgebracht, sondern es wird re-formiert, in die herkömmliche Form zurückversetzt. Es geht also gerade nicht um eine Modernisierung, um eine Umgestaltung, um eine Neugestaltung! Im Bild: Der Weinberg wird gerade nicht umgestaltet in einen Olivenhain oder in ein Ackerfeld oder in einen Lustgarten oder Wellnessbereich oder Freizeitpark mit Zedern bepflanzt. Anliegen der Reformatoren ist es nicht, im Weinberg des Herrn etwas der Sache nach Neues zu veranstalten, sondern das Ursprüngliche wieder funktionsfähig zu machen – damit wieder Reben wachsen und Frucht bringen können – und damit schließlich nach der nötigen weiteren Arbeit als Ertrag am Ende Wein auf dem Tisch des Herrn steht – und nicht etwa Apfelmus oder Erbsen-Möhren-Gemüse, oder was man sonst noch auf diesem Flecken Erde an Früchten wachsen lassen könnte. Das Anliegen der Reformation ist damit ein zutiefst konservatives – in Lucas Cranachs Bild kommt das darin vielleicht am eindrücklichsten dadurch zum Ausdruck, dass die Reformatoren rechts im Bild nicht etwa einen neuen Brunnen bohren, sondern den alten, vorhandenen wieder freilegen von dem Schutt und den Steinen, die im Laufe der Zeit dort hineingeworfen worden sind und die es immer schwieriger gemacht haben, noch an das – unbedingt nötige! – gute Wasser am Grund des Brunnens heranzukommen. Klar aber ist: Nicht der Brunnen als solcher ist schlecht, ebenso nicht das Wasser, das an seinem Grund quillt – sondern der Schutt, den Menschen in diesen Brunnen haben hineingeraten lassen. Wenn der entfernt ist, dann ist alles in Ordnung, dann kann der Brunnen wieder seinen Zweck erfüllen.
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5.
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Entschlackung statt Modernisierung
Von daher ist es eine – auch in der Gegenwart leider immer noch und immer wieder – begegnende Fehldeutung der Reformation, wenn man sie als „Modernisierungsschub“ charakterisiert. Einen solchen mag sie für viele gesellschaftliche Bereiche im 16. Jahrhundert dargestellt haben – etwa für das Bildungswesen an Schulen und Hochschulen, für die Armenversorgung, für das Ehe- und Ehescheidungsrecht –, aber für ihren Kernbereich, ihr Zentrum, für die Theologie, gilt das gerade nicht – nicht, weil man da etwas versucht hätte, was dann nicht oder nur unvollkommen gelungen wäre, sondern deshalb nicht, weil man es ausdrücklich nicht gewollt hat: „Den Brunn des lebens auch gar rein, Sie wieder thun aufreumen feinn. Unnd machenn wieder offennbar 13 Gottes gnad, so vor verfinstert war.“
Und: „Sie tilgen aus all falschen lehr“14 – sie beseitigen also Verkehrtes, und nicht: Sie schaffen Neues, sondern sie geben wieder Raum dem, was an dieser Stelle von alters her seinen Raum und sein Recht hat. Von daher (sieht man auf den Bereich der Theologie) geht mit der Reformation eine Art theologisch-kirchliche „Entschlackungskur“ einher: Überflüssiges, Ballast wird abgeworfen. Das geschieht aber nun nicht willkürlich. Es wird nicht einfach beseitigt, was stört oder unpraktisch erscheint oder was zu viel Mühe macht, sondern es wird einer gewonnenen Einsicht gefolgt, die nun zur Anwendung gebracht wird. Maßstab für das, was in der Kirche gelehrt und praktiziert wird, kann nicht das sein, was sich im Laufe der Jahrhunderte als Lehrinhalt und -system in der Kirche entwickelt und etabliert hat, nur weil es nun einmal so besteht, wie es besteht, sondern das, was klar von denjenigen Zeugen bezeugt ist, die am Anfang der christlichen Überlieferung stehen – das Christuszeugnis dieser Zeugen des Glaubens an Gott, der sich in Christus zu erkennen, zu verstehen und für die Menschen hingibt, das ist das Maß. Was diesem Zeugnis in der Praxis der Kirche 1500 Jahre später nicht entspricht, das wird re–formiert. Es wird also das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet. Es wird nicht einfach gefordert: „Alles zurück auf Anfang!“ Es wird nicht einfach gehobelt – und dann staunt man, welche Späne abfallen. Sondern das in der Gegenwart Vorhandene (also: das, was die kirchliche Lehre und Praxis im frühen 16. Jahrhundert prägt) wird auf den Prüfstand gestellt, ob es dem Christuszeugnis, das die biblischen Zeugen ablegen, entspricht – oder ob es dieses Christuszeugnis nicht verunklart, ja ob es nicht möglicherweise sogar deutlich fehlorientiert.
13 14
Siehe Steinwachs, Weinberg (wie Anm. 7), 22. Ebd.
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Gottes passive Gerechtigkeit – Pforte des Paradieses
Dabei spielt nun eine Einsicht die zentrale Rolle schlechthin; Martin Luther hat sie am Ende seines Lebens, am 5. März 1545, noch einmal präzise formuliert und an prominenter Stelle hinterlassen – im Vorwort zu einer Ausgabe seiner gesammelten Schriften: „Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel (V. 17) war mir bisher dabei im Wege: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin [im Evangelium] offenbart.‘ Ich haßte nämlich dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit (wie sie es nennen) zu verstehen, nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich haßte ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch meine Genugtuung zu versöhnen, liebte ich ihn nicht, ja ich hatte sogar einen Widerwillen gegen den gerechten und die Sünder strafenden Gott. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn: Als ob es noch nicht genug wäre, daß die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz des Dekalogs mit jeder Art von Unglück beladen sind – mußte denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen und uns auch durch das Evangelium seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wolle. Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [im Evangelium] offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘ Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, daß dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘ Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht. Ich ging die Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten das gleiche, z. B.: ‚Werk Gottes‘ bedeutet das Werk, welches Gott in uns wirkt; ‚Kraft Gottes‘ – durch welche er uns kräftig macht; ‚Weisheit Gottes‘ – durch welche er uns weise macht. Das gleiche gilt für ‚Stärke Gottes‘, ‚Heil Gottes‘, ‚Ehre Gottes‘.
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Mit so großem Haß, wie ich zuvor das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehaßt hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch. So ist mir diese 15 Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Paradieses gewesen […].“
Die „Pforte des Paradieses“, also der zentrale Zugang zum Inhalt des Evangeliums, ist der, dass Gott seinerseits das Entscheidende für den Menschen tut! Er spricht gerecht, er setzt ins Recht vor ihm! Es sind nicht die noch so guten, liebevollen Gedanken oder die noch so sozial oder religiös motivierten Taten eines Menschen, die dies bewirken. Die Menschen sollen gerade nicht auf sich selbst, ihr eigenes Vermögen, Können und Tun setzen, nicht auf „Werkgerechtigkeit“ – also: gut dastehen zu wollen vor Gott auf Basis dessen, was sie (angeblich) für Gott oder um Gottes willen leisten! 7.
„Werkgerechtigkeit“ in ihren Auswirkungen auf das kirchliche Leben und die praktizierte Frömmigkeit
Damit sind wir im Zentralbereich der hier zu erörternden Thematik „Werkgerechtigkeit“ angelangt. Ein derartiges Verstehen des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott war aber in Lehre und Praxis der spätmittelalterlichen Kirche weithin etabliert, im üblichen gottesdienstlichen Leben und nicht minder in der privaten Frömmigkeitspraxis. Es galt als „verdienstlich“ – also als vor Gott heilswirkend Ansehen erbringend – Gutes, „gute Werke“, zu tun. Und man meinte, als Mensch dazu gefordert wie auch in der Lage zu sein, wenn man sich denn nur dazu entsprechend durchrang – man verstand es als eine Frage des Willens. Als biblische Begründung für diese Einschätzung diente die Perikope vom reichen Jüngling – war der nicht von Jesus aufgefordert worden, sich von all seiner Habe zu trennen und seinen Reichtum den Armen zuzuwenden – um sich so einen „Schatz im Himmel“ zu 16 schaffen? Entsprechend war die kirchliche Praxis eingerichtet. Man bot Möglichkeiten, sich für Gutes zu engagieren. Durch Engagement konnte man „Ablass“ von den zeitlichen Sündenstrafen erlangen – und auch selbst zu dem großen Schatz der guten Werke, über den die Kirche verfügte, beitragen. Wie das zu verstehen ist, lässt sich an einer Skizze aus einem katholischen Lehrbuch aus den 1950er Jahren gut erkennen:17
15 16 17
WA 54,185f. (übertragen: LD 2, 19f.). Mt 19,16–25; hier insbesondere V. 20. Josef Brems, Zeichnungen zum Katholischen Katechismus für Wandtafel und Werkheft. Unter 4 Mitarbeit und mit einer Einführung von Klemens Tilmann, München [1961], 91. Die kirchliche Druckerlaubnis für das Werk wurde in Bamberg am 4. Mai 1956 erteilt; siehe a.a.O., [IV].
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Beichte/Bußwerke/Ablass, aus: Brems, Zeichnungen (wie Anm. 17), 91, Lehrstück 86 (Ausschnitt)
Die Wege, Ablass erlangen zu können, waren (und sind bis zur Gegenwart) vielfältig – etwa durch Wallfahrt an besonders religiös ausgezeichnete Orte (wie nach Rom, nach Santiago de Compostela in Galicien (Spanien) an das angebliche Grab des Apostels Jakobus oder nach Köln zum Schrein mit den angeblichen Gebeinen der angeblichen Heiligen Drei Könige oder zum angeblichen „Heiligen Rock“ nach Trier. Und viele andere, viel weniger aufwendigere Wege zum Gewinn von Ablass sind eröffnet.18 Und nicht nur das – ein Leben unter Beachtung der sogenannten „evangelischen Räte“ galt im frühen 16. Jahrhundert als vorbildlich: Keuschheit (Jungfräulichkeit oder Ehelosigkeit) um des Himmelreiches willen (Mt 19,12), Armut (Mt 19,21) und Gehorsam (Mt 20,26) konnte man geloben, und Priester, Mönche und Nonnen, die ein solches Gelöbnis abgelegt hatten, verstanden sich damit als im Stand eines Gott in besonderer Weise wohlgefälligen Lebens befindlich. Die Umsetzung der in Matthäus 25 genannten „sieben Werke der Barmherzigkeit“ (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden, 18
Siehe dazu im Detail: Handbuch der Ablässe. Normen und Gewährungen, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1989.
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Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote bestatten)19 galt für jedermann als Muster eines gelingenden religiösen Lebens. Zur gegenseitigen Unterstützung dabei wurden Kalande, Kalandbruderschaften unter Priestern, aber auch unter Laien gebildet. Auch das Lesenlassen von Messen galt als gutes Werk – verstand man doch den Vollzug der Messe als unblutige Wiederholung und Gegenwärtigsetzen des Opfers Christi, das man einem bestimmten Zweck zuwenden konnte. Und nicht zuletzt waren Stiftungen aus religiösem Beweggrund in entsprechend vermögenden Kreisen keine Seltenheit. Auch viele Testamente sahen solche Zuwendungen vor: Schenkungen und Stiftungen geschahen „pro remedio et salute animae“, „pro animae redemptione [Erlösung] et comparatione vitae eternae“, „pro peccatorum et facinorum [(kriminellen) Taten] remissione [Erlass]“ – so die immer wieder in 20 entsprechenden Urkunden begegnenden Formulierungen. 8.
Die reformatorischen Gründe für die Ablehnung der Werkgerechtigkeit – und die praktischen Folgen
Gegen dieses von der Idee der „Verdienstlichkeit“ geprägte Denken – und die Glaubens- und Lebenshaltung, die dahinter steht – machten die Reformatoren massiv Front, weil sie sich nicht mit dem biblischen Zeugnis in Einklang bringen lässt und zur Folge hat, dass 1. die Menschen sich auf ihr eigenes Wirken konzentrieren und nicht auf Gottes Gabe, und 2., weil sich die Menschen obendrein der irrigen Meinung hingeben, als ob sie generell in der Lage wären, sich auf „einen guten Weg zu Gott“ begeben zu können, an dessen Zielpunkt schließlich Gott zufrieden mit ihnen ist und ihnen Anteil am ewigen Leben gibt. Gegen solche Selbstüberschätzung, ja Hybris der Menschen angesichts der Macht der Sünde, die Menschen in ihrem Wesen bestimmt und prägt, ziehen die 21 Reformatoren nicht nur theologisch argumentierend zu Felde, sondern auch singend: Zwei der für die erste Phase der Reformation ganz führenden, prägenden Lieder aus dem Jahr 1523, die die Leute seinerzeit wie Schlager gesungen haben und die sich auch heute noch im Evangelischen Gesangbuch finden, zeigen das an: von Martin Luther „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ sowie von Paul Speratus22 „Es ist das Heil uns kommen her“: Martin Luther hat gedichtet: „Dem Teufel ich gefangen lag, / im Tod war ich verloren, / mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, / darin ich war geboren; / ich fiel auch immer tiefer drein, / es war kein Guts am Leben mein, / die Sünd hatt’ mich besessen.
19 20 21 22
Vgl. Mt 25,31–45. Vgl. http://u01151612502.user.hosting-agency.de/malexwiki/index.php/Stiftung (Stand: 23.10. 2017). 4 Zu Leben und Werk siehe Michael Beyer, Art. Speratus, Paul, RGG 7, 1568. Ebd.
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Mein guten Werk, die galten nicht, / es war mit ihn’ verdorben, / der frei Will haßte Gotts Gericht, / er war zum Gutn erstorben; / die Angst mich zu verzweifeln trieb, 23 / daß nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen mußt ich sinken.“
Und Paul Speratus formulierte: „Es ist das Heil uns kommen her / von Gnad und lauter Güte; / die Werk, die helfen nimmermehr, / sie können nicht behüten. / Der Glaub sieht Jesus Christus an, / der hat für uns genug getan, / er ist der Mittler worden.“ Was Gott im G’setz geboten hat, / da man es nicht konnt halten, / erhob sich Zorn und große Not / vor Gott so mannigfalten; / vom Fleisch wollt nicht heraus der 24 Geist, / vom G’setz erfordert allermeist; / es war mit uns verloren.“
Diese reformatorische theologische Einsicht hat dann eine massive „reformatorische“ Wirkung gehabt: Die Klöster leerten sich, weil Nonnen und Mönchen klar wurde: Mein keusches Leben, mein Verzicht, von der Gabe der Sexualität Gebrauch zu machen und keine Kinder zu zeugen und zu erziehen – das bringt mich vor Gott um nichts in ein besseres Licht; mein Leben in Armut, der Verzicht darauf, die Güter dieser Welt zu nutzen, erwirkt bei Gott nicht automatisch eine Belohnung nach der irdischen Lebenszeit; mein Gelöbnis des Gehorsams mag ein hierarchisch geordnetes Leben in Kloster und Kirche erleichtern – aber auch mittels Gehorsam kann ich nicht die Pforte zum Himmel von mir aus aufschließen. Das Wallfahrtswesen brach zusammen – die Beschwernisse eines langen Reiseweges konnten nicht mehr in Verbindung gebracht werden mit irgendwelchen Pluspunkten bei Gott, und ebenso nicht das Lesenlassen von Messen, das Hingeben von Geld und Besitz zu kirchlichen und religiösen Zwecken. War aber damit die „Werkgerechtigkeit“ erledigt? 9.
Das katholische Lehren vom partiellen Mitwirken des Menschen an seinem Heil
Katholischerseits war der Gedanke, dass der Mensch zu seinem Heil selbst etwas beitragen kann und soll, nicht erledigt – das Konzil von Trient hat sich vielmehr genauestens mit der reformatorischen Überzeugung, dass Gott allein derjenige ist, der Heil wirkt, befasst und dazu 1547 im Dekret über die Rechtfertigungslehre als dauernd für die katholische Kirche verbindlich festgehalten: „Aber nicht so, wenn Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes das Herz des Menschen berührt, dass der Mensch selbst, wenn er diese Einhauchung annimmt, überhaupt nichts tut, er könnte sie ja auch verschmähen. Auch kann er sich ohne 25 Gnade Gottes durch freien Willen nicht auf die Gerechtigkeit vor ihm hinbewegen.“ 23 24 25
EG 341,2+3. EG 342,1+2. Heinrich Denzinger (Hg.), Adolf Schönmetzer (Bearb.), Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 35. verbesserte Aufl., Freiburg im Breisgau 1973, Nr. 1525.
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Auf diese Zurüstung bzw. Vorbereitung folgt die Rechtfertigung selbst, sie ist nicht nur Sündenvergebung, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die freiwillige Annahme der Gnade und ihrer Gaben. Dadurch wird der Mensch aus einem Ungerechten ein Gerechter […].“26 Es wird also daran festgehalten, dass die Annahme des Heils, das Gott wirkt, ein menschliches Mitwirken voraussetzt und dass dies in der freien Entscheidung des Menschen steht. Im Catechismus Romanus von 2007 wird dieses Mitwirken des Menschen an seinem Heil zwar auch als Wirkung Gottes beschrieben – aber eben auch als notwendiges Tun des Menschen: „Die Rechtfertigung begründet ein Zusammenwirken zwischen der Gnade Gottes und der Freiheit des Menschen. Sie äußert sich dadurch, daß der Mensch dem Wort Gottes, das ihn zur Umkehr auffordert, gläubig zustimmt und in der Liebe mit der Anregung des Heiligen Geistes zusammenwirkt, der unserer Zustimmung zu27 vorkommt und sie trägt.“ „Der Mensch hat nur deshalb im christlichen Leben bei Gott ein Verdienst, weil Gott in Freiheit verfügt hat, den Menschen mit seiner Gnade mitwirken zu lassen. Ausgangspunkt für dieses Mitwirken ist immer das väterliche Handeln Gottes, das den Anstoß für das freie Handeln des Menschen gibt, so daß die Verdienste für gute Werke in erster Linie der Gnade Gottes und erst dann dem Glaubenden zuzuschreiben sind. Das Verdienst des Menschen kommt im Grunde Gott zu, denn seine guten Taten gehen in Christus aus den zuvorkommenden und helfenden Gna28 den des Heiligen Geistes hervor.“
Und unter diesem Interpretationsgang, dass ein Mitwirken des Menschen an seinem Heil Gottes (angebliche) Idee sei, ist es dann auch bis zur Gegenwart unverändert in der römisch-katholischen Kirche bei einer entsprechenden Anwendung in der Praxis geblieben – bis dahin, dass nach wie vor eine Ablassordnung in Kraft steht29 und Ablässe neu ausgeschrieben werden.30
26 27 28 29 30
Vgl. a.a.O., Nr. 1528. Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München u.a. 2007, 515, Nr. 1993. A.a.O., 519, Nr. 2009. Vgl. Handbuch der Ablässe (wie Anm. 18). Siehe zur Information https://www.mariens-hilfe.org/ablass/ (Stand: 13.09.2017); verwiesen wird hier insbesondere auf die im Kanonischen Recht (can. 992) gegebene Definition: „Der Ablaß ist Erlaß einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind. Ihn erlangt der Christgläubige, der recht bereitet ist, unter genau bestimmten Bedingungen durch die Hilfe der Kirche, die als Dienerin der Erlösung den Schatz der Genugtuungen Christi und der Heiligen autoritativ austeilt.“ Zum innerkatholischen Dissens über die Gewährung eines vollkommenen Ablasses anlässlich einer Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier im Jahr 2012 siehe http://blog.peter-winnemoeller.de/?p=2876 (Stand: 13.09.2017). Zur Debatte um eine protestantische Beteiligung an der Heilig-Rock-Wallfahrt siehe Thomas-Martin Schneider, Symbolische Event-Ökumene? Zur evangelischen Beteiligung an der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt 2012, Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 63 (2012), 26-29, sowie Hermann
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Als aktuelles Beispiel kann genannt werden, dass Papst Franziskus zum einhundertjährigen Jubiläum der Erscheinungen Unserer Lieben Frau von Fatima für das gesamte Jubiläumsjahr vom 27. November 2016 bis 26. November 2017 einen vollkommenen Ablass gewährt: „Der vollkommene Ablass des Jubiläums wird wie folgt gewährt: a) den Gläubigen, die das Heiligtum von Fatima in einer Wallfahrt aufsuchen und dort andachtsvoll, während einer Feier oder eines Gebets zu Ehren der Jungfrau Maria, das Vater-Unser beten, das Glaubensbekenntnis sprechen und Unsere Liebe Frau von Fatima aufrufen; b) den frommen Gläubigen, die andachtsvoll an den Jahrestagen der Erscheinungen (jeweils am 13. des Monats, von Mai bis Oktober 2017) ein, in einem Tempel, einer Gebetstätte oder einem geeigneten Ort, der öffentlichen Verehrung feierlich ausgestelltes Bildnis Unserer Lieben Frau von Fatima besuchen und an einer Feier oder einem Gebet zu Ehren der Jungfrau Maria das Vater-Unser beten, das Glaubensbekenntnis sprechen und Unsere Liebe Frau von Fatima aufrufen; c) den Gläubigen, die aufgrund des Alters, einer Krankheit oder einem anderen gewichtigen Grund nicht reisen können, alle Sünden bereuen und die feste Absicht hegen, die unten aufgeführten drei Bedingungen, sobald es ihnen möglich ist, vor einem kleinen Bildnis Unserer Lieben Frau von Fatima zu erfüllen, die an den Tagen der Erscheinungen geistlich mit den Jubiläumsfeierlichkeiten verbunden sind und dem barmherzigen Gott durch Maria ihre Gebete und Schmerzen oder die Opfer ihres eigenen Lebens darbringen. Damit ein vollkommener Ablass gewonnen werden kann, müssen die wahrhaftig bereuenden und von der Nächstenliebe belebten Gläubigen die folgenden Bedingungen wie vorgeschrieben erfüllen: das Beichtsakrament erhalten, die Heilige 31 Kommunion empfangen und für die Anliegen des Heiligen Vater beten.“
10. Tendenzen zur „Werkgerechtigkeit“ im Sinne einer evangelisch-kirchlich initiierten Befassung des Menschen mit sich selbst In den evangelischen Landeskirchen ist man von dem Gedanken an und der Befassung mit „guten Werken“ fünf Jahrhunderte nach der Reformation nicht so weit entfernt, wie man meinen möchte – und zwar in dem Sinne, dass unverkennbar nicht wenig an Energie verwendet wird auf Beschäftigungen, bei denen nicht Christus und dessen heilvolles Wirken im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Aktivität stehen, sondern das Wohlergehen der an der Aktivität Beteiligten – durch Teilhabe daran. Wagen wir, einen Blick in verschiedene Bereiche zu werfen.
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Schaefer, Heilig-Rock-Wallfahrt als ökumenischer Impuls? Ökumenisches Symposion in Trier, Reformierte Kirchenzeitung 137 (1996), 245–247. http://www.fatima.santuario-fatima.pt/files/upload/subs%C3%ADdios/Erlass%20eines%20Vollkommenen%20Ablasses.pdf (Stand: 13.10.2017).
Werkgerechtigkeit – erledigt?
10.1
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Im gottesdienstlichen Leben
In evangelisch(-lutherischen) Sonn- und Festtagsgottesdiensten wird zwar (fast) stets die Gloria-Strophe angestimmt „Allein Gott in der Höh sei Ehr“32 – aber dennoch entsteht dann im Verlauf des Gottesdienstes insgesamt gar nicht selten der Eindruck, dass es bei dessen Vollzug gerade auch um besondere und besonders anerkennenswerte menschliche Leistungen geht: Zum Beispiel erbracht von der Pastorin/dem Pastor durch eine ansprechende Gestaltung und Moderation oder von einzelnen Mitwirkenden oder Gruppen, die musikalisch oder szenisch im Gottesdienst etwas darstellen. Und darauf wird die Aufmerksamkeit gezogen nicht nur durch die Darbietung selbst, durch besondere Ankündigung zuvor und namentli33 chen Dank hernach, durch Beifallsbekundung (Klatschen) der versammelten Gemeindeglieder, durch Überreichen von Blumensträußen und kleinen Geschenken. All das kann ein bloß spontaner Ausdruck von Freude und Dankbarkeit sein. Aber es ist auch nicht anders als sonst überall in dieser Welt – Missraten und Sünde lauern gleich hinter der Tür. Hier liefen sie darauf hinaus, dass dazu Vorschub geleistet wird, dass im Gottesdienst nicht mehr Gottes Dienst, sondern die Anerkennung und die Wertschätzung der Menschen zu dem werden, auf das sich die Aufmerksamkeit richtet, und dass der Beitrag/die Leistung der Menschen zu demjenigen gerät, über das man hernach spricht und das die Gedanken der Beteiligten bewegt – ausschließlich oder doch zumindest mehr bewegt als das, was denen, die zu Gottes Dienst von ihm versammelt worden sind, von ihm, Gott, zugesprochen und zugewandt ist. „Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über“, heißt es im Sprichwort – diese Beobachtung dürfte auch für den Bereich des Gottesdienstes zutreffen. Und dementsprechend dürfte das, was nach dem Gottesdienst oder nach einer kirchlichen Veranstaltung als Thema „in aller Munde“ ist, durchaus ein 32 33
EG 179,1. Zu beobachten ist auch ein in der jüngsten Vergangenheit weithin üblich gewordener Usus, in für besondere Festgottesdienste gedruckten Gottesdienstordnungen die am Gottesdienst Mitwirkenden namentlich zu benennen – so dass sich die Gottesdienstordnungen dann in dieser Hinsicht kaum von einem Programm im Theater oder einer Oper unterscheiden. War es noch vor einer Generation eine diskutierte Frage, ob es angemessen oder nicht doch fehlorientierend sei, in der Ankündigung eines Gottesdienstes in der Tages- oder Kirchenzeitung auch nur den Namen der Predigerin bzw. des Predigers zu nennen, so scheinen derartige Bedenken in der Gegenwart weit zurückgetreten zu sein – unter dem Aspekt, im kirchlichen Leben Wertschätzung zum Ausdruck bringen zu wollen; siehe als Beispiele etwa die Leitlinien für das Ehrenamt im Evangelischen Kirchenkreis Münster, Nr. 7 (http://www.e-wie-ehrenamt.de/fileadmin/mcs/e_wie_ehrenamt/dateien/ leitlinien_KK_MS.pdf, Stand: 22.10. 2017), oder Ehrenamt. Leitlinien für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart o.J., 11 (http://www.ebz-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_ebz/GEG-Download/Leitlinien_Ehrenamt_ab_2013_280213.pdf, Stand: 22.10.2017), oder auch: Ehrenamtliche Arbeit in der Evangelischen Kirche von Westfalen (http://www.gerthe-evkirchebochum.de.101nm.host-ing.eu/eaarbeit.html, Stand: 22.10.2017): „Durch öffentliche Würdigung und Anerkennung, zum Beispiel in Gottesdiensten oder Gemeindeveranstaltungen, soll für ihre ehrenamtliche Mitarbeit gedankt werden. Dafür müssen ebenfalls angemessene Formen und symbolische Handlungen entwickelt werden.“
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Gradmesser dafür sein, wie sehr „Menschenwerk“ dabei eine Rolle gespielt hat und in den Vordergrund getreten ist. 10.2 „Sieben Wochen ohne“ In einem besonders starken Maße richtet eine bereits seit jetzt dreißig Jahren Jahr um Jahr betriebene Aktion das Aufmerken evangelischer Gemeindeglieder auf sich selbst – auf ihre Schwächen und Stärken: „Sieben Wochen ohne“.34 Jedes Jahr unter einem anderen Aspekt wird dabei dazu aufgerufen, kritisch die eigene Lebenspraxis auf den Prüfstand zu stellen – und auf ein bestimmtes Handeln ganz zu verzichten oder es zumindest einzuschränken; an Beispielen seien aus dem zurückliegenden Jahrzehnt genannt: 2016: Großes Herz! Sieben Wochen ohne Enge 2015: Du bist schön! Sieben Wochen ohne Runtermachen 2014: Selber denken! Sieben Wochen ohne falsche Gewissheiten 2013: Riskier was, Mensch! Sieben Wochen ohne Vorsicht 2012: Gut genug! Sieben Wochen ohne falschen Ehrgeiz 2011: Ich war’s! Sieben Wochen ohne Ausreden 2010: Näher! Sieben Wochen ohne Scheu 2009: Sich entscheiden! Sieben Wochen ohne Zaudern 35 2008: Verschwendung! Sieben Wochen ohne Geiz.
Für ein auskömmliches Miteinander unter Menschen kann es gewiss nicht schaden, das eigene Tun oder Lassen bewusst wahrzunehmen, kontrolliert und überlegt zu agieren – nur: Was hat das mit der kirchlichen Bedeutung des Fastens und der Fastenzeit zu tun? Reformatorischerseits ist dagegen opponiert worden, den Verzicht auf Fleischgenuss zwischen Aschermittwoch und Ostern in einer Weise zu praktizieren und zu stilisieren, die man sich selbst in Sachen religiösen Gehorsams in der Befolgung einer kirchlichen Vorschrift – des Fastengebots – zugute rechnete.36 Es ist darum kein Zufall, dass in der Schweiz in Zürich die Reformation ihren Auftakt nahm ausgerechnet mit einem Wurstessen in der Fastenzeit.37 Reformatorischerseits hat 34
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Die die Aktionen jeweils begleitende Öffentlichkeitsarbeit ist ausgesprochen umfangreich, es erscheinen derzeit unter anderem ein Begleitbuch, Themenheft, Kalender, Fastenmail und selbstverständlich ein Internetauftritt; siehe http://7wochenohne.evangelisch.de (Stand: 22.10.2017), aber auch http://7wochenohne.evangelisch.de/die-evangelische-fastenaktion-7-wochen-ohne (Stand: 20.10.2017). Darüber hinaus sind Publikationen grundlegender Art erschienen, siehe zum Beispiel: Das Fastenlesebuch. Weniger kann mehr sein. Vom Reichtum des Verzichts im Angesicht des Überflusses, Frankfurt am Main 2003; siehe darin (a.a.O., 114–120) auch: Hans-Jürgen Benedict, Weshalb ich trotz Sympathie für „Sieben Wochen Ohne“ in den letzten Jahren nicht gefastet habe. Siehe das Aktionsarchiv: http://7wochenohne.evangelisch.de/aktionsarchiv (Stand: 23.10. 2017). Vgl. Stuart George Hall, Joseph H. Crehan, Art. Fasten/Fasttage III. Biblisch und kirchenhistorisch, TRE 11, 48–59; hier insbesondere 55f. Vgl. dazu z.B. knapp Martin H. Jung, Die Reformation. Theologen, Politiker, Künstler. Mit 9 Abbildungen, Göttingen 2008, 65.
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man die Fastenzeit ganz anders genutzt – als Zeit der Befestigung des Glaubens, und zu diesem Zweck wurden zusätzliche Passionsgottesdienste unter der Woche eingerichtet, in denen das Leiden und Sterben Jesu im Zentrum stehen sollte38 – und eben nicht ein knurrender Magen, den man dann statt mit Fleisch mit Starkbier gefüllt hat. Glaube wird und wächst nicht durch Selbstzucht, nicht durch Verzicht des Menschen, sondern durch Gottes Hergabe und Selbsthingabe – davon zu hören, soll Raum sein, dazu soll die Fastenzeit dienen. Nicht mit „Sieben Wochen ohne“, sondern mit „Sieben Wochen mit“, mit Zuspruch und Anspruch Gottes, müsste eine Fastenaktion betitelt sein, die den Blick weglenkt von einer Selbstbetrachtung des Menschen und seiner Werke – hin auf eine Christusbetrachtung und dessen – Jesu Christi – Wirken. Die konkrete Umsetzung der Aktion „Sieben Wochen ohne“ in anscheinend gar nicht so wenigen (Gemeinde-)Gruppen lässt von diesem Horizont indes kaum noch etwas deutlich werden – geht es da doch oft um Selbsterfahrung und Selbstreflexion. An einer Stelle sogar bis dahin, dass man im Zuge der Askese einfach das „christliche Kind“ mit dem Bade ausschüttet, wenn im Kontext einer geforderten Enthaltsamkeit von „großen Worten“ dann auch um „Gott“ und „Christus“ ein Bogen gemacht werden soll – so angeregt und angeraten vom Zentrum für evangeli39 sche Predigtkultur in Wittenberg. Das hat dann aber auch mit „Werkgerechtigkeit“ nichts mehr zu tun. Aber sonst sehr wohl – in einem Interview zur Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“ 2017 hat die Münchener Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler auf die Frage: „Mit der Fastenzeit vor Ostern verbindet man vor allem Verzicht – zum Beispiel auf Fleisch, Alkohol, Fernsehen oder Zigaretten. ‚7 Wochen Ohne‘ ist eher ein Appell ans Umdenken. Ist den Protestanten die Askese nicht mehr so wichtig?“ geantwortet mit: „Zeitweise Askese ist selbstverständlich und kann in der Fastenzeit genau so wie zu anderen Zeiten im Jahr gelebt werden. Diese Askese befreit Körper und Geist von Lasten, die es einem schwermachen. Aber Fasten kommt von ‚fastan‘, festhalten, im Auge behalten. Die drei Dimensionen der Existenz – die Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zum Mitmenschen – werden beim Fasten in den Blick genommen. Wer da seine Haltung überprüft und dadurch neue Einsichten 40 gewinnt, hat ein Rendezvous mit der Freiheit.“ Ein solches „Rendezvous mit der Freiheit“ ist aber nicht die „Pforte des Paradieses“, von der Luther einst gesprochen hat, sondern nur ein ganz säkularer Begriff für den erhofften Nutzen einer „Selbstund Werkgerechtigkeit“ aus Askese – und Indiz für die Hybris, dass ein Mensch wie
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Siehe dazu detailliert Ulrich Köpf, Art. Passionsfrömmigkeit, TRE 27, 722–764, hier insbesondere 750–753. Siehe http://kirchengeschichten.blogspot.de/2014/02/sieben-wochen-ohne-theaterdonner.html (Stand: 23.10.2017). Vgl. auch https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-undmedien/nachrichten/2014/02/2014_02_11_1 (Stand: 23.10.2017). Siehe https://www.evangelisch.de/inhalte/142212/16-02-2017/fasten-ist-ein-rendezvous-mit-derfreiheit (Stand: 23.10.2017).
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selbstverständlich hier auch Gott in das Geflecht seines Wohlbefindens und seiner Selbst–herrlichkeit mit einbaut und ihm darin einen Platz anweist. 10.3
Hervorkehren diakonischen Handelns als „gutes Tun“
Auch im Bereich des öffentlichen Auftretens diakonischer Einrichtungen kann man auf ein Hervorkehren von „guten Werken“ stoßen – offenkundig um darauf aufmerksam zu machen, wie gut das gute diakonische Tun den Menschen bekommt. Ganz unverhohlen gehört es zu den gegenwärtig im Bereich diakonischer Einrichtungen verwendeten Slogans, öffentlich unter „Tu Gutes – und rede darüber“ aufzutreten.41 Auch wenn die Problematik eines unter solcher Fahne geschehenden evangelisch-kirchlich-diakonischen Auftritts durchaus gesehen und auch thematisiert worden ist, hat dies dennoch nicht dazu geführt, davon Abstand zu bewahren.42 Katholischerseits argumentiert man identisch.43 10.4
Import einer katholischen Denkweise in evangelische Gesangbücher
Die katholische Vorstellung vom Mitwirken des Menschen am Heil findet sich inzwischen auch im Evangelischen Gesangbuch. Beispiel dafür ist das Lied „Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehn“:
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Siehe zum Beispiel einen von Wolfgang Hagenlocher unter diesem Titel angebotenen Vortrag im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit ambulanter Hospizdienste für das Treffen der Koordinator(inn)en und Einsatzleiter(innen) der Hospizgruppen in Baden und Hohenzollern, gemeinschaftlich veranstaltet vom Diakonischen Werk der Evangelischen Landeskirche in Baden e.V. und dem Caritasverband der Erzdiözese Freiburg e.V. am 24. Oktober 2017 in Karlsruhe (siehe http://www.holger-hagenlocher.de/termine/tue-gutes-und-rede-darueber-oeffentlichkeitsarbeitambulanter-hospizdienste, [Stand: 01.12.2017]); vgl. auch z.B. einen unter gleichem Motto publizierten Bericht über einen „Social Day“ im AGAPLESION OBERIN MARTHA KELLER HAUS, Sachsenhausen, vom 23. Juni 2014; siehe http://www.markusdiakonie.de/fileadmin/MDG_Frankfurt/Infocenter/Presse/PM_Social_Day_Juni_2014_OMK.pdf (Stand: 01.12.2017). Siehe zum Beispiel Klaus Schuhmacher, Grundlagen der Politik, in: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (Hg.), Öffentlichkeitsarbeit für Nonprofit-Organisationen, Wiesbaden 2004, 499–508, hier: 502: „Warum diese Vorsicht, warum diese Zweifel an der Zulässigkeit kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit? Es war zunächst die Sorge, dass christliche Nächstenliebe, die nach Öffentlichkeit sucht, ihren Sinn verlieren könnte, weil sie vermeintlich ihr Wesen verleugne: Wahre Nächstenliebe geschieht im Verborgenen! Und es war möglicherweise auch die Befürchtung, diakonisches Tun könne in die Nähe von (Produkt-)Werbung gerückt werden. Jedenfalls kennzeichnen diese Bedenken den weiten Weg hin zu einem Verständnis nach dem Motto: Tue Gutes und rede darüber! – was heute so etwas ist wie ein allgemein akzeptiertes Synonym für Öffentlichkeitsarbeit.“ Siehe zum Beispiel: Tue Gutes und sprich darüber (http://www.caritas-koblenz.de/presse/pressemitteilungen-liste.aspx, Stand: 23.10.2017): „Tue Gutes und sprich darüber. Regelmäßig informieren wir mit Presseinformationen über die unterschiedlichen Arbeitsfelder, Projekte und Veranstaltungen unseres Verbandes. […] Wir sind froh über die vielfältige Berichterstattung in den Medien und die damit verbundene Unterstützung unserer Arbeit.“
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„Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn, Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme. 1. Dein Reich in Klarheit und Frieden, Leben in Wahrheit und Recht. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme. 2. Dein Reich des Lichts und der Liebe lebt und geschieht unter uns. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme. 3. Wege durch Leid und Entbehrung führen zu dir, in dein Reich. Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme. 4. Sehn wir in uns einen Anfang, endlos vollende dein Reich. 44 Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.“
Assoziativ nebeneinander gestellt begegnen da zunächst die Bitte um ein (menschliches) Gehen auf dem „Weg der Gerechtigkeit“ und das Kommen des Reiches Gottes; in der dritten Strophe wird dann eine eschatologische Perspektive eröffnet: „Wege durch Leid und Entbehrung führen zu dir [Herr] in dein Reich“ – wie auch in der vierten Strophe: „Sehn wir in uns einen Anfang, endlos vollende dein Reich.“45 Damit wird das menschliche „Tun der Gerechtigkeit“, das damit möglicherweise verbundene Leid zu einem Weg in das Reich Gottes deklariert – und so der Idee Raum geöffnet, dass es einen für Menschen erfolgreich einzuschlagenden, zielführend zu begehenden Weg in die von Gott erfüllte Wirklichkeit gebe. Von reformatorischer Einsicht ist das meilenweit entfernt. 11.
Für die Zukunft: Dankbar im Dienst des Herrn – ohne Werkgerechtigkeit
Welchen Rang räumen evangelische Christen „guten Taten“ ein? Welche Rolle spielen sie im kirchlichen Alltag? Kann man nicht mit guten Taten als Kirche bestens Anerkennung in der Gesellschaft finden? Ist fünf Jahrhunderte nach der Reformation „Werkgerechtigkeit“ erledigt? Es sieht leider nicht danach aus. Umso mehr dürfte es nötig sein, stets wieder neu daran zu erinnern, dass 1. Gott für sich in Anspruch nimmt, ganz für unser Heil zu sorgen – sein Erbarmen, seine Gnade, seine Vergebung ist in keiner Weise unsere Leistung, weder in Ursache noch Wirkung, sondern es ist seine Ehre; dass 2. nicht wir diejenigen sind, die Auftrag und Berufung hätten, sich bei ihm zu greifen, was uns für uns passend zu sein dünkt; und dass 3. unsere Rolle Gott gegenüber diejenige ist und bleibt, die nach der Überlieferung des Lukasevangeliums Jesus seinen Jüngern mit dem Gleichnis vom Knechtslohn vermittelt: 44 45
EG 675. Ebd.
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„Wer unter euch hat einen Knecht, der pflügt oder das Vieh weidet, und sagt ihm, wenn der vom Feld heimkommt: ‚Komm gleich her und setz dich zu Tisch?‘ Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: ‚Bereite mir das Abendessen, schürze dich und diene mir, bis ich gegessen und getrunken habe, und danach sollst du essen und trinken? Dankt er etwa dem Knecht, dass er getan hat, was befohlen war?‘ So auch ihr! Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: ‚Wir sind unnütze 46 Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.‘“
Gottes ist das Evangelium, der Menschen Auftrag ist, im Lichte und im Vertrauen darauf zu tun, was nun einmal an Aufgaben ansteht. Auch der gnädige Herr bleibt der Herr – und der Mensch, dem Gnade widerfährt, bleibt derjenige, der im Dienst des Herrn steht. Aufhebens darum zu machen, ist nicht angesagt: „Wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“47 Dieser Herr wird einst auch an den von ihm gedeckten Tisch rufen. Bis dahin sind wir frei, ganz einfach auf Erden fleißig – und glücklich und dankbar für das Evangelium seiner Gnade, dankbar, dass er das Thema „Werkgerechtigkeit“ erledigt hat. Daran soll im Jahr des 500. Reformationsjubiläums erinnert sein – und über dieses Jahr hinaus die Erinnerung lebendig bleiben.
46 47
Lk 17,7–10. Lk 17,10.
„Thut mir auf die schöne Pforte …“ Benjamin Schmolcks Seelsorge für den Weg zur Mitte Ernst Koch 1.
Schlesien nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges – die Gegenreformation
Der Ausgang des Dreißigjährigen Krieges bedeutete für die der Reformation entstammenden Kirche Schlesiens insofern eine große Bedrohung, als über große Teile des Landes eine gewaltbereite Gegenreformation hereinbrach, getragen durch das Zusammenspiel zwischen dem Habsburgischen Hof und den Breslauer Bischöfen. Der Zusammenarbeit zwischen Kursachsen und Schweden im Anschluss an das Westfälische Friedenswerk von 1648/1650 war es zu verdanken, dass für die besonders bedrängten Habsburgischen Erbfürstentümer Schweidnitz und Jauer nach langen Verhandlungen durch kaiserlichen Gnadenerlass – also nicht durch Verleihung eines Rechtes – die Gründung von drei Kirchen gestattet wurde, die den Namen „Friedenskirchen“ erhielten. Sie durften unter Verzicht auf Türme und die Baumaterialien Stein und Dachziegel am Rand der Städte Glogau, Jauer und Schweidnitz errichtet werden. Die Kirche in Schweidnitz wurde das einzige lutherische Gotteshaus für das gesamte Gebiet des gleichnamigen Habsburgischen Erbfürstentums. Am 1. Sonntag nach Trinitatis, dem 24. Juni 1657, konnte hier der erste Gottesdienst gefeiert werden. Zur Gemeinde der Friedenskirche gehörten 14.000 Glieder aus der Stadt selbst 1 und 16 Dörfern. Bedenkt man ihre Schicksale, aber auch die Abwanderungsbewegungen bei zunehmendem Druck der gegenreformatorischen Aktivitäten sowie erneutem Zuwachs nach späteren Lockerungen, dürfte ihre Anzahl im Laufe der Zeit geschwankt haben. 1669 wurde die Erlaubnis für lutherische Christen bestätigt, sich zu privater Lektüre geistlicher Literatur, begleitet von Gesang und Gebet, zu versammeln. Eine Wendung brachte die am 1. September 1707 in Kraft gesetzte, maßgeblich durch politischen Druck des schwedischen Königs Karl XII. im Zusammenhang des Nordischen Kriegs auf den Weg gebrachte Konvention von Altranstädt bei Leipzig. Sie setzte für Schweidnitz die Beschränkung auf die Anstellung von drei Geistlichen außer Kraft, erlaubte die von Prozessionen begleitete Feier von 1
Georg Baumgart, Benjamin Schmolck (1672–1737). Das geistliche Lied zwischen Poesie und Erbauung, in: Schweidnitz im Wandel der Zeiten, bearb. von Werner Bein und Ulrich Schmilewski, Würzburg 1990, 207.
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Bestattungen und die Wiedereinrichtung lutherischer Schulen. Allerdings verblieb auch weiterhin das Pfarrrecht bei der zuständigen römisch-katholischen Pfarrei, der Stadtpfarrei von Schweidnitz, an die die anfallenden Gebühren für Kasualien abzuführen waren.2 2.
Benjamin Schmolck als Seelsorger an der Friedenskirche
Benjamin Schmolck, geboren 1672 in Brauchitschdorf/Schlesien als Sohn eines Pfarrers, wurde nach Schulbesuch in Steinau an der Oder, Liegnitz und Lauban, dem Studium der Theologie in Leipzig zwischen Herbst 1693 und 1697, Ordination 1701 in Liegnitz und Tätigkeit als Adjunkt des Vaters im Jahre 1702 als Diakon an die Friedenskirche in Schweidnitz berufen. 1708 wurde ihm die Archidiakonatsstelle übertragen, ab 1714 fungierte er als Primarius und Inspektor von Kirchen und Schulen. Ein Schlaganfall im Frühjahr 1730 brachte ihm einen Kuraufenthalt ein. Zwei weitere Schlaganfälle führten zu seiner Erblindung, sodass er seit dem Herbst 1735 keinen Gottesdienst in der Friedenskirche mehr leiten konnte. Am 2. Februar 1737 starb er und wurde in Schweidnitz bestattet. An Sonn- und Festtagen wurden in der Friedenskirche zwei Gottesdienste gefeiert. Hinzu kamen außer den täglichen Morgen- und Abendgebeten weitere Gottesdienste an Wochentagen. Ein 1714 formulierter Zusatz zur Kirchenordnung bestimmte für die Sommerzeit die Feier von drei Gottesdiensten an Sonn- und 3 Festtagen sowie die Erweiterung des Angebots von Zeiten für Beichten und Taufen, die nunmehr auch während der Wochengottesdienste stattfinden durften.4 Das Gotteshaus bot Raum für 3.000 Sitzplätze und 4.500 Stehplätze. Seit 1707 fanden insgesamt sechs Geistliche Anstellung. Benjamin Schmolck begann bereits bald nach seiner Berufung an die Friedenskirche damit, Hilfen zur Begleitung der lutherischen Christen auf ihren Wegen zur Kirche bereitzustellen. Zu den ersten Liedtexten, die er veröffentlichen ließ, gehörten Lieder für den Weg von Taufpaten, die den Täufling zur Kirche und nach der Taufe in sein Elternhaus brachten. 1717 erschien erstmals ein Bändchen, das der Verleger dem „Einigen GOTT Und IHM Bekandten Werthen Freunden“ widmete und das einen Zyklus von Liedern für den Weg zum Gottesdienst und die Rückkehr zum Wohnort dieser „Freunde Gottes“ enthielt: „Geistlicher Wanderstab Des Sionitischen Pilgrims, Oder: Kurtz gefaßte Gebethund Lieder-Andacht Derer, so in die Kirche reisen, In die Hand Und an die Hand 5 gegeben“. Der Bedarf nach solcher Hilfe scheint groß gewesen zu sein. Auch ande-
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Norbert Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1701–1709, Köln/Wien 1971, 122. Hans Jessen, Walter Schwarz (Hg.), Schlesische Kirchen- und Schulordnungen, Görlitz 1938, 295. A.a.O., 299. Die erste Auflage erschien in Schweidnitz und Jauer. Weitere Auflagen: 1719, 1721 (?), 1722, 1726 und 1736.
„Thut mir auf die schöne Pforte …“
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re Liedsammlungen Schmolcks enthielten einschlägige Texte. Wenn im Folgenden ein Textzyklus mit anderem Titel von 1732 zur Sprache kommen soll, liegt der Grund dafür darin, dass diese Veröffentlichung um mehr als das Dreifache umfangreicher und ihrem Inhalt nach reichhaltiger war als die Sammlung von 1717. 3.
Der „Geistliche Kirchen-Gefährte“
Im Jahre 1732 erschien in Schweidnitz, von Benjamin Schmolck verfasst, ein neben Titel und Vorreden 226 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel „Der Geistliche Kirchen-Gefährte, Oder Gebet und Lieder Vor Diejenigen / die In die Kirche reisen“.6 Das Bändchen stellte, wie schon seine Vorgänger, einen Duodezdruck im Hochformat dar, das bedeutete, dass der Besitzer es, vergleichbar einem modernen Taschenbuch, bequem in einer Gewandtasche jederzeit mit sich führen konnte. Schmolck widmete es „Zweyen Christlichen Haus-Vätern in dem Gebürge / Seinen sehr werthesten und geliebtesten Freunden“7, ohne freilich deren Namen zu nennen. Er hatte mit ihnen seit 1½ Jahren Kontakt während des bereits erwähnten Kuraufenthaltes in Bad Charlottenbrunn (Jedlina Zdrój), im Waldenburger Bergland gelegen, gehabt und war dabei durch sie in den Genuss vieler Wohltaten gekommen. So wünschte er, der seitdem täglich ihrer im Gebet gedacht hatte, dass Gott ihrer im Segen gedenke. Die Anrede lässt vermuten, dass diese Freunde Schmolcks nicht zum mit der lutherischen Reformation verbundenen schlesischen Adel gehörten. Jedenfalls erwähnte Schmolck in seinem Widmungsschreiben ihre unwegsamen Kirchwege und berichtete, er habe „bey gesunden Tagen, wenn mich mein Amt zu denen Krancken ins Gebürge ruffte, manchen Stoß auf diesen rauhen Wegen empfunden“, was ihm bei Licht besehen aber auch dienlich gewesen sei. „Es ist nichts so böse, das es nicht zu etwas gut ist. Der rauhe Weg, den Sie nach Zion thun müssen, wird Ihrer Seelen auch allemal zum besten dienen, wenn Sie GOTT zum Begleiter, und Ihr Hertze allemahl bey GOTT haben werden. Das Wort des Lebens, um dessentwillen Sie eine so schwere Reise über sich nehmen, wird Ihnen eine reichliche Ersetzung liefern. So wird Ihr Außgang geseegnet seyn, und 8 auch Ihr Eingang.“
So deutet Schmolck bereits in der Widmungsvorrede an, welchen Empfängerkreis er für das Bändchen im Auge hat. Es handelt sich um Christen, die weite, wohl stundenlange Wege vor sich haben, wenn sie am Gottesdienst teilnehmen wollen.9 Ihnen legt er einen Zyklus von Gebetstexten und Liedern vor, die sich in einem 6 7 8 9
Im Folgenden: Kirchen-Gefährte. Kirchen-Gefährte, Bl. )( 1v. A.a.O., Bl. )( 2r-v. Rudolf Nicolai, einer der Biographen Schmolcks, bemerkt zum „Geistlichen Wanderstab“ mit Recht, sein Inhalt sei „nur für die schlesischen Verhältnisse berechnet“ (Benjamin Schmolck, Sein Leben und seine Werke, Liegnitz 1909, 80). Es gilt auch für den „Kirchen-Gefährten“.
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ersten Teil zu Themen formieren, die dem Gottesdienst und seiner individuellen Vorbereitung, dem Weg zur Kirche, der Predigt, der Beichte und ihrer Vorbereitung, der Kommunion, dem Rückweg von der Kirche und dem Hausgottesdienst gewidmet sind und in einem zweiten Teil der Taufe, der Trauung, dem Thema Sterben und Bestattung und der Krankenseelsorge gelten. In der Vorrede an die „fleißigen Kirchgänger“ gibt Schmolck zu bedenken, wie sie sich auf den Weg vorbereiten können und welche Schwierigkeiten sich für sie einstellen werden. Hier wendet er seinen Blick weniger den Vorsichtsmaßnahmen zu, die bei jedem weiten Weg anzuraten sind. Er spricht die Kirchgänger als solche an, die sich auf den Weg zur Mitte des Glaubens begeben, zum Hören des Wortes Gottes und zur Feier der Sakramente. Er fragt: „Was wirfft uns Fleisch und Blut vor Hindernüsse in den Weg / der uns nach Zion führet?“ Was macht dem Kirchgänger die Füße so schwer, wenn er in die Vorhöfe des Herrn treten soll? Wohl befahl (nach Gen 19,17) der Engel Lot, nicht hinter sich zu sehen. „Aber das Hertz bleibet gar 10 offt zu hause / wenn es soll eine Behausung GOttes werden“. Das bedeutet, dass die Vorbereitung auf den Weg schlecht ist, „man ergreifft den Wander-Stab mit ungewaschenen Händen. Man tritt auf die heiligen Wege mit unreinen Füssen“. Dabei sollte man doch (nach Eph 5,14f.) die Waffenrüstung Gottes anlegen. „Sollte man oft fragen: Was sind das vor Reden / die ihr zwischen euch handelt unter Weges? O was vor faule Geschwätze und Narrentheidungen würden heraus kommen“, und dabei sei man doch auf dem Weg zur Kirche und wolle mit Gott sprechen. „Wie laulich ist alsdenn der Gottes-Dienst?“11 Schmolck sieht in diesem Falle – in Anspielung auf Jes 7,4 – „rauchende Lösch-Brände“ vor sich. Fällt doch der göttliche Same oft unter die Dornen und auf einen felsigen Acker. Beichte ohne Reue, Empfang des Sakraments ohne Glauben sind die Folgen. „Alles geschiehet nur aus Gewohnheit / ungeprüfet / ungebessert / und so gehet man auch wiederum von dannen. Wenn man der Kirche den Rücken gekehret / so wirft man auch des HERREN Wort hinter sich […] Wie kan das Wort GOttes alsden(n) seine Frucht bringen / wenn es auf solche Weise an seiner Kraft gehindert wird / und wie wollen solche fruchtlose Kirch-Gänger einsten vor Gott bestehen / wenn es einmahl zur Rechenschaft 12 kommen wird?“ Die Ursache dafür sieht Schmolck darin, dass man die Augen zu wenig nach den Bergen hebt, ehe man sie besteigt (vgl. Ps 121,1) – „(d)as ist / man bethet zu wenig / ehe man in die Kirche gehet / und wenn man auf dem Wege zur Kirche ist. So bethet man auch an dem Orte zu wenig / welches ein Beth-Haus ist“, wie auch das Gebet auf dem Rückweg von der Kirche nach Hause wichtig ist.13 So beschreibt Schmolck den Sinn seiner Veröffentlichung. Darum legt er Gebete und ausnahmslos selbst gedichtete Lieder vor, die dazu helfen können, dass die Teilnehmer am Gottesdienst Gott auch „mit eigenen Worten ihr Anliegen in seinen 10 11 12 13
Kirchen-Gefährte, Bl. )( 4r-v. A.a.O., Bl. )( 4v. Zu beachten ist das Zitat aus der Emmaus-Geschichte Lk 24,17. A.a.O., Bl. )( 4v-5r. A.a.O., Bl. )( 5v.
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Schoos werffen. Ihren Kirch-Weg lasse er allezeit heilig seyn / und ihre Andacht auf demselben einen Vorschmack von der Freude geben / die sie einmahl auf dem Wege zum Himmel haben werden. Ihr Begleiter auf diesem Weg sey JEsus / der selber der Weg / die Wahrheit und das Leben ist.“14 Das Büchlein bietet dem, der es benutzt, in 75 thematischen Schritten jeweils ein Gebet und – mit wenigen sachlich begründeten Ausnahmen – ein Lied für jede einzelne Station des Weges zum Gottesdienst und seiner Mitfeier. Nach der Besinnung und der Bitte um Geist und Andacht für den, der beten will, hat Schmolcks Sammlung die Vorbereitung auf den Weg zur Kirche im Blick: den Morgensegen am Tage, an dem der Gottesdienst gefeiert wird,15 und die Beichte, an der der aufbrechende Christ gegebenenfalls teilnehmen wird, zusammen mit dem Verlauf des ganzen Gottesdienstes und die Heimkehr an den Wohnort.16 Erste Station des Weges ist der Aufbruch von zu Hause – ein Gebet und ein Lied, wenn man sich auf den Weg macht.17 Auch ein „Wander-Lied Dererjenigen / so in die Kirche reisen“ ist zusammen mit einem Gebet vorgesehen.18 Vergessen ist auch nicht die Witterung. Für dieses Anliegen sind ein „Gebeth / Bey bösem Wege und Wetter“ und ein „Lied / Um unbequemes Wetter auf der Kirchen-Reise“ vorgesehen. Das Lied beginnt mit den Worten. „Es woll uns Gott genädig seyn / Und lieblichs Wetter geben“.19 Benjamin Schmolck denkt auch an Leute, die nicht zu Fuß unterwegs sind, sondern mit einem Fahrzeug. Für sie sind spezielle Texte vorgesehen.20 Einer eigenen Station des Weges zur Kirche gelten ein „Seufzer / Wenn man die Kirche erblicket“ und ein „Freuden-Lied / Wenn man die Glocke höret“.21 Auch die Predigt wird durch sie umrahmende Gebete begleitet, die Schmolck vorschlägt.22 Für den Ort nach der Predigt ist ebenfalls ein Liedtext als Dankgebet des Predigthörers vorgesehen.23 Bereits an dieser Stelle im Fortgang des Gottesdienstes finden sich die Gebete zum Schlusssegen des Gottesdienstes,24 während sich in der weiteren Abfolge die Gebete und Lieder zur Beichte anschließen.25 Sie werden unterbrochen durch „Seufzer“, nämlich jeweils drei kurze zur Auswahl vorgesehene Reimgebete vor und nach der Beichte.26 Die Gebete und Lieddichtungen zur Beichte nehmen Bezug auf den Empfang des Abendmahls. Diese sind entsprechend der Struktur der Beichttexte angeordnet – auch sie enthalten „Seufzer“ 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
A.a.O., Bl. )( 6r. A.a.O., 4–10. A.a.O., 10–15. A.a.O., 16–21. A.a.O., 21–28. A.a.O., 29–34. A.a.O., 34–39. A.a.O., 39–42. A.a.O., 49–52.54–56. A.a.O., 57–59. A.a.O., 59–62. A.a.O., 62–88. A.a.O., 74–76.
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vor dem Empfang des gesegneten Brotes und des gesegneten Kelchs, die aber als Prosatexte gestaltet sind und lediglich am Schluss ein Reimgebet bieten.27 Nun wendet sich der „Kirchen-Gefährte“ dem Heimweg der in der Beichte losgesprochenen Kommunikanten zu, die dazu angeleitet werden, ihren tiefen Dank, ihre Freude und ihre Bitten auszusprechen.28 Dem Aufbruch am Morgen entsprechend findet der Teilnehmer am morgendlichen Gottesdienst zusammen mit einer Lieddichtung einen Abendsegen vor.29 Damit schließt sich der Kreis der gottesdienstlichen Stationen des sonn- und festtäglichen Gottesdienstes. Der letzte Teil des „Kirchen-Gefährten“ ist Kasualien gewidmet. Er enthält neben einer Andacht für Paten, die mit einem Kinde zur Taufe unterwegs sind und ein zugehöriges Lied sowie entsprechende Texte für ihre Rückkehr von der Taufe,30 Andachten und Lieder für (künftige) Eheleute,31 ein Gebet und ein Lied für eine Mutter (Sechswöchnerin) bei ihrem ersten Kirchgang.32 Der „Seufzer / Einer betrübten Kirch-Gängerin“ und ein „Trostlied Rahels“33 sind für eine Mutter bestimmt, deren Kind während der Geburt gestorben ist. Dem Alltag und seiner Bewältigung dienen Texte für Kranke,34 darunter auch ein Gebet eines Kranken, der „wegen langwieriger Kranckheit nicht in die Kirche kom(m)en kann“35 und ein Lied „wenn er an Zion gedencket“36, aber auch ein Gebet „derer / welche die Kirche in der Ferne haben“37. Ferner hatte Schmolck die Erinnerung daran im Auge, dass der Tod täglich drohte („Heute mir und morgen dir“),38 und ebenso die Tätigkeit der Leichbegleiter und Sargträger.39 Eine Besonderheit der Gebetstexte des „Kirchen-Gefährten“ besteht darin, dass ihren Bitten, von Ausnahmen, den „Seufzern“ während der Kommunion, abgesehen, Antworten Gottes in Gestalt ausgewählter biblischer Texte folgen, also einem Dialog entsprechen. Damit ermutigen sie den Beter zum Vertrauen auf Gottes Erhörung. Jedes dieser Lieder versieht Schmolck mit Angaben der Melodie, nach der sie zu singen waren. Es handelt sich ausnahmslos um Melodien bekannter und viel gesungener Kirchenlieder, was sich auch an den Liedern zeigt, die mit dem gleichen Text wie das Lied der Melodievorlage beginnen, also „Initialkontrafaktu27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
A.a.O., 88–114; die „Seufzer“, 100–102. A.a.O., 114–132. A.a.O., 132–137. A.a.O., 153–164. A.a.O., 164–178. A.a.O., 178–182. A.a.O., 182–187. A.a.O., 188–193. A.a.O., 216–224. A.a.O., 224–226. A.a.O., 299–204. A.a.O., 205–208, ein allgemeines Lied für den Kirchweg in Gestalt einer Strophendichtung nach Ps 23. A.a.O., 197–199. A.a.O., 194–197.
„Thut mir auf die schöne Pforte …“
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ren“ darstellen. Ein Beispiel dafür ist das bereits oben zitierte Lied „Es woll uns Gott genädig sein“.40 Er hatte jeweils für sie ein Versmaß gewählt, das in seiner Melodie der eines bekannten Kirchenliedes entsprach. Dies bedeutet aber auch, dass Schmolck damit rechnete, dass die von ihm verfassten Lieder, sofern ihr Text zur Hand war, ohne weiteres von einer Gruppe von Kirchgängern gemeinsam gesungen werden konnten. So war der zum Gottesdienst Aufgebrochene mit dem Lied für einzelne Stationen seines Kirchweges nicht allein gelassen, sondern war Glied einer Gemeinschaft von betend Singenden, die auf dem Weg zum Gottesdienst waren. 4.
Der Weg zu Kirche und Gottesdienst als Weg zur Mitte des Glaubens
Schmolcks „Kirchen-Gefährte“ mit Angeboten für Gebet, Lied und Betrachtung steht im 17. und 18. Jahrhundert nicht allein da. An Gebet- und Betrachtungsbüchern mangelte es nicht. Immer wieder enthielten solche Sammlungen auch Vorschläge für Gebete während der Feier des Gottesdienstes vom Betreten der Kirche 41 bis zum Schlusssegen. Sie galten jedoch eher der Aufmerksamkeit der den Gottesdienst Mitfeiernden während des Gottesdienstes, indem ihnen angeboten wurde, beispielsweise während der (lateinischen) Kirchenmusik im Gebet dem Inhalt der zu hörenden Stücke zu folgen.42 Das Interesse des Seelsorgers Benjamin Schmolck richtete sich also auf die Gestaltung des Hin- und Rückweges zur Kirche und zum Gottesdienst vom Morgen bis zum Abend des Sonn- oder Festtags. Ihn bewegte dazu z.B. die Sorge darum, dass die Teilnahme am Gottesdienst angesichts der für viele Mitchristen anstehenden Anstrengungen durch die stundenlangen weiten Wege bei jeder Wetterlage nicht zur Ableistung lästiger Pflicht verkam. Noch dazu ließ die extreme Diasporasituation der Bekenner der Augsburgischen Konfession in Schlesien, verstärkt durch den politischen Druck der Gegenreformation, befürchten, dass man sich daran gewöhnte, dem Gottesdienst fern zu bleiben. Andererseits konnte gerade dieser Druck mit dazu dienen, sich des Gottesdienstes als der Mitte des Glaubens bewusst zu werden. So zeigt es einen Einblick in zentrale Inhalte des „Kirchen-Gefährten“. Dieser Aspekt bestätigt sich im „Kirchen-Gefährten“ auf Schritt und Tritt. Die Kirche ist für Schmolck der „Port“, „Wo ich Himmels-Güter lade, Heyl und Leben, 43 44 Lust und Gnade“ , der Ort des Thrones Gottes , an dem der Herr das Gedächtnis 40 41
42 43 44
Vgl. oben zu Anm. 19 und Nicolai (wie Anm. 9), 39. Vgl. das weit verbreitete Gebetbuch von Michael Cubach, Einer Gläubigen Seele Täglicheß BetBuß-Lob- und Danckopffer […], Leipzig 1654. 17 weitere, oft veränderte Auflagen bis 1743. Vgl. auch Philipp Kegel, Zwölff Geistliche Andachten, Hamburg 1593. 26 weitere Auflagen bis 1695. Vgl. Cubach (wie Anm. 41), 134–138 (Ausgabe von 1701) und Kegel (wie Anm. 41), 126–181 (Ausgabe von 1624). Kirchen-Gefährte, 10. A.a.O., 15.
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seines Namens gestiftet hat45, die „Stätte / Wo Gott sein Heerd und Feuer hält“46, der Ort, an dem Gott sein Manna „thauen“ lässt47 und die hungrigen und durstigen Seelen erquickt werden48, Pforte des Himmels49, der Hain Mamre50, die Höhle Elias51, Zion52, das Heiligtum53, das Allerheiligste54. Das bedeutet, dass Schmolck die Bezeichnungen des alttestamentlichen Tempels und die Orte der Offenbarung Gottes unmittelbar auf das Kirchengebäude übertragen kann. Dafür spricht auch die Übernahme der Bezeichnung „Jerusalem“ als Bezeichnung des Gottesdienstraumes, zu dem hin die Teilnehmer am Gottesdienst unterwegs sind. Beim ersten Anblick der Kirche wächst ihre Sehnsucht nach den Toren Jerusalems – Schmolck zitiert an dieser Stelle die Stimme Paul Gerhardts und legt sie den bald Ankommenden in den Mund: „Lass mich, lass mich hin gelangen, da du mich und ich dich 55 leiblich werd umfangen.“ Damit erscheint aber auch sogleich der Antitypus des Tempels: „Du Kirchen-Himmel voller Sterne / Du Krippe, wo mein JEsus liegt / Du Berg, den Christi Creutze ziert / Du Pforte, die gen Himmel führt.“56 5.
Wege und Gefahren
Schmolcks Buch ist darauf angelegt, dazu zu helfen, den Weg zur Kirche und den Heimweg nach dem Gottesdienst als heiligen Weg zu verstehen.57 Machen sich die Teilnehmer am Gottesdienst auf ihren oft weiten Weg, so gehen sie mit den Jüngern den Weg nach Emmaus,58 sie folgen denen, „die da wallen zum Hause GOttes“, so wie Maria über das Gebirge zu Elisabeth gegangen ist.59 Angesichts der Mühen des Weges empfiehlt ihnen Schmolck „das Andencken / der Fußstapfen JESU / welcher auch in der Wüsten gewandelt hat“.60 Wiederum stellt sich auch hier die Erinnerung an das Vorbild des Alten Bundes ein: „Lass mich dein Jacob sein / der sein Bethel findet“61 – so möge man unterwegs beten.
45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61
A.a.O., 22. A.a.O., 26. A.a.O., 27 und 44. Vgl. Ex 16,13–14. A.a.O., 291. A.a.O., 46. A.a.O., 143. Vgl. Gen 18,1ff. Ebd. Vgl. I Reg 19,9–13. A.a.O., Bl.)( 4r; 47. A.a.O., 16. A.a.O., 28. A.a.O., 40 (Anspielung auf Ps 122). Vgl. auch a.a.O., 7. A.a.O., 26. „Der Weg ist heilig / der mich in das Heiligthum bringen mag“ (A.a.O., 16). A.a.O., Bl. )( 4r; 143. Vgl. Lk 24,13–35. Der Kupferstich vor dem Titelblatt zeigt den Weg zur Kirche als Weg Jesu mit den Emmaus-Jüngern. A.a.O., 6. Vgl. Lk 1,30. A.a.O., 7. A.a.O., 8.
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Kupferstich vor dem Titelblatt
Immer wieder erinnert Schmolck daran, dass der Weg wohl von außen, aber vor allem von innen her gefährdet und vom Bösen umlauert ist. „AUf keinem Wege giebt es mehr Abwege / als auf dem Kirch-Wege“ – so beginnt die Vorrede an den Kirchgänger.62 Solche gefährlichen Abwege drohen durch böse Gesellschaft unterwegs. So gerät der, der auf dem Weg zur Kirche ist, eher auf den Weg nach Jericho, als dass er mit Jesus nach Emmaus unterwegs ist.63 So soll er zunächst Gott um Vergebung der Sünden bitten, die Sorgen ablegen, die den Samen des Wortes Gottes nicht ersticken dürfen.64 Die gegenseitige Erbauung auf dem Weg ist angesagt, gegenseitig, „wie ein Licht das ander entzündet“.65 Gott bitten soll der Christ, der unterwegs ist: „Gieb daß der Schnee nicht länger bleibe auf dem Felde / und das Regen-Wasser nicht so bald verschüsse / als deines Wortes bey mir vergessen wer-
62 63 64 65
A.a.O., Bl. )( 4r. A.a.O., 18. A.a.O., 20. A.a.O., 19.
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de. Sondern laß meine Seele dürsten nach dir / wie ein dürres Land […] Predige mir auf diesem Wege ins Hertze / daß es brennen möge wie bey den Jüngern.“66 So beginnt der Gottesdienst des frommen Kirchgängers schon unterwegs. Denn das, was ihm unterwegs begegnet, wird ihn an geistliche Schätze erinnern: Muss er über Berge steigen, so möge er an den Gottes Bund denken, „welcher viel besser gegründet ist“ als die Berge. Begegnen ihm Felsen und Steine, so möge ihm Gott den Fels des Heils und den Eckstein seiner Seligkeit zeigen. Erblickt er einen schattigen Baum, so bitte er Gott: „[…] lass mich freuen über den Baum des Lebens / und in dessen Schatten mit der Sulamith meine Ruhe suchen.“67 So wird der Weg zur Kirche verkürzt „mit heiligen und himmlischen Gedancken.“68 Wird die Reise unwegsam oder durch schlechtes Wetter erschwert, so besinne sich der Kirchgänger auf den schmalen Weg, der zum Himmel führt.69 Denn immer ist Gottes Wort die Leuchte für die Füße. In diesem Falle erinnert es an den Nutzen der Anfechtung: „Der Creutz-Wind muß durch meinen Garten wehen / wo meine Würtze triefen soll.“70 Gibt es doch „Steine des Anstoßes die nicht nur unserm Leibe Gefahr bringen / sondern auch unsern Sinn zerrütten können.“ Darum ist die Bitte an Gott angebracht: „Führest du uns zur Kirchen / so führe auch unser Gemüthe zum Himmel.“71 6.
Vor dem Heiligtum
Unterwegs, vor dem Eintritt in die Kirche ist erneut Gelegenheit zu bedenken, worum es bei der Feier des Gottesdienstes geht. Die Eintretenden werden darauf aufmerksam gemacht: „Doch hört: Es ist des HErren Hauß. / Drum zieht die Sünden-Schuh vor aus.“72 Denen, die die Kirche erreicht haben, legt Schmolck die Bitte in den Mund: „Heilige Dreyfaltigkeit / ich erscheine vor deinem Allerheiligsten Angesichte. Heiliger Vater / hier ist dein Kind / heilige mich in deiner Wahrheit. Heiliger JESU / hier ist dein Gliedmaß / mache mich lebendig durch dein Wort. Heiliger Geist / hier ist deine Werckstadt / würcke in mir das Wollen und das Vollbringen zum Guten. O wie lieblich ists in deinen Vorhöfen / du Herr Zebaoth […] Oeffne mir die Ohren / so höre ich / was zu meinem Friede dienet. Oeffne mir den Mund / so bethe und singe ich mit Andacht für dir. Oeffne mir das Hertz / so behalte ich dei73 nen Saame(n) / und bringe Früchte in Geduld.“
66 67 68 69 70 71 72 73
A.a.O., 21.23. A.a.O., 23–24. Vgl. Cant 2,8. A.a.O., 7. A.a.O., 29. A.a.O., 30. Vgl. Cant 4,16. A.a.O., 35. A.a.O., 27. Vgl. Ex 3,5. A.a.O., 42–44.
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Auch dem Prediger gilt das Gebet dessen, der die Kirche betritt: „Lege deinem Diener in den Mund / was er mit mir reden soll. Gieb ihm Mund und Weißheit / mir aber Lust und Aufmercksamkeit.“74 „Ach verhüte“, so bete der Christ vor dem Betreten der Kirche, „daß ich nicht unter denjenigen sey, welche dein Beth-Hauß mit unreinen Gedancken und heuchlerischen Wesen zur Mörder-Grube mache!“75 Schmolck bewegt die Sorge um „faul Geschwätze“ im Gottesdienst im Vorfeld der Predigt und legt den Teilnehmern am Gottesdienst die Bitte an Gott in den Mund: „Neig Ohr und Hertz zu unsern Priestern, / Daß uns kein Wort entfallen kann. / So führ uns durch die Kirchen-Thüren / Ins Allerheiligste hinein. / Sobald wir gehen in Tempel ein, / So laß uns selbsten Tempel sein.“76 „[…] Schleuß den Mund in Schrancken ein, / Daß er redt, was sich gebühret. / Singen, Bethen laß allein / Unsere Vergnügung seyn.“77 Hört man die Glocken läuten, ist dies die Aufforderung: „[…] Komm doch, werf alles hinterwerts.“78 An dieser Stelle fügt Schmolck unter dem Titel „Erscheinung vor GOTT“ das Lied ein, das bis heute manchmal seinen Ort am Beginn des Gottesdienstes hat: „Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein.“79 Diese Lieddichtung erscheint in den Werken Schmolcks hier zum ersten Mal,80 gehört also zu den Liedern des „Kirchen-Gefährten“, die nicht aus bereits erschienenen Titeln aus der Feder des Schweidnitzer Pfarrers übernommen, sondern erst im Zusammenhang dieses Buchs entstanden sind. 7.
Die Predigt
Zum Themenkreis der Predigt gehören im „Kirchen-Gefährten“ die Texte, die sowohl für die Christen bestimmt sind, die wegen zu großer Entfernung zur nächsten Pfarrkirche oder aus anderen Gründen an einem Hausgottesdienst teilnehmen, in dem eine Predigt verlesen wird, als auch denen, die sich auf den Weg zum Gottesdienst gemacht haben, in dem sie die Kommunion empfangen werden. 74 75 76 77 78 79
80
A.a.O., 45. A.a.O., 46. A.a.O., 28. A.a.O., 39. A.a.O., 41. A.a.O., 47–49. Die Textfassung im „Kirchen-Gefährten“ schließt mit einer weiteren Strophe: „Oeffne mir die grünen Auen, Daß dein Lamm sich weiden kann, Lasse mir dein Manna thauen, Zeige mir die rechte Bahn, Hier in diesem Jammerthal, Zu des Lammes Ehren-Saal“ (A.a.O., 49). Noch Karl Christian Thust, Die Lieder des Evangelischen Gesangbuchs, Bd. 1, Kassel u.a. 2012, 292, datierte den Erstdruck des Liedes auf das Jahr 1734. Ilsabe Seibt hat erstmals auf den Kontext des Liedes in einem Liederzyklus aufmerksam gemacht (Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 14, Göttingen 2008, 25–28).
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Für die Erstgenannten fügt Schmolck in einem weiteren Teil des „KirchenGefährten“ noch eine weitere Reihe von Texten zu Gebet, Gesang und Betrachtung an. Der folgende Text jedoch deutet auf den Ort, dem er zugeordnet ist: „HausAndacht / Bey Verlesung einer Predigt.“81 Es handelt sich um einen Ort, „wo zwey oder drey versammlet sind“. Schmolck legt ihnen die Anrede an Gott in den Mund: „Unser Verlangen stehet nicht nach deinem Tempel / zu welchem wir aber heute nicht gelangen können. Es ist keine Verachtung / die uns davon abhält / sondern die Entfernung.“82 Von „unserer kleinen Versammlung“ ist die Rede, von „Brotsamen / die anderwerts von deinem Tische gefallen sind“, von „Manna […] / was andre Israeliten schon gesammlet haben / […] was fromme und geistreiche Männer aufgeschrieben haben. Wir wollen wiederkäuen / was ihnen wohlgeschmecket hat.“83 Es handelt sich also um einen Hausgottesdienst in der Diaspora mit Verlesung einer gedruckten Predigt, an dessen geistlicher Vorbereitung dem Seelsorger Schmolck gelegen hat. Dem entsprechen die folgende „Andacht / Bey Verlesung einer Predigt“, ein Lied, das mit den Worten beginnt: „GOTT Lob! daß über uns der Himmel / An allen Orten offen ist“84, ein „Gebeth / nach gelesener Predigt“85 und eine Betrachtung als „Versiegelung des gelesenen Wortes GOttes“86. Am Abend nach Rückkehr vom Gottesdienst werden sie Gott bitten: „Wenn mein müder Leib durch den Schlaf erqvicket wird, so stärke meinen Geist durch das gehörte Wort“. „Nach gehaltener Kirch-Fahrt“ heißt es: „Dein Mund hat mich gelehrt. / Dein Auge mich geblicket, / Dein Ohr mich angehört, / Dein Hertze mich erqvicket.“87 Der heimgekehrte Predigthörer gleicht einer Biene, die den Honigseim nach Hause trägt.88 Hören die Teilnehmer am Gottesdienst, wo immer sie sich versammeln, die Predigt als Auslegung des Wortes Gottes, so ist das Empfangsorgan das eigene Herz. Ist doch das Wort Gottes identisch mit Christus selbst. „[…] lege dich durchs Wort in mein Hertze“, soll der Beter vor der Predigt Christus bitten,89 und nach der (vorgelesenen) Predigt: „Laß uns nicht die Schalen behalten / sondern den Kern / welcher ist Christus / das Wort in dem Worte.“90 Denn Christus ist in seinem Wort der Weg zum Himmel, die Wahrheit im Glauben und das Leben im Tode.91 Mit ihm sind die Schätze der ewigen Weisheit verbunden.92 Anders gewendet: Christus möge
81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92
Kirchen-Gefährte, 142–145. A.a.O., 142–143. A.a.O., 143–144. A.a.O., 146–148. A.a.O., 148–150. A.a.O., 151–152. A.a.O., 140. A.a.O., 124. A.a.O., 46. A.a.O., 127. A.a.O., 56. Vgl. Joh 14,6. A.a.O., 50.
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„sein Bildnuß in mein Hertz“ drücken, „daß er eine Gestalt in mir gewinne / und ich seinen Fustapffen nachfolge / und nach der Richtschnur seines unwandelbaren Willens wandele.“93 Der Beter redet Christus an: „Dein Gesetze ist unser ZuchtMeister / dein Evangelium aber unser Trost-Brunnen worden.“94 So bleibt dem Predigthörer auch eine Nacharbeit aufgetragen. Darum bitte er Jesus: „Habe ich mit einer Maria zu deinen Füßen gesessen / so laß mich auch mit einer anderen Maria alle Worte in meinem Hertzen behalten / die du mit mir geredet hast.“95 Nicht nur dem Hörer einer Lesepredigt gilt der Wunsch, er möge „wiederkäuen“, was er zu seiner geistlichen Nahrung empfangen hat.96 Zur Nacharbeit gehört die Bitte um die Erinnerung durch den Heiligen Geist, „daß kein Wort ohne Nachdruck geredet sey“ und er es in das Herz des Hörers schreibe und als „DenckZettel“ vor sein Auge. Die Quelle des Wortes Gottes darf nicht versiegen, sein Licht nicht verlöschen.97 So wird der Empfänger des Wortes Gottes „auch ausser der Kirche“ eine Wohnung Gottes und, wie Schmolck es immer wieder zum Ausdruck bringt, „sein Herz ein rechter Tempel Gottes.“98 Er möge nach der Rückkehr zu seinem zu Hause für die Mitglieder seiner Familie und die Hausbewohner wiederholen, was ihm in der Predigt anvertraut worden ist, und Gott darum bitten, „Das sie in dem, was du befohlen, / Durch mich auch werden wohl erbaut, / Und unser Hauß, ohn Heucheley, / Ein dir geweyhtes Kirchlein sey.“99 8.
Die Einung mit Christus in der Kommunion
Zu Benjamin Schmolcks Aufgabe als Pfarrer gehörten selbstverständlich auch die Abnahme der Beichte und die Absolution. Die für diesen Kontext im „KirchenGefährten“ vorgelegten Hilfen sehen die Beichte nicht nur als Voraussetzung für die Teilnahme am Heiligen Abendmahl, sondern auch als Hinführung zum Altarsakrament an. Charakteristisch für diese Texte ist die von der Zuversicht zu Gott getragene Ermutigung, die der Seelsorger für den Beichtenden bereithält. Mag dieser auch zwischen Furcht und Hoffnung hin und her gerissen sein, so spricht doch die Botschaft des Evangeliums dem Beter Mut zu: „[…] so sehr mich meine Sünde zurücke hält / so sehr stösset mich deine Gnade fort [= vorwärts]. Deine Majestät erschrecket mich / aber deine Barmherzigkeit locket mich. Dein Zorn öffnet mir die Hölle / aber deine Gnade öffnet mir den Himmel. […] Ich werffe mich wohl in der Busse zu deinen Füssen / aber auch im Glauben an dein Hertze.“ Und wollte 100 Gott ihn nicht hören, so wird ihm ein einziges Wort das Herz auftun: „JESUS“. Es 93 94 95 96 97 98 99 100
A.a.O., 51. A.a.O., 120. Vgl. Gal 3,24. A.a.O., 55. A.a.O., 122. A.a.O., 121. A.a.O., 122. Vgl. auch a.a.O., 125 u.ö. A.a.O., 126–127. A.a.O., 62.
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ist der dreieinige Gott, den der Beter anrufen soll.101 Fünf Worte wird er dem bereits auf ihn wartenden Gottessohn zurufen: „Gott sey mir Sünder gnädig.“102 „Ich will und kan dir nichts verschweigen: Schweige du nur auch nicht zu meinem Schreyen.“103 Ein Schlüssel für das Geschehen der Beichte sind die Beschreibungen des „fröhlichen Tauschs“: „Ich / der Ungerechte / Er / meine Gerechtigkeit. Ich der Schuldige / Er meine Unschuld. Ich der Verfluchte / Er mein Seegen. Ich der Todte / Er mein Leben.“104 Mose muss sich verbergen, um Christus den Segen zu überlassen. Denn schon steht der Tisch bereit, „Wo du die Süßigkeit / In Brot und Wein wirst schmecken, / Er will die Taffel decken, / Und dir zu Trost und Leben / Sich selbst zur Köste geben.“105 Augen, Ohren, Lippen und Herz verändern sich durch die Absolution.106 Der Dank an den dreieinigen Gott bringt die Freude mit sich – „[…] du sollst auch nunmehr gespeiset werden. Sey frölich / meine Seele / du hast gedürstet / du sollst geträncket werden. Es ist alles bereit / dein JESUS lässet dich zu Tische laden.“107 Schmolck führt die Nutzer des „Kirchen-Gefährten“ Schritt für Schritt zur Kommunion hin, einem Ziel, das nicht überboten werden kann: der Einung mit Christus. Wie anders auch könnte Christus dem Kommunikanten näherkommen, als wenn er seine Speise wird?108 So sinnt der, der die Kommunion empfangen hat, diesem Geheimnis nach: „Ach so sencke dich in mich, / Ich will mich in dich versencken, / Niemand trennt uns sicherlich, / Weil wir uns einander schencken.“ Auch hier kommt es zu einem „fröhlichen Tausch“, indem Christus zum Fleisch und Blut des Kommunikanten wird und der Kommunikant ein Glied am Leibe Christi,109 der sich fragt: „Heist das nicht: Wo die Sünde mächtig worden ist / da ist deine Gnade viel mächtiger worden?“ und ruft mit dem Jünger Thomas aus: „Mein HERR und mein GOTT. Nun habe ich dich / nun halte ich dich.“110 Der Kommunikant entdeckt auch seine Nähe zum Lieblingsjünger des Johannesevangeliums: Er liegt an der Brust Jesu und heißt: „Den JESUS lieb hat.“111 Das bedeutet, dass für Schmolck Formulierungen des Rechtfertigungsvorgangs mit denen der Abend-
101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111
A.a.O., 64. A.a.O., 68. A.a.O., 73. A.a.O., 71. A.a.O., 67. A.a.O., 78. A.a.O., 79–80. Vgl. a.a.O., 118. A.a.O., 95. A.a.O., 99. A.a.O., 103. A.a.O., 106. Vgl. a.a.O., 109: „Ich bin nun ein Fleisch mit ihm. / Er ein Geist mit mir geworden.“
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mahlstheologie austauschbar werden,112 und es wirkt sich auch auf die eigentliche Begründung der Ethik und die ethischen Folgen der Kommunion aus.113 Am Abend nach der Kommunion blickt der Kommunikant auf den Tag zurück und befindet, dass der „ein Tag der Gnaden“ war. Denn Gottes Gnade ist die „Abend-Röthe in dem Blut JESU […] Sein Blut zeichnet meine Kammer-Thüre / so darff ich keinen Würge-Engel fürchten […] mein Hertz ist mehr als die Lade des Bundes / weil das wahre Manna in demselben verborgen liegt.“ Diese Erkenntnis führt zur Anrede an Gott: „Du wohnest wohl im Duncklen / aber du bist doch selbst ein Licht.“ Der Beter schließt mit einem Gebet für seine Angehörigen „und andere 114 fromme Christen / die heute zur Gemeinschafft Christi mit mir kommen sind.“ 9.
Ergänzende Bemerkungen
Martin Rössler hat von Schmolcks Dichtungen insgesamt mit Recht als von „biblisch bilderreichen, kirchlich festlichen und seelsorgerlich erbaulichen Liedern“ gesprochen.115 Der Schweidnitzer Pfarrer vermochte es auch, Beobachtungen und Erfahrungen geistlich-allegorisch zu deuten. Auch der Reisewagen der zur Kirche Fahrenden in seinen einzelnen Teilen wird zur Allegorie. Schmolck schlägt in einem betrachtenden Gebet den fahrenden Christen vor, sich an die Engel als Wagenburg zu erinnern. Die Betrachtung der Zugseile führt zu der Bitte: „Ziehe uns an Seilen der Liebe / leite und sie wie Jugend.“ Die Steine auf dem Wege wecken die Erinnerung an die „Steine des Anstoßes […] / die nicht nur unserem Leibe Gefahr bringen / sondern auch unsern Sinn zerrütten können“. Auf seinem Wagen las der Kämmerer von Act 8 das göttliche Wort zu seinem Zeitvertreib. Der Reisewagen soll zur Sänfte Salomos werden, „daß / wenn der Leib gleich hin und her geworffen wird / die Seele gleichwohl ihr Ruhe in dir finde“. „[…] feurige Hertzen / welche brennen vor Verlangen nach deinem Worte“, entsprechen dem feuriger Wagen des Propheten Elias. Der Vergleich der Gedanken des Narren mit dem unruhigen Lauf der Räder nach Jesus Sirach 33,5 führt zur allegorischen Auslegung der Vision des Propheten Ezechiel mit den vier gleichen Rädern (nach Ez 1,14) und der Mahnung, „daß wir mit einem Munde Gott preisen / und mit einem Hertzen dienen […]“ und schließlich der Bitte an Gott: „Und endlich bringe uns dahin / wo der Wagen GOttes 116 viel tausend mahl tausend seyn werden.“
112 Vgl. auch den Rückblick des Kommunikanten auf das, was ihm widerfahren ist a.a.O., 110f.: „Alle seine Gerechtigkeit ist meine / denn er selber ist meine.“ 113 „Laß mich / mein JEsu, wandeln, / Wie ich dir zugesagt, / Damit kein übel Handeln / Mich künftig mehr verklagt. / Gieb, daß die Seelen-Speise / Nun Glaub und Lied erweckt, / Und bis zur letzten Reise / nach lauter Himmel schmeckt“ (A.a.O., 118). 114 A.a.O., 133–134. 115 Martin Rössler, Liedermacher im Gesangbuch – Liedgeschichte in Lebemsbildern, völlig überarbeitete und erweitere Gesamtausgabe, Stuttgart 2001, 672. 116 Kirchen-Gefährte, 35–37.
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In ähnlicher Weise regt Schmolck dazu an, sich beim Klang der Glocke zu besinnen: „Der Glaube und dein Leben / Muß auch den Ausschlag geben, / Stimmt das nicht überein, / Und klingt dein Wort nicht helle, / So wirst du eine Schelle / Und thönend Ertzt [!] nur sein. […] Wenn man die Glocke schläget, / So werde selbst beweget / Und schlag an deine Brust, / Schlag in dich nur durch Busse, / Und falle GOtt zu Fuße, / Die Glocke höret GOtt mit Lust.“117 Schmolcks „Kirchen-Gefährte“ als Zyklus von Gebeten und Liedern hinterlässt insgesamt den Eindruck, es bei diesem Buch mit der Anleitung zu einer Wallfahrt zu tun zu bekommen. Weist doch Schmolck selbst auf den ersten Seiten des Buches auf eine „Wallfahrt“ hin, die zum Thron des Lammes führt.118 Bereits die Vorform des „Kirchen-Gefährten“ hatte ja vom „Sionitischen Pilgrim“ gesprochen.119 Auch die Struktur des Buches, die von betrachtend betendem Aufenthalt an einzelnen Stationen geprägt ist, lässt an eine Wallfahrt denken. Benjamin Schmolck konnte auch das menschliche Leben als Wallfahrt verstehen, wie aus einem Passus einer von ihm gehaltenen Leichenpredigt hervorgeht.120 Geht man dieser Spur noch weiter nach, entdeckt man, dass Schmolck immer wieder den Blick des Betenden über den Weg zum Gottesdienst und den Gottesdienst hinaus auf das Ziel des Glaubens und Lebens lenkt und damit auch den Weg zum Gottesdienst als Wallfahrt versteht.121 Immer wieder münden die gesammelten Gebet und Lieder in die Erinnerung an die Letzten Dinge. „Sev mein Stecken und mein Stab / Auf dem Wege, der mir zeiget, / Wie man in den Himmel steiget“, wird dem auf dem Weg zur Kirche Befindlichen zu beten empfohlen.122 Denn der Kirchweg ist der Weg, der am Thron des himmlischen Königs mündet.123 Der Gottesdienst ist „Vorschmack des Himmels“124, das Altarsakrament der Hinweis auf die „Himmels-Taffel“125, das gesegnete Abendmahlsbrot lässt die Kräfte der zukünftigen Welt schmecken126, der 117 A.a.O., 42. 118 A.a.O., Bl. )( 3v. Thust, Lieder (wie Anm. 80), 292, weist auf die Beziehung zur alttestamentlichen Wallfahrt der Völker nach Zion hin. 119 Siehe oben zu Anm. 5. 120 Vgl. Małgorzata Moraviec, Die Schweidnitzer Leichenpredigten als Quelle zur Erforschung der Literatur einer schlesischen Provinzstadt an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Mirosława Czarencka (Hg.), Zur Literatur und Kultur Schlesiens in der Frühen Neuzeit aus interdisziplinärer Sicht, Wrocław 1998, 88–90. 121 Wenn M. Moraviec (wie Anm. 120) aus der Leichenpredigt Schmolcks für Sigismund von Zedlitz (1736) einen Passus zitiert und ihn so deutet, dass der Verstorbene zusammen mit Freunden an einer „tatsächlichen Wallfahrt“ teilgenommen habe, dürfte dies ein Missverständnis sein. Der Prediger meinte damit vermutlich die Teilnahme an Gottesdiensten in der Friedenskirche. Eine Überprüfung am Text der Predigt war mir nicht möglich, weil er mir nicht zugänglich ist. 122 Kirchengefährte, 9. Vgl. a.a.O., 24: „[…] Ja bey dieser Reise laß mich immer dencken an die letzte Himmels-Reise / daß ich mich freue auf das Zion / das droben ist / und also / weil ich noch in dieser Hütten bin / für die wandle und fromm lebe.“ 123 A.a.O., 15. 124 A.a.O., 116. Vgl. a.a.O., 88. 125 A.a.O., 99. 126 A.a.O., 100.
„Thut mir auf die schöne Pforte …“
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gesegnete Wein der kräftige Balsam aus Gilead, ein Wasser, „das ins ewige Leben qvillet“127. „Bey diesem Vorschmack des Himmels laß mich immer himmlischer werden / biß ich im Himmelreich zu Tische sitze.“128 Das alles spricht dafür, dass der Schweidnitzer Pfarrer zunächst im Weg zur Kirche den Weg des Glaubens und Lebens abgebildet findet. Dann aber wird der Weg zum Gottesdienst als Weg zur Mitte auch die Vorübung zum Weg, der zum Ziel führt, zur Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott. In der Friedenskirche angekommen wird der, der unterwegs war, auch einzelne Erinnerungen an unterwegs gelesene Texte in Emporenbildern wiederfinden: den Wanderer, dem Christus den Weg zeigt129, den vom Sturm gebeugten und dadurch gekräftigten Baum130, den Hirten, der Schafe um Wasser führt131, das himmlische Jerusalem132, das Lamm mit dem Lebensbuch133, den doppelten Ausgang des Letzten Gerichts134, den Geistlichen, der den Weg zu Gott zeigt135. Man mag fragen, wo im „Kirchen-Gefährten“ die aktuelle Situation der schlesischen Lutheraner in der Bedrängnis nach dem Dreißigjährigen Krieg zur Sprache kommt. Einige Passagen in den Texten geben zu erkennen, wie groß die Bedrängnis ist, die auch durch die Konvention von Altranstädt von 1707 nicht aufgehoben worden ist. In einem Gebet für die, die weit entfernt von einer Kirche leben, ist erwähnt, Gott habe „denen Göttern auf Erden in das Hertze gegeben“, dass sie ihnen „ein Bethel erlaubt“ hätten. So bitten sie um „Schatten unter dem Schutze unsers Allergnädigsten Kaysers / daß wir sicher aus- und eingehen können“ im Hause 136 Gottes. Hier erscheint der Habsburgische Herrscher als Garant des ungestörten Gottesdienstes in der Friedenskirche. An einer Stelle im Kontext der Gebete bei der Rückkehr vom Gottesdienst findet sich dann doch die nüchterne Erinnerung an die nach wie vor bedrohliche Situation, wenn Schmolck den Beter um die Erhaltung des ausgestreuten Samens des Wortes Gottes gegenüber dem „unartigen und argen Geschlechte“ bitten lässt: „Schütze uns in aller Verfolgung der Welt mit deinem Schilde. Unter dem Creutze JEsu laß uns geduldig tragen / was du uns an Creutze auferlegst.“ Auch diese Bitte mündet in einen Ausblick auf den Weg „aus dieser 137 streitenden in die triumphierende Kirche“ .
127 A.a.O., 101. 128 A.a.O., 116. 129 Abbildung: Halina i Franciszek Grywacz (HG.), Ko ciół pokoju w widnicy. Die Friedenskirche in Schweidnitz. The Church of Peace in widnica, Legnica o.J., 60. 130 A.a.O., 66. 131 A.a.O., 64. 132 A.a.O., 41. 133 A.a.O., 40. 134 A.a.O., 39. 135 A.a.O., 61. 136 Kirchen-Gefährte, 202–203. 137 A.a.O., 123.
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Für die literaturwissenschaftliche Würdigung Schmolcks als Liederdichter liegen bisher lediglich Ansätze vor. Die theologiegeschichtliche Platzierung des Schweidnitzer Pfarrers hätte die Bedeutung seiner Leipziger Lehrer für ihn zu beobachten. Gelegentliche Bemerkungen über sein Verhältnis zum Pietismus gehen fehl, sofern sie einem Pietismusverständnis folgen, das durch die Forschung der letzten Jahrzehnte überholt ist. Hinzu kommt, dass die Schweidnitzer Kirchenordnung im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang des Amtsantritt Schmolcks als Primarius einen Zusatz erfuhr, der bezüglich der Beachtung der geltenden Lehre forderte, das Augenmerk „auf die heimlichen Schwermereyen und Tückmäuser138 ische Pietisten, denen der Fanaticismus unabsetzlich beywohnet zu extendiren“ . Über den Umgang der auf dem Weg zur Kirche Befindlichen mit dem „KirchenGefährten“ als „Pilgerführer“ gibt es bisher keine Erkenntnisse. Aber auch davon abgesehen bleibt das Buch als geistlich-theologischer Entwurf ein Zeugnis für die Mitte des Glaubens der Christenheit.
138 Jessen, Schwarz, Schlesische Kirchen- und Schulordnungen (wie Anm. 3), 295.
Die Konkordienformel als die einigende Mitte der lutherischen Theologie Robert Kolb Nach fast dreißig Jahren Streit über die richtige Interpretation des Wittenberger Erbes, das Martin Luther und Philipp Melanchthon hinterlassen haben, kamen 1577 etwa Zweidrittel der evangelischen Kirchen im deutschsprachigen Bereich zu einer Vereinbarung über die strittigen Glaubensartikel, die sie drei Jahrzehnte lang voneinander getrennt hatten. Die sechs führenden Theologen, die am Text dieser Vereinbarung, der Konkordienformel, gearbeitet haben, vor allem Jakob Andreae, Martin Chemnitz und David Chytraeus, haben Formulierungen über die trennenden Stellungnahmen zu den kritischen Fragen der verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Wittenberger Kreises gefunden, die eine „einigende Mitte“ auf der Basis der Lehre der Heiligen Schrift, wie sie sie von Luther und Melanchthon ge1 lernt haben, geschaffen haben. 1.
Zum Verständnis von der „einigenden Mitte“
Lutherische Theologen haben manchmal ihre Interpretation der Heiligen Schrift als eine „einigende Mitte“ zwischen der römisch-katholischen und den reformierten Konfessionen dargestellt. Diese „Mitte“ sollte nicht so gesehen werden, als ob die verschiedenen theologischen bzw. konfessionellen Positionen im westlichen Christentum auf einer geraden Linie zu betrachten wären. Nach einem solchen Bild steht an einem Ende die römisch-katholische Kirche, deren hohe Wertschätzung der Sakramente die Lutheraner teilen, auch wenn die beiden Kirchen gegensätzliche Interpretationen von der Wirkung der Sakramente und ihrem Verhältnis zu Gottes Gnade und dem Glauben der Christen vertreten; am anderen Ende findet man die reformierten Kirchen, deren Betonung der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein der lutherischen Lehre nahe steht, deren Sakramentenlehre aber die beiden evangelischen Kirchen seit dem 16. Jahrhundert entzweit. Die anderen Konfessionen sehen natürlich die lutherische Theologie nicht als eine einigende Mitte. Die traditionellen Katholiken betrachten die Lutheraner, wie die Reformierten, als die, die den guten Werken und dem durch ihre Leistung gewonnenen Meritum keinen Platz vor Gott geben, und sich weigern, den Papst als Stellvertreter 1
Dieser Aufsatz ist eine weitere Entwicklung der Argumentation, wie sie in meinem Artikel, The Formula of Concord as a Model for Discourse in the Church, Concordia Journal 32 (2006), 189– 210, erschienen ist.
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Christi auf Erden anzuerkennen. Die Reformierten finden, dass die lutherische Sakramentenlehre immer noch halbwegs in dem Aberglauben der mittelalterlichen Sakramentenlehre gefangen bleibt und sowieso keinen Sinn hat. Eine bessere Illustration für eine lutherische Mittelposition ist das Bild von einem Dreieck: das lutherische Verständnis vom Wort Gottes stellt eine Altnernative zur Sakramentenlehre und zur Rechtfertigungslehre der beiden anderen frühneuzeitlichen Konfessionen vor und bietet deswegen einen Treffpunkt zum Gespräch an. Luther fand das Verständnis von dem, was es heißt, Christ zu sein, mit dem er aufgewachsen ist und das von seinen monastischen Brüdern und seinen scholastischen Lehrern an der Universität Erfurt verstärkt wurde, zuerst beunruhigend und dann falsch. Dass der Mensch durch die eigene Leistung, vor allem mit sakralen, religiösen Werken, sein Verhältnis zu Gott versichern (wenn nicht in Gang bringen) müsste, verunsicherte den jungen Luther zutiefst. Durch die Vorbereitung auf seine Vorlesungen über die Psalmen (1513–1515) und danach über den Römer- und den Galaterbrief (1515–1516) kam er zu einer neuen Definition des Christseins. Gott erschafft das Verhälntis zwischen sich und dem Sünder, und zwar dadurch, dass er diesen mit seinem Wort anredet. Luther lehrte, dass das Wort Gottes ein performatives, sogar erschaffendes Wort sei, das Gottes Willen nicht nur beschreibt, sondern auch wirkt und dem Sünder durchs Wort eine neue Existenz in Christus schenkt, um sein Ziel von der Erneuerung bzw. Neuerschaffung des Menschen als Kind Gottes zu erreichen. Diese Lehre vom Wort Gottes hatte keinen Platz für eine sakramentale Wirkung ex opere operato, weil Gott im Gespräch mit den Menschen ist und sein Vertrauen verlangt. Diese Definition vom Wort Gottes versteht aber auch die Kraft des Wortes Gottes in mündlichen, geschriebenen und sakramentalen Formen als einer heilwirkenden Kraft. Das Evangelium ist viel mehr als ein Hinweis auf die himmlische Wirklichkeit: Die Verheißung des Evangeliums, das das Zentrum des Verständnisses des befreienden Handelns Gottes im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi umschließt, war für ihn die Fassung des Juwels des neuen Lebens, bzw. ein Instrument von Gottes Kraft, die die Menschen aus der Sünde zum neuen Leben bringt. Diese Lehre hat sich maßgeblich von der der Reformierten unterschieden. Aus diesem Blickwinkel der Lehre vom Wort Gottes bietet sich die lutherische Position im oben genannten Dreieck in der Tat als eine „einigende Mitte“ in unserem Zeitalter mit den neuen Sprachtheorien als Voraussetzung für den ökumenischen Austausch, aber nicht als Kompromiss. Er ist eher die Basis eines Zugangs zu den Menschen dieses Zeitalters, die das menschliche Verhältnis, besonders die Wichtigkeit des Vertrauens zwischen zwei Personen, hervorheben, und die auch erkennen, dass die Sprache nicht nur beobachtet und beschreibt, sondern auch handelt und wirkt.
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Die Konkordienformel und ihre Verfasser: eine „mittlere Partei“?
Einige Interpreten haben die Konkordienformel als eine Leistung einer „mittleren Partei“ innerhalb des Wittenberger Kreises verstanden, die irgendwie die beiden Seiten in den Streitigkeiten der 1550er bis 1570er Jahre zum größten Teil zu einer – beide Seiten zufriedenstellenden – Mittelposition gebracht hat. Das Problem mit dieser Interpretation ist, dass die führenden Geister in den Bemühungen, eine Formel zur Einigkeit in dieser Zeit zu verfassen, keine mittlere Partei gebildet haben. Es gibt keine Indizien, dass einige sich von ihren alten Verbindungen gelöst haben, um eine Mittelposition unter den streitenden Gruppen zu finden; sie sind in ihren alten Netzwerken geblieben, wo sie schon den Willen zur Einigkeit in der Interpretation des Wittenberger Erbes gezeigt hatten, als sie ihr eigenes Verständnis von diesem Erbe verteidigt haben. In der Konkordienformel haben sie eine einigende Mitte gefunden, nicht mit Ausdrücken, die die schwierigen Fragen vertuscht oder eingeebnet haben, sondern mit Antworten, die ihrer Überzeugung nach auf der Heiligen Schrift beruhen und die Anliegen von beiden Seiten, soweit es möglich war, ernst genommen haben. Das hat nicht immer funktioniert; manchmal haben die Konkordisten die Stellungnahmen einiger Brüder aus dem Wittenberger Kreis für falsch gehalten und sie verworfen, zum Beispiel in Bezug auf Osianders Rechtfertigungslehre und auf die Sakramentenlehre der Crypto-Philippisten in Kursachsen. Aber in den meisten Fällen haben sie den Gegnern in gewissen Punkten recht gegeben, als sie mit möglichst klaren Ausdrücken genau definiert haben, worum es ging. Sie versuchten die verschiedenen Anliegen nebeneinander ernst zu nehmen. In diesem Sinne haben Andreae, Chemnitz und ihre Kollegen im KernKomittee der Concordia-Verhandlungen auf dem Fundament der Heiligen Schrift gearbeitet, wie es im Augsburgischen Bekenntnis ausgelegt wurde. In seiner Vorrede zur Konkordienformel stellte Andreae das Dokument in seinem historischen Kontext vor. Nachdem Gott durch Luther und das Augsburgische Bekenntnis „aus unermesslicher lieb, gnad und barmhertzigkeit dem Menschlichen geschlecht das Liecht seines heiligen Evangelii und allein seligmachenden Worts aus dem Aberglaubischen, Bäbstischen Finsternüs deutscher Nation, unserem gliebten Vaterland, rein, lauter und unverfelscht erscheinen und vorleuchten lassen, Und darauff [haben die Wittenberger] aus Göttlicher, Prophetischer, Apostolischer schrifft ein kurtz bekantnüs zusammen gefasset“, nämlich die Confessio Augustana, hat der Teufel „seinen Samen, falsche Lere und uneigikeit auszusprengen“ bemüht, und versuchte „in Kirchen und Schulen schedliche und ergerliche spaltung zuerregen, damit die reine Lere Gottes Worts zuverfelschen, das Band der Christlichen Lieb und einmütigkeit zu trennen und den lauff des heiligen Evangelii hierdurch merk-
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lich zuvorhindern und auff zuhalten.“2 Das Ziel des Andreae und seiner Kollegen war die Wiederherstellung der Einigkeit im Bekenntnis des Glaubens, wie sie zur Zeit der Übergabe des Augsburgischen Bekenntnisses geherrscht hatte. Sie verfolgten dieses Ziel nicht durch die Suche nach zweideutigen oder vereinfachten Formulierungen oder durch Konzessionen an die verschiedenen Parteien. Stattdessen haben sie versucht, zur Absicht der Wittenberger Reformatoren im Jahr 1530 zurückzukehren – wie sie deren Absichten verstanden haben – und die Anliegen, Akzente und Perspektiven von denen, die an den neueren Streitigkeiten beteiligt waren, in die Konkordienformel einzubringen, sofern sie ihre Ausdrücke der Lehre biblisch formuliert haben. Die Arbeit der Verfasser der Konkordienformel ist deswegen nicht als Kompromiss zu verstehen, sondern als kreative Lösung, die aus den Bemühungen entstanden ist, die Anliegen aller ernst zu nehmen, wenn das überhaupt möglich war. Das Kern-Komitee, das die Konkordienformel verfasst, umgearbeitet, und in die endgültige Form gebracht hat, bestand aus sechs Theologen. Unter ihnen waren die „Hauptparteien“ der Streitigkeiten innerhalb des Wittenberger Kreises, die der Lehre von Luther und Melanchthon treu bleiben wollten, vertreten. Aber diese Mitglieder des Komitees wurden nicht als Vertreter dieser „Parteien“ gewählt, sondern als Vertreter der fürstlichen Interessen, die auf der Suche nach Concordia standen. Jakob Andreae aus Württemberg (Universität Tübingen) blieb in seinem „schwäbischen“ Denkmodus, kam aber als Mitglied des württembergischen Ministeriums sowie als Hauptagent von Kurfürst August von Sachsen, der ihn vom württembergischen Hof entliehen hatte. Andreas Musculus und Martin Chemnitz bestanden auf die gnesio-lutherischen Einsichten, die sie schon immer vertraten. Musculus, Professor an der Universität Frankfurt an der Oder und Brandenburgischer General-Superintendent, wurde vom Kurfürst Johann Georg gesandt; Chemnitz, Superintendent in der Stadt Braunschweig, war von Kurfürst August von Sachsen wegen seiner theologischen Kompetenz und seines Rufes ausgesucht, genauso wie David Chytraeus aus Mecklenburg (Universität Rostock), der immer noch Melanchthon näher als Chemnitz stand, der aber auch die gnesio-lutherische Abendmahlslehre vertrat und sich bis 1577 von seinen früheren synergistischen Ausdrücken über die Freiheit des Willens distanziert hatte. Aus seinem eigenen Ministerium ernannte Kurfürst August den Leipziger Superintendent und Professor Nikolaus Selnecker, der seine Stellungnahmen als Philippist schon früher in immer gemäßigteren Ausdrücken formulierte, als er sich zusammen mit einigen anderen kursächsischen Kollegen in den späten 1560er und 1570er Jahren von den „CryptoCalvinisten“ abgesetzt hatte. Deswegen konnte er sich an Andreae, Chemnitz und Chytraeus leicht anschließen. (Nur von dem zweiten Brandenburgischen Gesandten, Christoph Körner, ist zu wenig bekannt, um ihn mit einer „parteischen“ Etiket2
Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 (BSELK), 10,9–38.
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te zu bezeichnen.) Die Verfasser der Konkordienformel kamen nicht als eine „mittlere Partei“3 zusammen, sondern als Beauftragte von Fürsten, um „die reine Lere Gottes Worts“, „das Band der Christlichen Lieb und einmütigkeit“ und „den lauff des heiligen Evangelii“4 wiederherzustellen und zu befördern. 3.
Die Fragen nach der göttlichen und der menschlichen Verantwortung
Die ersten sechs und der elfte Artikel der Konkordienformel richten sich auf Fragen, die aus der Spannung gewachsen sind zwischen der Wittenberger Betonung der völligen Verantwortlichkeit Gottes für alles, was er erschaffen hat – auch für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit der sündhaften Menschen – auf der einen Seite, und gleichzeitig, auf der anderen Seite, dem Bestehen Luthers und Melanchthons auf der völligen Verantwortlichkeit des Menschen für alles, was Gott ihm befohlen hat. Sie haben diese Spannung erhalten können durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Eine dieser strittigen Fragen betraf die geeignetste Formulierung über die Rolle und den Ort der guten Werke im christlichen Leben, angesichts der Tatsache, dass bei der Rettung der Sünder aus der Sündhaftigkeit Gott allein tätig ist. Statt des Ausdrucks des Wittenberger Professors Georg Major, der versuchte, die Worte aus dem sogenannten Leipziger „Interim“ (besser Landtagsentwurf) „gute Werke sind notwendig zur Seligkeit“ zu rechtfertigen, aufzunehmen, hat die Konkordienformel auf der Notwendigkeit der guten Werke zum christlichen Leben bestanden, denn aus dem Glauben fließen die Werke, die dem gerechtfertigten Sünder gehören. Diejenigen, die die passive Gerechtigkeit durch den Heiligen Geist empfangen haben, zeigen diese Art von Gerechtigkeit in der aktiven Gerechtigkeit des Alltags. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Hermann-Sasse-Preises 2015 hat Irene Dingel in dem vierten Artikel der Konkordienformel, über die guten Werke, gezeigt, wie die Verfasser der Konkordienformel Majors Position im Sinne der verantwortlichen Tätigkeit der gerechtfertigten Sünder sowie die entgegengesetzen Sorgen, dass Major Luthers Hervorheben der bedingungslosen Gnade Gottes nicht berücksichtige, ernst genommen haben. Die Konkordisten behaupteten in dem Zuge, dass die Vergebung der Sünden das neue Geschöpf eines gerechten Menschen hervorruft, der von seiner neuen Natur aus 5 gute Werke hervorbringt. Andere Formulierungen sind auch aus dem Streit über Georg Majors Ausdruck „gute Werke sind notwendig zur Seligkeit“ hervorgegangen. In seiner Lösung eines Streitpunkts über den dritten Gebrauch des Gesetzes in der Schrift Sechs Christli3 4 5
Wie bei Friedrich Bente, Historical Introductions to the Book of Concord, Saint Louis 1921. BSELK, 1188,3–5. Vgl. Irene Dingel, Lutherische Bekenntnisbildung zwischen theologischer Abgrenzung und Integration, Lutherische Theologie und Kirche 40 (2016), 149–169. Zum majoristischen Streit, vgl. Controversia et Confessio. Theologische Kontroversen 1548–1577/80, Kritische Auswahledition, hg. v. Irene Dingel, Band 3, Göttingen 2014.
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che Predig von 1573, die die Entwicklungen in Gang gesetzt haben, die zur Konkordienformel führte, hat Andreae den Professor an der Universität Frankfurt an der Oder und Schwager von Johann Agricola, Andreas Musculus, dessen „antinomistische“ Lehre Andreae schon verworfen hatte, berücksichtigt. Musculus hat das Wort „notwendig“ in Bezug auf die guten Werke abgelehnt, denn er glaubte, dass „notwendig“ unvermeidlich die Bedeutungen „Zwang“ oder „Nötigung“ mit sich bringt. Er lehrte, dass die guten Werke spontan aus dem Glauben hervorkommen, dass der Heilige Geist die Gläubigen zu neuem Gehorsam und die guten Wer6 ke „mit einem freien und fröhlichen Geist“ bewegt. Mit vielen Lutherzitaten versuchte der Frankfurter Professor im Streit mit seinem philippistisch-gesinnten Kollegen Abdians Praetorius die Lehre der bedingungslosen Gnade Gottes aufzubewahren, dadurch dass er die guten Werke der Gläubigen der Motivierung durch den Glauben bzw. das Evangelium und keineswegs durch das Gesetz zuschrieb. Denn das Gesetz könne den Menschen nur zwingen, aber der Glaube rufe einen spontanen und freudigen Gehorsam hervor, hielt Musculus dagegen. „Deswegen ist das Gesetz nicht auf dem Christen aufgelegt, denn er tut spontan was das Gesetz fordert, und der Heilige Geist, angenommen durch den Glauben, lässt ihn nicht faul 7 sein.“ Musculus schloss aus seinem Verständnis vom Wort „Notwendigkeit“, dass durch den Gebrauch dieses Wortes die menschliche Leistung unvermeidlich als eine Ursache der Rechtfertigung verstanden würde. „Wenn man auf die Notwendigkeit der guten Werken besteht, ist es notwendig, den Glauben bei Seite und außer Kraft zu setzen, die ganzen Verheißungen Gottes, alle Gaben des Heiligen Geists sind verachtet, und alle Menschen müssen unter dem Zwang der Notwendigkeit einfach sterben und unter der Angst und dem Schrecken vor dem Gesetz, im Bewusstsein von Gottes Zorn und Gericht niedersinken und 8 verzweifeln.“
Deswegen, trotz seiner Betonung des zweiten Gebrauchs des Gesetzes und seine ständige Anklage gegen den Sünder in seinen Schriften,9 wollte Musculus dem Gesetz keinen Platz in dem Gehorsam des Neugeborenen zugestehen, vor allem
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Vgl. Matthias Richter, Gesetz und Heil. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte und zum Verlauf des sogenannten Zweiten Antinomistischen Streits, Göttingen 1996, 208–250. „Est ergo iusto lex non posita, spontè enim facit, quod lex requirit, & spiritus sanctus fide acceptus, non sinit eum esse ociosum.“, De bonorvm opervm, et novitatis vitae libertate. Explicatio, Erfurt 1562, D1b. Vgl. Andreas Musculus, Von Guten Wercken / vnterrichtung. Aus des thewern vnd seligen Lehrers / D.M.Lutheri Bu[e]chern/ trewlich vnd fleissig zusam getragen, Erfurt 1562, und Ders., Vom Christlichen Leben vnd Wandel / krutzer vnd einfeltiger Bericht / Gestellet von wegen der Disputation / von guten Wercken, Erfurt 1563. „Stante ergo illa necessitate operum, necesse est fidem aboleri, qua abolita & euersa, irritate sunt omnes promissiones Dei, omnia dona spiritus sancti conculcata sunt, omnes homines necesse est sub ista coactione necessitates simpliciter perire, & sub conscientiae pauoribus & terroribus legis, sub sensu irae & iudicij Dei succumbere & desperare”, a.a.O., D6b. Vgl. Andreas Musculus’ Teufelsbücher: Teufelbücher in Auswahl. Hostenteufel. Fluchteufel. Eheteufel. Himmel und Helle. Teufels Tyranney, hg. v. Ria Stambaugh, Berlin 1978.
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nicht durch einen Begriff von der Notwendigkeit der Werke. Wie Luther verwendete er die Metapher vom Baum, der gute Früchte produziert. Die guten Früchte machen nicht den Baum gut, sondern der gute Baum bringt gute Früchte hervor.10 „Alle guten Werken der Gläubigen sind wahrhafftig Früchte des Geistes, stammen nicht aus dem Fleisch und sind nicht nach dem Fleisch getan, sondern der Heilige Geist, der im Herzen der Gläubigen wohnt, führt, regiert, und steuert seine Heiligen, damit ohne jede Notwendigkeit und jeden Zwang, sie gute Werke freiwilig und spontan tun, mit Freude und Vergnügen. Sie produzieren ganz frei und spontan das Wohlwollen, und tun nichts von der Notwendigkeit gezwungen, oder vom Ge11 setz genötigt, sondern vom Geist der Freiheit.“
Andreae nannte als falsche Lehre Musculus’ Behauptung: „die Glaubige, erleuchte und mit dem heiligen Geist begabte Christen bedörffen deß Gesätzes nicht, dann sie seien gerecht. Dem gerechten aber seie kein Gesätz gegeben, dann er thu für sich selbst, was recht seie und bedörffe keins Gesätzes. So habe er auch den heiligen Geist, wölcher ist ein Lehrer der Warheit, der werde in lehren und treiben, was er thun soll und nicht das Gesatz.“12 Andreae sah das als eine Wiederholung der Stellungnahme Agricolas, die Luther scharf abgelehnt hatte und formulierte seine Kritik: „auch die Rechtglaubige, gerechtfertigte und widergeborne Christen deß Gesätzes bedürffen, darauß sie täglich den Willen Gottes lehrnen und sich darnach befleissigen zurichten“, und zitierte Ps 1,1f., um sein Urteil zu festigen. Er behauptete, dass „die Glaubigen in diser Wellt nicht der gestalt gerecht, daß sie volkommen neu geboren und kein Sünde mehr an inen haben solten. Dann die Sünde hanget inen an ir lebenlang, darwider sie biß in den Todt zu kämpffen haben. Darzu behelt das Fleisch für und für sein lust, begird und neigung zun Sünden. Daß also die außerwölte Kinder gottes in diser Welt ihren ergsten Feinde stetigs bey sich im Busen tragen. […] Dann so ferne der glaubig Mensch widergeboren ist, volget er dem Geist Gottes, der in ime ist als die Regel und Richtschnur der Gerechtigkeit und Heiligkeit. So ferne er aber nicht wider geboren ist, gebraucht der heilig Geist die Lehr und vermanungen deß Gesätzes deß Herren, von dessen Gehorsam die Christen nicht absolviert noch ledig gesprochen, sonder darumb zu gnaden auffgenommen seind, daß sie hinfüro im Ge13 horsam der Gebott Gottes leben und wandeln sollen.“
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Z.B., De bonorvm opervm, E4a. „[…] omnia bona opera verè credentium sint fructus spiritus, nec veniant ex carne, neque fiant secundum carnem, sed quòd spiritus sanctus inhabitans corda credentium, sic ducat, regat, & gubernet sanctos suos, vt extra omnem necessitate & coactionem legalem, faciant bona opera vltrò & spontè, cum gaudio & dilectione, & prodeant in opus seruitutis promimi liberrimè & spontanea plane beneuolentia, nihilque operentur necessitate impellente, aut lege cogente, sed tantum spiritu libertatis”, De bonorvm opervm, E1a–b. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Quellen und Materialien, Bd. 2, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der EKD (BSELK.QuM 2), Göttingen 2014, 64,8–15. A.a.O., 64,35–65,14.
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Das Gesetz blieb zwar nicht nur wegen der Sünde im Gläubigen, sondern auch als der Ausdruck des „unwandelbaren Willen Gottes, in seinem Hertzen geschriben gehabt, nachdem er auch hett alle seine Gedancken, Wort und Werck gerichtet“. Gleichzeitig erkannte er, dass „dem jenigen, so volkommen gerecht seie, nicht not seie der Zwang deß Gesätzes weil er für sich selbst thut, was er zuthun schuldig ist, sondern den ungrechten, daß sie im Gehorsam gehalten werden, wie dann unser gantze Natur in irem wesen ein ungerecht sündige Natur ist und bleibt bißs in den tode. Darumb sie auch also deß Gesätzes bedarff, das sies täglich höre, anschau 14 und darmit umbgehe.“ In der „Schwäbischen Konkordie“ hat Andreae diese Stellungnahme wiederholt, mit der Erklärung, dass „ob woll die rechtglaübigen und wahrhafftig zu Gott bekerte und gerechtfertige christen vom fluch deß gesetzes erlediget und frey gemacht seyen, das sie sich doch im gesätz des Herrn täglich üben sollen […]“ Zudem brauchen die Gläubigen das Gesetz, denn: „das gesätz ist ein spiegel in welchem der wille Gottes und was ime gefällig, eigentlich abgemahlet ist, das man den glauben stettigs fürhalten und bey inen ohn underlaß fleyßig treiben soll.“15 Hier hatte das Gesetz die Funktion eines Spiegels, um dem Christen mitzuteilen, was er tun soll, und nicht, wie oft bei dieser Metapher, um den sündhaften Gläubigen zur Buße zu bringen. Die Schwäbisch-Sächsische Konkordie verwendete dasselbe Bild vom Gesetz als Spiegel, durch den der Christ Gottes Willen lernt, um ihm in Gehorsam zu dienen. „Denn ob woll den ‚gerechten kein gesetz gegeben‘ ist [Röm 2,15], […] sondern den ungherechten, so ist doch sollchß nicht allso bloß zu verstehen, daß die gherechten ohn gesetz leben sollen, denn daß gesetz Gottes ihnen ihn daß hertze geschriben undt dem ehrsten menschen gleich nach seiner ehrschaffung auch ein gesetz geben, darnach ehr sich verhalthen sollt, sundern die meinung s. Pauli ist, das daß gesetz die jenigen, so durch Christum mith Gott versonett, midt seinem fluch nicht beschweren kann, auch die widergebornen midt seinem zwanck nicht quelen durffe, weill sihe 16 nach dem ihnwendigen menschen lust haben ahn Gottes gesetz.“
In dem Konkordienverfahren in Torgau saß Musculus am Tisch mit Andreae, und neben ihm Chytraeus, Chemnitz und Selnecker, alle drei Melanchthonschüler, die den dritten Gebrauch des Gesetzes für eine biblische Bestätigung der menschlichen Verantwortlichkeit, die Gott erschaffen hat, und ein notwendiges Element der Seelsorge gehalten haben. Deswegen musste die Gruppe eine Lösung finden, die beide Seiten zufriedenstellen würde. Der vom Komitee 1576 in Torgau ausgearbeitete Text hob den Unterschied zwischen dem alten Menschen und dem Neugeborenen als Schlüssel des Streits hervor. Im sechsten Artikel der Konkordienformel haben die sechs geschrieben: „Dann solange der mensch nicht widergeboren ist und sich
14 15 16
A.a.O., 65,24–29. A.a.O., 107,35–108,3. A.a.O., 194,28–195,4.
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nach dem Gesetz helt und thut die werck darumb, das sie also geboten seind, aus furcht der straffe oder gesuch des lohns, der ist noch unter dem Gesetz, und seine werck werden von S. Paulo eigentlich werck des Gesetzes genennet, dann sie werden von dem Gesetz erzwungen, wie die Knechte, und das sein Cainische Heiligen.“17 Sie haben aber Musculus’ eigene Ausdrücke gebraucht, um die Motivation der Neugeborenen zu beschreiben. „Wann aber der mensch durch den Geist Gottes neu geboren und vom Gesetz frey gemacht, das ist, von diesem treiber ledig worden und von dem Geist Christi getrieben wird, so lebet et nach dem unwandelbaren willen Gottes, im Gesetz begriffen, und thut alles, so viel er neu geboren ist, aus freiem, lustigen Geist, und solches heissen nicht eigentlich werk des Gesetzes, sonder werck und früchte des 18 Geistes […]“
Nicht das Gesetz, sondern das Evangelium „leret, das unsere geistliche Opffer Gott angenem sein durch den Glauben umb Christus willen. […] Solcher gestalt sind die Christen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der gnaden, weil die Person von dem fluch und verdamnis des Gesetzes durch den Glauben an Christum gefreiet, und weil ir gute werck, ob sie gleich noch unvolkommen und unrein, durch Christum Gott angenem sein, weil sie auch nicht aus zwang des Gesetzes sondern aus verneuerung des heiligen Geistes von hertzen willig und ungezwungen thun was Gott gefellig ist, so viel sie nach dem innerlichen 19 Menschen neu geboren sein.“
Aber der Neugeborene befindet sich mitten im Kampf zwischen dem Fleisch und dem Geist, und das macht die Rolle des Gesetzes als Ankläger im täglichen Leben und Kampf des Gläubigen notwendig. Dagegen aber hatte Musculus keinen Einwand, denn er hielt doch zu Luthers Erkenntnis, dass der Gläubige immer gleichzeitig Sünder und Gerechter ist. Später äußerte Musculus Bedenken über die Konkordienformel,20 aber 1577 und während der Kampagne für ihre Annahme 1577–1580 hat er keinen Protest eingelegt. Die Streitigkeiten über den freien Willen fanden in den Artikeln I, II und XI der Konkordienformel eine ähnliche klare Festlegung der biblischen Lehre von Gottes bedingungsloser Gnade in der Erwählung, Bekehrung und Erhaltung der Christen im Glauben. In diesen Streitigkeiten hat Nikolaus Gallus, gnesiolutherischer Superintendent in Regensburg, behauptet, dass die beiden Seiten derselben Meinung in sechs Punkten waren: 1) nach dem Sündenfall behalten alle Menschen in zeitlichen Dingen einen gewissen Grad der Freiheit zu entscheiden und können ohne den Heiligen Geist Gottes Wort hören und zu einem gewissen Grad verstehen, 2) nach 17 18 19 20
BSELK, 1448,31–36. A.a.O., 1450,1–6. A.a.O., 1452,7–16. Vgl. Jobst Ebel, Die Herkunft des Konzeptes der Konkordienformel. Die Funktionen der fünf Verfasser neben Andreae beim Zustandekommen der Formel, Zeitschrift für Kirchengeschichte 91 (1980), 263–264.273.
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der Bekehrung tun die Gläubigen gottgefällige gute Werke, 3) durch Gottes Gnade und die Hilfe des Heiligen Geistes bleiben die Gläubigen in der Übung des neugeborenen Willen im Glauben und Gehorsam, obwohl sie auch vom Glauben abfallen können, 4) Gottes Prädestination der Gläubigen kann nur aus der Offenbarung seines Willens in seinem Wort erfahren werden, 5) die, die im Glauben und bußfertig leben, müssen als Gottes Auserwählte angesehen und damit getröstet werden, 6) Gott ist nicht die Ursache des Bösen und der Sünden; er will, dass alle zum Glauben durch die Buße kommen. Gallus sah den kritischen Unterschied zwischen seinen gnesiolutherischen Genossen und den philippistischen Gegnern in deren Verteidigung der Tätigkeit des Willens in der Bekehrung: Melanchthon, Pfeffinger 21 und Viktorin Strigel haben behauptet, dass Gott „den Willenden zu sich zieht“ . Im Laufe der Streitigkeiten über ihre Hervorhebung des Willens, der aktiv bleibt aber vom Heiligen Geist angezogen, sogar neu erschaffen werden müsste, sind zwei weitere Streite entstanden. Der erste entwickelte sich aus dem Gebrauch von aristotelischer Terminologie und Begrifflichkeiten für die Erbsünde, die Viktorin Strigel in der Weimarer Disputation von 1560 gebraucht hat. In seinem Bemühen, die Integrität der menschlichen Verantwortlichkeit zu behalten, nannte Strigel die Erbsünde ein Accidens. Sein Gegner in der Disputation, Matthias Flacius, bestand darauf, dass man die Erbsünde ernster nehmen müsse, als es der Begriff „accidens“ erlaube. Flacius behauptete, dass die Erbsünde die formelle Substanz des sündhaften Menschen geworden ist. Zur Unterstützung berief er sich auf Luthers Ausdruck, dass der Sünder ein Ebenbild Satans ist, und dass die Erbsünde 22 „essentiale Sünde“ ist. Der andere Streit ist 1567 entstanden, als der Gnesiolutheraner Cyriakus Spangenberg versucht hat, alle „synergistische“ Ideen durch die Wiederholung der Argumentation Luthers in De servo arbitrio zu vermeiden. Spangenbergs Sieben Predigten über die Prädestination erregte die Kritik der Wittenberger Philippisten, und die Erwählung der Gläubigen wurde ein Streitpunkt neben der Frage nach der Fähigkeit des sündhaften Willens und der Notwendigkeit von dessen Beteiligung an der Bekehrung.23 Artikel I der Konkordienformel betrifft das spezifische Problem, das aus Flacius’ Verteidigung des Begriffs vom gebundenen Willen entstand. Er hat nicht den Gebrauch der aristotelischen Terminologie in die Debatte eingeführt, aber als er sie einmal verwendet hatte, wurde es immer schwieriger für ihn, sie aufzugeben und seine Äußerungen zurückzuziehen. Sein Hauptanliegen blieb aber auch in diesem 21
22 23
Erklerung der Religions streite / zu nottu[e]rfftigem vnterricht der Kirche / vnd ablenung falscher Calumnien. Wider die verfelscher der waren Augspurgischen Confession, Regensburg 1559, A2b – B1b; vgl. Robert Kolb, Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method from Martin Luther to the Formula of Concord, Grand Rapids 2005, 113–117; Ders., Nikolaus Gallus’ Critique of Philip Melanchthon’s Teaching on the Freedom of the Will, Archiv für Reformationsgeschichte 91 (2000), 87–110. Unter anderen Stellen, vgl. WA 42: 47,14–22; WA 10,1,1: 508,2–21; WA 40,2: 327,20–30; 385,17–20. Kolb, Bound Choice (wie Anm. 21), 205–226.
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Streit bestehen, dass man dem menschlichen Willen nicht den kleinsten Beitrag oder Verdienst bzw. die geringste Rolle in der Bekehrung des Sünders zuschreiben darf. Schon in seinen Sechs Christliche Predig hat Andreae die Kritik der ehemaligen Genossen von Flacius, Tilemann Heshusius und Johannes Wigand übernommen, „daß die Erbsünde nicht seie deß Menschen Natur, Wesen oder vernünfftige Seel selbst, sonder es seie etwas zufelligs in derselben, also daß ein anders seie der Mensch, sein Natur, Wesen, Leib und Seel und allen seinen Krefften. Der Grund dises theils Meinung ist dieser, das Gott allein seie ein Schöpffer der Natur, deß Leibs und der Seel deß Menschen und nicht der Teufel. Item, das Gott nicht seie ein ur24 sach der Sünde.“
Andreae hat diese Argumentation in seiner Schwäbischen Konkordie widerholt,25 und Chemnitz und Chytraeus, die als treue Melanchthonschüler besonders den Eindruck zurückweisen wollten, dass die Lutheraner Gott für die Ursache des Bösen hielten, haben diese Stellungnahme in der Schwäbisch-Sächsischen Konkordie verstärkt.26 Daher verfassten die Konkordisten in Torgau diesen Schluss: es sei kein bloßer Wortzank um die richtige Definition der Erbsünde gewesen, sondern es ging um Gottes Ehre und den Trost des Gläubigen, dass man sich in dieser Frage Klarheit verschaffe. Christen sollen erkennen, dass „nicht allein die wirckliche ubertretung der Geboten Gottes, sondern das auch die greuliche, schreckliche Erbseuche, durch welche die gantze Natur verderbet, für allen dingen warhafftig für sünde sol gehalten und erkennet werden, ja für die Hauptsünde welche ein wurtzel und brunquel ist aller wirklichen sünde.“27 Aber „zum andern ist das auch klar und war […] Das Gott nicht ist ein Schöpffer, stiffter oder ursach der sünden, sondern aus anstifftung des Teuffels durch einen Menschen ist die Sünde (welche ist ein werck des Teufels) in die Welt kommen, Rom. 5; 1. Johan. 3.“28 Aber es ist auch falsch zu lehren, dass Satan „etwas wesentlichs böses geschaffen oder gemacht [hat] und mit irer Natur vermenget“29. Weil eine „Substanz“ ein Ding an sich, etwas, was unabhängig und unterschiedlich von allen anderen Sachen ist, kann die Erbsünde nicht eine „Substanz“ sein, sondern nur etwas, was eine Substanz beeinflusst, vielleicht gestaltet oder sogar verändert.30 Aber Flacius’ Sorgen um die möglichen Konsequenzen, die aus dem Begriff von der Erbsünde als „accidens“ hervorkommen könnten, haben die Konkordisten auch erkannt. Auf der Basis der Ablehnung in den Vorstufen des Textes, die jeder Mög-
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BSELK.QuM 2, 46,12–19. Vgl. a.a.O., 88,24–91,10. A.a.O., 148,29–14, vgl. Martin Chemnitz, De controversiis qvibusdam, avae superiori tempore, circa quosdam Augustanae Confessionis Articulos, motae & agitate sunt: Iudicium, hg. v. Polycarp Leyser, Wittenberg 1594, 20–30 (ein Manuskript von 1561). BSELK, 1322,10–14. A.a.O., 1322,24–28. A.a.O., 1328,34–35. A.a.O., 1338,33–1342,26.
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lichkeit eines Beitrags des freien Willens zur Bekehrung und einer Rolle des Willens ohne die Kraft und Wirkung des Heiligen Geistes in der Erschaffung des Glaubens widersprochen haben, hat die Konkordienformel in den Artikeln I und II versichert, dass der Mensch nichts zur eigenen Seligkeit beitragen kann.31 Artikel II bekennt: „Als nemlich in Geistlichen und Göttlichen sachen des unwidergebornen Menschen verstand, hertz und Wille aus eignen, natürlichen kreffen gantz und gar nichts verstehen, gleuben, annemen, gedencken, wöllen anfangen, verrichten, thun, wircken oder mitwircken könne, sondern sey ganz und gar zum guten erstorben und verdorben, also das in des menschen natur nach dem fall, vor der widergeburt nicht ein füncklein der geistlichen kreffte ubrig geblieben noch vorhanden mit welchem er aus ime selber sich zur gnade Gottes bereiten oder die angebotenen gnade annemen, noch derselben für und von sich selbst vehig sein oder sich dazu appliciren oder schicken könne, oder aus seinen eigenen krefften etwas zu seiner bekerung geringsten teil helffen, thun, wircken oder mitwircken vermöge von ime selbst als von ime selbst, sondern sey der sünden knecht, Joh. 8, 32 und des Teuffels gefangener, davon er getrieben wird, Eph. 2; 2. Timot. 2.“
Einige der Anhänger von Flacius meinten, dass solche Passagen im Widerspruch zur Verwerfung der flacianischen Terminologie ständen, und haben deswegen weiterhin ihre heftige Kritik an Artikel I nicht aufgegeben.33 Aber die Überzeugung von allen Wittenbergern, dass der Sünder auch zum Glauben durch das Hören des Wortes Gottes (Röm 10,17) kommt, dass das Hören auch die Tätigkeit des Verstehens umfasst, und dass die Bekehrung auch die Wirkung des Heiligen Geistes auf den Willen und das vom Spiritus Creator gewirkte Wollen des Menschen einschließt, kam auch in der Konkordienformel zum Ausdruck. Die ständigen Auseinandersetzungen mit Caspar Schwenkfeld und anderen Spiritualisten stehen hinter dem Hinweis auf das Wort in mündlicher und sakramentaler Form. Aber dass Gott den Menschen auch als denkende, fühlende und wollende Kreatur, als Ebenbild Gottes, geschaffen hat, ist auch eine Bestätigung dafür, dass die menschliche Seite der Bekehrung nicht ignoriert wird, und dass die menschliche Erfahrung des Wirkens des Wortes und die menschliche Verantwortung nicht außerhalb der christlichen Lehre stehen. Denn keiner im Wittenberger 34 Kreis wollte den Sünder als „stein oder block“ betrachten. Die, die nicht an Christus glauben, können „eusserlich hören und lesen […] zur Kirchen gehen, der Predigt zuhören, oder nicht zuhören […]“.
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Vgl. BSELK.QuM 2, 48,21–55,8 (Sechs Christliche Predig), 2, 91,11–97,7 (Schwäbische Konkordie), 2, 246,29–272,38 (Schwäbisch-Sächsische Konkordie), 2, 326,3–332,23 (Maulbronner Formel). BSELK, 1348,11–24. Vgl. Irene Dingel, Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16. Jahrhunderts, Gütersloh 1996, 485–526. BSELK, 1372,22.
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„Durch dieses mittel, nemlich die Predigt und gehör seines worts, wircket Gott und bricht unsere hertzen und zeucht den menschen, das er durch die Predigt des Gesetzes seine sünde und Gottes zorn erkennet und warhafftiges schrecken, reu und leid im herzten empfindet und durch die Predigt und betrachtung des heiligen Evangelii von der gnadenreichen vergebung der sünden in Christo ein füncklein des glaubens in im angezündet wird, die vergebung der sünden umb Christi willen annimmet und sich mit der verheissung des Evangelii tröstet; und wird also der 35 Heilige Geist (welcher dieses alles wircket) in das hertz gegeben.“
Der Heilige Geist wirkt an und mit der ratio, der voluntas und dem affectus des Sünders. Aber der Herr in diesem Prozess und der Alleinschöpfer der neuen Kreatur in Christus ist der Heilige Geist. Mit einer ähnlichen Angelegenheit wollte Cyriakus Spangenberg durch Rekurs auf Luthers De servo arbitrio in seiner Schrift Sieben Predigten von der Prädestination vor allem seine „synergistischen“ Gegner im philippistischen Lager bekämpfen und dadurch den Trost des Evangeliums hervorheben. Die Lehre der Gnadenwahl soll bei Luther und bei Spangenberg die Bedingungslosigkeit der Gnade 36 hervorheben. Einige Philippisten fürchteten aber, wie auch Luther und Melanchthon, dass der Begriff von der „Prädestination“ die Gläubigen zur Verzweiflung bringen könnte. Luther selber schrieb Trostbriefe gegen diese Versuchung.37 Martin Chemnitz hatte 1573 eine Predigt über das Thema veröffentlicht, als im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel Streit über diese Lehre ausgebrochen war38 und Herzog Julius um seine Hilfe gebeten hatte. Jakob Andreae hatte 1574 eine Disputation über die Prädestinationslehre gehalten, möglicherweise mit der Hilfe von Chemnitz’ Predigt formuliert.39 Aus diesen Dokumenten stammen die Lösungen des Streits über die Gnadenwahl in der Schwäbischen und der Schwäbisch-Sächsischen Konkordie,40 die den Text des elften Artikels der Konkordienformel bestimmt haben. Durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, bzw. durch die klare Formulierung der Konkordienformel, dass die Gnadenwahl nur als Evangelium verstanden werden kann, und durch die Wiederholung der Behauptung, dass Gott in keiner Weise eine Ursache des Bösen ist, haben die Konkordisten versucht, den philippistischen Sorgen entgegenzukommen. Aufgrund einiger Streitigkeiten in den Jahren 1550–1570 war es schwieriger, den Anliegen beider Seiten entgegenzukommen. Im osiandrischen Streit zum Bei35 36 37 38
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A.a.O., 1370,14–27. Vgl. Kolb, Bound Choice (wie Anm. 21), 31–66.198–220. Vgl. Ute Mennecke-Haustein, Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1989, 195–206. Martin Chemnitz, Eine Predigt vber das Euangelion Matth. 22. Von dem Ko[e]nig der seinem Sohn Hochzeit machet etc. Dahin der Hohe Artickel on der Versehung Gottes auffs aller einfeltigest erkleret wird […], Heinrichstadt 1573; vgl. Kolb, Bound Choice (wie Anm. 21), 227–236. Jakob Andreae, Disputatio de electione et praedestinatione diuina, Tübingen 1574; vgl. Kolb, Bound Choice (wie Anm. 21), 236–241. Vgl. BSELK.QuM 2, 12,31–133,11 (Schwäbische Konkordie), 2, 230,33–246,28 (SchwäbischSächsische Konkordie).
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spiel wurde Andreas Osianders Verständnis von der Rechtfertigung des Sünders, das auf seinen aus der Kabbala entliehenen neoplatonischen Voraussetzungen basierte, vom ganzen Spektrum des Wittenberger Kreises aus verschiedenen Gründen abgelehnt.41 Obwohl Osianders Begriff von der seligmachenden Anwesenheit der göttlichen Natur Christi im Menschen falsch war, müsste man die innewohnenende Anwesenheit Christi und des Heiligen Geistes im Leben der Christen erklären – allerdings als ein Ergebnis, nicht als Ursache der Rechtfertigung durch Gottes Wort der Vergebung und durch die Zurechnung der Gerechtigkeit des ganzen Christus. Die Einwohnung Gottes ist nicht die Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder vor Gott gerecht macht, aber „durch den Glauben in den auserwelten, so durch Christum gerecht worden und mit Gott versünet sind, Gott, Vater, Son und heiliger Geist, der die ewige und wesentliche Gerechtigkiet ist, wohnen (dann alle Christen sind ‚Tempel Gottes‘, des Vaters, Sons und heiligen Geistes, welcher sie auch treibet 42 recht zu thun)“ . Kein Anhänger Osianders wäre damit zufrieden gewesen, aber die Konkordisten wollten diesen Sachverhalt klären. 4.
Die Fragen von Abendmahl und Christologie
Auch bei dem wichtigsten Streit – wenigstens vom Standpunkt des Kurfürsten August und wahrscheinlich auch Andreaes aus – in den Jahren direkt vor dem Konkordienbemühen, dem Abendmahlsstreit, gab es weniger Spielraum für die Anerkennung der Anliegen beider Seiten. Die Interpretation von Luthers und Melanchthons Abendmahlslehre, die Chemnitz und Chytraeus, sowie Selnecker, vertreten hatten, formierte sich zum Teil als Argument gegen die Position der Crypto-Philippisten.43 Aber das Anliegen der Philippisten, dass der Leib und das Blut Christi nur im Zusammenhang mit dem „usus“ des Sakraments anwesend sind, rief im Allgemeinen wenigen Widerspruch unter dem ganzen Spektrum der Wittenberger hervor. David Chytraeus hatte schon in dem Streit über die Frage, wie lange der Leib und das Blut Christi nach der Konsekration noch anwesend seien, Stellung genommen und Melanchthons Akzentuierung des usus als Rahmen der Präsenz wiederholt.44 Im siebten Artikel der Konkordienformel haben seine Kollegen (seine) Worte aus der Schwäbisch-Sächsischen Konkordie übernommen und überarbeitet, und sie schrieben: 41 42 43
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Vgl. Timothy J. Wengert, Defending Faith. Lutheran Responses to Andreas Osainder’s Doctrine of Justification 1551–1559, Tübingen 2012. BSELK, 1410,11–16. Vgl. Johannes Hund, Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574, Göttingen 2006. Vgl. Jobst Schöne, Um Christi sakramentale Gegenwart. Der Saligersche Abendmahlsstreit 1568/1569, Berlin 1966; ders.: Von der Macht des Wortes Christi. Die Konsekrationslehre im Artikel VII der Konkordienformel, in: Ders. (Hg.), Bekenntnis zur Wahrheit. Aufsätze über die Konkordienformel, Erlangen 1978, 93–99.
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„Diese warhafftige Christliche Lere vom heiligen Abendmal zu erhalten und vielerley Abgöttische missbreuche und verkerung dieses Testaments zu meiden und auszutilgen, ist diese nützliche Regel und Richtschnur aus den worten der einsetzung genommen: Nihil habet rationem Sacramenti extra usum a Christo institutum, oder extra actionem divinitus institutam, Das ist, wenn man die stifftung Christi nicht helt, wie ers geordnet hat, ist es kein Sacrament, Welche mit nichten zuverwerffen, sondern nützlich in der Kirchen Gottes kan und sol getrieben und erhalten werden; und heisset allhie ‚usus oder actio‘, das ist ‚gebrauch oder handlung‘, fürnemlich nicht den glauben auch nicht allein die mündliche niessung, sondern die gantze eusserliche, sichtbare, von Christo geordente handlung des Abendmals, die consecration oder wort der einsetzung, die austeilung und empfahung oder mündliche niessung des gesegneten Brots und Weins, Leibs und Bluts Christi, ausser welchem gebrauch, wenn das Brot in der Papistischen Meß nicht ausgeteilet, sondern auffgeopffert oder eingeschlossen, umbgetragen und anzubeten vorgestellet ist, es für kein Sacrament zu halten, gleich als das Tauffwasser, wenn es die Glocken zu weihen oder den Aussatz zu heilen gebrauchet, oder sonst anzubeten für45 gestellet würde, kein Sacrament oder Tauffe ist.“
Die Konkordisten haben gegen die Sacramentirer, die „diese nütze und nötige Regel hinderlistig und böslich zu verleugnung der waren, wesentlichen gegenwertigkeit und mündlichen niessung des Leibs Christi, so allhie auff Erden, beide von wirdigen und unwirdigen zu gleich geschicht, verkeren […]“46 eine detaillierte Kritik vorgelegt. In dieser Weise haben sie die praesentia sacramentalis, die manducatio oralis und die manducatio impiorum aufrechterhalten, sich aber auch vor den potentiellen abergläubischen Gebräuchen der mittelalterlichen Praxis gehütet, gegen die sich Melanchthon und seine Schüler gewehrt haben. 5.
Fragen, die vermieden werden mussten
Artikel X der Konkordienformel zeigt eine andere Art von Lösung eines Streitthemas der 1550er–1570er Jahre. Ein Problem beim Austausch über die Adiaphora war das Verhältnis zwischen der Obrigkeit und der Kirche. Die Gnesiolutheraner haben heftig die Einmischung der Obrigkeit, bzw. die Regierung von Moritz von Sachsen, in die inneren Angelegenheiten der Kirche mit dem Versuch im Leipziger Landtagsentwurf von 1548, Liturgie und Gebräuche zu regulieren, kritisiert. Die Gnesiolutheraner haben die unterstützende Rolle der Obrigkeit für die ökonomischen Aspekte des kirchlichen Lebens als selbstverständlich angenommen, wollten aber dem Fürsten oder dem Rat der Stadt keine Jurisdiktion in Sachen der Lehre 47 und der frommen Praxis zugestehen. Die Philippisten und Andreaes Genossen aus Württemberg sahen die Zusammenarbeit von Kirche und Obrigkeit viel lockerer. 45 46 47
BSELK, 1488,27–1490,14, vgl. BSELK.QuM 2, 220,32–221,9. BSELK, 1490,16–20. Vgl. Hans Christoph von Hase, Die Gestalt der Kirche Luthers. Der casus confessionis im Kampf des Matthias Flacius gegen das Interim von 1548, Göttingen 1940.
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Während z. B. Martin Chemnitz eine möglichst geringe Rolle der Obrigkeit in kirchlichen Sachen bevorzugte, waren Nikolaus Selnecker und Jakob Andreae bereit, der Obrigkeit mehr Rechte in den Entscheidungen der Kirche zu geben. Artikel X behandelt die Rolle der Obrigkeit in der Kirche nicht, obwohl diese Frage ein wichtiges Problem in den Auseinandersetzungen in den 1550er Jahren über die Adiaphora gewesen war. Ähnlich war es mit Artikel IX. Als das Komitee in Torgau sich entscheiden hatte, gegen die Behauptung des Heidelberger Katechismus – die Höllenfahrt sei nicht als körperliche Erscheinung Christi in der Hölle geschehen – klare Stellung zu beziehen, vertraten die Teilnehmer am Tisch verschiedene Positionen. Andreae interpretierte bei der Höllenfahrt das Leiden Christi am Kreuz als das Leiden der Schmerzen in der Hölle, aber Chemnitz, Chytraeus und Selnecker waren der Meinung, die Melanchthon und auch Luther vertreten hatten, dass Jesus in der Tat in der Hölle seinen Sieg verkündigt hatte. Andreae hat das Urteil der Kollegen so ausgelegt, dass man sich halt auf Luthers Worte in der sogenannten „Torgauer“ Predigt verlassen sollte, sodass das Komitee es vermieden hatte, eine eigene feste Formu48 lierung verfassen zu müssen. Schwaben und Philippisten haben sich in den frühen 1570er Jahren gegenseitig immer heftiger verworfen, Philippisten und Gnesiolutheraner haben sich seit 1549 gegenseitig verdammt. Aber die sechs Theologen von Torgau und Bergen haben die große Mehrheit dieser Gruppen in die Einigkeit zusammengebracht – in die Mitte; in eine Mitte zwischen den Parteien, in eine Mitte im Verständnis des Wittenberger Erbes. Diese Mitte kam aus der Mitte des christlichen Glaubens, Jesus Christus, und seinem biblischen Wort. Zwischen der Sorge um den Glauben und dem Trost der Gläubigen und dem Einsatz der Konkordisten zur treuen Verkündigung des Wortes, haben sie versucht, dieses Wort klar und verständlich bezüglich der Fragen, die die Kirchen beunruhigt hatten, zu formulieren. Diese beiden Pole dürfte die Kirche in jedem Zeitalter als Maßstab der Verkündigung verwenden.
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Vgl. Robert Kolb, Christ’s Descent into Hell as Christological Locus. Luther’s ‘Torgau Sermon’ as Confessional Instrument in the Late Reformation, Lutherjahrbuch 69 (2002), 101–118, und David G. Truemper, The Descensus ad Inferos from Luther to the Formula of Concord, S.T.D. thesis, the Joint Project for Theological Education and the Lutheran School of Theology at Chicago, 1974.
Seeking the Center A Catholic Case Study (and Context Counts!) Robert Rosin The Internet sprawls in every direction, with countless options just keystrokes away. While the web helps steer between Scylla and Cherybdis in the choppy seas of digital information overload, do not go looking for the center of it all. There is none. The online odyssey leads from one site to another and another and another. Jump on, ramble around, find something useful, and then hop off once the question of the moment appears to be answered — and beware the Siren song that lures to some other link.1 Pace, millennials, but everything is not digitized and e-accessible, at least not yet. “Give it time,” they reply — and maybe so. Until then the web extends its “worldwide” reach and search engines chug away, yet without an ultimate focal point in terms of structure or substance. This is no surprise. It is the tenor of the times: the postmodern age where efforts to settle on an overarching framework have hit a wall, and the resulting crack-up of grand theory and unifying narrative has bequeathed the world a jumble of personal stories and vignettes. In this new context everything is a matter of perspective. If all the king’s horses and men could not put Humpty Dumpty back together again in a nursery rhyme, is there any sorting out greater challenges in the real world? When making sense of life, finding a center can be more than daunting. A metanarrative might help, encompassing lesser stories and defining a focus, but for Jean-Francois Lyotard, this quest is an exercise in futility, a fool’s errand. Metanar2 ratives no longer hold legitimacy in a Humpty Dumpty world. In other words, there 1
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Erasmus in De libero arbitrio warned Luther that his plunging of Scripture was like probing the Corycian Cavern — drawn in until one is hopelessly lost and despairs of finding a way out. Today Erasmus might simply have pointed to the life in the maelstrom of the Internet. Lyotard wrote: “Simplifying to the extreme, I define postmodern as incredulity toward metanarratives. This incredulity is undoubtedly a product of progress in the sciences: but that progress in turn presupposes it. To the obsolescence of the metanarrative apparatus of legitimation corresponds, most notably, the crisis of metaphysical philosophy and of the university institution which in the past relied on it. The narrative function is losing its functors, its great hero, its great dangers, its great voyages, its great goal. It is being dispersed in clouds of narrative language elements — narrative, but also denotative, prescriptive, descriptive, and so on. Each of us lives in the intersection of many of these. […] Where, after the metanarratives, can legitimacy reside?” Lyotard, The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, vol. 10, Theory and History of Literature (Manchester: Manchester University Press, 1979), xxiv–xxv.
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is no unifying center. Perhaps it was both modernism’s fault and its inevitable end that things have come to this. After its promises of a big bottom line to bring all together fell short, crippling questions were bound to arise, with a loss of confidence to follow. Despite bravado and great expectations, modernism finally had neither the foundation nor the resources to deliver, and its grand plan was the worse for wear. The problem of claims pitched high that then fail to pan out is hardly new. Late medieval nominalism, for one, had doubts about the moderate realism of the Thomists with an overarching nature-supernature continuum. It looked good on paper, but … Today we would expect everything to fall down in a heap. Yet late medieval nominalists did not lapse into skepticism. With the church cradling its own for centuries and with Christian thought and culture all around, the collapse did not hap3 pen until much later. But watch what happens as “early modern” shifts to “modern” and then on to “postmodern,” as the world, once comfortable with the idea of higher spiritual things being real, is shaken by modern materialist challenges. Because things were ontologically, epistemologically, and morally intertwined, a decline in one area pulls down others. Eventually what was once routinely believed without a second thought would find itself called unthinkable and illegitimate.4 So where does that leave us? A would-be all-embracing metanarrative on one hand or fractured, disconnected perspectives on the other — those are the only choices? All or nothing? What about something in between? In fact, the third option is not just something somewhere between those two poles. Rather it stands in the center, a unifying center. For Christian theology, a unifying center anchors theory and practice, thinking and doing, faith and life. This is not a compromise somewhere on a spectrum. Think rather of a bullseye where the arrow either hits the center or not. 3
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Lucien Febvre, Le problème de l'incroyance au XVIe siècle: la religion de Rabelais (Paris: Albin Michel, 1937). Also: The Problem of Unbelief in the Sixteenth Century: The Religion of Rabelais, trans. Beatrice Gottlieb (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1983). Personally no friend of theology, Febvre still makes plain there was no such thing as an atheist even in the sixteenth century. (Luther’s De servo arbitrio dig at “atheist” Erasmus infers something else in a different context.) The modern denial would take time. There are any number of efforts at least to slow the flow if not stop and reverse the tide. One interesting approach is Richard M. Weaver, Ideas Have Consequences (Chicago: University of Chicago Press, 1948). He faulted the nominalists for criticizing the moderate realists and settting up the eventual challenge to higher absolutes. Weaver sought to recover not just the pragmatic need but the existence of absolutes by arguing that private property is “the last metaphysical right,” and so both points to and rests on a higher foundation. A different rescue effort comes from Zygmunt Bauman, Liquid Modernity (Cambridge: Polity Press, 2000). The speed and volume of life’s stimuli have overwhelmed individuals and heated up the solid world on which they once stood, leaving it liquified to some extent. But while broken up, pieces or elements remain — solids floating in the liquid on which one can stand and which can be combined with others. So although the possibility of a metanarrative perspetive is lost, there still can be some larger view that is not just mine but shared as ours. Seeing all will not happen, but much can be seen and life together need not be abandoned for some hermit’s cave.
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The center anchors without pretending to human omniscience or omnipotence. Perfect knowing and doing are left to God’s mind and ways, everything in his good time and for his purposes. It is all there in Ecclesiastes. “Under the sun” is a limited perspective, and things do not always go as it seems they should: the race is not always to the swift or the battle to the strong. But rather than lapse into skepticism, an anchor is dropped at the end of the Preacher’s text: fear God and keep his commandments. Put another way, believe and trust the promises God puts into each life, and then go about one’s vocations — and leave the results to God. There is the center that holds as other things swirl around. That seems simple and straightforward. However, getting to the center and holding on is a constant challenge. Die-hard postmodernism will be no help. Remember Lyotard: metanarratives prompt only “incredulity” because they are only a matter of language, a word game. People portray their worlds in ways that make sense to them, each person using language differently from a particular viewpoint. So, the argument goes, we cannot say that the world exists independently and distinct from us. Rather, the world is created by people’s stories or narratives. We have as many outlooks as there are people, each a unique and personal perspective. If so, then could anyone talk to anyone else? And could anyone honestly reply, “Yes, I understand.” It sounds rather like ancient skepticism. But it need not be all or nothing. Even apart from the faith perspective of Ecclesiastes, an alternative exists. Writing on pragmatism, Russell Goodman offers this: Consider […] the statements “The sun always moves” and “The sun never moves” which, though equally true, are at odds with each other. Shall we say, then, that they describe different worlds as there are such mutually exclusive truths? Rather, we are inclined to regard the two strings of words not as complete statements with truth-values of their own but as elliptical for some such statements as “Under frame of reference A, the sun always moves” and “Under frame of reference B, the sun never moves”— statements that may both be true of the same world. Frames of reference, though, seem to belong less to what is described than to systems of description: and each of the two statements relates what is described to such a system. If I ask about the world, you can offer to tell me how it is under one or more frames of reference: but if I insist that you tell me how it is apart from all frames, what can you say? We are confined to ways of describing whatever is described. Our uni5 verse, so to speak, consists of these ways rather than of a world or of worlds.
Everything exists in a frame of reference and is viewed and understood in a context. Context counts. Context also can be missed — easily done especially when those involved share so much of the same context that context becomes transparent like water.6 Be careful: water refracts light, and what looks to be at one place below a 5 6
Russell B. Goodman, ed., Pragmatism: Critical Concepts in Philosophy, vol. 4 (London: Routledge, 2005), 6. Broadly speaking, that was the circumstance centuries ago in medieval, early modern, and into modern times. When it came to Christian Europe, people still enjoyed a shared cultural heritage
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glass-like surface is actually somewhere else. But there is something there. As Goodman explains, we cannot claim some perfect knowing above and apart from the world. We must remember we are looking from our place in the world — but there is a world. So when writing about history, for example, we must mind the gap when we step from our time to the era under study. There is context at both ends (plus a third for those who eventually will read the finished product). That means getting at (we hope!) the “then” and translate that for “now.” Begin with words. They must matter if ideas are to follow. “If you know the origin of a word […] everything can be more clearly comprehended,” wrote Isadore of Seville in his sixth century Etymologiae. Words are joined to convey how people see things, how they think. That is next: from words to the seeing and thinking. Digging to get at the “then” does not require the kind of excavation Michel Foucault undertakes in his Archaeology of Knowledge, particularly if (when) one disagrees with how he thinks 7 worldviews come about. But Foucault’s larger idea that there is archaeology to be done should not be lost. The past does not exist on the same plane as our present, so digging is needed to unearth the thinking of times past. Foucault makes a helpful observation. Because time flows, and history stretches from past to present, it is easy to assume concepts and worldviews also flow forward continuously. That, in turn, tempts us to read our own understandings back upstream onto earlier eras. But, Foucault argues, a key to understanding history is not continuity but discontinuity. Past modes of thinking, both shaped by and reflected in language, are vastly different. With history, not only is place a context problem to be managed, so is time. The point is writ large in David Lowenthal’s 8 book title: The Past Is a Foreign Country. From “then” to “now” is not a matter of fast-forwarding a few centuries and then carrying on business as usual. Contexts change and contexts count. A center can be found (unless one throws in the towel and declares skepticism the winner), but it takes work.
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(though that was shaken during and after the Reformation), and the ideas of postmodernism about a world made from narratives had yet to arrive. That made it easier to skip over context. Today the heritage has eroded and narratives have taken a hit, but context can still be missed. Moving in small relatively homogenous circles can be a problem — the big fish in a small pond. Worse is when the small circle indulges in self-congratulation, convinced (blinded!) by their supposed insights and wisdom. They can be aware of the wider world, but they dismiss out of hand what does not fit their own narrative, along with any possibility that they could be wrong and might actually learn something that would help all concerned. Context gets lost when they think they know the mind of God. Michel Foucault, The Archaeology of Knowledge, trans. Alan Sheridan (New York: Pantheon Books, 1972). When Lowenthal was asked to update his book, he first planned minor updates. However, as he said in the revision’s introduction, it became clear that so much had changed in how the present had come to understand the past that his book really had to be rewritten. The original: The Past Is a Foreign Country (Cambridge: Cambridge University Press, 1999). The rewrite: The Past Is a Foreign Country — Revisited (Cambridge: Cambridge University Press, 2015).
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The same holds true for theology. When looking for a unifying center, contexts again loom large. There is a present context of the thinker/theologian, and there are circumstances surrounding readers/hearers. And (unless the theologian is only philosophically musing) between them stands a text that comes with a context. That could be the Bible (which gets special attention and place, given the claims it makes for itself) or it might be some other theological writing — perhaps a church father, Luther, or a more modern thinker used to make a theological point. In every case, contexts cannot be ignored when striving for the center, to hit the bullseye with a point that serves theology. To ignore context is to distort. Theology has an added burden when seeking a unifying center. To be sure, the historical discontinuity (per Foucault) exists with biblical texts from the past engaging the present. Beyond that, because the texts purport to be divine revelation, grasping their message and arriving at a unifying center rises to another level. So biblical theology must deal with the historical context of texts along with a higher meaning. The Christian message has been compared to a hinge: two halves linked by a 9 pin. Christ the pin unifies a historical and a theological side. History is important: Christianity is not abstract philosophy but rests on historical events recounted in texts. Independently verifying a biblical event can be exciting, but it is no final proof of Christianity’s claim, because events are just half of the hinge. Attached to events are God’s promises — the other half — that give events theological meaning, explaining what God is doing and why that is salvific. Both halves are essential. “If Christ is not raised, then your faith […]” says 1 Corinthains. If the history did not happen, theology tied to it becomes empty verbiage.10 But conversely if there is no promise, then Christ could be raised simply as personal vindication. History/event plus promise — those are two halves, with the Christ event/promise at the center. History is provable, theology is not — rather believed. That is why theology is not math, physics, or mere history. Pitfalls abound on the way to that center. First, to understand and then communicate, layers of culture must be peeled away, examined, and reassembled — not easy, but that is no excuse for half-hearted effort. Worse is being blind to context, as we read our assumptions, perspectives, and values back into the text, finding what 11 we want. “Das Auge sieht, was es sucht” said German Impressionist Max Slevogt. Impressionism depended on that, a kind of confirmation bias.
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Carl Michalson, The Hinge of History: An Existential Approach to the Christian Faith (New York: Charles Scribner’s Sons, 1959). This is what critics such as David Friedrich Strauss understood. There is no point arguing with promises. They cannot be disproved when made. But if the history did not happen, then promises depending on such events have no point — and then everything collapses. Petra Kipphoff, “Das Auge sieht, was es sucht,” Zeit Online, published August 7, 1992, http://www.zeit.de/1992/33/das-auge-sieht-was-es-sucht (01.12.2017).
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Vigilance is needed to resist such bias. However, it is easier not to be bothered with such “details” or to struggle to see from the other side. Instead we blindly plow forward, supremely confident we have things figured out, and those who disagree are deemed too dense to see. This is the Dunning-Kruger Effect: the more ignorant people are, the more confident they become that they are not ignorant. So “not only do they reach erroneous conclusions and make unfortunate choices, but their incompetence robs them of the abiity to realize it.”12 Ignorance may be bliss, but it is still ignorance.13 Those are some of the complicating factors in sorting through to find a unifying center. We now take a look at an illustration of how contexts matter, and at some limitations in knowing. It involves an author and his text about education from a time long past. Although primarily an example from the history of pedagogy, it has theological connections as well. Much is known about Renaissance/Reformation era education in German lands. Old classics still serve, and more recent studies add to the picture.14 One niche is filled by an educator whose text offers a glimpse at learning then, while teaching lessons about contexts then and now, lessons the author never imagined. The educator: Andreas Neidecker. His treatise: Vermanung zu Christlicher auffrichtung der Schulen—his Admonition on the Christian Establishment of Schools.15 12
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Justin Kruger and David Dunning, “Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One's Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments,” Journal of Personality and Social Psychology, vol. 77, no. 6 (1999): 1121–1134. The Dunning-Kruger Effect is a kind of confirmation bias where those with low ability are under the illusion that they have superior cognitive/analytical skills. The more ignorant they are, the more certain they are that they are not ignorant—others are. This is a metacognition failure, an inability to grasp the big picture and gauge one’s own (in)ability. Shakespeare understood: “The fool doth think he is wise, but the wise man knows himself to be a fool.” As You Like it, Act 5, Scene 1. This is the phenomenon that lies behind Thomas M. Nichols, The Death of Expertise: The Campaign Against Established Knowledge and Why It Matters (Oxford: Oxford University Press, 2017). The list is too long to recount but certainly would have such older standards as Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, vol. 1 (Berlin: Asher, 1902); Willy Moog, Geschichte der Pädagogik, 7th ed., vol. 2 (Düsseldorf: A. Henn Verlag, 1967); Reinhold Vormbaum, Evangelische Schulordnungen, vol. 1, Die evangelischen Schulordnungen der sechzehnten Jahrhunderts (Gütersloh: Bertelsmann, 1860); Johann Michael Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530 und 1600, 4 vols. (Gütersloh: Bertelsmann, 1904–35); Georg Mertz, Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert (Heidelberg: Winter, 1902). More recent surveys include Paul Grendler, Schooling in Renaissance Italy (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989); Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, vols. 1 and 2 (Vienna: Osterreichischer Bundesverlag, 1982). The books, chapters, and articles continue to appear as a cursory look at the annual Luther-Jahrbuch bibliography or the listing in the Literaturbericht of the Archiv für Reformationsgeschichte quickly show. Andreas Neidecker. Vermanung zu Christlicher auffrichtung der Schulen /Darinn bericht geschicht / wie gantz löblich / helsam / nütz vn[d] hochnötig / die fleissig Kinderzucht / vnd sonderlich zu jtzigen zeiten / gute woluerordente Schulen / vnd derselben trewe Verwalter seien / Vnd waserley grosse schand / schwere Gottes vngnad / vnd endlich ewiges verdamnis / zu ge-
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The Neideckers came from Weismain in Franken, a bit southwest of Bamberg. In the Reformation era they attracted little notice, barely mentioned in a few chronicles as they filled church and government posts. The family name turns up on university matriculation lists, with Cologne, Erfurt, and Leipzig the favorites.16 Apparently all stood by Rome both during and after the Reformation. We know little about Andreas. He was called erudite due to his Admonition, his only literary claim to fame.17 He served a parish in Forchheim, held a benefice in Höchstadt, and was a canon at St. Stephen’s in Bamberg. He seemed headed for study in Cologne, supported with a stipend from his bishop. But for reasons unknown he detoured south, matriculating in April 1545 in Freiburg, where he had the bad luck to die in July that same year.18 He must have studied elsewhere—the Admonition from 1543 displays considerable learning — but the slim biographical information sheds little light.19 Neidecker’s Admonition shows a keen interest in education and concern for his home town of Weismain, as he tries to boost education. At times he takes a lighthanded approach, coaxing neighbors to take up the cause, but he also scolds. His
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warten / wo die Kinder vbel erzogen / vnd die schulen vntrewlich bestalt werden. [Bamberg], 1543. Hereafter cited simply as Vermanung. My thanks to Ulrich Kopp of the Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel staff for putting me on to Neidecker during a short summer stay, retrieving Neidecker’s Vermanung from the repair workshop when he learned of my interest in educational treatises. For example, the first was Aegidius, an academic at Heidelberg. Otto turned up as an imperial advisor at the 1495 Worms Diet. His son, Andreas, penned the thoughts on education used for this paper. Georg is named as a canon at St. Gangolf’s in Messing as was Johannes at St. Stephen’s in Bamberg. One Heinrich is listed as a Cologne student in 1481, and another appears in 1520 at Erfurt where a Georg, Marcus, and Lucas also attended. Other Neideckers did more of the same in the late 16th and 17th centuries. The Leipzig student roll included a Heinrich in 1474 and again in 1515, Pancratius in 1504 and 1506, Paul in 1504 and 1505, Wolfgang in 1537 and 1539, a Johannes in 1543 and 1546, and Otto Neidecker in 1554. Joachim Heinrich Jäck, Pantheon der Literaten und Künstler Bambergs (Bamberg: Palm, 1812–15), 812ff. Friedrich Wachter, GeneralPersonal-Schematismus der Erzdiözese Bamberg (Bamberg: Nagengast, 1908), 7096, 7102, 7105. Hermann Keussen, Die Matrikel der Universität Köln, vol. 3: Nachträge 1389–1559 und Register zu Band I u. II (Bonn: Hermann Behrendt, 1931). J. C. H. Weißenborn, Akten der Erfurter Universität (Halle: [Otto Hendel], 1899). Georg Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, vol. 1, Die Immatrikulationen von 1409–1559 (Leipzig: Giesecke & Devrient, 1895). Jäck, Pantheon (footnote 16), 812ff., writes of “[…] eine große Erudition zu erkennen gebe […]” Keussen, Matrikel (footnote 16), 116, entry #1953. Though Neideckers had gone to Cologne, Andreas may have headed elsewhere because of the turmoil the Reformation caused. Matriculation figures for 1527–1543 fell to between 10–25 percent of earlier numbers, and then in 1543 Hermann von Weid, sympathetic to the reform movement, became archbishop. Freiburg may have looked more inviting. Three old sources describing what was available in Bamberg are Heinrich Weber, Geschichte der gelehrten Schulen im Hochstift Bamberg von 1007–1803 (Bamberg: Omnia, 1880); Leonard Schmitt, Geschichte des Ernestischen Klerikal-Seminar zu Bamberg (Bamberg: Historischer Verein, 1857); Johann Looshorn, Die Geschichte der Bistums Bamberg, nach den Quellen bearbeitet, vol. 5 (Bamberg: Historischer Verein, 1907).
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treatise puts Renaissance liberal arts learning on display, although he writes in German for the locals. The passion shows, for nothing less than the good of the fatherland — or at least little Weismain — is at stake. Neidecker first addresses the Weismain Burgermeister and Rat, offering a deferential introduction in good humanist style.20 He assures them what follows is not intended to embarrass but is meant for Weismain’s good.21 Parental support is also welcome, but Neidecker is not nearly as politic, pointing out their shortcomings for the council to remedy.22 Children are Neidecker’s real passion — a stewardship and Weismain’s future. Euripides called them the souls (that is, the most important part) of parents, and the Sermon on the Mount warns against the short-sighted life.23 But sadly, writes Neidecker, parents care more about their farms, houses, and cattle, while their sons are neglected.24 So Neidecker wants the council to set the tone.25 A footnote: Neidecker speaks of “sons” but never “daughters.” He uses “children” (Kinder) as an alternative to “sons.” But if sons are favored, fathers are blamed. Rare references to mothers are all positive. For example, Monica, Augus-
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Vermanung, p. A2r–v: “Derhalben und dieweil ich alle des jenig / so ich jemals gelernet / wie gering es ist / E/ W/ nach Got / zu dancke[n] pflichtig / dazu meinen liebe[n] vaterland / dafür sich viel der alten edeln Römer in schwere leibs fahr / ja auch bis in tode / zu geben nicht gezweinelt die hochste trew zu leiste[n] schuldig / bin ich verursacht worden / itwas von die kinderzucht / nemlich / wie löblich / nützlich und hochnötig dieselbige sey / zu stelle[n] / E. W. zuzuschreiben / un[d] in diesem Christlichen fürsatz zu bestetigen / gantzes verhoffens / E. W. werden solches zu hertzen füren / mit bescheidenheit handeln / und gemeiner ewer jugent / zum beste dedeien lassen / so vil an E. W. ist.” Vermanung, p. A2v: “Un[d] das es E. W. in keiner andern weis verstehe[n] sollen / den[n] das ichs hertzlich gut meine / sintemal ich alzeit zu E. W. geneigten guten willen trag / und sonderlich das grosse verderbnis der jtzige[n] jugent offt beklagt habe. Were ich auch derhalben bereit / diesen schaden zu wenden helffen / nach all meinen vermögen.” Vermanung, p. A2v: “[…] wider die trewe des vaterlandts, ich wil nicht sagen trewlos und meineidig handeln […]” Vermanung, p. A2r: “Zu dem schreibt lieblich / Europides ein Griechischer Poët / die kinder seien der eltern seel / darumb wie die seel / inhalf götlichs worts / mehr ist weder der leib oder die speis / also ist auch auff erden nichts lieber / den[n] die kinder / welcher heil / wir mit unserm leben / geschweig mit zeitlichen gütern / zu rette[n] nicht unterliessen.” Vermanung, p. A3r: “Zwar es felet auch an exe[m]peln nicht. Sind das nicht töricht veter? man bemühet sich / das ecker / wisen / haus / vihe / hund und pferd alles auffs best versorget were / allein der son ist ungeacht / wie grob und unbehawen er sey. Zu baucketen tawert sie keines unkosten / allein was auff kinder zucht gehört / ist alweg zu vil. Summa / das beste erb / wird am ubelsten versehen.” Vermanung, p. A2r–3v: “Deerhalben die jenigen gar verkert un[d] widersins handelt / so auff den ackerbaw und erhaltung ander jrer hab un[d] güter / all jr sorg werffe[n] / auch hirin verstendiger leut rath pflegen / Aber in der ausserziehung jrer kinder / umb welcher willen sie tag un[d] nacht handtiren / und nach reichtumb trachten / haben sie so gar keine gedancken / das sie weder bey jnen selbs rath suchen / noch verstendiger leut meinung hierüber hören / sondern ob es lauter kinderspil sey / achtens am allergeringsten.”
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tine’s mother, is highlighted for her concern and persistence.26 Fathers, on the other hand, neglect the mind and steer sons into menial work.27 Siring children is natural or biological; raising children is a God-pleasing choice.28 One wonders about the wisdom of Neidecker’s frequent scolding. His criticism runs to the last page where he says he could have made the book longer but did not want to discourage the councilmen. (Really?!) But Neidecker can be upbeat with his children-as-a-stewardship angle, appealing to parents’ better nature. Education is a noble task, and people made in the image of God will shine, if given the chance.29 Here is a case where knowing more about Neidecker and Weismain would help judge how well he judged his context. Along with reasoned arguments and rhetorical appeals, Neidecker enlists examples from history to make his case. He cites biblical figures one would hope are familiar. Church fathers named are probably a reach for ordinary people. And dozens of classical figures are certainly over their heads. What must the people have thought? Were they impressed and moved to want to learn more? Or would they sniff, “Who cares?” and go on with their lives? Those are context questions we cannot answer. One only hopes Neidecker knew his audience. Neidecker does not delve into curriculum specifics. Nuts and bolts can come later. Better to concentrate now on motivation and rally support for what education can do. So he brings up morality and ethics. Better to be schooled in morality than 30 31 learned in other things. The liberal arts have worth when virtue first reigns.
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Vermanung, p. A4r: “Und die fromme Monica stund in grössern sorge[n] / wie sie jren son Augustinum / so in der Manicheer ketzerey ertruncke[n] war […] Darumb sie auch mit brünstigem gebet / dem Herrn Jesu tag und nacht anlag / nicht umb goldt oder silber / oder einige verge[n]gliche güter / sondern umb das heil der seele[n] jres sons. Einer sölchen mutter solten billich alle veter nachfolgen.” Vermanung, p. A3v: “Derhalbe[n] ein Vater seine[m] Son kein bessers erb lassen kann / denn so er jm fleissig zur lahr helt. Daraus ereuget / wie unbedacht die handeln / so mit verspottung aller erbarkeit sagen / Ich wil mein Son ein ha[n]dtwerck lerne[n] lassen / wird er doch auch nicht geistlich / gleich ob man sonst keiner gelerten leut bedërff / un[d] ob einer nimermer in diesen stand tret / als sey nicht von nöte guter zucht un[d] unterweisung zu Gottes wort und seinen leutseligkeit / dazu die jugent in Schulen fürnemlich sol gehalten werden.” Vermanung, p. D4v: “Das jr sie geborn habt / ist ein natürlich werck / das jr sie aber mit gotseliger lahr von kindtheit auff / unterweisen lasst / ist gotförchtiger leut thun.” Vermanung, p. A4r: “Desgleichen meinen etlich sie haben das vaterampt wor verricht / wenn sie allein kinderzeugen und erneren / so doch die das wenigst ist. Das einer ein rechten Vater sey / mus er seinen gantzen von verworge[n] / nicht den leib allein / sondern mehr dieser teil in er die unvernunfftige[n] thier ubertrifft / darumb er auch mensch heist / und zum ebenbild Gottes am nehiste[n] zuleinet. Also wils on zweivel Moses verstanden haben / da er sagt das Adam nach seinem bildnis und gleichnis Seth geboren hab.” Vermanung, p. C2r: “Und Quintilianus / der zwentzig jar zu Rom schulmeister gewesen / schreibt / wenn man künt erweisen / das schulen zu künsten förderlich / den sitten aber nachteilig weren / so sey viel besser (wo man je nicht beides erlangen mag) einen leutseligen ehrlichen wandel füren / denn viel von hohen künsten scharff und statlich reden können. Wiewol sie sonst beide unter die unterweisung unzertrennlich beschlossen sind. Des gleiche[n] spricht S. Augustin / Es ist sehr löb-
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Teachers who foster virtue are as valuable as bishops and princes, and they should be compensated accordingly. Neidecker enlists Erasmus to argue for social station and pay.32 Go for the best, just as Alexander and Cicero had wise tutors, as did Achilles, Agamemnon, Virgil, and others.33 If ancient pagans did well, the church surely should do better. Neidecker sees the Third Commandment as the root for education. God required people to remember — to teach about — the Exodus.34 The tabernacle and temple served as schools with Levites teaching the youth the things of God.35 Samuel was sent to the tabernacle as if to a university. Elijah, John the Baptist, and Christ were in that educational train.36 The New Testament and church thereafter carried on with education. Jesus taught in the synagogue, a reference to his one-sentence sermon in Luke 4 on the Messiah promised by Isaiah.37 St. Paul taught the scriptures,38 and in
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lich / das einer zu gleich gelert un[d] frum sey / so er aber beides nicht haben mag / ist es besser ein ehrlichen wander füren / denn hoch gelert sein.” Vermanung, p. C2v: “Denn die kunst hat denn erst das preis / wenn die tugent meister ist. Summa / wo sich der verstand mit dem leben nicht vergleicht / ist er schedlich und ergerlich.” Vermanung, p. C2v: “Erasmus Roterdamus hat warlich nicht on ursach das Schulmeister ampt / zu mehr maln so hoch erhebt / das ers bischowen un[d] fürsten gleich setzt / un[d] spricht / das an den dreien stenden / menschlichs wesens heil oder verderben hange. Darumb er auch meint ein Schulmeister dergelert und zur kinderzucht tüglich / linde und unverdrossen ist / den könne man nicht hoch gnug besolden.” (Would “schoolmasters who daily teach and rear children” include a proliferation of administrators and staff? A non-issue then.) Vermanung, p. C3r: “Und die historien bezeugen das bey den krichen mit höchsten fleis gehalten worden sey / das dieweil das kindtlich alter zu lastern geneigt / man dasselb den besten und erbaristen zuchtmeistern bevelhen solt. Philippus König zu Macedonien / als hm sein weib ein Son gebar / zu den zeiten des hochweisen Aristotelis / hub er seine hende auff / dancket den Göttern / das sie jm eben / weil ein solcher berümbter man im land lebte / ein son gegeben hetten / in verhoffnung sein kind würde von so gelertem man etwas lerne[n] / des er sich und das gantz land / mit der zeit frewen möchten. Item der löblich Romer Cicero / weil er jung/ ward nicht gefürt zu einem altreusen oder sonst ungeachte[n] abentewrer / sondern zu einem alte[n] verstendigen man[n] / mit namen O. Sceuola / der auch da zur zeit ein weissager war. Also hat gehabt Achilles Phenicem / Agamemnon Nestorem / Hector Polydamanta / Antigonus Zenonem / Virgilius Silonem etc. Welche sie mit guten künsten un[d] sitligkeit unterwisen / und merckliche frucht bey jnen geschafft haben / dadurch sie hernach zu trefflichen mennern worden sind. Derwegen Quintilianus nicht vergeblich so offt vermant / Praeceptor sit doctissimus, perfectissimus, sanctissimus.” Vermanung, p. C4v: “Erstlich / on das / das Gott als ein unvermeidliche notdursst der kinderzucht / den eltern von natur / in der erschaffung eingepflantzt / hat er jne[n] nachmals umb des willen / auch gesetz geben . Denn da er die feiertag verordnet / gebeut er den eltern solcher fest ursachen jre[n] kindern zu eröffnen.” Vermanung, p. C4v: “Weiter hat Gott bey dem tabernackel / das er mosi zu bawe[n] beuolhe[n] / un[d] darnach bey dem tempel / ein grosse anzal leuite[n] habe[n] wöllen / gleich ein Schul / da die jugent beieinander hat studirn / und Gottes gesetz / historien und andere nützliche künst lernen müssen.” Vermanung, p. C4v: “Also ist Samuel in seiner jugent zum Tabernackel in Silo als auff ein Universitet gesant / und hernach Helias / Eliseus / Joannes Baptistat / Christus / haben besondere Schüler gehabt.” Vermanung, p. Dir: “Diesen brauch Gottes wort Uoffentlich in Schule[n] zu handeln / het die Jüdisch Kirch / auch zu den zeiten Christi und der Apostel gehalten. Moses und die Propheten wa-
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the early church Origen led catechism instruction, while Augustine and Jerome taught as well.39 It is a tradition to carry on in Weismain. Straßburg and Nürnberg are held out as examples of cities who strongly supported schools.40 If they saw value in the sort of liberal arts education Neidecker wanted, surely Weismain would do well to follow suit.41 In brief, what does Neidecker want? Here are the basics: a commitment from the city and parents, especially from fathers; the engaging of dedicated and capable teachers; funding for the same; a sense of purpose, namely, to instill the liberal arts, morals, and religion. All that adds up, in Neidecker’s view, to quality education for the good of the children. Some will go on to universities, but all will be a benefit to the fatherland. Rhetorically speaking, this might have been a good place to end, finishing on a high note. But Neidecker instead closes with three warnings and a plea: 1. Failure to support education comes back to hurt those who shirk their responsibility, bringing self-inflicted damage worse than any enemy would do. (A personal angle.) 2. Failure to support education hurts the fatherland. (Civic duty.) 3. Failure to support education runs counter to God’s word and command. (Divine mandate and moral responsibility.) 4. Support for education is crucial. Children are the citizens’ own flesh and blood. So doing this good for them helps the citizens as well. (Self-interest.) Perhaps true, but ending with scolding and an appeal to self-interest hardly sparks enthusiasm. But again, these are Neidecker’s neighbors and his context, not ours.
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ren dermassen an den sabbathen in bequeme stunde ausgeteilt […] Denn also schreibet er [St. Luke] von Christo / Und er kame gen Nazareth […] un[d] gieng in die Synagog nach seiner gewonheit am sabbath un[d] stund auff / wolt lesen.” Vermanung, p. Div: “Desgleichen redet er [St. Luke] auch von Paulo in der Apostelgeschicht / Sie aber zogen durch von Pergen / und kamen gen Antiochia im land Pisidia / un[d] giengen in die Schule am Sabbathen tag […] [and expounded the scripture] […] Das diese gewonheit nachmals von den Juden an die Christe[n] gela[n]get / ist ein herlicher zeug S. Paulus der nicht in mal redet von den lerern / die in grossen und berümbten kirchen dazu erhalten wurden / die sie die jugent in guten künsten / sonderlich aber in Götlicher heiliger schrifft unterweiseten.” Vermanung, p. Div: “Und die hat gewert von Paulo an bis auff Origenis gezeitte. Denn Eusebius schreibt das Origenes Catechumenos (das ist die im glaube[n] unterricht werden) zu Alexandrien in Egypten unterwisen und freie kunst daselbs Uoffentlich gelert hab. Possidonius meldet ein solche Schul auch Augustini Kloster gewesen sein / und das andere Kirchen Augustini ersatzung nachvolgende dergleichen Cenobia das ist / der lernenden versamlunge angericht habe[n]. Also lert auch Hieronymus S. Augustini zeitgnos. Irenaeus schreibt von Joanne dem Teuffer / das viel umb jn gewesen / als Schuler / die er unterweiset / auch ausser der gemeinen predig, etc.” Vermanung, p. D2v: “[…] so sehet doch umb Gottes willan an (das ich ander fürsten und reichs stet uberschreitte) was für trefflichen kosten Strasburg und Nürmberg / jerlich auff jre Schulen wenden / un[d] wie beharrlichs fleis sie drob halten / schewen sich auch nicht Schulpfleger aus gemeine[m rath zu erkisen, etc.” Vermanung, p. D3v: “Hieraus denn folget / das aus eines oder zweier knaben guter erziehung / ein gemeine Stad kleiner nutz empfindet / Wo aber die gantze jugent semptlich wol erzogen / und treulich unterwisen wirt / schaffet sie im alter mercklichen frummen.”
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That is a quick look at some of Neidecker’s arguments. There is obviously more to his treatise, but this is enough to raise questions about how this example fits into a larger context of the time while looking for a unifying center to understand history. Andreas Neidecker’s Admonition calls to mind two better known Luther writings: To the Councilmen of All Cities in Germany that They Establish and Maintain Christian Schools (1524) and A Sermon on Keeping Children in School (1530). Is there a link? Similarities exist. Both bemoan the lack of action by officials and parents, the lack of support for teachers, the misplaced priories and shortterm thinking. Luther does so at greater length and with more colorful language, but then not many can match Luther. Both men rank teachers near pastors or priests in importance. A few of the same illustrations are used by both men — schools in ancient Rome, for example, although Luther has more detail, while Neidecker makes only passing use. The differences are more striking. Luther’s interest runs from entry level through university. Neidecker’s focus is low-level and local, but consider the target audiences. Luther goes on at length about the curriculum — the critical role of Latin, Greek, and Hebrew languages, the need for history, scripture study, etc. Neidecker never gets past a general support for “the arts” — again, understandable given the audiences and purpose. Luther uses both biblical examples and texts for support, while Neidecker never quotes the Bible but just cites names. Luther is often critical of church officials, starting at the top. Neidecker has nary an unkind word about clerics but plenty to say about city officials. Luther advocates schooling for boys and girls. Neidecker mentions only sons and children. So is there a Luther-Neidecker connection? Luther fans might be tempted to read Luther into Neidecker, but that is to fall prey to the danger of ignoring context, focusing on continuity when discontinuities exist. While at times Neidecker seems to echo Luther, there also are differences. In the context of the German Renaissance and in light of typical problems of the time, Neidecker’s wish list is not unusual. Remember his family and church connections, as well as his matriculation at Freiburg (and not Wittenberg) after his Admonition in the mid-1540s. That suggests not a Lutheran but a larger Northern Renaissance interest in learning. So is his appeal Catholic (Roman) or catholic (both from and for the broader Christian culture)? Until more evidence turns up, the answer is “Yes, both.” Had Neidecker truly seen himself in Luther’s train rather than a part of Catholic humanist reform, he could have mentioned Luther or his education treatises by 1543 in the Admonition. By then Weisman had had an evangelical preacher, Pankraz Degen, and there was evangelical activity in the region, which might have given Neidecker reason not to be shy about Lutheran sympathies, if he had them. But Weismain’s city officials were not supportive, and Bamberg’s prince-bishop op-
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posed the Reformation — reason to steer clear of theological disputes.42 Neidecker was more interested in education—his treatise does not make a case particularly for theology — so best to avoid this all and stick to schools and liberal arts. At the same time, while he did not side with the Lutherans, the Lutherans used his treatise to back education.43 If Luther had been behind Neidecker’s sentiments, it would not be the first time someone within Rome’s circle was influenced by Luther. Steven Ozment’s book When Fathers Ruled has an interesting example.44 Ozment used a chronicle from the Weinsberg family to illustrate the Reformation’s impact on family values and structure. The twist: the Weinsbergs were Catholics in Cologne. Yet under their roof, Luther’s writings were useful for a Christian home, and never mind getting caught up in confessional arguments. At least if Neidecker did have Luther in his head, he would not have been alone. Looking back, labels are easier to apply. At the time, there is a lot of sorting through, both in terms of history and also the theology being worked out. A saying attributed to Luther, “Wenn zur Theologie kommt, eine gewiße Bescheidenheit gehört dazu,” might stretch to mean not only modesty in theology, but when dealing with history too. The case of Andreas Neidecker and his Admonition is interesting in its own right as part of educational reform efforts in Renaissance/Reformation era Germany. It is used here as an illustration of how dealing with contexts can be a challenge while trying to find a truth, a unifying center. We have one context from the sixteenth century with the humanist Andreas Neidecker and his ideas on learning, Luther’s thoughts on schools, and wider Renaissance humanist interest in the liberal arts. That interfaces with our own ideas on education now. In a “then” and “now” comparison, we have to account for various elements: unspoken assumptions, expressed points of view, the definition of various concepts and ideas, and the organization and understanding of information. We have to know the purpose or goal behind the efforts of all concerned, along with their questions or problems so we know what all are really trying to answer. As Georges Bernanos observed, “Nothing is so deceptive as problems wrongly stated.” That is a lot to account for and much to sort through, but it has to be done to understand what is going on in their heads — and in ours. Complicated? Yes, but there is an answer in there, a unifying center to 42
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Joachim Heinrich Jäck, Materialien zur Geschichte und Statistik Bambergs, 3. Teil (Bamberg: Jäck, 1810), 185. Weigand von Redwitz, who was elected bishop in 1522, set a direction away from the Reformation, although that did not end activity in the territory. Neidecker’s Admonition was translated into Latin (Exhortatio […]) and published posthumously in Reformation Tübingen, an example of the Catholic, Lutheran, and Reformed practice of using each other’s textbooks and literature in schools when they were useful — and never mind the authors’ personal confessional positions, as long as they do not shine through in the textbooks used. Neidecker’s Admonition is virtually devoid of confessional markings. It is a Christian humanist treatise. Steven Ozment, When Fathers Ruled: Family Life in Reformation Europe (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1983).
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be found. In the case of Neidecker and education, the answer seems not in enlisting him as part of a Lutheran effort but to see him (and Luther) as part of a Renaissance effort for education, no matter how modest in little Weismain. That is his context — and context counts. Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage nach Rolle des Kontexts in der Theologie. In den Zeiten des Internets ist alles eine Sache der Perspektive. Das ist die Postmoderne ohne einigende Mitte, die im Kontrast mit der Frühmoderne der Metanarrativen steht. Doch es gibt nicht nur diese beiden Alternativen; und die Antwort steht auch nicht einfach in der Mitte, sondern in einer einigenden Mitte. Für christliche Theologie bindet sie Theorie und Praxis, Denken und Tun, Glaube und Leben zusammen. Doch die Mitte zu erreichen und zu behalten ist eine ständige Herausforderung. Alles existiert in einem Referenzrahmen und wird gesehen und verstanden in einem bestimmten Kontext. Der Kontext zählt. In der Geschichtsschreibung z.B. müssen wir auf die Kluft zwischen unserer Zeit und der Epoche, die untersucht wird, achten, wie Michael Foucault es in seiner „Archäologie des Wissens“ trefflich beschreibt. Das Gleiche gilt für die Theologie: wenn eine einigende Mitte gesucht wird, spielt der Kontext eine große Rolle. Dies kann exemplarisch am Werk von Andreas Neidecker „Vermanung zu Christlicher auffrichtung der Schulen“ (1543) gezeigt werden. Er schreibt ein Plädoyer für die christliche Erziehung in seiner Heimatstadt Weismain (Bayern) und will darin das Engagement der Stadt und der Eltern, besonders der Väter, die Einstellung hingebungsvoller und fähiger Lehrer, das Beibringen der freien Künste, der Moral und der Religion sehen. Das alles soll zugunsten einer guten Erziehung der Kinder zusammenkommen. Neideckers „Vermanung“ erinnert an Luthers „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ (1524) sowie „Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten soll“ (1530) und in der Tat gibt es da einige Parallelen. Es gibt allerdings auch Unterschiede, z.B. indem Luther biblische Texte zur Unterstützung seiner Argumentation verwendet, während Neidecker die Bibel nie zitiert. Doch die einigende Mitte besteht darin, beide, Neidecker und Luther, im Renaissance-Kontext einer Erziehungsinitiative zu sehen, der anders ist als unser eigener Kontext.
Ein ökumenisches Modell im Kleinen? Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) als die theologisch-ekklesiologische Mitte ihrer Vorgängerkirchen Gilberto da Silva 1.
Die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ als heuristisches Prinzip
In einem detailreichen Aufsatz1 aus dem Jahre 1990 unternimmt Werner Klän „den Versuch, das Modell der ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit‘ als heuristisches Prinzip auf die Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen anzuwenden“2. Die Geschichte der selbstständigen lutherischen Kirchen in Deutschland zeigt sich zunächst als ein dialektisches Phänomen, denn „[d]ie Entstehung selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland ist eng mit der Ablehnung von Einheitsmodellen verbunden, die im vergangenen Jahrhundert zur Bildung unierter Kirchenkörper führten“3. Doch dabei „lassen sich Belege für das Wissen um die Einheit der heiligen christlichen Kirche über die Grenzen des eigenen konfessionellen Kirchentums hinaus beibringen“ und ist „festzustellen, daß es zu einer Bewußtseinsbildung im Bereich der selbständigen evangelisch-lutherischen Kirchen kam, der Integrationsbemühungen in Gang setzte und gegen manche Widerstände, nach vielfältigen Rückschlägen und über verschiedene Zwischenstufen – trotz gewisser divergierender Entwicklungen – mit der Gründung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche im Jahre 1972 zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen ist, ohne daß damit ein Abschluß dieses 4 Prozesses erreicht sein muß“.
Kläns Ausführungen möchten zeigen, dass die Entstehungsgeschichte selbstständiger lutherischer Kirchen in Deutschland zwar durch die Ablehnung bestimmter Einheitsmodelle, aber auf keinen Fall durch die Ablehnung der faktisch nicht vorhandenen aber zu suchenden lutherischen bzw. christlichen (ökumenischen) Einheit charakterisiert ist. Es versteht sich doch von selbst, dass eine grundsätzliche
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Werner Klän, Der Weg Selbständiger Evangelisch-Lutherischer Kirchen in Deutschland. Ein ökumenisches Modell im Kleinen, Jahrbuch des Martin Luther Bundes 37 (1990), 205–228. A.a.O., 205. A.a.O., 206. Ebd.
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Ablehnung der (von Gott gewollten)5 Einheit der Christen die Kirchlichkeit eines Kirchenkörpers in Frage stellt. Nun drängt sich die Frage auf, warum die in den verschiedenen deutschen Territorien des 19. Jahrhunderts entstandenen selbstständigen lutherischen Kirchen nicht von Anfang an eine Einheit zustande gebracht haben. Klän stellt fest, dass zunächst „regionale Besonderheiten, persönliche Affekte, lehrmäßige Divergenzen, antipreußische Selbstbehauptungstendenzen und territoriale Fixierung zum Sprengsatz gegen die Bildung einer umfassenden selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche“6 geworden sind. In der Regel waren es also nichttheologische Gründe, die eine Annäherung der selbstständigen Lutheraner zunächst verhinderten. Allerdings gab es schon sehr früh Annäherungsversuche wie z.B. die „Konferenz konfessioneller Lutheraner“ aus dem Jahr 1873, die auf die Initiative der Evangelisch-lutherischen Immanuelsynode zurückging und Lutheraner sowohl aus den Landeskirchen als auch aus den selbstständigen lutherischen Kirchen sammeln sollte.7 Ein weiteres Beispiel ist die Idee des „corpus Lutheranorum“ von Rudolf Rocholl (1822–1905), einem altlutherischen Superintendenten.8 Überhaupt verhielt sich die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen (Altlutheraner) so, dass sie die Kirchengemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen aufrechterhielt. Dies stand allerdings in diametralem Gegensatz zum Verhalten der Evangelisch-Lutherischen Freikirche (in Sachsen und anderen Staaten), der sogenannten „sächsischen Freikirche“, die die Kirchengemeinschaft mit den lutherischen Landeskirchen strikt ablehnte und darauf hinwies, dass das lutherische Bekenntnis nicht nur de iure, sondern auch de facto in einem Kirchenkörper gelten sollte, damit Kir9 chengemeinschaft möglich sei. Solch unterschiedliche Beurteilung der Bedingungen zur Kirchengemeinschaft hinderte wiederum jahrzehntelang eine Annäherung bzw. die Kirchengemeinschaft zwischen Altlutheranern und sächsischer Freikirche. Der erste wichtige Schritt in Richtung Kirchengemeinschaft unter den selbstständigen lutherischen Kirchen wurde im Jahr 1887 getan, als die Evangelischlutherische Kirche in Preußen, die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in Hessen-Darmstadt, die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (Homberger Konvent)10 und die Hannoversche evangelisch-lutherische Freikirche 5
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Klassische Bibelstelle der ökumenischen Bewegung ist ja Joh 17,20f.: „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“, vgl. https://www.oikoumene.org/de/about-us (Stand: 23.03.2017). Klän, Weg (wie Anm. 1), 208. Vgl. a.a.O., 210. Vgl. a.a.O., 210f. Vgl. a.a.O., 211. Aufgrund einer Auseinandersetzung um die sogenannten „Mauritianischen Verbesserungspunkte“, die die Renitenz von der niederhessischen Landeskirche geerbt hatte, spaltete sich die Renitente Kirche ungeänderter Konfession bereits 1874 in „Melsunger“ und „Homberger“ Konvent. Die „Mauritianischen Verbesserungspunkte“ stehen in Verbindung mit Landgraf Moritz (1572– 1632), der durch seine zweite Ehe mit Juliane von Nassau-Dillenburg (1587–1643) 1603 das re-
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untereinander die Errichtung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft beschlossen.11 Es gab freilich unter den selbstständigen lutherischen Kirchen erhebliche Differenzen, wie z.B. die Beurteilung der Frage nach der Beteiligung von Nichtgeistlichen an der Leitung der Kirche. Doch die unterzeichnenden Kirchen sehen diese Unterschiede „nicht als eine unerträgliche, die Bekenntniseinheit störende an“ und „[s]ie werden die Anschauungen des andern Teils nicht als Irrlehren behandeln, doch Verständigung durch Konferenzen suchen“12. Im Text wird explizit darauf hingewiesen, dass „[d]ie genannten Kirchenkörper […] einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft auf Grund des Artikels 7 der Augsb. Konfession“13 gewähren. Diese Entwicklung kann folgendermaßen interpretiert werden: „Hier war im Bereich der lutherischen Freikirchen zum erstenmal die kirchenpolitische Praxis
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formierte Bekenntnis seiner Frau, dem er bereits seit seiner Jugend zugeneigt war, annahm (vgl. Heinrich Heppe, Die Einführung der Verbesserungspunkte in Hessen von 1604–1610 und die Entstehung der hessischen Kirchenordnung von 1657 als Beitrag zur Geschichte der deutschreformierten Kirche urkundlich dargestellt, Kassel 1849, 2), danach ließ er in seinem Land „Verbesserungspunkte“ einführen (vgl. Karl Ernst Demandt, Geschichte des Landes Hessen, Kassel 2 1980, 247), die lauteten: „1) Daß die gefährlichen und unerbaulichen Disputationes und Streit von der Person Christi eingezogen, und von der Allenthalbenheit Christi und was derselben anhängig in concreto, als: ‚Christus ist allenthalben;‘ und nicht in abstracto ‚die Menschheit Christi ist allenthalben,‘ gelehrt, 2) Das [sic] die zehn Gebote Gottes, wie sie der Herr selbst geredet, mit seinen eignen Fingern auf die steinernen Tafeln und von Mose in der Bibel geschrieben, gelehrt und gelernt, und die noch vom Papsttum an etlichen Orten überbliebenen Bilder abgethan, 3) Daß in der Administration und Gebrauch des heiligen Abendmals das gesegnete Brot nach der Einsetzung des Herrn soll gebrochen werden“ (zit. nach Heppe, Verbesserungspunkte [wie siehe oben], 15). In mancher Quelle und Sekundärliteratur wird Punkt 2 in a) richtige Aufzählung der Gebote und b) Abschaffung der Bilder aufgeteilt, sodass von vier Verbesserungspunkten die Rede ist (vgl. a.a.O., 15f.; Karl Wicke, Die hessische Renitenz: ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930, 23). „Der dritte ‚Verbesserungspunkt‘ zielte mit der Verwendung von Brot statt Hostien und der Praxis des Brotbrechens sowohl auf die endgültige Überwindung der römischen Transsubstantiationslehre als auch der lutherischen Auffassung von der leiblichen Gegenwart Christi unter Brot und Wein. Die Verwendung von richtigem Brot im Abendmahl und die Praxis des Brotbrechens sollten nicht nur dem biblischen Wortlaut entsprechen, sondern auch die Lehre von der leiblichen Gegenwart Christi im Brot überwinden helfen“ (Martin Arnold, Die mauritianische Reform in Eschwege. Landesherrliche Konfessionspolitik und bürgerschaftlicher Widerstand, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 111 [2006], 63–84, hier: 69). Nach einer Vorarbeit durch Diözesansynoden (vgl. Heppe, Verbesserungspunkte [wie siehe oben], 54ff.) nahm die Generalsynode zu Kassel im April 1607 die sog. Verbesserungspunkte für die niederhessische Landeskirche an (vgl. Heppe, Verbesserungspunkte [wie siehe oben], 64ff.). Der Homberger Konvent der Renitenz sagte sich 1877 von den Verbesserungspunkten los (vgl. Werner Klän, Gilberto da Silva [Hg.], Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem 2 Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 2010, 336–338) und konstituierte sich als eigenständiger Kirchkörper gegenüber dem Melsunger Konvent. Vgl. Klän, Weg (wie Anm. 1), 212. Die Vereinbarung von 1887 war allerdings die Bestätigung der bereits 1885 beschlossenen „Homberger Vereinbarung“, sodass der erste wichtige Schritt in Richtung Kirchengemeinschaft unter den selbstständigen lutherischen Kirchen eigentlich auf das Jahr 1885 datiert werden soll. Vgl. Kläns historische Einführung in Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 558f. und die beiden Vereinbarungstexte a.a.O., 566f. A.a.O., 566. Ebd.
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der Anschauung gefolgt, daß es Auffassungsunterschiede in der Interpretation von Schrift und Bekenntnis geben könne, ohne daß diese kirchentrennenden Charakter haben müßten.“14 In der 1903 zwischen der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen und der Evangelisch-lutherischen Synode in Baden getroffenen Vereinbarung über Kanzel- und Altargemeinschaft heißt es nach diesem Grundsatz, dass „das voneinander abweichende Verständnis des lutherischen Bekenntnisses in den Lehren von Kirche, Kirchenregiment und Kirchenordnungen nicht kirchentrennend wirken und also die gegenseitige Abendmahlsgemeinschaft verhindern müsse“15. Allerdings gab es auch Entwicklungen in die Gegenrichtung, wie ein Passus aus den zwischen der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche (in Sachsen und anderen Staaten) vereinbarten „Thesen über die Kirche“ aus dem Jahr 1908 verdeutlicht: „Zu verwerfen ist […] auch der ‚lutherische‘ Indifferentismus und Synkretismus, welcher bei grundsätzlicher Anerkennung der Alleinverbindlichkeit der Symbole doch verschiedene Auslegungen der Symbole für gleichberechtigt hält oder zwischen kirchentrennenden und nicht kirchentrennenden Abweichungen in der 16 Lehre einen bösen Unterschied macht.“
In diesem Zusammenhang verdient die Entwicklung in den „hessischen Landen“ besondere Aufmerksamkeit. Gegen die von der preußischen Regierung angeordnete Zusammenlegung der drei in Hessen-Kassel – nun preußischer Provinz HessenNassau – vorhandenen Konsistorien Kassel (reformiert), Marburg (lutherisch) und Hanau (uniert) unterschrieben 43 niederhessische Pfarrer17, angeführt von Wilhelm Vilmar (1804–1884) und Friedrich W. Hoffmann (1803–1889), eine Protestschrift18, die als „Juliprotest“ in die Geschichte eingegangen ist. Bald etablierte sich die Bezeichnung „renitente Pfarrer“ bzw. „Renitenz“.19 Die Protestierenden betonten, dass die Umgestaltung der niederhessischen Kirche durch die Einrichtung des Gesamtkonsistoriums der Aufhebung des Bestands ihrer Kirche gleichkommt. Die Renitenten führten die Argumentation bis zur allerletzten Konsequenz durch, in der es heißt: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“20, und wiesen auf die Unmöglichkeit hin, ihren Dienst unter dem Gesamtkonsistorium zu verrichten. Die Auseinandersetzung endete mit der Amtsentsetzung21 der renitenten Pfarrer und der Bildung von renitenten Gemeinden, die dann die Renitente Kirche ungeän-
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Klän, Weg (wie Anm. 1), 212. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 568; vgl. Klän, Weg (wie Anm. 1), 212. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 585; vgl. Klän, Weg (wie Anm. 1), 213. Vgl. Eduard R. Grebe, Geschichte der hessischen Renitenz, Cassel 1905, 212.222; Wilhelm Hopf (Hg.), Hessische Blätter, Melsungen 1873, Nr. 59, 65; Wicke, Renitenz (wie Anm. 10), 81. Abgedruckt im Melsunger Missionsblatt, Melsungen 1873, Nr. 8, 63ff.; Hopf, Hessische Blätter (wie Anm. 17), Nr. 56, 27–29; vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 326–329. Vgl. Wicke, Renitenz (wie Anm. 10), 82. Melsunger Missionsblatt (wie Anm. 18), Nr. 8, 64 (Act 5,29b). Vgl. Hopf, Hessische Blätter (wie Anm. 17), Nr. 76, 224.
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derter Augsburger Konfession gründeten.22 Bei ihrer Kirchwerdung übernahmen die Renitenten ohne Weiteres den Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche, der in einer Deklaration aus dem Jahr 1867 bereits bekräftigt war. Darin heißt es: „Diese [sc. die Confessio Augustana] nebst ihrer Apologie ist neben dem Apostolicum, Nicaenum, Athanasianum, Ephesinum Chalcedonense das Fundament der niederhessischen Kirche. Auf diese Bekenntnisse allein sind wir ordiniert, verpflichtet und in unser Amt eingesetzt, und es ist uns in der Kirchenordnung von 1657, deren Continuität mit den ältern Kirchenordnungen von 1566 und 1573 durch das landesherrliche Einführungs-Mandat ausdrücklich und mit klaren Worten ausgesprochen ist, […] alles dessen, was in der niederhessischen Kirchen Bekenntnisrecht und Pflicht ist, in die Hand gegeben.“23
Somit ergab sich der Umstand, dass die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession sich als in der lutherischen Tradition stehend verstand, doch nicht als konkordienlutherisch, denn sie bestätigte bei ihrer Selbstständigwerdung die historische Entscheidung der vier hessischen Landgrafen bzw. ihrer Landeskirche(n), das Konkordienwerk von 1577 nicht zu übernehmen.24 22 23 24
Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 310. A.a.O., 320f., Hervorhebung im Original. Die Ablehnung des Konkordienwerks bzw. der Konkordienformel geschah gleich 1577 durch einen gemeinsamen Konvent in Treysa unter Umgehung der gesamthessischen Generalsynode: „Demnach Aber Auch von dem vornehmenn Artickel vnserer Christlichen Religion Vnnd dem hohen geheimniß wie in Der einigen Persohn Vnsers herren vnnd heilandts Jesu Christi, Die Zwo Naturen gottliche vnnd menschliche dermassen mit einander vntzertrenlich vereyniget seyen , das eine der Andern Ire proprieteten vnnd eigenschafften warhafftig communicire Vnnd mittheile, Doch der gestalt Das Keinne In die Andere verwandelt, noch einne der Andern gleich gemacht Werde Zwischen der Augspurgischen Confession Verwanthen Theologis ein Streit erwachsen Vnnd in diesem Fürstenthumb Auch einer massenn erreget, Welcher Aber Doch im Newen Concordienbuch nicht eigentlich Vnnd klar genug distinguirt, decidiret vnnd Also erklaret Ist, Das hiermit vnns Allen Zugleich genung geschehen, Alle fernere Frage vnnd disputationes Verhutet vnnd genzlich Abgeschnitten sein kontten“ (Urkunde XII: Auszug aus dem Abschiede des Conventes zu Treisa, in: Heinrich Heppe, Geschichte der hessischen Generalsynoden von 1568–1582. Nach den Synodalakten zum ersten Male bearbeitet und mit einer Urkundensammlung, 2 Bde., Kassel 1847, I, 113; vgl. Wicke, Renitenz [wie Anm. 10], 20). Man wollte bis zu einem künftigen Synodalbeschluss warten und zunächst keine weiteren Entscheidungen treffen. Die vier Landesherren (Hessen-Kassel, Hessen-Marburg, Hessen-Rheinfels und Hessen-Darmstadt) nahmen aber die gemeinsame Entscheidung der Theologen an und ließen im Dezember 1577 die „Sammterklärung der vier hessischen Landgrafen in Betreff der Bergischen Concordienformel“ verfassen (Urkunde XIII: Sammterklärung der vier hessischen Landgrafen in Betreff der Bergischen Concordienformel, in: Heppe, Generalsynoden [wie siehe oben], I, 115–130). Gleich zu Beginn des Schreibens drücken die Fürsten ihr Empfinden aus: „Nun haben wir bemeldt Bergisch buch inmittelst etzlichenn vnsernn vornehmenn Theologen mitt nottwendigenn erinnerungen vorgehaldtenn, auch selbst zu etzlichenn mahlenn mitt vleiß durchleßenn gegen dem vorigenn Torgaischen exemplar conferirt vndt erwogen vnnbt befinden das solches in denn meisten Punkten Cristlich vnndt wol gesteldt, also das der Authorum vleiß billich zu lobenn, in etzlichen Punktenn aber, befinden wir nochmals das vnsere vorige guthertzige vnndt notwendige erinnerungenn wenig in acht genohmenn Sondern das die Authores einestheils, wie sie aller menschenn seindt, mehr vff jhr privat affectiones vnndt darmitt ihre scripta vnndt ausgebreitte opiniones approbiert, als die
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Anders verlief die Geschichte in Hessen-Darmstadt. Im Jahr 1870 trat in der Landeskirche eine Presbyterial- und Synodalverfassung provisorisch in Kraft, nachdem ein erster Versuch 1863 gescheitert war. Das Ziel dieser neuen Verfassung war „der Ausbau der evangelischen Kirchen Deutschlands auf Grund des Gemeindeprinzips und die Anbahnung einer von Dogmenzwang und Priesterherrschaft gereinigten, deutschen evangelischen Nationalkirche“25. Von vielen Seiten wurde der Versuch unternommen, die evangelische Union voranzutreiben, wobei zwei Fragen eine wichtige Rolle spielten: die Bekenntnisfrage und die „Parlamentarisierungsfrage“ (Beteiligung von Nichtgeistlichen an der Kirchensynode). Die Problematik zeigte sich deutlich auf der konstituierenden Synode von 1873: die Synodalen konnten nicht auf ein Bekenntnis, sondern lediglich auf „bestes Wissen und Gewissen“ verpflichtet werden.26 Die Synode setzte anhand einer neuen Kirchenverfassung die Union faktisch durch, zum einen durch den Beschluss, dass die Landeskirche des Großherzogtums sämtliche evangelische (lutherische, reformierte und unierte) Gemeinden des Landes unbeschadet deren Bekenntnisstandes umfasse und dass eine Abendmahlsgemeinschaft „obligatorisch“ sei, d.h. jeder Pfarrer
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Religion selbst vndt unserer loblichen vorfahern Ehr vnndt Authoritett erhaldten wurde, gesehenn habenn, Welches, wo es nicht emedirt, wir nicht sehenn wie dies vorhabendt Christlich wergk zu gewunschtem ende gebracht vnndt bestendiglich erhaldten werdenn mochte“ (Heppe, Generalsynoden [wie siehe oben], I, 115f.; vgl. Wicke, Renitenz [wie Anm. 10], 21). In der sehr höflich gehaltenen Schrift weisen die Fürsten auf viele Inhalte der Konkordienformel hin, die ihrer Meinung nach unausgereift, einseitig oder mit „Affecten“ sowie „exaggeration“ (vgl. Heppe, Generalsynoden [wie siehe oben], I, 124) verfasst worden seien. Diese Haltung fand eine synodale Bestätigung, als 1581 die Generalsynode entschied, dass bezüglich des „Articulo de persona Christi […] nach inhaldt Prophetischer vnd Apostolischer schrifft, der dreyen heupt Symbolen, bewerter alter Oecumenicorum Conciliorum, Epistolae Leonis ad Flavianum, Augspurgischer Confession, Apologia vnd Schmalkaldischer Articul zu glauben vnd zu lehren vnd jren Consens bey diesem Articul auff itzt bemeldte schriffte zu gründen, auch in erklerung dieses hohen geheimnüs, wan es die notturfft erfordert, allein die in denselben schrifften verfaste phrases einfeltig vnd ohn alle spitzfündigkeit zugebrauchen, sonsten aber alle ungewöhnliche vnnötige vndienstliche fürwitzige disputirliche und vff zanck auslauffende fragen vnd newe art zureden, nach der trewen warnung des Apostels Pauli, hindan zu setzen, vnd sich der dabevor bey lebzeiten vnsers alten G. F. vnd Herrn Hochlöblicher vnd seeliger gedechtnüß wolhergebrachter kündlicher eintracht vnd friedfertikeit trewlich vnd ohne alle geferde, zugehalten“ („Abschied der Generalsynode von 1581“, abgedruckt in: August F. C. Vilmar, Geschichte des Confessionsstandes der evangelischen Kirche in Hessen, besonders im Kurfürstentum, Marburg 1860, 302f.; vgl. Wicke, Renitenz [wie Anm. 10], 21). Bei G. L. Büff heißt es: „Auf den Synoden von 1577–1582 konnte unter den niederhessischen und oberhessischen Synodalen bekanntlich eine Einigkeit des Bekenntnisses nicht erzielt werden, indem jene sich der ausschließlich lutherischen Auffassung der Bekenntnißschriften und der daraus resultierenden Hinneigung zu der sächsischen Concordie nicht anzuschließen vermochten. Die Generalsynoden der gesammten Hessischen Superintendenten scheiterten eben an dieser Uneinigkeit“ (G. Ludwig Büff, Kurhessisches Kirchenrecht. Bearbeitet mit Rücksicht auf C. W. Ledderhose und Chr. H. Pfeiffer, Cassel 1861, 54, Hervorhebungen im Original). Damit wurde die Konkordienformel indirekt kritisiert und in Hessen endgültig nicht angenommen. Karl Müller, Die selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen. Ihre Entstehung und Entwicklung, Elberfeld 1906, 14. Vgl. a.a.O, 15.
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müsse jeden zur Landeskirche Gehörenden zum Abendmahl zulassen. Im Jahr 1874 erklärten einige Pfarrer in einer Protestschrift, dass sie für sich, ihre Kinder und die der lutherischen Kirche treu bleibenden Familien ihrer Gemeinden die neue Verfassung nicht annehmen könnten. Die Pfarrer wurden wiederholt aufgefordert, die Verfassung anzunehmen, widersetzten sich aber immer wieder. Das führte zu Geldstrafen, Amtssuspensionen, Entziehung des Gehaltes und schließlich im Juni 1875 zur Absetzung.27 Aus dieser Bewegung entstand die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in Hessen-Darmstadt, die in ihrer Kirchenordnung von 1876 die zu ihrem Bekenntniskanon gehörenden Schriften auflistete: „die dem Kaiser Karl V. 1530 zu Augsburg übergebene Confession sammt deren Apologie, die Schmalkaldischen Artikel, die beiden Katechismen Luthers – und beziehungsweise die Concordienformel“, nachdem „die allgemeinen Symbola, das apostolische, nicänische und athanasianische“ erwähnt worden waren.28 Damit war ein deutliches Bekenntnis zum lutherischen Konkordienwerk von 1577 vollzogen. Nach dem bereits erwähnten wichtigen Schritt der Gewährung von Kirchengemeinschaft zwischen der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen-Darmstadt und der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (Homberger Konvent) im Jahr 1887 und dem Zusammenschluss der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (Homberger Konvent) mit der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen-Darmstadt zur Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen im Jahr 1893 kam es im Jahr 1910 zu einem Meilenstein in der Geschichte selbstständiger lutherischer Kirchen in Deutschland. In diesem Jahr wurde ein „Konföderationsstatut“ zwischen der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (in Niederhessen) und der Selbständigen evangelisch29 lutherischen Kirche in den hessischen Landen verabschiedet. Bemerkenswert dabei ist, dass „[d]as Festhalten der Niederhessen an ihrem besonderen Bekenntnisstand […] nicht mehr als Hinderungsgrund für die notwendige Einheit nach CA VII verstanden“30 wurde. Der „besondere Bekenntnisstand“ der Renitenten bestand allerdings in der Tatsache, dass sie sich von den sog. „Verbesserungspunkten“ noch nicht verabschiedet hatten und nicht konkordienlutherisch waren, d.h. sich nicht zum Konkordienbuch von 1580 bekannten. Das Konföderationsstatut stellt lediglich fest: Beide Kirchkörper „haben sich überzeugt, daß die Einigkeit der Lehre und Verwaltung der Sakramente, welche die Confessio Augustana in Artikel 7 fordert, unter ihnen besteht. | Ferner sind sie überzeugt, daß die Verschiedenheit der geschichtlich gewordenen kirchlichen Bräuche kein Trennungsgrund ist, da nach Artikel 7 der Augsburger
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Vgl. a.a.O., 18. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 350, Hervorhebungen GdS. Vgl. a.a.O., 591. Klän, Weg (wie Anm. 1), 214.
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Konfession es nicht not ist zu wahrer Einigkeit der Kirche, daß allenthalben gleichförmige Zeremonien [notabene!] von Menschen eingesetzt gehalten werden“.31
Im Jahr 1919 gründeten sechs selbstständige lutherische Kirchen die Vereinigung Evangelisch-Lutherischer Freikirchen in Deutschland.32 Diese Vereinigung „sah sich als Arbeitsgemeinschaft, die sich bekenntniskirchlich, damit aber antiunionistisch und antiliberalistisch begriff“33. Ein Merkmal in der Zeit der Weimarer Republik ist die immer stärker werdende Annäherung zwischen den selbstständigen lutherischen Kirchkörpern in Hessen und Niedersachsen. Zunächst verabschiedeten die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession und die Hannoversche evangelisch-lutherische Freikirche im Jahr 1924 ein Konföderationsstatut, im Rahmen dessen sie Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft herstellten.34 Auch für die selbstständigen Hannoveraner war die Tatsache, dass die Renitenten nicht konkordienlutherisch waren, kein Hindernis für die Herstellung der Kirchengemeinschaft. Der nächste wichtige Schritt zwischen Hannover und Hessen war die Bildung eines gemeinsamen Superintendentur-Kollegiums35 im selben Jahr. Klän urteilt: „Damit war zum erstenmal [unter den selbstständigen Lutheranern] auf kirchenleitender Ebene eine verbindliche Organisationsform geschaffen worden“.36 Das war die Initialzündung zum institutionellen Zusammenschluss, denn mit der Gründung des „Bundes selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Hessen und Niedersachsen“37 1930 gaben die einzelnen Kirchkörper Teilkompetenzen an den „Kirchenausschuss“ als Leitungsorgan ab und unterstellten sich den Beschlüssen eines „Allgemeinen Kirchentags“, der als Gesamtvertretung des Bundes fungierte.38 Bemerkenswerterweise machte die Renitenz all diese wichtigen Schritte trotz des Festhaltens an der niederhessischen theologischen Tradition (keine Konkordienformel bzw. kein Konkordienbuch von 1580) mit und die anderen selbstständigen lutherischen Kirchkörper sahen am Fehlen der Konkordienformel bei den Renitenten kein Hindernis zur Kirchengemeinschaft. Die Jahre unter der Herrschaft des Nationalsozialismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs brachten keine weitere Entwicklung in den Einigungsbemühungen der 31 32
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35 36 37 38
Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 591. Das waren die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen, die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen, die Hannoversche evangelisch-lutherische Freikirche, die Evangelisch-lutherische Hermannsburg-Hamburger Freikirche, die Evangelisch-lutherische Synode in Baden und die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession in Niederhessen (vgl. a.a.O., 574). Klän, Weg (wie Anm. 1), 214. Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 592. Der Text ist nahezu identisch mit dem des bereits 1910 zwischen den beiden hessischen Kirchkörpern verabschiedeten Konföderationsstatuts (A.a.O., 591). Vgl. a.a.O., 593f. Klän, Weg (wie Anm. 1), 215. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 594–598. Vgl. Klän, Weg (wie Anm. 1), 215; Eduard Rausch, Die Stellung unserer Kirche zur „Selbst. ev.luth. Kirche“. Referat für den Kirchenkonvent in Sand, 1949-11-16 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 1.
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selbstständigen lutherischen Kirchen.39 Es war die unmittelbare Nachkriegszeit, die die entscheidenden Veränderungen brachte. Zunächst spielte bei der Annäherung zwischen den selbstständigen lutherischen Kirchen die Tatsache eine wichtige Rolle, dass die EKD einhellig als eine Unionskirche identifiziert wurde.40 Der bereits sehr weit fortgeschrittene Annäherungsprozess zwischen den selbstständigen Lutheranern aus Hessen und Niedersachsen konkretisierte sich im Jahre 1947, als die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen bzw. in Hessen, die Hannoversche evangelisch-lutherische Freikirche und die Evangelisch-lutherische Hermannsburg-Hamburger Freikirche sich zur (alten) Selbständigen evangelischlutherischen Kirche zusammenschlossen.41 Die Evangelisch-lutherische Kirche in Baden trat der (alten) SelK 1948 bei.42 Doch die Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession (in Niederhessen), die seit dem Konföderationsstatut von 1910 in Kirchengemeinschaft mit den sich 1947 nun fusionierenden Kirchen stand, nahm an der Gründung der (alten) SelK nicht teil. Bei diesem Schritt spielte dann die Frage nach der (nieder-)hessischen Tradition bzw. nach der Konkordienformel eine wichtige Rolle. Es lohnt sich, anhand von Sitzungsprotokollen und Briefwechseln einige Details dieser Auseinandersetzung ans Licht zu bringen. 39
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Vgl. Klän, Weg (wie Anm. 1), 215. Abgesehen von der Pionierarbeit Werner Kläns in Aufsätzen wie Werner Klän, Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“. Vorüberlegungen zu den Aufgaben kirchlicher Zeitgeschichte mit Blick auf das freikirchliche Luthertum Deutschlands, Lutherische Theologie und Kirche 9 (1985), 16–24 und Werner Klän, Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“. Versuch einer Zwinschenbilanz, Lutherische Theologie und Kirche 11 (1987), 73–87 sowie anderer Theologen wie Volker Stolle, Juden gegenüber weitgehend distanziert. Die Selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen und die Juden im „Dritten Reich“, in: Daniel Heinz (Hg.), Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld (Kirche – Konfession – Religion 54), Göttingen 2011, 215–244 und Christian Neddens, Unerwartete Nähe und naheliegende Weggemeinschaft, in: Jürgen Kampmann, Werner Klän (Hg.), Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, OUH.E 14, Göttingen 2014, 232–269 ist die Geschichte der selbstständigen lutherischen Kirchen in der Zeit des sog. „Dritten Reiches“ nach wie vor kaum erforscht. Festzuhalten ist allerdings, dass die selbstständigen Lutheraner, obwohl anders als die Landeskirchen von der Auseinandersetzung zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche institutionell nicht betroffen, in ihren Reihen die gleichen Mentalitäten jener Zeit aufzuweisen hatten, besonders was Anpassung oder Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie angeht. Eine rühmliche Rolle allerdings spielte in diesem Zusammenhang die hessische Renitenz, die auf dem Hintergrund ihrer Betonung der Königsherrschaft Jesu Christi einen „Wächter- und Zeugendienst der Kirche“ in Anspruch nahm und schon früh Kritik am Nationalsozialismus übte und dessen Ideologie ablehnte (vgl. Klän, Versuch [wie siehe oben], 83f.). In indirekter, aber deutlicher Form wird von einer „Abfallszeit“, von „Dämonen“, die „sich verkleiden in Engel des Lichts“, von „allerlei Mächte[n] aus den Pforten der Hölle“, die „einen scharfen, gierigen Kampf gerade um die Gewinnung des heranwachsenden Geschlechts“ führen, gesprochen (Gemeinde-Blatt für die renitente Kirche ungeänderter Augsburg. Konfession in Hessen – Melsunger Missionsblatt, 1937, 2.6). Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 598–602; Klän, Weg (wie Anm. 1), 217. Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 602–606; Klän, Weg (wie Anm. 1), 217. Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 606f.
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2.
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Die Auseinandersetzungen um die Konkordienformel innerhalb und mit der hessischen Renitenz
In einem von Martin Kiunke (1898–1983) verfassten „Entwurf einer Verfassung für die Vereinigte Evangelisch-lutherische Freikirche Deutschlands“ vom März 1946 heißt es: „Alle zu dem neuen Kirchenkörper zusammentretenden evangelisch-lutherischen Freikirchen sind gegründet auf das Bekenntnis der Kirche der lutherischen Reformation, wie sie es in den drei ökumenischen Symbolen, der Confessio Augustana von 1530, der Apologie derselben, den Schmalkaldischen Artikeln, dem Großen und dem Kleinen Katechismus Luthers und der Konkordienformel als das ihr geschenkte tiefste und reinste Verständnis des Evangeliums bekannt hat. Die Vereinigte Evangelisch-lutherische Freikirche Deutschlands ist also Kirche im Sinne der Augustana invariata.“43
Die selbstständigen lutherischen Kirchen der Vereinigung waren skeptisch bezüglich einer Vereinigung mit der Evangelisch-Lutherischen Freikirche („sächsischer Freikirche“), von ihnen auch „Missourier“ genannt, mit der sie auch keine Kirchengemeinschaft hatten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Brief von Superintendent Johannes Böttcher (1904–2000) der Hannoverschen evangelisch-lutherischen Freikirche an Superintendent Heinrich Wicke der Renitenz vom 24. Mai 1946, in dem Böttcher für eine Annäherung an die „Missourier“ plädiert. Dabei zitiert er den Pastor der ELFK und späteren Professor in Oberursel Wilhelm Oesch (1896–1982), der ihm am 8. Mai 1946 unter anderem geschrieben haben soll: „In Bezug auf die innere Geschlossenheit der Bekenntnisstellung einer jeden Kirche und auch der zu erhoffenden geeinigten Freikirchen ist unsere Überzeugung, daß sie auf evangelischem Wege zustande kommen muß, wenn auch gewisse gesetzliche Schutzmittel von jeder ernst zu nehmenden Kirche angewendet werden. Aber das innere consentire ist die Hauptsache. Je mehr vom Centrum her, der Rechtfertigung, die Linien gezogen werden, jemehr (sic) kommt es zu dieser inneren Übereinstimmung. Das ist schon in den Bekenntnisschriften zu sehen. Deshalb war mein Gedanke schon früh der, vom Centrum her mit den lieben Hessen zu reden und nicht einfach bei Differenzpumkten (sic) anzufangen. Gott wird den weiteren Weg zeigen“.44
In der Verfassung der (alten) Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche vom 12. Februar 1947 heißt es: „Die ‚Selbständige ev.-luth. Kirche‘ bekennt sich zu der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments, welche die einzige Richtschnur ist, nach der alle Lehren und Lehrer beurteilt und gerichtet werden sollen, und deshalb zu den Bekenntnis43 44
Martin Kiunke, Entwurf einer Verfassung für die Vereinigte Evangelisch-lutherische Freikirche Deutschlands, 03-2016 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 1, §3. Johannes Böttcher, Brief an Sup. H. Wicke, 1946-05-24 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026).
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schriften der evangelisch-lutherischen Kirche, in welchen die schriftgemäße Lehre klar bezeugt ist, nämlich: den drei ökumenischen Symbolen, dem apostolischen, dem nicänischen und dem athanasianischen, der ungeänderten Augsburgischen Konfession von 1530 und deren Apologie, den Schmalkaldischen Artikeln, dem Großen und Kleinen Katechismus Luthers und der Konkordienformel, sofern die letztere auch schon zu dem bisherigen Bekenntnisstand gehört hat. Sie ist demgemäß Kirche im Sinn von Augustana VII.“45
Der Quatenus-Satz erklärt sich aus dem Versuch, die Renitenz in die (alte) SelK mit hineinzunehmen. Ein Brief des Superintendenten der Selbständigen evangelischlutherischen Kirche, Heinrich Martin (1884–1972), an den renitenten Superintendenten Heinrich Wicke vom 28. Oktober 1946 ist hierzu aufschlussreich: „Wir werden um den 1. Advent, wahrscheinlich in der Woche vorher, einen ausserordentlichen Kirchenkonvent halten, dem die Verfassung zur Beschlussfassung vorgelegt werden wird. Ich bitte Sie zu bewirken, dass bis dahin die ren. Kirche sich entscheidet, ob sie sich mit unsern drei Kirchen zu der ‚selbständigen ev. luth. Kirche in Hessen und Niedersachsen‘ zusammenschliessen will oder nicht. Denn wenn es nicht der Fall sein sollte, kann die Bestimmung über die Konkordienformel, die nur um der ren. Kirche willen hineingekommen ist, in Wegfall kommen. | […] Die Verfassung ist so freiheitlich gestaltet, wie es möglich ist, wenn ein grösseres Ganzes werden soll. Es wird für Ihre Kirche förderlich und für uns wertvoll sein, wenn Sie sich mit uns zusammenschliessen werden. Im andern Fall werden wir die Gemeinschaft mit Ihnen halten wie bisher, und Sie werden das ja auch tun“.46
Die Renitenz konnte sich zunächst nicht für die Vereinigung entscheiden, sodass H. Martin am 18. Dezember 1946 an H. Wicke schrieb: „Vorgestern, am 16. Dezember, ist in Rodenberg von Amtsbruder Böttcher, Amtsbruder Srocka und mir die kirchliche Vereinigung unserer drei Kirchen zur ‚selbständigen ev. luth. Kirche in Hessen und Niedersachsen‘ vollzogen worden. […] | Wir haben es bedauert, dass die ren. Kirche den Entschluss sich zu beteiligen nicht gefasst hat. Aber wir achten die Entscheidung und ich soll es Ihnen im Namen von uns allen sagen, dass wir das brüderliche Verhältnis zu der ren. Kirche, wie wir es bisher gehabt haben, auch ferner halten werden.“47
Diese Entwicklung scheint den in Bayern tätigen Friedrich Wilhelm Hopf (1910– 1982) sehr bewegt zu haben, denn er bekräftigte in einem weiteren Brief an H. Wicke vom 25. Juni 1947 nochmals seinen Entschluss, nicht nach Hessen zurückzukehren.48 Aus seiner Sicht nach wie vor problematisch in der Renitenz nennt 45 46 47 48
Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 603 (Hervorhebungen GdS). Heinrich Martin, Brief an Superintendent H. Wicke, 1946-10-28 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026). Heinrich Martin, Brief an Superintendent H. Wicke, 1946-12-18 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026). Aus der Renitenz stammend und 1933 in Melsungen durch Superintendent Heinrich Wicke ordiniert, stand Hopf im Dienst der Bayerischen Landeskirche, da seinerzeit die Renitenz keine Anstellung zur Verfügung hatte (vgl. Dominik Bohne, Friedrich Wilhelm Hopf: 1910–1982. Pfarrer, Kirchenpoliti-
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er unter anderem die „Ablehnung der Konkordienformel“. Darüber hinaus äußert er sein Unverständnis darüber, dass sich die Renitenz am Zusammenschluss zur Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen und Niedersachsen nicht beteiligt habe.49 Allerdings ist der Ton in diesem Brief nicht mehr grundsätzlich ablehnend wie in dem von 1946, was auf die Entwicklungen in der Bayerischen Landeskirche in Bezug auf VELKD und EKD zurückzuführen sein dürfte. In einem Brief vom 24. September 1948 stellte H. Martin konkrete Fragen an H. Wicke: „Nimmt die renitente Kirche eine klare Stellung im Sinne bekennender, ihr Bekenntnis bekennender lutherischer Kirche ein? Bekennt sie mit uns und verneint sie mit uns? Bekennt sich ihr Lehrstand mit uns zur Konkordienformel und lehnt er mit uns die Bindung an die Barmer Erklärung ab?“ Konkret ging es um die Möglichkeit des Pfarrdienstes innerhalb der Renitenz eines in der (alten) SelK bei seiner Ordination auch auf die Konkordienformel verpflichteten Pfarrers (Karl Mädrich, 1912–2003). Dabei ging es auch um die in der Renitenz andauernde Debatte über eine Stellungnahme zur Barmer Theologischen Erklärung, die von dem in Schemmern tätigen Pfarrer Rudolf Schlunk (jun., 1900–1988) angestoßen 50 worden war. Am 6. Dezember 1948 schrieb H. Wicke an H. Martin: „Unser Pfarrkonvent vom 19.11.1947, bei dem Pfarrer Mädrich das Referat hatte, hat eine Bindung an die Barmer Erklärung klar abgelehnt, wie das bereits in einem Rundschreiben unter den Amtsbr. unmittelbar zuvor geschehen war. | Die Konkordienformel haben wir bekanntlich nicht in unserem Bekenntnisstand, sind aber, wenn auch ohne sie, naturgemäß nicht gegen sie. Denn unsere C. A. Invariata mit ihrer Verwerfung der Gegenlehre genügt vollkommen zu einer klaren Stel51 lungnahme in der heutigen kirchlichen Lage.“
In einem nicht näher datierten Brief vom Februar 1949 an den Pfarrkonvent der Renitenz schrieb Rudolf Schlunk: „Nun, einmal besitzt die C[oncordien]F[ormel] für unsere Kirche nicht den Rang eines kirchlichen Bekenntnisses. Auch dürfen die Gründe, weshalb die CF von der hess. Reformationskirche seinerzeit nicht als kirchlich bindendes Bekenntnis angenommen wurde, heute noch gegen die nicht nur von Sasse angewandte mehr formale erkenntnistheoretische Beurteilungsmethode sprechen. Auf alle Fälle haben wir Renitenten keine Veranlassung, die CF in dem Masse und der Strenge für
49 50 51
ker, theologischer Publizist, Mann der Mission, Hamburg u.a. 2001, 19). 1949 wurde Hopf wegen Widerstands gegen den Beitritt der Bayerischen Landeskirche zur EKD in den Wartestand versetzt und 1950 des Amtes enthoben. Daraufhin gründete er eine selbstständige lutherische Gemeinde in Mühlhausen (Mittelfranken), die in die (alte) SelK aufgenommen wurde (vgl. Bohne, Hopf [wie siehe oben], 162ff.). Friedrich Wilhelm Hopf, Brief an H. Wicke, 1947-06-25 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 2. Heinrich Martin, Brief an Sup. H. Wicke, 1948-09-24 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 1. Heinrich Wicke, Brief an H. Martin, 1948-12-06 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), Hervorhebungen im Original.
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unsere Ansichten über die kirchlichen Vorgänge bestimmend sein zu lassen, als es für Sasse und alle sein muss, für die dieselbe kirchlich bindendes Bekenntnis ist.“52
Schlunk wehrt sich besonders gegen Hermann Sasses (1895–1976) Kritik an der Barmer Theologischen Erklärung. Diese sei keinesfalls ein „Helfershelfer eines bekenntnislosen Unionismus“, sondern „tatsächlich und wirklich der treuste Freund und Unterstützer gerade auch der luth. Rechtfertigungslehre, des luth. hohenpriesterlichen Zeugnisses und Bekenntnisses“, denn „stellt es [sc. Barmen] doch den Christusgehorsam über allen Staats- und Menschengehorsam, sieht es doch die vollkommenere Freiheit der Kirche im Gehorsam der an Christi Befehl Gebundenen, versetzt es doch alle Ämter in Christi Dienst ausschließlich, und gibt es doch die christologische Begründung alles Kirchenrechts im Recht der Rechtfer53 tigung an!“ Die Entwicklungen in den Landeskirchen verdankten sich nicht einer Treue, sondern einer Preisgabe von Barmen.54 Es ist Schlunks Absicht, „vor einer Tendenz zu warnen, die uns ins Lager eines zukunftlosen, rein illusionären, unechten und stagnierenden lutherischen Konfessionalismus führen müssten, wenn wir ihr [sc. der Konkordienformel] weiter zuneigten“55. Friedrich Wilhelm Hopf hat gegen Ende 1948 oder Anfang 1949 einen Entwurf zu einer Vereinbarung zwischen der „Selbständige[n] evang.-luth. Kirche in Baden, Hessen und Niedersachsen“ und der „Renitente[n] Kirche Ungeänderter Augsburgischer Konfession“ verfasst56, der vom Superintendentenkollegium der (alten)
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Rudolf Schlunk, Brief an den Pfarrkonvent der Ren. Kirche UAC, z.H. des Herrn Superintendenten Wicke, Kassel, 1949-02 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 4. Schlunk, Brief 1949-02 (wie Anm. 52), 5. A.a.O., 5f. A.a.O., 6. Schlunk stand mit seiner Position in einer gewissen hessischen Tradition, die zwar unterschiedlich, aber doch distanziert gegenüber der Konkordienformel stand. Im Rahmen des sog. Streites um den Konfessionsstand der niederhessischen Kirche schrieb August Vilmar (1800– 1864) 1855, dass die Bezeichnung „lutherisch“ nicht „gehörig zu der durch die Concordienformel abgeschlossenen Lutherischen Kirche [heißt], sondern lutherisch heißt hier: alles, was eben nicht durch directe und förmliche Anschließung an die ‚reformirte‘ Kirche sich von dem ursprünglichen Zusammenhange mit der durch Luther angeregten und bestimmten Reformation losgerissen, sondern diesen Zusammenhang namentlich auch in der alten ‚lutherischen‘ Liturgie bewahrt hat. Lutherisch in diesem Sinne wollte man in Kurhessen sein“ (August F. C. Vilmar, Die kirchlichen Fragen in Kurhessen, Evangelische Kirchen-Zeitung 47–50 [1855], 489–524, hier 498; vgl. Wilhelm Hopf, August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild, 2 Bde., Erlangen 1912/13, II, 244ff.). Die hessische Kirche „ist – man darf sich diese rechtsgeschichtliche Wahrheit nicht durch dogmatische Forderungen aus den Augen rücken lassen – unionistisch lutherisch, so lutherisch, daß unter diesen Begriff beide Hessischen Kirchen, die Hessisch-Lutherische und die Hessisch-Reformirte, beide ohne Concordienformel, als eine Landeskirche, die man, eben in diesem Sinne, lutherisch nennen kann, zusammengehören (Vilmar, Fragen [wie siehe oben], 510, Hervorhebungen im Original). Das sei damit gemeint, als die Kasseler Konferenz von 1848 festgestellt habe, dass die kurhessische Kirche eine „lutherische“ Kirche sei (vgl. a.a.O., 501). Allerdings habe sich die hessische Kirche nirgends namentlich gegen die Konkordienformel ausgesprochen (vgl. a.a.O., 499). Friedrich Wilhelm Hopf, Vereinbarung (Entwurf), (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 1.
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SelK als Basis eines möglichen Zusammenschlusses beider Kirchen betrachtet wurde57. Im Entwurf heißt es im Absatz 2: „Da die Konkordienformel nicht zum geschichtlich überkommenen Bekenntnisstand der niederhessischen Kirche gehört, halten es die unterzeichneten Vertreter der obengenannten Kirchen für nötig, ihre völlige Übereinstimmung darüber auszusprechen, daß es zwar hinsichtlich des Bekenntnisstandes Kirchen der Ungeänderten Augsburgischen Konfession ohne die Konkordienformel geben kann, daß es aber hinsichtlich der Lehrentscheidungen und ihrer Konsequenzen keine Kirche der Ungeänderten Augsburgischen Konfession geben kann, die sich gegen die Konkordienformel entscheidet und bei dieser Entscheidung verharrt.“58
Die (meisten) Renitenten taten sich schwer mit einer Entscheidung, die Konkordienformel in ihren Bekenntnisschriftenkanon formal aufzunehmen, sahen sich aber durchaus inhaltlich im Einklang mit ihr stehend. In einem vom 12. April 1949 datierten Brief des Superintendenten der (alten) SelK, Heinrich Martin, an Heinrich Wicke ist zu lesen: „Lieber Herr Bruder, niemand bezweifelt Ihre persönliche Bekenntnistreue. Es kommt aber heute darauf an, dass die ganze Kirche deutlich ihre bekenntnismässige Stellung einnimmt. Und da kommen Sie um die C[oncordien].F[ormel]. einfach nicht herum. Es genügt eben nicht, wie Sie meinen, die Berufung auf die Ung[eänderte]. Augsb[urger]. Konf[ession]. Wenn es eines Beweises bedürfe, so wäre der Fall Schlunck Beweis genug. Allein dieser Fall zeigt die Notwendigkeit, dass Ihre Kirche ihre Uebereinstimmung mit der C.F. zum 59 Ausdruck bringt.“ Ende 1949 erklärte Pfarrer Eduard Rausch (1904–1953) die Sachlage folgendermaßen: „Warum sind wir dann [der SelK] nicht beigetreten? Bekenntnismässig stehen wir auf demselben Boden. Auch wir Renitente sind Lutheraner und haben seit Beginn der Renitenz nichts anderes sein wollen. Wir stehen auf der ungeänderten Augsb. Konfession. […] Als für uns erschwerendes Moment war in den Verhandlungen das Ansinnen an uns gestellt worden, uns eindeutig für die Concordienformel zu erklären. Man verlangte zwar nicht, dass wir sie von kirchenwegen noch nachträglich als Bekenntnis annehmen sollten, wie das die Homberger s. Zt. taten, wohl aber dass wir sie als lehrmässig bindend für uns betrachteten. Uns ist diese Forderung nicht ganz verständlich und scheint uns schon damit erfüllt zu sein, dass wir uns immer wieder auf die Deklaration von 1867 gestellt haben, in der aller Calvinismus und aller Unionismus verworfen werden zugunsten eines reinen Luthertums.“60
57 58 59 60
Heinrich Martin, Brief an Sup. H. Wicke, 1949-02-08 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026). Hopf, Vereinbarung (wie Anm. 56), 1. Die Wörter „ohne“ und „gegen“ sind im maschinengeschriebenen Original per Hand unterstrichen worden. Heinrich Martin, Brief an Sup. H. Wicke, 1949-04-12 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 2. Rausch, Referat 1949-11-16 (wie Anm. 38), 2f., Hervorhebung im Original. Rausch bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass der aus der Spaltung in der Renitenz von 1874 entstandene „Homberger Konvent“ anlässlich der Vereinigung mit der Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in Hessen-Darmstadt zur Selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen 1893 die Konkordienformel in seinen Bekenntnisschriftenkanon formal aufgenommen hatte (vgl.
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Auf einer Sitzung des Superintendentenkollegiums der (alten) SelK am 16. April 1950 war der renitente Pfarrer Wilhelm Schmidt (1889–1962) aus Melsungen „zu einem informatorischen Gespräch über die Möglichkeit des Anschlusses dieser Kirche an unsere Kirche anwesend“61. Als Grundlage des Gesprächs fungierte der bereits erwähnte Entwurf von Pfarrer Hopf.62 Es ist protokolliert worden: „In Artikel II wird die beiderseitige Anerkennung der Lehrentscheidungen der Formula Concordiae vorgeschlagen. Pfarrer Schmidt meint, das Anliegen der F.C. sei schon in der Deklaration 1867 genügend gewahrt. […] Das Superintendentenkollegium bittet Pfarrer Schmidt, seinem Konvent den Antrag vorzulegen[,] bei 63 der Ordination auch auf die Formula Concordiae die Amtsträger zu verpflichten.“
Der Pfarrkonvent der Renitenz beschloss schließlich am 10. Mai 1950: „Der Pfarrkonvent ermächtigt das Kirchenregiment, alle Fragen des Beitritts unserer Kirche als selbständige Diözese zur Selbständigen ev.-luth. Kirche mit der Kirchenleitung dieser Kirche zu klären“, was in einem Brief H. Wickes an H. Martin vom 16. Mai 1950 mitgeteilt worden ist.64 In einer Besprechung zwischen Martin, Srocka, Wicke, Schmidt und Rausch am 16. Juni 1950 in Kassel einigten sich die Teilnehmer auf die Formulierung: „Der Pfarrkonvent der Renit. Kirche erklärt, daß fortan die Verpflichtung auf die F[ormula]C[oncordiae] bei der Ordination erfolgen wird. Die gegenwärtigen Amtsträger erblicken das, was die Verpflichtung auf die FC zum Ausdruck bringt, als in ihrem betonten Bekenntnis zur Ungeänderten Augsb. Konfession enthalten und stimmen also dem Inhalt der FC zu.“65 Der Pfarrkonvent der Renitenz tagte am 21. Juni 1950 und nahm folgenden Antrag an: „Die Renitente Kirche UAC vollzieht den Zusammenschluss mit der Selbst. Ev. luth. Kirche. Der Zusammenschluss soll im Sinne des Protokolles der Versammlung in Kassel vom 15.6.50 erfolgen. Beim Zusammenschluss der beiden Kasseler Gemeinden sollen beide Katechismen (der hess. Katechismus und der kleine lutherische) bis auf Weiteres nebeneinander gebraucht werden. In den übrigen Gemeinden der Ren. bleibt es bei hess. Katechismus“. R. Schlunk enthielt sich allerdings der Stimme 66 und polemisierte später gegen den Beschluss.
61 62 63 64 65
66
Richard Lucius, Die Entstehung und Entwicklung der selbständigen evangelisch-lutherischen Kirche in den hessischen Landen, in: Karl Müller [Hg.], Die selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen, Elberfeld 1906, 9–42, 34ff.). Jakob Böttcher, Heinrich Martin, Werner Srocka, (Protokoll der) Sitzung des Superintendentenkollegiums am 26. April 1950 in Rodenberg, 1950-04-26 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), 1. Vgl. ebd. Ebd. Heinrich Wicke, Brief an H. Martin, 1950-05-16 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026). Heinrich Martin, Werner Srocka, Heinrich Wicke, W. Schmidt, Eduard Rausch, (Protokoll der) Besprechung am 19. Juni 1950, 1950-06-19 (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026), Hervorhebungen im Original. Zitat und Information befinden sich in einer nicht näher bezeichneten „Abschrift des Protokolls“, die sich unter den durchgesehenen Akten befindet (Kirchenarchiv der SELK: RKN 026).
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In der offiziellen Vereinbarung vom 7. September 1950 heißt es im §2 lediglich: „Die unterzeichneten Vertreter der Renitenten Kirche erkennen die Bekenntnisschriften der Selbständ. ev.-luth. Kirche, einschließlich der Konkordienformel und demgemäß die gemeinsame Lehrverpflichtung aller ihrer Geistlichen an.“67 In einem offenen Brief an die Gemeinden der Renitenz teilt Superintendent H. Wicke den nun vollzogenen Zusammenschluss mit: „Seit 40 Jahren stand unsere Kirche in Kanzel- und Altargemeinschaft mit anderen staatsfreien luth. Kirchen in Deutschland, von denen sich die freien luth. Kirchen in Hessen, Hannover und Baden nach dem letzten Kriege zur Selbständigen Ev.Luth. Kirche zusammenschlossen. Nach längeren Verhandlungen im Laufe dieses Jahres wurde nun zwischen dieser Selbst. Ev.-Luth. Kirche und unserer Kirche am 7. September dieses Jahres eine Vereinbarung getroffen, nach der am 1. Oktober 1950 auch unsere Kirche als selbständige Diözese sich ihr eingliedert. | […] Wir tuen diesen Schritt, weil ihn tun müssen. Gott hat durch die Gerichte unserer Zeit auch unsere Kirchen und ihren theologischen Nachwuchs große Verluste erleiden lassen […]. Gott will aber auch, daß wir in der noch viel größeren geistlichen und kirchlichen Not und Verwirrung unserer Tage gemeinsam Zeugnis ablegen von dem, was wir in unseren selbständigen Kirchen schon über 100 Jahre von Wesen und Ordnung der Kirche und vom Königtum Jesu Christi haben erfahren dürfen. | Wir tuen diesen Schritt, weil wir glauben, ihn tun zu dürfen. Und zwar mit gutem Gewissen. Denn wir stehen auf demselben Bekenntnisboden. Wir kommen aus denselben oder ganz ähnlichen kirchlichen Kämpfen her und wir haben dieselbe Aufgabe vom Herrn der Kirche erhalten: zu kämpfen für die Selbständigkeit und Freiheit der Kirche luth. Bekenntnisses. | Wir tuen diesen Schritt, weil wir ihn tun wollen. Denn wir dürfen nicht in eigenwilliger Isolierung und Vereinsamung verharren wollen, wenn uns nicht schwerwiegende kirchliche Gründe dazu zwingen; und da das nicht der Fall ist, da durch die vorausgegangenen Verhandlungen unsere Bedenken uns genommen werden konnten – was hindert uns da noch, diese Vereinigung zu vollziehen?“68
In seinem historischen Urteil folgt Werner Klän Superintendent Heinrich Martin der (alten) SelK, der in einer „Mitteilung […] über den Anschluss der Renitenten Kirche ungeänderter Augsburger Konfession“ vom September 1950 schrieb: „Es ist keine Veränderung, aber eine durch die heutigen Verhältnisse gebotene Verdeutlichung ihres Bekenntnisstandes, wenn die Renitente Kirche sich ausdrücklich auch zu der Konkordienformel bekennt, womit sie ihre völlige Lehreinheit mit den lutherischen Freikirchen zum Ausdruck bringt.“69 Für Klän kam der Schritt für die Renitenz „einer Erweiterung, nicht aber Veränderung ihres bisherigen Bekenntnisstandes gleich“70. Doch nicht alle Renitenten vollzogen den Schritt des Beitritts zur 67 68 69 70
Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 607f. Heinrich Wicke, An die Gemeinden der Renitenten Kirche. Ungeänderte Ausgabe. Konfession, Glaube und Leben 8/9 (1950), 1. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 611. Klän, Weg (wie Anm. 1), 217.
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(alten) SelK bzw. der Übernahme der Konkordienformel mit. Eine kleine Gruppe in den Gemeinden Schemmern und Morschen um Pfarrer Rudolf Schlunk trat 1952 aus der Renitenz aus und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck bei. 3.
Ein ökumenisches Modell im Kleinen
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gründung der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) im Jahr 1972 war für die selbstständigen lutherischen Kirchen eine Zeit von Fortschritten und Rückschlägen auf dem Weg eines „vollständigen organisatorischen Zusammenschlusses“71. Dieser Prozess war von zwei Bewegungen charakterisiert: auf der einen Seite stand eine zunehmende Distanzierung gegenüber den (lutherischen) Landeskirchen, bedingt durch die Formierung der EKD und den Beitritt der VELKD zu derselben, auf der anderen Seite standen die zahlreichen Initiativen zwecks Integration der selbstständigen lutherischen Kirchen, unter die das oben dargestellte Beispiel der hessischen Renitenz sich einreiht. Werner Klän urteilt: „die zunehmende Integrationsfähigkeit im lutherischen-freikirchlichen Bereich ist somit auch als Kehrseite eines Abstandnehmens von tendenziell als unionistisch verstandenen Entwicklungen innerhalb 72 der lutherischen Landeskirchen zu deuten“. Die beschriebene Bewegung ist im Grunde genommen die Umsetzung von CA VII73 im Lichte von CA I74, denn in diesem Prozess kommen beide Momente des berühmten satis est von CA VII zum Tragen. Dieser zentrale Artikel der Confessio Augustana enthält nämlich eine Doppeldynamik, in der auf der einen Seite die Bedingungen der Möglichkeit für die Einheit75 dargestellt werden, aber auf der anderen Seite eine legitime Verschiedenheit wahrgenommen und als die Einheit
71 72 73
74
75
A.a.O., 218. A.a.O., 220; vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 598–602. „Et ad veram unitatem Ecclesiae satis est consentire de doctrina Evangelii et administratione Sacramentorum. Nec necesse est ubique esse similes traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas“ (Irene Dingel [Hg.], Die Bekenntnisschriften der EvangelischLutherischen Kirche - Vollständige Neuedition [BSELK], Göttingen 2014, 103,8–10). „Ecclesiae magno consensu apud nos docent […]“ (a.a.O., 93, 26). Das in fast allen anderen Artikeln wiederholte „Item docent“ bezieht sich auf den entscheidenden Satz im Art. I! (vgl. a.a.O., 95, 15; 97, 7; 99, 5; 101, 11 et passim). Der deutsche Text von CA VII bringt „einigkeit“ als Korrespondent zum lateinischen „unitas“, denn der deutsche Begriff „Einheit“ ist neueren Datums (vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854–1961, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GE01832#XGE01832 [Stand: 04.04.2017]. In heutigem Deutsch wird der lateinische Begriff „unitas“ auf jeden Fall am besten mit „Einheit“ wiedergegeben, was in der Ausgabe der lutherischen Bekenntnisschriften für die Gemeinden (Johannes Hund, Hans-Otto Schneider [Hg.], Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evange6 lisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, Gütersloh 2013, 50) leider nicht berücksichtigt wird.
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nicht infrage stellend beurteilt wird.76 Freilich bedeutet diese Doppeldynamik auch eine nicht leichte Daueraufgabe, denn die Lutherische Kirche muss sich den historischen, kulturellen, soziologischen sowie anderen gesellschaftlichen Veränderungen stellen, sie interpretieren und sie nach den Kriterien des lutherischen Bekenntnisses aufnehmen oder abweisen.77 Interessant im oben dargestellten Fall um die hessische Renitenz ist die Tatsache, dass man nicht nur im Sinne der Doppeldynamik der Confessio Augustana agierte, sondern darin auch zweistufig vorgegangen ist. Denn als es darum ging, Kirchengemeinschaft unterschiedlicher Kirchenkörper festzustellen, reichte für die Beteiligten ein inhaltlicher Konsensus (CA I) aus. Erst als man dazu übergegangen ist, sich institutionell zu einem Kirchenkörper zusammenzuschließen, wurde die Frage nach der formalen Annahme der Konkordienformel in den Bekenntnisschriftenkanon der hessischen Renitenz relevant. Doch selbst hier zeigte sich zunächst eine erstaunliche Bereitschaft, die Renitenz auch ohne den formalen Beitritt zur Konkordienformel in den neuen Kirchenkörper aufzunehmen, was im Quatenus78 Satz der Kirchenordnung von 1947 deutlich abzulesen ist. Freilich gab es selbstständige Lutheraner, die das satis est sehr eng fassten und nicht einen magnus consensus, sondern eine vollkommene Übereinstimmung als Bedingung zur Kirchengemeinschaft verlangten. Doch selbst sie – zumindest in der damaligen Bundesrepublik – schlossen sich mit den anderen zur SELK im Jahre 1972 zusammen.79 76 77 78 79
Vgl. Gilberto da Silva, Was uns eint – I: in Bezug auf Geschichte, Konflikte und Einigungsprozesse, Lutherische Theologie und Kirche 33 (2009), 131–144, 132f. Vgl. a.a.O., 132. Vgl. Klän, da Silva, Quellen (wie Anm. 10), 603. Dieser Weg ging über die Feststellung von „Einigungssätzen“ zwischen der Evangelischlutherischen Kirche Altpreußens (Altlutheraner) und der Evangelisch-Lutherischen Freikirche im Jahr 1947 (vgl. a.a.O., 612–617; Klän, Weg [wie Anm. 1], 217f.). Die „Einigungssätze“ waren die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die ELFK bei der Gründung der SELK 1972 mit dabei war. In der ehemaligen DDR verlief die Geschichte anders: Weil die Körperschaftsrechte der Altlutherischen und der Freikirche im kommunistischen Staat nicht gefährdet werden sollten, kam es im September 1972 zunächst zur Bildung eines gemeinsamen Dachverbandes, der „Vereinigung selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen“ (VselK). Arbeitsgrundlage der Zusammenarbeit beider Kirchen bildete eine „Vereinbarung“, die bei der ersten gemeinsamen Synode im September 1972 in Zwickau-Planitz von beiden Teilsynoden gesondert angenommen wurde. Bevor die körperschaftsrechtlichen Fragen nicht geklärt wären, sollte an den theologischen Voraussetzungen eines Zusammenschlusses gearbeitet werden. Doch die gegenseitige Annäherung offenbarte auch erhebliche Unterschiede in der kirchlichen Tradition und Praxis. Zum Stolperstein wurden aber mehr und mehr unterschiedliche Auffassungen in theologischen Grundsatzfragen. Nach zwischenzeitlich positiven Teilergebnissen gerieten die theologischen Verhandlungen Anfang der 1980er Jahre in die Sackgasse. Darin spielte die Frage nach der Verbalinspiration der Bibel die entscheidende Rolle. Schließlich beschloss die in Hartenstein versammelte Synode der ELFK am 26.5.1984 die Suspension der Kirchengemeinschaft mit der Altlutherischen Kirche. Diese Entwicklung führte dazu, dass nach der sog. „Wende“ 1989 die Altlutherische Kirche in der ehemaligen DDR 1991 der SELK beigetreten ist, während die ELFK in der ehemaligen DDR als eigenständige lutherische Kirche blieb (vgl. Klän, da Silva, Quellen [wie Anm. 10], 267ff.; Gottfried Herrmann, Lutherische Freikirche in Sachsen. Geschichte und Gegenwart einer lutherischen Be-
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In diesem Sinne ist Werner Kläns Fazit uneingeschränkt zuzustimmen: „Die über 150jährige Geschichte der selbständigen evangelisch-lutherischen Kirchen kann durchaus als ökumenischer Lernprozeß im Kleinen betrachtet werden. Hatten sich unter den Bedingungen der staatsfreien kirchlichen Daseinsform im vergangenen Jahrhundert die Geister geschieden und die Kirchen getrennt, so lernten die selbständigen Lutheraner allmählich, den Stellenwert der Fragen, an denen ihre Wege einst auseinandergegangen waren, richtig einzuschätzen. Sie erkannten, daß die im Rahmen unterschiedlicher örtlicher und zeitlicher Bedingungsgefüge theologischer und nicht-theologischer Art entstandenen Deutungen und Anwendungen einzelner Artikel der gemeinsamen Bekenntnisgrundlage diese Gemeinsamkeit nicht grundlegend in Frage stellten. So gelang es ihnen in immer neuen Dialogen, trennende Positionen abzubauen. Dies wurde möglich durch eine immer erneute Besinnung auf die Aussagen von Schrift und Bekenntnis, durch die Einsicht in die historische Bedingtheit der jeweiligen kirchlich-theologischen Ausprägung und durch die Bewußtwerdung für die gemeinsame Aufgabe lutherischen 80 Zeugnisses in der Welt.“
Dieser zunächst innerlutherische Prozess kann mutatis mutandis als Suchen und Erreichen einer theologisch-ekklesiologischen Mitte beschrieben werden, die im Sinne Wilhelm Löhes (1808–1872) ist: „Eine unbefangene und unparteiische Vergleichung der lutherischen Lehre mit den Lehren der anderen Kirchen, namentlich mit den Lehren der römischen und reformirten Particularkirche ergibt, daß sie in allen Unterscheidungslehren zwischen beiden die gerechte Mitte hält, daß sie die Mitte der Confessionen ist. In keiner einzigen Lehre vertheidigt sie ein Extrem, sondern überall bietet ihre Lehre die allein mögliche Vereinigung und Union der in den verschiedenen Particularkirchen sich ausprägenden extremen Gegensätze. Und zwar ist gerade in dem letzten 81 symbolischen Buche, in der Concordienformel das zur Vollendung gekommen.“
Die von ihm beschriebene Eigenschaft der Lutherischen Kirche spielt Löhe bewusst gegen eine falsche, von Menschen forcierte Union aus: „In einer Zeit, wo Union das dritte Wort ist, haben sichs deshalb die Kinder der wahren Kirche recht deutlich zu machen, daß ihre Kirche vermöge der Lehre, welche sie bekennt, die Union der Gegensätze sei und daß es der große Beruf der reinen Kirche sei, diese wahre Union zu lehren und immer aufs neue den Kirchen des Gegensatzes gegenüber zu halten, nachzuweisen, daß, was alle wollen, recht ver-
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kenntniskirche, Berlin 1985, 368ff.; Gilberto da Silva, Stefan Süß, Und es geschah doch 19 Jahre später… Der Beitritt der Evangelisch-Lutherischen [altlutherischen] Kirche in der ehemaligen DDR zur Selbständigen Ev.-Luth. Kirche 1991, OUH 51, Oberursel 2011). Es handelt sich um einen sehr interessanten historisch-theologischen Prozess, dessen Analyse jedoch im vorliegenden Aufsatz nicht geleistet werden kann. Klän, Weg (wie Anm. 1), 222f. Wilhelm Löhe, Drei Bücher von der Kirche 1845, in: Wilhelm Löhe. Studienausgabe 1, hg. von Dietrich Blaufuß, Neuendettelsau 2006, 170, 3–14.
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standen sich in der Lehre unsrer Kirche vereine und durch das Leben dieser Lehre ins Leben gesetzt werde.“82
Durch die Konzentration auf das Wesentliche (magnus consensus und satis est) konnten die selbstständigen lutherischen Kirchen eine wahre Union, eine theologisch-ekklesiologische Mitte erreichen. Die erlangte theologisch-ekklesiologische Mitte, die institutionell zur heutigen SELK geführt hat, beschreibt in der Tat ein Modell der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, ein „ökumenisches Modell im Kleinen“83, wie Werner Klän es in seinem Aufsatz von 1990 treffend darstellt. Doch wie Klän selbst mahnt, darf dieser Prozess nicht als abgeschlossen angesehen werden.84 Denn sowohl unter den lutherischen Kirchen als auch in der ganzen Christenheit soll – und nach der biblischen Vorgabe: muss – die Einheit weiterhin gesucht und gefunden werden. Die Richtlinien für diesen Prozess geben für die Lutherische Kirche die Artikel I und VII der Confessio Augustana vor, denn magnus consensus (CA I) und satis est (CA VII) zeigen in ihrer Doppeldynamik mit den Bedingungen der Möglichkeit für die Einheit auf der einen und der Zulassung legitimer Verschiedenheit auf der anderen Seite85 die Parameter zur Auseinandersetzung mit dem Thema Kirchengemeinschaft bzw. kirchlicher Zusammenschluss. Besonders der fast ein halbes Jahrhundert dauernde „ökumenische“ Prozess zwischen der hessischen Renitenz und der Mehrheit der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirche ist hierzu historischsystematisch sehr lehrreich, denn er zeigt, dass ökumenische Bemühungen trotz der Schwierigkeiten Frucht bringen und dass die Einheit der einen Kirche Christi innerhalb der Verschiedenheit erreicht werden kann.
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A.a.O., 171, 21–172, 6, Hervorhebungen im Original. Klän, Weg (wie Anm. 1), 205. Vgl. a.a.O., 206. Vgl. da Silva, Bezug (wie Anm. 76), 132f.
Gepredigte Abendmahlslehre Zwei Gründonnerstagspredigten von Salomon Glass Armin Wenz Salomon Glass1 wirkte nach seinem Studium in Wittenberg und Jena von 1621– 1625 als Professor für Hebräisch und Griechisch in Jena, bevor er ins Superintendentenamt seiner Heimatstadt Sondershausen berufen wurde. Nach dem Heimgang seines Lehrers und Freundes Johann Gerhard im Jahr 1637 wurde er der Nachfolger auf dessen Lehrstuhl in Jena. Doch bereits 1640 wechselte Glass endgültig ins kirchenleitende Amt und versah bis zu seinem Tod die Generalsuperintendentur für das Herzogtum Sachsen-Gotha. Seine Amtstätigkeit war dem Ziel gewidmet, das kirchliche Leben nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges wieder aufzubauen. Glass, der sich als Verfasser des hermeneutischen Grundlagenwerks „Philologia Sacra“ einen Namen gemacht hatte, bemühte sich nun darum, seine theologischen Einsichten in katechetischen, poimenischen und homiletischen Publikationen dem Kirchenvolk zugänglich zu machen. Unter diesen Publikationen 2 ragt neben der „Kurfürstenbibel“ die vierbändige „Prophetische Spruch-Postille“ aus den Jahren 1642–1654 heraus3. Diese geht zurück auf Predigten, die Glass am Gothaer Hof gehalten hatte. Dabei variierte er die Gewohnheit, das Evangelium zu predigen, indem er für jeden Feiertag zwei Predigten darbot, die das Evangelium bzw. das Proprium des jeweiligen Feiertags im Licht eines prophetischen Textes aus dem Alten Testament auslegten. Für die erste Predigt war dies jeweils ein Text aus Jesaja, für die zweite Predigt ein Text aus den anderen prophetischen Büchern. Leitend waren dabei die Einsichten zur christologisch begründeten Einheit des biblischen Kanons, wie Glass sie in seinen akademischen Arbeiten dargelegt hatte. In seinen Predigten brachte der Thüringer insbesondere seine Beobachtungen zur figürlichen Schriftauslegung zur Anwendung, die nach biblischem Vorbild nicht der 1
2 3
Zu Leben und Werk vgl. Armin Wenz, Salomon Glass (1593–1656). A Learned Philologist in the Episcopal Office, in: Timothy Schmeling (Hg.), Lives and Writings of the Great Fathers of the Lutheran Church, St. Louis 2016, 179–190. Vgl. Armin Wenz, Biblische Hermeneutik im Spiegel der Vorreden der „Weimarer Kurfürstenbibel“ aus drei Jahrhunderten, Lutherische Beiträge 20 (2015), 26–50. Die beiden Predigten befinden sich im ersten Band (Salomon Glass, Prophetischer Spruch-Postill. Erster Theil. Auff die Fest= vnd Feyrtage des gantzen Jahrs gerichtet vnd verfertiget, Jena 1642, 242–284). Seitenangaben ohne weitere Erläuterungen beziehen sich auf diese im Rare Book Room des Concordia Seminary, St. Louis, vorliegende Ausgabe. Andere Auflagen können eine hiervon abweichende Paginierung aufweisen.
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Begründung, wohl aber der Veranschaulichung der in der Schrift gemäß dem buchstäblichen Sinn erhobenen Lehrinhalte dient.4 An anderer Stelle wurde dargelegt, wie Glass dies für die Lehre vom Predigtamt durchführt.5 Hier nun soll es um die Lehre vom Abendmahl in den beiden Gründonnerstagspredigten im ersten Band der Spruchpostille gehen.6 1.
Die erste Abendmahlspredigt über Jes 55,1–37
Dass Jes 55,1–3 nicht nur „in gemein von Christo“ handelt, sondern auch „auff die Lehr vom heiligen Abendmal […] gezogen werden“ kann, erhebt Glass in der Predigteinleitung aus der „Kohärenz“ dieser Worte mit Worten Jesu wie Mt 11,28, Joh 7,37, 4,14, 6,35.37 und Apk 22,17.8 Insbesondere verweist er darauf, dass in Joh 6,45 mit Jes 54,13 ein Wort aus dem der Predigtperikope vorangehenden Kontext aufgenommen ist. Ausgehend von der Überzeugung, dass „vnser liber Heyland“ „sein Brot vnd Wasser des Lebens“ „durch die von jhm verordnete Mittel“ austeilt, und der Beobachtung, dass im prophetischen Wort vom Gnadenmittel des göttlichen Wortes die Rede ist, folgert Glass: „Warumb solt es denn nicht auch auff die andere Mittel / nemlich die H. Sacramenta füglich können gezogen werden? In sonderbarer Erwegung / daß das hochwürdige Nachtmal gleichsam ein Göttliches Sigel 9 ist des geoffenbarten Evangelischen Worts.“ Bestärkt in dieser Vorgehensweise sieht der Ausleger sich dadurch, dass die prophetischen Worte sowohl mit Brot und Wein die Abendmahlselemente erwähnen als auch in der Einladung zum Essen und Trinken der Weise der Nießung des Abendmahls gedenken. Aber auch einen intertestamentarischen Gesichtspunkt führt Glass an, wenn er aus der Beobachtung, dass Jesaja „fast sonst von allen Stücken / so zum Ampt des Messiae gehören / so herrliche 4 5 6
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Vgl. Johann Anselm Steiger, Philologia Sacra. Zur Exegese der Heiligen Schrift im Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts, Biblisch-Theologische Studien 117, Gütersloh 2011, 88–90. Vgl. Armin Wenz, The Doctrine of the Ministry in Salomon Glassius, Concordia Theological Quarterly 78 (2014), 319–346. In meiner Zeit im Oberurseler Pfarramt (2005–2014) erlebte ich Werner Klän intensiv nicht nur als theologischen Gesprächspartner, sondern auch als Liturgen und Prediger, diente er doch der seiner Hochschule benachbarten St. Johannes-Gemeinde immer wieder auf der Kanzel und am Altar. Dankbar blicke ich auf die Gottesdienste zurück, in denen wir die Gnadenmittel der Absolution und des Altarsakraments einander und der Gemeinde zusprachen und reichten. Auch darum erscheint es angemessen, in diesem Beitrag gepredigte lutherische Abendmahlslehre in den Blick zu nehmen. Der Text in der Glass vorliegenden Bibelfassung lautet: „Wolan alle / die jhr durstig seyd / kommet her zum Wasser / vnd die jhr nicht Geld habt / kompt her / kauffet vnd esset / kompt her vnd kauffet ohne Geld / vnd vmbsonst / beyde Wein vnd Milch. Warumb zehlet jhr Geld dar / da kein Brot ist / vnd ewre Arbeit / da jhr nicht satt von werden könnet? Höret mir doch zu / vnd esset das Gute / so wird ewre Seele in Wollust fett werden. Neiget ewre Ohren her / vnd kompt her zu mir / höret / so wird ewre Seele leben. Denn ich wil mit euch einen ewigen Bund machen / nemlich die gewisse Gnaden Davids.“ 242f. 243.
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Weissagungen in seinem Buche hinterlassen“ hat, folgert: „Ja was were es vngereimtes / wenn man in Christlicher guter Meinung dafür hielte / es hette der Prophet in diesen Worten von solchem Nachtmal des HErrn ausdrücklich geweissaget?“10 Glass schließt sich hier an eine von ihm an anderer Stelle bis auf Hieronymus zurückgeführte Tradition an, in Jesaja einen Evangelisten zu sehen, weil er alle „Geheimnisse Christi und seiner Kirchen“ deutlich vorgestellt habe und deshalb so oft und viel „zu behauptung der Christliche Glaubens-Artickel im Newen Testament angeführet wird“11. Auch im nachfolgenden Kontext der Perikope findet der Thüringer eine Bestätigung seiner Auslegung. Heißt es doch in Jes 55,4 in einem – aus neutestamentlicher Perspektive gelesenen – Wort Gottes des Vaters über seinen Sohn, er habe ihn zum Zeugen bestellt. Nach I Joh 5,8 aber verrichtet der Sohn sein Zeugnis durch den Geist, das Wasser und das Blut, „das ist / durchs Wort / durch die Tauffe / vnd durch das H. Nachtmal / in welchem wir seines Bluts (nebenst seinem H. Leibe) warhafftig geniessen“12. Der erste Teil der Predigt („Coenae SS. fructificatio“) ist den göttlichen Gnadenschätzen gewidmet, die im Sakrament dargereicht werden, der zweite Teil („Digna SS. Coenae usurpatio“) thematisiert die von den Empfängern des Mahles geschuldete Dankbarkeit. Als Gnadenschätze nennt Glass „1. Peccatorum remissio“, „2. Animae sanctificatio“ und „3. Vitae aeternae donatio“13. Voraus schickt er der Betrachtung der Gnadenschätze die durch eine Collatio14 der Einsetzungsworte des Abendmahls mit I Kor 10,16 und 11,27.29 begründete Vergewisserung des Glaubens an die Realpräsenz des Leibes und Blutes im Abendmahl, die unter den gesegneten Gaben von Brot und Wein von den Kirchendienern ausgeteilt und von den Kommunikanten mit dem Munde gegessen und getrunken werden.15 Die Gabe der Sündenvergebung (1.) ergibt sich für den Prediger aus dem Namen des Stifters des Mahles und aus den Gaben seines Leibes und Blutes. Der Name Jesu zeigt sein Amt an, von Sünden selig zu machen (Mt 1,21), wozu er „sein heili-
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244. Vgl. Prophetischer Spruch-Postill. Vierter vnd letzter Theil. Darinnen etliche Sprüche auß dem Propheten Esaia vnd Jeremia / welche in den vorigen Theilen nicht vorkommen / erkläret / vnd zu Christlichem Nutzen / im Glauben vnd Leben angewendet werden, Nürnberg 1654, 3. 244. In allen Predigten stellt Glass den Predigtteilen nummerierte lateinische Überschriften voran, so dass der Leser schnell die Predigtgliederung erfassen kann. Zur „Collatio“ als Umsetzung einer „intertextuellen Lektüre biblischer Texte“ gemäß dem Grundsatz, dass die heilige Schrift durch sich selbst auszulegen ist, vgl. Steiger, Philologia (wie Anm. 4), 57. Vgl. 245: „Das erste belangend / so setzen wir als gewiß vnd warhafftig / daß der HErr vnser Heyland / Jesus Christus / in seinem eingesetzten Abendmal allen Christlichen Communicanten / vnter dem gesegneten Brot / seinen wahren Leib / vnd vnter dem gesegneten Wein im Kelch / sein wahres vergossenes Blut / (wiewol verborgener vnd der Vernunfft vnbegreifflicher Weise) mit dem Munde zuessen vnd zutrincken / durch den Diener der Kirchen darreiche / denn das vermögen eigentlich in jhrem klaren Wortverstande verba coenae substantialia, die Gebotsworte des allmächtigen Einsetzers Christi.“
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ges letztes Testament gestifftet / vnd seinen Gnaden=Tisch bereitet“16 hat. Das Wort vom gebrochenen Leib verweist auf das nach I Petr 2,24 um der Sünde willen dargebrachte Kreuzesopfer. Das Kelchwort wiederum verweist in Verbindung mit I Kor 11,25 und Mt 26,28 auf „das newe Testament“ bzw. den „newe(n) Bund Gottes“, der nach Jer 31,33f. und Ez 36,25 „die gnädige Vergebung der Sünden vornemlich in sich fasset“17. Nach der neutestamentlichen Grundlegung fragt Glass, wie „solche Wolthat in vnserm Prophetischen Spruch“ zu „erforschen“ sei. Dass es sich bei dem Hunger und Durst in Jes 55,1–3 um geistliche Bedürfnisse und bei den Gaben um geistliche „Mittel“ der „Ersättigung“ handelt, sieht der Prediger darin bestätigt, dass an anderen biblischen Stellen geistliche Deutungen der erwähnten Gaben zu finden sind. So verweist die Gabe des Wassers nach Ez 36,25 auf die Abwaschung von Sünden, die Gabe des Weines nach Lk 10,34 auf die Reinigung von Gewissenswunden des geistlich unter die Räuber gefallenen Sünders, die Gabe der Milch nach I Petr 2,2 auf das lautere Evangelium, das die Kraft hat, nach Ps 51,9 von Sünden rein und weiß zu machen. Glass beschließt diesen Abschnitt mit einer Liedstrophe, in der der Stifter des Mahls um die im Abendmahl in Aussicht stehen18 de Gabe der Vergebung gebeten wird. Die Heiligung der Seele (2.) als „eine sehr grosse himlische Wolthat Christi“, steht im Gegensatz zum Verharren „in Sünden wider das Gewissen“19. Die Kraft für diese Heiligung gibt Christus durch die Gabe seines Leibes und Blutes, so dass die Empfänger nach Eph 3,16 stark werden am inwendigen Menschen. Die Rede vom Neuen Testament oder Bund zielt angesichts prophetischer Worte wie Jer 31,33 und Ez 36,26f. neben der Sündenvergebung auch auf „die Ernewerung durch den H. Geist“, die durch den Empfang des Bundesblutes im Sakrament „in dem gläubigen Menschen“ gewirkt wird.20 Schließlich dient auch das mit dem Altarsakrament verbundene Gedächtnis Christi nach I Kor 11,26 der Heiligung, was Glass durch Zitate aus II Kor 5,14f. und I Petr 1,17–19 unterstreicht. Der Thüringer verbindet dies mit einer Warnung davor, nur „aus Gewonheit vnd zum Schein“ und ohne den Vorsatz, das eigene Leben zu bessern, zum Tisch des Herrn zu gehen, und einer an Jer 2,32f. und weitere Liedstrophen anknüpfenden Paränese.21 Auch für diese Wohltat des Sakraments findet Glass Hinweise im Predigttext, wo es heißt: „Esset
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246. 247. „Ja HErr JEsu / meine Sünd sind schwer vnd vbergroß / und rewen mich von Hertzen / derselben mach mich quitt und loß / durch deinen Todt und Schmertzen / vnd zeig mich deinem Vatter an / daß du hast gnug für mich gethan / so wird ich quitt der Sündenlast / HErr halt mich fest / deß du dich mir versprochen hast.“ (248, vgl. ELKG 166,2, Konrad Hubert) 248 (unter Hinweis auf II Tim 2,26, Act 8,23, Ps 19,11, Joh 15,6, II Kor 4,16, 7,1, I Petr 1,5). 249. „Wer sich zu dem Tisch wil machen (wird in vnserm Christlichen Communion-Psalm gesungen) der hab wol acht auff sein Sachen / wer vnwürdig hinzu geht / für das Leben er den Todt empfäht.“ „Du solt Gott den Vater preisen / daß er dich so wol thut speisen / vnd für deine Missethat in den Todt seinen Sohn gegeben hat.“ (250f., vgl. ELKG 154,3–4, Martin Luther)
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das Gute / so wird ewre Seele in Wollust fett werden.“ Bedenke man, wie gut die Gaben des Leibes und Blutes Christi sind, so werde unter der Wollust und Fettigkeit „nichts anders verstanden / denn die selige Wirckung des H. Geistes in der gläubigen Hertzen“, wie sie biblisch an vielen Stellen gepriesen wird.22 „Sihe dieses Lob und Preiß Gottes für sein heiliges Wort / vnd der gläubige Gehorsam / so sich dabey befindet / ist die rechte geistliche Fettigkeit / dadurch der Mensch erfrewet vnd erquicket wird / auch in dem Gebrauch des heiligen Abendmals / da man das Gute isset / vnd also an der Seelen in Wollust fett wird / wie Esaias redet. Da schmecket vnd sihet man / wie (gut vnd) freundlich der HErr (Jesus) sey / Psal. 34. v. 9. Freylich schmecket mans / denn es wird ja zuessen dargegeben der wahre Leib des HErrn / vnd zutrincken sein wahres vergossenes Blut / was köndte denn wolschmeckender einer Gnaden=hungerigen vnd Geist=durstigen Seelen gegeben werden? Freylich sihet mans auch / denn es ist diß heilige Sacrament verbum ὀρατὸν, ein sichtbares Wort / oder das warhafftige Evangelische Lebenswort Christi / welches vereinbaret vnd verbunden ist mit dem eusserlichen Siegel des sichtbaren Elements / dadurch der innerliche rechte 23 Schatz vns / laut der Wort der Einsetzung dargegeben wird.“
Auch der dritten Gabe, der Schenkung des ewigen Lebens (3.), wird in den Einsetzungsworten in Gestalt des Namens Jesu gedacht, der „Seligmacher“ bedeutet. Dies wird im Zusammenhang der von Glass zitierten Verse aus I Joh 5,11f.20 dort dargelegt, wo „von der Krafft der zweyen Sacrament / der Tauffe vnd des Nachtmals […] / welcher materia, Wasser vnd Blut / aus der verwundeten Seiten Christi gerunnen“ (I Joh 5,724), und von der Gabe des ewigen Lebens (I Joh 5,11) die Rede ist, zu welchem „Ende das heilige Abendmal eingesetzet sey“25. Ferner weist die Erwähnung des Leibes in den Abendmahlsworten um der Auferstehung Christi willen auf die Gabe des ewigen Auferstehungslebens hin, zu dem die gläubigen Empfänger des Sakraments „auch durch Niessung desselben“ „consecrirt vnd eingeweihet“ werden. Auch die Erwähnung des Blutes Christi zielt auf die Lebensgabe, denn „in demselben ist das Leben / wie im Fürbilde der Opffer angedeutet wird / im 3. B. Mos. 17. v. 11.“ Darum gilt nicht nur, dass Christus als guter Hirte gemäß Hebr 13,20 „durch das Blut des ewigen Testaments“ von den Toten heraufgeführt wurde, sondern auch die Schafe dieses Hirten „durch das Blut des newen Testaments / welches sie im Abendmal trincken / dermal eins am jüngsten Tage von den Todten ausgeführet / vnd hingegen in den Himmel zur ewigen Herrligkeit 26 eingeführet werden.“ Glass lässt eine Collatio von Hebr 9,12, 5,9 und Joh 6,54 22 23
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Glass nennt Eph 3,16f.19, Ps 63,6, 119,7f.11f.62.164.171f.174f. 253. Es folgen Teile einer Strophe des Liedes von Philipp Nicolai „Wie schön leuchtet der Morgenstern“: „Ja HErr Jesu mein trawtes Gut / dein Wort / dein Geist / dein Leib vnd Blut mich innerlich erquicken. Nim mich / freundlich in dein Arme / daß ich warm werd von Gnaden / auff dein Wort kom ich geladen.“ (vgl. ELKG 48,4) Irrtümlich schreibt Glass: V. 3. 253f. 254.
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folgen. Dass Jesus durch das Opfer seines Blutes die Ursache der Seligkeit geworden ist, wird nach Joh 6,54 den Seinen im Trinken des Blutes zugewendet. Die Gabe des ewigen Lebens ist im Predigttext angedeutet, wenn in Jes 55,3 denen, die der Einladung folgen, das Leben in Aussicht gestellt wird. Auch diesen Abschnitt beschließt Glass mit einer Liedstrophe, die in der Sprache der Brautmystik den Dank für die Lebensgabe im Sakrament zum Ausdruck bringt.27 Nachdem er die Gnadenschätze des Sakraments abgeschritten hat, behandelt der Prediger als die drei Eigenschaften, die ihnen gemeinsam sind, ihren Gnadencharakter, ihre Katholizität und ihre Gewissheit stiftende Kraft.28 Der Gnadencharakter wird in Jes 55,1–3 dadurch angezeigt, dass die angepriesenen Gaben durch keine Verdienste erworben werden müssen. Die Katholizität erweist sich darin, dass der prophetische Text eine allgemeine Einladung ausspricht, was Glass zu einem Seitenhieb gegen die calvinistische Lehre von der doppelten Prädestination nutzt. Für die Heilsgewissheit schließlich bürgt sowohl die Rede vom göttlichen Bund als auch von den gewissen Gnaden Davids, die das „Fundament“ „aller vorhergehenden Verheissung“ sind, so dass durch David „niemand anders denn Christus der HErr selbst verstanden“ wird, wie er nach Glass auch in Ps 132,10.17, Ez 29 34,23f., 37,24 und Hos 3,5 „genennet“ wird. So fällt der gepredigte prophetische Text unter das Wort aus II Kor 1,20, wonach in Christus alle Gottesverheißung Ja und Amen ist, was Glass zum Anlass nimmt, den ersten Hauptteil seiner Predigt mit Luthers letzter Vaterunserstrophe zu beschließen.30 Den zweiten Teil seiner Predigt gestaltet Glass als Anleitung zur Selbstprüfung der Kommunikanten. Auch hierzu findet der Prediger „schöne Nachrichtung in vnserm vorhabenden Text / in welchem vns dreyerley […] ins Hertz / dargegeben wird“, nämlich „1. Ardens desiderii affectus“, „2. Ad comedendum & bibendum accessus“ und „3. Mirabilis emptionis actus“.31 Das Verlangen nach dem Sakrament (1.) sieht Glass im prophetischen Text wie in den von ihm aufgeführten Parallelstellen Jes 41,17 und Mt 5,6 angedeutet durch die Rede vom Durst und Hunger. Solch geistliches Begehren aber kommt „aus Erkendnis der Sünden=Schewsal / vnd aus dem fühlen des Zorns vnd Gerichts Gottes im Gewis27
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„Ja / HErr Gott Vater mein starcker Held / du hast mich ewig für der Welt / in deinem Sohn geliebet / dein Sohn hat mich jhm selbst vertrawt / er ist mein Schatz / ich bin sein Braut / sehr hoch in jhm erfrewet / Eya / Eya / himlisch Leben wird er geben mir dort oben / ewig soll mein Hertz jhn loben.“ (255, vgl. ELKG 48,5) Vgl. 255f.: „1. Quod sint gratuita“, „2. Quod sint catholica“, „3. Quod sint certissima“. 257. Glass bietet hier wie häufig in seinen Predigten Hinweise auf rabbinische Schriftausleger, wenn diese die messianische Lesart alttestamentlicher Stellen bestätigen, ohne sie freilich in Jesus von Nazareth erfüllt zu sehen: „inmassen auch Kimhi, ein Jüdischer Rabbi allhier gestehet / daß der HErr Messias verstanden werde.“ Gemeint ist der Hebraist und Exeget David ben Josef Kimchi (1160–1235). „Amen / das ist / es werde war / stärck (HErr Jesu) vnsern Glauben immerdar / auff daß wir ja nicht zweiffeln dran / was wir von dir gebeten han / auff dein Wort in dem Namen dein / so sprechen wir das Amen fein.“ (257, vgl. ELKG 241,9). 257–262.
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sen / dadurch des Menschen Hertz begierig wird / Gnade / Friede / Trost / vnd Frewde zuerlangen / daß die Gebeine frölich werden / die so zuschlagen sind / Psal. 51. v. 10.“ Es kann gemäß Act 4,12 nur von Christus gestillt werden, der „allein das schmack= vnd nahrhaffte Brot des Lebens“ ist: „Dieser hat Wasser der ewigen Erquickung / Milch vnd Wein der himlischen Erfrewung.“32 Zum Ausdruck bringt der Prediger dieses Verlangen durch Aufnahme einer Liedstrophe von Nicolaus Selnecker am Ende des Abschnittes.33 Im nächsten Schritt zieht Glass eine Linie vom prophetischen Text zum liturgischen Vollzug (2.), wenn er darauf hinweist, hier wie dort würden „fast eben solche Wort“ der Einladung laut, nicht nur zu kommen, sondern auch zu essen und zu trinken. „Es sind Vermahnungs=Wort / zu mir / zu dir / vnd allen Christen=Menschen geredet / daß wir kommen / vnd durch die verordente Mittel vns zur ewigen Seligkeit rathen vnd helffen lassen sollen. So lasset vns doch nun diese Beruffsstimme Christi nicht in den Wind schlagen / sondern / vns selbst zum besten / derselben gehorsamlich Folge leisten / vnd zu jhm / vnserm einigen Heylande kmmen / so wol eusserlich seines heiligen Nachtmals zugebrauchen / als auch innerlich vnd geistlich jhn zues34 sen vnd zutrincken.“
Den Glauben, durch den die geistliche Nießung des Sakraments erfolgt,35 sieht Glass angedeutet, wenn im prophetischen Spruch dazu aufgefordert wird, die Ohren zu neigen und das Wort Gottes zu hören, aus dem nach Röm 10,17 der Glaube kommt. Auch hier lässt Glass in direkter Anrede an Jesus eine Liedstrophe folgen, die die Verben „schmecken“ und „dürsten“ aufnimmt.36 Zuletzt thematisiert der Prediger „das wunderbare Kauffen“, wodurch das Sakrament als „Kauffhandel“ prädiziert wird (3.), „welcher in der Welt gantz vngewönlich“ ist, denn deren Art ist es nach Am 8,5f., auch noch die Not der Armen zu Geld zu machen. Glass veranschaulicht dies mit einem Hinweis auf das päpstliche Ablasswesen und bietet dazu romkritische Zitate von dem lutherischen Juristen und 32 33
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258. 259: „[…] allein nach dir HErr Jesu Christ verlanget mich / weil ich hie leb in dieser Welt auff Erden / allein an dich HErr Jesu Christe gläube ich / hoffend gewiß / der Himmel soll mir werden / den du erworben hast mit deinem Blute / am Creutz gestorben mir zu gute / O du Lamb Gottes / erhör mein hertzliches Flehen / mein Augen gehen Himmel sehen“ (Nikolaus Selnecker, Drey Schoene Lieder, Nürnberg 1570, siehe Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Leipzig 1864–1877, Bd. 4, 246, Nr. 350). 259. Auch hier folgt ein Zitat aus der Lebensbrotrede Jesu (Joh 6,53.55–57). Vgl. 259: „Es geschicht aber dieses geistliche essen vnd trincken durch den wahren Glauben / da man das heilige Verdienst vnd vollkommene Gnugthuung Christi vor die Sünde der Welt / durch Gottes des H. Geistes Krafft / im Hertzen jhm selbst zu eigen machet / gleich wie die ernehrende Speise vnd Tranck dem Menschen zum eigentlichen vereinbaret / ja gantz vnd gar in seine substanz, in sein Fleisch vnd Blut verwandelt wird“ (unter Hinweis auf Joh 6,35.40). „Ach HErr Jesu / laß vns in deiner Liebe vnd Erkendnis nehmen zu / daß wir im Glauben bleiben / vnd dienen im Geist so / daß wir hie mögen schmecken / dein Süssigkeit im Hertzen / vnd dürsten stets nach dir“ (Vgl. ELKG 46,3, Elisabeth Creutziger).
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Historiker Johann Wolff (1537–1600) und von Desiderius Erasmus.37 Im Kontrast dazu steht „vnsers hertzlieben Heylandes Gnadenstimme“, die das Brot umsonst darbietet. Glass verweist auf das Vorkommen des Verbums kaufen ( )שׁברim Alten Testament, wo es etwa in der Josefsgeschichte für den Erwerb von Korn gebraucht wird (Gen 43,2, in Glass’ Bibel 42,44). So wie dort Josef am Ende seinen Brüdern das Korn schenkt, erweist sich Jesus gemäß Hebr 2,11 als Bruder der Gläubigen, der ihnen als „himmlischer Joseph“ „das Korn vnd Brot des Lebens vmbsonst“ darreicht.38 Dass das Verbum שׁברauch „zerbrechen“ bedeuten kann, bringt Glass in Verbindung mit der im Zusammenhang mit dem Abendmahl gebräuchlichen Wendung vom Brechen des Brotes. Dieses deutet er hinsichtlich des würdigen Abendmahlsempfangs dreifach als Herzenszerknirschung nach Ps 51,19, als Erinnerung an das Brechen des Leibes Christi, wie es im von Glass mit Luther 1545 zugrundegelegten Mehrheitstext in I Kor 11,24 ausgesagt wird, sowie schließlich gemäß Jes 58,7 als Mahnung, das Brot mit den Hungernden zu teilen. Glass macht sich diese dreifache Deutung so zunutze, dass die Vorbereitung auf den Sakramentsempfang, der Vollzug und die daraus fließende Dankbarkeit in der Liebestat der Empfänger als ein einheitlicher Vorgang zu stehen kommen, in dem es ohne jegliche Verrechnung undenkbar ist, dass ein Glied der Kette fehlt: „Das erste soll von Christlichen Communicanten vor dem Gebrauch des heiligen Abendmals fürnemlich in acht genommen werden / vnd durch wahre Rew vnd Leid vber die Sünde / das Hertz zu würdiger Niessung bereitet werden. Das andere soll im Gebrauch des H. Nachtmals selbst inniglich betrachtet / vnd wie die vnaussprechliche Liebe Christi / die er vns in seinem Leiden vnd Tode erwiesen / auch die hiedurch erworbene Gnadenschätze / fleissig erwogen / zu Hertzen gefasset / vnd der Seelen in wahrem Glauben / zu Trost vnd Stärcke / zugeeignet werden. Das dritte soll nach dem Gebrauch des H. Sacraments / in der That williglich erwiesen / vnd die hertzliche Danckbarkeit gegen Christum / mit wolthun gegen die Armen vnd Dürffti39 gen / beständiglich bezeuget werden.“
Auch diesen Teil und damit die gesamte Predigt lässt Glass mit Liedstrophen ausklingen.40
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Johann Wolff, Lectiones Memorabiles, Lauingen 1600; Erasmus, Adagia, Paris 1500, I, IX, 12. 261. 262. Es handelt sich hier um die Strophen 4–8 des Liedes von Ludwig Helmbold „Nun lasst uns Gott dem Herren“ (vgl. ELKG 227,4–8).
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Die zweite Abendmahlspredigt über Sach 9,16f. 41
Dafür, dass Sach 9 „fast durchaus von dem newen Testament / vnd der Zeit des Messiae“ redet, beruft Glass sich auf die Rezeption von Sach 9,9 im Evangelium zum Palmsonntag aus Mt 21,1–9, an dem er Sach 9,10–12 seiner Predigt zugrunde gelegt hatte, zumal die Worte aus Sach 9,11 vom Blut des Bundes bereits voraus auf das Karfreitagsgeschehen deuten.42 Die Beobachtungen an Sach 9 verbindet Glass mit einer „inventio a nomine“, einer geistlichen Deutung des Prophetennamens, der in seiner Botschaft seinen Namen insofern in die Tat umsetzt, als diese – wie das Altarsakrament – dem „Gedächtnis des HErrn“ dient.43 Seine Predigt gliedert Glass in vier Teile, in denen es um den Stifter, um die Gäste, um die Gabe und um den Nutzen des Sakramentes geht, wobei er in den lateinischen Überschriften den jeweiligen Themen gemäße Begriffe für das Abendmahl wählt.44 Als Schriftbeweis für Christus als den Stifter des Mahls (I.) zitiert Glass I Kor 11,23, um sich dann dem prophetischen Spruch zuzuwenden. Wie darin der Erlöser vorgestellt wird, nämlich erstens „als der allmächtige Gott vnd HErr“ und zweitens „als der allerholdseligste Heyland“, hilft bei der Aufgabe, vom „Herren-mal desto füglicher vnsere Christliche Gedancken“ anzustellen.45 Dass es der allmächtige Gott ist, der sich anschickt, selbst als Herr seines Volkes aufzutreten, wird in der Aufnahme des Gottesnamens in Sach 9,16 erkennbar. Dass Christus dieser Herr ist, unterstreicht Glass mit Röm 10,12 und I Joh 5,20. Daraus ergibt sich, dass der „Sohn Gottes vnd Mariae“ „in einer vnzertrenten Person der HErr“46 ist, der auch in seiner in Sach 9,9 bezeugten Niedrigkeitsgestalt die Allmacht hat, sich mit seinem Leib und Blut überall gegenwärtig zu setzen und zu geben, wo das Sakrament gehalten wird.47 Die Prädikation des Mahlstifters und Hirten als Heiland sieht Glass darin 41
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Der Text in Glass’ Bibel lautet: „Der HErr jhr Gott wird jhnen zu der Zeit helffen / wie einer Herde seines Volcks / denn es werden in seinem Lande heilige Steine auffgerichtet werden. Denn was haben sie guts für andern / vnd was haben sie schönes für andern? Korn / das Jüngliche / vnd Most / der Jungfrawen zeuget.“ 263. 264. Vgl. 264ff.: „I. De Institutore hujus Sacramenti“, „II. De hospitibus S. coenae“, „III. De materia SS. Eucharistiae“, „IV. De fructibus & commodis SS. Synaxeos convivii“. 265f. Hier klingt eine der Bestimmungen der Zweinaturenlehre des Chalcedonense an (vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014, 1613,2). Vgl. 265f.: „Wenn nun allhier menschliche Vernunfft viel klügelns machen / vnd die wahre Gegenwart vnd mündliche Niessung des Leibs vnd Bluts Christi entweder in Zweiffel ziehen / oder derselben aus jhrer eignen Witz vnd Gedancken / gantz vnd gar sich widersetzen wil / ey so bleibe du / lieber Christ / in einfalt bey der Warheit der Wort Christi / […] vnd sprich in deinem Hertzen also: Verstehe ichs nicht / wie es mit diesem Göttlichen Geheimnis beschaffen sey / so weis ich doch / daß es warhafftig also sey / denn die Wort des HErrn können nicht liegen / So ist er auch allmächtig / vnd wird das jenige / so er versprochen vnd verordnet / wol zu leisten wissen / wie vngereimpt es auch meiner Vernunfft vorkomme vnd scheine.“ Es folgen Kirchenväterzitate von Johannes Damascenus und Bernhard von Clairveaux.
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angedeutet, dass von Gott in höchster Verbundenheit mit seinem Volk die Rede ist, wenn er sich als „ihr Gott“ verkünden lässt, was Glass unter Verweis auf II Kor 6,16 auf die Christenheit bezieht.48 Darüber hinaus ist es die Ankündigung des Helfens, die auf die Figur des Heilandes verweist. Dieser hat in seinem letzten Testament „vns sein Leib / den er das ewige Heil zuerwerben in den Todt dahin gegeben / zuessen / vnd sein Blut / welches er am Stam des Creutzes für vnsere Sünden vergossen / zutrincken verordnet / damit er auch durch dieses heilwertige Mittel / als vnsern Heyland / sich erweisen / vnd vns zu dem ewigen Heil kräfftiglich erquicken vnd erhalten möchte. Welcher Bericht vns zu hertzlicher Andacht vnd Demut im Gebrauch dieses Gnaden=Tisches / ja auch zu offtern Gebrauch desselben anreitzen vnd bewe49 gen soll.“
Das Altarsakrament erweist sich so als Konkretion des Heilandswirkens Christi, der darin der geistlichen Not der Seinen Abhilfe schafft, so dass Glass diesen Teil abschließt, indem er den Kommunikanten ein den Heilandsruf aus Mt 11,28 aufnehmendes Sakramentsgebet in den Mund legt.50 Damit ist der Übergang zum Teil über die Kommunikanten vollzogen (II.). Diese sind zuerst die Apostel, da sie von Christus zu Zeugen erwählt und mit ihrem Zeugnis zum Grund der Kirche gelegt wurden, wie die Collatio von Act 1,25, 10,41, Jes 28,16, I Kor 3,11, Apk 21,14.19 und Eph 2,20 unterstreicht.51 In der Rede von den „heiligen Steinen“, deren Aufrichtung in Sach 9,16 in Verbindung mit der Zuwendung Gottes verheißen wird, erkennt Glass eine Analogie zur Rede von den Aposteln als Grund und Fels der Kirche. Angeregt durch eine Quelle rabbinischer Schriftauslegung52 verweist er mit Ex 28,15ff. auf die zwölf Edelsteine am Leibrock der alttestamentlichen Priester, die die zwölf Stämme Israels repräsentieren, „wel48 49 50
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Vgl. 266. 266f. Vgl. 267: „Wir sind an vnsern Seelen kranck / sihe Jesus vnser himlischer Artzt gibt sich selbst / sein Leib vnd Blut / vns zur kräfftigen Artzney: Wir sind vnrein vnd sündhafft / Jesus will vns allhier reinigen: Wir sind blind / Jesus will vns erleuchten: Wir sind arm und elend / Jesus will vns an unser Seelen reich machen: Wir sind verlohren / Jesus will vns suchen vnd zum Himmel führen: Wir sind verdambt / Jesus will vns selig machen. Er rufft vnd spricht: Kompt her zu mir / alle die jhr müheselig vnd beladen seyd / ich wil euch erquicken / Matt. 11. v. 28. Ach so komme ich nun / hertzliebster trauter HErr Jesu / zu dir als meinem Seelenartzt / O HErr heile mich! Ich komme als ein Unreiner / O HErr / reinige mich! Als ein Blinder / O HErr erleuchte mich! Als gantz arm und dürfftig / O HERR / mache mich an meiner Seelen reich! Als verlohren / O HErr suche mich! Als verdambt / O HErr mache mich durch dein Wort vnd Sacrament selig.“ Vgl. 267f. Es handelt sich um ein von Glass als Chaldaeus oder chaldäische Paraphrase bezeichnetes Werk, das auch in der Bibliothek seines Lehrers Johann Gerhard vorhanden war und dort verzeichnet ist. Vgl. Johann Anselm Steiger, Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u.a.) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplanes von Glassius und einer Bibliographie der von ihm konzipierten Studentenbibliothek, in: Christiane Caemmerer u.a. (Hg.), Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997, Amsterdam 2000 (= Chloe 33), 191–252, hier: 195.
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ches gar fein auff die zwölff Aposteln Christi in geistlichem Verstande köndte gezogen werden / zumal / weil an vorgedachtem Ort der Offenbarung Johannis fast einerley Edelsteine mit jenen beniemet / vnd von den H. Aposteln verstanden werden“. Angemessen ist diese von Glass im Konjunktiv als Veranschaulichung kenntlich gemachte Auslegung für ihn auch deshalb, weil im prophetischen Text des Landes gedacht wird, auf dem die Steine aufgerichtet werden, denn damit werden dieselben als „Gedencksteine […] vorstellig“ gemacht, was sich „recht fein auff vnsern gegenwertigen Scopum vnd Zweck“ reimt, „da wir vom hochwürdigen Sacrament des Abendmals handeln“, das von Christus zu seinem Gedächtnis eingesetzt ist. Damit aber hat er die Apostel „gleichsam zu geistlichen Gedencksteinen auffgerichtet vnd verordnet / daß durch sie das Gedächtnis des HErrn Jesu bis ans 53 Ende der Welt […] ausgebreitet vnd erhalten werden solle“ . Als weitere „feine Bilder altes Testaments“, die hierzu nützlich betrachtet werden können, nennt Glass die in Gen 28,18, Ex 17,15, Dtn 27,2f. und Jos 4,9f. erwähnten Steinmäler, die mit Attributen versehen sind, die geistlich mit den Aposteln in Verbindung gebracht werden können.54 Wie von aufgerichteten Panierzeichen gilt von den Aposteln: „dieselbigen werden auch darumb auffgerichtet werden vnter den Heyden / als heilige Steine und Streitzeichen oder Malstete / in der Christenheit / dahin alle Christen schauen / vnd sich nach ihrer Lehre richten werden / damit Einigkeit der Lehre vnd des Glaubens bleibe / und nicht ein ieglicher ein eigene Lehre vnd Meisterschafft anrichte / damit die Herde zurtrennet / vnd Rotten im Glauben 55 werden.“
Eine weitere alttestamentliche Analogie ist die Aufrichtung der ehernen Schlange nach Num 21,9, in der die Aufrichtung des Kreuzes Christi als Panier angedeutet wird, welche die Apostel als „geistliche […] Fähnriche“ „in der streitenden Kirchen allhier auff Erden“ dadurch vollziehen, „daß von jhnen / vnd aus ihren Schrifften / der gecreutzigte / ertödtete vnd wieder aufferstandene Heyland erkennet / vnd durch dieses Erkendnis des Heils wider den Teuffel vnd die Welt durch Gottes Krafft gestritten werden soll: Darzu sie vnter andern auch in der ersten Einsetzung des hochwürdigen Abendmals verordnet worden / in dem der HERR das Gedächtnis seines zerbrochenen Leibes / vnd vergossenen Blutes / jhnen so thewr anbefoh56 len.“ Kurz kommt Glass auf die Predigthörer zu sprechen, „die sich selbst prüfen 53 54
55 56
268. Das in Gen 28,18 vergossene Öl liest Glass als Hinweis auf das Freudenöl des den Aposteln gegebenen Geistes Gottes, der sie dazu befähigt, das Lehramt im Haus Gottes (Bethel) nach I Tim 3,15 auszurichten. In Anknüpfung an Ex 17,15 formuliert er, die Apostel seien insofern ähnliche Malzeichen, da „ihr Wort mit den H. Sacramenten / ein kräfftiges Mittel (ist) / dadurch wider den höllischen Amaleck und grawsamen Feind / den Teuffel / gestritten wird in der Christlichen Kirchen / von Kind zu KindesKind / vnd bis an der Welt Ende.“Auch die in Dtn 27,2f. und Jos 4,10 erwähnten Steinmäler deutet Glass figürlich auf die Apostel, die Christus als „der himmlische Josua“ „zum Gedächtnis seiner Wunder“ aufgerichtet hat (269f.). 271. 271f.
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können / vnd also zu diesem himlischen Herrenmal sich finden / jhre Seelen zuerquicken / vnd in dem Leben / das aus Gott ist / sich zuerbawen“57. Dass das Sakrament für die ganze Christenheit eingesetzt ist, machen die Worte aus I Kor 11,26 deutlich, wonach es gehalten werden soll, bis der Herr wiederkommt. Da die Tischgäste zur von Gott geweideten Herde gehören, spricht das prophetische Wort auch von ihnen, wobei Christus gemäß Ez 34,14, Ps 23, Sach 13,7 und Hebr 13,20 der gute Hirte ist, der seine Schafe insofern auf beste Weide führt, als er sogar sich selbst zur Speise und zum Trank gibt, wofür ihm Dank geschuldet wird, wie Glass diesen Teil abschließend mit den Worten von Ps 103,2–4 bekräftigt.58 Die Gabe des Sakraments (III.) bestimmt Glass unter Hinweis auf I Kor 10,16 als eine doppelte, irdische und himmlische, die kraft der Worte Christi miteinander verbunden werden, so dass die Nießung von Brot und Wein den Empfängern Anteil gibt am Leib und Blut Christi.59 Der Grund für diese Lehre sind die Einsetzungsworte,60 mit denen Christus die Gaben darreicht, woran gegen alle Vernunfteinwände festzuhalten ist, was Glass mit Worten aus Luthers Bekenntnis vom Abendmahl unterstreicht. Bei der Frage, wie diese beiden Seiten des Sakraments im prophetischen Wort vorkommen, verweist er auf die Erwähnung von Korn und Most für die irdischen Elemente. Dabei steht das Korn im Sinne einer Metonymie für das Brot, das nach Ps 104,14 dazu dient, des Menschen Herz zu stärken. Die Erwähnung des Mosts oder neuen Weins verweist auf drei Beschaffenheiten des Altarsakraments, nämlich darauf, dass es hier um den neuen Bund geht, dass dieser Trank 61 „lieblich vnd süsse ist“ und dass „in dem Most grosse Krafft sich ereuget“. Die himmlische Seite der Abendmahlsgabe wird angedeutet durch die Frage, was die Adressaten des prophetischen Wortes an Schönerem im Vergleich zu andern Menschen haben werden. Glass macht sich diese Redeweise zu eigen, indem er den Aspekt der Schönheit unter Hinzuziehung christologisch gedeuteter Worte des Hohelieds und des Psalters auf den Leib Christi bezieht: „Bey der angedeuteten Schönheit erinnern wir vns des heiligen Leibs Christi / der vns im gesegneten Brot gegeben wird. Was ist schöner denn derselbige? Mein Freund ist weis vnd roth / auserkohrn vnter viel tausent. Sein Leib ist wie rein Helffenbein mit Sapphiren geschmückt / rühmet von jhm seine geistliche Braut / die 57 58 59
60 61
272. Vgl. 272f. Vgl. 273: „Belangend nun ferner das jenige / was vns im Sacrament des heiligen Tisches Christi zuessen vnd zutrincken dargereichet wird / so ist solches zum theil irrdisch / nemlich Brot vnd Wein / zu theil himlisch / nemlich der wahre Leib vnd das wahre Blut Christi: Welche Stück / Brot vnd der Leib Christ / Wein vnd das Blut Christi / in Krafft des warhafftigen Worts seiner Einsetzung / genaw vereinbaret / vnd zugleich mit dem Munde (wiewol was die himlische Ding / nemlich den Leib vnd das Blut Christi anlangt / auff vnausdenckliche vnd gäntzlich verborgene Weise) zuessen vnd zutrincken dargereichet werden / also daß in solcher Niessung des H. Sacraments / das Brot die Gemeinschafft des Leibs Christi / vnd der gesegnete Kelch […] die Gemeinschafft des Blutes Christi ist […]“ Vgl. 273: „Vnd gründet sich diese Lehre / wie gesagt / auff die Wort der Einsetzung […]“ 274f.
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Christliche Kirche / im Hohenlied Salom. 5. v. 10/14. Du bist der schönest vnter 62 den MenschenKindern / singen von jhm die Kinder Korah Psal. 45. v. 4.“
Verweist somit die Schönheit auf den Leib, so die im prophetischen Text ebenfalls angedeutete „Güte“ auf das Blut Christi. Glass erinnert dafür an das auf vorbildliche Menschen gemünzte Sprichwort: „Es ist dieses gut Geblüte.“ Sogleich kommt er aber auf die erbsündliche Verdorbenheit zu sprechen, die verursacht, dass der natürliche Mensch „vnreinen vnd faulen Geblüts“ ist.63 Um so herrlicher erstrahlt die Güte der Abendmahlsgabe. „In Christo Jesu aber finden wir das recht köstlich gute Blut / so wol affectivé, wie es an jhm selbst ist“, „als auch effectivé, was seine Krafft vnd Wirckung anlanget / denn es hat vns das ewige Gut erworben / vnd da wir von Natur grundböse sind / so machet es vns für Gott gerecht vnd gut“ (jeweils unter Hinweis auf Hebr 9,1464). Die Antwort also auf die Frage, was die Christen Gutes und Schönes haben, lautet: „Sie haben vnd empfangen im H. Abendmal den allerschönsten Leib jhres Erlösers Christi / vnd das allerbeste köstlichste thewre Blut desselbigen.“65 Den Worten des Propheten sind schließlich „siebenerley Früchte des H. Abendmals“ bzw. „Nutzbarkeiten“ „dieser hochheiligen Malzeit“ zu entnehmen (IV.), nämlich „1. Alimentatio“, „2. Confortatio“, „3. Foecundatio“, „4. Purificatio“, „5. Vivificatio“, „6. Laetificatio“ und „7. Glorificatio“.66 Angedeutet ist der Nährwert des Sakraments (1.) durch die Rede vom Korn und Most. In paradoxer Analogie zu den gesundheitsförderlichen Wirkungen von Brot und Wein, die sich dadurch entfalten, dass diese Gaben „zum allergenawesten mit des Menschen Leib vereinbaret / vnd in desselben substanz verwandelt werden“, gilt vom Sakrament: „Also gibt vns Christus der HErr vermittels des gesegneten Brots vnd Weins / seinen wahren Leib zuessen / vnd sein wahres Blut zutrincken / damit er in vns wohnen / sich auffs genaweste mit vns aus Liebe vereinigen / vnd zwar nicht sich in vns / sondern vns in jhn (nicht wesentlich / sondern geistlich durch den Glauben) verwandlen / vnd der Göttlichen Natur theilhafftig machen möge / 2. Pet. 1. v. 4. Damit er also in dieser heiligen Vereinigung vns Krafft gebe nach dem Reichthumb seiner Herrligkeit / starck zu werden durch seinen Geist / an dem inwendigen Menschen / Eph. 3. v. 16. vnd derselbige seine geistliche Nahrung vnd Wachsthumb von dieser inwohnenden Göttlichen Fülle stetiglich nehmen möge / v. 19. Vnd kan hieher füglich ge-
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275. Glass leitet unmittelbar über in ein Augustinzitat zu Ps 45,3 (Enarrationes in Psalmos 44.3, 496): „Christus est pulcher in coelo, pulcher in terra, pulcher in utero, pulcher in manibus parentum, pulcher in miraculis, pulcher in flagellis, pulcher invitans ad vitam, pulcher non curans mortem, pulcher deponens animam, pulcher recipiens, pulcher in ligno, pulcher in sepulchro.“ 275. Glass schreibt versehentlich Hebr 7,14. 276. 276–283.
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bracht werden / was Christus der HErr selbst sagt / Joh. 6. v. 56. Wer mein Fleisch is67 set / vnd trincket mein Blut / der bleibt in mir / vnd ich in jhm.“
Dass bei Sacharja das Korn für Jünglinge bestimmt ist, deutet an, dass die Gabe des Sakraments tüchtig macht für den geistlichen Lebenslauf (2.), so dass die Empfänger in der Kraft des Herrn einhergehen (Ps 71,16; Ps 119,32). Wo die von Christus erworbenen Wohltaten „versiegelt / befestiget vnd bekräfftiget“ werden durch die Nießung des Leibes und Blutes Christi, da muss keiner schwach bleiben (Jes 33,24), weil allen der Schutz Gottes zur Verfügung steht (Sach 9,15, 10,3.5.12 mit Jes 40,29–31). Die Rede von Jünglingen und Jungfrauen wiederum verweist auf die geistliche Fruchtbarkeit als Wirkung des Sakraments (3.), wie Luther in einer von Glass zitierten Glosse zur Stelle schreibt: „Das Evangelium ist ein solches Wort / das nit Kinder zeuget / die in der Wiegen ligen / sondern wenn sie gezeuget sind / sind sie junge Gesellen vnd Jungfrawen / zur Ehe tüchtig / das ist zu lehren vnd andere geistliche Kinder zuzeugen.“ Wieder gilt nach Glass, dass das, was vom Evangelium gerühmt wird, auch vom Sakrament gilt, „weil es ebenmessig ein Göttliches Mittel ist / von Christo geordnet vnd eingesetzt / dadurch der gläubige Mensch in seinem Hertzen angefewret vnd angereitzet werden soll“, nicht allein seiner zu gedenken, sondern nach I Kor 11,26 auch den Tod des Herrn zu verkünden. Solches Verkünden aber bleibt nicht ohne Wirkung und ist daher „das geistliche Kinderzeugen“, 68 „von welchem Esa. 66. v.7/8. 1. Cor. 4. v. 15. Gal. 4. v. 19. geredet wird“. Die Reinigung der Seelen zum freudigen Gehorsam (4.) wird in Sach 9 angedeutet, wo vom Zeugen der Jungfrauen die Rede ist. Während der natürliche Wein bei Missbrauch „zur bösen Lust“ reizt, wirkt der Wein des Evangeliums dämpfend auf die böse Lust und als Arznei gegen böse Gedanken. Daher gilt: „Eben dieses kan vnd sol vom hochheiligen Nachtmal des HErrn gerühmet werden / denn wir sind alle zu einem Geist geträncket / 1. Cor. 12. v. 13. das ist / es wird der gesegnete Kelch neben dem gesegneten Brot vns darumb zugeniessen gegeben / damit die 69 Gaben des inwohnenden H. Geistes in vns mögen vermehret werden.“ Die Unsterblichkeit als Frucht des Sakraments (5.) leuchtet für Glass in der Wendung des Zeugens von Jünglingen und Jungfrauen im Prophetenwort auf. Gemäß einer Collatio von Hi 33,24–26 und Joh 6,54 lässt sich das Sakrament als die Speise erkennen, wodurch übernatürliches Leben gegeben wird. So wie Christus nach Röm 6,9 nicht mehr stirbt, bereitet sein Leib, der im Mahl gegessen wird, unsern nichtigen Leib zu, so dass er nach Phil 3,21 in der Auferstehung dem verklärten Leib Christi ähnlich wird. Analog gilt vom Blut Christi, das vergossen wurde, „damit wir der höllischen Pein entfliehen / vnd des ewigen Lebens theilhafftig werden möchten“: „Solte 67 68 69
276f. Es folgen Kirchenväterzitate von Hilarius, Cyrill von Alexandrien und Augustinus. 278f. 279. Es folgt ein Hieronymuszitat, in dem der Kirchenvater die Frucht des Abendmahls mit der Jungfräulichkeit der Vollendeten nach Apk 14 in Verbindung bringt (In Zachariae Prophetae Cap. IX., 1763f.).
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es denn im H. Abendmal getruncken / vnd in wahrem Glauben angenommen / zu solchem Leben die Gläubigen nicht gleichsam balsamirn / vnd vor der Fäule des ewigen Todes kräfftiglich bewahren?“ Somit bietet Christus sich im Sakrament als „himlischen LebensBaum“ nach Apk 2,7 und 22,2 dar: „Wer desselben Früchte in wahrem Glauben isset / der wird leben in Ewigkeit“, was Glass mit einem Zitat aus dem Epheserbrief des Ignatius von Antiochien unterstreicht, in dem dieser das Sakrament als „pharmacum immortalitatis“ bezeichnet.70 Die Fröhlichkeit als Freude im Geist und Trost im Kreuz (6.), wie sie aus dem „Gebrauch“ des „heiligen Tisches“ Christi erwächst, sieht Glass durch den Most angedeutet, der nach Jdc 9,13 Götter und Menschen fröhlich macht. Das gilt von der Seele, die nach Eph 2,4–6, Jes 53,5, II Kor 12,9f. der Barmherzigkeit, des Friedens und der Gnade gedenkt, die Christus für die Seinen bereit hält. So lädt Glass seine Hörer ein, in Aufnahme von Ps 84 „mit der H. Monica nach dem heilsamen Gebrauch dieses thewren werthen Seelen=Schatzes / zu singen: Cor meum & caro mea exultaverunt in DEUM vivum. Et: volemus in coelum, linquamus terram, volemus in coelum.“ So geht in Erfüllung, was in Jes 65,13f. „von der Zeit des newen Testaments vermeldet wird“, dass nämlich die Knechte Gottes essen, trinken 71 und fröhlich jauchzen. Für die Glorificatio als Frucht des Mahls (7.) behilft Glass sich mit dem Hinweis auf Übersetzungsvarianten, die vom Most reden, der Jungfrauen singend macht. Dass Jünglinge und Jungfrauen zum Gotteslob aufgerufen sind, sagt auch Ps 148,12f. Den Verbindungspunkt im Sakrament findet Glass wieder bei Paulus: „Das heisset / im Gebrauch des Abendmals den Todt des HErrn verkündigen / 1. Cor. 11. v. 26. vnd jhn vor sein gantzes heiliges Versöhnopffer loben / ehren vnd rühmen.“ Das aber ist die Ursache, weshalb „dis heilige Sacrament von alters her Eucharistia, das ist / Danck vnd Lob / in der Christlichen Kirchen genennet worden. Hat es doch der HErr selbst mit Dancksagung eingesetzt […] Solten wirs denn nicht viel mehr mit inniglicher Dancksagung halten vnd gebrauchen“, wie es nach Act 2,46f. von den ersten Christen bezeugt wird. Dies ist die geistliche Trunkenheit nach Eph 5,18f. und „das geistliche Räuchopffer des Lobs vnd Dancks“ gemäß Hebr 13,15 und Ps 50,14, „vmb welches willen / vnter andern Ursachen / das Sacrament vor Alters θυσία ein Opffer genennet wurde“. Solch wohlriechendes Lobopfer wird in der Septuaginta auch im prophetischen Spruch verortet, wenn es heißt, der Wein gebe den Jungfrauen „einen guten Geruch“, was nichts anderes bedeutet, als dass sie ertüchtigt werden, „das geistliche Räuchopffer des Preises vnd 72 Dancks / zum süssen Geruch dem HERRN darzubringen“. Glass schließt entspre73 chend seine Predigt mit einer doxologischen Liedstrophe. 70 71 72 73
280f. 281–283, auch diesen Teil beschließt Glass mit Kirchenväterzitaten von Cyprian und Thomas von Aquin. Zum gesamten Abschnitt: 283f. 284 (vgl. ELKG 166,4).
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3.
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Schluss
Die Bedeutung der Predigtpostillen für die Theologie- und Mentalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit darf nicht unterschätzt werden. „Postils were nothing less than the applied distillation of Christianity delivered on a regular basis by the clergy to the laity.“74 Die beiden Gründonnerstagspredigten von Glass bieten eine intertestamentarische, bis in die christliche Antike und ins rabbinische Judentum zurückgreifende Schriftauslegung dar, in der die Liturgie und Hymnologie der Kirche Berücksichtigung finden und mit der überkommenen und biblisch verantworteten terminologischen Vielfalt für das Altarsakrament als Synaxis, Eucharistie und Opfer unbefangen umgegangen wird. Ebenso fällt auf, dass Joh 6 von Glass ohne Umschweife auf das Abendmahl bezogen wird. Dabei geht der Thüringer durchweg von der durch die Einsetzungsworte begründeten Lehre von der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi aus. Zugleich verhilft ihm der gesamtbiblische Horizont der in eben diesen Worten aufgerufenen Motive in Aufnahme der Vielfalt der alttestamentlichen Bilderwelt dazu, das Abendmahl nicht nur als Glaubenswahrheit, sondern auch in seiner lebensprägenden Kraft und sinnlichen Gestalt auszuloten. Da die Abendmahlsgabe wie der gott-menschliche Stifter des Mahls von himmlischirdischer Wahrheit, Güte und Schönheit ist, eignet ihr die Wirkmacht, die Empfänger des Mahls kraft ihrer Vereinigung mit Christus im Glauben zu gründen, im Leben zu heiligen und sie mit Leib und Seele ins gesamtbiblische Panorama der ecclesia universalis einzuzeichnen. Dogmatik, Ethik und Ästhetik fallen im Altarsakrament in eins und empfangen hierin einen gemeinsamen Ausgangspunkt, zu dessen würdiger Wahrnehmung sie zugleich anleiten. In höchster Intensität vollzieht sich im Altarsakrament die bereits alttestamentlich vielfältig bezeugte Speisung des Gottesvolks durch den Gott, Heiland und guten Hirten, der sich für solche Zuwendung Gedächtnisorte in dieser Welt wählt und als Fleischgewordener am Ende gar sich selbst zur Speise gibt. Damit aber bereitet er die Seinen vor auf das Eschaton, in dem er, der schon alttestamentlich in Worten, Taten und schönen Figuren allenthalben gegenwärtig und wirksam ist, endgültig alles in allem sein wird – mit Worten von Glass’ Lehrer Johann Gerhard gesprochen: „Dem Gesicht wird er eine schöne sein / dem geschmack Honig / dem gehör eine Harffe / dem Geruch ein Balsam / dem fülen eine Blum. Gott wird alles sein / vnd wird die Güter einem 75 jeden nach seines Hertzens begierde außtheilen.“
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John M. Frymire, The Primacy of the Postils. Catholics, Protestants, and the Dissemination of Ideas in Early Modern Germany, Studies in Medieval and Reformation Traditions 147, LeidenBoston 2010, 443. Johann Gerhard, Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch (Doctrina et Pietas I, 3.2), Stuttgart 2000, 570.
Die einigende Mitte – systematisch-theologische Perspektiven
Selbstbestimmt Sterben? Diskussion christlicher Argumentationen für die Sterbehilfe Frank Martin Brunn Es dürfte kaum einen Menschen in unserem durch Christentum und Aufklärung geprägten Kulturkreis geben, der oder die für sich nicht mehr oder weniger deutlich in Anspruch nimmt, ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen. Luthers Reklamation der Gewissensfreiheit und Kants Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, stehen exemplarisch für die theologischen und philosophischen Traditionen des deutschen Sprachraums, die sich im Ideal eines selbstbestimmten Lebens bündeln lassen. Doch wie lässt sich ein selbstbestimmtes Leben führen? Es muss in innerer und äußerer Auseinandersetzung mit denjenigen Entitäten geschehen, die das gelebte Leben geprägt haben und das noch zu lebende Leben prägen. Selbstbestimmt zu leben bedeutet, äußere Freiheiten von der inneren Freiheit her zu gestalten und mit äußeren Begrenzungen aus innerer Freiheit heraus umzugehen. Es gibt kaum andere äußere Begrenzungen, die die innere Freiheit so sehr angreifen wie große Schmerzen und das eigene Sterben. Weil der unweigerlich irgendwann jeden Menschen betreffende Tod die innere Freiheit sehr bedrängt, brechen Debatten über die Möglichkeiten von Hilfe beim Sterben und zum Sterben immer wieder auf, im öffentlichen wie im privaten Raum. In der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten von Sterbehilfe berühren sich Ethik und Seelsorge. Hier lässt sich zeigen, dass eine auf Seelsorge ausgerichtete Christologie für die ethische Orientierung gut und für die Seelsorge nützlich ist und zu einer einigenden Mitte im Konzert vielfältiger christlicher Positionen in der Ethik verhelfen kann. Darum soll in diesem Aufsatz auch nicht das ganze Für und Wider der Sterbehilfedebatten dargestellt werden. Im Fokus stehen lediglich zwei christlich motivierte Begründungsmodelle für Beihilfe zum Suizid, die in den letzten Jahren vorgebracht wurden, das der evangelischen Theologin Anne Schneider und das des römisch-katholischen Theologen Hans Küng. Ihnen wird eine christologische Perspektive entgegengestellt. Eingangs will ich ganz knapp die Eckpunkte der gegenwärtigen Sterbehilfediskussion in Deutschland skizzieren (1). Dann umreiße ich prägende Erfahrungen von Küng und Schneider, die zur jüngeren Diskussion mit ihren aus ihrem christlichen Glauben begründeten Stellungnahmen für die Beihilfe zum Suizid erneut beigetragen haben (2). Zur Orientierung wird im dritten Abschnitt die oft als über-
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holt bezeichnete aber dennoch hilfreiche Unterscheidung von vier Typen von Sterbehilfe dargestellt (3). Anschließend werden die christlichen Argumente für die Sterbehilfe diskutiert, überwiegend diejenigen, die Schneider und Küng vorbringen (4). Weil diese Argumente sich als nicht stichhaltig erweisen, wird abschließend nach Leitbildern für selbstbestimmtes Sterben Ausschau gehalten und dafür die Christologie nutzbar gemacht (5). Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag ab (6). 1.
Eckpunkte der gegenwärtigen Sterbehilfediskussion
In den etwa ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts war die Diskussion um Sterbehilfe stark geprägt von der Frage nach der Legitimität einer Beihilfe zum Suizid. Die christlichen Kirchen haben ihre gemeinsame Position zur Sterbehilfe 1989 grundsätzlich in dem ökumenischen Papier „Gott ist ein Freund des Lebens“ dargelegt.1 Darin betonen sie, dass die Würde Sterbender unbedingt zu achten ist, und heben das Selbstbestimmungsrecht sterbender Menschen hervor. Aus der Menschenwürde folgern sie die Verpflichtung, auf eine Bemessung des Wertes eines Lebens, auch des eigenen, zu verzichten. Das Papier betont, dass Menschen, die sich das Leben nehmen möchten oder an andere den Wunsch richten, ihr Leben zu beenden, mit intensiver Zuwendung begegnet werden solle und ihnen dazu verholfen werden solle, auch das eigene Leben als wertvoll zu erachten. Im Jahr 2002 hat die Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Argumentationshilfe zu bioethischen Fragen vorgelegt, in der sie auch auf 2 ethische Fragen am Lebensende eingeht. Darin wird aufgezeigt, wie das Recht auf Selbstbestimmung zu einer belastenden Pflicht zur Selbstbestimmung unter der Last von Krankheit und sozialen Erwartungen werden kann. Auf dieser Linie hat die Kammer für öffentliche Verantwortung 2008 mit dem Text „Wenn Menschen sterben wollen“ eine differenzierte Betrachtung der Situation Sterbender dargelegt.3 Der Text ist ein Beitrag zur Diskussion um einen Gesetzesentwurf, der ärztlich assistierten Suizid regeln und möglicherweise die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen legalisieren soll. Der Text unterscheidet eine individualethische und eine sozialethische Perspektive auf die Thematik. In individualethischer Perspektive wird mit dem Bemühen um Verständnis der mögliche Todeswunsch Schwerstkranker besprochen. In sozialethischer Perspektive wird zu bedenken gegeben, dass jede gesetzliche Ermöglichung des ärztlich assistierten Suizids Einfluss auf die 1
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3
Deutsche Bischofskonferenz, Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens, Bonn/Hannover 1989. Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD (Hg.), Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen. Argumentationshilfe für aktuelle medizin- und bioethische Fragen, EKD Texte 71, Hannover 2002. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung, EKD Texte 97, Hannover 2008.
Selbstbestimmt Sterben?
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Haltungen in der Gesellschaft zu Leben und Sterben hat und sich darauf auswirkt, wie Menschen die Verantwortung füreinander wahrnehmen. Im Sinne der Kammer für öffentliche Verantwortung muss es in der Gesellschaft möglich sein, das eigene Leben im Sinne eines Sich-Führen-Lassens zu verstehen. Daher dürften gerade Sterbende durch rechtliche Möglichkeiten nicht in die Situation gebracht werden, dass sie sich zu der Entscheidung gedrängt fühlen, das eigene Leben zu beenden. Sterbebegleitung statt organisierter Sterbehilfe wird gefordert. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) hat in ihrer Lebenshilfe 2009 zur Sterbehilfe Stellung bezogen. Darin spricht sie sich für geistlichen Beistand und ein Sterben in Würde aus. Aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung werden pauschal abgelehnt. Die Problematik wird eher als Thema der Seel4 sorge als der Ethik markiert. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hat nach einem umfangreichen zwischenkirchlichen Beratungsprozess im Sommer 2011 eine Orientierungshilfe zu ethischen Fragen am Lebensende veröffentlicht.5 Auch sie fordert Sterbebegleitung und lehnt eine Tötung auf Verlangen grundsätzlich ab. Die Tragik von Sterbewünschen erkennt sie an und spricht sich für eine differenzierte Betrachtung jeweiliger Sterbewünsche aus, dabei zugleich aber auch gegen die Aktivitäten von Sterbehilfeorganisationen. Die GEKE möchte den individuellen Sterbewunsch als Grenzfall verstanden wissen. Sterbehilfeorganisationen institutionalisieren solche Grenzfälle. Anstelle individueller Einzelfallentscheidungen treten dabei regelgeleitete Entscheidungen der Organisation. Im selben Jahr hat auch die Bundesärztekammer ihre Grundsätze zur Sterbehilfe 6 überarbeitet. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten wird darin stärker betont als früher. Es wird weiterhin daran festgehalten, dass die Mitwirkung an einer Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe sei. Anders als früher wird aber auf ein Unwerturteil darüber verzichtet, wenn sich ein Arzt aus Gewissensgründen zur Suizidbeihilfe entschließt. Ein Verbot der Suizidbeihilfe haben nur zehn der 17 Landesärztekammern in Deutschland in ihren Berufsordnungen.7 Am 29. November 2012 legte die Deutsche Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung zur Strafbarkeit von gewerbsmäßiger Vermittlung von Suizidbeihilfe zur ersten Beratung vor. Zusätzliche Nahrung bekam die Sterbehilfe-Diskussion im Sommer 2014 durch zwei Interviews, die der damalige EKD-Ratspräsident und seine Ehefrau, Nikolaus und 4
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Vgl. Kirchenleitung und Kollegium der Superintendenten der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (Hg.), Lutherische Orientierung. Mit Christus leben. Eine evangelischlutherische Wegweisung, Hannover 2009, 51. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (Hg.), Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates der GEKE zu lebensverkürzenden Maßnahmen und zur Sorge um Sterbende, Wien 2011. Vgl. auch Ulrich H. J. Körtner, Beihilfe zur Selbsttötung – eine Herausforderung für eine christliche Ethik, ZEE 59 (2015), 89–103. Vgl. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, H. 7, 18.02.2011, A 346–A 348. Vgl. Körtner, Beihilfe zur Selbsttötung (wie Anm. 5), 100.
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Anne Schneider, der Wochenzeitung Die Zeit und der Zeitschrift Stern gaben, und durch eine Buchpublikation von Hans Küng.8 Anne Schneider ist an Krebs erkrankt und möchte, wenn sie an den Punkt kommt, sterben zu wollen, organisierte Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Nikolaus Schneider liegt in seiner Beurteilung organisierter Sterbehilfe auf der Linie der öffentlichen Stellungnahmen des Rates der EKD und lehnt sie ab. Er würde aber seine Frau aus Liebe auf dem letzten Weg begleiten. Um Zeit für seine Frau zu haben, trat er im November 2014 vom Amt des Ratsvorsitzes zurück. Im selben Monat wie die Interviews erschien Küngs Buch „Glücklich sterben“. Darin stellt Küng seine bekannte, Sterbehilfe befürwortende Position ein weiteres Mal dar, auch in Auseinandersetzung mit der Krankheit und dem Sterben seines Freundes Walter Jens. Die Positionen von Anne Schneider und Hans Küng sind deswegen bemerkenswert, weil sie auf der Grundlage des christlichen Glaubens für organisierte Sterbehilfe eintreten. Der Mainstream der Argumentationen für organisierte Sterbehilfe greift hingegen nicht auf christliches Gedankengut zurück. Daher lässt er sich leicht als „unchristlich“ kennzeichnen und somit aus dem Konzert der christlichen Positionen ausgrenzen. Das wird aber, wie Schneiders und Küngs Positionen zeigen, der tatsächlichen Breite der christlichen Meinungsbildung über Sterbehilfe nicht gerecht. Im Herbst 2015 nahm die öffentliche Debatte über Sterbehilfe noch einmal deutlich an Fahrt auf. Der Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung zur Strafbarkeit von gewerbsmäßiger Vermittlung von Suizidbeihilfe stand für Anfang November in letzter Lesung zur Abstimmung an. Am 6. November 2015 beschloss der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“. Es regelt § 217 des Strafgesetzbuches (StGB) neu. Ziel des Gesetzes ist es, die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen und die Suizidbeihilfe durch professionalisierte Einzelpersonen einzuschränken. In Einzelfällen bleibt zwar Suizidbeihilfe möglich. Es soll aber verhindert werden, dass sie zum Regelangebot für Schwerstkranke und alte Menschen wird. Die der Abstimmung vorangehenden Debatten wurden im Fernsehen übertragen. Sie wurden als Sternstunde der parlamentarischen Diskussionskultur gelobt. Der Fraktionszwang war aufgehoben. Ob dieses Gesetz tatsächlich bloß die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen im engeren Sinne erfasst und nicht auch weite Teile der Hospiz- und Palliativmedizin 9 kriminalisiert, wie von Kritikern befürchtet, muss sich zeigen. Diese Frage wird 8
9
Vgl. Evelyn Finger, Interview. Bekenntnis: Liebe statt Amt. „Wir halten die Wahrheit aus“. Anne und Nikolaus Schneider über die Diagnose Krebs, den Rücktritt vom Ratsvorsitz der Evangelischen Kirche – und das, was am Ende zählt, http://www.zeit.de/2014/30/nikolaus-schneiderehefrau-krebs (Stand: 29.11.2016); Ulrike Posche, Uli Hauser, „Für meine Frau würde ich auch etwas gegen meine Überzeugung tun“, Interview, Stern 17.07.2014, 105–109; Hans Küng, Glücklich Sterben?, München 2014. Vgl. exemplarisch Eric Hilgendorf, Gesetz zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Eine Norm für die Wissenschaft, in: Legal Tribune Online, 12.11.2015, www.lto.de/recht/hintergruende/h/gesetzgebung-sterbehilfe-tatbestandsmerkmale-analyse/ (Stand: 29.11.2016); Manfred Alberti, Sterbe-
Selbstbestimmt Sterben?
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sozialethisch und juristisch zu diskutieren sein. Individualethisch offen ist der Einzelfall der Suizidbeihilfe. Ist er aus christlicher Perspektive ausgeschlossen, wie der ökumenische Text „Gott ist ein Freund des Lebens“ u.a. kirchliche Stellungnahmen unmissverständlich klarstellen oder kann eine christliche Position auch die Haltungen von Schneider und Küng einschließen? 2.
Zwei Betroffene in der Diskussion
In ethischen Debatten wird gelegentlich geäußert, dass sich unter dem Eindruck der persönlichen Betroffenheit manche ethische Frage noch einmal anders darstellt. Oder andersherum betrachtet: „Voraussetzung für das Verständnis der Auseinandersetzung eines Menschen mit Krankheit und herannahendem Tod ist die Kenntnis der Biographie. Denn diese Auseinandersetzung ist von Erfahrungen im Lebenslauf sowie von der Art und Weise, wie der Patient in früheren Lebensjahren 10 Entwicklungsaufgaben und Belastungen verarbeitet hat, beeinflusst.“ Deshalb sollen im Folgenden knapp prägende Erfahrungen von Anne Schneider und Hans Küng benannt werden. Im Juli 2014 wurde bei Anne Schneider Brustkrebs festgestellt. Die Diagnose traf sie völlig überraschend. Der Krebs war bereits soweit fortgeschritten, dass das Lymphsystem befallen war. In der Folge können sich die Krebszellen schnell auf weitere Organe und das Skelett ausbreiten. Chemotherapie, Operation und Bestrahlung standen an. Ihr Mann, Nikolaus Schneider, beschloss daraufhin, das Amt des EKD-Ratsvorsitzes im November 2014 vorzeitig niederzulegen, um seiner Frau uneingeschränkt beistehen zu können. Die Amtszeit sollte ursprünglich bis November 2015 laufen. Mit Sterben und Tod hatten sich Anne und Nikolaus Schneider damals bereits privat und öffentlich auseinandergesetzt. Im Februar 2005 verstarb die jüngste ihrer drei Töchter, Meike, im Alter von 22 Jahren an Leukämie. Sie haben sie beide in den zwei Jahren ihrer Krankheit intensiv begleitet und auch 11 öffentlich darüber gesprochen. Tagebucheinträge und E-Mails ihrer Tochter aus dieser Zeit haben sie unter dem Titel „Ich will mein Leben tanzen“ veröffentlicht.12 Mit dem Doppelinterview in der Zeit und dem Stern machten Anne und Nikolaus Schneider nun Annes Krebserkrankung und auch ihre von der offiziellen kirchli-
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hilfe – Das Volk verliert und die Kirche jubelt. Wie die Leitung der EKD immer mehr das Gespür für die Basis verliert, in: Deutsches Pfarrerblatt 4/2016. Andreas Kruse, Das letzte Lebensjahr. Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situation des alten Menschen am Ende seines Lebens, Stuttgart 2007, 94. Vgl. Anne und Nikolaus Schneider, Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist. Leben und 3 Glauben mit dem Tod eines geliebten Menschen, Neukirchen-Vluyn (2006) 2010 . Idea-Interview: „Ich werde meine Tochter in der Ewigkeit wiedersehen.“ Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), über das Sterben seiner jüngsten Tochter, den Tod und die Ewigkeit, www.ekir.de/www/service/4256.php (Stand: 28.11.2016). Meike Schneider, Ich will mein Leben tanzen. Tagebuch einer Theologiestudentin, die den Kampf gegen Krebs verloren hat, Neunkirchen-Vluyn 2009.
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chen Position und der Meinung ihres Mannes abweichende Ansicht zu Sterbehilfe ganz bewusst öffentlich.13 Hans Küng hat unter dem Titel „Menschenwürdig Sterben“ 1995 gemeinsam mit Walter Jens eine Tübinger Ringvorlesung über Sterben und Sterbehilfe veröffentlicht. Im Jahr 2009, als Jens bereits seit fünf Jahren schwer an Demenz erkrankt war, erfolgte eine Neuauflage, in der auch Jens’ Frau Inge mit einem persönlichen Beitrag zu Wort kam. Sie ist inzwischen in zweiter Auflage erschienen.14 Walter Jens starb im Juni 2013 an seiner Demenzerkrankung. Im selben Jahr erschien der dritte Band von Küngs Lebenserinnerungen, in dem er sich im Kapitel „Am Abend des Lebens“ für das Recht auf assistierten Suizid ausspricht.15 Hans Küng ist an Parkinson, Makuladegeneration und Polyathritis erkrankt. Wie auch Anne Schneider spricht er sich für organisierte Sterbehilfe aus, um selbstbestimmt aus dem Leben scheiden zu können.16 Seine Position ist seit Mitte der 1950er Jahre gewachsen. Damals erlebte er, wie sich sein Bruder Georg in Folge eines unheilbaren Gehirntumors über ein Jahr bei vollem Bewusstsein mit zunehmenden Organausfällen bis zum Erstickungstod durch Wasser in der Lunge schleppte.17 Das führte Hans Küng zu der Überlegung: „Kein Mensch muss unbedingt alles bis zum Ende als ‚von Gott gegeben‘, ‚von Gott gewollt‘, gar ‚gottgefällig‘ in ‚Gottergebenheit‘ hinnehmen.“18 Küng benennt ein ganz praktisches Problem der organisierten Sterbehilfe: das Problem des richtigen Zeitpunkts. Wer geplant und selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchte, muss einen Zeitpunkt auswählen, zu dem das geschehen soll. Küng schreibt, Jens habe diesen Zeitpunkt verpasst. Zu dieser Einschätzung ist er mit Jens’ Ehefrau gekommen. Irgendwann sei die Krankheit soweit fortgeschritten gewesen, dass es für Jens zu spät gewesen sei, um selbstbestimmt zu sterben.19 Im Nachwort seines Buches beschreibt Küng eine eigene Situation, in der er diesen Zeitpunkt zu verpassen drohte.20 Für die Wahl des richtigen Zeitpunkts bedarf es offensichtlich einer irgendwie gearteten Begabung, die es ermöglicht, den Zeitpunkt des Zuspäts vorherzusehen und rechtzeitig die eigene Entscheidung zu treffen. Auch in dem niederländischen Dokumentationsfilm „Bevor ich es vergesse“ wird das Problem der Wahl des richtigen Zeitpunkts für einen Demenzkranken thematisiert. Die Hauptperson entschließt sich schließlich, noch einmal mit seiner Frau in den Urlaub zu fahren, ein Abschiedsfest für seine Freunde zu geben und sich am Abend nach dem Fest mit einem Medikamentenbrei das Leben zu nehmen. Der 13 14 15 16 17 18 19 20
Vgl. Finger, Liebe statt Amt, und Posche, Hauser, Für meine Frau (jeweils wie Anm. 8). Walter Jens, Hans Küng, Menschenwürdig Sterben: Ein Plädoyer für Selbstverantwortung. Erwei2 terte und aktualisierte Neuausgabe, München 2011 . Hans Küng, Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen, München/Zürich 2013. Vgl. Küng, Glücklich Sterben (wie Anm. 8), 15. Vgl. a.a.O., 14 u. 53f. A.a.O., 54. A.a.O., 23 u. 61. Vgl. a.a.O., 158.
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sich für aktive Sterbehilfe aussprechende Film beschreibt weiter das Problem, dass der Suizid nicht umstandslos gelingt, sondern sich das Sterben zwei Tage bei Bewusstlosigkeit des Patienten hinzieht.21 Neben die Wahl des richtigen Zeitpunkts tritt also eine zweite, technische Schwierigkeit: Der schöne, durch Medikamente herbeigeführte Tod lässt sich nicht sicher herbeiführen. 3.
Formen von Sterbehilfen und: Wer steht im Mittelpunkt der ethischen Diskussion?
In den dargestellten Schicksalen geht es um assistierten Suizid, um Beihilfe zur Selbsttötung. Der oder die Suizidale erhält Unterstützung und wird dadurch in die Lage versetzt, sich selbst mit der Einnahme eines todbringenden Medikaments das Leben zu nehmen. Die Tatherrschaft – wie es juristisch ausgedrückt wird – liegt bei ihm oder ihr. Eine solche Unterstützung soll nach deutschem Recht nur in Einzelfällen möglich sein. Beihilfe zur Selbsttötung ist inzwischen in fünf amerikanischen Staaten legalisiert: Oregon, Washington, Montana, Vermont und seit Anfang Okto22 ber 2015 im bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat Kalifornien. Neben der Beihilfe zur Selbsttötung lassen sich mindestens drei Typen von Handlungsweisen der direkten Sterbebegleitung benennen: · Die direkte, intentionale Beendigung des Lebens mit oder ohne Einwilligung des oder der Sterbenden, die aktive Sterbehilfe. · Die Gabe schmerzstillender und beruhigender Medikamente, bei der eine eventuelle Lebensverkürzung als Nebenwirkung in Kauf genommen wird, die sogenannte indirekte Sterbehilfe. Dazu ist auch die Gabe hochdosierter Morphine im letzten Teil der Sterbephase zu zählen, um Schmerzen zu begrenzen, die aber zum Verlust des Bewusstseins führen kann, die terminale Sedierung. · Der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen und Wiederbelebung, die passive Sterbehilfe.23 Der gegen diese Unterscheidung von Typen der Sterbehilfe angeführte Einwand lautet meist: Im Ergebnis führen alle diese Handlungsweisen zum Tod des oder der Sterbenden. Spätestens seit Beginn der 1980er Jahre wird in der evangelischen Theologie die moralische Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe in Frage gestellt. Der niederländische Theologe Harry Kuiter leitete von der Zulässigkeit des Ausschaltens Vitalfunktionen erhaltender Apparate die Forderung nach der Zulässigkeit aktiven Tötens Sterbender ab. Die Wirkung von so genannter passiver und aktiver Sterbehilfe sei die Gleiche. Dieser konsequentialistischen Argumentation folgten der niederländische Gesundheitsrat, ein wichtiges Beratungsgremium der niederländischen Regierung, und die beiden größten protestantischen 21 22 23
Vgl. Gerbert van Loenen, Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zur Fremdbestimmung führt, Frankfurt am Main 2014, 117–120. Vgl. DPA, Kalifornien erlaubt Sterbehilfe, Süddeutsche Zeitung 07.10.2015, 8. Vgl. Kruse, Das letzte Lebensjahr (wie Anm. 10), 173.
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Kirchen der Niederlande.24 Küng teilt diese Argumentation und formulierte im Interview mit Anne Will: „[…] heute sagt man ja, die Maschinen abstellen, die Beatmungsmaschine, die Ernährungsmaschine, das darf man. Das ist passiv. Ich sehe nicht ein, warum das weniger aktiv ist, als wenn ein Arzt mir eine erhöhte Dosis Morphium gibt.“25 Noch weniger eindeutig lässt sich indirekte Sterbehilfe im Fall der terminalen Sedierung von aktiver Sterbehilfe abgrenzen. Auch Anne Schneider hält die Unterscheidung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe nicht für überzeugend.26 Es ist schwer zu bestreiten, dass die Passivität der passiven Sterbehilfe keinen Verzicht auf intentionales Handeln im Umgang mit dem oder der Sterbenden bedeutet. Ebenso wenig ist zu bestreiten, dass bei der indirekten Sterbehilfe die das Leben möglicherweise beendende Wirkung der Medikamente mit einkalkuliert wird. Jede der genannten Formen von Sterbehilfe ist ein gestaltendes Handeln im Hinblick auf den eintretenden Tod. Der Unterschied liegt allein in der Handlungsintention: Soll der Tod herbeigeführt werden? Oder soll nur das Leiden in der letzten Lebensphase begrenzt werden, über den Eintritt des Todes aber keine Tatherrschaft errungen werden? Aus einer rein konsequentialistischen Perspektive, wie sie etwa die utilitaristischen Ethiken kennzeichnet, ist die beschriebene Unterscheidung für die ethische Urteilsbildung nicht ausschlaggebend. Denn diese differenziert nach Handlungsintentionen, die in konsequentialistischen Ethiken als nachrangig gelten. Im Blick auf die Handlungsintention macht es jedoch einen erheblichen Unterschied, ob ich das Leben einer anderen Person durch mein Tun beende, ob ich ihr die Mittel dazu verschaffe, ihr Leben selbst zu beenden, ob ich mit der Person den schnelleren Eintritt des ohnehin unausweichlichen Todes als Preis für die Reduktion von Schmerz und innerer Unruhe in Kauf nehme, oder ob ich entscheide, einen Wiederbelebungsversuch zu unternehmen oder weiter künstlich zu ernähren, auch wenn das der Person mutmaßlich keine Verbesserung der Lebensqualität mehr verschafft. Der Nationale Ethikrat (heute Deutscher Ethikrat) hat um einer sorgfältigen Terminologie willen vorgeschlagen, zwischen „Therapien am Lebensende“, „Sterbenlassen“, „Beihilfe zur Selbsttötung“ und „Tötung auf Verlangen“ zu unterscheiden. „Behandlung am Lebensende“ steht für palliativmedizinische Behandlung und kann indirekte Sterbehilfe einschließen. „Sterbenlassen“ entspricht der passiven 27 Sterbehilfe und „Tötung auf Verlangen“ steht für aktive Sterbehilfe. Diese Begrifflichkeit kann den Blick für die Handlungsintention der Helfenden stärken. Die Unschärfen der passiven Sterbehilfe löst aber auch diese Begrifflichkeit nicht. Die unverlangte Sterbehilfe, die der Begriff aktive Sterbehilfe noch einschließt, die aber 24 25 26 27
Vgl. Loenen, Das ist doch kein Leben mehr (wie Anm. 21), 27. Küng, Glücklich Sterben (wie Anm.8), 27, vgl. auch a.a.O., 103. Vgl. Finger, Bekenntnis: Liebe statt Amt (wie Anm. 8). Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Leben dürfen – Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe, München 2015, 33–44.
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juristisch als Totschlag oder Mord zu bezeichnen ist, bleibt in dieser Begrifflichkeit außen vor. Der Blick auf die Handlungsintention räumt den Blick frei für eine ernüchternde Feststellung: Bei der Diskussion um Sterbehilfe stehen meist nicht die Sterbenden als Hilfeempfangende im Mittelpunkt, sondern die Hilfespendenden. Es geht oftmals darum, wie sie mit dem leben können, was sie tun, und wie die Gesellschaft sich durch das entwickelt, was sie tun. Gerade die Diskussion um aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid lenkt den Blick weg vom Patienten auf sein soziales Umfeld. Entsprechend werden in kirchlichen Positionierungen in der Sterbehilfedebatte, wie etwa dem EKD-Text „Wenn Menschen sterben wollen“, die sozialethischen Kriterien ausschlaggebend. In der gesetzlichen Neuregelung der Beihilfe zum Suizid ging es seit 2014 um die Rechtssicherheit für ärztliches Personal, das um Sui28 zidhilfe gebeten wird. Dieser Befund ist ernüchternd und wir dürfen uns fragen: Sollte es nicht eigentlich um Barmherzigkeit mit den Sterbenden gehen? 4.
Diskussion der theologischen Argumente für assistierten Suizid
Die religiös-spirituelle Situation Sterbender rückt bei den theologischen Positionen für Sterbehilfe in den Fokus. Drei theologisch entwickelte Argumente will ich diskutieren: das Motiv von Barmherzigkeit und Mitleid (4.1), das Motiv von der Rückgabe des Geschenks des Lebens (4.2) und das nichtgeforderte Leiden (4.3). 4.1
Barmherzigkeit und Mitleid
Barmherzigkeit und Mitleid sind wichtige Aspekte in der Diskussion der Sterbehilfe. Ihre ethische Bedeutung für den christlichen Glauben macht Jesu Rede vom Weltgericht im Matthäusevangelium deutlich. Dort sagt der zu Gericht sitzende Menschensohn zu den Gerechten und Ungerechten: „Was ihr getan habt einem von diesen […], das habt ihr mir getan. […] Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ (Mt 25,40.45) Im Umgang mit Bedürftigen liegt demnach ein Moment der Gottesbegegnung. Barmherzigkeit und Mitleid haben eine spirituelle Dimension. Und doch sind sie nicht unproblematisch. Die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, beruht nicht zuletzt darauf, sich selbst an der Stelle des oder der anderen zu denken: „Das könnte ich sein. So kann es mir auch einmal ergehen.“ So können Sorgen um die eigene Person in mitleidender Aktivität kompensiert werden. Das ist insofern problematisch, als nun das eigene Selbstbild der Schlüssel zur Wahrnehmung der oder des Anderen ist. So kommt die oder der Andere unter den Gesichtspunkten des Defizits in den Blick. Die Einschränkungen, die er oder sie objektiv zu erleiden hat, werden qua Mitleid mit einer negativen Bewertung dieser Lebenssituation verbunden. „So möchte ich nicht enden müs28
Vgl. Wolfgang Huber, Assistierter Suizid als Thema öffentlicher Ethik, ZEE 59 (2015), 83–88.
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sen.“ Eine solche aus Mitleid erwachsene Haltung kann sich bis zum Todeswunsch für die Umsorgten ausbilden. Schon in den 1970er Jahren begründeten Befürworter der aktiven Sterbehilfe ihre Position mit der Barmherzigkeit gegenüber Kranken und Sterbenden und dem Mitleid mit ihrer Situation.29 Diese Argumentation führt häufig dazu, die Gewährung von Sterbehilfe vom Grundsatz der Selbstbestimmung zu lösen. Exemplarisch sei die Argumentation von Kuitert angeführt: „Wenn der Patient jedoch keine Initiative mehr zeigt, weil er zu krank ist, verliert der Arzt damit nicht seine medizinische Verantwortung, im Gegenteil, er übernimmt die Initiative für den Patienten und entscheidet selbst, nach seiner beruflichen Erfahrung, ob die Stunde des bitteren Endes gekommen ist. Wenn er zu dieser Überzeugung gekommen ist, hilft er dem Patienten, aus dem Leben zu scheiden, auch wenn dieser ihn nicht darum bittet. Dazu sind Ärzte da. Ist das schockierend? Noch einmal: Ist die Alternative angesichts ihrer Unbarmherzigkeit 30 nicht noch schockierender?“
Kuitert beschreibt eine Situation, die Küng als den „Zeitpunkt verpassen“ charakterisiert. Es zeigt sich: In Verbindung mit dem Gedanken, dass der Zeitpunkt für selbstbestimmte Sterbehilfe verpasst werden kann, wird unter dem Argument der Barmherzigkeit einer paternalistischen Entscheidungsfindung Raum gegeben.31 Denn den Befürwortern aktiver Sterbehilfe drängt sich die Frage auf: Warum müssen nicht einwilligungsfähige Menschen Schmerzen leiden, wenn einwilligungsfähige Menschen um aktive Sterbehilfe bitten dürfen? Diese Ungleichbehandlung ergibt sich notwendig aus dem Axiom der Selbstbestimmung. Auf dem Feld der Neu- und Frühgeborenenmedizin, der Neonatologie, spitzt sich die Problematik weiter zu. Frühgeborenen ist keine Selbstbestimmung möglich. Andere Menschen – Eltern, Ärztinnen und Ärzte – müssen für sie und ihr Wohl entscheiden. Mitleid und Barmherzigkeit sind Handlungsmotivationen, die sich angesichts eines Neugeborenen oft wie von selbst einstellen. In der Neonatologie trifft von Eltern und ihrem Umfeld erhofftes Leben mit einer beschädigten Lebensrealität zusammen. In dieser Situation stellen sich die Fragen dringender, die notwendig sind, um von Mitleid und Barmherzigkeit zu zielführendem Handeln zu gelangen, und die auch sonst im Umgang mit Sterben von Bedeutung sind. Zu fragen ist:
29 30
31
Vgl. Loenen, Das ist doch kein Leben mehr (wie Anm. 21), 27f. Kuitert zitiert nach Loenen, Das ist doch kein Leben mehr (wie Anm. 21), 59. Original: Harry M. Kuitert, Mag er een eind komen aan het bittere einde? Levensbeëindiging in de context van stervensbegeleiding, Baarn 1993. Loenen gibt weitere Beispiele für die paternalistische Entscheidungsfindung unter dem Argument des Mitleids bzw. der Barmherzigkeit, vgl. a.a.O. 60f., und kommt zu dem Schluss: „Mitleid, nicht Selbstbestimmung bildet den Kern der niederländischen Praxis der Lebensbeendigung.“ Loenen, Das ist doch kein Leben mehr (wie Anm. 21), 71.
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Wer leidet in der Situation? Oft sind es nicht nur die Patienten, die leiden, sondern in erheblichen Maße auch die Angehörigen. Wer leidet wie viel und woran? Patienten leiden an Krankheiten, Schmerzen und Einschränkungen. Angehörige leiden am Verlust liebgewordener Gemeinschaftsformen, dem Zerplatzen von Hoffnungen, an der Aufgabe der Pflege, daran, das Leid eines anderen Menschen ganz nah mitzuerleben, und an unbewussten Ängsten, die dieses Leid auslöst. Solches Mitleiden kann möglicherweise stärker sein als das Leid der Patienten. Die Partner von Menschen, die nach einer erfolgreichen Reanimierung mit deren Folgen leben, leiden oft noch mehr als die Patienten 32 selbst. Um welche Einschränkungen geht es? Lassen sie sich kompensieren? Der Grund für Behandlungsverzicht bei Frühgeborenen sind prognostizierte funktionale Einschränkungen, die sich nicht oder nur schwer kompensieren lassen. Auf wen muss sich die Barmherzigkeit richten? – An Hand solcher Fragen zeigt sich schnell, dass die Hilfebedürftigen im Umfeld von Sterben und Tod längst nicht nur die Patienten, sondern auch die nahen Angehörigen sind. Im Wunsch nach Sterbehilfe liegt das Bedürfnis, von diesen Leiden erlöst zu werden. Ein Recht, aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen zu dürfen, würde allerdings unweigerlich einen Druck auf Patienten erzeugen. Wer über Jahre hin aus gesundheitlichen Gründen – seien sie physischer oder psychischer Art – an seinem Leben leidet und zur Alltagsbewältigung fremder Hilfe bedarf, geriete in die Situation, über sein Weiterleben entscheiden zu müssen und diese Entscheidung vor sich selbst und – vermutlich unausgesprochen – vor anderen rechtfertigen zu müssen. Eine freie, wohlüberlegte Entscheidung ist unter der Last eigener Krankheit und unausgesprochener Erwartungen Nahestehender gera33 de nicht möglich. „Die Gefahr liegt darin, dass […] niemand mehr lästig sein dürfte, dass irritierende, kranke, unangepasste Menschen unter Druck gerieten, ihrem Leben ein Ende zu machen. Was als Selbstbestimmung begann, mündete in Bevormundung“34, konstatiert der Niederländer Gerbert van Loenen. Wenn Pflege und Unterstützung unzureichend ausfallen, kann sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit einstellen und der Wunsch zu sterben kann leicht entstehen. Bei Erkrankungen wie Demenz, die regelmäßig zu einem Verlust der Einwilligungsfähigkeit führt, kann ein Druck entstehen, das Thema aktive Sterbehilfe noch vor Eintreten der Einwilligungsunfähigkeit zu regeln. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe oder assistierten Suizid dürfte auch negative Auswirkung auf das unmittelbare Umfeld des oder der Suizidenten haben. Naheste32
33 34
Vgl. a.a.O., 171–173 und Wilfried Härle, Unerträgliches Leiden – Wie ist damit umzugehen?, in: ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig 2007, 328–336, hier: 334. Vgl. Bedford-Strohm, Leben dürfen – Leben müssen (wie Anm. 27), 20 u. 59. Vgl. Loenen, Das ist doch kein Leben mehr (wie Anm. 21), 112; Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD (Hg.), Im Geist der Liebe (wie Anm. 2), 28–30.
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hende müssen mit dieser Entscheidung leben. Zu dem Gefühl, alleine gelassen oder verlassen worden zu sein, gesellt sich gegebenenfalls der unausgesprochene Vorwurf, nicht genug getan zu haben und die oder den Suizidenten zu einer nur scheinbar einfachen Flucht in den Tod bestärkt zu haben. Diese Überlegungen zeigen, dass Barmherzigkeit und Mitleid eine fragwürdige Motivation zur Sterbehilfe sind. Sie führen nicht zwangsläufig zu einer Stärkung der Selbstbestimmung der Patienten, sondern tendieren zu Paternalismus. Für den Fall des verpassten Zeitpunkts lehnt auch Küng die eindeutig paternalistische aktive Sterbehilfe ab.35 4.2
Das Geschenk des Lebens zurückgeben
Kehren wir also zu einer auf Selbstbestimmung abzielenden Argumentation zurück. Selbstbestimmung ist in der Argumentation von Anne Schneider das tragende Moment. Sie geht vom biblischen Gebet „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps 90,12) aus. Es heißt für sie, „dass ich mein Ende aktiv gestalten kann in der Verantwortung vor Gott“36. Zur Verantwortung vor Gott gehöre die Freiheit zu entscheiden: „Jetzt gebe ich mein von Gott geschenktes Leben dankbar an ihn zurück.“37 Wenn ihre Erkrankung sie an den Punkt führe, dass sie sterben wolle, will sie mit einer Sterbehilfeorganisation in die Schweiz fahren, um sich dort mit deren Hilfe das Leben zu nehmen. Die Formulierung „Das Geschenk des Lebens zurückgeben“ klingt nach Selbstbestimmung und Kommunikation auf Augenhöhe. Aber ist es möglich, das Geschenk des Lebens zurückzugeben? Ich versuche es mit einer semantischen Analyse.38 Wir kennen materielle Gaben. Diese empfangen wir, nutzen sie, geben sie weiter, geben sie zurück. Wie ist es bei Begabungen und bei leiblichen Gaben? Ein paar Beispiele: Da stellt sich in der Kindheit heraus, dass ein Mädchen eine talentierte Klavierspielerin ist. Kann sie diese Gabe des Klavierspielens zurückgeben, wenn sie das Interesse an dem Instrument verliert? Da ist ein Junge geschickt darin, in Bäumen herum zu klettern. Gibt er diese Gabe zurück, wenn er sich im Laufe der Jugend anderen Aktivitäten zuwendet? Da hat jemand im Studium mit viel Mühe alte Sprachen gelernt. Gibt er sie zurück, wenn er nicht mehr alte Texte übersetzt? Wo leibliche und geistige Begabungen und Gaben nicht ausgeübt werden, verkümmern sie. Durch Unfälle können sie zerstört werden, etwa wenn Lähmungserscheinungen das Klavierspiel unmöglich machen. Aber leibliche Begabungen und Gaben können nicht „zurückgegeben“ werden, denn sie können nicht Objekt des eigenen Weggebens werden. Wie verhält es sich nun aber mit dem Leben, der Grundlage 35 36 37 38
Vgl. Küng, Glücklich Sterben (wie Anm. 8), 61. Finger, Bekenntnis: Liebe statt Amt (wie Anm. 8), 2. Ebd. Die bildliche Formulierung liegt dicht bei der von Fjodor Michailowitsch Dostojewski in den Brüdern Karamasow geprägten Metapher: Die Eintrittskarte zum Leben zurückgeben. Die Metapher ist dort aber eher eine zynische Antwort auf die Unlösbarkeit der Theodizee.
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aller leiblichen Gaben und Begabungen? Wie will man sich den Vorgang des Zurückgebens im Blick auf das Leben vorstellen? Über den Gottesknecht heißt es in Jes 53,10f.: „Er gab sein Leben hin“. Dieses Bild wird im Neuen Testament auch auf Jesus Christus übertragen. Diese Form der Lebenshingabe beschreibt die Bereitschaft, einen gewaltsamen Tod zu erleiden, der auf einem fremden Vernichtungswillen beruht. Diese Form der Lebenshingabe ist also durch Passivität gekennzeichnet. Passivität kennzeichnet auch eine Selbsttötung durch Behandlungsverzicht und Verzicht auf Nahrungsaufnahme. Bei einer solchen Selbsttötung fehlt aber im Gegenüber zum jesajanischen Bild von der Hingabe des Lebens der fremde Vernichtungswille. Es ist doch eher ein Verkümmern als ein Geben. Eine Selbst- oder Fremdtötung durch Einnahme von Medikamenten ist ein Zerstören, aber kein Geben. Die Metapher „Das Geschenk des Lebens zurückgeben“ trügt. Im ersten Teil, „das Geschenk des Lebens“, beschreibt sie, wie jemand zu seinem oder ihrem Leben gekommen ist. Er oder sie hat es nicht hergestellt, sondern empfangen, z.B. durch Vererbung oder, religiös gesprochen, von Gott erhalten. Diese Metapher ist auf das Erhalten, aber nicht auf den Verlust hin angelegt. Das, worum es geht, lässt 39 sich nicht weg- oder zurückgeben. 4.3
Kein Leiden gefordert
Sterben beschreibt Küng u.a. folgendermaßen: „Wenn ein Mensch sich im Sterben verabschiedet, […] dann geht er, so glauben wir, eine neue verborgene Beziehung ein: ‚Vita mutatur, non tollitur – Das Leben wird verändert, nicht genommen.‘ Nein, kein willkürliches Eingreifen Gottes gegen die Natur erfolgt hier, sondern ein Auffangen durch Gott, wo die Natur aufgrund ihrer eigenen Gesetze an ihr Ende gekommen ist. Kein Enden also, erst recht kein Verenden, sondern ein Vollenden: Die endliche Person geht ein ins Un40 endliche.“
Gegen die Ansicht, dass der christliche Glaube und die Nachfolge Jesu die Bereitschaft erfordere, einen qualvollen Tod geduldig zu ertragen, setzt Küng die Einzigartigkeit des Leidens und Sterbens Jesu: „Jesu Kreuz bleibt beispiellos, seine Gottes- und Menschenverlassenheit einzigartig, sein Sterben unwiederholbar. Nicht das ist also der Sinn der Nachfolge: genauso von Gott und Menschen verlassen werden, die gleichen Schmerzen erleiden, die gleichen Wunden geschlagen bekommen, sondern im Gegenteil. Dies ist die Herausforderung der Kreuzesnachfolge: das eigene Kreuz auf sich zu nehmen, sich
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Körtner ersetzt die Metapher „Geschenk“ durch „Gabe“ und stellt einen Zusammenhang zwischen „Gabe“ und „Aufgabe“ her, vgl. Körtner, Beihilfe zur Selbsttötung (wie Anm. 5), 95f. Zur je individuellen Aufgabe wird das Leben gerade durch die Unmöglichkeit, es zurück oder weiter zu geben. Küng, Glücklich Sterben (wie Anm. 8), 143f.
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dem Risiko der eigenen Situation zu stellen und trotz der Ungewissheit der Zukunft 41 seinen eigenen Weg zu gehen.“
Die sich aus der Nachfolge ergebende Pflicht sieht Küng an der Bekämpfung von Leid, Armut, sozialen Missständen, Krankheit und Tod „engagiert mitzuarbeiten“42. In medizinethischer Hinsicht übersetzt er dieses Argument in die Forderung nach Menschlichkeit, die er mit der Goldenen Regel begründet. Jedes Leben begreift Küng als sinnvoll. Vom Arzt fordert Küng, nicht nur Krankheiten zu behandeln, die ein Mensch hat, sondern kranke Menschen zu behandeln. Das schließt für ihn ein, ein Arzt möge „Menschen zu einem ‚guten Tod‘ verhelfen: in möglichster Leidensund Schmerzfreiheit; er sollte Hoffnung machen auf ein friedliches Sterben.“43 Trägt diese Argumentation? Die Bestimmung, was Nachfolge ist, hat dogmatischen Charakter, ist eine Frage der Lehre. Ihr Geltungsanspruch ist nach reformatorischer Ansicht an der Bibel zu überprüfen. In der Dogmatik gilt nach reformatorischem Verständnis sola scriptura. Küng argumentiert: „In der Bibel wird Selbsttötung (Freitod, Suizid) nirgendwo ausdrücklich verboten, die des Abimelech, des Samson und des Königs Saul zum Teil mit Zustimmung berichtet, nicht aber die des Jesus-Verräters Judas, die in der christlichen Tradition leider zum Leitsymbol aller Selbsttötung wurde, als ob eine jede Selbsttötung Ver44 rat am christlichen Glauben wäre.“
Küng geht es darum, die Selbsttötung als eine legitime Form des christlichen Sterbens zu beschreiben. Deswegen wehrt er sich dagegen, dass sie als Verrat gewertet wird und ihr eine unlautere Motivation unterstellt wird. Mit Emphase klagt er: „[…] dass ich schließlich auch noch ein Leben auf vegetativem Niveau zu akzeptieren hätte, lasse ich mir von niemanden als Wille Gottes für mich einreden.“45 Nun gibt es zahlreiche biblische Erzählungen, in denen Gott den Menschen Leiden zumutet. Oft ist es die Konsequenz von oder die Strafe für unrechtes Tun. Aber es gibt auch Leiden, das auf ein Ziel hin geschieht. Allen voran ist hier das Versöhnungsleiden Jesu Christi zu nennen. Als Leidender wird Christus gerade nicht als Ausnahmeerscheinung stilisiert, die Übermenschliches vollbringt, sondern er erleidet einen Verbrechertod, wie ihn Tausende seiner Zeit erlitten haben. 41
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A.a.O., 150f. Eine ähnliche Position vertritt der evangelische Theologe Werner H. Ritter, Sterben dürfen. Eine protestantische Erinnerung, DPfBl 4/2016, 211–214; ders., Sterben dürfen … unter den Bedingungen des neuen Sterbehilfegesetzes, DPfBl 1/2017, 36–38. Küng, Glücklich Sterben (wie Anm. 8), 143f. Vgl. a.a.O., 69. A.a.O., 101. Der Verrat des Judas liegt allerdings nicht in seiner Selbsttötung, sondern sie ist lediglich die Konsequenz seiner Verzweiflung über die Schuld, die er mit dem Verrat an Jesus auf sich geladen hat. A.a.O., 49. Auch Hartmut Kreß betont, dass die Bibel kein eindeutiges Suizidverbot kenne und plädiert für die Schaffung einer medizinisch unterstützten Wahlmöglichkeit, vgl. Hartmut Kreß, Suizid und Suizidbeihilfe unter dem Aspekt des Grundrechts auf Selbstbestimmung, ZEE 59 (2015), 114–122. Ähnlich Reiner Anselm, Leben als Gut, nicht als Pflicht. Der Beitrag der evangelischen Ethik in der Debatte um den assistierten Suizid, a.a.O., 104–113.
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Auf dem Weg dorthin schildert ihn insbesondere die Gethsemaneepisode als von Ängsten gequält. Insofern ist das Leiden Christi gerade nicht einzigartig, sondern geradezu typisch menschlich. Einzigartig ist, was dadurch gewonnen wird. Auch der Prophet Jeremia leidet um eines Ziels willen, um der glaubhaften prophetischen Verkündigung willen. Der Archetyp des grundlos Leidenden ist bekanntlich Hiob. Hiob und auch Jeremia stellt die Bibel als Menschen da, die sich wegen ihres Leides den Tod wünschen. Hand an sich selbst legen sie jedoch nicht. Auch der Apostel Paulus wünscht sich im Philipperbrief den Tod (Phil 1,23), ebenfalls ohne etwas in diese Richtung zu unternehmen. Diese vier Beispiele zeigen, dass die Aussage, Nachfolge fordere kein Leiden, nicht zu halten ist, wenn wir Maß an der biblischen Überlieferung nehmen. Das stellt Küngs theologisches Aufbegehren gegen das Leid in Frage. Gleichwohl bleibt die Spannung zwischen dem gütigen, die Menschen liebenden Gott und dem individuellen Leid, das Küng mindern will, bestehen. 4.3
Konklusion
Aus individualethischer Perspektive erscheint es wünschenswert zu sein, nicht mehr leiden zu müssen, wenn das Leiden als unerträglich empfunden wird und nach vernünftigem Ermessen keine Aussicht auf Besserung besteht. Die vorgestellten theologisch-individualethischen Argumentationen für Sterbehilfe halten allerdings der Überprüfung nicht stand. Sterbehilfe aus Mitleid und Barmherzigkeit zu gewähren tendiert dazu, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, die sie stärken wollen, paternalistisch zu unterlaufen. Die Metapher „Die Gabe des Lebens zurückgeben“ ist trügerisch. Das Leben gehört zu den leiblichen Gaben und Begabungen, die sich nicht zurückgeben, sondern allenfalls verkümmern oder zerstören lassen. Die Behauptung, dass Nachfolge kein Leiden fordere, lässt sich – so bedauerlich das sein mag – vor dem biblischen Hintergrund nicht verifizieren. In sozialethischer Perspektive hat sich gezeigt, dass alle Regeln für eine selbstbestimmte Beendigung des Lebens ambivalent sind, weil sie schon qua Geltung die individuelle Selbstbestimmung einschränken. So bleibt ein dramatisches Spannungsfeld zwischen dem verständlichen Wunsch, unerträgliches Leiden zu vermeiden, und der ethisch begründeten Ablehnung der Sterbehilfe. Der Situation entspricht, dass die indirekte Sterbehilfe das einzig legale Verfahren ist, dem Wusch nach Vermeidung unerträglichen Leides gerecht zu werden. Die finale Sedierung zielt nicht auf Lebensbeendigung, sondern auf Linderung von Schmerzen, während die Lebensbeendigung billigend in Kauf genommen wird. Bei der finalen Sedierung handelt es sich daher nicht um selbstbestimmtes Sterben. Selbst wenn vom Patienten der Tod erwünscht wird und von der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt aus Empathie für den Betroffenen gewünscht wird, wird die Medikation doch stets primär am Kriterium der Schmerzbehandlung und nicht des Todeseintritts ausgerichtet sein. Es werden Schmerzmedikamente verwendet und nicht Medikamente, die möglichst effektiv den Tod herbeiführen.
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Die ethische Diskussion zeigt, dass es unbefriedigend ist, wollte man es bei der Abwägung des Für und Widers der Formen von Sterbehilfe belassen. Das Bedürfnis, das hinter den Argumentationen für die Sterbehilfe steht, ist zu respektieren, ebenso eine aus diesem Bedürfnis heraus getroffene Entscheidung, in den Tod zu gehen.46 Zu einem solchen Respekt mahnen etliche biblische Geschichten, die vergleichbare Seelenqualen beschreiben, durch ihr bloßes Vorhandensein. Das Bedürfnis leidvolles Sterben kontrollieren zu können, darf nicht lediglich mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin beantwortet werden. Das wäre zynisch, da zum einen die vorhandenen Kapazitäten den Bedarf bisher nicht decken, zum anderen weil es eben doch Fälle gibt, in denen Schmerztherapien versagen, zum dritten, weil es nicht nur die Angst vor Schmerzen, sondern die Angst vor dem Verlust von Selbstbestimmungs- und Selbstkontrollmöglichkeiten ist, die das Be47 dürfnis nach assistiertem Suizid nährt. Diese Situation verdeutlicht, dass es Leitbilder bedarf, um mit leidvollem Sterben umzugehen. 5.
Suche nach Leitbildern eines selbstbestimmten Sterbens
Das bevorstehende leidvolle Sterben ist für viele Menschen mit einem Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden. Leitbilder für ein selbstbestimmtes Sterben müssen begründet versprechen können, dieses Gefühl zu überwinden. Alexandra BernhardJust scheibt in ihrer Arbeit über Entscheidungsprozesse leidender Menschen, dass es Menschen, die Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen, um die Möglichkeit geht, „sich von ihrem bestehenden unerträglichen und dem von ihnen antizipierten ungewollten Dasein erlösen zu können“48. Die Vorbereitung auf den Suizid, das Rezept für das tödliche Substrat, die Planungen mit professionellen Sterbehelfern, geben ihnen das Gefühl einer inneren Sicherheit, „im Notfall über einen letzten Ausweg aus ihrem Dasein zu verfügen“49. Wer aktive Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung ablehnt, muss sich folglich Gedanken machen, was Schwerstkranken zu einem vergleichbaren Gefühl innerer Sicherheit verhelfen kann.50 Vorbereitungen für den eigenen Suizid sind nichts anderes als konkrete Arbeit an einem Leitbild von einem guten Tod. In diesem Leitbild spielt Selbstbestimmung und die Beherrschung des Sterbeprozesses eine bedeutende Rolle. Die Vorstellung von der Beherrschbarkeit des Sterbeprozesses ist der Angst vor dem Sterben entgegengesetzt. Dieses Leitbild ist von einer unterschwelligen Leistungssemantik ge46 47
48 49 50
Alexandra Bernhart-Just, Entscheidungsprozesse leidender Menschen, Göttingen 2015, bereitet Pflegekräfte auf den Umgang mit der Entscheidungsfindung bei Sterbenden vor. Vgl. auch Körtner, Beihilfe zur Selbsttötung (wie Anm. 5), 91; Hartmut Kreß, Suizid (wie Anm. 45), 115; Peter Dabrock, Selbstbestimmungsalternativen zwischen ethischer Bewertung und rechtlicher Normierung, ZEE 59 (2015), 123–132, hier: 125. Vgl. Bernhard-Just, Entscheidungsprozesse (wie Anm. 46), 260. Ebd. Die Hilfe zum „Leben müssen“ kommt bei Bedford-Strohm, Leben dürfen – Leben müssen (wie Anm. 27) m.E. zu kurz.
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prägt. Sie ist in dem impliziten Narrativ des Leitbildes enthalten: Ich wende bestimmte Methoden an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Leitbilder mit impliziten Narrativen tendieren m.E. grundsätzlich dazu, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Im vorliegenden Fall ist das offensichtlich: Die z.T. schon genannten Schwierigkeiten aktiver Sterbehilfe und des assistierten Suizids – die Wahl des richtigen Zeitpunkts, die finale Wirkung des eingesetzten Medikamentes – werden übergangen. Anders als solche Leitbilder mit impliziten Narrativen arbeiten die biblischen Schriften und mit ihnen die kirchlichen Traditionen häufig mit Leitbildern, die ihre Narrative explizieren. Zwei will ich für die Suche nach Leitbildern für ein selbstbestimmtes Sterben fruchtbar machen. 5.1
Das Bild vom leidenden Hiob
Zu einem ehrlichen Leitbild für ein selbstbestimmtes Sterben gehört es, die Angst vor einem qualvollen Sterben ernst zu nehmen. Die Angst vor dem qualvollen Sterben erzeugt den Wunsch nach dem schnellen schmerzfreien Tod. Die Situation, dass sich ein Mensch aus einer solchen Angst heraus den Tod wünscht, stellt das Alte Testament an verschiedenen Stellen sehr anschaulich dar. Das Motiv begegnet z.B. in den Geschichten der Propheten Elia und Jeremia. Am stärksten ausgearbei51 tet ist es in der Hiobdichtung. Hiob sieht dem qualvollen Tod in Krankheit entgegen. Er sitzt verzweifelt in der Asche. Durch Raubüberfälle und einen Wüstensturm hat er seinen Besitz und seine Kinder verloren. Von der Ferse bis zum Scheitel ist er mit eitrigen Geschwüren befallen, die sein Fleisch verfaulen lassen (Hi 2,7f.; 7,5). Er leidet unter chronischen Schmerzen (6,10). Seine drei Freunde Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama sind gekommen, um ihm beizustehen und ihn zu trösten. Als zuvor seine Frau ihm noch riet, sich wegen seines Schicksals von seinem Glauben abzuwenden, antwortete er ihr: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (2,10) Trotz dieser geradezu gleichmütigen Haltung ist die Klage, die Hiob seinen Freunden vorträgt, geprägt von Todessehnsucht. Seine Todessehnsucht entspringt einer tiefen Verzweiflung. In seiner Verzweiflung zählt für Hiob sein gelebtes Leben nichts mehr. „Warum bin ich nicht gestorben im Mutterschoß? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum bin ich an den Brüsten gesäugt? Dann läge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruhe mit den Königen und Ratsherren auf Erden, […] wie eine Fehlgeburt, die man verscharrt hat, hätte ich nie gelebt, wie Kinder, die das Licht nie gesehen haben. Dort haben die Frevler aufgehört mit Toben; dort ruhen, die viel Mühe gehabt haben. Da haben die Gefangenen allesamt Frieden und hören nicht die Stimme des Treibers. Da sind Klein und Groß gleich und der 51
Die Auslegung orientiert sich an Georg Fohrer, Das Buch Hiob (KAT XVI), Gütersloh 1963 und Felix Gradl, Das Buch Ijob, Neuer Stuttgarter Kommentar zum AT 12, Stuttgart 2001.
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Knecht ist frei von seinem Herrn. Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen, die sich sehr freuten und fröhlich wären, wenn sie ein Grab bekämen –, dem Mann, dessen Weg verborgen ist, dem Gott den Pfad ringsum verdeckt hat?“ (3,11–23)
Auf Hiobs Klage antwortet sein Freund Elifas mit dem damals herkömmlichen theologischen Modell des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Doch die Härte dieser Denkfigur kann auch Elifas’ einfühlsamer Vortrag nicht verbergen. Hiob sei für sein Unheil selbst verantwortlich, erläutert er ihm. „Unheil wächst nicht aus dem Acker, sondern der Mensch erzeugt sich selbst das Unheil“ (5,6f. Lutherübersetzung 1984). Hiob fühlt sich von seinem Freund nicht verstanden. Angesichts seiner Situation zerbricht ihm die herkömmliche Theologie. Gott zeige sich ihm nicht als gerechter Richter, der Unrecht vergilt, sondern als Feind. „Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir; mein Geist muss ihr Gift trinken, und die Schrecknisse Gottes sind auf mich gerichtet.“ (6,4) Alle bisherigen Gewissheiten sind Hiob zerbrochen. Aus der Verzweiflung folgt sein Todeswunsch. „Dass mich doch Gott erschlagen wollte und seine Hand ausstreckte und mir den Lebensfaden abschnitte! So hätte ich noch diesen Trost und wollte fröhlich springen – ob auch der Schmerz mich quält ohne Erbarmen –, dass ich nicht verleugnet habe die Worte des Heiligen. Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte; und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte?“ (6,9–11)
Geduld um sein Leiden zu tragen, hat Hiob nicht mehr. Trost kann er einzig in der Vorstellung finden, dass der, den er als Feind erlebt, ihm die letzte Gnade erweist und sein Leiden durch den Tod beendet. Er hält also in seiner Auflehnung an Gott fest. Der Trost des schnellen Todes gäbe ihm trotz aller physischen Schmerzen Freude und Kraft fröhlich zu springen. Hier wird eine psychische Situation skizziert, wie sie einem Menschen entspricht, der aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid erbittet. Die Hiobdichtung nimmt diese Verzweiflung und die damit verbundene Auflehnung sehr ernst. Eine Lösung für die Situation bietet sie nicht. Alle theologischen Erklärungs- und Deutungsversuche der Freunde Hiobs lässt sie scheitern. Ja, die Freunde werden am Ende sogar noch von Gott zurechtgewiesen für ihre theologischen Interpretationen und müssen Sühneleistungen erbringen (42,7–9). Den Tun-Ergehen-Zusammenhang, das Zurückführen persönlichen Leides auf früheres Tun, zerbricht die Hiobdichtung. Sie bietet allerdings auch keine andere Erklärung für erlittenes 52 Leid. Hiob wird von Gott für seine Auflehnung zurechtgewiesen. Aber dabei bleibt es nicht. Er wird darüber hinaus getröstet, geheilt und restituiert. Der Tod ist nicht die Lösung, sondern der wirkmächtige Trost Gottes. Die Hiobdichtung kleidet den 52
Auch die Herausforderung Gottes durch den Satan im narrativen Rahmen zu Beginn der Dichtung gibt keine Erklärung, da sie die Souveränität Gottes nicht einschränkt. Sie illustriert nur eine Entscheidungsfindung.
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Trost in Reichtum in doppelter Höhe des Verlorenen, erneute Vaterschaft über dieselbe Zahl von Söhnen und Töchtern und ein langes Leben von weiteren 140 Jahren, der doppelten Lebenserwartung eines Menschen (vgl. Ps 90,10). Durch diese Lebensdauer wird Hiob in eine Reihe mit den biblischen Erzvätern gestellt und die theologische Bedeutung der Dichtung unterstrichen. Wer den Schluss der Hiobdichtung vorschnell als kitschig abtut, übersieht, dass es sich hier um Hoffnungsbilder handelt, die die abstrakte Vorstellung vom Trost Gottes illustrieren. Das Ringen mit Gott um erlittenes und noch bevorstehendes Leid wird durch die Hiobdichtung als theologisch legitim herausgestellt. „Du musst dein Leiden nicht gleichmütig hinnehmen!“ vermittelt die Restituierung Hiobs. Dass Hiob allerdings dem Tod entgeht, kann als Schwäche der Dichtung verstanden werden. Angesichts eines unausweichlich bevorstehenden Sterbens bedarf es möglicherweise stärkerer Hoffnungsbilder. 5.2
Das Bild vom Leiden Christi
In der kirchlichen Tradition ist die Vorstellung vom Mitleiden mit Christus und der Gleichgestaltung mit Christus fest verankert. Ihre Wurzeln dürfte sie beim Apostel Paulus haben, der sich und seine Mitarbeiter als Bilder Christi beschreibt (II Kor 4,10–12). Sie ist in die ars moriendi eingegangen. Auch Martin Luther nimmt sie auf, als er 1519 seinen Sermon von der Bereitung zum Sterben verfasst. In dieser Schrift setzt sich Luther intensiv mit der Angst vor dem Sterben auseinander. Die Angst vor Sterben und Tod rührt Luthers Ansicht nach daher, dass sich Menschen zur Unzeit damit auseinandersetzen, nämlich dann, wenn sich ein Mensch vom Sterben bedroht fühlt. „Im Leben soll man sich in Gedanken an den Tod üben und sie zu sich heranziehen, wenn er noch ferne ist und uns nicht vor sich hertreibt. Aber im Sterben, wenn er von sich selbst aus schon allzu stark ist, ist das gefährlich und unnütz. Da muss man sein Bild ausschlagen und nicht sehen wollen […] Denn so hat der Tod seine Kraft und Stärke in der Schwachheit unser Natur und darin, dass er zur Un53 zeit zu viel angesehen und betrachtet wird.“
Luther verbindet die Frage nach dem ruhigen Sterben mit der Frage nach dem Umgang mit den persönlichen Verfehlungen. Er interpretiert das Zugehen auf den Tod als eine forensische Situation, wie wir es auch bei Hiob gesehen haben. Dahinter steht der paulinische Gedanke: Der Sünde Sold ist der Tod (Röm 6,23). Für eine konstruktive Auseinandersetzung mit eigenen Verfehlungen kann es zu spät sein, wenn es ans Sterben geht. Deshalb mahnt Luther, sich bei guter Gesundheit mit den eigenen Verfehlungen auseinander zu setzen und sich mit seinen Kontrahenten 53
Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) in: Dietrich Korsch (Hg.), Martin Luther Deutsch-Deutsche Studienausgabe (DDStA), Bd. 1 Glaube und Leben, 48–73, 50f.; WA 2, 685–697, hier 687.
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zu versöhnen. Jeder Mensch stirbt seinen individuellen Tod und ist eben darin allein. Für die Gestaltung des eigenen Sterbens lautet Luthers Rat: „Ebenso musst du dich um den Tod Christi allein bekümmern, so wirst du das Leben finden. Und wenn du den Tod anderswo ansiehst, so tötet er dich mit großer Angst und Pein.“54 Luther rät dazu, sich das Bild des leidenden Christus vor Augen zu führen. „Er ist das lebendige und unsterbliche Bild wider den Tod, den er erlitten und doch mit seiner Auferstehung von den Toten überwunden hat in seinem Leben. […] Er ist das himmlische Bild: er, der von Gott verlassen war als ein Verdammter und durch seine allermächtigste Liebe die Hölle überwunden hat, bezeugt, dass er der liebste Sohn ist und uns dies zugeeignet hat, wenn wir dies so glauben.“55 Die Gottverlassenheit, die Sterbende wie Hiob durchleiden, findet Luther im Bild des leidenden und sterbenden Christus dargestellt. In diesem Bild ist die Gottverlassenheit verbunden mit mächtigster Liebe, die den Tod und die Hölle, und das ist die größte denkbare Ferne von Gott, überwindet. Diese Überwindung geschieht in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Darum findet der oder die Sterbende Trost und innere Ruhe im Bild des leidenden Christus. Denn das Narrativ des leidenden Christus beinhaltet die Überwindung von Sterben und Tod in der Auferstehung. Das Bild vom leidenden Christus schließt die Auferstehungshoffnung ein. Zur Unzeit kommen die Gedanken an den eigenen Tod nach Luther wohl auch, wenn sie in Gestalt einer tiefen Depression begegnen. Wie die Art zweier, nach eigenen Angaben eilig verfasster Briefe an Jonas von Stockhausen und seine Frau vom 27. November 1537 zeigt, scheint das eine Luther nicht unbekannte Situation 56 zu sein. Solche Depressionen und die mit ihnen verbundene Todessehnsucht nennt Luther Pfeile des Teufels.57 Er mahnt Jonas von Stockhausen, Gott gebe ihm das Leben, tot wolle er ihn noch nicht haben.58 Einfache Ablenkung helfe nichts gegen die Pfeile. Sie müssten „mit kraft“ ausgerissen werden. Er erinnert an die Propheten Elia und Jona als biblische Beispiele solcher Depressionen und an Christus in Gethsemane als Beispiel für das Ringen um den eigenen Lebensweg. Da helfe nur „die zeene zusammen gebissen wider die gedanken“59. Auch hier sind es die in Erinnerung gerufenen Bilder von Propheten und von Jesus Christus, die für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod aufgerufen werden sollen. Jonas’ Ehefrau bittet Luther, ihren Mann nicht alleine zu lassen. Denn Einsamkeit sei Gift in der Depression. 54 55 56 57 58
59
DDStA 1 (wie Anm. 53), 57; WA 2, 689. DDStA 1 (wie Anm. 53), 61; WA 2, 961. Vgl. WA.Br VI, 386–389 (Nr. 1974 u. 1975). Bei Hiob sind es Pfeile Gottes. Vgl. a.a.O., 386. Wenn Rainer Anselm folgert, „Luthers Interpretation der Geschöpflichkeit von der Rechtfertigungslehre bringt dies präzise zum Ausdruck: […] Es gibt keine Pflicht zu Leben“ (Rainer Anselm, Leben als Gut, nicht als Pflicht. Der Beitrag der evangelischen Ethik in der Debatte um den assistierten Suizid, ZEE 59 [2015], 104–113, hier: 106), hat er sich von Luther wegbewegt. WA.Br VI (wie Anm. 56), 387.
Selbstbestimmt Sterben?
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Luther begreift Gott als die Macht, die zu einem ruhigen Sterben verhilft. Das Medium dieser Macht ist das Bild. „Er zeigt und gibt dir in Christus das Bild des Lebens, der Gnade und der Seligkeit, damit du dich vor dem Bild des Todes, der Sünde und der Hölle nicht entsetzest. Er legt überdies deinen Tod, deine Sünde, deine Hölle auf seinen liebsten Sohn und überwindet sie für dich und macht sie für dich unschädlich. Er lässt weiter deine Anfechtung des Todes, der Sünde, der Hölle auch auf seinen Sohn kommen und lehrt dich, daran dich zu halten. So macht er die Anfechtung unschädlich, ja sogar 60 erträglich.“
Das Sterben Christi ist für Luther das Leitbild, an dem sich Sterbende in ihrem Leiden orientieren sollen. Damit werden die Schmerzen, das eigene Leid und die eigene Klage gerade nicht ausgeblendet, sondern sie erhalten einen konkreten Ort. Was dabei geschieht, entspricht dem, was Luther in der Entfaltung der Rechtfertigungslehre verschiedentlich einen „fröhlichen Wechsel“ genannt hat. Der oder die Sterbende erlebt eine Übertragung der eigenen Last auf das Bild des leidenden Christus und gewinnt die Hoffnung, die im Narrativ von der Auferstehung Christi liegt. Denn es beinhaltet die Auferstehung aller, die an ihn glauben. Der leidende Christus ist bei Luther ein Leitbild, das den oder die Sterbende mitnimmt. Suizid gehört für Luther zu den Gestalten der Anfechtung, ist aber keine Option. Unter dem Leitbild des leidenden Christus werden Sterbende nicht mehr auf die eigene Selbstbestimmung zurückgeworfen, wie es in der Beihilfe zum Suizid oder in der aktiven Sterbehilfe geschieht, wenn sie sich den richtigen Zeitpunkt zu Sterben wählen müssen. Aus den Zwängen der Selbstbestimmung werden Sterbende befreit. Ihre Selbstbestimmung liegt darin, von der eigenen Person weg auf das Bild des leidenden Christus zu sehen und sich dann von der sich entfaltenden Dynamik mitnehmen zu lassen. Beglaubigend erfahrbar wird für Luther der Trost dieses Geschehens im Empfang des Abendmahls. Es ist wirkmächtiges Symbol des gebrochenen Leibes und des vergossenen Blutes Jesu Christi. Die Kommunion am Sterbebett hat also ihren Sinn darin, im Medium physischer Erfahrung Sterbenden Trost zu bringen und Angst zu nehmen, indem sie die sterbende Person in die auf das ewige Leben zielende Dynamik des Bildes vom leidenden Christus mit einbezieht. 6.
Fazit
Die kirchlichen Stellungnahmen sprechen sich überwiegend aus sozialethischen Gründen gegen organisierte Sterbehilfe aus, weil die begründete Befürchtung besteht, dass sie nicht nur auf Menschen begrenzt bleibt, die sich bewusst dazu entscheiden und bei dieser Entscheidung auch bei nachlassenden kognitiven Fähigkeiten bleiben. Individualethisch zeigt sich überwiegend Verständnis für den Wunsch 60
DDStA 1 (wie Anm. 53), 73; WA 2, 697.
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nach einem guten, d.h. nicht qualvollen Tod. Dieser lässt sich jedoch nicht auf Rechtsbasis gewährleisten. Die in der Diskussion begegnenden theologischen Argumente für ein selbstbestimmtes Sterben erweisen sich bei näherer Untersuchung als nicht tragfähig. Es bleibt folglich nichts anderes übrig, als über Leitbilder an einer individuellen Sterbekultur zu arbeiten, die den berechtigten Ängsten vor Tod und Sterben gerecht wird. Die biblischen Bilder von Hiob und Christus bergen dafür ein erhebliches Potential. Die Aneignung einer Sterbekultur ist allerdings ein höchst individueller Vorgang. Die Selbstbestimmung angesichts des Sterbens beruht auf der Auseinandersetzung mit Leitbildern, die die Angst vor dem Sterben ernstnehmen und Hoffnung wecken.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“? Konfessorische Bilder der Cranach-Werkstatt am Vorabend des Augsburger Reichstags (1525–1530)1 Christian Neddens „Ein Künstler musste sich in der Reformation entscheiden, ob er evangelisch oder katholisch malen wollte. Aus diesem Bilderstreit ging die Existenz von zweierlei deutscher Kunst hervor. Man sah jedem Bild gleich an, zu welcher Konfession es gehörte, auch wenn es allgemein christliche Themen darstellte. […] So gaben derartige Bilder beiden Kirchen ein eigenes Gesicht, und das galt auch für den Stellenwert des Wortes oder, auf katholischer Seite, für den Vorrang des Auges und der Imagination. Es scheint, dass es für diese Dichotomie in unserem Bildverständnis, das auf eine inzwischen unbewusste Weise immer noch in der Religion verwurzelt ist, noch keine einschlägige Untersuchung gibt, die bis in die Jetztzeit 2 reichte.“
Der ehemalige Karlsruher Kunsthistoriker Hans Belting hatte 2005 diese prägnante These von zweierlei deutscher Kunst und einer Dichotomie in unserem Bildverständnis formuliert. So naheliegend diese These scheint, so fraglich wird sie, wenn man sie im Detail betrachtet. Allein die Tatsache, dass hier von einer Dichotomie die Rede ist und nicht wenigstens von einer konfessionskulturellen Trichotomie, legt den Verdacht nahe, dass hier vielleicht doch mit einer recht großen Kelle ausgeteilt wurde. Aber auch was den Stellenwert der Imagination betrifft, liegen die Dinge komplizierter – angesichts im Luthertum beliebter, aber höchst imaginärer Szenen wie z.B. der „Höllenfahrt Christi“ oder dem „Sieg über Tod und Teufel“, wo 3 biblische Narrative und Glaubensimagination ineinandergreifen.
1
2 3
Der vorliegende Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich im September 2016 beim „Forum Kunst der Neuzeit: Die Kunst der ‚langen‘ Konfessionalisierung (1517–2017)“ in Augsburg, veranstaltet vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft e.V., zur Diskussion gestellt habe. Er ist Werner Klän in dankbarer Erinnerung an meine erste symbolische Übung zur Confessio Augustana als Student im Wintersemester 1993/94 gewidmet. Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, 189. Vgl. Christian Neddens, Heilsame Anschauung. Visuelle Kommunikation der Rechtfertigung auf dem Weimarer Altarretabel Lucas Cranachs d. J., in: Bild und Bekenntnis, Die Cranach-Werkstatt in Weimar, hg. v. Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann, Thorsten Valk im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar, Göttingen 2015, 75–112.
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Christian Neddens
Lucas Cranach d. Ä., Entwurf für einen Deckenleuchter mit der Darstellung des Sieges Christi über Tod und Teufel, um 1530/1540
Also: wie ist das nun mit dem Verhältnis von Religionsgeschichte und Bildgeschichte? Ist die Reformation als religiöses Ereignis ein Epochenbruch, der sich auch in den bildenden Künsten einschneidend auswirkt?4 Oder ist es eher so, dass katholische, lutherische und reformierte Bildlichkeit gleichermaßen an den kulturgeschichtlichen Veränderungen in der Renaissance- und Barockzeit teilhaben und dass ökonomische, sozialgeschichtliche und politische Wandlungsprozesse einen größeren Einfluss hatten als frömmigkeitsgeschichtliche oder gar konfessionelle?5 Ich möchte im Folgenden die Jahre von 1525 bis 1530 besonders in den Blick nehmen – eine Zeit der Konsolidierung, nachdem die Wittenberger Reformation die ersten Anfänge und auch die ersten Krisen durchlebt hatte. Auf dem Speyerer Reichstag 1526 war – als Übergangslösung – die Ausführung des Wormser Edikts der Verantwortung der Reichsstände übertragen worden. Die evangelisch gesonne4
5
Diesen Eindruck vermitteln insbesondere Forschungen aus dem englischsprachigen Bereich. Vgl. William Dyrness, Reformed Theology and Visual Culture, 2004; Joseph Leo Koerner, The Reformation of the Image, 2004; Susan C. Karant-Nunn, Reformation of Ritual, 1997. Vgl. Steven Ozment, The Serpent and the Lamb. Cranach, Luther, and the Making of Reformation, London 2011, mit seiner provozierenden These, Cranach sei der ‚eigentliche‘ Reformator in Wittenberg gewesen. So etwa Andreas Tacke mit seinen Forschungen zur Künstlersozialgeschichte, vgl. Tacke, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d. Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt (1520–1540), Mainz 1992; ders., Mit Cranachs Hilfe. Antireformatorische Kunstwerke vor dem Tridentiner Konzil, in: Bodo Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere (Ausstellungskatalog Städel Frankfurt), 2007, 81–90.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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nen Regenten, allen voran Kurfürst Johann v. Sachsen (1468–1532), der im Jahr zuvor die Nachfolge seines Bruders Friedrich des Weisen (1463–1525) angetreten hatte, nutzten diesen Freiraum zur Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in ihren Territorien. Bereits 1525 hatte er in den ihm unterstehenden Gebieten Thüringens Visitationen der Pfarrer und Gemeinden angeordnet, um die einheitliche Durchsetzung der evangelischen Lehre zu befördern. Seit 1527 sah er solche Visitationen für das gesamte kursächsische Territorium vor, wozu Melanchthon mit dem „Unterricht der Visitatoren“6 1528 die nötige theologische Grundlage lieferte. Die Jahre 1525–1530 lassen sich vielleicht am Treffendsten als Phase der ‚Selbstfindung‘ des Luthertums bezeichnen. Die Wittenberger Reformatoren suchen nach Wegen, wie der wiederentdeckte evangelische Glaube auf längere Sicht vermittelt und bewahrt werden kann. Es entstehen Schriften zur Gestaltung des evangelischen Gottesdienstes, zur Elementarunterweisung der Glaubenden und zur Qualitätssicherung kirchlicher Verkündigung – man denke neben dem erwähnten „Unterricht der Visitatoren“ an Luthers „Deutsche Messe“ (1526), sein „Taufbüchlein“ (1523/1526), gefolgt vom „Traubüchlein“ (1529), und an die Katechismen von 1529. Es sind Jahre, in denen ein evangelisches Bekenntnis entsteht – angefangen mit dem „Ansbacher Ratschlag“ (1524) über Luthers Abendmahlsschrift von 1528, die Schwabacher und Marburger Artikel bis hin zur Confessio Augustana, die 1530 dem Kaiser in Augsburg überreicht wird. Und es sind die Jahre, in denen sich der Bruch nicht nur mit den reformkatholischen Humanistenkreisen um Erasmus, sondern auch mit den Schweizer Reformatoren abzeichnet. Es wäre zumindest ein naheliegender Gedanke, dass mit dieser Phase der Gestaltwerdung lutherischer Lehrgestalt, Glaubenspraxis und Frömmigkeitskultur auch eine entsprechende Entwicklung im Bereich der bildenden Künste einherginge – also ein „durch und 7 durch lutherisches“ Bildprogramm entsteht. Die Entscheidung für die Bilder war ja bereits 1522 – nach den Wittenberger Unruhen – irreversibel gefallen. Aber was heißt für diese Jahre überhaupt „lutherisch“? 1.
Reformatorische Bewegung und konfessionelle Kulturen
Die 1520er Jahre sind eine Phase kontinuierlichen Wandels. Die religiöse Grundierung des Lebens, wie sie für den Menschen im ausgehenden Mittelalter selbstverständlich war, erfährt mit der Reformation erhebliche Transformationen, aber sie wird – jedenfalls zunächst – nicht aufgehoben. „Mannigfach wissen spätmittelalterliche Christen und Christinnen ihre eigene, immanente Lebenswirklichkeit geprägt
6 7
Vgl. Joachim Bauer, Stefan Michel (Hg.), Der „Unterricht der Visitatoren“ und die Durchsetzung der Reformation in Kursachsen, Leipzig 2017. Matthias Weniger, „Durch und durch lutherisch“? Neues zum Ursprung der Bilder von Gesetz und Gnade, Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 55 (2004), 115–134.
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von Weisen der Präsenz des Heiligen.“8 Das gilt auch nach 1517. Daniel Weidner hat deshalb als eines der Ergebnisse des Projekts „Sakramentale Repräsentation“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Religion für die Geschichte der Frühen Neuzeit und damit auch für die Genealogie der Moderne lange vernachlässigt worden ist.9 Die besagten Transformationen vollziehen sich nicht im chirurgischen Epochenschnitt und nicht innerhalb abgesteckter Lager, sondern Neuerungen gehen mit Kontinuitäten oder auch mit Repristinationen des noch Älteren einher. Und manchmal ziehen minimale Veränderungen der äußeren Praxis größere Aufmerksamkeit auf sich als unbemerkte Revolutionen im Denken. „Konfessionelle Eindeutigkeit ist […] in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach 1517 nicht zu erwarten.“10 Gleichwohl ist mit den Jahren 1525 bis 1530 eine Zeit im Blick, in der sich ein Kernbestand des Evangelischen herauszubilden beginnt, der konfessionskulturell prägend wirkt. Im Blick auf diesen Formierungsprozess sei an eine Charakterisierung des Göttinger Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann erinnert: „‚Reformation‘ und ‚konfessionelles Zeitalter‘ verbindet eine Persistenz rechtlicher Strukturen und institutioneller Gegebenheiten, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelt und erprobt, in der zweiten Jahrhunderthälfte tradiert, modifiziert, in Frage gestellt und verteidigt wurden. […] Die Persistenz der Institutionen, Deutungen und Praktiken im Horizont sich wandelnder historischer Bedingungen läßt es gerechtfertigt erscheinen, den lutherischen Protestantismus des ‚konfessionellen Zeitalters‘ als eine spezifische kulturelle Konfiguration, eben 11 als lutherische Konfessionskultur zu behandeln.“
Ansätze solch einer konfessionskulturellen Konfiguration – allerdings in einem unabgegrenzten und dynamischen Prozess – beginnen ab der Mitte der 1520er Jahre in den evangelischen Territorien, ohne dass zunächst von einem einheitlichen Gebilde ‚Luthertum‘ gesprochen werden könnte. Dabei steht nicht in Abrede, dass es eine Vielfalt von politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und eben auch religiösen Faktoren ist, die die Prozesse vorantreiben, intrakonfessionelle Pluralität und transkonfessionellen Austausch inklusive. Kaufmann nimmt aber die mentalen Dispositionen und kommunikativen Praktiken in den Blick, die sich in 8
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Volker Leppin, Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Ders., Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015, 109–126, hier: 109. Daniel Weidner, Sakramentale Repräsentation als Modell und Figur, in: Stefanie Ertz, Heike Schlie, Daniel Weidner, Sakramentale Repräsentation. Substanz, Zeichen und Präsenz in der Frühen Neuzeit, München 2012, 13–28, 19. Christian Hecht, Das Altarretabel in der Römischen Kirche vor und nach der Reformation, in: Armin Kohnle, Christian Winter (Hg.), Zwischen Reform und Abgrenzung. Die Römische Kirche und die Reformation, Leipzig / Stuttgart 2014, 157–173, hier: 169. Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, 3–28, hier: 8f.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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einem dynamischen und offenen Prozess, aber doch in der Perspektive konfessorischer Entscheidungen formierten – und das scheint mir notwendig. Kaufmann hat – vor allem im Blick auf die Zeit nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 – dafür zurecht den Begriff der ‚Konfessionskulturen‘ eingebracht.12 Für den noch sehr offenen Formierungsprozess Ende der 1520er Jahre wäre allerdings eher der Begriff des ‚Konfessorischen‘ als des ‚Konfessionellen‘ angemessen. Was ist damit für die Kunstgeschichte gewonnen? Sicherlich nicht die Rückkehr zu einem konfessionellen Schematismus im Stil des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der darüber hinaus modernitätsaffirmativ aufgeladen ist. Der Trierer Kunsthistoriker Andreas Tacke hat seit den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass eine konfessionell fokussierte Forschung, zumindest wenn sie die Sicht der ‚Anderen‘ nicht mitreflektiert, in der Gefahr steht, interkonfessionelle und 13 epochenübergreifende Kontinuitäten abzublenden. Dieser Einwand ist berechtigt. 12
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„Von lutherischer Konfessionskultur zu sprechen macht nur Sinn, wenn man das Konfessionelle als Merkmal zu identifizieren vermag, das in, mit und unter einer Vielzahl menschlicher Lebensäußerungen vorhanden war, d.h. Denken, Fühlen und Handeln einzelner Personen oder Gemeinschaften mit mehr oder minder großen Intensitätsgraden positiv oder negativ bestimmte, mitbestimmte oder jedenfalls zur Auseinandersetzung nötigte. Das Konfessionelle war eine bestimmte Deutungsmatrix, Symbolwelt oder Diskursform; es definierte Zugehörigkeiten und sistierte Grenzen; es bediente sich allgemein verständlicher oder anerkannter Codes, Bilder oder Zeichen; es vermittelte bestimmte Werte und Orientierungsmuster, Ängste und Abwehrstrategien, Handlungsformen und Umgangsweisen des Leidens an, des Ertragens und der Verarbeitung von Widerfahrnissen.“ (Kaufmann, Konfession und Kultur [wie Anm. 11], 10) Man darf sich das, was Kaufmann als Konfessionskultur bezeichnet, nicht (wie einst Ernst Troeltsch) als Einheitskultur vorstellen. Kaufmanns Modell hat auch wenig zu tun mit den normativ-organologischen Modellen des frühen 20. Jahrhunderts, für die etwa Werner Elerts „Morphologie des Luthertums“ mit seinen spezifischen politisch-theologischen Implikationen bezeichnend war. Vgl. Christian Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, Göttingen 2010, 211–304. Vgl. Kaufmann, Konfession und Kultur (wie Anm. 11), 15: „Nur eine offene Forschungsperspektive, die die Vielschichtigkeit, Uneindeutigkeit, Eigen- und Mehrsinnigkeit und die internen Pluralisierungsprozesse der Konfessionskulturen und derer, die sie repräsentierten, berücksichtigt, wird die Bedeutung der christlichen Religion für den lateineuropäischen, insbesondere aber den deutschen Kontext gerecht werden und dem unproduktiven Mythos einer irreversiblen, modernisierungsinhärenten Säkularisierungsdynamik produktivere Theorien einer permanenten, dynamischen Transformation des Religiösen bzw. des Konfessionellen entgegensetzen können.“ Zum Begriff der ‚Konfessionskultur‘ vgl. auch Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998, 7–9; Kaspar von Greierz, Manfred Jakubowski-Tiessen, Thomas Kaufmann, Hartmut Lehmann (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003; Thomas Kaufmann (Hg.), Frühneuzeitliche Konfessionskulturen, Gütersloh 2008; Heinrich Assel, Lutherische „Konfessionskultur“. Methodische Aspekte eines komparativen Konzepts am Beispiel: Lutherische politische Theologie, in: Alexander Drost, Michael North (Hg.), Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und Neuordnungen, Köln u.a. 2013, 167–194. Mit seiner Arbeit über den „Katholischen Cranach“ hatte Tacke eine Entwicklung eingeleitet, in der in Einzelfallstudien einerseits die relative „Ungebundenheit des Künstlers im Zeitalter der Glaubensspaltung“ (auch der Cranach-Werkstatt) in den Blick trat und in der andererseits erkennbar wurde, dass nicht nur das reformatorische, sondern auch das altgläubige Lager (etwa Kardinal Albrecht von Brandenburg oder Georg der Bärtige von Sachsen) sich ganz bewusst der
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Christian Neddens
Er sollte aber nicht dazu führen, einer Vergessenheit der frömmigkeits- und theologiegeschichtlichen Kontexte Vorschub zu leisten.14 Das interdisziplinäre Gespräch bleibt für Theologie, Kunst- und Geschichtswissenschaft unerlässlich. Unabhängig von der Frage, ob die Reformation tatsächlich eine Zäsur zwischen einer ‚Präsenzkultur‘ zu einer ‚Sinnkultur‘ (Hans Ulrich Gumbrecht) darstellt (was auf Luther und das Luthertum wohl kaum zutrifft)15 und ob man wie Dieter Koepplin oder Joseph Koerner von einer „Reformation der Bilder“ sprechen möchte16: unzweifelhaft ist meines Erachtens, dass Bilder – gerade in den ersten Jahrzehnten der lutherischen Reformation – maßgeblich an der Ausbildung eines evangelischen Bewusstseins und seiner Glaubensinhalte mitgewirkt haben und dass reformatorische Überzeugungen die Wahrnehmungen und Konzeptionierungen von Bildlichkeit mitgeprägt haben.17 2.
Was heißt zwischen 1525 und 1530 „lutherisch“?
Der emeritierte Münchner Systematiker Gunther Wenz schreibt über Luthers „Vom Abendmahl Christi“ (1528): „Luthers Großes Bekenntnis hat mit dem, was man lutherische Konfession zu nennen gewohnt ist, zunächst sehr wenig, mit gemeinchristlichem Zeugnis hingegen sehr viel zu tun. Das gilt übrigens in vergleichbarer Weise für die gesamte frühe, von Luthers Konfession von 1528 wesentlich initiierte und inhaltlich mitbestimmte Bekenntnisentwicklung der Wittenberger Reformation bis hin zur Confessio
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Bilder zur Verbreitung und Festigung ihrer Glaubenspositionen bediente – auch solcher Bilder, die aus der Cranach-Werkstatt stammten. Vgl. Andreas Tacke, Einleitung in den Tagungsband mit Überlegungen zum neuen Forschungsfeld „Gegen die Reformation gerichtete Kunstwerke vor dem Tridentinum“, in: Ders., Kunst und Konfession. Katholische Auftragswerke im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1563, Tübingen 2008, 13–33, hier: 16. Dass die Künstler selbst ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen hatten, steht damit nicht in Frage, aber aufgrund der dürftigen Quellenlage ist es selten möglich, diese heute noch exakt zu rekonstruieren. Georg Lemberger etwa wurde 1532 durch Herzog Georg den Bärtigen aus Leipzig aufgrund seiner lutherischen Überzeugung verbannt. Ein Jahr später setzt der Regensburger Maler und Ratsherr Albrecht Altdorfer seine Unterschrift als eines von 15 Ratsmitgliedern unter die Ausschreibung für einen protestantischen Prediger, woraufhin Regensburg bei Ferdinand I. in Wien Abbitte leisten musste. Albrecht Dürer war in den ersten Jahren Feuer und Flamme für die Reformation. Doch kühlte sich die Begeisterung allmählich wieder ab. Sebald und Barthel Beham sowie Georg Pencz sympathisierten 1524 mit dem radikalen Flügel der Reformation um Thomas Müntzer. Vgl. die kritische Bestandsaufnahme in Christian Neddens, Christus ohne Theologie. Neues zum Christusbild in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, Theologische Literaturzeitung 140 (2015), 726–733. Vgl. Weidner, Sakramentale Repräsentation (wie Anm. 9), 17. Vgl. Dieter Koepplin, Reformation der Glaubensbilder. Das Erlösungswerk Christi auf Bildern des Spätmittelalters und der Reformationszeit, in: Gerhard Bott (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Frankfurt am Main 1983, 333–378, hier: 333. Vgl. Ruth Slenczka, Cranach als Reformator neben Luther, in: Heinz Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, Berlin/München/Boston 2014, 133–158, hier: 135f.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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Augustana und darüber hinaus. Bekenntnis und Konfession bezeichnen in deren Zusammenhang weder formaliter noch materialiter ein denominationelles Kirchentum und seinen partikularen Wahrheitsanspruch, sondern verstehen sich als eine Ausdrucksgestalt jener ebenso universalen wie in sich einen Gemeinschaft, zu der die Kirche als der durch die Gegenwart des Herrn beseelte Leib Christi ihrem 18 Wesen nach bestimmt ist.“
Besonders handgreiflich wurde dieses Anliegen in der Confessio Augustana, in der unter Melanchthons Führung vor dem Kaiser der unerschütterte ‚katholische‘ Charakter des evangelischen Glaubens aufgezeigt werden sollte.19 Die Confessio Augustana war kein neues ‚Dogma‘, sondern ein schlichter Bericht dessen, was in der evangelischen Kirche gelehrt und geglaubt wird.20 Charakteristisch ist insofern die explizite Bezugnahme auf die altkirchlichen Bekenntnisse. Die ersten 21 Artikel behandeln die Grundlagen des Glaubens, die nach evangelischem Verständnis allgemeinchristlicher Konsens sind, während Artikel 22 bis 28 die Missbräuche thematisieren, die in den evangelischen Kirchen abgestellt worden seien wie Kelchverweigerung, Zölibat, Messopfer und Klostergelübde. Aufbau und Inhalt geben die Schlüsselstellung der Rechtfertigungslehre zu erkennen, die in die Lehre von der Trinität eingeflochten ist.21 Diese Schlüsselstellung der Rechtfertigungslehre und insbesondere die Zuspitzung der Glaubensunterweisung auf die Stellung des Einzelnen vor Gott und auf den Trost des Gewissens unter Gesetz und Evangelium kennzeichnen auch Luthers Auslegung des christlichen Glaubens im Kleinen Katechismus von 1529, wo das trinitarische Bekenntnis auf Gottes Handeln an mir zugespitzt wird.
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Gunther Wenz, „Das ist mein Glaube…“ (WA 26,509,19). Luthers Großes Bekenntnis von 1528 (WA 26,499–509), in: Ders., Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation, Bd. 1, Hannover 2000, 9–34, 13. Vgl. Leif Grane, Die Confessio Augustana. Einführung in die Hauptgedanken der lutherischen 4 Reformation, Göttingen 1990, 13; Volker Leppin, Die Confessio Augustana. Einleitung, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 65–83, hier: 66. Vgl. Grane, Confessio Augustana (wie Anm. 19), 15: „Das heißt, dass das Bekenntnis nichts einführen will, es schafft keine Lehre in der Kirche, sondern es führt einfach auf, was in der christlichen Kirche gelehrt und verkündigt wird.“ Sie ist als der „höchste[.], furnemste[.] Artikel der gantzen Christlichen lere“ (BSELK [wie Anm. 19], 268, 4f.) zu verstehen, wie es in Melanchthons Apologie heißt. Ähnlich klingt es in Luthers Schmalkaldischen Artikeln: die Lehre von der Gerechtigkeit des Glaubens allein um Christi willen sei der Hauptartikel, von dem man nichts weichen dürfe, „Es falle Himel und Erden oder was nicht bleiben will“ (BSELK [wie Anm. 19], 728, 7f.) Zurecht betont Ernst Wolf, der Rechtfertigungsartikel sei nicht ein Lehrartikel unter anderen, sondern Mitte und Grenze evangelischer Theologie. Vgl. Ernst Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie, in: Ders., Peregrinatio. Bd. II, Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 11–21, hier: 14.
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3.
Christian Neddens
Die konfessorische Prägung des ‚Gericht und Gnade‘-Motivs – ein Mythos?
Die Frage, welche Rolle konfessorischen Überzeugungen für die Bilderproduktion der Cranach-Werkstatt zukommt, ist an kaum einem Motiv so konträr diskutiert worden, wie an der als „Gesetz und Gnade“ bekannten Glaubensallegorie. Das Motiv sei „durch und durch lutherisch“22, gar eine „Schöpfung Luthers“23 vermuten die einen, während andere in den „mit kompliziertem theologischen Gedankengut überfrachteten Werke[n] […] gerade nicht Luthers Forderung nach einer ‚kindlich und einfeltiglich‘ Verkündigung“ wiederfinden und sie eher „humanistisch reformorientierte[m]“24 Milieu zuweisen.
Lucas Cranach d. Ä., Verdammnis und Erlösung (1529)
22 23
24
Carsten Bach-Nielsen, Cranach, Luther und servum arbitrium, Analecta Romana instituti danici 19 (1990), 145–184, hier: 155. Peter-Klaus Schuster, Abstraktion, Agitation und Einfühlung. Formen protestantischer Kunst im 16. Jahrhundert, in: Werner Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst (Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle 1983), München 1983, 115–266, hier: 210. Weniger, „Durch und durch lutherisch“? (wie Anm. 7), 115 und 129.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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Martin Luther, Ausle/gung der Euange/lien von Aduent bis/auff Ostern […], Wittemberg 1528. Titelholzschnitt aus der Cranach-Werkstatt? (Zwickau, Ratsschulbibliothek), Vorform des sog. ‚Prager Typs‘
Miriam Verena Fleck (wie unabhängig von ihr auch Heimo Reinitzer) ist zu verdanken, dass sie eine Fülle von Beispielen dieser Motivfamilie aus halb Europa zusammengetragen, katalogisiert und klassifiziert hat.25 Dabei kommt Fleck zu dem plausiblen Ergebnis, dass es sich bei „Gesetz und Gnade“ tatsächlich um eine neue Bildfindung handelt, die aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl im Blick auf den ‚Prager‘ als auf den ‚Gothaer Typ‘ aus dem Wittenberger Umfeld (27) stammt, ihre dichteste Verbreitung im sächsischen Raum hat (427, vgl. 96–208) und dass dessen früheste Vorform bisher in einem Buchdruck von Urbanus Rhegius 1525 nachgewiesen werden kann.26 Nichtsdestotrotz hatte sich das Motiv in kurzer Zeit über 25
26
Miriam Verena Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie „Gesetz und Gnade“ in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Korb 2010. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Schrift. Siehe auch Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium: Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Band 1: Text, Band 2: Abbildungen, Hamburg 2006. Isabel Christina Reindl hat Georg Lemberger als Urheber des Holzschnitts ins Spiel gebracht. Vgl. Isabel Christina Reindl, Georg Lemberger. Ein Künstler der Reformationszeit. Leben und Werk, Bd. 1, Diss. Bamberg 2006, 249–252 (http://opus4.kobv.de/opus4-bamberg/frontdoor/index/ index/year/2010/docId/244 (Stand: 01.12.2017). Johannes Erichsen plädiert hingegen für einen undatierten Erlanger Holzschnitt als früheste Darstellung des Bildtyps. Vgl. Erichsen, ‚Gesetz und Gnade‘. Versuch einer Bilanz, in: Dirk Syndram, Yvonne Wirth, Doreen Zerbe (Hg.), Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reforma-
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ganz Europa verbreitet und konnte altgläubigen, calvinistischen und sogar täuferischen Publikationen beigegeben werden. Es fehle nämlich – so Fleck – in diesem Bildtyp das typisch Lutherische: keine konfessionelle Polemik gegen Papst, Mönche, Messe etc. (jedenfalls bis in die 1530er Jahre) und „keine protestantischen Dogmen“ (429). Und auch dort, wo das Bild katholisch rezipiert wurde, wurde es nicht konfessionalisiert: also keine eucharistischen, marianischen oder hagiographischen Zugaben. So folgert Fleck, es handle sich hier um eine „neutrale, konfessionell ungebundene Glaubensallegorie“ (63; 434). Eine reformatorische Prägung sei nicht erkennbar. Flecks Arbeit ist darin beispielhaft, dass sie kunstgeschichtlich ausgesprochen erhellend, aber in ihrem theologischen Urteil unpräzise ist: Was ist ein „lutherisches Bekenntnisbild“ der 1520er Jahre, wenn nicht dieses? Was wäre stattdessen zu erwarten? Die lutherische Rechtfertigungslehre ist darin in beispielloser Klarheit verdeutlicht. Gleichwohl ist sie kein ‚Dogma‘, sondern hat – so hat Ruth Slenczka zurecht erwidert – „sowohl im Medium der Druckgrafik als auch in der Malerei die Funktion einer Heilsvergewisserung ohne jeden konfessionell abgrenzenden Exklu27 sivitätsanspruch“ . Genau darin entspricht diese bildliche Darstellung der Intention der konfessorischen und katechetischen Texte der Wittenberger Reformatoren, die Rechtfertigungslehre als wiederentdeckten Kernbestand des Apostolischen und allgemein Christlichen zu begreifen. Einen weiteren interessanten Hinweis gibt Fleck: Die altgläubige und humanistische Rezeption bezieht sich nahezu ausschließlich auf den sogenannten Prager Typ. Das kann natürlich Zufall sein. Oder daran liegen, dass der Prager Typ künstlerisch gefälliger wirkte. „Die Cranach-Werkstatt arbeitete jedoch aus welchen Gründen auch immer überwiegend nach dem (in künstlerischer Hinsicht geradezu altmodischen) Gothaer Typus“ (432, vgl. 424). Nun – was werden das für Gründe sein? Der Gothaer Typ bringt etwas zum Ausdruck, was für lutherische Anthropologie von fundamentaler Bedeutung ist: In der Christusgemeinschaft erkennt sich der Mensch in einer quasi ‚verdoppelten‘ Identität: als alten Adam, der durch tägliche Reue und Buße sterben muss, und als 28 neuer Mensch, dem von Christus Gerechtigkeit und Heiligkeit mitgeteilt werden.
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tion. Aufsatzband, Petersberg 2015, 96–113, hier: 108–111. Auch Erichsen geht von einer Entstehung im Umfeld Luthers aus. Ruth Slenczka, Lutherische Landesherren am Altar. Das Schneeberger Fürstenretabel von Lucas Cranach als protestantisches Initialwerk, in: Thomas Pöpper, Susanne Wegmann (Hg.), Das Bild des neuen Glaubens. Die Cranach-Retabel in der Schneeberger St. Wolfgangskirche, Regensburg 2011, 119–136, hier: 123, Fußnote 20. Martin Luther, Galaterbriefvorlesung 1531, zitiert nach der Übersetzung von Helmut Kleinknecht, in: Helmut Kleinknecht, Luthers Galaterbrief-Auslegung von 1531, Göttingen 1980, 111: „Man muß richtig von dem Glauben lehren, durch den du so mit Christus zusammengeschweißt wirst, daß aus dir und ihm gleichsam eine Person wird, die man von ihm nicht losreißen kann, sondern beständig ihm anhangt und spricht: Ich bin Christus; und Christus wiederum spricht: Ich bin jener Sünder, der an mir hängt an dem ich hänge. Denn wir sind durch den Glauben zu einem Fleisch und Bein verbunden, wie Eph 5,30 steht.“
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In dieser doppelten Perspektive begreift sich der Mensch ganz als Sünder und ganz als gerecht, Fleisch und Geist.29 Der heilsame Schnitt, den Luther am Menschen ansetzt, lässt diesen nicht mit sich identisch bleiben und zertrennt ihn auch nicht in zwei Teile: es bleibt der eine ganze Mensch, der sich um Christi willen als in sich selbst höchst differenziert wahrzunehmen lernt: „Sunt duo toti homines et unus totus homo“.30 Dass die Cranach-Werkstatt diesen Bildtypus weiterverfolgt, ist kein Wunder. Genauso wenig wie dies, dass der Prager Typ in Wittenberg keine große Zukunft hatte. Denn zu groß war die Gefahr, hier dem Menschen im Sinne des „Herkules-am-Scheideweg“ die Wahlfreiheit zuzusprechen. Zudem wäre dem im Luthertum bekämpften Antinomismus Tor und Tür geöffnet – denn eine Entscheidung für das Evangelium kann nie und nimmer eine gegen Gottes Gesetz sein.31 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Humanisten in Basel oder Antwerpen oder Katholiken in Salzburg oder Huesca, die ausschließlich den Prager Typ nachdruckten, die Glaubensallegorie so verstanden wie die Wittenberger. Im Blick auf das „Gesetz und Gnade“-Motiv macht es einen gewaltigen Unterschied, ob darin meine Wahlmöglichkeiten oder Gottes Urteil erblickt wird. Beides war aber grundsätzlich möglich - zumindest beim Prager, nicht aber beim Gothaer Typ.
29 30 31
Vgl. Martin Luther, Dritte Disputation gegen die Antinomer (1538), WA 34/1, 489–584, 492,19– 493,2. Martin Luther, In epistolam Pauli ad Galatas commentarius (1519), WA II, 443–618, 586, 16f. Einen ausführlichen Vergleich des Bildtyps mit Aussagen Luthers bietet Erichsen, ‚Gesetz und Gnade‘ (wie Anm. 26), 108–111.
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Urbanus Rhegius, Vom hochwirdigen Sacrament des altars / vnderricht / was man auß hayliger geschrifft wissen mag durch D. Vrbanum Regium tzu Augspurg gepredigt […], Jakob Thanner, Leipzig 1525. Textillustration
Nur am Rande sei erwähnt, dass bereits der anonyme Holzschnitt zu Urbanus Rhegius32 „Vom hochwirdigen Sacrament des altars / underricht / was man auß heyliger geschrifft wisse mag […] zu Augspurg gepredigt“ (1525), die vermutlich erste Vorform des Motivs, eine erkennbare reformatorische Pointe hat, die sich aus dem Kontext ergibt, in dem er auftaucht: der Holzschnitt illustriert den eigenständigen Schlussteil, der als „Himlischer ablaßbrieff“ überschrieben ist und die „funff haubtt artickel“ des evangeliumsgemäßen Abendmahls behandelt.33 Rhegius legt die Betonung auf den Glauben an Christi Verheißungswort, dass hier alle Sünde Verzeihung findet. Dies impliziere das Erschrecken vor der eigenen Sünde in der Hoffnung auf Christus, also contritio und fiducia, was den Kern der lutherischen Rechtfertigungslehre ausmacht. „Glaub und vertraw / so hastu genossen und emp32
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Rhegius wurde 1520 Domprediger in Augsburg. 1521 wurde er entlassen, nachdem er sich zur Reformation bekannt hatte. Nach einem Zwischenaufenthalt in Tirol kehrte er 1524 als evangelischer Pfarrer nach Augsburg zurück. 1530 wirkte Rhegius an der Abfassung der Confessio Augustana mit. Urbanus Rhegius, Vom hochwirdigen Sacrament des altars / underricht / was man auß heyliger geschrifft wisse mag […] zu Augspurg gepredigt, [Thanner] 1525, E iii (Digitalisat aus der Nationalbibliothek Wien: books.googleusercontent.com. In der Schrift finden sich nur zwei weitere Holzschnitte: eine Darstellung der Predigt und eine des Abendmahls unter beiderlei Gestalt. Vgl. a.a.O., E ii und E v.
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fangen.“34 Für beides zugleich – Buß- und Christuspredigt – steht die Gestalt des Täufers Johannes, des „Anzeiger[s] Cristi“, so dass der Holzschnitt keiner zusätzlichen Gesetzestafel bedarf.35 Der auf das stellvertretende Leiden Christi hinweisende Johannes und die zum Empfang bereite Maria illustrieren die Alleinstellung des Glaubens beim Empfang des Heils. Der allegorische Sinn der Marienfigur wird durch ihre exponierte, bewusst unhistorische Position auf dem Berge unterstrichen. So bildet der Holzschnitt als Allegorie zu contritio und fiducia in der Abendmahlsvorbereitung eine in sich stimmige und sinnvolle Bildkomposition. Dem Glaubenden wird der Gekreuzigte im Sinne der Sermone Luthers von der „Betrachtung des Leidens Christi“ und der „Bereitung zum Sterben“ (1519) lebendig vor Augen gestellt – und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch im Bild. Die den Gekreuzigten ins Herz ‚einbildende‘ visuelle Meditation Christi macht die Seele zum Empfang seiner verborgenen, realen Gegenwart im Sakrament bereit. Es erfordert nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Wittenberger schon bald nach den Unruhen von 1522 die Notwendigkeit erkannten, das reformatorische Rechtfertigungsverständnis nicht nur schriftlich, sondern auch visuell zu vermitteln und dass sich diese Tendenz nach 1525 noch verstärkte – „umb der kinder und einfeltigen willen, welche durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden, die Göttlichen geschicht zu behalten, denn durch blosse wort odder lere“, 36 wie Martin Luther im Betbüchlein schreibt.
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A.a.O., E iiii. Damit gilt auch für diese frühe Fassung, was der Renaissance-Autor Valentin Voith über das „Gesetz und Gnade“-Motiv schreibt. Es bringe die fundamentalen Gegensätze im Glauben zum Ausdruck, „Nemlich das alte und Newe Testament den zorn und die gnade / den Todt un(d) das Leben“, dass „[d]araus jeder clerlich sehen und lehrnen mag / was doch der Arme Blosse gnadlosse Mensch ist“. Zit. nach Glenn Ehrstine, Seeing is believing. Valten Voith’s Ein schön Lieblich Spiel von dem herlichen vrsprung (1538), Protestant „Law and Gospel“ Panels and German dramaturgy, Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 27 (1998), Heft 4, 503–537, hier: 513f. Ob der Holzschnitt eine eigene Bildinvention für die Rhegius-Schrift darstellt oder es sich lediglich um einen Ausschnitt einer bereits ausgeführten, unbekannten „Gesetz und Gnade“-Tafel im Stil des Holzschnitts von 1528 handelt, lässt sich gegenwärtig nur vermuten. Weniger, „Durch und durch lutherisch“? (wie Anm. 7), Reinitzer, Gesetz und Evangelium (wie Anm. 25) und Erichsen, ‚Gesetz und Gnade‘ (wie Anm. 26), 111, plädieren für Letzteres. Für Fleck, gemelde (wie Anm. 25), 36, ist eine vor 1525 entstandene, vollständige Prager Urfassung „nur mit einer sächsischen bzw. Wittenberger, nicht-altgläubigen Herkunft“ vorstellbar. Weniger urteilt, der Holzschnitt von 1525 habe „nicht den Charakter einer eigenständigen Bilderfindung, sondern läßt schon zu diesem frühen Datum auf die Kenntnis einer Gegenüberstellung von Gesetz und Gnade schließen“ (Weniger, „Durch und durch lutherisch“? [wie Anm. 7], 124). Fleck, gemelde (wie Anm. 25), 41– 43, plädiert für die Abhängigkeit späterer Bildfassungen vom Holzschnitt von 1525. Luther, Betbüchlein (1522), WA 10/II, 458,17–19. Ganz in diesem Sinne wurde etwa der Kleine Katechismus als Plakat (Einblattdruck) und als mit Holzschnitten illustriertes Handbuch publiziert. Vgl. Robert Kolb, Der Große und der Kleine Katechismus Martin Luthers, Einleitung, in: BSELK (wie Anm. 19), 844.
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So kann man – trotz aller Polemik im Flugblattwesen – konstatieren: Bei den prominenten Bildfindungen der Cranach-Werkstatt seit der zweiten Hälfte der 1520er Jahre geht es vornehmlich nicht um Identitätsgewinn durch Abgrenzung, sondern darum, Bildformeln zu entwickeln, die das entscheidend Christliche nach evangelischem Verständnis in schlüssiger Weise visualisieren.37 Genau darin decken sie sich mit der Fokussierung der Wittenberger auf das entscheidend Christliche, das es für die nächste Generation zu bewahren galt. „Allgemein christlich“ oder „genuin lutherisch“ ist in diesen Jahren evangelischerseits eben keine Alternative. 4.
Heilsame Gegenwart des Gekreuzigten – Rechtfertigungstheologie und Bildgestaltung
Dem Zusammenhang von lutherischer Rechtfertigungstheologie und Bildgestaltung soll an einem weiteren Beispiel nachgegangen werden, und zwar im Blick auf das Anschauen des Gekreuzigten. Gerade hier wird deutlich, dass ähnlich wirkende Darstellungen sehr unterschiedlich verstanden werden konnten und dass andererseits in sehr unterschiedlichen Darstellungen ähnliche fundamentaltheologische Fragestellungen bearbeitet werden konnten. Im Blick auf die Passionsdarstellungen während der Konfessionalisierung hat Birgit Ulrike Münch die Gleichzeitigkeit interkonfessioneller Gemeinsamkeiten, wechselseitiger Einflüsse und theologisch bedingter Differenzen festgestellt. Es müsse also darum gehen, die „Feinabstufun38 gen von konfessioneller Identität“ herauszuarbeiten. Und das gilt umso mehr für die frühen konfessorischen Bilder und Texte der 1520er Jahre. Zwischen Spätmittelalter und Reformation gibt es gerade hinsichtlich der Darstellung und Meditation des leidenden Christus einen breiten gemeinsamen Strom. Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich in Mystik und Devotio moderna eine intensive Christusfrömmigkeit entwickelt, in der es um die affektreiche Begegnung mit dem
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Man hat das Jahr 1529 darum auch das „Bilderjahr der Reformation“ genannt (M. Hoberg). Vgl. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. I, Berlin/New York 1996, 56, Fußnote 24. Birgit Ulrike Münch, Geteiltes Leid. Die Passion Christi in Bilder und Texten der Konfessionalisierung. Druckgraphik von der Reformation bis zu den jesuitischen Großprojekten um 1600, Regensburg 2009, 23. Münch stellt die anfangs zitierte Belting-These auf den Prüfstand, ob wirklich die Kunst im 16. Jahrhundert konfessionalisierend auseinanderdriftet oder einen aufeinander bezogenen interkonfessionellen Entwicklungszusammenhang darstellt. Ihr Ergebnis: Tatsächlich verlaufen die Rezeptionslinien der Passionsgraphik nicht nur entlang der konfessionellen Demarkationslinien. Sondern in reformatorischen Publikationen können spätmittelalterliche Vorbilder und in altgläubigen bzw. katholischen Publikationen reformatorische rezipiert werden (ohne das freilich offen vor sich her zu tragen). Die Entwicklung der Druckgraphik ist also auch im 16. Jahrhundert ein interkonfessionelles Unternehmen. Gleichwohl vermag Münch das Phänomen konfessionalisierter Passionsillustrationen nachzuweisen. Vgl. zum Thema bereits Dieter Koepplin, Reformation der Glaubensbilder. Das Erlösungswerk Christi auf Bildern des Spätmittelalters und der Reformationszeit, in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main 1983, 333–379.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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Gekreuzigten im Innern der Seele ging, die durch äußere Bilder entzündet und vertieft werden sollte. Das konnte einen durchaus kirchenkritischen Unterton haben. Denn, so Volker Leppin: „Wer – unabhängig vom Geschlecht – die Präsenz Christi in sich erfährt, braucht den Repräsentanten Christi nicht, als der ihm nach der Lehre des Thomas der Priester entgegentritt.“39 In dieser Tradition entstehen zahllose Darstellungen einer unmittelbaren Christusbegegnung vor- und nachreformatorisch, lutherisch und altgläubig, die sich auf den ersten Blick nur marginal voneinander unterscheiden. Zuweilen ist der Adorant hier eingerückt in eine stilisierte Golgathaszene, zuweilen findet man ihn betend vor einem vitalisierten Artefakt, zuweilen in einer geradezu signethaften Reduziertheit.
Lucas Cranach d. Ä., Der büßende Hl. Hieronymus (1502)
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Volker Leppin, Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Ders., Transformationen (wie Anm. 8), 109–126, hier: 120f.
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Cranach-Werkstatt, Der Kurfürst und Martin Luther knien vor dem gekreuzigten Christus, nach 1526
Die Pointe solcher Christusunmittelbarkeit konnte in den theologischen Lagern aber sehr unterschiedlich verstanden werden. Bei Bernhard von Clairvaux, Aelred von Rievaulx oder Nikolaus von Flüe war zu lernen, wie die Leidensnachfolge als imitatio Christi in ein tiefes Mitleiden mit Christus, in das affektive Nachempfinden seiner Selbsterniedrigung und seiner Liebe hineinführen konnte, das schließlich die conformitas mit Christus und die gnadenhafte Erfahrung ermöglichte, von Gott liebevoll angeschaut zu sein.40 Auch in Luthers Christusfrömmigkeit spielt das Anschauen des Gekreuzigten und die Einbildung und Einprägung Christi ins Herz eine fundamentale Rolle. Besonders markant ist das in seinen frühen Sermonen „Von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ und „Von der Bereitung zum Sterben“ (beide 1519). Aber auch später heißt es bei ihm: „So hat man ihnen auch an fast allen orttern an die wanth gemahlet und auff die muntze gepreget. Wolt gott aber, das er in unsere hertzen auch also gepreget und geschrieben were, wie es den billich sein soltte, das er ins hertz gesiegelt wurde, wie den die brauth im hohen liede Salomonis saget: ‚Drucke mich auff deinen arm, 41 und siegele mich ins hertz‘.“
Dieser gemeinsamen Traditionslinie zum Trotz bekommt das ‚Einbilden‘ Christi bei Luther eine neue Pointe: Christus und der Glaubende kommen bei ihm nämlich in 40
41
Vgl. Simon Peng-Keller, Christliche Passionsmeditation als Schule der ‚Compassion‘?, in: Ingolf U. Dalferth, Andreas Hunziker (Hg.), Mitleid. Konkretionen eines strittigen Konzepts, Tübingen 2007, 307–342. Martin Luther, Reihenpredigten über Johannes 3–4 (1537/40); WA 47,60,20–25.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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einer ganz eigenen, konfrontativen Anthropologie zusammen: Die Betrachtung des Gekreuzigten wird zur Ansicht der eigenen Verlorenheit und Angewiesenheit auf Christus.42
Lucas Cranach d. Ä., Titelblatt zu Luthers Neu-Ausgabe der „Theologia deutsch“, Leipzig 1518 „Eyn deutsch Theologia. Das ist Eyn edles Buchleyn/von rechtem vorstand/was Adam und Christus sey/und wie Adam yn uns sterben/und Christus ersteen sall.“
Die Schnittstelle spätmittelalterlicher und reformatorischer Anschauung ist gut in einem Holzschnitt greifbar, den Luther 1518 der von ihm neu edierten anonymen mystischen Schrift „Theologia deutsch“ voranstellt.43 „Das ist Eyn edles Buchleyn/von rechtem vorstand“ so heißt es in Luthers Untertitel, „was Adam und Christus sey/und wie Adam yn uns sterben/und Christus ersteen sall“. Dieses Sterben und Auferstehen könnte man auch als Entwicklungsprozess der imitatio verstehen – und so war es wohl ursprünglich gemeint. Luther hingegen versteht es
42
43
Vgl. Volker Leppin, Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, in: Ders., Transformationen (wie Anm. 8), 279–302, hier: 294; Birgit UIrike Münch, Luthers Werk und Cranachs Beitrag. Bildertheologie in den facettenreichen Bilderwelten zum leidenden Christus, in: Cranach in Anhalt. Vom alten zum neuen Glauben, hg. im Auftrag der Stadt Dessau-Roßlau von Norbert Michels, Petersberg 2015, 41–49, hier: 42. Vgl. Bernhard Lohse, Luther in Wittenberg 1511–1517: Die Ausbildung der reformatorischen Theologie, in: Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellungskatalog Frankfurt am Main 1983, 117–130, hier: 126.
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Christian Neddens
als ein wirkliches Sterben und Neugeschaffenwerden des Menschen in Christus:44 „Confessio enim est opus fidei precipuum, Qua homo negat se et confitetur Deum ac ita negat et confitetur, Ut etiam vitam et omnia neget, antequam se affirmet. Moritur enim in confessione Dei et abnegatione sui. Quomodo enim potest fortius se abnegare quam moriendo pro confessione Dei?“45 Eine noch einmal andere Bedeutung bekommt das Anschauen Christi, wenn Albrecht von Brandenburg oder Johann Friedrich der Großmütige zusammen mit dem Gekreuzigten dargestellt werden. Ist es bei dem einen Autorität und Charisma des Nachfolgeamtes, die im überfließenden Purpurrot des Kardinalsmantels zum Ausdruck kommen, so bei dem andern die Leidensnachfolge des Martyriums, die sich nach der Schlacht von Mühlberg in der Schnittverletzung im Gesicht abzeichnet – also zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von christoformitas, die sich bildlich bemerkbar machen!
44
45
Vgl. Johann Anselm Steiger, Christus pictor. Der Gekreuzigte auf Golgatha als Bilder schaffendes Bild. Zur Entzifferung der Kreuzigungserzählung bei Luther und im barocken Luthertum sowie deren medientheoretischen Implikationen, in: Ders., Ulrich Heinen (Hg.), Golgatha in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit, Berlin/New York 2010, 93–128, hier: 104: „Anders als in der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit steht […] nicht der Affekt des Mitleides (compassio) mit dem leidenden Christus im Vordergrund, sondern der Affekt der Trauer über die eigene Sündhaftigkeit, deren Radikalität erst zu dem Zeitpunkt in ihrer vollen Tragweite offenbar wird, da Gott alle Sünden auf einmal an seinem Sohn straft.“ Martin Luther, Römerbriefvorlesung (Hs.), WA 56,419,21ff. Vgl. Gunther Wenz, „Das ist mein Glaube…“ (WA 26,509,19) (wie Anm. 18), 10: „Bekennen heißt nach Luther im wesentlichen ‚zum Bewußtsein, zur Erkenntnis, zur Anerkenntnis des wahren Verhältnisses zwischen Gott und Mensch kommen. Gott der Alleinheilige, der Mensch Sünder vor ihm! Diesen Tatbestand sehen, verkünden und darum mit ungeteiltem Herzen leben, das heißt bekennen.“ Die Christusunmittelbarkeit als Doppelbewegung von Verschmähung seiner selbst und Liebe zu Christus findet sich bereits im Spätmittelalter, etwa in der ‚Nachfolge‘ Christi des Thomas von Kempen. Vgl. Volker Leppin, Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, in: Ders., Transformationen (wie Anm. 8), 279–301, hier: 280f.
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Lucas Cranach d. Ä., Kardinal Albrecht von Brandenburg, 1520er Jahre
Lucas Cranach d. J., Brustbild Johann Friedrich I., des Großmütigen mit aufgeschlagenem Buch vor Kruzifix, Holzschnitt (1552)
310
5.
Christian Neddens
Der Gekreuzigte im Kontext der Sakramentspraxis
Erst „im Zusammenhang mit der Liturgie der Messe [wird] die konfessionelle Bedeutung des Kreuzes [vollends] erkennbar“46. Am Ende der Überlegungen zur Konfessionalität der Glaubensbilder soll dieses Diktum Christian Hechts geprüft werden, der sich insbesondere mit Gregorsmesse und Kreuzesdarstellungen in katholischer Tradition befasst hat. „Die Differenzen sind auf diesem Gebiet nämlich erheblich größer, als man vermuten könnte. […] Obwohl sich lutherische und katholische Kreuzigungsdarstellungen grundsätzlich nicht unterscheiden, werden sie doch jeweils anders wahrgenommen. Während der Lutheraner nur den einmaligen Tod Christi sieht, erkennt der Katholik die Verbildlichung des Sacrificium Missae als unblutige Wiederholung 47 des Todes Christi.“
Tatsächlich bestehen hier Unterschiede, wie Hecht zurecht feststellt. Allerdings sah der Lutheraner mehr als Hecht vermutet. Gewiss nicht das Messopfer, aber er sah im Gekreuzigten den an seiner statt Hingegebenen – und er sah sich selbst als den Gerichteten, aber von Gott nicht Verlassenen. Während es also für den Katholiken auf das Messopfer ankam, ging es für den Lutheraner um die personale Christusbegegnung im Horizont des Gerichts.48 Katholischerseits werden Messopfer und Transsubstantiation insbesondere durch die Darstellung der Gregorsmesse bildlich plausibilisiert. In einem Forschungsprojekt der Universität Münster sind hunderte Exemplare dieses spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Themas digitalisiert und katalogisiert worden.49 Indem die Gregorsmesse früh seitens der Altgläubigen gegen die Reformatoren ins Feld geführt wurde, kam ihr umgehend konfessionsbildende Bedeutung zu.
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49
Christian Hecht, Das Kreuz in den nachtridentinischen Bildtraktaten, in: Carla Heussler, Sigrid Gensichen (Hg.), Das Kreuz. Darstellung und Verehrung in der Frühen Neuzeit, Regensburg 2013, 96–113, hier: 112. Vgl. ders., Die Aschaffenburger Gregorsmessen. Kardinal Albrecht von Brandenburg als Verteidiger des Meßopfers gegen Luther und Zwingli, in: Andreas Tacke (Hg.), Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen. Band 2. Essays. Ausstellungskatalog. Regensburg 2006, 81–115. Hecht, Kreuz (wie Anm. 46), 112. Im Blick auf das katholische Eucharistieverständnis wäre präziser von der sichtbaren „Vergegenwärtigung“ und „Zuwendung“ statt von „Wiederholung“ des Kreuzesopfers zu sprechen. Vgl. Heinrich Denziger, Peter Hünermann, Enchiridion symbolorum 40 definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, lat.-dt., Freiburg 2005, § 1740 Die Pointe lutherischer Kreuzigungsdarstellungen liegt nicht in der historischen Einmaligkeit und Vergangenheit, sondern in der Gleichzeitigkeit des Betrachters zu diesem Geschehen. Paul Gerhardt hat es 1656 in seiner Nachdichtung des Salve, caput cruentatum des Arnulf von Löwen treffend auf den Punkt gebracht, indem er die Kreuzesmeditation als Gebet des Sünders fasst: „Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, / der Zorn verdienet hat. / Gib mir, o mein Erbarmer, / den Anblick deiner Gnad“ (Evangelisches Gesangbuch 85,4). http://gregorsmesse.uni-muenster.de/home.html (Stand: 01.12.2017).
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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Hieronymus Emser, Missae Christianorum contra Lutheranam missandi formulā Assertio, 1524. Titelholzschnitt von Georg Lemberger
Eine solche Gregorsmesse, ein Holzschnitt Georg Lembergers, nutzte auch Hieronymus Emser (1478–1527) für seine Streitschrift gegen Luthers „Formula Missae“ von 1523. Bemerkenswert ist die dreifache Präsenz des Christusleibes – als lebendige Vision an der Stelle des Altarbildes, als Hostie auf dem Korporale und als Stickerei auf der Kasel des zelebrierenden Papstes, wodurch die Heilsmittlerschaft der Kirche hervorgehoben wird: Das Seh-Wunder der Gregorsmesse, bei der der bildlich präsente Christus der Legende nach lebendig in Erscheinung tritt, bestätigt seine reale Gegenwart im Brot kraft des unblutigen Meßopfers durch Christi legitimen Repräsentanten. „Man darf daher die Gregorsmesse im wörtlichen Sinne als ‚Bekenntnisbild‘ verstehen“, urteilt Christian Hecht. „Die Tafeln der Gregorsmesse lassen sich vor diesem Hintergrund als Aufforderung verstehen, bei der alten Kir50 che und ihrer alten Messe zu bleiben“. Die Tafeln und Holzschnitte der Gregorsmesse bringen einhergehend damit auch die Quasi-Sakramentalität des Christusbildes, in dem der Lebendige sich zeigt, zum Ausdruck. Luthers Folgeschrift von 1526, die „Deutsche Messe“, kam dem gegenüber deutlich ‚unkonfessionalistischer‘ daher. Der nach Wasser lechzende Hirsch (Psalm 42) sollte wohl das Be50
Christian Hecht, Das Messopfer im Bild. Kardinal Albrecht von Brandenburg und die Darstellung der Gregorsmesse, Vortrag kath. Akademie Bayern 2007 (http://www.kath-akademie-bayern.de/ tl_files/Kath_Akademie_Bayern/Veroeffentlichungen/zur_debatte/pdf/2007/2007_ 05_hecht.pdf Stand: 13.12.2017). Vgl. Leppin, Repräsentationsfrömmigkeit (wie Anm. 39), 113.
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dürfnis nach dem klaren Wort Gottes in der Messfeier symbolisieren. Auf eine Darstellung des Kults, etwa dem Abendmahl in beiderlei Gestalt, wird hier (bewusst?) verzichtet.
Martin Luther, Deudsche Messe vnd ordnung Gottis diensts, Wittemberg 1526, Titelholzschnitt der Cranach-Werkstatt?
Während auf katholischer Seite ein reiches überkommenes Bilderinventar zur Verfügung stand, das im Religionsstreit für Bekenntnisbilder nutzbar war, mussten die Lutheraner erst neue Bildfindungen entwickeln oder ältere Vorlagen neu ‚kodieren‘. Eben dieser Prozess begann in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre, wobei insbesondere die Cranach-Werkstatt erfindungsreich mit einer Reihe möglicher Bildinventionen experimentierte. Eine solche Bildfindung der Cranach-Werkstatt sind mit hoher Wahrscheinlichkeit die „Gericht und Gnade“-Tafeln. Darüber hinaus entstehen vor und um 1530 eine ganze Reihe weiterer Bildfindungen, die als protestantische Bekenntnisbilder der Rechtfertigung aus Glauben dienen können. Bezeichnend ist, dass diese Bildfindungen zumeist auf einen polemischen Unterton verzichten. Zu nennen sind etwa die zahlreichen Fassungen der „Kindersegnung“ und der „Begegnung am 51 Jakobsbrunnen“, aber auch die Illustrationen zu Luthers Kleinem Katechismus . Sehr beliebt – und durchaus als Bekenntnisbild interpretierbar – war auch die Sze51
BSELK (wie Anm. 19), 862–890. Vgl. hierzu Birgit Ulrike Münch, Luthers Werk und Cranachs Beitrag (wie Anm. 45), 42.
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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ne „Jesus mit der Ehebrecherin“, in der Cranach das zentrale Paar ganz in den Vordergrund rückt und die Rechtfertigungsthematik auf das personale Verhältnis zwischen Christus und der Sünderin, die er sichtbar am Arm fasst, zuspitzt.52 Der Betrachter soll am biblischen Beispiel die eigene Sündhaftigkeit in seinem Herzen spüren und sich von der Liebe Christi gehalten wissen. Solche Motive konnten in der öffentlichen (z.B. auf Epitaphien) und in der privaten Frömmigkeitspraxis (z.B. in Wohnräumen) Verwendung finden, ohne dass dies ihre Funktion als Bekenntnisbild veränderte.
Lucas Cranach d. Ä., Jesus und die Ehebrecherin, ca. 1520er Jahre. Die Hand Jesu, die den Arm der Sünderin ergreift, ist im 17. Jahrhundert zugunsten der heutigen Ansicht übermalt worden.
Aber auch Motive, die heute eher nicht als Bekenntnisbilder verstanden werden, scheinen im Zuge dieser reformatorischen Suche nach überzeugenden Visualisierungen der Rechtfertigungstheologie entwickelt worden zu sein. Das gilt etwa für Cranachs Fassung der Motive „Melancholia“ und „Caritas“, die um 1528/1529 –
52
Dieses Motiv geht auf venezianische Vorbilder zurück und ist bei Cranach bereits vorreformatorisch zu finden. Darauf deutet eine Zeichnung hin, die im Herzog Anton Ulrich-Museum aufbewahrt wird und auf 1509 (vermutlich jedoch von späterer Hand) datiert ist. Vgl. Michael Hofbauer, Cranach. Die Zeichnungen, Berlin 2010, 96f. Eine Untersuchung dieses Bildmotivs wird in Kürze Anna Katharina Frank als Dissertation vorlegen („Christus und die Ehebrecherin – Die Cranach-Gemälde als Sinnbild der Sündenvergebung im Kontext der Bildtradition“). Vgl. auch Sabine Engel, Das Lieblingsbild der Venezianer. Jesus und die Ehebrecherin in Kirche, Kunst und Staat des 16. Jahrhunderts, Berlin 2012.
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ähnlich wie „Gesetz und Gnade“ – zunächst als reformatorisches Doppelbild für das Thema „Anfechtung und Vertrauen“ konzipiert gewesen sein dürften.53 Bei beiden Religionsparteien ging es in den besprochenen Bildfindungen um ein gemeinsames Thema, nämlich um die gegenwärtige Präsenz Christi bei den Gläubigen. Dabei gab es einen motivischen Überschneidungsbereich, etwa im Blick auf die Darstellung und Meditation des Gekreuzigten, wenn auch die jeweilige Kontextualisierung unterschiedlich war. Daneben existierten auf altgläubiger Seite Motive, die sich explizit für die Darstellung des katholischen Glaubens zu eignen schienen. Auf reformatorischer Seite war dies deutlich schwieriger, weil viele traditionelle Motive mit altgläubigen Vorstellungen verknüpft waren. Aus diesem Grund experimentierte die Cranach-Werkstatt sowohl mit neuen Themen als auch mit der Re-Interpretation alter Medien und Motive. Besonders im Blick auf die Abendmahlsfrage schien es geboten, das spezifisch lutherische Verständnis der Realpräsenz im Bild begreifbar zu machen, und zwar ohne in die Substanzontologie einerseits oder in das Bedeutungsschema andererseits zu verfallen. Falls Luthers Marburger Widerspruch gegen Zwingli 1529 tatsächlich so grundlegend war, dann musste sich das auch bildlich plausibel machen lassen. Und die bloße Darstellung der biblischen Abendmahlsszene, wie Luther sie empfohlen hatte und wie sie etwa auf der Predella des Schneeber54 ger Altars zu sehen war, reichte hierfür nicht aus. Wirklich überzeugend scheint diese Aufgabe erst auf dem Wittenberger Wandelaltar von 1547/1548 gelöst worden zu sein. Man hat dieses Retabel gern als „Sakramentsaltar“ bezeichnet oder gar als „Pathosformel der ‚christlichen Stadt‘“.55 Diese Interpretation drängt sich auf, wenn man dessen Medialität als Wandelaltar nicht berücksichtigt, die Interpretation mit der vermeintlichen „Schauseite“56 beginnt und darum die Kirche mit ihren sakramentalen Vollzügen zum Gegenstand des Retabels erklärt. In Wirklichkeit ist die Kirche mit ihren Sakramenten hier aber ‚eingeklappt‘ in die Themen ‚Sündenerkenntnis‘ und ‚Gnadenverheißung‘, die auf den Außenflügeln und der Predella ausgeführt sind. Es handelt sich also, das kann hier nur in aller Kürze angedeutet werden, um eine Art anschauliche Confessio Augustana, wo bekanntlich die trinitarisch verwobene Rechtfertigungslehre in CA 1–6 den Erläu53
54
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56
Vgl. Christian Neddens, Melancholia und Caritas. Menschlichkeit im Vorletzten in Lars von Trier’s ‚Melancholia‘ und im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Christophe Chalamet, Andreas Dettwiler, Mariel Mazzocco, Ghislain Waterlot (Hg.), ‚Game over’? Reconsidering Eschatology, Berlin 2017 (im Druck). Luther hatte in der Auslegung zu Psalm 111 (1530) empfohlen, man möge, wenn es denn ein Altarbild sein müsse, die Abendmahlsszene darstellen und mit einem eindeutigen biblischen Spruchband rahmen. Vgl. WA 31/1, 415. Zur Ausführung in Schneeberg vgl. Wegmann, Pöpper, Das Bild des neuen Glaubens (wie Anm. 27). Ingrid Schulze, Lucas Cranach d. J. und die protestantische Bildkunst in Sachsen und Thüringen, Bucha 2004, 32; Thomas Packeiser, Pathosformel einer ‚christlichen Stadt‘? Ausgleich und Heilsanspruch im Sakramentsretabel der Wittenberger Stadtkirche, in: Andreas Tacke (Hg.), Lucas Cranach 1553/2003 – Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, Leipzig 2007, 233–275, hier: 236 und 233. Schulze, Cranach d. J. (wie Anm. 55), 34.
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terungen zur Kirche und ihren Sakramenten (ab CA 7) vorausgeht.57 Im Folgenden gehe ich lediglich auf die Interpretation des Altarsakraments im Zusammenhang der Rechtfertigungstheologie ein, wie sie auf dem Wittenberger Altarretabel geboten wird.58
Lucas Cranach d. Ä./d .J., Wittenberger Altar (1547/1548), Stadtkirche St. Marien. Rekonstruktion der (nicht mehr möglichen) geschlossenen Ansicht
57 58
Den trinitarischen Artikeln CA 1, 3 und 5 korrespondieren die Artikel zu des Menschen Verlorenheit, Rechtfertigung und Heiligung in CA 2, 4 und 6. Zum neuesten Forschungsstand hinsichtlich des Wittenberger Altars vgl. Aurelia Zduńczyk, Der Reformationsaltar, Altaraufsatz mit Flügeln und Predella, in: Cranachs Kirche. Begleitbuch zur Landesausstellung Sachsen Anhalt: Cranach der Jüngere 2015, hg. v. Jan Harasimowicz und Bettina Sederhelm im Auftrag der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Wittenberg, Beucha 2015, 75–100.
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Christian Neddens
Die Predella im Verbund mit den Außenseiten der Flügel variiert das Thema von Verheißung und Glaube, wobei dem Schauen der heilsamen Gottesgabe (der ehernen Schlange bei Mose, des Opferwidders bei Abraham, des gekreuzigten Christus in der Verkündigung) zentrale Bedeutung zukommt. In der Öffnung des Altars, wenn im Innern (zusammen mit der Predigt auf der Predella) Taufe, Eucharistie und Beichte sichtbar werden, werden die media salutis als Implikate der Rechtfertigungstheologie erkennbar.59 Das Geschehen im Inneren des Menschen, Glaube und Rechtfertigung, hat Cranach auf die Außenseiten des Altarblocks gesetzt, während im Innern das äußere Geschehen der Kirche in Wort und Sakrament erscheint. Die Kirche mit ihren Vollzügen ist in Gottes Gnadenhandeln ‚eingewickelt‘, und andererseits: der inwendige Glaube führt nicht – wie bei Johannes Tauler – zur mystischen Versenkung in den Seelengrund, sondern in die Gemeinschaft des äußeren Wortes und sichtbaren Zeichens.
59
Zur Reaktivierung des traditionellen Bildmediums ‚Wandelaltar‘ in der Cranach-Werkstatt und seiner lutherischen Neukodierung vgl. Christian Neddens, Heilsame Anschauung. Visuelle Kommunikation der Rechtfertigung auf dem Weimarer Altarretabel Lucas Cranachs d. J., in: Bild und Bekenntnis, Die Cranach-Werkstatt in Weimar, hg. v. Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann und Thorsten Valk im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar, Göttingen 2015, 75–112 mit weiteren Literaturhinweisen. Zur ursprünglichen Funktion vgl. Heike Schlie, Wandlungen eines sakramentalen Bildverbundes in der Reformation. Das Schneeberger Retabel von Lucas Cranach dem Älteren, in: David Ganz, Felix Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin 2010, 243–270, hier: 247: „Bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts war das Flügelretabel mit seinen Möglichkeiten des Verhüllens und Enthüllens, mit der Inszenierung des Mysteriums im Inneren des Schreins oder der Mitteltafel an die Medialität des Altarsakraments gekoppelt. In der Performanz bildeten Altarretabel und Altarsakrament ein hybrides Gesamtmedium, das in Überwindung der Defizite der Einzelmedien (fehlende Anschaulichkeit des Leibs in der Hostie, fehlende Präsenz der heiligen Substanz im Bild) eine Evidenz des Göttlichen herstellte.“
„Genuin lutherisch“ oder „allgemein christlich“?
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Lucas Cranach d. Ä./d .J., Wittenberger Altar (1547/1548), Stadtkirche St. Marien. Geöffnete Ansicht
Das Abendmahlsgeschehen kommt auf der Mitteltafel – als Christusgemeinschaft unter beiderlei Gestalt – zur Anschauung, und zwar im Moment des Verrats (Joh 13,26), so dass auch hier die Pointe der Darstellung im Verheißungsglauben liegt. Doch ist damit noch nicht die leibliche Anwesenheit Christi unter den Gaben von Brot und Wein bildlich vermittelt? Wie aber wird sie dargestellt und interpretiert? Den Schlüssel für die Antwort bietet Cranach nicht auf der Abendmahlstafel selbst, sondern auf der Predella, auf der der predigende Luther Jesus Christus als den Gekreuzigten vor Augen malt. Dieser Gekreuzigte im leeren Kirchraum ist weder der Jesus der biblischen Historie, noch die Wiedergabe eines real-existierenden bildlichen Artefakts in St. Marien, sondern es ist der im Wort vom Kreuz den Glaubenden vor Augen gestellte und ins Herz eingebildete gegenwärtige Heiland, der ein für alle Mal an seinem Leib die Sünde der Welt trägt. Mit dieser Aussage zum Predigtverständnis interpretiert die Predella auch die Abendmahlsszene auf der Mitteltafel. Denn auch in der Eucharistie steht die personale Begegnung mit dem Gekreuzigten im Mittelpunkt. Auch hier wird Christus im Glauben, der auf sein Wort vertraut, leiblich ‚geschaut‘ und mit den verzehrten Gaben ‚eingebildet‘. Vergleicht man die Wittenberger Predella mit dem Holzschnitt aus Urbanus Rhegius’ Abendmahlstraktat von 1525, dann fällt die motivische Parallele von hören-
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Christian Neddens
der Gemeinde, predigendem ‚Anzeiger Christi‘ und sichtbarer Gegenwart des Gekreuzigten auf. Mit demselben Motiv, nämlich gerade der Verkündigungssituation, hatte bereits Rhegius das evangelische Abendmahlsgeschehen als verbum visibile interpretiert und auf den rechtfertigenden Glauben an die Zusagen Christi bezogen. Cranach löst also die schwierige Aufgabe, die leibliche Gegenwart Jesu Christi kraft seiner Verheißung im Austeilen und Nehmen von Brot und Wein bildlich darzustellen, indem er analog auf die ‚Einbildung‘ des leiblich gegenwärtigen Christus kraft des gepredigten Wortes60 hinweist. Die spezifischen medialen Eigenschaften des Wittenberger Altars als Wandelaltar bringen zum Ausdruck, dass ein Verständnis der kirchlichen Gnadenmittel nur vom evangelischen Hauptartikel der Rechtfertigung, von Verheißung und Glaube her möglich ist.61 Dass Cranach den Mut hatte, diese reformatorische Konzeption gerade mit dem überkommenen Medium des Wandelaltars zu verdeutlichen, der in altgläubiger Verwendung die Transsubstantiationslehre plausibilisieren sollte, gibt einen Einblick in den hohen Reflexionsund Konzeptionsgrad der evangelischen Kunst aus der Cranach-Werkstatt. 6.
Fazit
Zwischen 1525 und 1530 (aber auch darüber hinaus) wird in der Cranach-Werkstatt mit neuen Bildfindungen und der Neukodierung überkommener Motive an der Veranschaulichung des evangelischen Glaubens gearbeitet. In diesen experimentellen Bildfindungen geht es weniger um die polemische Abgrenzung, sondern um die Darstellung fundamentaler Glaubenseinsichten mit Mitteln der Kunst. Die Konzentration auf das entscheidend Christliche, insbesondere auf die Veranschaulichung der Rechtfertigung, führte dazu, dass Motive und Bildtypen der CranachWerkstatt auch in anderskonfessionellen Kontexten rezipiert werden konnten. Gleichwohl lassen sich an verschiedenen Stellen konfessorische Zuspitzungen erkennen, die für das lutherische Glaubensverständnis charakteristisch waren. Anschaulich zeigt die Neukodierung des Mediums Wandelaltar, wie die Reformation die theologische Bildauffassung teils fortführte und teils veränderte: im Vordergrund stand nun – allgemeinchristlich – die personale Christusbegegnung, das ‚Einbilden‘ Christi im Glauben und das Neugeschaffenwerden in contritio und fiducia. 60 61
Vgl. Albrecht Beutel, Wort Gottes, in: Ders., Luther-Handbuch, Tübingen 2005, 362–371. Das hochgradige Medienbewusstsein, das in dieser bildlichen Sakramentsinterpretation Cranachs zum Ausdruck kommt, fällt besonders im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Darstellungen auf, etwa zu einem Flugblatt des Matthias Flacius Illyricus, das jener 1561/1562 zur Verdeutlichung seiner eucharistischen Anschauung konzipierte. Indem dort Gottvater wortlos seinem Sohn das Himmelsbrot in den Schoß legt, während sich die Glaubenden sich nach diesem Brot-Christus ausstrecken, erhält das Sakramentsgeschehen eine plumpe Dinglichkeit jenseits von Verheißung und Glaube. Vgl. Dieter Koepplin, Reformatorische Kunst aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Hans-Christoph Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Gütersloh 1992, 495–544.
Autoritätskritik und Autorisierungsdiskurse Das „Schriftprinzip“ als archimedischer Punkt – oder als gordischer Knoten?! Bernd Oberdorfer Klarheit der Schrift? Eindeutigkeit? Selbstevidenz?! Man meint noch die Irritation, Verstörung, ja mühsam zurückgehaltene Wut über die neue Unkultur zu spüren, wenn man liest, wie sich Erasmus von Rotterdam, der große Humanist und Starintellektuelle – cum grano salis: der Habermas des 16. Jahrhunderts –, mit Luthers Lehre vom unfreien Willen auseinandersetzt. Nicht ohne Sympathie hatte Erasmus die Anfänge der reformatorischen Bewegung betrachtet; zu reformieren sah auch er in der Kirche genug, und mit einigen der ‚jungen Wilden‘, Melanchthon oder Zwingli etwa, war er sogar befreundet. Doch jetzt sah er, wie Luther den doch die Würde des Menschen als sittliches Wesen verbürgenden freien Willen negierte. Irritierend war nicht nur, dass Luther damit ein zentrales Moment des humanistischen Selbstverständnisses verwarf, sondern fast mehr noch, wie er es tat. Denn in Erasmus’ Augen brach Luther aus der über Jahrhunderte hinweg etablierten und eingespielten Wissens- und Wissenschaftskultur aus, wenn er zum einen den nach Erasmus’ Urteil in dieser Frage gegebenen weitgehenden inhaltlichen Konsens in Theologie und Philosophie ignorierte, in dem sich auch eine tiefe Konsonanz von Christentum und griechisch-römischem Geist artikulierte, und zum anderen auch die bewährte Form der Wissensgenerierung und Wissensvergewisserung rabiat bekämpfte, nämlich die Verständigung in einer Diskursgemeinschaft, in der sich sukzessive ein verlässliches Wissen aufbaut, durch – theologisch anschlussfähiger formuliert – Traditionsbildung. Luthers These, die Heilige Schrift erschließe ihren Sinn aus sich selbst in eindeutiger und klarer Weise, widersprach nicht nur Erasmus’ philologischem Ethos, das dazu nötigte, die Vielstimmigkeit, ja Vielspältigkeit der biblischen Texte wahr- und ernstzunehmen. Luthers Behauptung, die Heilige Schrift erschließe nun eben die radikale Unfreiheit des menschlichen Willens, konnte Erasmus angesichts der auch in dieser Frage gegebenen Mehrdeutigkeit des Schriftzeugnisses vielmehr auch wissenstheoretisch nur als dezisionistische Setzung, als radikal subjektivistische Usurpation von Wahrheitsansprüchen erscheinen, die sich der Überprüfung durch die ‚scientific community‘ systematisch entzog. In seiner Diatribe „Vom freien Willen“ griff er Luthers Polemik auf, dass auch Bischöfe, Konzilien und Päpste irren könnten, und fragte spitz zurück, ob
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Bernd Oberdorfer
das für einzelne Theologen denn nicht gelte.1 Er seinerseits hielt es für angemessener, ja vernünftiger, sich dem großen Konsens der kirchlich-theologischen und philosophischen Tradition anzuschließen, wenn sich dafür gute Gründe finden lassen. Mit anderen Worten: Ohne auf den Anspruch der vernünftigen Überprüfung zu verzichten, gab er der Tradition einen Vertrauensvorschuss. Die Traditionsanbindung hatte für ihn die Funktion der Willkürvermeidung. Und in der Frage der Willensfreiheit gab es in seinen Augen keinen guten Grund, vom Konsens der Gebildeten abzuweichen, im Gegenteil. In dieser Perspektive musste Luther als der „stiernackige Gottesbarbar“ erscheinen, als den ihn noch im 20. Jahrhundert Thomas Mann bezeichnete. Zu diesem Eindruck trug sicher Luthers zur enthemmten Grobianik neigende Lust an der ‚deutlichen Aussprache‘ bei, die dem feinsinnigen Intellektuellen Erasmus zutiefst widerstrebte; sie wäre ja auch im heutigen Wissenschaftssystem völlig undenkbar (obwohl sie den Unterhaltungswert wissenschaftlicher Diskussionen gelegentlich durchaus steigern würde). Aber man darf sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen. Es ging in dieser Kontroverse nicht bloß um den Zusammenprall zweier Temperamente. Es ging auch nicht um den Kampf der reflektierten Wissenschaft mit fundamentalistisch-frommer Unmittelbarkeit (obwohl es Erasmus so erschien). Sondern es ging um den Konflikt zweier unterschiedlicher Formen der Generierung, kommunikativen Vergewisserung und sozialen Etablierung normativen religiösen Wissens. Denn natürlich war Luther keineswegs der theologisch und wissenschaftstheoretisch unbedarfte homo religiosus, der sich den Anforderungen transparenter wissenschaftlicher Methodik verweigert. Er war als Theologieprofessor tief verwurzelt in der Wissenschaftskultur seiner Zeit, und es war keine Äußerlichkeit, dass er sich zeitlebens für sein reformatorisches Wirken auf seinen Doktortitel berief. Dies hat sich ja auch insofern dem kollektiven Gedächtnis des Protestantismus eingebrannt, als selbst der Kleine Katechismus, das klassische protestantische Werk religiöser Elementarbildung, regelmäßig unter dem Autorennamen „D. Martin Luther“ veröffentlicht wurde. Man darf auch nicht übersehen, dass Luther neben seinen vielen populären, sich an eine breitere Öffentlichkeit richtenden Schriften nie aufgehört hat, sich im engeren Sinn wissenschaftlich zu betätigen, Vorlesungen zu halten, Disputationsthesen zu entwerfen etc.
1
Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio diatribe sive collatio. Gespräch oder Unterredung über den freien Willen. Lateinisch-deutsch, in: Ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd. 4, Darmstadt 1968, 1–195, hier: 31: „Ich höre: Was trägt die große Zahl [sc. der Kirchenlehrer] zum Verständnis des Geistes bei? Ich antworte: Was trägt die geringe Zahl bei? Ich höre: Was trägt die Bischofsmütze zum Verständnis der Heiligen Schrift bei? Ich antworte: Was tragen Kutte oder Kapuze bei? […] Ich höre: Was trägt ein versammeltes Konzil zur Erkenntnis der Schrift bei, bei dem es geschehen kann, daß keiner den Geist hat? Ich antworte: Was tragen die Privatzusammenkünfte weniger bei, in denen es mit größerer Wahrscheinlichkeit niemanden gibt, der den Geist besitzt?“
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Er weigerte sich auch nicht, seine Position diskursiv zu verantworten. Seine berühmte Erklärung auf dem Wormser Reichstag 1521, er werde seine Lehre widerrufen, wenn man ihn „durch Schriftzeugnisse oder mit Vernunftgründen“ (testimoniis scripturarum aut ratione evidente) widerlege,2 ist keine bloße Floskel, sondern sie bekennt sich zu einer spezifischen theologischen Rationalität, und sie benennt einen ‚Instanzenzug‘, der nach Luther allein zu gesichertem religiösen Wissen führen kann. Allerdings artikuliert sich darin (mehr oder weniger verdeckt) eine fundamentale Verschiebung gegenüber der mittelalterlichen Theologie: Der Anspruch, er müsse mit für ihn selbst einsichtigen Gründen und auf von ihm selbst akzeptierten Wegen überzeugt werden, negiert die Idee, dass eine kirchlich vorgelegte Lehre aufgrund der formalen Autorisierung der sie vorlegenden Instanzen (Bischof, Kon3 zil, Papst) vorbehaltlos als geltend angenommen werden müsse. Nicht zufällig hatte schon 1518 Kardinal Cajetan die Direktive, bei dem Augsburger Verhör mit Luther nicht in der Sache zu diskutieren, sondern ihn ausschließlich zum Widerruf aufzufordern.4 Denn wer diskutiert, rechtfertigt sich – und anerkennt damit implizit das Recht des Gegenübers, überzeugt zu werden, statt einfach gehorchen zu müssen. Umgekehrt zeigt natürlich Luthers Bereitschaft, sich widerlegen zu lassen, dass er die Aufgabe einer diskursiven Vermittlung keineswegs für obsolet erklärt hatte. Im Übrigen hätte Luther kaum die Gefolgschaft eines ‚Vollakademikers‘ wie Melanchthon gefunden, wenn sein Ansatz sich in einem erratisch-subjektivistischen Fideismus erschöpft hätte. Ohnehin wäre dann kaum zu erklären, warum die Reformation sich so emphatisch als Bildungsbewegung verstanden und auch im universitären Bereich geradezu eine Bildungsexplosion ausgelöst hat. Gleichwohl hat Erasmus Luther nicht einfach missverstanden. Er hat erkannt, dass hier ein neuer Ansatz vorlag, und er hat den Finger auf Probleme gelegt, die damit verbunden sind. Verkannt hat er allerdings die spezifische immanente theologische Rationalität dieses Ansatzes. Dieser will ich nun in den folgenden Ausführungen nachgehen. Dabei will ich vor allem zeigen, wie Luthers normative Konzentration auf die Heilige Schrift (das später sog. Schriftprinzip) sich in enger sachlicher Verbindung mit seiner zentralen theologischen Einsicht von der „Rechtfertigung allein aus Glauben“ entwickelt. Dann will ich die daraus erwachsene tradi2 3
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Martin Luther, Rede D. Martin Luthers vor Kaiser Karl und den Fürsten zu Worms am Donnerstag nach Misericordia Domini [sc. 1521], WA 7, 831–838, hier: 838 (Übersetzung BO). Selbst bei Erasmus findet sich diese Idee widergespiegelt, wenn er beteuert, er habe „so wenig Freude an festen Behauptungen [assertionibus – ein Zentralbegriff von Luthers Glaubenshermeneutik!], dass ich leicht geneigt bin, mich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen, wo immer es durch die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlaubt ist, denen ich meine Überzeugung [meum sensum] gern unterwerfe, ob ich nun verstehe [assequor], was sie vorschreibt, oder ob ich es nicht verstehe.“ Vgl. Otto Hermann Pesch, Hinführung zu Luther, Mainz 1982, 106. Zum Verlauf des Verhörs vgl. auch Reinhard Schwarz, Luther, Göttingen 1986, Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 3, Lieferung I, 59–61.
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tionskritische Verschiebung des kirchlichen Autorisierungsgefüges skizzieren und die von Erasmus zielsicher avisierten Probleme benennen, die den Protestantismus bei der Neuetablierung theologischer Normativität begleiteten. Schließlich will ich an einem exponierten Beispiel, nämlich am Abendmahlsstreit, demonstrieren, wie das Schriftprinzip als orientierendes Zentrum reformatorischen Christentums sich nicht notwendig auch als dessen „einende Mitte“ erwies. 1.
Normative Konzentration: Zur Genese des „Schriftprinzips“
Die nach der Wiederentdeckung von Luthers früher Römerbriefvorlesung von 1515/1516 am Beginn des 20. Jahrhunderts vehement ausgebrochene, außerordentlich komplexe und höchst kontroverse Diskussion um den sog. „reformatorischen Durchbruch“, d.h. um die Frage, wann Luthers Theologie „reformatorisch“ 5 wurde, kann und will ich hier nicht in extenso ausbreiten. Ich halte die Beschreibung für am plausibelsten, dass Luther von früh an einen theologischen Ansatz vertrat, der innerhalb des Spektrums der spätmittelalterlichen Theologie einen besonderen Akzent auf die Priorität der göttlichen Gnade setzte und die Bedeutung der Bibel für die theologische Vergewisserung hervorhob, ohne damit einen über das Maß des Üblichen hinausgehenden kirchenkritischen Anspruch zu erheben; selbst die 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 blieben noch in diesem Rahmen, wenngleich sie ihn in mancher Hinsicht – etwa der Einschränkung päpstlicher Verfügungsmacht über den „Kirchenschatz“ – schon sehr weit dehnten. Erst als die römische Kirche diese Position als häretisch zu verfolgen begann, wurde er gewissermaßen im Rückblick gewahr, dass diese Position möglicherweise rahmensprengende Implikationen hatte, und 6 begann diese Implikationen zu entfalten. Entscheidend wurde dabei die Erfahrung, dass diejenigen Instanzen, die im System der mittelalterlichen westlichen Christenheit für die Bewahrung der rechten Lehre zuständig waren, also Bischöfe und Papst, die theologischen Einsichten, die sich ihm aus dem Studium der Heiligen Schrift als verbindlich erschlossen hatten, nicht nur nicht unterstützten, sondern geradezu als häretisch bekämpften. Es entstand eine normative Spannung zwischen Schrifterkenntnis und Lehramt, die sich für Luther nur zugunsten des Gehorsams gegen die Schrift auflösen ließ. Für die römische Lehramtstheologie war diese Spannung per definitionem ausgeschlossen, da das Lehramt ja gerade dafür da war, die Schrift authentisch und verbindlich auszulegen. Die Schrift steht dem Lehramt also nicht gegenüber, das Lehramt repräsentiert und aktualisiert vielmehr den Sinn der Schrift. Luthers Kritik am
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Vgl. dazu etwa Pesch, Luther (wie Anm. 4), 80–102. Berndt Hamm spricht vom „systemsprengenden“ Charakter von Luthers Theologie. Vgl. etwa Ders., Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders., Bernd Moeller, Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, hier: 64.
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Ablass war in dieser Perspektive nicht nur ungehörig, sondern geradezu unverständlich – hatte den Ablass doch der Papst selbst angeordnet. Wie kam es nun aber zu Luthers normativer Konzentration auf die Heilige Schrift? Schon in seiner ersten Vorlesung, der über zwei Jahre (1513–1515) sich erstreckenden Psalmenvorlesung (für einen Mönchstheologen ein naheliegendes Thema), verwendete Luther zwar die traditionelle mittelalterliche Auslegungsmethode des „vierfachen Schriftsinns“, aber in markanter Akzentuierung.7 Diese Methode versuchte die Bibel (also auch das Alte Testament) als Glaubensbuch der christlichen Kirche aufzuschließen. Sie sollte helfen, die existenzielle Bedeutung der biblischen Texte für das Leben der Kirche und der christlichen Individuen herauszuarbeiten. Dies geschah durch die Unterscheidung von vier Ebenen (oder Sinndimensionen) der Interpretation. Dabei wurden dem sog. Literalsinn (sensus litteralis) drei Formen eines „dahinter oder darunter liegenden ‚tieferen‘, oder ‚höheren‘, eine(s) ‚geistlichen‘ Sinn(s) (‚sensus spiritualis‘)“8 zugeordnet. Die wörtliche Bedeutung wird also nicht ignoriert, sie wird aber gleichsam überwölbt durch eine mehrdimensionale theologische Sinngebung, nämlich den „allegorischen“, den „tropologischen“ oder „moralischen“ und schließlich den „anagogischen Sinn“. Der „allegorische Sinn“ deutet Schriftworte „auf Jesus Christus oder auf die Kirche und ihren Glauben oder auf beides zugleich“9. Der „tropologische“ oder „moralische“ Sinn hingegen sucht das Schriftwort für „das sittliche Leben“ der Christen in der Gegenwart „und seine Anforderungen“ aussagekräftig zu machen.10 Der „anagogische“ Sinn schließlich deutet das Schriftwort „auf das ewige Leben und die eschatologische Hoffnung“ der Christen.11 Die Gefahr dieses Verfahrens ist naheliegenderweise ein willkürlicher Umgang mit der Schrift. Der wörtliche Sinn droht zum bloßen Ansatzpunkt für weit ausgreifende Sinnassoziationen zu degenerieren. Sperrige Aussagen können durch Allegorisierung in ein harmonisches Ganzes integriert und so ihrer Anstößigkeit beraubt werden. Die ‚geistliche‘ Deutung beginnt gleichsam ein Eigenleben zu gewinnen, und damit wird die kirchliche Auslegungstradition implizit zur Norm der Schriftauslegung, obwohl die ‚Hochtheologie‘ immer daran festgehalten hat, dass im 12 strengen theologischen Beweis nur der buchstäbliche Sinn gelten könne . Genau die Herausarbeitung der theologisch-existenziellen Dimension ist freilich auch die Stärke des „vierfachen Schriftsinns“. „Die Theorie vom vierfachen 7 8 9 10 11
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Ich folge namentlich der Darstellung von Pesch, Luther (wie Anm. 4), 57–62. A.a.O., 57. Ebd. Ebd. Ebd. Pesch zitiert einen „hübschen“, im Hexameter abgefassten „Merkvers des Dominikaners Augustinus von Dänemark (Dacia)“ aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts: „Lítera gésta docét, quid crédas, állegoría, / móralis, quíd agás, quid spéras, ánagogía“, in Übersetzung: „Der Buchstabe lehrt, was geschehen; was du glauben sollst, die Allegorie; der moralische [Sinn], was du tun sollst; was du hoffen sollst, die Anagogie“ (58). Vgl. a.a.O., 65f.
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Schriftsinn will verhindern, dass das Gottesbild Schaden nimmt durch einen nur oberflächlichen Blick, dem sich die biblische Geschichte als verworrenes Nebeneinander und Nacheinander zusammenhangloser Ereignisse darstellen muss.“13 In der „geistlichen“ Auslegung gewinnt die in der Bibel bezeugte Offenbarungsgeschichte ihre Einheit, Ganzheit und Zielgerichtetheit. Und in diesen gottgewirkten übergreifenden Zusammenhang gehören dann eben auch die gegenwärtigen Christen mit ihrem Glauben, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung hinein. In der Ersten Psalmenvorlesung verwendet Luther den „vierfachen Schriftsinn“ ausgiebig, aber mit zwei charakteristischen – und im Rückblick vorausweisenden – Zuspitzungen: Erstens akzentuiert er den Literalsinn (!) christologisch, und zweitens fokussiert er den „moralischen“ Sinn auf den Glauben. D.h. zum einen: Er liest den Psalter als Buch der Gebete Christi. Er unterstellt also, dass bereits im Alten Testament durch den Mund der Psalmbeter Christus 14 selbst spricht. Luther meint dies natürlich nicht „historisch-buchstäblich“ , als hätte nicht beispielsweise David den Psalm gebetet. Er meint es aber auch nicht „allegorisch“, als würden wir als Ausleger einen ursprünglich anders gemeinten Text als Aussage über Christus interpretieren. In den Psalmen prophezeit Christus vielmehr durch den Mund des David von sich selbst. Man spricht deshalb von einem „sensus litteralis propheticus“, einem „buchstäblich-prophetische(n) Sinn“15. Zum anderen verwendet er den „moralischen Sinn“ nicht primär dafür, die Bedeutung der Schriftstellen für die sittliche Lebensführung aufzuzeigen, sondern er konzentriert die existenziell-lebensorientierende Dimension der Bibel auf „den Glauben an den in den Psalmen prophetisch angesagten Christus“16. Luther bezieht damit den Literalsinn und den tropologisch-moralischen Sinn in christologischer Vermittlung aufeinander: Was wir aus den Psalmen im Literalsinn über Christus lernen, das lernen wir im tropologischen Sinn über unseren Glauben an Christus. Mit anderen Worten: Schon am Anfang verdichtet Luther die Schriftauslegung auf die auch für seine entfaltete reformatorische Theologie zentrale Relation von Christus und Glaube. In den folgenden Vorlesungen ist eine immer deutlichere Abkehr vom vierfachen Schriftsinn zu erkennen. Die Hinwendung zum Literalsinn hat enorme theologische Konsequenzen, die im Zuge der weiteren Entwicklung mehr und mehr zum Tragen kommen. Zunächst gewinnt der ursprüngliche Text (resp. sein ursprünglicher Sinn) wieder das entscheidende Gewicht gegenüber den kirchlichen Auslegungstraditionen. Aus dem biblischen Wortlaut muss nicht durch übertragene Deutungen ein tieferer Sinn gleichsam herausgekitzelt werden, sondern die theologische Bedeutung ist bereits im ursprünglichen Text enthalten und muss durch dessen möglichst präzise Interpretation erhellt werden. 13 14 15 16
A.a.O., 58. A.a.O., 60. Ebd. A.a.O., 61; Herv. BO.
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Durch die Vorrangstellung des biblischen Ursprungssinnes gegenüber den kirchlichen Auslegungen gewinnt der Ursprungssinn dann auch eine normative Bedeutung, die kritisch gegen die kirchliche Tradition in Anschlag gebracht werden kann.17 Wenn Luther der Überzeugung ist, dass auch Kirchenväter in der Auslegung der Schrift irren konnten, sieht er sich damit durchaus nicht außerhalb der Grenzen des kirchlich Erlaubten. Im Augsburger Verhör durch Cajetan 1518 verstärkt Luther freilich die kritische Funktion der Heiligen Schrift dahingehend, dass auch der Papst nicht über der Schrift steht.18 Und in der Leipziger Disputation 1519 bringt ihn sein Gegner Johannes Eck dazu, öffentlich die Konsequenz zu ziehen: „Grundsätzlich können auch Konzilien irren.“19 D.h.: Im Prinzip können nicht nur einzelne Kirchenväter, sondern kann die verbindlich festgesetzte kirchliche Lehre selbst im Widerspruch zur Heiligen Schrift stehen. Und, was fast noch wichtiger ist: Es gibt Instanzen außerhalb des kirchlichen Lehramtes, die befähigt und befugt sind, einen solchen Widerspruch festzustellen. Damit sprengte Luther in der Tat den Rahmen des kirchlichen Lehramtsgefüges. Denn er bezweifelte den Anspruch des Papstes, letztgültiger Ausleger der Heiligen Schrift zu sein. Ja, er griff diesen Anspruch als eine der Mauern an, die die 20 „Romanisten“ um die Schrift gezogen hätten. Wenn nämlich der Papst selber es ist, der allein und letztverbindlich darüber zu bestimmen hat, ob eine kirchliche Lehre schriftgemäß ist oder nicht, dann steht die Schrift letztlich der Kirche nicht mehr als kritische Instanz gegenüber, denn es gibt niemanden, der die Schrift kritisch geltend machen könnte. Luther erschien dies als eine Selbstimmunisierungsstrategie der Kirche gegen Gottes Wort, und das ist einer der Gründe dafür, dass er den Papst als „Antichristen“ zu sehen begann, d.h. als den im Gewande Christi auftretenden und darum besonders heimtückischen und verführerischen teufli21 schen Widersacher Christi. Diese scharfe Kritik lag durchaus schon im sachlichen Gefälle von Luthers früher Theologie. Sie wurde in dieser Prägnanz aber herausgefordert durch den Konflikt mit Rom im Ablassstreit, als Luther erkennen musste, dass seine Argumente gegen den Ablass, für die er sich auf die Bibel stützte, von Rom nicht exegetisch widerlegt, sondern unter formaler Berufung auf Tradition und Kirchenrecht verwor-
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Das offenkundige Problem, das daraus entsteht, dass für Luther der „Ursprungssinn“ biblischer Aussagen deren christologische Bedeutung, also – aus heutiger Sicht – selbst Resultat kirchlicher Auslegung ist, soll hier nur vermerkt werden. Vgl. a.a.O., 65. Ebd. Vgl. Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, 404–469, hier: 406; neudeutsche Fassung in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, 150– 237, hier: 154. Vgl. dazu den Überblick bei Thomas Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Kommentare zu Schriften Luthers, Bd. 3, Tübingen 2014, 19–24.
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fen wurden. Daraus folgt natürlich nicht, dass das sog. „reformatorische Schriftprinzip“ nur eine zeitbedingte, aus der Kontroverse geborene Überspitzung darstellte, die als solche der Sache nicht angemessen wäre.22 Im Gegenteil wird man sagen können, dass Luther durch die Kontroverse dahin getrieben wurde, die Frage in der nötigen Grundsätzlichkeit zu beantworten. Und in der Sache ist ihm die gesamte lutherische (und ebenso die reformierte) Bekenntnistradition gefolgt; die Argumente waren also offenkundig stark genug, um auch über die konkrete Konfliktsituation hinaus zu überzeugen. 2.
Willkürvorwurf und Antiskeptizismus: Das „Schriftprinzip“ im Konflikt
Lässt sich über das „Schriftprinzip“ aber tatsächlich verlässliches und normativ verbindliches religiöses Wissen generieren? Genau dies hatte Erasmus ja bezweifelt. Und die Kritikpunkte liegen auf der Hand; ich nenne namentlich drei: Zum einen: Wenn es kein ‚monopolistisches‘ kirchliches Lehramt mehr gibt, wer oder was verhindert dann ein vielstimmiges Interpretationschaos, in dem jeder seine Interpretation für die richtige hält? Hat nicht Luther das Lehramt des Papstes durch sein eigenes Auslegungsmonopol ersetzt? Zum anderen: Ist die Schrift nicht selber so vielstimmig, disparat und voller Widersprüche, dass aus ihr gar nicht von selbst eindeutige Weisung gewonnen werden kann? Geht Luthers gegen Erasmus vorgebrachte Behauptung, die Schrift sei in sich klar, nicht am offenkundigen Faktum dieser Vielstimmigkeit vorbei? Bedarf es angesichts dessen nicht eines Lehramtes, das in strittigen Fragen autoritativ den authentischen Sinn der Schrift vortragen kann und verhindert, dass Einzelne sich einseitig das aus der Bibel heraussuchen, was ihren Interessen und Neigungen entspricht? Brauchen wir, anders gefragt, nicht einen ‚Anwalt des authentischen Schriftsinnes‘? So fragte jedenfalls Erasmus, und so fragen bis heute viele. Damit zusammen hängt ein Drittes: Hat Luther nicht faktisch einseitig ausgewählt, wenn er sich dezidiert an Paulus orientiert und etwa den Jakobusbrief scharf 23 kritisiert, weil er in der Frage der Werke „stracks wider S. Paulum“ stehe? Dies haben im 20. Jahrhundert selbst wohlmeinende katholische Lutherforscher wie Joseph Lortz geltend gemacht, der Luthers intensive Paulusinterpretation rühmte, aber eben monierte, er habe andere biblische Bücher vernachlässigt und sei daher
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Dieser Eindruck kann im Übrigen auch entstehen, wenn in der lutherisch/römisch-katholischen Studie „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ ohne nähere Erläuterung darauf hingewiesen wird, Luther habe den Ausdruck „sola scriptura“ nur selten verwendet. Denn dadurch wird nahegelegt, dass Luther eigentlich gar kein „sola scriptura“ in Reinform vertreten habe. Vgl. dazu meinen Beitrag: Feiern? Gedenken? Büßen? Ökumenische Perspektiven auf das Reformationsjubiläum. Zur lutherisch-katholischen Studie „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“, Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 64 (2014), Heft 1, 3–8. Martin Luther, Vorrede auff die Epistel S. Jacobi und Jude (1546), in: WA DB 7, 385.387, hier: 385.
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kein „Vollhörer der Schrift“ gewesen24 – und wenn man die Ursprungsbedeutung des Wortes „Häresie“, nämlich „Auswahl“, im Ohr hat, dann kann man darin bei aller Anerkennung noch das alte Häretiker-Verdikt anklingen hören. Auch Erasmus argumentierte ähnlich, wenn er Luther vorhielt, sich für seine These des „versklavten Willens“ einseitig auf bestätigende Bibelstellen zu stützen und gegenläufige Aussagen zu ignorieren oder gar in seinem Sinne „um[zu]modeln“.25 Genau betrachtet, hat der Vorwurf eine doppelte Stoßrichtung: Wenn Luther nicht die „ganze Heilige Schrift“ zum Sprechen bringt, wird er erstens seinem eigenen Schlachtruf „sola scriptura“ nicht gerecht. Dies widerlegt zweitens seinen Anspruch, die Bibel interpretiere sich selbst und es bedürfe für ihr rechtes Verständnis keiner externen Auslegungsinstanz. Wie kam Luther aber zu diesem Anspruch, und wie macht er ihn operativ handhabbar? Luthers Überzeugung, dass die Heilige Schrift sich selbst verständlich macht, ist theologisch, genauer: rechtfertigungstheologisch begründet. D.h., sie zieht hermeneutische Konsequenzen aus der grundlegenden theologischen Einsicht, dass der Mensch vor Gott gerecht ist „allein durch den Glauben, ohne (eigene) Werke, um Christi willen“, mit anderen Worten, dass der Mensch seines ewigen Heils im Glauben daran gewiss sein kann, dass Christus am Kreuz stellvertretend alles getragen hat, was ihn von Gott trennt, und ihm zugute jene „Gerechtigkeit“ erworben hat, „die vor Gott gilt“. Genau dies ist für Luther die entscheidende Botschaft der Bibel. Da wir diesen Glauben nicht aus eigenen Kräften erlangen können, kann er sich auch nicht den eigenen Verstehensbemühungen verdanken. Der heilsvergewissernde Inhalt der Heiligen Schrift muss sich vielmehr aus sich selbst erschließen. Anders gesagt: Der Glaube impliziert das vertrauensvolle Verstehen oder verstehende Vertrauen, dass Gott für unsere Gerechtigkeit durch Christus bereits gesorgt hat, so dass wir dafür nichts mehr tun müssen – aber eben auch nichts dafür tun können. Dessen gewiss zu werden, ist Gnadengeschenk. Dass das so ist, kann sich nicht anders erschließen als im Vollzug dieses Geschenks selbst. Paradox zugespitzt: Wir verstehen es erst, wenn wir es verstehen. Das ist der Sinn von Luthers berühmter Formel, der entscheidende Inhalt der 26 Schrift sei, ‚was Christum treibet‘ . Luther ist überzeugt, dass die Bibel alles enthält, was nötig ist, um den Glauben an Christus zu erzeugen – und dass sie dies auch zu verstehen gibt. Im Entscheidenden, in der Kernbotschaft ist die Bibel nach Luther deshalb klar und eindeutig – und muss sie klar und eindeutig sein, weil sonst der Gewissheitsgrund für die Glaubensüberzeugung verloren geht. Erasmus’ Her24 25
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Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. 1, Freiburg im Breisgau 1939/1940, 176. Vgl. Erasmus, Diatribe (wie Anm. 1), 7. Er distanziert sich von der „Geisteshaltung“ einiger, die, „leidenschaftlich einer Meinung ergeben, nichts dulden, was von dieser abweicht, sondern, was immer sie in der Heiligen Schrift lesen, zur Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinung ummodeln“. Die Formel ist frei zitiert nach Luther, Vorrede (wie Anm. 23), 385: „Und darinne stimmen alle rechtschaffene Bücher uber eins, das sie alle sampt Christum predigen und treiben.“
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vorhebung der Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit in der Bibel, der Mehrdeutigkeit und Dunkelheit vieler biblischer Stellen musste Luther daher als Nebelwerferei erscheinen, die zwar philologisch richtig war, aber theologisch am Kern der Sache in desaströser Weise vorbeiging. Erasmus’ philologisch motivierter Skrupulanz hielt er entgegen: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker.“27 Die Heilige Schrift führt nicht in die Verwirrung, aus der dann das Lehramt herausführen müsste, sondern sie erzeugt und vermittelt aus sich selbst heraus jene Klarheit, die für die Glaubensgewissheit notwendig und hinreichend ist. Selbstverständlich nahm auch Luther die Vielstimmigkeit, Mehrdeutigkeit und Dunkelheit in der Bibel wahr – wie hätte er als Bibelübersetzer das übersehen können? Aber er akzeptierte es nicht als Argument gegen ihre prinzipielle Klarheit. Diese ‚Klarheit im Entscheidenden‘ galt ihm vielmehr als der hermeneutische Schlüssel für die Schriftauslegung: Die Glauben schaffende Kernbotschaft vom gratis geschenkten Heil ist Maßstab und Kriterium für die Auslegung und Beurteilung gerade auch der „dunklen“ und mehrdeutigen Stellen. In der Willensfreiheitsdebatte fand er daher Erasmus’ biblisch begründete Verteidigung des freien Willens exegetisch unangemessen, weil theologisch falsch. Denn die Annahme, dass der menschliche Wille durch die Sünde so korrumpiert ist, dass er sich aus eigenem Antrieb und aus eigenen Kräften nicht mehr Gott zuwenden kann, war ihm ein notwendiges Implikat der Überzeugung von der „Rechtfertigung allein aus Glauben“. Daraus folgte für ihn, dass mehrdeutige oder strittige Bibelstellen so auszulegen sind, dass sie dieser Überzeugung nicht widersprechen. Erasmus’ Nachweis von Bibelstellen, die seine Konzeption einer (bedingten) Wil28 lensfreiheit stützte, war daher für Luther schon im Ansatz verfehlt. Im Extremfall war er sogar zu einer scharfen Kritik an ganzen biblischen Büchern bereit, wenn sie sich als widerständig gegen die Rechtfertigungsbotschaft erwiesen. Klassisches Beispiel ist der schon genannte Jakobusbrief, der in Luthers Augen mit der Aussage, dass Glaube ohne Werke tot sei, das genaue Gegenteil der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft „allein aus Glauben ohne Werke“ besagte und daher nicht als genuiner Ausdruck des bedingungslosen göttlichen Heilswillens gelten konnte. Luther entfernte ihn zwar nicht ganz aus der Heiligen Schrift, strafversetzte ihn aber gleichsam zusammen mit dem ähnlich anstößigen Hebräerbrief ans Ende der Bibel, wo mit der Apokalypse bereits ein ebenfalls problematischer Text auf sie wartete. Luther vertritt mit dem „sola scriptura“ also keinen flächigen Biblizismus, dem alle Bibelstellen undifferenziert „Wort Gottes“ sind; die Verbalinspirationslehre kann sich nicht auf ihn berufen. Er entwickelt vielmehr einen theologisch begründeten, bzw. genauer: einen im Vollzug sich selbst begründenden hermeneutischen
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Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 605: „Spiritus sanctus non est Scepticus.“ Vgl. Erasmus, Diatribe (wie Anm. 1), 37ff.
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Zirkel: Die Schrift selbst erschließt ihre Kernbotschaft, und von dieser Kernbotschaft fällt wiederum Licht auf die Schrift. Genau so beschreibt Luther übrigens im Rückblick seine reformatorische Entdeckung. 1545, ein Jahr vor seinem Tod, blickt er im Vorwort zur Ausgabe seiner gesammelten lateinischen Schriften noch einmal auf die lang zurückliegenden Ereignisse zurück, die ihn zum Reformator machten.29 Er will dem Leser damit auch entschuldigend erklären, warum nicht alle der im Band gesammelten frühen Werke bereits auf der vollen Höhe reformatorischer Erkenntnis stehen. Dieser kurze Text gehört zu den meistdiskutierten und umstrittensten Texten der Lutherforschung überhaupt. Denn er wirft zum einen viele Fragen der Datierung und Abfolge der in ihm referierten Ereignisse auf. Und zum anderen zeigen sich gravierende Spannungen im Vergleich zu den Originaldokumenten aus den 1510er Jahren, die Zweifel an der Zuverlässigkeit von Luthers Erinnerung aufkommen lassen.30 Zum Beispiel lässt sich eine ereignishafte, gleichsam schlagartige „reformatorische Wende“, wie er sie 1545 berichtet, in den frühen Texten selbst nirgends aufweisen. Aber gerade dann gewinnt der späte Rückblick eine hohe Signifikanz für Luthers Selbstbild, für seine eigene deutende Rekonstruktion der Genese der reformatorischen Einsicht. Noch nach 30 Jahren spürt man in dem Bericht die starken Emotionen, die ihn in dieser Zeit bewegt haben. In seinen Bibelstudien, namentlich im paulinischen Römerbrief, so schreibt er, sei er immer wieder auf den Begriff „Gerechtigkeit Gottes“ gestoßen. Dieses Wort habe er „gehasst“. Denn er dachte, es meine die Gerechtigkeit, mit der Gott den Sünder beurteilt und straft. Luther war ja Mönch geworden, weil er ein im emphatischen Sinn gottgemäßes Leben führen wollte. Aber genau deshalb machte er die Erfahrung, dass es ihm nie gelang, Gottes Gebote umfassend zu erfüllen. Trotz größtem Bemühen fühlte er sich weiterhin als Sünder und fürchtete Gottes Strafe. Selbst Christus erschien ihm nicht als Erlöser, sondern als strenger Richter, der ihn zu Recht verurteilt. Doch dann habe er auf einmal das Wort „Gerechtigkeit Gottes“ ganz neu verstehen gelernt: nämlich als die Gerechtigkeit, die Gott uns schenkt, obwohl wir sie nicht verdienen, die Gerechtigkeit, an der Gott uns Anteil gibt – „gratis“, d.h. allein aus Gnade und ohne dass wir dafür etwas tun müssten. „Da hatte ich das Empfinden“, schreibt er im Rückblick, „ich sei geradezu von neuem geboren und durch 31 geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.“ Luther belässt es allerdings nicht bei dieser epiphanieartigen Darstellung eines Einzelereignisses. Er beschreibt vielmehr einen doppelten Verifikationsprozess 29
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Martin Luther, Vorrede zum ersten Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545), WA 54, 179–187. Deutsche Übersetzung in: Bornkamm, Ebeling, Ausgewählte Schriften (wie Anm. 20), 12–25. Vgl. die ausführliche Diskussion bei Pesch, Luther (wie Anm. 4), 81–86. WA 54,186; zitiert in der Übersetzung bei Bornkamm, Ebeling, Ausgewählte Schriften (wie Anm. 20), 23.
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dieser elementaren Einsicht: Zum einen habe er eilends die ganze Bibel durchstreift und festgestellt, dass die transitive Deutung des Begriffs „Gerechtigkeit Gottes“ als Gabe statt (nur) als Eigenschaft Gottes sich auch an anderen Stellen bewährt; er stützt seine Einsicht also anhand innerbiblischer Konsonanz. Zum anderen aber betont er, er habe dieselbe Deutung später auch in Augustins Werk „De spiritu et litera“ entdeckt. Beides dient der Eindämmung des Willkürverdachts. Luther beruft sich keineswegs auf ein individuelles exegetisches Fündlein, das er dann mit prophetischer Autorität als alternativlose Wahrheit kommuniziert und gegen Kritik immunisiert. Das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – wenn es denn in Worms tatsächlich gefallen sein sollte – wäre gründlich missverstanden, wenn man es als rhetorisch geschickt inszenierte Argumentationsverweigerung interpretierte. Luther entzieht sich keineswegs der Aufgabe, seine Einsichten argumentativ zu plausibilisieren. Besonders sprechend ist in dieser Hinsicht der Hinweis auf Augustin. Er zeigt nämlich, dass Luther durchaus daran gelegen war, seine Einsichten in der kirchlichen Tradition zu verankern. Das von Erasmus zielsicher aufgespießte Problem, wie er sich sicher sein könne, gegen die Wolke der Zeugen der kirchlichen Tradition und des Lehramts als Einzelner recht zu haben, hat ihn nicht kalt gelassen. Er hat dies vielmehr als seine größte Anfechtung bezeichnet. Umso bedeutsamer war es, dass er im Namensgeber seines Ordens, der Augustiner-Eremiten, gleichsam einen Bundesgenossen und Gewährsmann fand, der ihm die Gewissheit gab, nicht allein gegen alle zu stehen. Dies galt übrigens auch für die Willensfreiheitsfrage, wo Augustin mit der Lehre von der gratia irresistibilis und der Prädestination Luther gewiss näher stand als Erasmus; so eindeutig war die Tradition also nicht, wie Erasmus es darstellte. 3.
Einende Mitte? Abendmahl und Schriftprinzip
Einer der Haupteffekte des reformatorischen Schriftprinzips war die Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort. Sie wurde zum kritischen Regulativ zur Beurteilung und Gestaltung kirchlicher Lehre und Praxis. Die Pointe bestand darin, dass kirchliche Regelungen nur dann Anspruch auf religiöse Verbindlichkeit erheben können, wenn sie sich direkt aus der Bibel ableiten lassen. Damit verfielen dann etwa die Fastenregeln der Kritik. Nicht zufällig begann die Reformation in 32 Zürich 1522 mit einem demonstrativen Wurstessen in der Fastenzeit. Bestritten war damit nicht ein möglicher positiver religiöser Sinn des Fastens. Bestritten war aber das Recht der Kirche, Regelungen als religiös verbindlich einzuführen, für die es keinen klaren Grund in der Schrift gab. Genau das war nun beim Fasten der Fall; Jesus hatte es sogar ausdrücklich für heilsirrelevant erklärt (vgl. Mk 7,1ff., bes.
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Vgl. dazu Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main/Leipzig 2009, 336–339.
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7,15). Wenn die Kirche daher die Einhaltung der Fastenregeln zur Christenpflicht macht (deren Übertretung mithin gebeichtet werden muss), dann verwechselt sie Menschenwort und Gotteswort – und das ist Götzendienst. Man könnte jetzt die ganze Palette reformatorischer Kirchenkritik im Namen der Schrift Revue passieren lassen – vom Ablass und der Zahl der Sakramente über den Pflichtzölibat bis zum Fegefeuer –; aber ich will mich auf ein zentrales Beispiel beschränken, das Abendmahl. Für die praktische Durchführung der Reformation und ihre symbolische Außenwirkung von kaum zu überschätzender Bedeutung ist das Abendmahl „unter beiderlei Gestalt“. Die Praxis, die Gemeinde in der Eucharistiefeier nur mit Brot, nicht mit Wein kommunizieren zu lassen, konnten die Reformatoren nur als glatten Ungehorsam gegen das klare Wort Christi beurteilen, der gesagt hatte: „Trinket alle daraus!“ (Mt 26,27) Daran änderte sich auch nichts dadurch, dass diese Praxis im Mittelalter gleichsam ‚von unten‘ aufgrund der frommen Scheu der einfachen Gemeindeglieder vor dem Umgang mit dem Blut Christi entstanden und also nicht ‚von oben‘ als klerikaler Distinktionsmarker eingeführt worden war. Und es spielte ebenso wenig eine Rolle, dass auch die Reformatoren die sog. Konkomitanz-Lehre nicht verwarfen, die besagt, dass in jedem der beiden Abendmahlselemente jeweils der ganze Christus gegenwärtig ist, so dass, wer nur die Hostie empfängt, nicht weniger empfängt als wer zusätzlich den Wein empfangen hat. Das alles konnte die Kirche nicht dazu berechtigen, von der klaren Anweisung Christi abzuweichen. In der communicatio sub una (specie) verdichtete sich für die Reformatoren gleichsam die Ursünde der mittelalterlichen römischen Kirche: Sie setzte ihre eigenen Regeln an die Stelle Christi. Wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung gab es an dieser Stelle auch keine Möglichkeit zum Kompromiss. Das Abendmahl zeigt allerdings auch die Grenzen der Verständigungs- und Bindungskraft des Schriftprinzips. Denn der sog. Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli entstand ja auf der gemeinsamen Basis des Schriftprinzips. Er wurde zum erbitterten Streit um die Auslegung von Schriftstellen. Im Zentrum stand dabei bekanntlich der Satz „Hoc est corpus meum / Das ist mein Leib.“ Beeinflusst durch sprachtheoretisch-philologische Überlegungen des Humanisten Hoen/Honius, hatte Zwingli begonnen, das est im Sinne von „bedeutet“ zu interpretieren. Jesus etablierte am Gründonnerstagabend einen Verweisungszusammenhang: In den Abendmahlsfeiern verweisen Brot und Wein zeichenhaft auf den (nicht anwesenden) Christus und erinnern die Gemeinde daran, dass er für sie in den Tod gegangen ist. Indem sie teilnehmen, bekennen die Christen sich zu Christus und erfahren ihre Gemeinschaft mit ihm und untereinander. Das Abendmahl ist also ein Gedächtnis-, Bekenntnis- und Gemeinschaftsmahl.
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Luther hingegen hielt eisern daran fest, dass est „ist“ meint und nichts anderes.33 Zwinglis signifikationstheoretische Interpretation hielt er für eine „Vernünftelei“, die etwas in den Text hineinliest, was nicht in ihm ist und nicht in ihn gehört. Jedes Kind könne erkennen, dass Christus in den Einsetzungsworten „von dem redet, was er darreicht“34, nämlich sich selbst. Der dadurch etablierte Repräsentationszusammenhang sei so eindeutig, „wie wenn mir jemand eine Semmel vorlegte und sagte: ‚Nimm, iss, das ist weißes Brot‘“35. Für Luther ist das est der biblische Felsen, auf dem die Gewissheit von der wahrhaften und wirklichen Gegenwart Christi im Abendmahl gründet. Auch für Luther sind Brot und Wein Zeichen. Aber anders als bei Zwingli sind sie im Sinne der klassischen, auf Augustinus zurückgehenden Sakramentsdefinition Zeichen, die das, was sie bezeichnen, zugleich vergegenwärtigen. Diese Selbstvergegenwärtigung Christi, seine „Realpräsenz“, war für Luther schlechterdings entscheidend. Im Abendmahl empfangen wir den ganzen Christus in seiner gott-menschlichen Einheit, wir bekommen Anteil an ihm. Folgt man hingegen Zwinglis Deutung, so bleiben wir in Luthers Augen mit leeren Händen und hungriger Seele zurück, wir empfangen nichts – außer Brot und Wein. Gewiss wurde Luther Zwinglis Intentionen damit nicht wirklich gerecht. Und es gäbe zum Abendmahlstreit natürlich einiges mehr zu sagen. Mir ging es hier nur darum zu zeigen, wie die hermeneutische Grundentscheidung, Normativität auf die Auslegung der Heiligen Schrift zu gründen, nicht notwendig zu einheitlichen Auslegungen führt. Für Luther, der – wie gezeigt – von der Selbstauslegung der Schrift überzeugt war, musste dies eine besondere Anfechtung bedeuten – der er freilich häufig damit begegnete, dass er widersprechende Auslegungen auf Verstockung zurückführte. Aus neutralerer Distanz wird freilich deutlich, dass die Selbstevidenz dann eben doch nicht so einfach gegeben war. Das gilt in zweierlei Richtung: Einerseits kann Zwinglis Argumentation nicht schlichtweg abgesprochen werden, am biblischen Zeugnis orientiert zu sein. Und andererseits ist ja auch Luther nicht einfach ein unverfälschter Resonanzverstärker der biblischen Botschaft, sondern legt die Bibel in einem bestimmten konzeptionellen Rahmen aus. Das Schriftprinzip ist also in der Tat die methodisch-wissenshermeneutische „Mitte“ reformatorischer Wissenskultur. Aber es hat de facto nicht die Einheit dieser Wissenskultur begründet, sondern ihre Vielfalt. Gerade der Dissens in der Abendmahlsfrage hat eine so tiefe Spaltung des Protestantismus bewirkt, dass die Lutheraner sich phasenweise den Katholiken näher fühlten als den Reformierten. In mancher Hinsicht könnte sich Erasmus dadurch bestätigt fühlen, der ja gleichsam vorhersagte, dass die in sich vielfältige Bibel nicht aus sich selbst die Einheit 33 34
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Zu Luthers Argumentation vgl. meinen Beitrag: „Entsetzliche Speculationen“? Überlegungen zur Argumentationslogik in Luthers Abendmahlslehre, EvTh 74 (2014), 413–422. Martin Luther, Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi, wider die Schwarmgeister (1526), in: WA 19, 482–523, hier: 485. Neudeutsch in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 4 4, Göttingen 1990, 186–213, hier: 188. Ebd.
Autoritätskritik und Autorisierungsdiskurse
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der Kirche garantieren könne. Freilich hat sich sein Modell der Einheit durch ein externes Lehramt eben auch nicht als universal überzeugend durchgesetzt. Und das „Schriftprinzip“ führte zwar in die protestantische Vielfalt, aber keineswegs in eine wissenschaftsfeindliche Unkultur. Gerade die normative Konzentration auf die Schrift hat vielmehr nachhaltig beigetragen zur Etablierung eines gemeinsamen religiös-theologischen Sprach- und Diskursraums, der sich in hohem Maße als wissensproduktiv erwiesen hat.
Hermann Sasse’s Reception of the Loehe Legacy
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John T. Pless Born twenty-three years after Loehe's death, Hermann Sasse (1895–1976) stood in the tradition of Wilhelm Loehe and transmitted that legacy to the twentieth century. Sasse, a son of the church of the Prussian Union came to understand himself as a confessing Lutheran while on a study leave at Hartford Seminary in the 1925–1926 academic year. It was while he was in United States that he came to read Loehe's Three Books About the Church and it is this book that Sasse credits for turning him toward Luther and the Lutheran Confessions2. Sasse would eventually leave the Prussian Union and become a member of the Bavarian territorial church, the church in which Loehe had been a pastor. And like Loehe, Sasse would find himself in conflict with the officials of that body. After a teaching career at Erlangen (where Loehe had also studied), Sasse would immigrate to Australia in 1948 to accept a post on the faculty of Immanuel Seminary (later renamed Luther Seminary) in Adelaide, a school that had historical ties to Neuendettelsau. This essay seeks to clarify Sasse’s reception of Loehe, examining both his appreciation for a Loehe as a Lutheran “church father” and his recognition of aspects of his ecclesiology in need of critique and correction. The nineteenth century was characterized by Sasse as that time when Europe3 an Christianity experienced an awakening after “the icy winter of Rationalism” and with this it a questing after the true church. The quest was exemplified across confessional borders. Johann Adam Möhler (1796–1838), a German Roman Catholic theologian advocated an ecclesiology that understood the church as a Spirit-filled organism pulsating with the life of the risen Christ rather than an institution. Before 1
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I am pleased to offer this essay in honor of my brother in office and colleague at the Lutheran Theological Seminary in Pretoria, South Africa, Dr. Werner Klän. Like Hermann Sasse, Dr. Klän is a confessional ecumenist, committed to the Lutheran Confessions as catholic confessions for the sake of the una sancta. Dr. Klän’s own contribution to Sasse scholarship is evident in his article, “Eucharist and Ecclesiology: Marginal Comments Concerning the Inherent Coherence of the Theology of Hermann Sasse,” in Lord Jesus Christ, Will You Not Stay: Essays in Honor of Ronald Feuerhahn on the Occasion of his Sixty-fifth Birthday, ed. Bart Day et al. (Houston: Feuerhahn Festschrift Committee, 2002), 153–165 and his editing (with Roland Ziegler) of Sasse’s In Statu Confessionis III (Göttingen: Edition Ruprecht, 2011). For more on Sasse’s life and theological development, see John T. Pless, “Hermann Sasse,” in Twentieth-Century Lutheran Theologians, ed. Mark C. Mattes (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013), 155–177. Hermann Sasse, “The Ecumenical Movement,” in The Journal Articles of Hermann Sasse, ed. Matthew Harrison, Bror Erickson and Joel Brondos (Irvine: New Reformation Publications, 2016), 454.
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converting to the Roman Catholic Church, the Anglican theologian, John Henry Newman (1801–1890), proposed a developmental understanding of doctrine and church. Reformed theologians such as Alexandre Vinet (1797–1847) and Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) sought to recover a more robust ecclesiology among the Reformed. The Irvingites and the Disciples of Christ were restorationist attempts to claim an alleged New Testament form of the church. Lutherans were not exempt from this quest. Sasse situates Loehe squarely within this context along with other prominent Lutheran figures including Johann Gottfried Scheibel (1783– 1843), August F. C. Vilmar (1800–1868), and C. F. W. Walther (1811–1887). Kenneth Korby was of the opinion “that whoever wills to enter the thought of Wilhelm Löhe on the matter of the cure of souls must enter via his understanding of 4 the church.” Noting that Löhe did not develop his views on the church systematically in the way of a classical dogmatics text, Korby echoed the observation of Walter Bouman that “His [Löhe’s] whole life and thought, his correspondence, his parish duties, his world-wide concerns revolved around the nature of the Church so that a biography of him can at the same time be an ecclesiology”5 There are three dominant motifs in Loehe’s ecclesiology as can be demonstrated from his most pertinent treatment of the church, Three Books About the Church written in 1844. First, there is the oneness of the church. Even as there is but one Lord and one faith, so there is a singular church, the bride of this one Lord. “There is only one church, both here and in eternity.”6 Drawing on the Epistle to the Ephesians and the creedal confession that “I believe in one holy Christian and apostolic Church,” Loehe provides a corrective to the conceptuality of the church as “visible and invisible” inherited from Lutheran Orthodoxy and widely used in the nineteenth century.7 Loehe did not abandon this distinction as can be seen, among other places, in his Agende of 1844 and his Three Books About the Church. In the foreword to the agenda, Loehe writes of that the church is the “marvelous creation of her one and only Lord and Master, which has demonstrated and will demonstrate herself independent of everything except Word and Sacrament. In her totality the church is and remains invisible and appears visibly sometimes here sometimes there, as is banners wave in the breeze sometimes here, sometimes there, and her marks appear in
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Kenneth Korby, Theology of Pastoral Care in Wilhelm Loehe with Special Attention to the Function of the Liturgy and the Laity (Fort Wayne: Concordia Theological Seminary Printshop, 1976), 307. Ibid., 148. Wilhelm Loehe, Three Books About the Church, trans. James Schaaf (Philadelphia: Fortress Press, 1969), 54. See Heinrich Schmid, Doctrinal Theology of the Evangelical Lutheran Church, trans. Charles A. Hay and Henry E. Jacobs (Minneapolis: Augsburg, 1961), 582–599 and Holsten Fagerberg, Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts (Uppsala: Almqvist & Wiksells Boktryckeri, 1952), 127–131.
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Word and Sacrament, sometimes here, sometimes there.”8 This one church is not geographically confined but indeed global: The church of the New Testament is no longer a territorial church but a church of all people, a church which has its children in all lands and gathers them from every nation. It is the one flock of the one shepherd, called out of many folds (John 10:16), the universal – the truly catholic – church which flows through all time and 9 into which all people pour.
In attempting to maintain the confession that the church is one and avoid positing two churches, one visible and the other invisible, Loehe seeks to speak of the church as simultaneously visible and invisible. This Loehe does by using the analogy of the human being who is both body and soul, one not existing without the other in this life and by making a distinction between those who are “called” as those embraced in the visible church and those who are “chosen” as members of the invisible church.10 Korby acknowledges that Loehe’s treatment of the visible/invisible distinction is not without difficulties from the multiple perspectives of missiology, systematics and pastoral care.11 He identifies what he sees as problematic when one attempts to use the distinction: To be caught in the tug of war initiated by the use of the words ‘visible’ and ‘invisible’ is to be threatened always to flee into the invisible, thereby turning every day churchly life over to machinations, devices, techniques, and powers of all sorts. Or, to choose to concentrate on that reality that corresponds to ‘visible’ is to shift the understanding of the Word of God and faith so that the inner life of the church is drained off into the quagmires of experientialism and into the legalisms of righteousness by works or rituals. And yet, to hold to both terms ‘visible’ and ‘invisible’ is very nearly to be caught defenseless against the ‘two church solution’ that has so 12 often threatened the church’s unity and the Gospel.
Yet, positively, Korby argues Loehe is able to escape turning the doctrine of the church into an abstraction by avoiding a shift from oral/auditory images to visual ones in his ecclesiology. The inner life of the church which is hidden is given outward expression in preaching, baptizing, absolving and distributing the Lord’s Supper. The inner and outer life of the church is joined together in a unity not to be broken. Loehe writes in his Three Books About the Church: “The visible church is the ‘tabernacle of God’ among men, and outside of it there is no salvation. A man separates himself from God the Father if he separates himself from the church, his mother[…]. As a man stands in relation to the church, so he stands in relation to 13 God.” 8 9 10 11 12 13
Cited in Korby, Theology of Pastoral Care in Wilhelm Loehe (footnote 4), 178. Loehe, Three Books About the Church (footnote 6), 59. See ibid., 87–89 Korby, Theology of Pastoral Care in Wilhelm Loehe (footnote 4), 180–181 Ibid., 182–183. Loehe, Three Books About the Church (footnote 6), 90.
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Second, the apostolic character of the church means that the church is not a static institution but a living organism. The church is both called and calling. By the apostolic Word, that is the living voice of preaching that is in conformity to the apostolic Scriptures, the church is called to life in Christ Jesus.14 This is the calling to faith as faith comes from hearing the Gospel. The church that is apostolic is constituted in and by this faith-creating Word. At the same time, the church that is apostolic is a calling church, as this church confesses Christ before the world and through the preaching of Christ gathers people from every tribe and tongue into the holy community whose head and center is the Lamb of God. The church’s oneness comes from the apostolic Word. Acts 2:42 (“And they devoted themselves to the apostles’ teaching and fellowship, to the breaking of bread and the prayers”, ESV) is crucial in Loehe’s thinking on the nature of the life of the apostolic congregation expressed in worship. Loehe’s use of this pericope is another example of Loehe’s avoidance of abstractions as he concretely describes the character of the liturgical congregation as praying, preach15 ing and celebrating the Lord’s Supper. Gathered by the apostolic Word, the church is fed by the body and blood of the Lord in the holy supper. While the appearance of four items noted in Acts 2:42 might appear in varying degrees in different gatherings of the congregation for worship, all four come to culmination and union in the service of Holy Communion. “One element may appropriately stressed over the others in any given gathering. But the great high point, the fountain of all other life and worship, is the union of the four elements. That union is the celebration of Holy Communion.”16 The Sacrament of the Altar shaped Loehe’s understanding of the church as a living organism. The church is known from the altar. And it is from the altar that mission is generated and to the altar that mission returns. The movement of mission is from and to the altar as the church lives as an organism of rescuing love. Third, the Lutheran Church is a confessional communion. I know that the old church is presently flourishing in what we call ‘our church.’ I know that the river of the centuries, the river which has existed since the begin-
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Korby expresses the connection between the apostolic Word and mission: “As the mission is the church of God in motion, so the energy of that motion is the Word of God, the apostolic Word. That Word alone is the energy; that Word alone is the uniting center. It is not the constitutional order of the church, not a lord, not a bishop that is the uniting power in the center of the church, but this apostolic Word, the Scripture. Apostolic is the principle name for the church, for these clear Scriptures are not only the uniting word, but that clear Word that is always at the center and the church is never without ‘its glorious center.’ Löhe equates the apostolic Word and the Scriptures. However, at the same time he continues to keep alive the quality of the Word as spoke, as oral” – Korby, Theology of Pastoral Care in Wilhelm Loehe (footnote 4), 177. Ibid., 170. Also see Kenneth Korby, “Wilhelm Loehe and Liturgical Renewal,” in The Lutheran Historical Conference: Essays and Reports 1972 (St. Louis: Lutheran Historical Conference, 1974), where Korby traces how Loehe develops the use of Acts 2:42 in his Laienagende of 1852 (71). Korby, Theology of Pastoral Care in Wilhelm Loehe (footnote 4), 170.
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ning, flows through our land and that this river is not a new stream just because it flowed through Wittenberg three centuries ago or because we who are the children 17 of yesterday have been given to live on its banks .
The Lutheran Church is not an ecclesiastical novelty springing from the religious genius of Martin Luther for Loehe. It is, Loehe asserts a manifestation of the true church just as a flower is “the true blossom of the one plant that never grows old.”18 Loehe describes the Lutheran Church as occupying a center position in the una sancta, asserting that “in all significant doctrines the Lutheran Church holds the correct position between them [the Roman Church and the Reformed Churches] – that is it is the center of the confessions. In none of its doctrines does it defend an extreme position, but in everything its doctrines offer the only possible means of uniting the extreme positions of the different denominations.”19 This Loehe sees as in fact done in the Formula of Concord, therefore it, not the unaltered Augsburg Confession ultimately represents doctrinal consensus.20 As heir of the confessional reawakening of the nineteenth century, Loehe embraced the Lutheran Confessions as the clear exposition of the Holy Scriptures. This led him to reject the Prussian Union and all that it entailed. Loehe’s confessionalism may be described as a “sacramental confessionalism” in that Loehe understood all of Lutheran doctrine drawn together in the sacrament of the altar. This sacramental confessionalism had both ecclesiological and pastoral consequences. Ecclesiastically it meant that for Loehe there could be no inter-communion with those of another confession. Pastorally it meant that the Confessions are embraced to keep the Lutheran Church centered in the purity of evangelical proclamation and administration of the Lord’s Supper. For Loehe, the Confessions prevented involvement in inter-confessional mission societies and the embrace of what he identified as “methodistic” tactics of evangelization and pastoral care. Sasse honored Loehe as a churchman with the courage of conviction, who along with others of the nineteenth century contended for the Lutheran Confes21 sions. He recognized Loehe along with August Vilmar as a representative of both a
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Loehe, Three Books About the Church (footnote 4), 56. Ibid. Ibid., 155–156. Loehe writes “The proposal to make the unaltered Augsburg Confession a statement on which all the children of God can unite is an unsatisfactory means of creating a union. The history of the Formula of Concord clearly shows that that former confession, despite its excellence, did not all questions. The Augsburg Confession was not final and cannot be final today” – ibid., 157–158. “German Protestantism and world Lutheranism are obviously lacking today men with the power of faith and strength of character, with understanding for things theological and ecclesiastical and with the courage of conviction of a Scheibel, and a Loehe, of a Vilmar and a Walther, of a Harms and a Petri, a Rochholl, and a Bezzel” – H. Sasse, “On the Relation of the Universal Church and the Individual Congregation in the New Testament,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948– 1951, ed. Matthew C. Harrison (Saint Louis: Concordia Publishing House, 2013), 137.
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true confessionalism and a genuine ecumenism.22 Loehe’s recognition of the place of the Sacrament of the Altar in the life of the church echoes throughout Sasse’s own massive writings on Lord’s Supper. Like Loehe, Sasse recognizes that the church is a pilgrim people who have no earthly home apart from this Sacrament.23 While deeply indebted to Loehe and appreciative of his struggle for the confessional integrity of the Lutheran Church as well as his churchly piety, Sasse is also critical. Even though he had profound respect for the Lutherans of the confessional revival of the nineteenth century, Sasse recognized their limitations. He observes that the awakening took on two forms. One, he describes “as in the direction of Spener” and the other toward Quenstedt.24 In Sasse’s mind, the theologians of the nineteenth century, Loehe included, did not go far enough. Perhaps the Awakening of the Lutheran Church from the fatal stupor of Rationalism had to begin with an Awakening in the direction of the Lutheranism of Spener or that of Quenstedt. But these two types of the Lutheranism of the Awakening could and can only be transitional stages toward an Awakening of the Lutheran Church in the sense of the Lutheran Confessions, which, as the Formula of Concord states explicitly, are to be interpreted according to the doctrine of Luther ‘as the leading teacher of the Augsburg Confession,’ [FC SD VII 34] and not according 25 to Quenstedt or Spener.
While Loehe stood in the dogmatic tradition of Lutheran Orthodoxy, his work would also bear the imprint of Pietism.26 He made relatively sparse use of Luther’s
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“In their theological thinking as well as their ecclesiastical action, men like Vilmar and Loehe represent both true confessionalism and truce ecumenicity.” – H. Sasse, “On the Problem of the Union of the Lutheran Churches,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 153. Writing in 1949 shortly after his immigration to Australia, Sasse said “This Church [the United Evangelical Lutheran Church in Australia], founded by Lutheran emigrants from Prussia in 1838, closely connected with old Breslau, with Hermannsburg, with the Neuendettelsau of Wilhelm Loehe, shall henceforth be my church home. For us Christians (as Loehe ever again has reminded us) partake of the Passover of our Lord as pilgrims with staff in hand, our earthly home is there and only there where stands the altar of our Church.” – H. Sasse, “On the Relation of the Universal Church and the Individual Congregation in the New Testament” (footnote 21), 137. Hermann Sasse, “The Results of the Lutheran Awakening of the Nineteenth Century,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 329. Ibid., 329. Sasse observes “Also in the case of Loehe the pietistic heritage was a powerful influence which help shape his Lutheranism” – “Confession and Theology in the Missouri Synod,” in Letters to Lutheran Pastors, Vol. 2: 1951–1956, ed. Matthew C. Harrison (Saint Louis: Concordia Publishing House, 2014), 10. Sasse is also critical of Loehe’s “pietistic chiliasm” (Letters to Lutheran Pastors, Vol. 2: 1951–1956, 174). For more on this aspect of Loehe’s eschatology, see Jacob Corzine, “Loehe as th an Example of 19 century Lutheran Chiliasm;” in Wilhelm Loehe: Theologie und Geschichte, ed. Dietrich Blaufuß (Neuendettelsau: Freidmund-Verlag, 2013), 87–103.
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writings. Loehe’s writings on pastoral theology draw significantly on the pastoral theologies of August Hermann Francke and Johann Ludwig Hartmann.27 Like Loehe, Sasse will accent the oneness of the church. While Loehe sought to preserve the essential unity of the “visible church” with the “invisible church” by means of the body/soul analogy as we have observed above. According to Sasse, neither Walther nor Loehe escaped the danger which he saw as inherent to the distinction. Sasse offered a more probing critique calling for a return to Luther’s language of the hidden church.28 Affirming Loehe’s fundamental definition of mission as “nothing but the one church of God in motion, the actualization of the one, universal, catholic church,”29 Sasse observes that Loehe was not exempt from the Romanticism of his day which gave rise to the description of the Body of Christ as an organism. The conceptuality of an “organism” gives rise in Sasse’s thinking to an understanding of the church as living entity of multiple parts in need of coordination. Rather than grounding the church’s oneness in the marks of the pure preaching of the Gospel and right administration of the sacraments (AC VII), this model is sociological. Sasse concludes that “Vilmar and Loehe read the romantic concept of society as an organism into the Lutheran doctrine of the church, while Walther without knowing it, understood
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See, for example, Wilhelm Loehe’s The Pastor, trans. Wolf Dietrich Knappe and Charles Schaum (Saint Louis: Concordia Publishing House, 2015), 9–12. Here note Sasse: “The situation [in the nineteenth century] is similar to that of orthodoxy, which frequently permitted Calvinism or Catholicism to pose the problems without observing the false formulation of the question. Thus, for example, the problem of the visible and invisible church plays a troublesome role down to our own day. The fathers of the period of orthodoxy and also those of the nineteenth century failed to note that Luther’s ecclesia abscondita [“hidden church”] is not simply to be equated with the ecclesia invisiblis of Reformed theologians. And it would have been well not simply to take over the Reformed terminology, but rather abide by the expressions of Luther and the Confessions. The church, of course, is not something to be seen but an ‘article of faith.’ Our eyes are not able to behold it since it is the regnum Christi which, in this world, is cruce tectum [“hidden under the cross”], as the Apology says with Luther in his commentary on Article VII and VIII of the Augustana. No human eye sees the church as the Body of Christ. It is an eschatological reality [Tatbestand] that must be distinguished from the temporal and historical entity of the societas externarum rerum et rituum [“association of outward things and rites”]. In this respect one may indeed call the church invisible. But the term ecclesia invisibilis has by Augustine and by Reformed theology been encumbered with additional implications, which we cannot recognize. Why did not one stay with Luther’s simple teaching: ‘Absconditia est via saints concealed’]. At this point, as in many others, old Lutheran orthodoxy remained entirely too dependent upon its opponents. And the theologians of the nineteenth century, who possessed no better works on dogmatics than those of the era of orthodoxy (where should they have gotten them?), simply took over these attitudes” – “On the Problem of the Relation Between the [Office of the] Ministry and the Congregation” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 124–125. Loehe, Three Books About the Church (footnote 6), 59.
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the Lutheran doctrine of the church through the eyes of the Enlightenment’s concept of society.” 30 Sasse sees the conflict between Walther and Loehe as a great tragedy in nineteenth century Lutheranism.31 Both men were opposed to the subjectivity of the Erlangen school but came to opposing conclusions regarding the nature of the church and the office: There was and is no way of reconciling Loehe’s and Walther’s concepts of the church with each other. But when determined by the nonbiblical idea of social organism, and Walther’s by the nonbiblical concept of the religious society, was it not possible then to recognize the real church of the New Testament, of which through 32 the spectacles of his own worldview each one had seen something that was true?
Sasse asserts that the church is neither a democracy or aristocracy.33 For him, the office is set not above the congregation but within it. Article VII of the Augsburg Confession guards the Lutheran Church from attempting, as Loehe and Walther did about the biblical form of the church. Here Sasse argues that Luther’s position of freedom in matters of church structure is confirmed by recent New Testament exegetical studies.34 Sasse recognizes in Loehe a genuine Lutheranism that will not erase confessional boundaries. Nevertheless, he sees a danger within Loehe’s conceptuality of the church as an organism a parallel with Anglicanism’s via media which would bear bitter fruit in the involvement of Lutheran churches in various proposals for church unity. While Loehe is adamant in his rejection of unionism he speaks of the Lutheran Church as the true church which is a union of opposite extremes35. Loehe argues that the Reformation is partly complete and partly incomplete: “It is complete in doctrine but in incomplete in the consequences of doctrine.”36
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“Unity and Division within Lutheranism” in Letters to Lutheran Pastors, Vol. 2: 1951–1956 (footnote 26), 398. See “On the Problem of the Relation Between the Office of the Ministry and the Congregation,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 121. “The Results of the Lutheran Awakening of the Nineteenth Century,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 328. “On the Problem of the Relation Between the Office of the Ministry and the Congregation,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 1: 1948–1951 (footnote 21), 120. Ibid., see 125–131. “In an age when ‘union’ is everyone’s slogan, the children of the true church are obligated to make it very clear that, by virtue of the doctrine it confesses, their church is a union of opposite extremes and it is the great task of the pure church always to testify anew to this true union before opposing churches, to prove that what they seek (correctly understood) is comprehended in the doctrine of our church and is brought to life by the living of this doctrine.” – Loehe, Three Books about the Church (footnote 6), 157. Ibid., 152.
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In Sasse’s view, Loehe’s position is strikingly similar to John Henry Newman’s articulation of the via media which ultimately led him to Rome.37 The Lutheran Church is no synthesis between Catholicism and Reformed Protestantism. Sasse can only conclude that Loehe’s way was a dangerous path leading into a Lutheranism that sought to be inclusive and ecumenical but whose destiny would be compromise. In the end, Sasse could express high praise for Loehe on many fronts ranging from his reverence for the Sacrament of the Altar in teaching and liturgical practice, his rejection of rationalism, his zeal for mission, and his opposition to territorial government’s attempt to monitor ecclesiastical life. But Sasse believed that to honor the fathers of the Lutheran Church was also to subject them to the binding authority of the Holy Scriptures and the Lutheran Confessions. Some of Loehe’s failings are seen as characteristics of the age in which he lived, i.e. Romanticism. Others, Sasse believed, were weaknesses in Loehe’s failure to articulate a doctrine of the church in conformity with Article VII of the Augsburg Confession. In short, Loehe is received as a church father who is to be honored without being blindly emulated. Zusammenfassung In diesem Beitrag wird die Rezeption Wilhelm Löhes durch Hermann Sasse insbesondere im Feld der Ekklesiologie untersucht. In einem ersten Teil werden das Einssein der Kirche, die Vorstellung von der Kirche als lebendem Organismus und der Gedanke von der lutherischen Kirche als der „einigenden Mitte der Konfessionen“ als Charakteristika der Ekklesiologie Löhes herausgearbeitet. In einem zweiten Teil wird deutlich, dass Sasse, der seiner eigenen Aussage nach Löhe die Wendung zum konfessionellen Luthertum verdankt, mit dessen Theologie keineswegs unkritisch umgegangen ist. Bei der Unterscheidung zwischen der „sichtbaren“ und der „unsichtbaren Kirche“ etwa oder mit Blick auf das romantische Organismuskonzept sieht Sasse Schwächen in Löhes Theologie, so wie er auch in der Theologie anderer konfessioneller lutherischer Theologen des 19. Jahrhunderts Denkfiguren entdeckt, die sich aus ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft ergeben haben. So wird erkennbar, dass Sasse Löhe zwar u.a. mit dessen Sakramentsfrömmigkeit, seiner Zurückweisung des Rationalismus, seinem missionarischen Eifer und der Opposition gegenüber allen staatlichen Versuchen, das kirchliche Leben zu bestimmen, schätzte, Sasse sich aber auch nicht scheute, Löhe für Anpassungen an die Denkweisen seiner Zeit zu kritisieren. 37
“It should be warning to Lutheranism, especially those who perpetually toy with the romantic notion of the Lutheran Church as the “uniting center of the denominations,” such as we find in Claus Harms [1778–1855] and Wilhelm Loehe [1808–1872] as a contemporary parallel to [John Henry] Newman’s [1801–1890] doctrine of the via media, “the middle way,” which always leads to Rome” – “Remembrance of the Dead in the Liturgy,” in Letters to Lutheran Pastors: Vol. 3: 1957–1969, ed. Matthew C. Harrison (Saint Louis: Concordia Publishing House, 2015), 52.
Die Kirche(n) „unablässig auf Christus hin orientieren“ 1 Gedanken zur Ökumene im Jahr 2017 Dorothea Sattler 1.
Hinführung zur Thematik2
In diesem Beitrag möchte ich eine Fragestellung aufgreifen, die im Kontext der ökumenischen Verständigung über die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders und der Sünderin in den zurückliegenden Jahrzehnten in Teilen kontrovers geblieben ist: Welche Bedeutung hat die Zustimmung zur kriteriologischen Funktion dieser christlichen Lehre, die sich begrifflich an Paulus anschließt, in der Sache jedoch als Mitte des Evangeliums gelten kann, für die unter ökumenischen Vorzeichen betrachtete Ekklesiologie heute? Welche Folgen (auch) auf der Handlungsebene sind theologisch begründet? 1
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Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Harding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3 (1990–2001), Frankfurt am Main/Paderborn 2003, 419–430, hier: 424 (Nr. 18); künftig zitiert als GER. Die Ökumene wird durch persönliche Begegnungen zwischen Menschen gestärkt, deren Zeugnis für Jesus Christus in Wort und Tat anrührt, nachdenklich stimmt und Anlass für tiefe Dankbarkeit vor Gott ist. Mit Werner Klän verbinden mich Jahrzehnte der gemeinsamen Suche nach der argumentativen Begründung des einen christlichen Glaubens, der immer nur perspektivisch zu beschreiben ist. Im Kontext unserer jeweiligen konfessionellen Delegation in den Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA), eine Einrichtung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) mit dem Auftrag zur theologischen Studienarbeit, haben wir mehrere Projekte mitgestaltet. Zwei Geschehnisse sind mir dabei besonders in Erinnerung geblieben: unsere enge geistige und geistliche Verbundenheit bei der Vorbereitung des Wortes der Mitgliederversammlung der ACK zum 500jährigen Gedächtnis der Reformation (vgl. Versöhnt miteinander. Ein ökumenisches Wort der Mitgliederversammlung der ACK in Deutschland zu 500 Jahre Reformation, in: ACK, Versöhnt miteinander. Ein ökumenisches Wort der Mitgliederversammlung der ACK in Deutschland zu 500 Jahre Reformation, Frankfurt am Main 2016, 7–14) sowie die gemeinsamen Bemühungen um das rechte theologische Verständnis der Rechtfertigungsbotschaft im multilateralen ökumenischen Gespräch (vgl. Uwe Swarat, Johannes Oeldemann, Dagmar Heller [Hg.], Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 78, Frankfurt am Main 2006). Bei beiden Gelegenheiten habe ich viel gelernt über die lutherische Sicht der Ereignisse im 16. Jahrhundert sowie über das ekklesiologische Selbstverständnis der konkordienlutherischen Tradition (vgl. Werner Klän, „Tradition“ aus der Sicht der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: Bernd Oberdorfer, Uwe Swarat [Hg.], Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 89, Frankfurt am Main 2010, 175–198).
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Im Folgenden stelle ich zunächst den Anlass der Kontroverse um die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre in jüngerer Zeit im Kontext der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) am 31. Oktober 1999 in Augsburg dar (Abschnitt 2); ich erinnere sodann an die Vorgeschichte dieser Thematik in den vorausgehenden lutherisch–römisch-katholischen ökumenischen Dialogen (Abschnitt 3); ich beschreibe meine Wahrnehmung der unterschiedlichen lutherischen Auslegungen der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre, die anlässlich der GER offenkundig wurden (Abschnitt 4); im Anschluss nehme ich eine römisch-katholische Perspektive auf die Thematik ein (Abschnitt 5). Am Ende stelle ich einen Bezug zur Gegenwart der Ökumene her und frage nach der Bedeutung der ökumenischen Erfahrungen im Jahr 2017 unter dem Leitgedanken, ein Christusfest miteinander zu feiern, für zukünftige Verständigungen auch in Fragen der Ekklesiologie sowie der Feier der Sakramente (Abschnitt 6). Eine Befassung mit der GER erscheint mir gegenwärtig erneut geboten, da sich im Juli 2017 auch die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen bei ihrer Versammlung in Leipzig dem erreichten Konsens angeschlossen hat. 2006 hatte bereits der Weltrat der Methodistischen Kirchen der Erklärung zugestimmt, 2016 zudem die Anglikanische Kirchengemeinschaft. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) hat sich zu den Bemühungen um eine lutherisch–römisch-katholische Verständigung in der Rechtfertigungslehre in zwei Stellungnahmen differen3 ziert verhalten: Während die erste Stellungnahe im März 1999 den Entwurf der GER von 1998 kommentiert4, bezieht sich die zweite Stellungnahme vom September 19995 auf die später unterzeichnete „Gemeinsame offizielle Feststellung“ (GOF)6 mit ihren Anhängen7 und in ihrer Verbindung zur GER. Während die erste Stellungnahme – bei allem Respekt vor den ökumenischen Dialogpartnern mit ihrem theologischen Gespräch über die Rechtfertigungslehre – zu dem Urteil kommt, der in der GER behauptete Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre bestehe insbesondere aufgrund der Defizite im Verständnis des Glaubens und der Heilsge-
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Vgl. Werner Klän, Einig in der Rechtfertigungslehre? Anfragen an die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ aus konkordienlutherischer Sicht, in: Uwe Swarat, Johannes Oeldemann, Dagmar Heller (Hg.), Von Gott angenommen – in Christus verwandelt (wie Anm. 3), 95–111. Vgl. Stellungnahme der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (Römisch-katholische Kirche – Lutherischer Weltbund) (März 1999), in: Werner Klän, Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienluthe2 rischer Kirchen, Göttingen 2010, 690–698. Stellungnahme zur „Gemeinsamen offiziellen Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche samt Anhang“ (September 1999), in: A.a.O., 698–702. Vgl. Gemeinsame offizielle Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, in: Harding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3 (wie Anm. 1), 437f. Vgl. Anhang (Annex) zur Gemeinsamen offiziellen Feststellung, in: A.a.O., 438–441.
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wissheit nicht,8 anerkennt die zweite Stellungnahme die zwischenzeitlichen weiteren Anstrengungen und endet mit einer zuversichtlichen Perspektive im Hinblick auf künftige Zeiten. Im Hinblick auf die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre konstatiert die erste Stellungnahme die offenen Fragen. Die zweite Stellungnahme erkennt eine Verbesserung der Gesprächssituation durch den Anhang 3 zur GOF, in dem es heißt: „Die Rechtfertigungslehre ist Maßstab oder Prüfstein des christlichen Glaubens. Keine Lehre darf diesem Kriterium widersprechen.“9 Die Zustimmung der SELK findet auch die im Anhang 3 zur GOF vorgenommene Einordnung der einzigartigen Bedeutung der Rechtfertigungslehre in den „Gesamtzusammenhang des grundlegenden trinitarischen Glaubensbekenntnisses der Kirche“10. Die Stellungnahme der SELK zur GOF und ihrem Anhang gibt der „Hoffnung Ausdruck, dass die biblischen Aussagen über die Rechtfertigung des Sünders vor Gott in allen Kirchen Mittelpunkt des theologischen Denkens und des kirchlichen Handelns werden und bleiben“11. Aus systematisch-theologischer Perspektive möchte ich dazu einen kleinen ermutigenden Beitrag leisten, indem ich nach einer überzeugenden Interpretation der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre suche. Im zeitlichen Umfeld der GER ist dazu viel geschrieben worden – insgesamt und auch innerhalb der lutherischen Konfessionsgemeinschaft durchaus mit Kontroversen in Details. 2.
Die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre gemäß der GER
Das in Übernahme des Wortlauts der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) für den Titel dieses Beitrags ausgewählte Zitat steht in einem größeren gedanklichen Zusammenhang. Der Lutherische Weltbund und die Römisch-katholische Kirche erklärten 1999 offiziell: „Gemeinsam sind wir der Überzeugung, dass die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist: Sie sagt uns, dass wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenken lassen und im Glauben empfangen, aber nie – in welcher Form auch immer – verdienen können. […] Darum ist die Lehre von der Rechtfertigung, die diese Botschaft aufnimmt und entfaltet, nicht nur ein Teilstück der christlichen Glaubenslehre. Sie steht in einem wesenhaften Bezug zu allen Glaubenswahrheiten, die miteinander in einem inneren Zusammenhang zu sehen
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Vgl. Stellungnahme der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (wie Anm. 4), 696. Gemeinsame offizielle Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche (wie Anm. 6), 440. Stellungnahme zur „Gemeinsamen offiziellen Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der römisch-katholischen Kirche samt Anhang“ (wie Anm. 5), 701. A.a.O., 701f.
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sind. Sie ist ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der 12 Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will.“
Die im Hinblick auf diese Passage der GER formulierten kritischen Anfragen von lutherischer Seite an die Römisch-katholische Kirche, ob sie nun auch bereit sei, Konsequenzen auf ekklesiologischer Ebene zu ziehen, intensivierten sich angesichts der Tatsache, dass die GER an die soeben zitierte grundlegende Übereinkunft in der Annahme einer bestehenden kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre eine Auskunft anschließt, bei der Differenzierungen vorgenommen werden: „Wenn Lutheraner die einzigartige Bedeutung dieses Kriteriums betonen, verneinen sie nicht den Zusammenhang und die Bedeutung aller Glaubenswahrheiten. Wenn Katholiken sich von mehreren Kriterien in Pflicht genommen sehen, verneinen sie nicht die besondere Funktion der Rechtfertigungslehre. Lutheraner und Katholiken haben gemeinsam das Ziel, in allem Christus zu bekennen, dem allein über alles zu vertrauen ist als dem einen Mittler (1 Tim 2,5f), durch den Gott im 13 Heiligen Geist sich selbst gibt und seine erneuernden Gaben schenkt.“
Bei der Interpretation dieser Formulierungen in der GER wurden unterschiedliche Deutungen und Mutmaßungen insbesondere im Hinblick auf die offene Rede von jenen „mehreren Kriterien“, von denen Katholiken sich „in Pflicht genommen sehen“14, vorgenommen. Anlässlich dieser Kontroverse kam es zu Äußerungen über eine (vermeintlich) verbliebene Grunddifferenz zwischen dem lutherischen und dem römisch-katholischen Verständnis christlicher Existenz, die sich präzise in der unterschiedlichen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Soteriologie und Ekklesiologie erweise. Studien zur Textgeschichte der GER können aufzeigen, wie komplex der Vorgang war, der am Ende zu der konsensfähigen Aussage führte.15 Eines sei vorweg gesagt: Der Text einer ökumenischen Erklärung, deren Anliegen es ist, einer großen Öffentlichkeit bekannt zu machen, dass in Fragen der Rechtfertigungslehre zwischen der lutherischen und der römisch-katholischen Lehre heute keine Differenzen von kirchentrennender Wirkung mehr bestehen, muss auch für diejenigen verständlich sein, die die Textgeschichte und die vorausgehenden ökumenischen Dialoge nicht kennen. Insofern ist die nicht näher bestimmte Rede in der GER von „mehreren Kriterien“, von denen Katholiken sich „in Pflicht genommen sehen“16, gewiss mehr als nur ungeschickt; sie lädt formal wie inhaltlich zu Spekulationen ein, die dem ökumenischen Miteinander schaden. Allerdings lässt sich zeigen, dass viele Kommentatoren der ökumenischen
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GER Nr. 17–18 (wie Anm. 1). A.a.O., Nr. 18. Ebd. Eine Rekonstruktion aller Etappen der Textgeschichte der GER ist möglich: Vgl. Friedrich Hauschildt, Udo Hahn, Andreas Siemens (Hg.), Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungs- und Rezeptionsprozesses, Göttingen 2009. Ebd.
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Rede von der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre sich nicht vertraut zeigten mit der Geschichte dieser Argumentation im ökumenischen Kontext. 3.
Die Vorgeschichte der Kontroverse in den Dialogen vor der GER
Der Begriff „Kriterium“ bzw. „Kriterien“ ist im Kontext der Frage, welche Verbindung es zwischen dem Rechtfertigungsartikel und anderen Lehrgestalten – insbesondere denen der Ekklesiologie – gibt, 1972 im Malta-Bericht17 erstmals in einem ökumenischen Dokument verwendet worden. Darin heißt es: „Obgleich eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis der Rechtfertigungslehre möglich erscheint, erheben sich hier Fragen: Welcher theologische Stellenwert kommt ihr zu – und werden die Konsequenzen für Leben und Lehre der Kirche auf beiden Seiten in gleicher Weise beurteilt?“18 Eine klare Antwort auf die erste der beiden Fragen gibt (nur) die lutherische Seite: „Für lutherisches Verständnis unterstehen aufgrund des Bekenntnisses der Rechtfertigung alle kirchlichen Traditionen und Institutionen dem Kriterium, dass sie rechte Verkündigung des Evangeliums ermöglichen und die Bedingungslosigkeit des Heilsempfangs nicht verdunkeln. Von daher ergibt sich, dass kirchliche Ordnungen und Riten nicht als Heilsbedingungen auferlegt werden dürfen, sondern 19 nur als freie Entfaltung des Glaubensgehorsams gelten können.“
Die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre für die Ekklesiologie wird auf der Handlungsebene angemahnt, um die Kirche an das zu erinnern, was ihre Mission ist: die rechte Verkündigung des Evangeliums sowie die Wahrung des Geschenkcharakters des göttlichen Heils auch in der Feier der Sakramente. Eine Festlegung auf den Begriff „Rechtfertigung“ zur inhaltlichen Bestimmung des Kriteriums geschieht dabei nicht. Die Aufnahme des Begriffs „Kriterium“ in die Ausführungen des Malta-Berichts über die Rechtfertigungslehre wurde durch Überlegungen zu der Frage vorbereitet, 20 welche „Kriterien kirchlicher Verkündigung“ gemeinsam bestimmt werden können. Das Dokument unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem „primären Kriterium“ und „sekundären Kriterien“: „Da das Evangelium in immer neue geschichtliche Situationen hinein bezeugt werden muss, stellt sich die Frage nach den Kriterien, aufgrund welcher man zwischen legitimen und illegitimen späteren Entwicklungen unterscheiden kann. Diese Frage lässt sich nicht auf rein theoretische Weise beantworten. Weder das Prinzip sola scriptura noch der formale Verweis auf die Verbindlichkeit des Lehramtes 17
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Vgl. Evangelisch-lutherische/Römisch-katholische Studienkommission, Das Evangelium und die Kirche („Malta-Bericht“), in: Harding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, Paderborn/Frankfurt am Main 1983, 248–271. A.a.O., 255 (Nr. 28). A.a.O. (Nr. 29). Vgl. a.a.O., 253f. (Nr.18–23).
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kann genügen. Primäres Kriterium ist, dass der Heilige Geist das Christusereignis als Heilsgeschehen erweist. Es erhebt sich freilich die Frage, wie sich die Macht des Heiligen Geistes als Kriterium konkret ausweisen lässt. Wenn die Kontinuität der Überlieferung zu ihrem Ursprung konkret festgestellt werden soll, bedarf es offen21 bar sekundärer Kriterien“ .
Auch in dieser Textpassage wird die Frage nach einem Kriterium oder mehreren Kriterien der kirchlichen Aufgabe zugeordnet, Gottes Evangelium in jeder Zeit ursprungsgetreu zu verkündigen. Das primäre Kriterium zur Prüfung der Legitimität des Tradierungsgeschehens ist die Wirksamkeit des Geistes Gottes; sekundäre Kriterien dienen zur Unterscheidung zwischen dem Willen des göttlichen Geistes und den Vorstellungen menschlicher Geister. Die nachfolgenden Ausführungen fassen den ökumenischen Gesprächsstand in der Frage nach der Autorität der Schriftauslegung in den Formen der Predigt, der lebendigen Glaubensüberlieferung aller Christen und der besonderen amtlich-verbindlichen kirchlichen Lehre zusammen. 22 Sehr ausführlich hat das 1983 verabschiedete Dokument „Justification by Faith“ , in dem die Ergebnisse des in den USA geführten lutherisch–römisch-katholischen Dialogs über Fragen der Rechtfertigung dargestellt sind, sich mit der Frage beschäftigt, welche Motive die lutherische Theologie leiten, wenn sie die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre betont, und welche Bedenken die römisch-katholische Theologie gegen diese Redeweise geltend machen könnte. Dabei erinnert der Text – im Sinne der Kennzeichnung des Ausgangspunktes der Beratungen in der Dialogkommission – zunächst an die reformationsgeschichtliche Verortung des lutherischen Interesses an der Bestimmung eines „kritischen Prinzips“, „anhand dessen man prüfen kann, 23 was authentisch christlich ist“ . Das „Prinzip der Rechtfertigung durch den Glauben“ wird als „Korrelat zur alleinigen Mittlerschaft Christi“ aufgefasst; die zeitenübergreifende Bedeutsamkeit dieses Prinzips ergibt sich aus der steten Gefahr, dass Christen „sich auf ihre eigenen Pläne statt auf Christus […] verlassen“24. Die römischkatholischen Vorbehalte gegen die Bestimmung eines einzigen Kriteriums zur Prüfung von Leben und Lehre der Kirche werden vor allem damit begründet, „dass das Evangelium nicht recht interpretiert werden kann, ohne die ganzen in der Kirche vorhandenen Ressourcen heranzuziehen“25. Wie der Malta-Bericht, so rekurriert auch der USADialog bei der Interpretation der verbliebenen Differenz auf die Frage der Gewissheit über die Authentizität der Verkündigung des Evangeliums, die die römisch-katholische Lehrtradition durch den Verweis allein auf den Rechtfertigungsartikel noch nicht
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A.a.O., 253 (Nr. 18). Vgl. die deutsche Übersetzung: Lutherisch/Römisch-katholischer Dialog in den USA, Rechtfertigung durch den Glauben, in: Harding Meyer, Günther Gaßmann (Hg.), Rechtfertigung im ökumenischen Dialog. Dokumente und Einführung, Frankfurt am Main 1987, 107–199. A.a.O., 173 (Nr. 117). Ebd. A.a.O., 174 (Nr. 118).
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hinreichend beantwortet sieht. Deutlich eingestanden wird, dass diese Differenz noch besteht und als eine offene Frage zu betrachten ist, bei der ein Klärungsbedarf verblieben ist. So ist es kaum erstaunlich, dass ein den Gesprächsstand zusammenfassendes Dokument, wie es die GER sein wollte, an diese Problematik erinnert. Im Anschluss an die Beschreibung des „status controversiae“ führen in „Justification by Faith“ detaillierte Untersuchungen des biblischen Zeugnisses zu dem Ergebnis, „dass ein auf den Glauben zentriertes und forensisch verstandenes Bild von der Rechtfertigung […] für Paulus, und in gewissem Sinne für die Bibel insgesamt, von entscheidender Bedeutung (ist), wenn dies auch keinesfalls die einzige biblische oder paulini26 sche Weise ist, das Heilswerk Gottes darzustellen.“ Auf der Basis dieser Erkenntnis, „dass das biblische Zeugnis vom Evangelium des Heilswerkes Gottes in Christus reicher und vielfältiger ist, als es im traditionellen katholischen oder lutherischen Verständnis der Rechtfertigung erfasst worden ist“27, beschreibt das Dokument abschließend zunächst die „unvollständige Konvergenz“ im Blick auf den Gebrauch der Rechtfertigungslehre als Kriterium und sodann die (volle) „inhaltliche Konvergenz“ im Verständnis derselben.28 Die in unserem Zusammenhang besonders interessierende „unvollständige Konvergenz“ besteht in der gemeinsamen Anerkenntnis der „Notwendigkeit […], die Praxis, die Strukturen und die Theologien der Kirche daran zu messen, inwieweit sie ‚die Verkündigung der freien und gnädigen Verheißungen Gottes in Christus Jesus, die allein durch den Glauben recht empfangen werden können‘ (Nr. 28), fördern oder hindern. Diese Übereinstimmung beinhaltet jedoch nicht immer Einigkeit im Blick auf die Anwendung des Kriteriums, d.h. welche Glaubensüberzeugungen, Bräuche und Strukturen der Prüfung standhalten“29. Die kriteriologische Funktion des (im Anschluss an die biblischen Zeugnisse terminologisch unterschiedlich aussagbaren) Rechtfertigungsartikels blieb somit an sich nicht strittig, vielmehr die Frage, welche Wirksamkeit dieses Kriteriums bei konkreten Reformen der Kirche, die es im Namen Gottes anzustrengen gilt, haben könnte. Viele evangelische Stellungnahmen zur umstrittenen Rede in der GER von dem „unverzichtbaren Kriterium“ der Rechtfertigungslehre und von den „mehreren Kriterien“, von denen Katholiken sich in Pflicht genommen sehen, vergleichen diese Passa30 ge mit Ausführungen in der Studie „Lehrverurteilungen – kirchentrennend“ (LV) . Dort wird im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die im 16. Jahrhundert in der Rechtfertigungslehre ausgesprochenen Lehrverurteilungen aus 26 27 28 29
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Lutherisch/Römisch-katholischer Dialog in den USA, Rechtfertigung durch den Glauben (wie Anm. 22), 190 (Nr. 147). A.a.O., 191 (Nr. 149). Vgl. a.a.O., 192–198 (Nr. 152–160). A.a.O., 193 (Nr. 153). Als Beispiele für verbliebene Differenzen in der Einschätzung der Konsequenzen einer Anwendung des kritischen Maßstabs der Rechtfertigungslehre werden die Fegefeuerlehre das Papstamt und die Heiligenverehrung genannt. Vgl. Karl Lehmann, Wolfhart Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. 1: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg/Göttingen 1986.
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heutiger Sicht noch von kirchentrennender Wirkung sind, die bleibende Funktion des Rechtfertigungsartikels bei dem Bemühen, die Einheit der Kirche sicherzustellen, hervorgehoben: Seine Aufgabe ist es, „im Bewusstsein der Christen zu halten, dass wir Sünder allein aus der vergebenden Liebe Gottes leben, die wir uns nur schenken lassen, aber auf keine Weise, wie abgeschwächt auch immer, ‚verdienen‘ oder an von uns zu erbringende Vor- oder Nachbedingungen binden können. Die ‚Rechtfertigungslehre‘ wird damit zum kritischen Maßstab, an dem sich jederzeit überprüfen lassen muss, ob eine konkrete Interpretation unseres Gottesverhältnisses den Namen ‚christlich‘ beanspruchen kann. Sie wird zugleich zum kritischen Maßstab für die Kirche, an dem sich jederzeit überprüfen lassen muss, ob ihre Verkündigung und ihre Praxis dem, was von 31 ihrem Herrn vorgegeben ist, entspricht“ .
Unter Hinweis auf analoge Gedanken in vorausgehenden ökumenischen Gesprächen fordert das 1994 veröffentlichte Dokument „Kirche und Rechtfertigung“32 der gemeinsamen römisch-katholischen evangelisch-lutherischen Kommission bereits in den einleitenden Partien: der erreichte „Konsens in der Rechtfertigungslehre – auch wenn er differenziert ist – muss sich ekklesiologisch bewähren“33. Die erreichte Verständigung schließe „den im Einzelnen zu bewährenden Konsens über die kritische Bedeutung der Rechtfertigungslehre für das Ganze der kirchlichen Lehre, Ordnung und Praxis mit ein: Alles, was über das Wesen der Kirche, über die Heilsmittel und über das der Kirche eingestiftete Amt geglaubt und gelehrt wird, muss im Heilsgeschehen selbst begründet und vom Rechtfertigungsglauben als Empfang und Aneignung des Heilsgeschehens geprägt sein. Entsprechend muss auch alles, was über Wesen und Wirkung der Rechtfertigung geglaubt und gelehrt wird, im Gesamtkontext der Aussagen über die Kirche, die Heilsmittel und das der Kirche eingestiftete Amt 34 verstanden werden“ .
4.
Die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre aus lutherischer Sicht
Ein häufiger Bezugspunkt bei den Kontroversen um die GER innerhalb der lutherischen Konfession war der Kommentar zu diesem Dokument, den das Straßburger Institut für Ökumenische Forschung im Mai 1997 veröffentlichte.35 Angesichts der Tatsache, dass Harding Meyer in vielfältiger Weise bei dem Prozess der Entstehung 31 32
33 34 35
A.a.O., 75. Vgl. Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Licht der Rechtfertigungslehre. Bericht der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission, in: Harding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3 (wie Anm. 1) 317–419. A.a.O., 320 (Nr. 2). A.a.O., 373f. (Nr. 168). Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für Ökumenische Forschung, Straßburg (im Mai 1997 veröffentlicht), leicht zugänglich in: epd-Dokumentation Nr. 3, 1998, 21–40.
Die Kirche(n) „unablässig auf Christus hin orientieren“
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der GER beteiligt war und ein genauer Kenner der ökumenischen Dialogrunden zwischen den lutherischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche ist, hat diese Stellungnahme großes sachliches Gewicht. Der Straßburger Kommentar räumt zunächst ein, „dass in Bezug auf die Funktion der Rechtfertigungslehre als Kriterium für Lehre und Praxis der Kirche keine völlige Übereinstimmung zwischen Lutheranern und Katholiken besteht“36. Der Kommentar betont sodann den „organischen Zusammenhang“37 zwischen der Rechtfertigungslehre und den anderen Fragen der Glaubenslehre. Als ein wichtiges Ergebnis des Dialogs wird festgehalten, dass die Rechtfertigungslehre in der GER „ein unverzichtbares Kriterium“ genannt wird, „das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will“38. Ein Widerspruch zwischen einer kirchlichen Lehre oder Praxis und dem Rechtfertigungsartikel erweist diese demnach als illegitim. Durch den römisch-katholischen Hinweis auf „mehrere Kriterien“ für Orthodoxie und Orthopraxie werde das eine unverzichtbare Kriterium der Rechtfertigungslehre nicht bezweifelt, vielmehr solle dadurch zum Ausdruck kommen, „dass nicht alle theologischen Fragen allein von der Rechtfertigungslehre her zu entscheiden sind“39. Als Beleg für die Schlüssigkeit dieser Argumentation wird auf die Problematik der Frauenordination hingewiesen. Der Kommentar weist schließlich auf manche Schwierigkeiten bei der lutherischen Rede von „dem (einen) Kriterium“ hin: Der „Umfang der Rechtfertigungslehre“ lasse sich nicht durch präzise Abgrenzung von anderen Glaubenslehren bestimmen; die Rechtfertigungslehre bedürfe der Legitimation aus der Schrift und sei zugleich der Schlüssel zum rechten Verständnis der Schrift; schließlich sei ein Kriterium immer ein Instrument, dessen Menschen sich bedienen und dessen Gebrauch daher nicht völlig losgelöst vom Urteilsvermögen derjenigen, die es verwenden, betrachtet werden könne. Manche der lutherischen Äußerungen zur Darstellung der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre greifen die Argumente des Straßburger Kommentars zu dieser Textpassage auf und ergänzen sie. Sehr intensiv setzt sich Gunther Wenz mit 40 dieser Thematik auseinander. Er stimmt der auch im Straßburger Kommentar formulierten Auffassung zu, der Rechtfertigungsartikel könne nicht als ein „axiomatisches Prinzip“ begriffen werden, „aus dem alle Wahrheit des Glaubens deduktiv zu entfalten wäre“41. Vielmehr lasse er sich „mit einer regulativen Idee vergleichen, die in allen Momenten der Glaubenswahrheit bestimmend mitgesetzt ist. […] Will man der inne36 37 38 39
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A.a.O., 32. Ebd. Ebd. Ebd. Weiter unten weist der Straßburger Kommentar die Vorstellung zurück, ein Kriterium sei ein „Axiom oder Prinzip, von dem aus alle Teile der Glaubenslehre abgeleitet werden könnten“ (a.a.O., 33). Vgl. Gunther Wenz, Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre? Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Einheitsrates aus evangelischer Sicht, in: epd-Dokumentation Nr. 46/1997, 39–48. A.a.O., 40.
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ren Einheit lutherischer Theologie gewahr werden, wird man in ihr jenen einheitsstiftenden Organisationszusammenhang zu entdecken haben, von dem her ihre inhaltlichen Bestimmungen zugleich auf ihre funktionale Bedeutung hin durchsichtig werden“42. Gunther Wenz gewinnt durch die Unterscheidung zwischen einem materialen und einem funktional-intentionalen Aspekt in der Rede von der Rechtfertigungslehre als dem einen Kriterium für Lehre und Leben der Kirche Offenheit für die Möglichkeit, dass das im 16. Jahrhundert (in damaliger Entsprechung von Materialität und Funktionalität) zeitbedingt formulierte lutherische Bekenntnis in späteren Zeiten zur Bewältigung neuer Herausforderungen auch anders gesagt werden kann oder gar muss. Es sei davon auszugehen, „dass der materiale Sinngehalt der Rechtfertigungslehre nicht unmittelbar von der Überzeugungskraft jener Vorstellungen abhängt, in deren Zusammenhang er ehedem zeitgemäß zur Sprache kam und die aufs engste verbunden 43 sind mit der mittelalterlichen Bußtheorie“ . Zuweilen garantiert nur eine Veränderung der Sprachgestalt einer Aussage die ursprünglich gemeinte Wirksamkeit. Auf diese kommt es nach Wenz jedoch entscheidend an. Während Gunther Wenz die Pluralität der Kriterien als Zugeständnis an die diachrone Wandlungsfähigkeit der Sprachgestalt des einen, „zeitlosen“ Kriteriums für eine ursprungstreue Verkündigung des Evangeliums und Verwaltung der Sakramente betrachtet, verweisen andere Autoren auf die Notwendigkeit, auch in einer synchronen Perspektive neben dem Rechtfertigungsartikel weitere Kriterien zur Bestimmung des genuin Christlichen für möglich zu erachten: „Man sollte […] nicht verkennen, dass selbstverständlich auch für die evangelische Lehre weitere Kriterien in Rechnung zu stellen sind […]. Zu denken ist z.B. an das Kriterium der Einsetzung Christi bei der Frage, welche Sakramente es in der Kirche gibt, oder an das Kriterium des Dekalogs oder des Liebesgebots in ethischen Fragen. 44 Die Rechtfertigungslehre ist notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium“ .
Im Chor der evangelischen Stimmen fehlen auch diejenigen nicht, die an die auch in den Schriften von Martin Luther sich spiegelnde Vielgestalt der biblisch bezeugten Weisen erinnern, Gottes Initiative zur Errettung der Sünder und Sünderinnen zum Ausdruck zu bringen, nämlich Reich Gottes, ewiges Leben, Heiligung, Versöhnung, Vergebung oder Erlösung.45 Wolfhart Pannenberg verweist auf das Bekenntnis von Nizäa, Gott Vater und Sohn seien „wesenseins“ (homoousios) und spricht dieser Aussage die Funktion zu, daß sie „ähnlich wie die Rechtfertigungslehre die ganze Lehre und Praxis der Kirche auf das in Christus offenbarte Heil hin orien-
42 43 44 45
A.a.O., 41. Ebd. Ulrich Kühn, Identitätskrise des deutschen Protestantismus?, in: epd-Dokumentation Nr. 7, 1998, 13f., hier: 14. Vgl. eine gemeinsame Stellungnahme mehrerer evangelischer Autoren: Die Rechtfertigungslehre trennt die Kirchen heute nicht mehr, in: epd-Dokumentation Nr. 46, 1997, 66–68, besonders 66f.
Die Kirche(n) „unablässig auf Christus hin orientieren“
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tiert“46. Er tut damit einen Schritt über die neutestamentliche Zeit hinaus und erinnert an den für alle christlichen Konfessionen verbindlichen trinitätstheologischen und christologischen Konsens in altkirchlicher Zeit. Eberhard Jüngel hat mit seiner wiederholt vorgetragenen, harten Kritik an der Rede in der GER über die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre entscheidend dazu beigetragen, dass eine intensive Suche nach einer dem Text angemessenen Interpretation der Aussage erfolgte. Jüngel stellte nicht in Frage, dass der Rechtfertigungsartikel (im Anschluss an die biblischen Schriften) auch mit anderen Begriffen zum Ausdruck gebracht werden kann: „Gewiss doch! Aber es bleibt derselbe Glau47 bensartikel“ . Jüngel versteht dagegen die Rede von „mehreren Kriterien“ als einen Hinweis auf unterschiedliche Kriterien. Als solche „anderen Kriterien“ benennt er etwa „die sogenannte apostolische Sukzession und das vom allgemeinen Priestertum unterschiedene Weihepriestertum“48. Dagegen könne es nach reformatorischer Einsicht kein anderes Kriterium als das des Rechtfertigungsartikels geben, der eine vierfache Funktion hat: „(1) den Glauben an Jesus Christus so zur Sprache zu bringen, dass ‚das Ganze des christlichen Glaubens als strukturierte Einheit‘ sichtbar wird, die allen Inhalten des Glaubensbekenntnisses ihre ‚Kontur als jeweils besonderen Elementen innerhalb eines sie alle aufeinander beziehenden Zusammenhanges gibt‘; (2) das derart strukturierte Ganze des christlichen Glaubens auf den rechtfertigenden Glauben auszurichten und dadurch die (objektive) Wahrheit des Evangeliums als die den Sünder wahrmachende Wahrheit zur Geltung zu bringen; (3) alle kirchlichen Lehrbildungen und Verhaltensmuster kritisch daraufhin zu befragen, ob sie dieser Wahrheit entsprechen, und ihnen, falls das nicht der Fall ist, mit Widerspruch und Widerstand zu begegnen; und (4) zur in Anknüpfung und Widerspruch sich vollziehenden Auseinandersetzung mit den nichtchristlichen Wahrheitsansprüchen so anzuleiten, dass die Proklamation der Rechtfertigung des Gottlosen als eine der gottlosen Welt zu Hilfe kommende Wahrheit und also als göttliche Wohltat erfahr49 bar wird“ .
Jüngel betrachtet die Rede von einem „unverzichtbaren Kriterium“ in der GER als widersinnig, weil dann auch die Möglichkeit gegeben sein müsse, von „verzichtbaren Kriterien“ zu sprechen.50 Da es sich bei einem Kriterium aber um ein Instru46 47
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Wolfhart Pannenberg, Neue Konsense, entschärfte Gegensätze und protestantische Ängste, in: epd-Dokumentation Nr. 11, 1998, 39–41, hier: 40. Eberhard Jüngel, Unglaubliche Irreführungen. Wie Protestanten über ihren Glauben getäuscht werden, in: epd-Dokumentation Nr. 11, 1998, 34–37, hier: 37; vgl. ausführlicher dazu: Ders., Um Gottes willen – Klarheit! Kritische Bemerkungen zur Verharmlosung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels – aus Anlass einer ökumenischen „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in: epd-Dokumentation Nr. 46, 1997, 59–65, hier 62f. Ders., Unglaubliche Irreführungen (wie Anm. 47), 37. Ders., Um Gottes willen – Klarheit (wie Anm. 47), 63f.; Hervorhebungen im Original. Das Zitat im Zitat bezieht sich auf: W. Härle, E. Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, München 1980, 10. Vgl. ders., Um Gottes willen – Klarheit (wie Anm. 47), 61f.
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ment der Urteilsfindung handele, um eine „regula et norma certitudinis“, habe es immer den Charakter der Unverzichtbarkeit. In dieser Einschätzung der Sachlage widerspricht ihm Hans-Martin Barth51, der an die Gebundenheit eines Kriteriums an einen bestimmten (sich wandelnden) Geltungsbereich erinnert und darin die Relativität eines Kriteriums begründet sieht. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass es bezogen auf denselben Fragezusammenhang zusätzlich zu einem „unverzichtbaren Kriterium“ weitere Kriterien geben könne, die dessen Gültigkeit nicht in Frage stellten. Allerdings habe es die GER versäumt, die Kriterien genau zu benennen und zueinander in Beziehung zu setzen. Ingolf U. Dalferth anerkennt, dass in der GER gemeinsam ausgesagt ist, der Rechtfertigungsartikel sei ein notwendiges Kriterium, das die Hinordnung der gesamten 52 Lehre und Praxis der Kirche auf Christus gewährleiste. Er betrachtet diese Aussage jedoch nicht als eine neue Erkenntnis im ökumenischen Dialog. Entscheidend ist für ihn, ob die Erwähnung mehrerer Kriterien das „solus Christus“ in Zweifel ziehe: „Sagen Lutheraner und Katholiken gemeinsam, die unverzichtbare Orientierungsleistung der Rechtfertigungslehre bestehe darin, dass sie die Kirche unablässig auf Christus, aber gerade nicht, dass sie diese auf solus Christus verweise? Dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn noch andere Gesichtspunkte bedeutsam werden müssen“53. 5.
Römisch-katholische Sichtweisen der Thematik
Mutmaßungen darüber, was für die Römisch-katholische Kirche neben Christus Jesus noch Zielperspektive ihrer Bemühung um Glaubenserkenntnis und Glaubenspraxis sein könnte, fehlen in der Literatur nicht: die Kirche, die Sakramente, das Amt und der Papst. Nach meiner Wahrnehmung spiegeln solche Vorstellungen eine grundlegende Fehleinschätzung der römisch-katholischen Anliegen bei der Rede von „weiteren Kriterien“ in der Ekklesiologie, die neben der Orientierung an der Rechtfertigungsbotschaft ein Kriterium der Glaubenserkenntnis sein könnten. Wer hätte erwartet, dass evangelische Stellungnahmen zur GER es sogar für möglich halten, der ekklesiale Dienst des Bischofs von Rom könne als eine Konkurrenz zur christologisch-soteriologischen Orientierung der gesamten Lehre und Praxis der Kirche verstanden werden? Walter Kasper hat sich im Kontext der GER so geäußert: „Die christologisch orientierte Kriteriologie lässt keine gleichberechtigten anderen Kriterien zu. Denn dass Jesus Christus allein das Heil ist, steht zwischen Lutheranern und Katholiken vom Neuen Testament her unbezweifelbar fest […]. Darum wäre es auch nach katholischem Verständnis völlig widersinnig, etwa das Dogma 51 52
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Vgl. Hans-Martin Barth, Kein bereitliegendes Messer. Die Erklärung zur Rechtfertigung und die Entdeckung eines Lebenselixiers, in: epd-Dokumentation Nr. 7, 1998, 10–12, hier: 11f. Vgl. Ingolf. U. Dalferth, Bitte keine weiteren Antworten dieser Art! Offener Brief an das Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg, in: epd-Dokumentation, Nr. 1, 1998, 14–30, besonders 27–29. A.a.O., 29. Hervorhebungen im Original.
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von der Unfehlbarkeit des Papstes gleichberechtigt und alternativ neben die Recht54 fertigungslehre zu stellen“ .
Walter Kasper stellt die christologisch-soteriologische Zentrierung der gesamten Lehre und Praxis der Kirche als eine nicht zuletzt durch das 2. Vatikanische Konzil im römisch-katholischen Raum wiederentdeckte Überzeugung der altkirchlichen Konzilien dar. Die als ökumenisch höchst relevant zu betrachtende Rede von der „Rangordnung oder ‚Hierarchie‘ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre […], je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens“ (Unitatis Redintegratio, Nr. 11), will genau dies zum Ausdruck bringen, was in der reformatorischen Theologie durch den Hinweis auf den Rechtfertigungsartikel als „das Kriterium“ der Orthodoxie sowie der Orthopraxie geleistet werde. Walter Kasper bekräftigt somit das „solus Christus“, ist jedoch der Überzeugung, dass durch eine Berufung auf den Rechtfertigungsartikel nicht alle theologischen Streitfragen (etwa die Frage der eucharistischen Realpräsenz, der Frauenordination und der apostolischen Sukzession) entschieden werden können. Zudem erinnert auch er an die Vielgestalt der biblischen Redeweisen „zur Bezeich55 nung der ein für alle Mal geschehenen Heilstat Gottes in Jesus Christus“ , die bedinge, dass es sich beim Rechtfertigungsartikel nicht um ein Kriterium von „exklusiver Bedeutung“ handele. Zu den wenigen, die sich bisher von römisch-katholischer Seite in die Diskussion um die kriteriologische Relevanz des Rechtfertigungsartikels anlässlich der GER eingebracht haben, gehörte Gerhard Ludwig Müller.56 Auch er betonte die christologisch-soteriologische Mitte des gemeinsamen christlichen Glaubens und unterschied diese von den (vielen) möglichen Ausdrucksweisen in der Rede von Erlösung: „Jesus Christus ist der einzige Maßstab und die Mitte, das einzige Kriterium für Sein und Sendung der Kirche. Das bedeutet auch: Nicht eine einzelne gedanklich-sprachliche Darstellungsform ist Norm und Grenze für die anderen“57. Demnach ist die Rechtfertigungslehre „eine der Sache nach unverzichtbare, der Form nach aber nicht die einzig mögliche Darstellung der radikalen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und der absolut freien, vergebenden und zum ewigen Leben berufenden Zuwendung Gottes zum Sünder“58.
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Walter Kasper, In allem Christus bekennen. Einig in der Rechtfertigungslehre als Mitte und Kriterium des christlichen Glaubens?, in: epd-Dokumentation Nr. 46, 1997, 49–51, hier: 51. A.a.O., 50. Vgl. Gerhard Ludwig Müller, Voran zur vollen Gemeinschaft. Gegen das Nein der 150 Theologieprofessoren zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, Christ in der Gegenwart 50 (1998), 61f.64. A.a.O., 61. A.a.O., 62.
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6.
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Ökumenische Perspektiven im Jahr 2017
Was bedeutet ein Rückblick auf die Bemühungen um die kriteriologische Relevanz der Rechtfertigungslehre im Jahr der Ökumene 2017, das von allen Kirchen bewusst als ein Christus- Fest miteinander gefeiert wird? Vielleicht kann auch in diesem Zusammenhang eine Erinnerungsarbeit heilsam sein59: Trotz aller Schärfe im Ton scheint es im zeitlichen Kontext der GER in den in der Öffentlichkeit geführten Wechselgesprächen gelungen zu sein, sich auf die christologisch-soteriologische Mitte des kirchlichen Verkündigungsdienstes zu verständigen. Anerkannt wird von allen Seiten die auch biblisch bezeugte Vielgestalt der Redeweisen von der in Christus Jesus offenbaren und im Geist Gottes gegenwärtigen erlösenden Tat Gottes. Einigkeit herrscht weitgehend im Blick auf die inhaltlich-materiale Bestimmung der göttlichen Erlösungsinitiative zur Errettung der Schöpfung. Von dieser Frage nach der (inhaltlich zu erfassenden) Mitte des christlichen Glaubens zu unterscheiden ist die Problematik, wie gewährleistet sein kann, dass die Glaubensgemeinschaft der von Gott in Christus Jesus eschatologisch-endgültig geoffenbarten Verheißung in allen Gestalten des kirchlichen Daseins treu bleibt. Die römisch-katholische Glaubensgemeinschaft beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf die Wirksamkeit des Geistes Gottes sowohl im Wort der kanonischen Schriftzeugnisse, als auch bei der Auslegung der biblischen Überlieferung und im Prozess der Vergegenwärtigung des apostolischen Ursprungs in kirchlichen Lehren. Zur Debatte steht in diesem Zusammenhang die Frage einer theologisch stimmigen Zuordnung der (unbestrittenen) materialen Suffizienz des Schriftzeugnisses zu den (umstrittenen) Instanzen, die beanspruchen, Gewissheit in der Frage der Treue zur apostolischen Überlieferung zu gewährleisten. Die zwischen den Konfessionen noch kontroverse Annahme, es gebe solche Wege zur Überprüfung der Ursprungstreue des kirchlichen Lebens und Lehrens, ist aber keine Infragestellung der gemeinsamen Überzeugung, die der Ökumenische Arbeitskreis so formuliert hat: „Die Wahrheit der Schrift bewährt sich nur im Vollzug ihrer Wahrnehmung, so dass ohne eine solche Wahrnehmung, deren konkreter Ort die Kirche ist, von einer Selbstauslegung der Schrift nicht angemessen die Rede sein kann. Evangelische Theologie teilt diese Einsicht und anerkennt, dass ein adäquater Schriftgebrauch nur in der Kommunikations- und Verantwortungsgemeinschaft der Kirche in der Einheit des Geistes Christi möglich ist. Das Wort und die Wahrheit Gottes wären nicht wirklich in der Welt angekommen, würden sie nicht in der Kraft eben dieses Heiligen Geistes im Glauben von Menschen angenommen und gemeinsam öffentlich bezeugt. Der Gehalt des Wortes Gottes lässt sich insofern von den irdischen
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Vgl. das unter dem Titel „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“ erschienene gemeinsame Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Jahr 2017, Hannover 2016 (Gemeinsame Texte, Nr. 24).
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Gestalten der Auslegung und der Verkündigung des Wortes nach der Hl. Schrift 60 nicht trennen“ .
Meiner Wahrnehmung nach ist der ökumenische Dialog über die bereits im MaltaBericht formulierte Grundaussage, das „primäre Kriterium“ sei, dass „der Heilige Geist das Christusereignis als Heilsgeschehen erweist“61, kaum hinausgekommen. Gewiss, die evangelisch-katholische Übereinstimmung in der Überzeugung, das im Rechtfertigungsartikel als Tat Gottes ausgesagte Handeln am Menschen sei die Mitte des christlichen Bekenntnisses, hat sich gefestigt. Infragestellungen der Annahme, auch römisch-katholische Theologen stimmten dem „solus Christus“ zu, erschweren allerdings der Öffentlichkeit die Anerkenntnis der bereits erreichten Verständigung. Um das „solus Christus“ müssen wir nicht streiten – nur um die Wege der Vergegenwärtigung dieser Erkenntnis im Leben der christlichen Glaubensgemeinschaft. In diesem Zusammenhang ist es dringend erforderlich, unter Einbezug der orthodoxen Theologie die ökumenische Besinnung auf die pneumatologische Dimension des gesamten kirchlichen Lebens zu vertiefen. Ausdrücklich fordert die GER ekklesiologische Konsequenzen der erreichten Dialogergebnisse ein: „Unser Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre muss sich im 62 Leben und in der Lehre der Kirchen auswirken und bewähren“ . Über diese allgemeine Feststellung der kriteriologischen Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Ekklesiologie63 ist auch die GER nicht hinausgekommen. Wird sich diese Situation nach 2017 ändern? Offenkundig ist das christliche Zeugnis für den Gott Jesu Christi von höherem Rang als die Frage, in welcher konkreten, amtlich-institutionalisierten Form dieses Bekenntnis über die Zeiten hinweg bewahrt werden kann. Vorrangig wichtig erscheint es zudem, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen. Alle Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie finden die Menschen einen sicheren Ort für die Gestaltung ihres Lebens? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden unter den Völkern zu erreichen? Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Warum gelingt es nicht, die entlohnte Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt den Hunger und Durst der Bedürftigen in den Ländern, in denen es selten regnet? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Wer steht den
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Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Kanon – Heilige Schrift – Tradition. Gemeinsame Erklärung, in: Wolfhart Pannenberg, Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. 1, Freiburg/Göttingen 1992, 392. Vgl. Malta-Bericht (wie Anm. 17), 253 (Nr. 18). GER 43. Vgl. zur Geschichte dieses Gedankens im ökumenischen Kontext: O. H. Pesch, Rechtfertigung und Kirche. Die kriteriologische Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Ekklesiologie, ÖR 37 (1988), 22–46.
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Verzweifelten Tag und Nacht zur Seite? Wer tröstet die Sterbenden mit der österlichen Botschaft des einen christlichen Evangeliums? Die gegenwärtige Verkündigungssituation nötigt alle Kirchen zu einer Konzentration unseres Bekenntnisses. In Christus Jesus ist Gott selbst in Zeit und Geschichte als der erschienen, der jeden Gemeinschaftsbruch seiner Geschöpfe mit der Zusage seiner Beziehungswilligkeit beantwortet – sola gratia. Die Erfahrung dieser göttlichen Initiative zum Heil der in die Sünde verstrickten Schöpfung ist in Gottes Geist bereits Gegenwart. Eine andere Sinnbestimmung des kirchlichen Daseins als jene, der Welt den Trost dieses christlichen Evangeliums zuzusprechen, kann es nicht geben. Nur – uns ergreifen lassen von Gottes im Wort wirkenden Geist, das müssen wir selbst – und zwar immer wieder neu. Christinnen und Christen bekennen sich gemeinsam zu Gott, der sich in Christus Jesus in Gestalt eines Menschenlebens als versöhnungsbereit in aller Anfeindung geoffenbart hat. Selbst mit dem, der ihn verraten hat – mit Judas – hat Jesus noch kurz vor seinem Tod Mahl gefeiert. Jesus hat eine Zeichenhandlung gestiftet, die wir im eucharistischen Gedächtnis feiern: Jesus teilt das gebrochene Brot als lebendiges Sinnbild für seinen dem Tod ausgelieferten Leib; er gibt seinen Becher mit Wein in die Runde, damit alle an seinem Leben Anteil haben. Er wäscht den Jüngern die Füße und ermahnt uns, aneinander ebenso zu handeln. Es widerspricht der Mitte des Evangeliums, wenn Kirchen, die sich auf Jesus Christus berufen, sein sakramentales Gedächtnis nicht gemeinsam feiern. Das Streben nach eucharistischer Mahlgemeinschaft ist in der Ökumene niemals preiszugeben.
„Von dannen er kommen wird“ Was bedeutet diese Aussage für die Existenz der Kirche heute? Jobst Schöne 1.
Welche Bedeutung hat die Aussage vom Kommen Christi?
Die Worte „Von dannen er kommen wird“, mit denen das Konkordienbuch von 1580 den lateinischen Text des Credo Apostolicum wiedergibt,1 bilden nur einen Satzteil, sprachlich wie inhaltlich. Was sich unmittelbar anschließt („zu richten die Lebendigen und die Todten“), gehört ebenso dazu wie das, was voraufgeht: „gekreuziget, gestorben und begraben, niedergefahren […], auferstanden […], aufgefahren […], sitzend zur Rechten Gottes […] von dannen er kommen wird.“ Wir haben es also mit einer christologischen Gesamtaussage zu tun, die das Apostolische Credo artikuliert und die als Ganze präsent sein muss. Wird dieser Kontext außer Acht gelassen oder werden Aussagen über die Wiederkunft Christi von den übrigen christologischen Aussagen abgelöst und in Lehre und Verkündigung als nebensächlich gewertet oder sogar verschwiegen, dann hat sich damit ein schwerwiegendes Defizit in der Christologie eingestellt. Der Verweis auf die „Letzten Dinge“, zu denen die Wiederkunft Christi zählt, bleibt unverzichtbar, weil sie im Neuen Testament festgehalten sind. Von Eschatologie, von „Letzten Dingen“ also ist im Folgenden zu reden, wenn es um die Wiederkunft Christi geht, oder genauer: von einem wesentlichen Stück der „Letzten Dinge“. Die Aussage „Von dannen er kommen wird“ begleitet die Kirche nicht erst, seitdem es ein Apostolisches Glaubensbekenntnis gibt oder ein Nicänisches oder ein Athanasianisches (denn in allen drei altkirchlichen Bekenntnissen ist die Aus2 sage mit fast gleichen Worten formuliert ) oder ein Te Deum (was ja auch verschiedentlich unter die Glaubensbekenntnisse gerechnet wurde3). Diese Aussage begleitet die Christenheit seit den Tagen der Apostel, seit der Auffahrt Christi. Ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt im Neuen Testament ist die von Lukas im ersten 1
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„[…] inde venturus est […]“ (Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 42). Symbolum Nicaenum: „[…] et iterum venturus est […] / Und wird wiederkommen […]“ (BSELK, 49); Symbolum Athanasii: „[…] inde venturus […] / Von dannen er kommen wird […]“ (BSELK, 60). Darin die Aussage: „Du sitzt zur Rechten Gottes gleich / mit aller Ehr ins Vaters Reich. / Ein Richter du zukünftig bist / alles, das tot und lebend ist“; 4. Jahrhundert/Martin Luther, zitiert aus ELKG Nr. 137.
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Kapitel der Apostelgeschichte mitgeteilte Ankündigung der „zwei Männer in weißen Gewändern“ (d.h. Gottesboten) an die fassungslosen Apostel: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.“4 Nimmt man die Worte Christi im 21. Kapitel des Lukasevangeliums hinzu, so rundet sich die Aussage ab: da ist von Zeichen an den Gestirnen die Rede, von bange sein, verzagen, vergehen vor Furcht und Erwartung, vom Wanken der Kräfte der Himmel – „und alsdann werden sie [die Menschen] sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“5 Unstreitig ist, dass die Christenheit an diese Verheißung und Zusage Christi permanent erinnert wird, schließlich wird das „von dannen er kommen wird“ an jedem Sonntag im Gottesdienst gesprochen, wenn eines der christlichen Glaubensbekenntnisse gebetet wird. Unstreitig ist ebenso, dass die Wirkung, also das, was diese Worte auslösen, ganz unterschiedlich gewesen und geblieben ist und großen Schwankungen unterliegt. Die Rezeption erweist sich als von höchst unterschiedlicher Intensität. Ob heute noch von vielen Christen mit Luther und den Vätern um das Kommen des „lieben jüngsten Tages“ gebetet wird, ob die Erwartung des Kommens Christi noch eine lebensbestimmende und die Christenheit prägende Wirklichkeit darstellt, muss bezweifelt werden. Die Distanz zur Vorstellung von einer nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi und einem (drohenden oder erhofften) Weltgericht ist unübersehbar. Zugleich muss das überraschen. Denn Weltuntergangsvorstellungen oder -ängste mögen zwar in unserer Zeit nicht vorherrschend und prägend sein, sind andererseits aber durchaus vorhanden und gar nicht zu leugnen. Eine gewisse Ambiguität der Gefühle, eine Zwiespältigkeit der Empfindungen kennzeichnet wohl die allgemeine Stimmungslage heute: auf der einen Seite ausgeprägte Zukunftsängste, auf der anderen Seite Fortschrittsgläubigkeit in ungebrochener Intensität. Verwirrend bleibt, dass dabei oft das eine das andere bedingt und beide Vorstellungen sich gegenseitig befördern. Was sich an „Fortschritten“ abzeichnet sind rasante Entwicklungen, die dem Glauben scheinbar den Grund entziehen und den Gedanken zu ersticken drohen, wir hätten hier keine bleibende Stadt, sondern suchten noch die zukünftige. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Es lässt sich zeigen, wie die Revolution der Kommunikationstechnik, der unbegrenzte Daten- und Informationsfluss, den Menschen verändert hat und damit sein Denken, Empfinden und Urteilen. Wir fühlen uns als „Wissende“ und damit überlegen. Gentechnik verheißt zwar die Überwindung von Hunger, Armut und Krankheiten, weil nun der Mensch in die Lage kommt mit (allerdings ambivalenten, also ebenso bedrohlichen wie verheißungsvollen) Eingriffs-
4 5
Act 1,11. Lk 21,27f.
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möglichkeiten natürliche Abläufe zu steuern, menschliches wie tierisches und pflanzliches Erbgut zu „optimieren“, uns und unsere Welt gründlich zu verändern. Da fühlen wir uns machtvoll. Solchem nachweisbaren Fortschrittsoptimismus stehen aber tief wurzelnde Ängste gegenüber, wohin das denn alles führen solle und könne. Fortschritt wird zugleich als Bedrohung wahrgenommen, von Menschen verursachte Veränderungen lassen kommende Katastrophen ahnen. Gewaltausbrüche aller Art, soziale Verwerfungen, verlorengegangene Wertvorstellungen, armuts- oder kriegsbedingte Migrationsbewegungen, Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, Umweltverschmutzung, Übervölkerung wie Überalterung, Genmanipulation usw. sind deshalb heiß diskutierte Themen. Sie unterstreichen, dass wir in die Krise geraten sind. Ist die Verwüstung des Planeten noch aufzuhalten? Konsumiert sich die Menschheit zu Tode? Ist ein gewaltloses Miteinander der unterschiedlichen Kulturen noch möglich? Zeichnet sich statt eines goldenen Zeitalters ein selbstproduzierter Untergang ab? Auf diese Fragen finden wir offenkundig keine beruhigende Antwort. Die Orientierungslosigkeit, die allenthalben um sich greift, zeigt sich schließlich darin, dass wir nicht wissen, wie und wo dem von Menschen Machbaren Grenzen zu ziehen seien; wie die Möglichkeiten, die dem Menschen offenstehen, mit Verantwortung zu verknüpfen wären; wo unsere Freiheiten eingeschränkt werden müssten, um unreparierbaren Schaden abzuwenden. Dies alles schreit förmlich nach Abhilfe. Aber eröffnet es der christlichen Botschaft Möglichkeiten, sich zu entfalten? Das ist offenkundig nicht der Fall – zu Optimismus in dieser Hinsicht besteht kein Anlass. Vielmehr erweist es sich als Illusion, dass alle Welt nur auf die christliche Verkündigung warte. Sie tut es nicht. Unter Christen selbst ist heute relativ wenig von einer Endzeitstimmung im biblischen Sinne wahrzunehmen. Eine Naherwartung ist alles andere als vorherrschend – von einigen Sekten abgesehen. Aber selbst bei denen scheint es damit eher weniger als mehr geworden zu sein. Zu anderen Zeiten herrschten jedenfalls ganz andere Hoffnungen, Erwartungen und Sehnsüchte. 2.
Eschatologische Erwartungen in der Geschichte der Kirche
Nicht nur das apostolische Zeitalter war von Naherwartung des Weltendes und der Wiederkunft Christi geprägt, und das in einem heute kaum mehr vorstellbaren und verständlichen Ausmaß. Aber auch als diese Erwartung unerfüllt blieb, als die Kirche ihre äußere Organisationsform entwickelte und sich zu einer institutionellen Größe verfestigte, wurde Christi Verheißung nicht vergessen. Die im 19. Jahrhundert aufgekommene und dann weit verbreitete und akzeptierte These, wonach sich die Herausbildung der Institution Kirche mit ihren festen Strukturen eigentlich der
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enttäuschten Naherwartung verdanke,6 ist umstritten geblieben und hat sich als durchaus anfechtbar erwiesen. Die Meinung, dass „die Kirche kam, als der Geist erlosch“, ist allzu deutlich von einem Vorurteil gegen solche Strukturen geprägt, einem Vorurteil, das sich aus bestimmten Wunschvorstellungen über die Gestalt der Kirche speist. Da werden Geist und Form, Freiheit und Gebundenheit, Naherwartung und Aufbau einer Institution als grundsätzliche Gegensätze verstanden, als einander ausschließend; und solche Leitgedanken werden dann in das Neue Testament hineinprojiziert. Diesen Vorgang näher zu entfalten, ist hier nicht der Ort. Bemerkenswert bleibt, wie sich Erwartung, Hoffnung und Sehnsucht, die auf das Kommen Christi gerichtet waren, immer neu Bahn brachen, Herzen gewannen, das Denken prägten und Empfindungen bestimmten. Die Christenheit hat dabei fraglos auch Perioden erlebt, in denen diese Erwartung und die Zuversicht, Christi Kommen werde sich bald ereignen, zurücktrat, erschlaffte und versickerte. Dann 7 aber brach diese Hoffnung wieder neu hervor, löste Bußbewegungen aus , führte zu 8 Kloster- und Ordensgründungen , hatte Erweckungen im Gefolge, und nicht selten auch schwärmerische Aufbrüche, Sektenbildungen9 und dergleichen. Zum Auslöser wurden dabei oft politische Ereignisse, Kriege, wirtschaftliche Notstände, Epidemien. Auch der Wechsel vom ersten ins zweite Jahrtausend war es. Solche Anlässe führten zum Nachdenken, zur Besinnung, zu Umkehr und Neuausrichtung. Auch die Reformationszeit war von mancherlei Naherwartung erfüllt. Luther selbst war der Überzeugung, die Welt stünde kurz vor ihrem Ende,10 nicht weniger seine Gegner, vor allem die Schwärmer. Die Überzeugung, Christi Wiederkunft stünde bevor, teilten viele Zeitgenossen Luthers. Im Unterschied zu ihnen fürchtete er jedoch diesen Augenblick und die sichtbare Erscheinung Christi nicht, konnte vielmehr mitunter fast zärtlich vom „lieben jüngsten Tag“ reden, den er ersehnte.11 Hundert Jahre nach ihm, in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, sieht es mit der Naherwartung nicht viel anders aus. Und nach der Epoche des pausbäckigen Fortschrittsglaubens der Aufklärung, in der apokalyptische Erwartungen deutlich zurücktreten, bricht dieses Empfinden im 19. Jahrhundert wieder energisch auf. 6 7 8
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Im 19. Jahrhundert von F. Chr. Baur, R. Sohm, A. Ritschl u.a. entwickelt, dann von A. v. Harnack weitergeführt, im 20. Jahrhundert schließlich von E. Käsemann mit Vehemenz vertreten. Auch durchaus fragwürdige, wie z.B. den Joachimismus des 13. Jahrhunderts und das mittelalterliche Flagellantenwesen. Die Entstehung der monastischen Reformbewegungen z.B. der Karthäuser, Zisterzienser, Praemonstratenser, und der Bettelorden wie Franziskaner, Dominikaner u.a., dazu das weit verbreitete Verlangen, in Klöster und Orden einzutreten, speiste sich zwar keineswegs allein, aber doch u.a. auch aus der Überzeugung, das Weltende sei nahe. Z.B. der Waldenser und Katharer. Dazu aus den Tischreden: „Ich hoffe ja, der Tag sei nicht weit, und wir wollen ihn noch erleben“, W² XXII, 1331. „Extremus dies laeta“, WA 49,742,11. Ob man mit Oswald Bayer Luther so interpretieren muss, dass „Der erwartete Jüngste Tag […] nicht neutrisch, sondern personal zu verstehen“ sei, bleibe dahingestellt. (Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, 303). Fällt nicht für Luther beides in eins, so dass gar keine Alternative entsteht?
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Pietistische Zirkel in Süddeutschland wandern nach Palästina, in die USA oder nach Russland aus,12 um am richtigen Ort, wie sie meinen, die letzten Vorbereitungen auf Christi Wiederkunft zu treffen und die Entrückung zu erleben. Sektenbildungen wie die der Irvingianer (heute fortlebend in den katholisch-apostolischen Gemeinden und – in gänzlich anderer Ausrichtung – in der Neuapostolischen „Kirche“), Darbysten und Adventisten13 gewinnen erheblichen Einfluss. Friedrich Engels, Wuppertaler Kaufmannssohn aus streng pietistischem Elternhaus, soll in seiner Jugend Kirchenlieder voll überreizter Hoffnung auf das nahe Hereinbrechen des Reiches Gottes gedichtet haben, tut sich aber später – enttäuscht vom Ausbleiben der apokalyptischen Wende – mit Karl Marx zusammen, nunmehr der Überzeugung, die paradiesischen Zustände seien vom Menschen selbst zu schaffen. Wie gründlich das daneben ging, wissen wir heute. Friedrich von Bodelschwingh (nur elf Jahre jünger als Engels und fünfzehn Jahre nach ihm 1910 gestorben), baut seine Häuser in Bethel mit nur einer Backsteinbreite, ganz billig, nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil er von der nahen Wiederkunft Christi überzeugt ist und sich größerer baulicher Aufwand also nicht mehr lohnt. Als Bodelschwingh 1910 stirbt, regiert freilich schon ein ganz anderes Denken, in welchem eine „Naherwartung“ ganz eigener Art eine Verbindung, ja geradezu eine Art „unheilige Allianz“ mit innerweltlichem Fortschrittsglauben eingegangen ist. Was erwartet wird, macht sich nicht mehr fest an Person und Werk Christi und dem Gericht, das er heraufführt. Es ist umgeschlagen in innerweltliches Heil. In der damaligen Christenheit drückt sich das beispielsweise in der Hoffnung, ja Überzeugung aus, die Christianisierung der Welt könne noch in der Zeit der damals lebenden 14 Generation gelingen – damit das „Reich Gottes“ gemäß der Verheißung Christi anbrechen könne. So sehr man Christi Wort „Das Evangelium muss zuvor gepredigt werden allen Völkern“ auf sich und die eigene Zeit bezog und ernst nehmen wollte, so deutlich wurde auch die Distanz zu dem „Von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten“. Es dominierten vielmehr Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit im christlichen Gewande, manifest im Bestreben, das Evangelium als „Social Gospel“15 zu realisieren, „to make the world a better place to live in“.
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1869 gründen Christoph Hoffmann und die Templer Kolonien in Palästina; württembergische Auswanderer ziehen nach Pensylvania/USA, Südrussland (grusinische Separatisten), Kaukasien, auf die Krim, ins Wolgagebiet. Irvingianer: Ab 1832 durch Edward Irving in England entstandene Reformbewegung mit straken Einflüssen auf dem Kontinent. | Darbysten (Freie Brüderkreise): Ab Mitte des 19. Jahrhunderts von England her verbreitet (unter Einfluss von John Nelson Darby). | Adventisten: Im 19. Jahrhundert in den USA entstandene Gruppierung, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts stark ausbreitet und auch in Deutschland Gemeinden bildet. „Evangelisation der Welt in dieser Generation“ wurde im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert zur Losung der „World's Student Christian Federation“ und prägte die erste Weltmissionskonferenz 1919 in Edinburgh. Im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA entstandene Strömung von liberal-theologischer Orientierung, die bestrebt war, in der Gesellschaftsordnung die „Religion Jesu“ im Sinne einer
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Der Erste und erst recht der Zweite Weltkrieg haben diesem Denken und Fühlen auf dramatische Weise ein ernüchterndes Ende gesetzt. 3.
Konsequenzen aus den Entwicklungen
So sehr man angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts wieder gelernt hatte, mit dem Weltende zu rechnen, so sehr sträubte und sträubt sich säkulares Denken vehement dagegen. Bis heute stehen wir in der ständigen Versuchung, „mit einer Zukunft ohne Ende für unser Universum zu rechnen“16. Das Dasein gewinnt für viele Zeitgenossen dann seinen Sinn, wenn uns der Gedanke trägt, „daß das Leben immer weitergehen wird“17. Das Neue Testament lehrt uns dagegen ein vollständig anderes Denken. Wenn wir begreifen, dass dieser Zeit und Welt ein Ende gesetzt wird und dass wir uns auf Christi Kommen einzustellen haben, gerade dann wird unserm Dasein erst ein Sinn verliehen. Denn auch Leid und Kriege, Katastrophen und Ungerechtigkeit finden ja damit ein Ende: Was wir zu erwarten haben ist ein Leben, das es verdient als Leben bezeichnet zu werden. Die Bibel rechnet nicht mit wachsender Humanität in der menschlichen Gesellschaft, mit einer Entwicklung zum Besseren und Höheren hin. Je weiter die Geschichte voranschreitet, um so mehr greift vielmehr das Böse um sich, werden die Kriege barbarischer, die Katastrophen schrecklicher, die irdischen Gewalten Gottfeindlicher und die Christenheit zu einer verachteten Minorität. Aber das macht das Leben für den Christen nicht sinnlos, sondern wird zum Zeichen des Anbruchs eines neuen Tages, ganz im Unterschied zu allem vermeintlichen Fortschritt. „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“ (Lk 21,28). Zweierlei ist dabei freilich zu beachten: einmal, dass nie vorausberechenbar sein wird, wann der Tag anbricht, an dem Christus aus seiner Verborgenheit wieder hervortritt. Sicher ist nur, dass es unerwartet und überraschend geschehen wird. Das sollte die Christenheit zu permanenter Bereitschaft und Wachsamkeit anhalten. Zum andern, dass solche Erwartung der Wiederkunft Christi keineswegs die Verantwortung mindert, die Christen auch für die Welt tragen, in der wir jetzt leben. Das bringt uns in die Nähe zu jenem bekannten Diktum, welches beharrlich Luther zugeschrieben wird, aber nicht von ihm stammt: „Und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“ Über „Luthers Apfelbäumchen“ hat Martin Schloemann eine aufschlussreiche Studie veröf-
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Besserung sozialer Missstände zu verwirklichen und damit das Reich Gottes auf Erden aufzurichten; von erheblichem Einfluss auf die ökumenische Bewegung. Bo Giertz, Evangelisch glauben. Hilfen zum Verstehen, Erlangen 1981, 158. Ebd.
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fentlicht,18 in der er der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Ausspruchs nachgegangen ist und sie kritisch untersucht. Erst seit 1944 (!) ist dieses Diktum nachweisbar. Schloemann stellt fest, dass der Wortlaut gar nicht zu Luthers glühender Erwartung des Jüngsten Tages passt, dessen Kommen er mit Inbrunst erwartete. „Diese Inbrunst läßt keinen Gedanken an ein das apokalyptische Geschehen praktisch nivellierendes Tun des Menschen zu“19, vor allem aber ist der Gedanke an „Christus und sein […] vergebendes, freies Handeln“20 ausgeblendet. 4.
Naherwartung und profane Eschatologie
Überall, wo Christus und sein Handeln ausgeblendet bleiben, bekommen Enderwartungen, apokalyptische Ahnungen, Krisenempfindungen, Zukunftsängste und eine von dorther entwickelte Ethik ihre Schlagseite zum Falschen. Der bereits zitierte Schloemann hat bereits 1973 in einem schmalen Bändchen unter dem Titel „Wachstumstod und Eschatologie. Die Herausforderung christlicher Theologie durch die Umweltkrise“ darauf aufmerksam gemacht, dass alle Aussagen „natürlicher Eschatologie“ unverrechenbar bleiben mit der christlichen Zukunftserwartung, weil in ihr Gottes Eingreifen und nicht menschliche Leichtfertigkeit, Fehlverhalten und Verantwortungslosigkeit das Ende heraufführen, zudem aber Christus im Mittelpunkt christlicher Enderwartung und Zukunftshoffnung steht, stehen muss, stehen bleibt: „So ist nicht das Fortleben dieses Menschen in dieser Welt um jeden Preis oberster Maßstab und Antrieb christlicher Existenz, sondern allein die in Christus gestiftete Gemeinschaft mit Gott. Die verheißene Kontinuität des Heils liegt nicht beim Menschen selbst, auch nicht bei seiner vorhandenen oder noch zu gestaltenden Welt, sondern allein bei dem, der sich dem Sünder zuwendet. Ihm entgegenzusehen, ermöglicht die Haltung und den verantwortlichen und aktiven Vollzug des ‚Haben, 21 als hätten wir nicht‘ (1. Kor 7, 29–32).“
Unübersehbar und unbestritten bleibt, dass eine „natürliche Eschatologie“ mit ihrer profanen, rationalen „Enderwartung“, also säkularen Katastrophenahnungen, Zukunftssorgen und -vorstellungen und Prognosen, ihre Berührungspunkte hat mit christlicher Zukunftserwartung und -hoffnung, ja sogar Wegbereiter und Anknüpfungspunkt für ein christliches Zukunftsdenken sein kann, wenn sie etwa Selbstsicherheit und ungetrübten Fortschrittsglauben aufbricht.
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Martin Schloemann, Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1994. Aus einem Brief von Oskar Söhngen, zitiert bei Schloemann, Apfelbäumchen (wie Anm. 18), 247. A.a.O., 251. Martin Schloemann, Wachstumstod und Eschatologie. Die Herausforderung christlicher Theologie durch die Umweltkrise, Stuttgart 1973, 53.
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Jobst Schöne
Horst Georg Pöhlmann hat in seinem „Abriß der Dogmatik“22 eine eindrucksvolle Übersicht über Ausdrucksformen und Aussagen „profaner Eschatologie“ im modernen Geistesleben vorgelegt. Er zählt maßgebende Zeugen dafür auf: Jaspers, Bloch, Freud, Jung, Heidegger, Kafka, Dürrenmatt, Enzensberger, Benn, Sartre, Camus, Beckett, Ionescu, Orwell, Huxley und andere23 – alle diese prominenten Zeitgenossen bezeugen in ihren Werken, wie unter der Fassade des Fortschritts das „Grundgefühl Angst“ den heutigen Menschen bestimmt: „Der moderne Mensch ist offen nach vorn, aber weniger in der Hoffnung als in der Angst […] Der Richterstuhl, vor dem der moderne Mensch zittert, wird ständig anders besetzt und so oft umbesetzt, daß er für ihn letztlich leer ist […] Er empfindet nicht Furcht vor Gott, aber doch Angst vor einem X, er hat kein eschatologisches Bewußtsein, aber doch ein eschatologisches Unterbewußtsein, an das die christliche Eschatologie anknüpfen kann […] Die Kirche muß nicht vor dem Menschen unserer Zeit einen Richterstuhl aufstellen, – er steht schon vor ihm –, sondern sie muß ihm klar machen, daß auf dem leeren Richterstuhl vor dem er steht, Christus 24 als der gerichtete Richter sitzt, der ihn freispricht […].“
5.
Zusammenfassung
Die Aussage des Glaubensbekenntnisses „Von dannen er kommen wird […]“ ist und bleibt von fundamentaler Bedeutung für christliches Denken und Leben. Sie bezeugt, dass die Entwicklung und das endliche Schicksal diese Welt nicht in Händen von Menschen liegt, sondern in den Händen Christi: Er wird kommen und über alle und alles das letzte, richtende Wort sprechen. Damit ist uns nicht Verantwortung generell, wohl aber die Letztverantwortung abgenommen und Raum für jene Gelassenheit geschaffen, die „getrost erwartet, was kommen mag“ (um ein Wort Bonhoeffers aufzugreifen). Nicht wir schaffen das Reich Gottes, haben es vorzubereiten, zu realisieren oder könnten es letztlich hindern und aufhalten. Wir sollen nur darum bitten und leben, wie es dieser Bitte gemäß ist. Die Aussage von Christi Kommen – so lange sie geglaubt, gelehrt und bekannt wird – erinnert daran, dass die Vollendung noch aussteht, dass das Böse nicht ausgetilgt, die Sünde nicht aus der Welt geschafft, der Tod nicht besiegt, der Teufel eifrig am Werk ist. Wir sind in einen Prozess hineingenommen, an dessen Anfang die Auferstehung Christi, an dessen Ende sein Kommen in Herrlichkeit steht. In diesem Prozess werden wir verwandelt; nicht aber verwandeln, veredeln, entwickeln wir uns selbst oder die Welt um uns, als käme dadurch das Reich Gottes. Und schließlich sagt uns diese Aussage, dass ein Christ als Erlöster zwar schon jetzt unter seines Herrn Herrschaft lebt und ihm dient „in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit“ (Luther), zugleich aber noch auf sein Auferstehen und 22 23 24
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Horst Georg Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, Gütersloh 1980. A.a.O., 333ff. A.a.O., 335f.
„Von dannen er kommen wird“
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„das Leben der zukünftigen Welt“ (Nicänum) wartet. Er steht also zeitlebens in der Spannung zwischen dem „Jetzt-schon“ und dem „Noch-nicht“. Die verborgene Herrschaft Christi, die wir jetzt glauben, aber nicht schauen, wird am Tage der Wiederkunft und des Gerichts offenbar werden – auch allen Nichtglaubenden. Luther stieß zu seiner Zeit, also am Ende des Mittelalters, auf eine Deutung der Aussage des Credo von Christi Wiederkunft zum Gericht, die auf die Gegenüberstellung hinauslief: jetzt Gnade, dann Gericht; jetzt noch Zeit des göttlichen Erbarmens, dann aber Zeit der strengen Aburteilung; Christus jetzt noch voll Gnade und Erbarmen für den reuigen Sünder, am Jüngsten Tage aber nur noch der Richter. Dieser Deutung widersprach er, denn sie lässt in Anfechtungen und Zweifel stürzen oder aber verführt in das falsche Vertrauen auf unsere Werke, unseren „Glauben“ (als eine Leistung), unser Tun, das seine Belohnung finden soll. Albrecht Peters hat 25 in seinem „Kommentar zu Luthers Katechismen“ das Bekenntnis des Reformators zur Wiederkunft Christi mit diesen Worten zusammengefasst: „[…] Luther [hält] mit dem Neuen Testament und der kirchlichen Tradition daran fest, daß der Erhöhte alles Fleisch vor sein Angesicht rufen wird. Dieser Herr und Richter wird jedoch niemand anderes sein als der eine und selbe, welcher sein Leben einfürallemal dahingab, die Seinen zu erretten und dieses sein allgenugsames Kreuzesopfer ständig dem heiligen Gott vorhält. Christi ewiges Strafgericht geht über alles gottfeindliche Wesen um uns aber auch in uns; den an ihn Glaubenden erscheint er jedoch als Fürsprecher und Rechtshelfer […] Wir dürfen also keinen Gegensatz aufstellen zwischen dem Heute und Hier und dem Dereinst und Dort. Wer jetzt und hier Christus als seinen Herrn annimmt, wird dort und dereinst von ihm angenommen; wer hier und jetzt Christus verwirft, wird dereinst von ihm verworfen werden. Der Tag des ewigen Gerichtes ist der Tag des völligen Erbarmens, weil der Herr letztgültig den Seinen zu Hilfe eilen und sie vollends aus den satanischen Angriffen herausreißen wird […] Darum sollen die rechten Christen unermüdlich ihren Herrn um seine Wiederkunft anflehen, wie wir es auch im Vaterunser tun; mit erhobenen Häuptern dürfen sie dem Gerichtstag entgegeneilen (Lk 21,28), nennt Christus ihn doch selber unsere Erlösung, ‚das ist, keinen Tod, sondern ewig Leben, keinen Zorn, sondern eitel Gnade, keine Helle, sondern das 26 Himmelreich, kein Erschrecken noch Fahr, sondern eitel Trost und Freude‘.“
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Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Band 2: Der Glaube, hg. von Gottfried Seebaß, Göttingen 1991. A.a.O., 169f.; das Zitat aus Luthers Predigt über Lk 21,25–29 vom 10.12.1531 (WA 34 II, 478,27).
The Significance of the Theopaschite Formula for Lutheran Christology Another look at Divine Impassibility 1 Jeffrey Silcock The question of divine suffering, whether God is passible or impassible, has had a long history in the church, going back as far as the first century, and is just as important today as when it was first discussed. The suffering of God in Christ wonderfully illustrates the truth of the axiom that all theology is ultimately Christology,2 for Christ is the center and in him all things hold together (Col 1:17). This axiom rests on another great scriptural truth, that in Christ the whole fullness of the deity dwells bodily (Col 2:9). Following a brief introduction, the paper will fall into two main parts. The first part will focus on the question of divine suffering in the patristic era, with special attention being given to the debates sparked by the theopaschite formula in the post-Chalcedonian period. The second part will consider specifically Luther’s contribution to the topic of the suffering of God, while the final part will look at the 3 significance of the theopaschite formula for theology today. 1.
The problem of divine apathy
From his Nazi prison cell in the 1944, Dietrich Bonhoeffer wrote to his friend Eberhard Bethge that “only the suffering God can help”.4 Just after the war, the Japanese Lutheran theologian Kazoh Kitamori published his ground-breaking book Theology of the pain of God,5 based around Jeremiah 31:20, where he developed a similar theology of the cross: the pain of God heals our pain. In the suffering of Christ, God himself suffers. In 1973 Jürgen Moltmann came out with his classic, The crucified 1 2 3 4 5
In this Festschrift to my colleague and friend, Werner Klän, I am pleased to be able to write on an aspect Christology that is dear to his heart and at the same time central to the Lutheran confession. David Scaer, “All Theology Is Christology: An Axiom in Search of Acceptance,” Concordia Theological Quarterly 80, no. 1 (2016): 49–62. This is a reworking and expansion of an earlier article, “The Truth of Divine Impassibility: A New Look at an Old Argument,” Lutheran Theological Journal 45, no. 3 (December 2011): 198–207. Dietrich Bonhoeffer, Letters and Papers from Prison, The Enlarged Edition (London: SCM Press, 2010), 360–361. Kazoh Kitamori, Theology of the Pain of God, trans. Shinkyo Suppanskha (Richmond, Virginia: John Knox Press, 1965).
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God, where he takes this further and develops a critical theology of the cross. He holds that a ‘theology after Auschwitz’ must revise completely the traditional doctrine of God that teaches divine impassibility. Moltmann at the outset reflects on his own experience: “Shattered and broken, the survivors of my generation were then returning from camps and hospitals to the lecture room. A theology which did not speak of God in the sight of the one who was abandoned and crucified would have had nothing to say to us then”.6 The old teaching of classical theism that God is beyond suffering died in the death camps of WWII and was no longer tenable. Moltmann wrote his book, which had an enormous impact in its day, with the conviction that only if God is not detached from human suffering, but willingly enters into it with compassion, is there any hope for the future. These are just three of dozens of theologians who over the last 70 years have argued that God not only suffered pain at the death of his own Son but continues to suffer in solidarity with his people today. However, the ecumenical consensus of the early church was that God is impassible. Theologians such as Cyril of Alexandria and Pope Leo I could claim that the Christian God became man and suffered in Christ, yet at the same time hold that it was the ‘impassible God’ that suffered in 7 Christ. The patristic theologians simply believed that the doctrine of divine impassibility was consistent with the teaching of Scripture itself.8 Furthermore, the early church Fathers taught that God is not only impassible but also immutable. These are both Platonic axioms and are closely interrelated. Since suffering entails passivity and so the capacity to undergo change, immutability by its very nature implies impassibility. Although there are variations to this teaching among the early Fathers, it is almost beyond dispute that the twin doctrines of divine immutability and impassibility (also known as divine apathy or apatheia) belong to the standard teaching of the ancient church. What is in dispute, however, is the origin of this teaching. Is it grounded in the Christian scriptures or does it come from classical pagan philosophy? This is one of the key questions that lies at the heart of the rejection of the traditional teaching of divine impassibility by many theologians of Moltmann’s generation as well as its reaffirmation by a younger generation of theologians today. For many passibilists, the dominance of the axiom of divine apathy in the early centuries of the church can only be explained by the fact that most of the Fathers were captivated by the spirit of Greek metaphysics which in turn distorted their
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Jürgen Moltmann, The Crucified God: The Cross of Christ as the Foundation and Criticism of Christian Theology (London: SCM, 1974), 1. James F. Keating and Thomas Joseph White, eds., “Introduction: Divine Impassibility in Contemporary Theology,” in Divine Impassibility and the Mystery of Human Suffering (Grand Rapids, Michigan: Eerdmans, 2009), 6. Paul Gavrilyuk, The Suffering of the Impassible God: The Dialectics of Patristic Thought (New York: Oxford, 2004), 150.
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understanding of Scripture.9 Paul Gavrilyuk, on the other hand, rejects this argument and holds that there was no consensus around divine impassibility among non-Christian Hellenistic philosophers of religion. He mounts an impressive case against the modern theory of theology’s fall into Hellenistic philosophy and shows that it has been a monumental mistake to suggest that the patristic dilemma amounted to a choice between “the unemotional and uninvolved God of the Hellenes and the emotional and suffering God of the Hebrews”. He argues that this is a false antithesis that fails to take account of the different ways in which divine emotions and divine involvement are portrayed in the Hellenistic world as well as “the anthropomorphic representations of God that appear in the Greek and even in the 10 Hebrew biblical text, as well as its early non-Christian interpreters”. The purpose of this paper is to explore the topic before us more deeply to determine the truth of divine passibility as well as that of divine impassibility and to show how the theopaschite formula, properly understood, addresses the main concerns of both as well as remaining faithful to Scripture and the Confessions. 2.
The ancient church debate
As we have already seen, the question of whether God suffered is not new to theology but was debated for centuries in the ancient church. Apart from patripassianism, the place where the question of divine suffering emerged most decisively is in the theopaschite controversy of the sixth century, which was settled finally at the Second Council of Constantinople (552). After a short outline of the lead-up to this controversy, I will briefly sketch some of the main aspects of the dispute. This will provide the necessary background for our discussion of Luther’s treatment of the topic. What eventually came to be known as the theopaschite formula — a formula which at first was regarded as heretical — states that “One of the Trinity suffered in the flesh” (unus ex Trinitate passus est). However, there are several variations of this formula already in the church of the second century, such as “the crucified God” and “God’s Logos become flesh on the cross”. Some of these are also men11 tioned in the Formula of Concord, for example, “God’s blood and God’s death”. But, as Elert observes, at this early stage the formula is still undeveloped, Christologically.12 The early Fathers are certainly not hesitant in ascribing the predicate of suffering to God. Tertullian13 can say that it is the mark of the Christian faith to be 9 10 11
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This is Werner Elert’s argument. See his seminal essay “Die Theopaschitische Formel”, Theologische Literaturzeitung 4, no. 5 (1950): 195–206. Gavrilyuk, The Suffering of the Impassible God (footnote 8), 46. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 1524.5–6 = WA 50.590.19 (On the Councils and the Church, 1539). Elert, „Die Theopaschitische Formel (footnote 9),“ 196. Ibid.
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able to say that God died (etiam mortuum deum credere), but then he can also deny it elsewhere.14 The main battle that Tertullian must fight is Patripassianism. He needs to show that to say that God suffered in the suffering of his Son does not mean that the Father suffered.15 And yet there was no agreement that it was orthodox even to say that God suffered. Elert shows that many who opposed the notion of the passibility of God were influenced by a picture of God that derived more from Greek philosophy than the Christian Bible. Where theologians could affirm the suffering of God, their picture of God was determined by the picture of Christ in the synoptic gospels, and so pre-eminently by the picture of the Christus passus.16 However, in Elert’s view, where God was denied the predicate of suffering, the picture of God underlying such denial derived more from the Platonic notion of divine apathy, which rapidly became determinative for the orthodox church’s conception of God.17 The only opposition to it came from those who could still hold to the theopaschite formula, that God indeed suffered. Once the doctrine of divine impassibility (at least in the Platonic sense) is allowed a foot in the door, Docetism almost inevitably follows. Conversely, where Docetism prevails, the belief in divine impassibility is almost bound to follow. This becomes clear from the arguments of Arius and his followers against Athanasius As is well known, the Nicene Creed (325) upholds the position of Athanasius and condemns that of Arius. However, although they hold opposite views in relation to the divinity of the Son, both hold to the impassibility of the Father. Athanasius holds to it because, for him, to say that the Father suffers would amount to Patripassianism. Arius, for his part, also asserts the impassibility of the Father as his starting point, but ends up denying the divinity of Christ, the Word (John 1:1). How is it possible that these two theologians, who share the same major premise, so to speak, can arrive at totally opposite conclusions? David R. Maxwell has set of the logic of the Arian position with the following hypothetical syllogism: God cannot suffer. The Word suffers. 18 Therefore, the Word is not God.
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Ibid. Patripassianism, a form of modalism, is the belief that the Father suffered with and in the Son on the cross. The distinguishing mark of patripassianism is not so much that it denied the impassibility of God but that it refused to maintain a distinction between the Father and the Son. See Elert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie: Eine Untersuchung über Theodor von Pharan und seine Zeit als Einführung in die alte Dogmengeschichte (Berlin: Lutherisches Verlagshaus, 1957), 12–25. His special contribution to the discussion is that he shows from a careful study of the sources that the development of Christological dogma must always be legitimated by the Christusbild as portrayed in the synoptic gospels. Elert, “Die Theopaschitische Formel” (footnote 9), 196. David R. Maxwell, “’Heresy, Dr. Nagel. Heresy!’ The Cry of Dereliction and Divine Impassibility,” in Dona Gratis Donata: Essays in Honor of Norman Nagel on the Occasion of His Ninetieth
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He rightly observes that Nicaea supports the position of Athanasius but leaves unresolved one key question: how can Christ, who is homoousios with the Father, be the same person as the one who suffered under Pontius Pilate?19 He notes that the Nicene Creed accepts the major and minor premise of the above syllogism but denies the conclusion because it confesses that the Son is homoousios with the Father. Nestorius, on the other hand — like Athanasius, also a strong opponent of the Arians — cannot affirm the homoousios of Nicaea, even though he heretically asserts that the Word did not suffer but only Christ’s human nature suffered.20 The flaw in the logic, of course, lies in the undistributed middle in that the term ‘Word’ is used equivocally. It fails to take cognizance of the fact that the Word is the God-Man and, as such, is both human and divine. Space does not permit us to describe the implications that the ongoing Christological debates, between Nicea and Chalcedon, had for the topic of divine suffering. However, while Chalcedon may have settled the dispute between Nestorius and Eutyches, it was not without its own problems because it could be read in a Nestorian way. While Chalcedon was careful to distinguish between the two natures, it did not pay sufficient attention to the unity of the two natures in the one person, which was the major concern of Cyril of Alexandria (c 376–444). The council agreed that in Jesus Christ the two natures are united in one person (hypothesis). But debate continued over whether there are two active subjects corresponding to the two natures of the God-man. Leo’s Tome, which was endorsed by Chalcedon, allows each nature to act with relative independence. It says, “Each form [= nature] does that which is proper to it [does its own thing] in cooperation with the other”. Although each of the two natures carries out its proprium always in communion with the other, it still means that in effect there are two active subjects. “The one shines out in miracles, the other succumbs to injuries”. According to this Nestorian slogan, where the ‘person’ is identified with the ‘nature’, the Word is safeguarded from all 21 suffering because suffering belongs exclusively to the human nature of Jesus. In the sixth century, a group of Scythian monks attempted to restore the orthodox interpretation of Chalcedon as well as remain faithful to Cyrillian Christology. They did this by offering a corrective to this Nestorianizing interpretation of Leo’s Tome. This correction later became known as the theopaschite formula: “One of the Trinity was crucified in the flesh.” This was the formula proposed by the monks to prevent Chalcedon from being understood in a Nestorian way.22 After a lengthy
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Birthday, ed. Jon D. Vieker, Bart Day and Albert B. Collver III (Manchester: The Nagel Festschrift Committee, 2015), 23. Ibid. Maxwell, “Heresy” (footnote 18), 23, cites in support Nestorius, “First Sermon Against the Theotokos,” in The Christological Controversy, trans. Richard Norris (Philadelphia: Fortress, 1980), 125. Elert, “Die Theopaschitische Formel” (footnote 9), 200. The Nestorians rejected the teaching that God suffered in Christ and this in turn became one of the strongest objections they voiced against the orthodox belief in the perfect union of God and Man in
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struggle, it was finally adopted by the Second Council of Chalcedon (553).23 The council insisted that to safeguard the orthodoxy of Chalcedon, it must be read through the lens of Cyril of Alexander’s unitative Christology. St Cyril of Alexandria, whose Christology was authoritative for early Lutheranism, was a great defender of the orthodox interpretation of Chalcedon. For Cyril, the Christological union was hypostatic, not simply affective (as taught by Nestorius), because the personal subject of the incarnation was none other than the divine Word. He insisted that the enfleshed Logos (mia physis sesarkomene) is a single concrete reality 24 (physis). There is no doubt that the theopaschite formula teaches that God suffers and dies, but does God only suffer in the flesh of Christ or does he suffer in himself? That is the diacritical question the answer to which will reveal if the full implication of the theopaschite formula has been understood. For Cyril, the cry of dereliction is not Christ speaking in his own name but in the name of the whole human race (hyper hapases tes physeos). He cries out to the Father not for himself but for us. In Elert’s judgment, Cyril’s inability to confess that God himself suffers is a defect in his Christology that he shares with the whole ancient church. It evidences the fact 25 that the Platonic axiom of divine apatheia has not yet been entirely overcome. However, could the statement that Christ cries to the Father not for himself but for us be understood in a different way? Must the suffering in God himself and the suffering of God in the flesh necessarily be antithetical or could there be another way of understanding this? In my opinion, just because Cyril says that Christ suffered “on behalf of our nature” does not mean that his suffering was any the less real or that he himself was not abandoned by the Father. He crucial point is that Christ’s suffering and cry of dereliction was not only on our account but also — and 26 this is crucial — on his own account. Although he was without sin, God the Father made him to be sin, that is, a sinner, for our sake. So, Christ suffered totally forsakenness by the Father, but because of our sin.
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the one hypostasis of Jesus Christ. Nestorius denied such perfect union, in part because he could not see any way in which an impassible God could suffer on the cross. For details, see David R. Maxwell, Christology and Grace in the Sixth Century Latin West: The Theopaschite Controversy (PhD diss., University of Notre Dame, 2003), 76–93. John McGuckin, Saint Cyril of Alexandria and the Christological Controversy (Crestwood, New York: St Vladimir’s Seminary Press, 2004), 209, points out that Cyril used physis here in the antique sense of concrete reality, suggesting ‘individual subject’, not in the Aristotelian sense (promoted by the Antiochenes) of ‘physically constituted nature’ or ‘defining natural qualities’. Elert, “Die Theopaschitische Formel“ (footnote 9), 201–202; Elert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie (footnote 16), 95. Here I agree entirely with the argument of David Maxwell, “Heresy” (footnote 18), 29. Elert, “Die Theopaschitische Formel” (footnote 9), 203, makes it clear that this is also Luther’s position (WA 17 I.70.28). Regarding the cry of dereliction, Luther says: ‘As the words come forth, so they cut into the heart’ (68.23). ‘Where else was he a man as in the totality of his suffering’ (68.31). […] ‘All that Christ did and suffered, God did and suffered’. That, Elert avers, is the theopaschite formula.
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As we have seen, the theopaschite formula, “one of the Trinity suffered in the flesh”, played an important role in the neo-Chalcedonian controversy as it became “the via media”27 between Nestorius and Eutyches since, as Bayer points out, “it allowed one to speak of the suffering of God in Christ without attributing the suffering to the divine ‘nature’, as is the case with Apollinaris”.28 This is a way then of distinguishing between an heretical (Apollinarian) and a Chalcedonian (orthodox) theopaschism.29 However, even though the theopaschite formula was eventually accepted by the Council of Constantinople, it was and will always be a “persistent stumbling block” for those who hold to the patristic axiom of the apathetic, impassible God.30 Elert astutely observes that “the contrast between the proposition of divine apatheia and the theopaschite formula is at first only latent but then as it emerges more and more it becomes the motor of the entire Christological dialectic in the ancient church”.31 3.
Luther’s contribution to the debate
Luther makes a significant contribution to the debate over divine suffering and he does this by developing two Christological motifs of the ancient church: the theopaschite formula and the communication of attributes.32 Luther works creatively with both these concepts in his treatment of the topic of divine apathy. In the process, he revises Chalcedonian metaphysics as he faithfully explicates the Christological dogma of Chalcedon. The concept of the communication of attributes was not invented by Luther but had already been used by Cyril in his dispute with Nestorius,33 but Luther develops it further as he comes up with a new theological language (nova lingua), with its own new grammar (nova grammatica),34 which is distinct from the general language of philosophy and is grounded in the biblical narrative and particularly the story of 27 28
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Aloys Grillmeier, Christ in Christian Tradition, trans. John Bowden et al., 2 vols., (Louisville: Westminster John Knox, 1975–1996), II/2, 336. Oswald Bayer, “Das Wort ward Fleisch: Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation” in Creator est creatura: Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, ed. Oswald Bayer and Benjamin Gleede (Berlin: de Gruyter, 2007), 12–13. Bayer cites Aloys Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, vol. 2/2 (Freiburg im Breisgau: Herder Verlag, 1989), 336 and 531. Bayer, however, notes that Grillmeier has no appreciation for the significant role played by the doctrine of the communicatio idiomatum in the postChalcedonian controversy. Bayer, “Das Wort ward Fleisch” (footnote 28), 13. Ibid., 10. Maxwell, “Heresy” (footnote 18),” 23. Bayer, “Das Wort ward Fleisch” (footnote 28), 10; Dennis Ngien, The Suffering of God According to Martin Luther's “theologia crucis” (New York: Peter Lang, 1995), 68–86, also covers the topic of the communicatio idiomatum in its application to theological language. McGuckin, Saint Cyril of Alexandria (footnote 24), 153–55; 190–93. WA 39 II. 104.24 (Argument 7) (Disputation on the Divinity and Humanity of Christ, 1540): ‘The Holy Spirit has his own grammar’.
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Jesus Christ. The same word may appear in the Bible as in philosophy (eg God or human being). The difference is not in the letter but in the spirit, in the way the word is used. The best place to illustrate this is with Luther’s 1539 “Disputation concerning the passage: ‘The Word was made flesh’”.35 Luther debates the thesis that God is man (Deus est homo).36 He says that the statement “God is man” is a simple truth and not twofold as the Sorbonne had claimed. Luther contrasts the proposition “God is man” with the proposition “every man is a creature”: the first is true simpliciter in theology but false in philosophy; the latter is true simpliciter in philosophy but false in theology. The problem is that the word “homo” (man) is ambiguous, but Luther refuses to equivocate to accommodate philosophy. The term “man” when it refers to a creaturely human being is one thing; however, when it refers to the man Jesus Christ it is another. When language is informed by Scripture it will not import into theology subject matter that is foreign to the biblical story, but it will be transformed by the biblical witness into the nova vocabula of theology under the 37 impulse of the Spirit. The form of a syllogism may be the same in philosophy and theology, but the conclusions do not have equal standing. The subject matter of theology and philosophy is different, but not contradictory. So, for example, the terms “God” and “man” are different but not contradictory since they are united in the one person of the God-man, Jesus Christ. Luther clarifies his position with a second crucial thesis: “outside of Christ there is no God” (extra Christum non est Deus alius).38 He argues here that it impossible to speak of God in general terms, as the philosophers do. When theology speaks of God, it is not the God of the philosophers but the God who became man in Jesus Christ. Luther says that there simply is no other God. God can never be separated from the man Jesus. There is no such thing as the general concept God — or if there is, it is an idol, or a pure abstraction. The only God is the God who lives, suffers, and dies in the flesh. Luther objects to speaking theologically about humanity or divinity as abstract categories. The problem with metaphysics is that it seeks to detach objects from their concrete particularity and to speak of them in an abstract way. In Christology, this leads to privileging the two natures over the concrete person (as in Nestorianism), and the need to qualify Christ’s death as “death according to the human nature”. Nagel’s comments here are apt:
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WA 39 II.1–33. WA 39 II.16.8–17.7 (Argument 9). WA 39 II.29.31–33 (Argument 29). In WA 39 I.231.1–3 (version B) (Argument 15 of Die Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann, 1537), Luther states: ‘All words become new when transferred from philosophy to theology’. For more on this topic, see Oswald Bayer, Theology the Lutheran Way, ed. and trans. Jeffrey G. Silcock and Mark C. Mattes (Grand Rapids: Eerdmans, 2007), 77–78. WA 39 II.25.17–18.
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The traditional phrases “according to his human nature” and “according to his divine nature” Luther uses so that the distinction of the natures is not lost; but his usage of them has come free of the dualism which sees divine and human, heavenly and earthly, infinite and finite, impassible and passible, as opposites unreconcilable. They are if you look at God separately, and if you look at man separately, but in Christ this separation is gone. In Christ, they have a new meaning; the old meaning applies only to them when separated. In speaking of him we may not speak of the divinity separated from the humanity, or of the humanity separated from the divinity. “By such separation our Savior and salvation are undone. Extra Christum 39 non est Deus alius.” In his 1540 Disputation against Schwenckfeld Luther continues to work at developing greater precision and accuracy in this new language of theology. The matter that has most relevance for our study here is the distinction he makes between concrete and abstract language. So for instance, the statement “God is man” is true, but the statement “humanity is divinity” is false and nonsensical. The latter is an abstract statement that has no theological cogency, whereas the former is true because God is man, not in the abstract, but only in the concrete particularity of the incarnation. Again, the statement that “God is immortal and therefore cannot become mortal” is an abstract statement that is true in philosophy but not in theology. In theology, the impassible God suffers and dies in the incarnate Logos. Another aspect of this disputation that is relevant for our purposes is Luther’s rejection of qualifiers such as “according to the human nature”. He maintains that theological precision can only be achieved if we follow the logic of the communicatio idiomatum to its end. Quite specifically, that means we must reject the use of qualifiers to avoid the statement that God has suffered and died in Christ. Luther leaves no doubt: after the incarnation, God is indeed passible and mortal, and not merely “according to the human nature”, as if the divinity could somehow insulate itself from the experiences common to all human beings. This insight into the new language of theology is one of Luther’s most important contributions to Christology. Nowhere does it come out more clearly and powerfully than in his 1540 “Dispu40 tation on the divinity and humanity of Christ” where he says that this new way of speaking via the communication of attributes reflects the language and grammar of
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Norman E. Nagel, “Martinus: ‘Heresy, Doctor Luther, Heresy!’ The Person and Work of Christ,” in Seven-Headed Luther. Essays in Commemoration of a Quincentenary 1483–1983, ed. Peter Newman Brooks (New York: Oxford University Press, 1983), 47. WA 39 II. 92–121. For an exhaustive treatment of this disputation, see Paul Hinlicky, “Luther’s Anti-Docetism in the Disputatio de divinitate et humanitate Christi,” in Creator est creatura (footnote 28), 139–181. The text of the disputation is not yet available in the American Edition of Luther’s Works, but Hinlicky has included a translation of it as an appendix to his work (182–85).
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the Spirit.41 It is only by means of this language that theology can confess what philosophy can only reject: that “creator and creature is [est] one and the same.”42 Bayer argues that this “is” that connects the “true God” with the “true man” in the confession that “God is man” in Christ is no ordinary copula, understood as a declaration as in the Aristotelian logic of the sentence, but “it is an effective, indeed, a synthetic copula”43 because it is grounded in the promise (promissio), and that means it belongs to the very heart of the gospel. This great mystery comes out in some of the classical Lutheran hymns. Think of the passion hymn by Johann Rist (1607–1667), where in the German original he writes: “God himself lies dead”.44 This application of the communication of attributes in the hymnody and devotional life of the church is testament to the fact that Luther’s interest here is soteriological; his Christology serves the proclamation of the mighty acts of God for the salvation of all people. This is clear from his famous words cited by the authors of Article 8 of the Formula of Concord (1577): Unless God is in the scale to give it weight, we, on our side, will sink to the ground. I mean it this way: if it cannot be said that God died for us, but only a man died, we are lost. But if God’s death and a dead God lie in the balance, his side goes down and ours goes up like a light and empty scale. Yet he can also easily go up again, or leap off the scale! But he could not have sat on the scale unless he had become a human being like us, so that it could be called God’s dying, God’s passion, God’s blood, and God’s death. For God in his own nature cannot die; but since God and man are united in one person, it is correct to talk about God’s death when that man dies who is one substance or one person with God.45
If it were not for the doctrine of the communication of attributes, Christ would be nothing more than a man who died an exemplary death. This is the Nestorian and Zwinglian position that Luther rejects out of hand. But as it is, because of the unity
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WA 39 II.104.24 (Argument 7). The particular merit of Hinlicky’s work is that he thoroughly refutes the specious claim that Luther’s Christology is tainted by monophysitism and is consequentially docetic. WA 39 II. 105.6–7 (Argument 7). Bayer, “Das Wort ward Fleisch” (footnote 28) 24. Paul Althaus, The Theology of Martin Luther, trans. Robert C. Schultz (Philadelphia: Fortress Press, 1966), 198, succumbs to the spirit of German Idealism in his rejection of Luther’s ‘is’ and hence of the hypostatic union as confessed by Chalcedon. He accepts his basic Christological confession that the Father’s heart and will are present in Christ but says that ‘his dogmatic theory which describes Christ as true God and true man is not unified within itself but displays contradictions. Theology has to go beyond it.’ And theology did: in the Enlightenment it rejected Chalcedonian Christology, with drastic consequences. Noted by Bayer, “Das Wort ward Fleisch” (footnote 28), 25. The Lutheran Hymnal and Supplement (Adelaide: Openbook Publishers, 1989), like the German Evangelisches Gesangbuch (EG 80:2), has watered this down and replaced it with the less objectionable: ‘God’s Son is dead’ (LHS 63:2), but in doing so it has weakened the gospel and destroyed the truth of the biblical and Lutheran confession that in Christ God dies. BSELK 1522.35–1524.7= WA 50.590.25–35 (On the Councils and the Church, 1539), transl. JS.
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of the two natures in Christ, his divine nature suffers along with his human nature via the communicatio idiomatum. In fact, we could go a step further and say that his Christology undergirds his sacramental theology. The same realistic, ontological understand of the “is” (est) is at stake in Luther’s debates with the Sacramentarians and the Swiss when he insisted that the “est” means “is” and not “signifies”. The “est” of the words of institution is of a piece with the ‘est’ of the church’s Christological confession: the creator is a creature (creator est creatura), God is man (Deus est homo), God is passible (Deus 46 est passibilis). In the same spirit, Luther in his Christmas hymn identifies the child in Mary’s lap with the creator of the universe.47 The Christ child is the creator. It is precisely this “is” that represents Luther’s advance beyond the metaphysics of Chalcedon.48 4.
The Significance of the Theopaschite Formula for Theology Today
It is generally agreed that the testimony of the biblical narrative stands at odds with the spirit of Greek philosophy. In Greek thinking, immortality, the absence of emotion and its accompanying impassibility (apathy), all belong to being itself. This is clear from Aristotle.49 However, where the biblical texts are taken seriously, there will be a grave conflict with Greek metaphysics and ontology. The event described in Hosea 11:7–1150 is ontologically unthinkable. “Ancient metaphysics rejects it as 46
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Interestingly, Bayer’s critique of the ‘death of God’ movement that was prominent in the 1970s is that, however existentially motivated it may have been in responding to questions of the day, it misses the mark because it speaks of God in the abstract, which must inevitably happen when theology is driven by philosophy. He holds that the only place where we can talk properly of the death of God is in the Lord’s supper. See Bayer, „Tod Gottes und Herrenmahl,“ in Leibliches Wort: Reformation und Neuzeit im Konflikt (Tübingen: Mohr Siebeck, 1992), 289–305. Lutheran Hymnal and Supplement, No. 20:3: ‘[…] to be an infant small he deigns/ Who all things by His power sustains’. The communication of omnipotence by the divine nature to the human nature does not need to imply that Luther’s Christology is tilted one-sidedly in the direction of the divine majesty (which Chemnitz later called the genus maiestaticum). Bayer notes that Luther favors a Christology of earthly-historical contingency and divine lowliness. God’s omnipotence does not contradict his incarnation, but proves itself in this very act (“Das Wort ward Fleisch” [footnote 28], 33). Space does not permit a discussion of the evidence in Luther’s Christology for the genus tapeinoticon. On this, see Neal Anthony, Cross Narratives. Martin Luther’s Christology and the Location of Redemption (Eugene, Oregon: Pickwick Publications, 2010). Nagel, “Martinus” (footnote 39), 46, nails it when he says, ‘The gulf between Creator and creature is joined in Christ, and this can never be denied […] Luther pushes further than the prepositions, Cyril’s ek [one hypostasis of two natures] and Chalcedon’s en [one hypostasis in two natures], to an est’ [one hypostasis is two natures]. Metaphysics XII, 9,1073a, cited by Oswald Bayer, Theology the Lutheran Way (footnote 37), 7; see also 31–32. These verses demonstrate that God is affected by things outside himself: ‘My heart is changed within me; I am full of remorse. I will not execute my fierce anger; I will not again destroy Ephraim; for I am God and no mortal’. Another key verse is Gen 6:6 where it says that ‘the Lord was sorry that he had made humankind on earth, and it grieved him to his heart’. And there are numerous
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mythology because it cannot abide the thought that there is a ‘coup’, a change in God himself”.51 So then, what is at stake in the argument between the passibilists and the impassibilists? Impressive evidence can be adduced by both sides of the debate. If I can reduce it to its bottom line, the passibilists argue that if God does not suffer with the world he created, he is and will be seen to be cold, detached, uncaring, and devoid of compassion. For pastoral reasons, God needs to be proclaimed as Deus passus, the one who has experienced death himself. But more than that, God cannot be abstracted from the particularity of Jesus of Nazareth. Jenson’s bottom line is that theology must be determined by the biblical narrative, and in particular the narrative of salvation. The transcendent God cannot be quarantined from the contingencies of time and history. The full implications of this could not be seen by the theologians of Nicaea and Constantinople. Hence, the doctrines of divine immutability and impassibility were left unchallenged. In Jenson’s opinion, it is time for Western theology to move on from its captivity to what is effectively a pre-Nicene 52 doctrine of God. However, in my estimate, this statement lacks nuance. The impassibilists, on the other hand, respond by saying that the biblical data already depicts God as caring and compassionate by nature. They rightly insist that it is time to debunk the myth that divine impassibility implies that God is uninvolved in the life of the world. The early Christian theologians, who were informed by scripture, never thought the biblical God was like the self-absorbed God of Aristotle.53 Hart reaffirms that God is infinite, trinitarian love and rejects the idea that God’s identity is determined by his involvement in history: “God does not become God through the economy of salvation, but God is God antecedently in ‘God’s infinitely accomplished life of love’ that is the immanent Trinity”.54 It is also said that to hold that suffering is part of God’s very being is not only to change fundamentally who God is, but it also means that God cannot be relied on to overcome suffering because God himself is a victim of suffering.55 The idea of perpetual divine
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passages in Jeremiah that show that God is ‘affected’ by the behavior of his people: he displays love and compassions, as well as sorrow, anger, wrath. Bayer, Theology the Lutheran Way [(footnote 37), 188. Robert Jenson, Systematic Theology, vol. 1. (New York: Oxford University Press, 1997), 114. In Aristotle’s rational theology, god is so totally self-absorbed that he is described as thought thinking thought. He thinks of nothing but himself. See Aristotle, Metaphysics XII, 9, 1074b, 33– 35; cited in Bayer, Theology the Lutheran Way [(footnote 37), 31. David Bentley Hart, The Beauty of the Infinite (Grand Rapids: Eerdmans, 2003), 167. Here Hart opposes the fundamental axiom of open theism, which is predicated on the doctrines of divine immutability and divine impassibility. Paul Gavrilyuk, “God’s Impassible Suffering in the Flesh: The Promise of Paradoxical Christology,” in Divine Impassibility and the Mystery of Human Suffering (Grand Rapids: Eerdmans, 2009), 145–146.
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suffering offers no hope to victims of suffering today and is a denial of God’s omnipotence.56 I think that to solve this problem, we need to clarify what impassibility entails when it is understood in the light of the biblical witness. We must correct the idea that the notion of impassibility as such is alien to the Christian tradition. It seems to me that we can speak of the impassibility of God if we properly distinguish the biblical understanding of it from the Greek philosophical view. The philosophical understanding of impassibility entails all those things that are contrary to the biblical view, which affirms that God is not remote or unfeeling or uninvolved in our suffering. The biblical view, on the other hand, stresses that suffering does not belong to the nature of God and that he is not caught up in human suffering but can stand apart from it, indeed transcend it so that he can overcome suffering for us. However, although suffering is not part of God’s nature, he still participates in suffering in a way that can only be explained by the doctrine of the communicatio idiomatum, as we saw earlier. This paradoxical Christology, which, as Gavrilyuk has shown, also represents the Christological consensus of the Fathers, is best expressed by saying that God suffers impassibly. To suggest that suffering belongs to God’s nature and that he is always suffering with his creation is simply not defensible, if for no other reason than that to predicate suffering directly to God in his divine nature renders superfluous the suffering of the assumed human nature and 57 means “that God suffers in complete separation from humanity”. The paradoxical understanding of divine suffering requires a new explanation of divine immutability since, as we have seen already, the two belong inseparably together in the tradition. However, although the revisionist account rejects the ancient church consensus in the name of scripture, Luther’s nuanced reception of the tradition requires a rethink of the revisionist position itself. First, we need to reconsider the meaning of immutability. God’s immutability is as paradoxical as his impassibility: God suffers with his Old Testament people and is affected by their behavior (Hosea 11:7–11), yet suffering is not eternally a part of God’s nature since in his omnipotence he can transcend it and overcome it. So too God can change, as he clearly did in the incarnation when he took on human flesh, but it is equally true, although in a different sense, that God does not change who he is, his essence, but remains faithful to his promises and so is totally reliable (Heb 13:8).
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For a carefully nuanced view of divine omnipotence, see Oswald Bayer, “God's Omnipotence,” Lutheran Quarterly 23 (2009): 85–102. Gavrilyuk, “God’s Impassible Suffering in the Flesh” (footnote 55), 147; see 144–149 where he examines the problems caused by those theologians who want to abandon the teaching of divine impassibility and make suffering a permanent feature of the inner life of God (as does Moltmann and his followers).
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Concluding observations
We began by noting the general move against the notion of divine impassibility in modern theology, although that trend has been tempered by the appearance of a growing number of books and articles that reject the idea of divine suffering and reaffirm the patristic teaching of divine apatheia. What has become apparent from our study of Luther is that much of the contemporary discussion is misdirected and misinformed because it uses terms like God and suffering in an abstract, philosophical way and does not employ the necessary linguistic rigour that Luther brought to the debate with his new language and new grammar of theology, which makes a careful distinction between the concrete and the abstract.58 Simply to argue that God suffers or cannot suffer, is passible or impassible, misses the point because it lacks precision. Luther reminds us that God per se is an abstraction; the only God we know is God in the flesh. God is not passible in the abstract, but only in the flesh of Christ. The patristic theologians as well as Martin Luther make an important distinction about the matter of divine apatheia. The consensus is that the axiom of divine impassibility holds only in relation to the divine nature in itself, but not when we speak of God for us. In other words, it is correct to say that God suffers — but only when we are speaking of God’s action in the economy of salvation. Luther normally guards against making the absolute statement that God suffers in himself. But when we are speaking of God in union with Christ, the incarnate Logos, we can say in59 deed that that God suffered and died. As we have seen, the way Luther arrives at this conclusion is via the axiom of the communication of attributes, the attributes peculiar to Christ’s divine and human natures, and the new language and grammar of theology. Some theologians take a different starting point and follow Moltmann in developing a theology of the cross from a trinitarian perspective. It is ironic, however, that Moltmann, in his book The Crucified God, does not actually speak of the death of God; the most he can say is that the crucifixion of Christ brings about “death in God”.60 The reason Moltmann cannot go the whole way with Luther is 58
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Ngien, The Suffering of God (footnote 32), 162. While I do not agree that Luther explicitly asserted that God is passible after the incarnation of the Son, I do agree with Ngien that Luther used the doctrine of communicatio idiomatum to support his understanding of God’s passibility. He did not teach the suffering of God in abstracto, i.e., when the divinity is considered 'in itself' but only in concreto, i.e., when the divinity is bound to the humanity in Jesus Christ. I agree with Thomas Weinandy, Does God suffer? (Notre Dame, Indiana: University of Notre Dame Press, 2000), 175: The way we understand the communicatio idiomatum ‘continues to be the test of Christological orthodoxy’. We cannot explore here the very interesting question of the evidence in Luther for the reciprocal transfer of the properties of the two natures within the one person. Some will understand the communication of attributes only in one direction, from the divine nature to the human nature. However, I believe that there is also evidence in Luther for the transfer of the properties of lowliness and weakness from the human nature to the divine nature (later called the genus tapeinoticon). This question is also bound up with how one understands kenotic Christology in Luther. Moltmann, The Crucified God (footnote 6), 207.
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because of the semi-Nestorianism in much of Reformed theology that does not permit it to employ the axiom of the communication of attributes. Luther regarded the suffering of God in the suffering of the man Jesus as an incomprehensible mystery that can only be expressed paradoxically. I can only agree with those theologians who hold to the paradox that God suffered impassibility in the flesh.61 This is consistent with the theopaschite formula while the doctrine of the communication of attributes explains how it is possible to affirm the suffering of God without making suffering a property of the divine nature itself. Therefore, the theopaschite formula affirms divine suffering without denying the main concern of the traditional doctrine of divine apathy (apatheia). The Fathers of the ancient church were largely committed to the teaching of divine impassibility. But this does not automatically mean that they held to a Platonic doctrine of God. They were motivated for the most part by a desire to distinguish clearly between creator and creature and to make sure that in their doctrine of God, God is not subject to, that is, does not suffer things, outside his control. That finally is what the doctrine of impassibility wants to safeguard. It does not imply that God has no feelings or that he is indifferent to the pain and suffering of humanity. Rather, it wants to uphold his omnipotence and ensure that he is not subject to any form of necessity so that he remains Lord over suffering and the one to whom people can turn in their suffering. The genius of the theopaschite formula is that it does not deny this, yet it affirms that God suffers in the flesh. Zusammenfassung In diesem Beitrag wird der sogenannte Theopaschismus, die Annahme eines (möglichen) Leidens Gottes, untersucht. Es geht dabei um die Frage, ob Gott leidensfähig – und somit veränderlich – ist oder nicht; eine Frage, die in der Theologie besonders nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann. Die theopaschitische Formel wurde von Chalcedon II (553) angenommen. Sie besagt, dass „einer aus der Trinität im Fleisch gelitten hat“. Sie ist als eine via media zu betrachten, die es erlaubt, vom Leiden Gottes in Christus zu sprechen, ohne dabei zu behaupten, dass Gott selbst gelitten hat. Einige Autoren sehen hier einen Einfluss der griechischen Vorstellungen eines unveränderlichen Gottes. Luther lieferte einen substantiellen Beitrag zur Debatte über die Passibilität Gottes durch die Aufnahme zweier theologischer Prinzipien aus der Alten Kirche:
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I agree with Gavrilyuk’s conclusion in his chapter, “God’s Impassible Suffering in the Flesh” (footnote 55), 127–149, even if we get there by different routes. Kevin Vanhoozer, Remythologizing Theology: Divine Action, Passion, and Authorship (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2010), 395–433, in his chapter on the impassible passion also discusses the communication of attributes but approaches it from a Reformed perspective, which is ultimately impossible. Unlike Luther, for him, this axiom ‘both complicates and advances the discussion about Christ’s suffering’ (422).
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der theopaschitischen Formel und der Idiomenkommunikation. Mit seiner Formel „extra Christum non est Deus alius“ weist Luther darauf hin, dass der einzige Gott derjenige ist, der lebt, leidet und stirbt im Fleisch. Man kann zwar auf Gott und Mensch getrennt blicken, aber in Christus ist diese Trennung überwunden. Das bedeutet, dass Gott, der nicht leiden kann, in dem inkarnierten Logos leidet und stirbt. Die Debatte heute muss zwischen der griechisch-philosophischen und der biblischen Sicht von der göttlichen Impassibilität unterscheiden. In Bezug auf das Leiden Gottes kann dieses nur anhand der Idiomenkommunikation, wie Luther es tut, verstanden werden. Am besten wird dieser Sachverhalt durch die paradoxe Aussage, dass Gott unveränderlich leidet, verdeutlicht. Die heutige Tendenz in der Theologie, Gottes Impassibilität hervorzuheben, mangelt an begrifflicher Präzision, denn Gott ist nicht veränderlich in abstrakter Weise, sondern nur im Fleisch Christi. Es ist genau das, was die theopaschitische Formel sagt: sie bewahrt die Allmacht Gottes und die Tatsache, dass er Herr über das Leiden ist, aber gleichzeitig bestätigt sie, dass Gott im Fleisch leidet.
„Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“ Das theologische Problem des generationenüberschreitenden Fortwirkens von Schuld 1 Hans-Jörg Voigt 1.
Unentrinnbare Zeitgenossenschaft bei Hannah Arendt und Max Frisch
Den Begriff der „unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ vermutete ich bis dahin bei Hannah Arendt, die sich besonders in ihrer Totalitarismusforschung mit Zeitgenossenschaft auseinandersetzt. Der Begriff der „Unentrinnbarkeit“ taucht bei Arendt jedoch nicht auf. Gleichwohl setzt Arendt sich in „Vita activa“ intensiv mit den Zusammenhängen auseinander. Sie schreibt: „Es gibt kein menschliches Leben, auch nicht das Leben des Einsiedlers in der Wüste, das nicht sofern es überhaupt etwas tut, in einer Welt lebt, die direkt oder indirekt von der Anwesenheit anderer Menschen zeugt. Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, dass Menschen zusammen leben, aber nur 2 das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft.“
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Dem mit dieser Festschrift Geehrten bin ich seit langem auf das Herzlichste verbunden. Diese Verbindung begann für mich in unserem Greifswalder Pfarrhaus, in dem der Geehrte während einiger pommerscher Studienaufenthalte willkommen war. Dabei lernte ich den Kirchenhistoriker Werner Klän kennen, der mich auf manchen verborgenen Zusammenhang und Ort pommerscher Kirchengeschichte aufmerksam machte, der er durch den Gegenstand seiner Habilitationschrift eng verbunden war (Werner Klän, Die evangelische Kirche Pommerns zwischen Republik und Diktatur. Geschichte und Gestaltung einer preußischen Kirchenprovinz 1914–1945, Köln/Weimar/Wien 1995). Unvergessen ist Brandshagen, der verborgene und stille jüdische Friedhof, versteckt und vergessen im Wald zwischen Greifswald und Stralsund, wo jüdische Grabmahle aus dem 17. Jahrhundert uns gemeinsam erinnerten an die reiche jüdische Geschichte auch dort. Zugleich wurden wir erinnert an den unzweifelhaften Tiefpunkt deutscher Geschichte in den Gaskammern des „Dritten Reiches“. In Brandshagen lernte ich von Werner Klän den Begriff der „unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ in einem doppelten Sinn: Zum einen, dass die Verantwortung eine bleibende ist auch für eine nachgeborene Generation und zum anderen, dass wir unentrinnbar in den gesellschaftlichen Diskurs unserer Tage verwoben sind, sei es in Einwilligung oder auch im Widerspruch zu den jeweiligen Themen der Zeit. Werner Klän hat das Thema der unentrinnbaren Zeitgenossenschaft kürzlich selbst wieder aufgegriffen und auf die Bearbeitung der Apartheidsgeschichte in Südafrika angewandt. Der Beitrag trägt den Titel „Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“ (vgl. Werner Klän, Gilberto da Silva (Hg.), Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 13, Göttingen 2013, 54–67). 5 Hannah Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben, München/Zürich 1987, 2.
„Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“
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Unter Verweis auf Aristoteles erinnert Hannah Arendt daran, dass in der griechischen Polis Denken und Handeln als Einheit verstanden wurden3. Wobei für Arendt das Denken aus dem Sprechen folgt und nicht umgekehrt. So besteht die Unentrinnbarkeit, auch wenn dieser Begriff wie gesagt bei Hannah Arendt nicht auftaucht, zu ganz wesentlichen Anteilen in der Zugehörigkeit zu einer Sprache und schließlich auch zu einer Gesellschaft und Kultur, deren Wohl und Wehe wir teilen. Die Sprache ist es, die für dich denkt, sagt der Romanist Viktor Klemperer.4 Arendt hatte dies in der Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus in Deutschland am eigenen Leibe erfahren und beschreibt dies später in einem Interview so: „Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle der Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen.“5
Auch und gerade das Bestreben, sich von einer gesellschaftlichen Mehrheit abzusetzen, sich als eine Opposition oder gar eine Minderheit zu verstehen, führt zu einer Fixierung auf Fehler und Unterlassungen des mehrheitlichen Gegenübers, die in ihrem Bestreben nach Freiheit nun gerade darin zutiefst unfrei ist6. Im Bemühen, der Zeitgenossenschaft zu entfliehen, wird deren Unentrinnbarkeit erkennbar. Meine Suche nach dem Begriff der „unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ wird fündig im Text eines Zeitgenossen Hannah Arendts, nämlich bei Max Frisch7. In dem Stück „Die chinesische Mauer“, setzt sich Frisch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges8 mit dem Phänomen des Totalitarismus auseinander. In seinem schriftlichen Schlussvotum zu einer Diskussion über „Die Chinesische Mauer“ vor der Studentenschaft in Zürich im Jahr 1946 mit Titel „Von der Aufgabe des Dichters“ sagt Frisch: 3 4
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A.a.O., 29: „Sprechen und Handeln galten als gleich ursprünglich und einander ebenbürtig, sie waren gleicher Art und gleichen Ranges.“ Viktor Klemperer, LTI, Leipzig 1985, 21: „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Interview mit Günter Gaus; A. Reif (Hg.), Gespräche mit Hannah Arendt, München 1976, 20. Siegfried Lenz, Elfenbeinturm und Barrikade, München, 1986, 15: „Eine Politik, die sich darin erschöpft, alle Anstöße zum Handeln aus den Aktionen oder Unterlassungen des Gegners zu empfangen, ist unfrei. Zu bloßem Reagieren verurteilt, wird es ihr nicht gelingen, einer vielgestaltigen Wirklichkeit mit einem eigenen Entwurf beizukommen.“ Luis Bollinger, Walter Obschlager, Julian Schütt (Hg.), Jetzt: Max Frisch, Frankfurt am Main, 2001. Die erste Fassung schrieb Max Frisch zwischen November 1945 und Mai 1946. A.a.O., 31.
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„So trifft das Unrecht auch uns, die es nicht eigentlich trifft. Das ist das eine, die unentrinnbare Zeitgenossenschaft, bezogen auf den Menschen und Bürger, wobei ich bei diesem Wort immer an den Weltbürger denke. Ein zweites, nicht ein ande9 res, aber ein Besonderes, […] das ist die Verantwortung […]“
Es sind die bis dahin nie dagewesenen historischen Erschütterungen zweier Totalitarismen auf deutschem Boden und eines millionenfachen Unrechts, das in Werner Kläns und meiner Generation und darüber hinaus die Frage nach Zeitgenossenschaft und bleibender Verantwortung wachhält. Deshalb wurde der Begriff der „Unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ auch von dem hier Geehrten mitgeprägt. 2.
Die Beschreibung eines theologischen Problems
Das theologische Problem, das im Nachdenken über Zeitgenossenschaft hier zu bearbeiten ist, liegt in der Frage nach der theologischen Möglichkeit von „Kollektivschuld“ oder davon zu unterscheiden nach einer theologisch verstandenen „Kollektivverantwortung“. Es war das ökumenische Gedenken des 500. Reformationsjubiläums im Jahr 2017, das die Frage nach historischer Schuld und Verantwortung ganz neu in den Mittelpunkt rückte. Die ökumenischen Texte, die hierzu veröffentlicht wurden, sprachen viel von Schuldbekenntnissen, ohne eine Unterscheidung zwischen historischer Schuld und „mea culpa“ herauszuarbeiten. So hieß es zum Beispiel im Gottesdienst zur Eröffnung der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 22. Januar 2017 in der Stadtkirche St. Marien im Kontext des Reformationsjubiläums in einem „Sündenbekenntnis“ wie folgt: „Die Kirche ist immer zur Umkehr zu ihrem Haupt Jesus Christus gerufen. Daher hat es im Lauf der Geschichte viele Erneuerungsbewegungen in der Kirche gegeben, die allerdings manchmal gegen ihre Absicht Spaltungen zur Folge hatten. […] Wir bekennen unsere Schuld und bitten um Vergebung und Heilung der Wunden, die durch unsere Spaltungen verursacht wurden. Wenn wir unsere Sünden bekennen, werden 10 wir erkennen, dass sie wie eine trennende Mauer zwischen uns stehen.“
Dann werden Lieblosigkeit, Hass und Verachtung, Verleumdung, gegenseitige Diskriminierung, Verfolgung, Intoleranz, Religionskriege, Trennung, Machtmissbrauch und Hochmut benannt. Diese nur historisch zu verstehenden Verfehlungen münden in die Bitte: „Gnädiger Gott, die Liebe Christi drängt uns, um Vergebung zu bitten. In Demut beten wir zu dir:
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A.a.O., 36. Aus dem Gottesdienstblatt zum Ökumenischen Gottesdienst zur Gebetswoche für die Einheit der Christen 2017, 22. Januar 2017, Stadtkirche St. Marien Lutherstadt Wittenberg, 4, Kirchenbüro der SELK, Aktenzeichen 14/09-01.
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Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
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11
Das theologische Problem, dass die Anwesenden unmöglich persönlich schuld sein können an Religionskriegen und, würde man sie persönlich befragen, sich auch nicht für intolerant und diskriminierend halten würden und demnach historische Schuld vor Gott bekennen, bleibt dabei unberücksichtigt. Michael Meyer-Blanck schreibt dazu: „Mit derartigen Dingen habe ich als durchschnittlicher Predigthörer und durchschnittliche Predigthörerin denn ja doch nichts zu tun, und eine Vermeidungsstra12 tegie (nach dem Muster von Lk 18,11) liegt nahe.“
Ein sehr viel größeres Maß an Differenzierung erreicht hier das gemeinsame Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) vom 16. September 2016.13 Es unterscheidet deutlich zwischen der persönlichen Verantwortung heute lebender Menschen und historischer Schuld, wenn es heißt: „Auch wenn jeder Mensch nur für das zur Rechenschaft gezogen werden kann, was er ganz persönlich zu verantworten hat, leben alle Menschen mit all ihrem Glück und all ihrer Hoffnung unter der Last eines Unheils, das sie nicht aus eigener Kraft aus der Welt schaffen können.“14 Es wird dann die Heilung der Erinnerung – Healing of Memories als Versuch beschrieben, „die Erinnerung von einem Mittel der Abgrenzung zu einem Mittel der Versöhnung werden zu lassen.“15 Dennoch bleibt die theologische Verhältnisbestimmung zwischen historischer Schuld, die in die Gegenwart fortwirkt und persönlicher Schuld heute lebender Menschen auch in diesem Papier unbearbeitet, was in der Zusammenfassung wie auch in den liturgischen Texten zur Versöhnungsfeier erkennbar wird: „In diesen liturgischen Feiern sprechen wir unsere Schuld vor Gott aus und bitten ihn um Vergebung, um frei zu werden für die Vergebung untereinander. So geben wir Zeugnis von Jesus Christus, der uns zur Umkehr ruft und uns Vergebung schenkt.“16 Ulrich Körtner weist deshalb auf „ernste theologische Mängel“ dieses Papiers hin. Er schreibt: „Schuld und Sünde im Sinne von culpa kann ein jeder nur höchstpersönlich bekennen. Niemand kann anstelle von Tätern für begangene Schuld um Vergebung bitten und niemand hat die Vollmacht, anstelle von Opfern Vergebung zu gewähren.“17 11 12 13
14 15 16 17
A.a.O., 6. Michael Meyer-Blanck, „Vergib uns unsere Schuld“. Schuld im agendarischen Gottesdienst und in der Beichte, PrTh 51 (2016), 201–208, hier: 204. Evangelische Kirche in Deutschland, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen, Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, Gemeinsame Texte Nr. 24. A.a.O., 13 A.a.O., 15 A.a.O., 62 Ökumenische Eintracht zum Reformationsjubiläum, Gastkommentar von Ulrich Körtner zum Dokument „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“ bei „evangelisch.de“,
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Die Vorgängerkirchen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche haben mit ihrem theologisch begründeten Verständnis von Schuld und Vergebung in den Jahren nach 1945 die Stuttgarter Erklärung18 abgelehnt, weil jeder Mensch allein vor Gott seine Schuld bekennen müsse19. Bedauerlicherweise führte diese theologisch begründete Ablehnung jedoch zu einer verspäteten und zögerlichen Aufarbeitung der Rolle selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in der Zeit des „Dritten Reiches“. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass dies nicht zwingend notwendig gewesen wäre. 3.
3.1
Die Schuld des Volkes und die Schuld des Einzelnen zwischen Altem und Neuem Testament Schuld im Alttestamentlichen Bundesvolk
Das Alttestamentliche Volk Gottes ist das von Gott erwählte Bundesvolk. Gott hat die entscheidende Initiative ergriffen und mit seinem Volk am Sinai den Bund geschlossen. Das Volk soll Gottes Geboten gehorchen und damit den Bund halten. So werden sie Gottes Eigentum vor allen Völkern sein.20 Dabei war es nicht die Größe und Eignung des Bundesvolkes, sondern die erwählende Liebe Gottes, die auf das Bundesvolk gefallen war.21 Damit ist aber zugleich möglich geworden, dass das Volk Gottes auch als Ganzes vom Bund abfallen kann und dass diese Schuld des Volkes über Generationen fortwirkt, wie dies schon im Dekalog ausgesagt ist.22 Die Erwählung des Bundesvolkes schütze also vor Schuldigwerden und Strafe nicht. So haben es die Propheten Israels immer wieder aufgezeigt.23 Als Bundesvolk kann Israel demnach schuldig werden und ist schuldig geworden. Der Begriff der „Kollektivschuld“ ist jedoch in Bezug auf Israel problematisch, da ein „Kollektiv“ nicht iden-
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20 21 22
23
https:// www.evangelisch.de/inhalte/138951/05-10-2016/gastkommentar-von-ulrich-koertner-zuhealing-memories-von-ekd-und-dbk (Stand: 11.07.2017). Gerhard Besier, Gerhard Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985, 62. Werner Elert schreibt über das Stuttgarter Schuldbekenntnis: „Mit Schuldbekenntnissen vor Menschen kann man schöne Erfolge erzielen. Aber es ist immer die Frage, ob, was den Menschen wohlgefällt, auch Gott wohlgefällt. Denn wenn ein Schuldbekenntnis nur zweckbestimmt und nicht subjektiv ehrlich ist, weil es vielleicht gar nicht subjektiv ehrlich sein kann, so wird die Schuld vor Gott ohne Zweifel nur noch vergrößert.“ Zitiert nach Christian Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, Göttingen 2010, 393. Ex 19,5. Num 7,7. Ex 20,5–6: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ So zum Beispiel Am 3,2: „Aus allen Geschlechtern auf Erden habe ich allein euch erkannt, darum will ich auch an euch heimsuchen all eure Sünde.“
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tisch mit dem Bund Gottes ist. Aber dass Menschen auch gemeinschaftlich schuldig werden können, entspricht diesem alttestamentlichen Verständnis. Aber auch das individuelle Schuldigwerden des Einzelnen hat Gewicht im Alten Testament, wie die Geschichten vom Sündenfall, vom Brudermord oder die Davidsgeschichte zeigen. Der Prophet Jeremia bricht die Schuldzusammenhänge des Bundesvolkes ausdrücklich auf, wenn er ankündigt: „Zu derselben Zeit wird man nicht mehr sagen: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf‘, sondern ein jeder wird um seiner eigenen Schuld willen sterben, und 24 wer saure Trauben gegessen hat, dem werden die Zähne stumpf.“ Hinzu kommt, dass die enge Verhältnisbestimmung zwischen Gott und seinem Volk schon im Alten Testament aufgebrochen wird durch die Tatsache, dass Jahwe nicht nur eine Lokalgottheit ist, sondern der Schöpfer und Herrscher des Universums. Gerade der Psalter zeigt diesen Zusammenhang auf, dass die Größe des Schöpfer-Gottes auch bedingt, dass er über die Völker herrscht und diese ihn preisen werden.25 Die Spannung zwischen individueller Schuld und gemeinsamer Schuld auch über Generationengrenzen hinweg wird besonders deutlich am Bußgebet Israels gerade nach der verbüßten Strafe der Babylonischen Gefangenschaft: „Und es sonderten sich die Nachkommen Israels ab von allen Fremden und traten hin und bekannten ihre Sünden und die Missetaten ihrer Väter.“26 Indem sie sich absondern, identifizieren sie sich als Bundesvolk und können so ihre eigenen und die Sünden ihrer Väter bekennen. 3.2
Das Evangelium von Jesus Christus ruft Einzelne zu Buße und Vergebung
Die Bußpredigt Jesu wendet sich zwar auch an das Volk Gottes zielt aber in ihrer Intensität auf das Herz des einzelnen Menschen. So, wie Jesus sich dem Gelähmten zuwendet und ihm seine Sünden vergibt, bevor er ihn heilt,27 so heilt er einzelne bestimmte Menschen und führt einen Zachäus zur Umkehr. Seine Jünger ruft er zur persönlichen Nachfolge. Der im Alten Testament angekündigte Neue Bund, den Gott mit seinem Volk schließt, liegt im Blut Christi begründet, das im Abendmahl ausgeteilt wird und Vergebung der Sünden bewirkt. Die Bundeszugehörigkeit wird nicht mehr mit der Beschneidung begründet, sondern mit der Taufe. Die Taufe selbst macht einzelne Menschen zu Jüngern und Jüngerinnen: „Machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie 28 […]“ Sie ist Wiedergeburt von Sünde und Tod, führt einzelne in das Volk Gottes 24 25 26 27 28
Jer 31,29–20. Ps 47,9: „Gott ist König über die Völker, Gott sitzt auf seinem heiligen Thron.“ oder Ps 117,1: „Lobet den HERRN, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker!“ Neh 9,2. Mt 9,1–8. Mt 28,19.
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hinein und ist von daher ihrem Wesen nach zutiefst individuell, wie dies auch dem Sündenverständnis des Augsburger Bekenntnis entspricht: „Weiter wirt gelert, das nach dem falh Ade alle menschen, so natürlich geporn werden, in sunden empfangen und geporn werden […]“29 Deshalb ist auch das Bekenntnis der Sünden und der in apostolischer Vollmacht zugesagte Vergebungszuspruch ein die einzelne Person betreffendes Geschehen,30 das den „erschrocken gewissen“31 gilt. Für ein solches im Neuen Testament begründetes individuelles Sünden- und Heilsverständnis ist sicher auch maßgebend, das der Völkerapostel Paulus in der Missionssituation einzelne Frauen und Männer durch die Predigt des Evangeliums aus den Völkern herausruft und diese dem neuen Gottesvolk eingefügt werden.32 Michael Beintker fasst zusammen: „Im Kontext von Sünde und Vergebung wird Schuld individuell erzeugt; es sind eigentlich immer Individuen, die schuldig werden, so sehr die Individuen durch die Schuld anderer ‚mitgerissen‘ werden und ihrerseits die anderen ‚mitreißen‘.“33 Selbst das Mitglied einer Räuberbande werde von einem Richter nach seiner persönlichen Schuld und seinem persönlichen Beteiligtsein befragt und beurteilt. Einem solchen individuellen Verständnis von Schuld und Vergebung ist demnach ein theologischer Vorrang einzuräumen, um die persönlichen Heilszusagen des Gnadenhandelns Gottes für den Einzelnen in keiner Weise einzuschränken. Es gibt keine schicksalhafte Schuldverfallenheit, für die die im Kreuzesopfer Christi begründete Vergebung den einzelnen Menschen nicht zugeeignet werden könnte. Es gibt eben keine „Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“, die durch das Evangelium nicht aufgebrochen, also im Glauben „entrinnbar“ würde – das ist der entscheidende Punkt. 4.
Das generationenübergreifende Fortwirken von Schuld und Verantwortung
Erst danach muss nun dennoch die Frage beantwortet werden, wie die Kirche das generationen-gruppenübergreifenden Fortwirken von Schuld in ihren Folgen theologisch beschreibt. Die Folgen schwerwiegender Schuld wirken über Generation hin und dies verbindet diejenigen Menschen, die Verantwortung für oder das Leiden an solchen Folgen ererbt haben. 29
30 31 32
33
CA 2, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 94. Joh 20,22–23. CA 25, BSELK, 148. In Röm 15,7–13 reflektiert Paulus diesen Gedanken: „Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen.“ Michael Beintker, „Nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt…“ Die Kirchen und die Schuld, PrTh 51 (2016), 221–226, hier: 223.
„Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“
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So kann Luther in einer Predigt die Kirche eine „magna peccatrix“ nennen. „Daher sind der Christ und die christliche Kirche die rechten Sünder, weil sie wahrhaft die Sünde erkennen.“34 Das Erkennen von Sünde kommt demnach nicht nur dem einzelnen Christenmenschen, sondern auch der Kirche als ganzer zu. Gerade die nicht unberechtigte Erwartung an die Kirche, dass sie ganz heilig sei, eben „sancta ecclesia“, macht sie im Falle des Scheiterns zu einer „magna peccatrix“. Hannah Arendt, die bekanntlich nicht nur bei Heidegger Philosophie, sondern auch evangelische Theologie studiert hat, arbeitet in ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus die notwendigen Unterscheidungen in Bezug auf ererbte und fortwirkende Schuld heraus. Sie sagt in einem Vortrag aus dem Jahr 1968: „es gibt so etwas wie Verantwortung für Dinge, die man nicht getan hat, man kann für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Aber es gibt kein Schuldigsein oder sich schul35 dig Fühlen für Dinge, die passierten ohne dass man selbst an Ihnen beteiligt war.“ Arendt sagt, dass der Ruf „Wir sind alle schuldig!“ nur beim ersten Hinhören nobel klinge. Bei genauerem Zusehen entlastet er die, die wirklich schuldig sind. Sie schreibt weiter: „Nur in einem metaphorischen Sinne können wir sagen, dass wir uns für die Sünden unserer Väter oder unseres Volkes oder der Menschheit schuldig fühlen, kurz, für Taten, die wir nicht begangen haben, obwohl der Lauf der Ereignisse uns sehr wohl für sie büßen lassen kann.“36 Freilich sagt sie dann, dass es klug sein könne, sich solcher metaphorischen Äußerungen zu enthalten, da sie zu falscher Sentimentalität führen könnten. Im Folgenden arbeitet sie dann sehr klar die Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung heraus. Die erprobten Schwimmer, die einen Menschen ertrinken lassen, stehen nicht in einer „Verantwortung“, sondern sie sind auf verschiedene Weise schuldig.37 In Bezug auf eine historische Verantwortung führt Arendt aus: „wir werden immer verantwortlich gehalten für die Sünden unserer Väter, wie wir auch den Lohn für ihre Verdienste ernten. Aber natürlich haben wir keine Schuld an ihren Untaten, weder moralisch oder rechtlich, noch können wir uns ihre Taten als unsere eigenen Verdienste anrechnen.“38 Ein Heraustreten aus solchen Verantwortungszusammenhängen sei aber nicht möglich, da es notwendig ein Hineintreten in andere Verantwortungszusammenhänge bedeute. Abschließend bringt es Hannah Arendt auf folgenden Punkt: „Die stellvertretende Verantwortung für Dinge, die wir nicht getan haben, das Aufuns-Nehmen der Konsequenzen von Dingen, an denen wir vollkommen unschuldig
34
35 36 37 38
WA 34/1, 276: „Non est tam magna peccatrix ut Christiana eclesia. Quomodo haec est Sancta et peccatrix? Credit remissionem peccatroum et dicit: ‚debita dimitte.‘ […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscunt peccata.“ Hannah Arendt, „Kollektive Verantwortung“ in Debatte, Politik und Moderne, Band IV, hg. HeinrichBöll-Stiftung, Bremen, 4. Der Vortrag aus dem Jahr 1968 blieb zu Lebzeiten Arendts unpubliziert. Ebd. A.a.O., 7. A.a.O., 8.
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sind, ist der Preis, den wir für die Tatsache zahlen, dass wir unser Leben nicht mit uns allein, sondern unter unseren Gefährten leben. Sie ist der Preis dafür, dass die Fähigkeit zum Handeln, die schließlich die politische Fähigkeit par excellence ist, nur in einer der vielen und mannigfaltigen Formen menschlicher Gemeinschaft 39 verwirklicht werden kann.“
Die Kirche ist eine solche Form „menschlicher Gemeinschaft“. Die Tatsache, dass wir als Individuen in ihre Gemeinschaft hineingetauft sind, in ihr die Gnadenmittel empfangen, macht uns zugleich mitverantwortlich für die Dinge, die die Kirche als „magna peccatrix“ getan hat, präziser ausgedrückt: die unsere Väter und Mütter vor unserer Zeit getan haben und die sich mit historischem Abstand und nötiger Demut gesehen als schuldhaft erwiesen haben. 5.
Konkretion – vom Umgang mit historischer Schuld und Verantwortung in den Gesprächsergebnissen zwischen UEK und SELK
Vor diesem Hintergrund sollten nun die Texte gelesen werden, die dem Verlangen der Kirche nach Schuldeinsicht und Schuldanerkenntnis versuchen gerecht zu werden. Solche Schuldeinsicht und die Bitte um Vergebung sind demnach in einem übertragenen Sinn zu verstehen, nämlich dass die heute Lebenden bewusst in ererbte Verantwortungszusammenhänge eintreten, sich solidarisch und mitfühlend 40 erklären mit dem Leid damaliger Opfer. Die Union Evangelischer Kirchen (UEK) und die Selbständige EvangelischLutherische Kirche (SELK) haben in den Jahren 2010 bis 2017 in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum und die 200. Wiederkehr der Kirchwerdung der Kirche der Union und altlutherischer Kirchen ab 1817 versucht, gemeinsam in solche Verantwortungszusammenhänge einzutreten. Werner Klän gehörte von Seiten der SELK der Dialoggruppe41 an. Peter Brunner hatte bereits 1952 mit Blick auf die Evangelische Kirche der altpreußischen Union geschrieben: „Der Vorspruch des Grundartikels spricht von der Buße im Blick auf die besondere Geschichte dieser Kirche. Es ist keine Frage, daß jeder Kirche aus ihrer besonderen Geschichte viel Grund zur Buße erwachsen wird. […] Was würde es bedeuten, wenn die Evangelische Kirche der altpreußischen Union bei ihrer Neuordnung im Blick auf ihre besondere Geschichte ein Wort zu der Kirche sprechen könnte, die sich von ihr abtrennen mußte, wenn man nicht sogar sagen muß: die von ihr abge39 40
41
A.a.O., 15. Hannah Arendt formuliert in diesem Zusammenhang so: „Wir nennen es Mitleid, was ein Mensch fühlt, wenn ein anderer leidet. Und dieses Gefühl ist nur authentisch, solange man sich darüber im klaren ist, dass schließlich nicht man selbst, sondern dass ein anderer es ist, der leidet. Es ist jedoch richtig, denke ich, dass ‚Solidarität eine notwendige Bedingung‘ für Mitgefühl ist.“ (A.a.O., 5). Von Seiten der UEK nahmen an den Gesprächen teil: Martin Heimbucher (bis 2013), Martin Evang (ab 2013), Jürgen Kampmann und Henning Theißen. Von Seiten der SELK nahmen teil: Werner Klän, Gilberto da Silva und Hans-Jörg Voigt.
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trennt wurde. Sollte es nach den Erfahrungen, die die altpreußische Kirche im Kirchenkampf selbst durchgemacht hat, so schwer sein, ein amtliches Wort für die altlutherische Kirche in Preußen zu finden, das über den damals aufgerissenen Gra42 ben hinüberdringt?“
Franz-Reinhold Hildebrandt, der damalige Leiter der Kirchenkanzlei der EKU tut fünfzehn Jahre später zur 150-Jahr-Feier der preußischen Union 1967 genau dies: „Ausdrücklich greift Hildebrandt auch den Grundartikel in der Ordnung der Evangelischen Kirche der Union auf, nach dem wir ‚in Buße und Dank auch über ihrer besonderen Geschichte die Gnade Gottes glauben dürfen‘. Und er weist im Namen der Union auf die historische und ‚bis heute nachwirkende‘ Schuld hin, welche der preußische Staat und die mit ihm summepiskopal eng verwobene Landeskirche durch die Anwendung von Gewalt gegen Lutheraner in Preußen auf sich geladen haben. ‚Wenn Schuld allein durch Vergebung bedeckt werden kann, so wollen wir diesen Tag nicht vorbeigehen lassen, ohne unsere altlutherischen Brüder um solche Vergebung zu bitten.‘“43
Die bilaterale Dialoggruppe hat diese Predigt Hildebrandts44 zum Ausgangspunkt ihrer Gespräche genommen. Wenn Hildebrandt von „bis heute nachwirkender“ Schuld spricht, dann trägt er der Tatsache Rechnung, dass die Folgen von persönlicher Schuld über Generationen hinauswirken. Mit seiner Vergebungsbitte bringt er nicht seine persönliche Schuld zum Ausdruck, sondern stellt sich mit seiner Kirche in die Verantwortungszusammenhänge, die über Generationen auf beiden Seiten fortwirken. In einem „Brief an die Gemeinden in der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK) und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD 45 (UEK)“ , an dessen Abfassung der Verfasser dieses Beitrags mit beteiligt war, sollen die hier dargestellten theologischen Differenzierungen sprachlich umgesetzt werden. Zugleich versucht damit auch die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche ihrer eigenen Schuld und der daraus resultierenden Verantwortung gerecht zu werden. Es heißt da: 42 43
44
45
Zitiert bei Friedrich Wilhelm Hopf, Erinnerungen an Peter Brunner, LuthBl 123/124 (1981/1982), 75–85, hier: 82–83. Den Hinweis auf Peter Brunner verdanke ich Christoph Barnbrock. Selbständige Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) (Hg.), „Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe …“ Evangelische Unionskirchen und selbstständige evangelisch-lutherische Kirchen 1817–2017, Gemeinsames Wort der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, http://www.selk.de/download/UEK-SELK-2017_Gemeinsames-Wort.pdf (Stand: 01.12.2017), 4. Die Predigt Hildebrandts und Ergebnisse eines bilateralen Kolloquiums aus dem Jahr 2013 finden sich in dem von Jürgen Kampmann und Werner Klän herausgegebenen Band: Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, Göttingen 2014, 19-23. Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) (Hg.), „Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe …“, Brief an die Gemeinden in der Selbständigen Evangelisch-Lutherische Kirche und der Union Evangelischer Kirchen in der EKD, http://www.selk.de/download/SELK-UEK-2017_Brief-an-die-Gemeinden.pdf (Stand: 01.12. 2017).
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„Um theologischer Genauigkeit willen unterscheiden wir unsere je eigene persönliche Schuld, für die wir Gott heute um Vergebung zu bitten haben, von einer Verantwortung für Schuld, die in der Geschichte unserer Kirchen geschah. Wenn wir hier von Schuld und Vergebung sprechen, tun wir das, weil wir diesen Verantwortungszusammenhang erkennen und bejahen. Die UEK erkennt, dass Vorgängerkirchen und in ihr handelnde Personen an bekenntnisgebundenen Lutheranern schuldig geworden sind. Sie bittet die SELK um Vergebung: Die Schuld der Vergangenheit möge das heutige geschwisterliche Verhältnis von SELK und UEK, ihren Gemeinden und Mitgliedern, nicht mehr belasten. Ihrerseits erkennt die SELK in diesem geschichtlichen Zusammenhang ihre lange währenden inneren Spaltungstendenzen, die dem Zeugnis des Evangeliums im Wege standen. Sie erkennt auch eine oft unangebrachte Härte abwertender Urteile gegenüber der Union und eine Neigung zur Selbstgenügsamkeit, die dem ökumenischen Ansatz und Anspruch lutherischer Theologie und Kirche nicht gerecht wurde. Dafür bittet sie um Vergebung. Beide Kirchen, SELK und UEK, nehmen die ausgesprochene Bitte um Vergebung an 46 und sprechen einander unter dem Kreuz Christi solche menschliche Vergebung zu.“
6.
Zusammenfassung
Die „Unentrinnbare Zeitgenossenschaft“ bleibt unentrinnbar, weil sie sich gerade im Versuch, ihr zu entkommen, als unentrinnbar erweist. Allein das Evangelium von der Gnade Gottes in der voraussetzungslosen vergebenden Liebe Christi, die jedem einzelnen Menschen gilt, lässt im Glauben „entrinnen“ und eröffnet die ewige „Genossenschaft“ der erlösten Kinder Gottes, jenseits der endlichen „Zeitgenossenschaft“. Positiv gewendet liegt in der „Unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ die Anerkenntnis der generationenübergreifend fortwirkenden Schuldzusammenhänge und ein bewusstes Eintreten in eine solidarisch mitfühlende und fortdauernde Verantwortung. Vor allem möge der Heilige Geist der Kirche als „sancta et magna peccatrix“ schon je in ihrer Zeit Schulderkenntnis und Reue schenken, damit sie vor Gott und den Menschen um Vergebung zu bitten vermag.
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A.a.O., 1f.
Evangelische Katholizität Ökumenische Implikationen lutherischer Ekklesiologie Gunther Wenz 1.
Kardinale Probleme
Nach Urteil des ehemaligen Augsburger Professors für Neuere und Mittelalterliche Kirchengeschichte Walter Kardinal Brandmüller, der von 1998 bis 2009 als Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft in Rom fungierte, war die Reformation keine Reform der konkreten Erscheinungsform der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, sondern lief auf einen Bruch mit ihrem Wesen hinaus.1 Zur Begründung dieser Annahme wird vor allem auf die Abkehr von der „auf dem Weihesakrament beruhende(n) Ämterstruktur“2 verwiesen, die Luther grundsätzlich verworfen habe. Die „Existenz eines von den Laien unterschiedenen geistlichen Standes“3 sei von Luther geleugnet worden, da das Priestertum „nach seiner Lehre bloße im Auftrag der Gemeinde ausgeübte Funktion“4 sei. Auch die hierarchische Gliederung des ordinationsgebundenen Amtes habe in Luthers Denken keinen Bestand, so dass die bischöfliche und nachgerade die päpstliche Lehrautorität dahinfalle, welche die Identität und Kontinuität der Kirche Jesu Christi durch die Zeiten und die Authentizität kirchlicher Lehre zu garantieren habe. „Eine die Einheit der Glaubensgemeinschaft sichernde Lehrautorität kann es also in der Kirche, wie Luther sie ungeachtet des biblischen Befundes sieht, nicht geben.“5 Für Brandmüller ergibt sich daraus unmittelbar folgender Schluss: „Das subjektive Urteil des Einzelnen ist oberste Autorität in Glaubenssachen.“6 Die irrige Meinung, es könne ein Christentum ohne Kirche geben, sowie ein gemeinschaftszersetzender Individualismus seien zwangsläufige Konsequenzen dieser Auffassung, wie die Zersplitterungsgeschichte des Protestantismus beweise. Theologische und ekklesiologische Gründe, das Reformationsgedächtnis zu feiern, gibt es nach Auffassung Brandmüllers nicht. Denn die Reformation habe zu einem Bruch mit der Kirche geführt, welcher deren Wesen zuwider und mit dem 1 2 3 4 5 6
Vgl. W. Kardinal Brandmüller, Zum Reformationsgedächtnis, Die Neue Ordnung 67 (2013), 269–274. A.a.O., 269. A.a.O., 270. Ebd. A.a.O., 271. Ebd.
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Begriff der Spaltung falsch beschrieben sei: „Man kann sich von der Kirche lossagen, spalten kann sie kein Mensch.“7 Luther habe dies über das Jahr 1517 hinaus selbst so gesehen. Noch in seinem Galaterbriefkommentar von 1519 habe er „mit Blick auf die böhmischen Hussiten erklärt, es könne niemals einen Grund geben, sich von der Römischen Kirche zu trennen. Den Abfall der Böhmen nennt er deshalb gottlos und allen Gesetzen Christi zuwider. Bis heute hat die Forschung keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden, was den Augustiner dazu geführt haben mochte, dennoch einen so radikalen Wandel zu vollziehen, den tiefen Graben zwischen seinem Galaterkommentar von 1519 und den ‚Kampfschriften‘ von 1520 zu überspringen und sich über eindeutige Worte des Evangeliums hin8 wegzusetzen.“
Absicht nachfolgenden Beitrags ist es nicht, in eine explizite Auseinandersetzung mit Kardinal Brandmüllers Annahmen einzutreten. Amtstheologische Differenzen zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation sind unleugbar. Dass in den reformatorischen Kirchen in der Konsequenz das subjektive Urteil des Einzelnen zur obersten Autorität in Glaubensangelegenheiten erhoben wird, lässt sich gleichwohl nicht sagen. Die Kirche ist reformatorischer Ekklesiologie zufolge eine kommunikative Gemeinschaft, in der Individualität und Sozialität paritätisch in Geltung stehen; und ihre Einheit ist nach Maßgabe von CA VII ohne Konsens in Bezug auf die rechte Evangeliumsverkündigung und die stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung weder zu begründen noch zu erhalten. Im Übrigen bekennen sich die Reformationskirchen wie die römisch-katholische Kirche zur „una, sancta, catholica et apostolica ecclesia“. Katholizität ist demgemäß auch nach ihrem ekklesiologischen Selbstverständnis ein Wesensattribut der Kirche. Was es mit besagter evangelischer Katholizität näherhin auf sich hat, 9 soll im Folgenden in Form eines Vortrags skizziert werden.
7 8 9
A.a.O., 273f. A.a.O., 273. Diesen Vortrag habe ich anlässlich eines Studientages zum zehnjährigen Bestehen des Centro Melantone in Rom gehalten habe; ein bekenntnishermeneutischer Epilog wurde angefügt. Der Text sei Herrn Kollegen Werner Klän mit herzlichen Segenswünschen zum 65. Geburtstag im Reformationsjahr 2017 gewidmet; ich schätze den Jubilar als engagierten Ökumeniker und systematischen Theologen von Rang in der Tradition selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, deren Geschichte er zusammen mit Gilberto da Silva u.a. kurz und lehrreich beschrieben hat (Werner Klän, Gilberto da Silva [Hg.], Lutherisch und selbstständig. Eine Einführung in die Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen, Göttingen 2012. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die instruktive Studie: Werner Klän, Die evangelisch-lutherische Immanuel-Synode in Preußen. Eine Kirchenbildung im Gefolge der ekklesiologischen Auseinandersetzungen im deutschen Luthertum des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Bern/New York 1985).
Evangelische Katholizität
2.
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Congregatio sanctorum
Mit der ganzen Christenheit auf Erden bekennen sich die Reformationskirchen zur einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, deren Wesen in einem Zusatz zum Apostolikum mit der Wendung „communio sanctorum“ umschrieben wird. Ihrem ursprünglichen Sinn gemäß bezeichnet die aus dem Griechischen herkommende und ins Lateinische übertragene Formel primär nicht die Gemeinschaft der „sancti“, sondern die Teilhabe an den „sancta“. Kirche ist demnach die Gemeinschaft derer, die im Glauben an Wort und Sakrament teilhaben und mittels dieser Teilhabe in der Kraft des Heiligen Geistes an Jesus Christus und an dem in ihm offenbaren Gott partizipieren, um vermöge dieser Partizipation und in deren Folge sich in den Werken der Liebe zu üben und Hoffnung zu hegen auf die Wiederkunft des Herrn. In expliziter Aufnahme der altkirchlichen Symbole wird dieses Kirchenverständnis von den reformatorischen Bekenntnissen inhaltlich voll rezipiert. So heißt es im VII. Artikel der Confessio Augustana: „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in 10 qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.“ Die Kirche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente stiftungsgemäß gereicht werden. Im gottesdienstlichen Vollzug der Wortverkündigung und Sakramentsdarreichung erschließen sich Grund und Wesen der Kirche. Der Gottesdienst der versammelten Gemeinde ist daher fundierende Basis und zentraler Bestimmungsgrund evangelischer Ekklesiologie. Dies wird in CA VII durch den Begriff „congregatio“ eigens unterstrichen und entsprechend auch von Luther vorausgesetzt, wenn er in seinem Großen Katechismus zur ekklesiologischen Wendung „communio sanctorum“ folgendes ausführt: „Wenn mans deutlich geben solt, müste mans auff deutsche art gar anders reden, denn das wort Ecclesia heist eigentlich auff deutsch eine Versammlunge. Wir sind aber gewonet des wörtlins Kirche, welches die einfeltigen nicht von einem versamleten hauffen, sondern von dem geweiheten haus oder gebeu verstehen, wiewol das haus nicht solt eine Kirche heissen, on allein darumb, das der hauffe darin zusamen kömpt, denn wir, die zusamen komen, machen und nemen uns ein sonderlichen raum und geben dem haus nach dem hauffen ein namen. Also heisset das wörtlin Kirche eigentlich nicht anders, denn eine gemeine samlung und ist von art nicht deutsch, sondern griechisch (wie auch das Wort Ecclesia), denn sie heissens auff ire Sprach Kyria […] Darumb solts auff recht deutsch und unser mutter sprach heissen eine Christliche gemeine oder samlung‘ oder 11 auffs aller beste und klerste eine heilige Christenheit.“
Mehrere Aspekte dieser inhaltsreichen Passage verdienen es, eigens vermerkt und hervorgehoben zu werden. Das Lehnwort Kirche, das umgangssprachlich sowohl 10
11
CA VII, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 [BSELK], 103,5–7. BSELK 1062,3–16.
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den christlichen Gottesdienst und das seiner Durchführung gewidmete Gebäude als auch die verfasste Sozialgestalt christlichen Glaubens im Sinne einer Institution und ihrer repräsentativen Organe bedeuten kann, stammt wahrscheinlich von einer Adjektivableitung des griechischen Substantivs „kyrios“. Der Kirchenbegriff bezeichnet gemäß dieser Etymologie die Zugehörigkeit zum Herrn Jesus Christus als der personalen Offenbarungsgestalt des dreieinigen Gottes. Vermittelt wird diese Zugehörigkeit durch Wort und Sakrament als Medien des Heils, in welchen der Heilige Geist Gottes wirksam ist, um sich eine Kirche zu schaffen und sie zu erhalten bis ans Ende der Tage. Prototypische Gestalt dieser Kirche ist der gottesdienstliche Vollzug von Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. In der im Glauben um Wort und Sakrament versammelten Gottesdienstgemeinde ist der „kyrios“ real präsent und wirksam. Die Gottesdienstgemeinde ist daher die ekklesiologische Primärform von Kirche. Nichtsdestoweniger und unbeschadet dessen ist jede Gottesdienstgemeinde ihrem Wesen nach mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden. Das deutet Luther durch den Verweis auf die gesamte heilige Christenheit und Melanchthon in CA VII durch die Bemerkung an, die Kirche sei die Versammlung aller Gläubigen an allen Orten und zu allen Zeiten, wie es denn gleich zu Beginn des Artikels heißt, „quod una sancta 12 ecclesia perpetuo mansura sit“ . Dies gilt es wahrzunehmen, um eklatante Missverständnisse evangelischer Ekklesiologie bereits im Ansatz zu vermeiden. 3.
Gottesdienstgemeinde und Universalkirche
So wahr jede im Glauben um Wort und Sakrament versammelte Gottesdienstgemeinde ganz Kirche ist, sowenig ist sie nach reformatorischem Verständnis die ganze Kirche. Denn jede Gottesdienstgemeinde ist, wie gesagt, ihrem Wesen nach mit einem universalkirchlichen Bezug unveräußerlich verbunden und ohne diesen Bezug nicht, was sie ist. Dieser Bezug beinhaltet sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Komponente. In räumlich-synchroner Hinsicht gilt, dass jede Ortsgemeinde mit allen anderen Lokalgemeinden an verschiedenen Orten wesentlich vereint ist. Ethnische Schranken und territoriale Grenzen der Nationen usf. können und dürfen die Gemeinde Jesu Christi nicht spalten und ihre kirchliche Einheit nicht aufheben. Denn die Kirche ist gemäß ihrem ekklesiologischen Begriff, wie er nach reformatorischer Lehre zweifelsfrei in Geltung steht, eine allumfassendkatholische und daher ökumenische, auf den ganzen Erdkreis bezogene Größe. Zwar wird man nicht leugnen können, dass es in der Geschichte reformatorischer Kirche zu territorialen und nationalen Verengungen und Beschränktheiten kam. Aber sie entsprechen evangelischer Ekklesiologie nicht nur nicht, sondern widersprechen ihr.
12
CA VII, BSELK 103,5.
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Ist die Kirche nach Maßgabe evangelischer Ekklesiologie ihrem Wesen nach eine die Grenzen des Raumes transzendierende und darin katholische Größe, so hat sich ihre Katholizität auch unter zeitlichen Gesichtspunkten zu bewähren. Der diachrone Zusammenhang mit der Christenheit aller Zeiten gehört konstitutiv zum ekklesiologischen Selbstverständnis evangelischer Kirchen. Nichts würde diesem Selbstverständnis elementarer widersprechen als die Annahme, die Reformationskirchen hätten im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen. Nach Maßgabe ihres ekklesiologischen Begriffs weiß sich die evangelische Kirche in Kontinuität zu den apostolischen Ursprüngen, wie sie sich denn auch zusammen mit der Einheit, Heiligkeit und Katholizität vorbehaltlos zum kirchlichen Wesensattribut der Apostolizität bekennt. Damit ist die Schwere und gravierende Bedeutung der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts nicht geleugnet. Aber diese betrifft nicht nur die denominationelle Gestalt der Reformationskirchen, sondern auch die katholische Kirche in ihrer tridentinisch-römischen Form. Wie es ekklesiologisch unangemessen wäre, den Anspruch auf Orthodoxie allein der seit Beginn des zweiten christlichen Jahrtausends vom Westen getrennten Ostkirche vorzubehalten, so darf das kirchliche Wesensattribut der Katholizität nicht in ungeprüfter Selbstverständlichkeit allein mit dem römischen Katholizismus assoziiert und den Reformationskirchen abgesprochen werden. Orthodox, katholisch und evangelisch: das sind in erster Linie nicht Denominationsbezeichnungen, sondern Wesensbestimmungen und elementare Charakteristika, die für das Kirchesein von Kirche überhaupt bestimmend sind. Nach reformatorischer Lehre, so wurde gesagt, ist die prototypische Gestalt von Kirche die gottesdienstliche Ortsgemeinde. Dies scheint auf einen ekklesiologischen Fundamentalgegensatz insofern zu verweisen, als nach römisch-katholischer und in der Regel auch nach orthodoxer Auffassung der Begriff der Orts- oder Einzelkirche der bischöflichen Diözese vorbehalten ist. Doch muss diese terminologische Differenz nicht notwendig einen sachlichen Gegensatz enthalten. Denn einerseits ist, wie mehrfach betont, nach reformatorischem Verständnis jede Gottesdienstgemeinde mit einem universalkirchlichen Bezug wesentlich versehen. Andererseits wird man die Auffassung, die Diözese sei die ortskirchliche Mustergestalt, nicht in dem Sinne verstehen dürfen, als seien die jeweiligen Gottesdienstgemeinden nur abgeleitete Modi der Diözesankirche. Diese Folgerung würde nachgerade einer eucharistischen Communio-Ekklesiologie widersprechen, wie sie seit dem II. Vatikanischen Konzil für das römisch-katholische Kirchenverständnis bestimmend ist und von der Orthodoxie seit langem vertreten wurde. Demnach besteht die bischöfliche Diözesankirche nicht anders denn in und aus Gottesdienstgemeinden. 4.
Presbyterat und Episkopat
Von dieser Einsicht her erschließen sich nicht zuletzt in amtstheologischer Hinsicht wichtige ökumenische Verständigungsmöglichkeiten. Nach Urteil insbesondere der Wittenberger Reformation ist das Presbyteramt im Sinne des Pfarramts die zentrale
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Formgestalt des ordinationsgebundenen Amtes. Das ist durch die Tatsache bedingt, dass die Reformatoren ihre Amtslehre von der liturgischen Leitungsrolle her entworfen haben, welche dem Amtsträger in der gottesdienstlichen Feier zukommt. Sein primärer Beruf, zu dem er berufen ist, besteht darin, öffentlich zu lehren bzw. zu predigen und die Sakramente zu reichen. Entsprechend heißt es in CA XIV, „quod nemo debeat in Ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus“13. Insofern aber jede Gottesdienstgemeinde universalkirchlich ausgerichtet ist, liegt es in der Logik reformatorischer Amtstheologie, neben dem presbyteralen Gemeindepfarramt auch eine Gliederungsform des einen ordinationsgebundenen Amtes auszubilden, dem die übergemeindliche Aufsicht der Episkope zukommt. Gegen die bischöfliche Verfassung der Kirche hatten die Reformatoren daher keineswegs grundsätzliche Bedenken. Es ist sogar so, dass man das reichsrechtliche Institut der Fürstbischöfe unter der Bedingung beizubehalten bereit war, dass jede Vermischung fürstlicher und bischöflicher Befugnisse verhindert und klar zwischen dem weltlichen und geistlichen Regiment unterschieden würde. Wie auch immer: von einem grundsätzlichen Vorbehalt gegen die bischöfliche Verfassung der Kirche in der Reformation kann keine Rede sein. Vielmehr war man der Überzeugung, dass die amtliche Institution einer übergemeindlichen Episkope ekklesiologisch unverzichtbar sei. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich erkennbar amtstheologische Verständigungsmöglichkeiten und das umso mehr, als die römisch-katholische und orthodoxe Annahme, im Bischofsamt begegne die Vollgestalt des kirchlichen Amtes, nicht ernsthaft meinen kann, das Presbyteramt sei lediglich eine Delegationsform des Bischofsamtes. Wie die Diözese ekklesiologisch nur in und aus Gottesdienstgemeinden existiert, so kann ein Bischof nur im Verein und in Gemeinschaft mit den Presbytern seines episkopalen Amtes walten. Nimmt man hinzu, dass der Episkope in der Alten Kirche ursprünglich nichts anderes war als Leiter einer Gottesdienstgemeinde, so dass auch unter terminologischen Gesichtspunkten ein enger und untrennbarer Zusammenhang zwischen Pfarramt und Bischofsamt besteht, so wird man mit Recht und gutem Grund die These vertreten dürfen, dass sich sowohl in der ekklesiologischen Zuordnung von Gottesdienstgemeinde und Diözese oder analog strukturierten episkopalen Zuständigkeitsbereichen als auch in der Verhältnisbestimmung von Presbyterat und Episkopat im ökumenischen Dialog ein differenzierter Konsens durchaus erreichen lässt. 5.
Sukzession im apostolischen Amt
Dieser differenzierte Konsens wird für traditionelle Kontroversen um die sogenannte apostolische Amtssukzession nicht folgenlos bleiben. Grundlegend für deren Beilegung ist die Einsicht, dass den Ordinierten eine spezifische Sorge für die Einheit der Gemeinden und die Katholizität der Kirche aufgetragen ist. Es ist die eigen13
BSELK 109,11f.
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tümliche Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes, der Allgemeinheit aller Christen und ihrer einigen Gemeinschaft zu dienen, „ut unum sint“: damit alle eins seien. Von diesem Dienst an der Einheit und Katholizität der Kirche her, zu welchem das ordinationsgebundene Amt durch Ordination ordnungsgemäß berufen ist, lässt sich unschwer ein evangelisches Verständnis des Zeichens einer kontinuierlichen Kette von ordinatorischen Handauflegungen erschließen, wie es für die Vorstellung einer apostolischen Amtssukzession charakteristisch ist. Grundlegend ist naturgemäß der Gedanke einer apostolischen Nachfolge der Gesamtkirche, welcher die Amtssukzession zu dienen hat und auf die sie hingeordnet ist. Entscheidend ist ferner, dass man die Sukzession nicht im Sinne einer förmlichen Kettensequenz, sondern im Kontext eines durch inhaltlich bestimmte Verantwortung gekennzeichneten Dienstauftrags versteht. Unter dieser Voraussetzung kann auch evangelischerseits die Theorie und Praxis apostolischer Amtssukzession als ein ekklesiologisch bedeutsames Zeichen gewertet werden, dessen dogmatischer Wert durch den berechtigten Hinweis nicht unterminiert wird, die Annahme einer von den gegenwärtigen Amtsträgern bis zu den Aposteln zurückreichenden Kette sukzessiver Handauflegungen sei fiktiv und historisch falsifiziert. Ja, von evangelischer Seite kann sogar unterstrichen werden, dass die übliche Form der Sukzession im Amt die bischöfliche Handauflegung zu sein hat. Dass die Ordinationskompetenz primär bei einem Ordinierten mit übergemeindlicher Episkopefunktion liegt, hat elementar mit dem universalkirchlichen Bezug jeder Gottesdienstgemeinde und mit der Sorge um den universalkirchlichen Zusammenhang zu tun, der einem Bischof in spezifischer Weise aufgetragen ist. Auch bei derzeitigen Ordinationen in der evangelischen Kirche ist unbeschadet von gemeindlichen und pfarrerlichen Mitwirkungsrechten das Beisein eines mit episkopalen Dienstaufgaben Betrauten agendarisch vorgesehen. Eröffnet sich unter dieser Perspektive ein weites Feld ökumenischer Verständigung, so muss evangelischerseits gleichwohl darauf insistiert werden, dass Ausnahmen von dem episkopalen Ordinationsvorbehalt theoretisch denkbar und praktisch möglich sind. Eine solche Ausnahme, welche die amtstheologische Regel nicht aufhebt, sondern bestätigt, lag in dem reformationsgeschichtlich gegebenen Falle der Weigerung von Bischöfen vor, Anhänger der Reformation zu ordinieren. In dieser Situation sahen sich die Reformatoren befugt, sogenannte presbyterale Ordinationen vorzunehmen, weil andernfalls den evangelischen Gemeinden das Recht auf eine ordnungsgemäße öffentliche Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung entzogen worden wäre, was unter Sachgesichtspunkten schwerer wiegt als das Abweichen von der amtstheologischen Regel. Dieses Verfahren als prinzipiell unstatthaft und im Ergebnis als illegitim oder ungültig zu erklären, wäre unevangelisch. Diese Einschätzung hängt sachlich damit zusammen, dass nach evangelischem Urteil dem bischöflichen Amt unbeschadet seiner ekklesiologisch elementaren Bedeutung ein, wenn man so will, Kompetenzmonopol auf Wahrheitsgewährleistung ebenso wenig zukommt wie das schätzenswerte Zeichen der apostolischen Amtssukzession die
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Identität und Kontinuität der christlichen Wahrheit durch die Zeiten zu garantieren vermag. Anderes zu behaupten stünde in einem Widerspruch zu Grundeinsichten der Reformation, denen zufolge der Gehalt des Evangeliums mit keiner Gestalt kirchlichen Amtes ununterscheidbar gleichgesetzt werden kann und darf. Man wird anzunehmen haben, dass eine solche Gleichsetzung auch nicht im Sinne orthodoxer und katholischer Lehre ist. Dann aber steht einer Verständigung über die schwierigen Fragen der Amtstheologie im allgemeinen und der apostolischen Amtssukzession im besonderen nichts Prinzipielles im Wege. Das ordinationsgebundene Amt in seinen Gestalten und insbesondere in seiner episkopalen Form ist seinem Wesen nach dazu bestimmt, der Einheit und Katholizität der Kirche in apostolischer Nachfolge zu dienen. Dieser Dienst kann aber nur geleistet werden, wenn mit dem kirchlichen Amt nicht der Anspruch verbunden wird, an sich selbst Garant der Einheit und Katholizität der Kirche zu sein. Zwar ist das kirchliche Amt auch nach evangelischer Lehre dazu bestimmt, „in persona Christi“ zu handeln. Aber die amtliche Christusrepräsentation ist ihrem Wesen nach das gerade Gegenteil von Ersatz und schließt die Tatsache nicht aus, sondern ein, dass jeder getaufte Gläubige je auf seine Weise dazu bestimmt ist, ein Christusrepräsentant zu sein. Die Besonderheit des ordinationsgebundenen Amtes lässt sich von der Allgemeinheit des Priestertums aller nicht ablösen. Vielmehr waltet zwischen dem ordinationsgebundenen Amt und dem gemeinsamen Priestertum aller Christen ein wechselseitiger Begründungszusammenhang. Der Einheit und Katholizität der Kirche kann nur im Verein von ordinierten und nichtordinierten Christen gedient werden. Es besteht daher auch kein Grund, Nichtordinierten ein prinzipielles Recht auf Mitwirkung bei der Leitung der Kirche zu bestreiten. Ein solches Mitwirkungsrecht liegt in der Konsequenz der reformatorischen Lehre vom allgemeinen Priestertum, die allerdings der Differenzierung bedarf, um nicht missverstanden zu werden. 6.
Allgemeines Priestertum
Die vielfach zur dogmatischen Formel erstarrte Wendung „allgemeines Priestertum“ ist für sich genommen unklar und daher theologisch erläuterungsbedürftig. Näherer Bestimmung bedarf vor allem der Begriff des Priestertums, dessen Verwendung terminologiegeschichtlich nicht eindeutig ist. Der Begriff kann zum einen vom griechischen „hierateuma“ hergeleitet und sazerdotal verstanden werden. Zum anderen liegt dem Priesterbegriff etymologisch das neutestamentliche Wort „presbyteros“ zugrunde, das ein christliches Amt bezeichnet, welches ursprünglich in keiner Beziehung zum Priesterdienst Israels stand. Ein solcher Bezug typologischer Art wird erst im Laufe der Zeit hergestellt mit der Folge, dass der Priesterbegriff presbyterale und sazerdotale Bedeutungskomponenten vereint, die nur noch schwer zu unterscheiden sind. Differenzierungen aber sind unverzichtbar, wenn der Priesterbegriff unter evangelischen Bedingungen Verwendung finden soll.
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Im sazerdotalen Sinne ist der Priesterbegriff prinzipiell nur dann verwendbar, wenn die namentlich in der Messfrage virulente Opferthematik einem Verständnis zugeführt wird, das mit Grundeinsichten der Reformation vereinbar ist. Dabei ist davon auszugehen, dass mit dem Kreuzestod Jesu Christi der alttestamentliche Opferdienst und ein ihm direkt vergleichbares „sacerdotium“ ein für allemal ein Ende gefunden haben. Dies war für Luther der wesentliche Grund, das zweideutige und missverständliche Wort „Priestertum“ als christliche Amtsbezeichnung generell zu vermeiden. „Presbyteroi“ bzw. „presbyteri“ sind nach seiner Nomenklatur die ordinierten Diener der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu nennen. Dabei besteht, wie u.a. die Confessio Augustana bestätigt, zwischen Presbytern und Episkopen kein grundsätzlicher Unterschied und das umso weniger, als die Episkopen in frühchristlicher Zeit Vorsitzende der örtlichen Gottesdienstgemeinde waren. Gleichwohl werden Sinn und ekklesiologische Notwendigkeit der Ausbildung von Dienstämtern mit übergemeindlicher Aufsichtsfunktion und eine entsprechende Differenzierung zwischen presbyteralem (Pfarr-)Amt und episkopalem (Bischofs-)Amt nicht in Abrede gestellt. Dass jeder einzelne Christ kraft seiner Taufe und ohne jene Berufung, wie sie in der Ordination erfolgt, ein presbyterales oder episkopales Dienstamt hat, ist weder von Luther noch von Melanchthon noch von sonstigen Repräsentanten der Wittenberger Reformation behauptet worden. Eine solche Behauptung mit der Rede vom allgemeinen Priestertum zu verbinden, wäre daher erkenntlich falsch. Nach reformatorischem Verständnis bezeichnet die Wendung, in deren Hintergrund der auf Ex 19,6 bezogene neutestamentliche Gedanke einer Teilhabe aller Christen am königlichen Priestertum Christi steht (vgl. I Petr 2,9; Apk 1,6; 5,10), eine Würde und einen Auftrag, welcher der Kirche als ganzer zukommt. Alle, die Christus im Glauben verbunden sind, haben kraft ihrer Taufe am königlichen Priestertum ihres Herrn teil. Damit ist die Gnadenstandsparität aller Christen und ihre Gleichheit vor Gott eindeutig ausgesprochen, nicht aber gesagt, dass jeder einzelne Christ je für sich ein Presbyter oder Episkope sei. Es ist im Gegenteil so, dass es einer besonderen Berufung bedarf, um das presbyterale oder episkopale Dienstamt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung sowie der – der öffentlichen Evangeliumsverkündigung zugeordneten – Kirchenleitung wahrzunehmen. Ausdrücklich wird in CA XIV gelehrt, „quod nemo debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus“. Niemand soll in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder die Sakramente reichen ohne ordentliche Berufung, also ohne Ordination. Das allgemeine Priestertum ist damit keineswegs aufgegeben. Es ist vielmehr so, dass der spezifische Dienst an der Allgemeinheit des Priestertums aller die Besonderheit des ordinationsgebundenen Dienstamtes ausmacht. Wie die Einsetzung von Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern nach neutestamentlichem Zeugnis nicht der Herrschaft der einen über die anderen, sondern dem Werk der Auferbauung des Leibes Christi zu dienen hat, so besteht der spezifische Dienstauftrag der zum Leitungsamt der öffentlichen Wort-
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verkündigung und Sakramentsverwaltung Berufenen darin, in besonderer Weise für die Allgemeinheit des Priestertums aller und damit für die Einheit und Katholizität der Kirche Sorge zu tragen. 7.
Kirche als Bekenntnisgemeinschaft
Das Amt steht in apostolischer Nachfolge im Dienst von Einheit und Katholizität der Kirche, sofern es der reinen Wortverkündigung und der stiftungsgemäßen Sakramentsverwaltung dient, durch welche der eine Herr seine Kirche schafft und erhält. Von daher verstehen sich die beiden Sätze von CA VII, die „De unitate ecclesiae“ handeln: „Et ad veram unitatem Ecclesiae satis est consentire de doctrina Evangelii et administratione sacramentorum. Nec necesse est ubique esse similes traditiones humanas seu ritus aut ceremonias ab hominibus institutas. Sicut inquit Paulus: Una 14 fides, unum baptisma, unus Deus et pater omnium etc.“
Zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche ist es sowohl nötig als auch hinreichend, dass sachlich begründete Übereinstimmung in Bezug auf rechte Evangeliumspredigt und stiftungsgemäße Sakramentsverwaltung besteht. Eine darüber hinausgehende Gleichförmigkeit in sonstigen Traditionsbeständen und Zeremonien ist für die Einheit der weltweiten und zeitumgreifenden katholischen Kirche nicht erforderlich. Damit ist die ekklesiologische Bedeutung des Amtes in keiner Weise eingeschränkt oder gar in Abrede gestellt. Gesagt ist allerdings, dass der Gehalt des Evangeliums mit der Gestalt des Amtes in keiner seiner Formen derart eins ist, dass zwischen beiden nicht mehr unterschieden oder gegebenenfalls amtskritisch auf das Evangelium rekuriert werden könnte. Aus diesem Grund ist es primär nicht die amtliche Verfassungsstruktur, welche die Einheit und Katholizität der Kirche gewährleistet, sondern deren inhaltliche Bestimmtheit durch das Wort und die Sakramente, welche von Jesus Christus Zeugnis geben, damit dieser in der Kraft des göttlichen Geistes sich selbst als der auferstandene Gekreuzigte bezeuge. Primärer Bestimmungsfaktor kirchlicher Einheit und Katholizität ist demgemäß nach evangelischer Lehre das gemeinsame Bekenntnis im Sinne eines Sachkonsenses bezüglich rechter Evangeliumsverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentsverwaltung. Kircheneinheit ist primär Bekenntniseinheit und erst von dorther und in einer der Bkenntniseinheit zugeordneten Weise institutionell verfasste und amtlich strukturierte Ordnungsund Rechtseinheit. Eben dies wird bestätigt, wenn es im VII. Artikel von Melanchthons Apologia Confessiones Augustanae über die katholische Kirche heißt: „Et catholicam ecclesiam dicit, ne intelligamus Ecclesiam esse politiam externam certarum gentium, Sed magis homines sparsos per totum orbem, qui de Evangelio
14
CA VII; BSELK 103,8–11.
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consentiunt et habent eundem Christum, eundem spiritum sacntum et eadem sa15 cramenta, sive habeant easdem traditiones humanas sive dissimiles.“
Die katholische Kirche umfasst die über den gesamten Erdkreis verstreuten und, wie man hinzufügen darf, in der Weltgeschichte vertretenen Menschen, die im einen Evangelium übereinstimmen, denselben Christus, denselben Geist und dieselben Heilsmittel haben, mögen sie sich in anderer Hinsicht noch so sehr unterscheiden. Nichts anderes meint Luther, wenn er in seinem Großen Katechismus das Bekenntnis zur Kirche als der Gemeinschaft der Heiligen im dritten Artikel des Apostolikums mit den Worten zusammenfasst: „Ich gleube, das da sey ein heiliges Heufflin und Gemeine auf Erden eiteler Heiligen unter einem Heupt Christo, durch den heiligen Geist zusammen beruffen, in einem Glauben, sinne und verstand, mit mancherley gaben, doch eintrechtig in der liebe, on Rotten und spaltung. Derselbigen bin ich auch ein stück und glied, aller güter, so sie hat, teilhafftig und mitgenosse, durch den heiligen Geist dahin gebracht und eingeleibet, dadurch dass ich Gottes wort gehört habe und noch höre, welches ist der anfang hinein zu kommen. Denn vorhin, ehe wir dazu komen sind, sind wir gar des Teuffels gewesen, als die von Gott und von Christo nichts gewußt haben. So bleibet der heilige Geist bey der heiligen Gemeine oder Christenheit biss auf den Jüngsten tag, dadurch er uns holet, und brauchet sie dazu, das Wort zu füren und zu treiben, dadurch er die heiligung machet und mehret, das sie teglich 16 zuneme und starck werde im glauben und seinen früchten, so er schaffet.“
Summa summarum: Worin besteht die Katholizität der Kirche nach Auffassung evangelischer Ekklesiologie? In der gläubigen Verbundenheit von Menschen im Geiste Jesu Christi, welcher nicht unmittelbar wirkt, sondern mittels Wort und Sakrament, in denen er sich äußert, um ins Innere des Herzens zu dringen und die Gewissensgewissheit des Glaubens zu erschließen. Der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu dienen ist Auftrag des Amtes, in welches durch Ordination berufen wird. Als Institut des Dienstes an Wort und Sakrament17 ist es göttlich gesetzt und ekklesiologisch unverzichtbar. Aber die amtliche Gestalt steht wie die gesamte Verfassungsstruktur der Kirche, sofern sie geistlich begründet ist, im alleinigen Dienst desjenigen Gehalts, welcher das Wesen der Kirche begründet und von den Gestalten des Amtes zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Die zum amtlichen Hirtendienst Berufenen haben keinen anderen Auftrag, als der Stimme des einen Hirten Gehör zu verschaffen, der sich in Wort und Sakrament selbst zur Sprache zu bringen verheißen hat. Dabei gilt gemäß CA XXVIII der Grundsatz: „sine vi humana, sed verbo“. Nicht die Macht formaler Autorität, sondern allein die Ohnmacht des Wortes und der sakramentalen Zeichenvollzüge, wie sie in der Heiligen Schrift kanonisch bezeugt sind, hat das Vermögen, im Innersten 15 16 17
ApolCA VII, BSELK 403,1–5. BSELK 1062,27–1064,11. Vgl. CA V: „institutum est ministerium docendi Evangelii et porrigendi sacramenta“ (BSELK 101,2f.).
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zu überzeugen. Man muss kein Theologe sein, um dies zu verstehen und für richtig zu befinden. Entsprechendes gilt für die ekklesiologische Einsicht ins wahre Wesen der Kirche und ihrer Katholizität. Wie Luther unter Bezug auf Joh 10,3 in den Schmalkaldischen Artikeln sagt: „es weis Gott lob ein Kind von sieben jaren, was die Kirche sey, Nemlich die heiligen gleubigen und die Scheflin, die ires Hirten stim hören“.18 8.
Bekenntnishermeneutischer Epilog
Wer die Vorgeschichte des zweiten Teils des Ekklesiologieartikels der Confessio Augustana studiert, wird auf einen Sachverhalt von nicht unerheblicher bekenntnishermeneutischer Relevanz aufmerksam. Im XII. Schwabacher Artikel, der CA VII als Textvorlage diente, wird ausgeführt, dass die heilige christliche Kirche „nit mit gesetzen und eusserlichen pracht an stat und zeit, an personen und gepeud gepunden“19, sondern dort zu suchen und zu finden sei, „wo das evangelion gepredigt wirdt und die sakramente recht gepraucht“20 werden. Dem entspricht der Sache nach und teilweise sogar wörtlich, was in CA VII über das Wesen der Kirche und über Gegebenheiten gesagt wird, die zur Kircheneinheit nicht notwendig sind. Auch der Augustanasatz, „das alzeit müsse ein heilige Christlich kirche sein und bleiben“21, ist mehr oder weniger direkt aus dem zugrunde liegenden Schwabacher Artikel übernommen22. Anders verhält es sich mit der berühmten satis-Formel von CA VII und ihrem deutschen Äquivalent. Beide Versionen weichen erkenntlich von der Formulierung im einschlägigen Schwabacher Artikel ab, demzufolge die Kirche, welcher der Herr seinen Beistand bis an der Welt Ende zugesagt habe, nichts anderes sei „dann die glaubigen an Christo, welliche obgenante articul und stuck glauben und leren und daruber vervolgt und gemartert werden in der weldt“23. In der zitierten Wendung des XII. Schwabacher Artikels wird der Kirchenbegriff im Verein mit Evangeliumspredigt und Sakramentsgebrauch ausdrücklich durch das Halten, Glauben und Lehren derjenigen Bekenntnisartikel bestimmt, die im Text vorher aufgeführt wurden. Entsprechendes fehlt in CA VII. Wie man dieses Fehlen eines expliziten Bezugs auf Bekenntnis bzw. Bekenntnisstücke im Kirchenartikel der Confessio Augustana zu beurteilen hat, ist unter den Interpreten notorisch strittig. Um ein prominentes Beispiel der Vergangenheit anzuführen: Während Albrecht Ritschl (1822–1889) die These vertrat, Melanchthon sei von seiner Textvorlage bewusst abgewichen, um den religiösen Vollzug und Empfang der Evangeli18 19 20 21 22 23
AS III, BSELK 776,6–8. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien, Bd. 1, hg. v. Irene Dingel im Auftrag der EKD (BSELK.QuM 1), Göttingen 2014, 41,11f. BSELK.QuM 1, 41,9f. BSELK 102,7f. BSELK.QuM 1,5f. unter Verweis auf Mt 28,20: „Daß kein Zweifel sei, es sei und pleibe auf Erden ein heilige christliche Kirch bis an der Welt Ende […].“ BSELK.QuM 1, 41,7–9.
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umspredigt und Sakramentsdarreichung von Bekenntnisdoktrin und dogmatischer Lehre abzusetzen, bestritt Franz Hermann Reinhold Frank (1827–1894), Haupt der ersten Erlanger Theologenschule, eine solche Absicht entschieden und insistierte mit Nachdruck auf der Notwendigkeit eines Lehrbekenntnisses, welches der Gemeinschaft der Kirche expliziten Ausdruck zu verleihen habe. Ähnlich wie Frank argumentierte später u.a. der Erlanger Theologe Werner Elert. Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament und evangelische Lehre ließen sich nicht trennen; auch in der Confessio Augustana sei wie in den Schwabacher Artikeln Lehreinheit die Möglichkeitsbedingung von Kircheneinheit. 24 In diesem Sinne habe Melanchthon seinen Vorentwurf durch Hervorhebung der nötigen Reinheit (CA VII: pure) der Predigt und der Rechtmäßigkeit (ebd.: recte) der Sakramentsverwaltung sowie durch die Rede von der wahren Einheit der Kirche (CA VII: ad veram unitatem) eigens zu verdeutlichen und gegen Missverständnisse abzusichern gesucht. Im Übrigen sei von der Intention Melanchthons auszugehen, im Augsburger Bekenntnis just dies zu formulieren, was die Evangelischen unter pura doctrina evangelii und recta administratio sacramentorum verstünden. „Die Augustana will also selbst den Maßstab für das abgeben, was rechte Lehre des Evangeliums ist[,] und dementsprechend ein Einheitsband für alle sein, die durch rechte Predigt des Evangeliums zur wahren Einigkeit der Kirche zu sammeln 25 sind.“ Der Streit zwischen Ritschl und Frank hat exemplarischen Charakter; die ausgetauschten Argumente bestimmen die bekenntnishermeneutische Diskussion bis heute. Nach Ritschl bezeichnet in der Wendung doctrina evangelii von CA VII, 2 doctrina das Hilfs- und evangelii das Hauptwort. Diese Lesart sei „die nach geschichtlichem Maaßstabe einzig mögliche und nothwendige“26. Die Gründe für dieses Urteil hat Ritschl in einem Beitrag über „Die Entstehung der lutherischen Kirche“ detailliert geltend gemacht. Er kommt zu dem systematischen Schluss, dass für die Einheit der Kirche die Übereinstimmung in bestimmten Lehrartikeln nicht nötig sei. Nicht die Zustimmung zu den doktrinären Inhalten einzelner Glaubensartikel der Confessio Augustana sei für kirchliche Gemeinschaft erforderlich, es genüge der Konsens in Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums der unbedingten Gnade Gottes, wie sie der Glaube und der Glaube allein um Christi willen empfange. Innerer Maßstab und Grund der wahren Kirche sei das evangelium Dei, nicht die pura doctrina evangelii, wie sie in einem kirchlichen Lehrbekenntnis zum Ausdruck gebracht werde. Evangeliumsverkündigung in Wort und Sakrament und evangelische Lehre verhielten sich wie opus Dei und Menschenwerk.
24 25 26
Vgl. Na 7, BSELK.QuM 1, 55,24–56,2. Werner Elert, Morphologie des Luthertums. Bd. 1: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München 1931, 239. Albrecht Ritschl, Die Entstehung der lutherischen Kirche, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg im Breisgau/Leipzig 1893, 170–217, hier: 176.
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Frank widersprach Ritschls Auffassung nachdrücklich. Nach Maßgabe seines anonym erschienenen Beitrags „Aus der neueren Dogmatik II. Vilmar, Krauß, Ritschl von der Kirche“27 hat die „Unterscheidung zwischen doctrina evangelii und doctrina evangelii“28 „nicht den Schatten einer Berechtigung für sich; sie ist ein übelgerathenes Figment eines tendentiös verirrten Scharfsinns“29. Unschwer erkennbar sei Ritschls Absicht, „der lutherischen Theologie den historischen Rechtsgrund der Berufung auf den 7. Artikel der A. C. durch den Nachweis zu entziehen, daß das consentire de doctrina evangelii et administratione sacramentorum eben nicht diejenige Übereinstimmung im ‚Bekenntniß‘ sei, welche die kirchliche Theologie als in jenem Artikel erfordert anzunehmen pflegt“30. Die Sache sei für ihn, Ritschl, wie für uns, gemeint sind die Lutheraner im Frank’schen Sinne, „wichtig genug. Denn wenn er Recht hat, so sitzt er im Bekenntniß und wir daneben – vielleicht kommt ihm auf das Letztere noch mehr an als auf das Erstere.“31 Wie auch immer: Die Annahme Ritschls, dass zur kirchlichen Einheit keine Lehreinheit im Sinne einer Übereinstimmung in bestimmten Bekenntnisartikeln nötig sei, wird von Frank dezidiert abgelehnt. Denn den Nachweis, dass sie das Evangelium rein predige und die Sakramente stiftungsgemäß verwalte, habe eine Kirche, die als Kirche gelten wolle, „mittelst ihres Bekenntnisses“32 zu führen. Übereinstimmung im Bekenntnis, das ohne lehrhafte Satzaussagen nicht auskomme, müsse entsprechend als für kirchliche Gemeinschaft unverzichtbar gelten. Keine Kirchengemeinschaft ohne Bekenntnisgemeinschaft. Gegen diesen Grundsatz Franks und gegen die „möglichst übelwollende Beurtheilung“33, die dieser seinen Ausführungen habe zuteil werden lassen, ist Ritschls „Nachtrag zur Entstehung der lutherischen Kirche“ gerichtet: „Die pura evangelii doctrina, welche als Organ der Einheit der Kirche in Art. 7 (sc. der CA) bezeichnet wird, kann […] im Sinne der Urheber und der ersten Vertreter der Confession nicht so gedacht sein, dass sie durch den Bestand der 28 Artikel gedeckt werde.“34 Richtig und im Sinne von CA VII sei es vielmehr zu sagen, „daß die für die Einheit der Kirche nothwendige Uebereinstimmung im reinen Evangelium eben im engsten Sinne als die Verkündigung der freien Gnade Gottes in Christus gedacht wird“35. Historische und systematische Gründe für diese Interpretation werden geltend
27 28 29 30 31 32 33
34 35
Fr. H. R. Frank, Aus der neueren Dogmatik II. Vilmar, Krauß, Ritschl von der Kirche, Zeitschrift für Protestantismus und Kirche NF 72 (1876), 57–86, hier: 76ff. A.a.O., 80. A.a.O., 81. A.a.O., 76. Ebd. A.a.O., 82; bei Frank gesperrt. Albrecht Ritschl, Ein Nachtrag zur Entstehung der lutherischen Kirche, in: Ders., Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 26), 218–233, hier: 218. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. A.a.O., 223. A.a.O., 219.
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gemacht. Ritschl schließt mit der spitzen Bemerkung, er „hoffe, Herr Frank wird seinen Uebermuth gegen mich einstellen, nachdem ich ihm, dem Helden der Bekenntnißtreue, bewiesen habe, daß er das Bekenntnis unserer Kirche weder vollständig kennt, noch demgemäß richtig versteht“36. Der am Gegensatz von Ritschl und Frank exemplifizierte Auslegungsstreit wirkt bis heute nach. Ein Beispiel versuchten Ausgleichs bietet u.a. Edmund Schlink in seiner „Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften“37, wo er zu folgendem Urteil gelangt: Die Tatsache, dass in dem Relativsatz von CA VII, 1, der den Begriff der Kirche als „congregatio sanctorum“ bzw. „Versammlung aller Glaubigen“ näher bestimmt, Bekenntnisse „nicht genannt sind“38, dass also „der Wortlaut von CA VII den XII. Schwabacher Artikel nicht aufnimmt, ist zwar nicht zu überschätzen […], aber auch nicht zu übersehen“39. Schlink zieht aus seinem salomonischen Schiedsspruch den Schluss, dass das Bekenntnis „Antwort auf die Evangeliumspredigt und Frucht des Heiligen Geistes, nicht sein Mittel wie Wort und Sakrament“40 sei, dass es aber gerade in dieser Funktion kirchlich nicht entbehrt werde könne: „legt doch auch die Augsburgische Konfession selbst auf die Übereinstimmung mit den Bekenntnissen der alten Kirchen großen Wert.“41 Schlinks Schiedsspruch hat nur bedingt zur Befriedung traditioneller Streitigkeiten um die reformatorische Bekenntnishermeneutik im Allgemeinen und die Hermeneutik von CA VII im Besonderen beigetragen. Der Streit hält bis heute an, wie u.a. die Beiträge in dem von Werner Klän herausgegebenen Sammelband „Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit“42 belegen. Entscheidend ist, wie man die Unterscheidung von Grund und Ausdrucksgestalt des Glaubens zu beurtei36 37 38 39 40 41
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A.a.O., 224. Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München ²1946. A.a.O., 275. Ebd., Anm. 8. A.a.O., 275. Ebd. Meine eigene Sicht der Dinge habe ich in der zweibändigen Monographie „Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche“ ausführlich dargelegt (vgl. Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Bd. 1, Berlin/New York 1996; Bd. 2, Berlin/New York 1998, bes. Bd. 2, 300ff.). Die in dem Werk in enger Verbindung historischer und systematischer Fragestellungen entwickelte Bekenntnishermeneutik versucht einen Standpunkt jenseits des durch die Namen Ritschl und Frank markierten Gegensatzes zu beziehen, der dem Anliegen beider gerecht wird, ohne es mit Exklusivansprüchen zu versehen. Vgl. bes. Werner Klän, Einführung zum Symposion „Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit“, in: Ders., Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Milleniumswende, Göttingen 2007, 15–28; Friedrich Hauschildt, Wie lassen sich lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit und die Zustimmung zur Leuenberger Konkordie miteinander vereinbaren?, in: A.a.O., 46–60. Ferner: Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, im Auftrag der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Union Evangelischer Kirchen hg. v. Jürgen Kampmann und Werner Klän, Göttingen 2013; vgl. dazu meine Rezension in: ThRev 110 (2014), 47f.
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Gunther Wenz
len hat, die Klän einen „systematischen Kunstgriff“43nennt, wohingegen sie der ehemalige Leiter des Kirchenamtes der VELKD, Friedrich Hauschildt, unter Berufung auf Eilert Herms zum bekenntnistheologischen Schiboleth erklärt.44 Nach seinem Urteil könne die Relevanz von Lehrkonsensen für die Kirchengemeinschaft auf wenigstens zweifache Weise verstanden werden: „Entweder begründen Lehrkonsense die Kirchengemeinschaft oder Lehrkonsense sind zwar notwendiges Medium der Erklärung und Praktizierung von Kirchengemeinschaft, nicht aber deren Grund.“45 Hauschildt spricht sich entschieden für die zweite Option aus, ohne das damit favorisierte theoretische Konzept von Kirchengemeinschaft für unionistisch erklären zu wollen; die innere Logik der Leuenberger Konkordie sei „eine deutlich andere als die der Union“46. Klän behauptet in der Tradition des Konkordienluthertums das Gegenteil und sieht das Dokument trotz neuerer Ansätze ökumenischer Methodik „in linearer Nachfolge der (alt)preußischen Union von 1817/30“47: „Auch wenn zweifellos zugestanden werden kann, dass ‚Glaube‘ und ‚Lehre‘ einen je ‚andersgearteten Gegenstandsbezug‘ haben, kann doch nie davon abgesehen werden, dass Lehre immer zugleich Reflex des Glaubens selber ist und daher nicht in dem Sinn von dem Vollzug ablösbar, den sie zum Ausdruck bringt (‚Glauben‘), auch nicht von dem übrigens, auf den sie zielt (‚Bekennen‘), dass Lehre für Kirchengemeinschaft keine Voraussetzung darstellte.“48 Auch ein VELKD-Lutheraner wird anzuerkennen haben, dass damit ein entscheidendes bekenntnistheoretisches Problem angesprochen ist. Es bedarf einer präzisen und begriffsscharfen Wahrnehmung, um einer auf ökumenischen Ausgleich bedachten Lösung zugeführt werden zu können.
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Klän, Identität (wie Anm. 42), 22. Vgl. Hauschildt, Identität (wie Anm. 42), 47f. A.a.O., 51. A.a.O., 56. Klän, Identität (wie Anm. 42), 22 unter Verweis auf Tuomo Mannermaa, Von Preußen nach Leuenberg. Hintergrund und Entwicklung der theologischen Methode in der Leuenberger Konkordie, Hamburg 1981, sowie unter Distanzierung von Herms. A.a.O., 22f.
Lehre, Dogma, Bekenntnis Einige Bemerkungen Roland Ziegler „In einem langen, zähen Kampf gegen das kirchliche Dogma – sei es das des Katholizismus oder das der altprotestantischen Orthodoxie – hat das Geistesleben der modernen Welt sich entfaltet. Aus dieser Tatsache erklärt sich die tiefe Abneigung des modernen Menschen gegen das dogmatische Christentum, gegen alles, was Bekenntnis, Lehre und Dogma der Kirche heißt […] Es ist kaum eine Überzeugung heute so weit verbreitet wie die, daß das Christentum, wenn es überhaupt eine Zukunft habe soll, eine Religion der Gottes- und Menschenliebe, ein undogmatisches 1 Christentum der Gesinnung und der Tat sein müsse.“
Diese Worte von Hermann Sasse aus dem Jahr 1930 haben nichts von ihrer Aktualität verloren. Gegen ein solches pragmatisches Verständnis des Christentums und für ein konfessionelles, das heißt: dogmatisches, lehrhaftes Christentum hat Hermann Sasse sein ganzes Leben gekämpft, seit ihm die Wahrheit des lutherischen Bekenntnisses aufgegangen ist.2 Die folgenden Bemerkungen wollen der andauernden Aufgabe dienen, zu zeigen, warum das Christentum dogmatisch ist. Der Begriff der kirchlichen Lehre als gemeinschaftlich verbindliche Aussagen, die Teil der Identität der Kirche und durch die Zeiten identisch sind – der Glaube, der ein für allemal den Heiligen übergeben ist (Jud 3), ist in der Moderne in die Krise gekommen. Der Neuprotestantismus hat ihn fast aufgelöst, die theologische Revolution der dialektischen Theologie und der Kirchenkampf führten zwar zu einer positiven Wiederaufnahme von Dogma und Lehre und dem eng verbundenen Konzept des Bekenntnisses, wenn auch in verschiedener Bedeutung, aber die protestantische Ambivalenz gegenüber verbindlicher Lehre konnte nicht prinzipiell 1
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Hermann Sasse, Das Bekenntnis der Kirche, in: Ders., In statu confessionis, Bd. 3, Göttingen 2011, 30–42, hier: 30. „Im Kampf gegen das kirchliche Dogma ist einst um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts die moderne Welt entstanden. Das Ressentiment gegen alles, was Bekenntnis, Lehre, Dogma der Kirche heißt, liegt seitdem allen modernen Menschen, auch dem modernen Menschen in der Kirche, in der Theologie sozusagen im Blut.“ (Hermann Sasse, Flucht vor dem Dogma. Bemerkungen zu Bultmanns Entmythologisierung des Neuen Testaments, Lutherische Blätter 16 (1964), 88–108, hier: 108). „Es war eine beglückende Erfahrung für uns junge Pastoren, die in einer faktisch bekenntnislosen Theologie aufgewachsen waren, als wir in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wieder lernten, daß es eine objektive Lehre der Kirche gibt, die wir zu verkünden haben. Die Augsburgische Konfession und Luthers Katechismus, und bald das ganze Konkordienbuch wurden wieder lebendig.“ (Hermann Sasse, An die Kirchliche Sammlung, Bremen 1971, 10).
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Roland Ziegler
überwunden werden.3 Was bleibt, ist im Extremfall der kontinuierliche Prozess der Schriftauslegung in der Kirche, der prinzipiell offen ist. Der Historismus, der den Gedanken einer durch die Zeiten identische Lehre zerstörte, wurde nicht überwunden. Das Ergebnis: „Daß ein ‚fest Gegebenes‘, eine inhaltlich ausformulierte ‚objektive Lehre‘, eine autoritative Lehrnorm im alten Sinne überhaupt nicht mehr gedacht werden kann. Verloren die heilige Stadt, verloren die heilige Geschichte und dann das unantastbare Bekenntnis und also nun auch das heilige Buch.“4 Was bleibt, ist kirchliche Lehre, die kontinuierlich fortgebildet wird „durch aktuelle Erfahrungen und Einsichten in jenen gemeinsamen Geist als den Geist Jesu Christi“. „Die Fortbildung der kirchlichen Lehre – anders gesagt: der christlichen Wahrheitsaussagen – vollzieht sich als sachlich notwendige Weiterführung und Explikation des in der ‚Schrift‘ Alten und Neuen Testaments Ausgesagten.“5 Das ist das Problem des neuzeitlichen Protestantismus. Wenn man von der Heiligen Schrift nur noch als ‚Schrift‘ reden kann, dann wird es auch mit der Lehre schwierig.6 Zur neuzeitlichen Problematisierung der Lehre trug der Wandel im Offenbarungsverständnis bei. Gegen die Sicht, dass die Offenbarung Gottes auch in Lehren besteht, wird Offenbarung exklusiv personalistisch als Heilsmitteilung oder als Seinserschließung verstanden, nicht als sprachliche Mitteilung.7 Dazu kommen weitverbreitete diffuse Antipathien gegen Lehre, die das Wesentliche des Christentums nicht nur nicht in der Lehre sehen, sondern ihr entgegensetzen. Das Christentum ist primär Leben, nicht Lehre. Betonung der Lehre führt zur Intellektualisierung des Glaubens. Zudem ist Lehre geschichtlich und gegenwärtig mit Lehrstreitigkeiten verbunden und mit den Trennungen in der Christenheit verbun-
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Für den neuprotestantischen Standpunkt vgl. Emanuel Hirsch (Christliche Rechenschaft, Bd. 1, Tübingen 1989, 3): „Viele Theologen heute geben dogmatische und ethische Darlegungen mit dem Anspruch, die gültige Lehre einer kirchlichen Gruppe autoritativ zu vertreten, wollen am Ende gar, wenn die Lehre der von ihnen vertretenen kirchlichen Gruppe selber diesen Anspruch erhebt, ewige, göttliche, zeitlose Wahrheit mitteilen. Diese [sc. Hirschs] christliche Rechenschaft steht auf der radikal neuprotestantischen Zuspitzung des reformatorischen Satzes, daß es in christlichen Dingen nur eine rein persönliche, von Grund auf selbst verantwortete Rechenschaft gibt, welche in jedem Punkte auch da, wo sie sich zum Allgemeineren zu erheben trachtet, das Zeugnis eines einzelnen Menschen von der ihn im Geist und Gewissen regierenden Wahrheit bleibt und für jeden andern nur Wahrheitsmacht gewinnt durch freiwillige Gegenzeichnung.“ Traugott Koch, Die Freiheit der Wahrheit und die Notwendigkeit eines kirchenleitenden Lehramtes in der evangelischen Kirche, ZThK 82 (1985), 231–250, hier: 236. A.a.O., 243. Vgl. die Diagnose Peter Brunners aus dem Jahre 1957: „Bindung an das lutherische Bekenntnis bedeutet darum heute zunächst die Erkenntnis der tiefen geistlichen Not unserer Kirchen, die darin besteht, daß die redende Schrift, die richtende Schrift, die Schrift als einige Regel und Richtschnur für Verkündigung und Lehre weithin verlorengegangen ist.“ (Peter Brunner, Was bedeutet Bindung an das lutherische Bekenntnis heute, in: Ders., Pro Ecclesia, Berlin/Hamburg, 1962, 46– 55, hier: 49). Vgl. Max Seckler, Der Begriff der Offenbarung, in: Handbuch der Fundamentaltheologie, 2. verb. u. aktual. Aufl., Bd. 2, Tübingen/Basel 2000, 41–61.
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den. Oft wird Lehre auch als abstrakt, lebensfremd und für das christliche Leben irrelevant empfunden.8 Lehre ist zunächst eine der elementaren christlichen Sprachformen. Jesus ist der Lehrer, der mit Vollmacht lehrt, und der seinen Jüngern den Auftrag gibt, zu lehren. Jesus lehrt und predigt (Mt 4,23; 9,35; 11,1). Lehren und das Evangelium verkündigen gehören zusammen (Lk 20,1; Act 5,42; 15,35). Lehren ist ein mündlicher Vorgang, wie auch die Predigt, und wie die Predigt hat sie Anredecharakter. Aber schon im Neuen Testament hat Lehre „eher einen linearen, die zeitliche Kontinuität signalisierenden als einen vertikalen und punktuellen Character.“9 Die Lehre hat auch eine Tendenz, „sich auf das schon Gelehrte und in der Überlieferung bewahrte […] zu beziehen“.10 Damit gehören παράδοσις und διδαχή zusammen. Mit der Verschriftlichung soll nun das, was entweder mündlich oder schriftlich gelehrt wird, bewahrt werden (II Thess 2,15). Der auferstandene Christus selbst befiehlt den Jüngern zu lehren und so die Worte Jesu zu tradieren (Mt 28,20). „Kirchliche Lehre weist immer über sich selbst hinaus auf Jesus zurück.“11 Lehre ist damit neben Predigt, Bekenntnis, und Lob einer der Grundformen christlicher Rede. In diesem Sinne ist Lehre christliche Unterweisung. Dieser neutestamentliche Sprachgebrauch findet sich auch in der Reformation und in den Bekenntnisschriften, wenn lehren und predigen bzw. Lehre und Predigt synonym gebraucht werden können.12 Das Evangelium wird nicht nur gepredigt, es wird auch gelehrt, es wird auch tradiert. So wichtig der Anredecharakter ist, so ist eben auch die Form der Lehre, d.h. die Form der Aussage, der Beschreibung eine Grundform christlicher Rede. Neben dem aktualen Predigen gehört auch die durative Lehre, die Überlieferung in ihrer Selbigkeit, zum Leben der christlichen Gemeinde. Das Lehren impliziert eine Lehre, d.h. einen gleichbleibenden Inhalt.13 Diese Lehre ist wohl schon in neutestamentlicher Zeit in einem Taufbekenntnis zusammengefasst.14 Das Bleiben in der Lehre der Apostel (Act 2,42) bzw. der Lehre Christi (II Joh 9) wird mit dem Abfall von dieser Lehre kontrastiert. Irrlehre ficht schon die apostolischen Gemeinden an (Gal 5,9; Röm 16,17). Als
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Das ist auch Schuld der akademischen Theologie, vgl. Christoph Markschies, Lutherisch glauben und bekennen, 2, http://www.antikes-christentum.de/uploads/tx_nimediathek/2dresden.pdf (Stand: 01.12.2017). Wolfgang Schrage, Einige Beobachtungen zur Lehre im Neuen Testament, EvTheol 42 (1982), 233–250, hier: 236. A.a.O., 236. A.a.O., 239. Vgl. z.B. den deutschen und lateinischen Text von CA VII, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 (BSELK), 102f.; CA XIV, BSELK 108f. Schrage, Beobachtungen (wie Anm. 9), 243: „So wie es eine fides quae creditur gibt, so erst recht eine doctrina quae docetur. Der Intentionalität des Glaubens entspricht die Inhaltsbezogenheit der Lehre.“ Wenn τύπος τῆς διδαχῆς in Röm 6,17 so zu verstehen ist.
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festumrissene παραθήκη wird die gesunde Lehre in den Pastoralbriefen von den Irrlehren abgegrenzt (I Tim 6,20; II Tim 1,12.14). Das bedeutet, dass Lehre „als der von einer Gruppe mit einem Ausspruch auf Verbindlichkeit hochgehaltenen Aussagekomplex“ kein nachneutestamentliches Phänomen ist.15 Lehre als Sprachform ist Teil der biblischen Überlieferung, nicht eine spätere Entwicklung. Die christliche Kirche ist eine lehrende Kirche, weil sie dem Beispiel und dem Auftrag ihres Herrn folgt. Bekennen bzw. Bekenntnis ist eine der Bedeutungen von ὁμολογέω, ὁμολογία im Neuen Testament.16 Das Bekenntnis ist zuerst das Bekenntnis zu Jesus angesichts der Feindschaft der Gegner Christi (Mt 10,32). Das Bekenntnis ist der Sprachakt, der die Zugehörigkeit des Bekenners zu Christus ausspricht, und dem der Sprachakt Christi im Endgericht entspricht, der sich dem Bekenner zuspricht. Bekennen und Verleugnen stehen sich gegenüber, wobei beides eschatologische Konsequenzen hat. Es braucht nicht mehr als einen Satz, um dieses Bekenntnis auszusprechen. Zum Namen Jesu tritt früh der Titel „Herr“ (Röm 10,9) oder „Christus“ (I Joh 2,22) als Explikation dessen, was das Bekenntnis bedeutet. Bald aber wird das Bekenntnis erweitert, um falsche Lehre in der Gemeinde abzuwehren: man bekennt Christus als den, der ins Fleisch gekommen ist (I Joh 4,2), als den Sohn Gottes (I Joh 4,15). Das Bekenntnis identifiziert nicht nur Christen gegenüber den Feinden Christi, sondern Christen, die das rechte Bekenntnis haben, gegenüber solchen, die falsch von Christus lehren, und dient so der Unterscheidung der Geister. Das wahre Bekenntnis ist Werk des Heiligen Geistes, das falsche, das die Inkarnation bestreitet, Werk des Antichristen (I Joh 4,3). Das Bekenntnis ist die Antwort des Glaubens auf das Evangelium. Das Subjekt des Bekennens ist der einzelne Christ bzw. die Gemeinschaft der Gläubigen. Das Bekenntnis ist nicht eine Option, sondern es ist eine notwendige Folge des ergangenen Gottesworts. Glaube kann nicht ohne Bekenntnis sein. Wie der Glaube aus dem gehörten Wort kommt, so ist die Frucht des Glaubens das Bekenntnis, das das gehörte und geglaubte Wort spricht (Röm 10,9). Der existenzielle Charakter des Bekenntnisses ist schon durch seine Sprachform gegeben: Das Bekenntnis ist in der 1. Person gesprochen. Während das Bekenntnis in der neutestamentlichen Zeit das Zentrum des christlichen Glaubens artikuliert, sind die altkirchlichen Bekenntnisse eine Erweiterung, die Christus als das Zentrum des Heilshandelns Gottes bekennen und die explizieren, wer Jesus ist. Da die Taufe Herrschaftswechsel ist, ist das Taufbekenntnis Bekenntnis des Täuflings zu Christus dem Herrn und ist so mit dem Bekenntnis von Mt 10,32 verbunden. Die lutherischen Bekenntnisschriften der Reformationszeit gehen in Umfang und Detail weit über das hinaus, was im Neuen Testament oder in der Alten Kirche 15
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Eilert Herms, Art. Lehre, TRE 20, 608–621, hier: 609,11f. Dazu gehört, dass die Lehre im Neuen Testament nicht rein intellektuell verstanden werden darf, sondern auf „Lebensgehorsam“ zielt (Schrage, Beobachtungen [wie Anm. 9], 248). Die Bedeutungen „offen gestehen“, „bejahen,“ Sünden „bekennen“ bleiben hier unberücksichtigt.
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ein Bekenntnis ist. Auch der Sitz im kirchlichen Leben ist ein anderer für die meisten Bekenntnisschriften. Während der Kleine Katechismus als nachgeholter Taufunterricht den altkirchlichen Taufbekenntnissen noch am nächsten steht, sind die anderen Bekenntnisse entweder Material zur Unterweisung (Großer Katechismus) oder Verantwortung des Glaubens in innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Richtschnur für Lehren und Verkündigen in der Kirche. Die Bekenntnisschriften der Reformationszeit, wieder mit Ausnahme des Kleinen Katechismus, sind nicht an den „gemeinen Man und Leyen“ gerichtet.17 Es wurde bemerkt, dass sie nicht im Gottesdienst gebraucht werden.18 Das ist nicht ganz korrekt, da der Kleine Katechismus in einigen lutherischen Kirchenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts Teil des Vespergottesdienstes war und auch noch später gottesdienstlich verwendet wurde.19 Das Augsburger Bekenntnis wurde mancherorts am Gedenktag der Übergabe der CA im Gottesdienst verlesen.20 Aber für die anderen Bekenntnisse lässt sich tatsächlich kein gottesdienstlicher Gebrauch feststellen. Hier ist also sicherlich ein Unterschied zu den altkirchlichen Bekenntnissen festzustellen.21 Können die Bekenntnisschriften als Sprechakt, der die Bindung an Christus nicht nur ausdrückt, sondern vollzieht, verstanden werden? Es scheint zunächst, als ob ein solcher Akt in der Vielzahl der Lehraussagen verloren geht. Aber den Bekenntnisschriften geht es letztlich darum, dass Christus als der erkannt, geglaubt, und bekannt wird, der er ist. Rechte Bindung an Christus ist der biblische Christus. Auch in den zunächst diffizilen und abstrakten Diskussionen um die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi geht es schlicht darum, Christus als den zu erkennen, glauben und bekennen, der er ist, wie Brenz und Andreae 1564 schrieben:
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FC SD Summarischer Begriff, BSELK 1312,24f. Etwa von Edmund Schlink, Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem, in: Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, Göttingen 1961, 24–79, hier: 40. Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, 1. Bd.: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, Göttingen 1937, 208–210. Vgl. auch die Tradition der Christenlehre, in der der Katechismus rezitiert wurde. Nach der Ordnung Löhes fordert der Pfarrer die Gemeinde auf, die Hauptstücke des Katechismus ohne Erklärung aufzusagen („Lasset uns miteinander den heiligen Katechismus bekennen“), danach „treten zwei Knaben am Eingang des Chors, etwa wo der Taufstein steht, einander gegenüber, so daß sie von der Gemeinde wohl gesehen und gehört werden können, und fragen einander ein Hauptstück des kleinen Katechismus Luthers mit der Auslegung ab.“ (Wilhelm Löhe, Gesammelte Werke, Bd. 7,1, Neuendettelsau 1953, 106f.). Diese Ordnung findet sich mit kleineren Abänderungen als „Katechismusexamen“, das „nachmittags an Stelle eines Predigtgottesdienstes mit großer Sorgfalt gehalten“ wird, in der Agende der Missouri-Synode (Kirchenagende für Ev.-Luth. Gemeinden ungeänderter Augsburgischer Konfession, St. Louis 1922, 18). „In Gotha 1645, in der Schwarzburger „Ordnung“ 1649 und auch anderwärts wurde für den Nachmittag des Johannisfestes die Verlesung der am 25. Juni überreichten Augsburger Konfession nebst kurzer Erklärung angeordnet, wie noch jetzt in Bayern üblich.“ (Graff, Geschichte der Auflösung [wie Anm. 19], 145). Freilich hat auch das Athanasianum nur eine sehr begrenzte Aufnahme in die Liturgie erfahren.
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„Wir sagen aber darbey / daß in diesem handel ietzt nicht nicht die Hauptfrag sey / wie von beiden Naturen ey zu reden / daß dieselben nicht zertrent / oder ineinander vermenget warden / etc. Sondern nach dem der Alten Väter und Concilien Rede / Hypostatica Unio, Personalis Unio, duarum naturarum in persona conjunctio, communicatio Idiomatum, etc nicht Schrifttliche / sondern Philosophische und Schulwort seyn / so ist itzo die Hauptfrage / wie solche Rede und Wort der alten Väter und Concilien recht wahrhafftig und nach der Meinung des H. Geistes / so sein Sententz in der Prophetischen und Apostolischen Schrift unverborgen und öffentlich dargethan / zu verstehen seyn / damit man den HErrn CHristum recht erkenne (dann die22 selbe Erkändntiß ist das ewige Leben) und an ihn von Hertzen gläube.“
Es geht den Bekenntnisschriften in allen ihren Aussagen letztlich darum: dass man den Herrn Christum recht erkennt und an ihn von Herzen glaubt. Das ist erst recht deutlich im Kontext der Rechtfertigungslehre. Das rechte Bekenntnis zu Christus als dem einzigen und alleinigen Mittler ehrt Christus, während Werkgerechtigkeit ihm die Ehre raubt.23 Insofern die Bekenntnisschriften nicht nur zum rechten Bekenntnis anleiten, sondern es lehrend vollziehen, ehren sie Christus, und wer sie rezipiert, bindet sich damit nicht einfach an Aussagesätze, sondern an Christus. Die Bekenntnisse der Reformationszeit sind auch darin, bei allen Unterschieden, den aus den Taufbekenntnissen herausgewachsenen altkirchlichen Bekenntnissen ähnlich, dass sie teilweise in der ersten Person sprechen und insofern konfessorisch sind.24 Gerade dies wird aber von Notger Slenczka bestritten. Er versteht die Bekenntnisse der Reformationszeit nicht als Bekenntnisse im Sinne von Mt 10, d.h. als aktuale, persönliche Bekenntnisse, sondern als „Richtlinie für die Lehre und Verkündigung der Kirche.“25 Es ist unbestreitbar, dass die Bekenntnisse dieses sind, aber sind sie nicht auch jenes? In der Vorrede zum Konkordienbuch ist die Rede davon, dass in Augsburg die Wahrheit bekannt wurde und dass die Stände das Konkordienwerk als
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Leonhard Hutter, Concordia concors, Francofurti & Lipsiae: Apud Johannem Christophorum Föllginer, 1690, 78. FC Ep III, BSELK,7–14; Tract., BSELK 818,8f. und 23–25. Vgl. dazu den Kehrreim des „wir glauben, lehren und bekennen“ in der FC. Während CA I nur im deutschen Text in der ersten Person spricht („Erstlich leren und halten wir eintrechtiglich […]“ – „Ecclesiae magno consensu apud nos docent“ (BSELK 92,25/93,26), ist die erste Person impliziert, wie ApolCA I,1 zeigt: „Primum articulum Confessionis nostrae probant nostri adversarii, in quo exponimus nos credere et docere […]“ (BSELK 245,3f.). Die Schmalkaldischen Artikel sind „eintrechtiglich bekennet und beschlossen“ worden (AS Vorrede, BSELK 718,21f.). Notger Slenczka, Die Bedeutung des Bekenntnisses für das Verständnis der Kirche und die Konstitution der Kirche in lutherischer Sicht, in: Profil – Bekenntnis – Identität. Was lutherische Kirche prägt, hg. von Klaus Grünwaldt, Udo Hahn, Hannover 2003, 9–34, hier: 14f. Slenczka wendet sich gegen die These, „Bekenntnisse bezögen ihre Verbindlichkeit und ihre konstitutive Funktion in der Kirche daraus, dass sie in einer Bekenntnissituation kollektiven oder gar den individuellen Glauben zum Ausdruck bringen“ und betont ihre regulative Funktion wegen ihres Inhaltes. Er hat darin recht – die Bekenntnisse erhalten ihre Verbindlichkeit und konstitutive Funktion wegen ihrer Schriftgemäßheit – ,macht aber nicht deutlich, dass im Konkordienbuch glauben, lehren, und bekennen untrennbar sind.
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Bekenntnis zur göttlichen Wahrheit ansehen.26 Das Vorwort zur Solida Declaratio beschreibt, was in Augsburg geschah, so: Die Fürsten und Städte haben „eine Christliche Confeßion aus Gottes Wort stellen lassen und dieselbe Keyser Carolo V uberantwortet, darinnen sie lauter und rund ire christliche bekentnis gethan“.27 Das heißt, es geschieht beides, aktuales Bekennen und Aufstellen einer Lehrnorm. Das Bekenntnis „aus Gottes Wort“ wurde vor dem Kaiser bekannt. Aber wie der Schluss der Konkordienformel zeigt, fehlt auch in diesem Bekenntnis nicht das konfessorische Moment: „Derwegen wir uns für dem angesicht Gottes und der gantzen Christenheit bey den jetztlebenden und so nach uns komen werden, bezeuget haben wollen, Das diese jetztgethane erklerung von allen vorgesetzten und erklerten streitigen Artickeln und kein anders unser Glaub, Lehr und Bekenntnus sey, in welcher wir auch durch die gnade Gottes mit unerschrockenem hertzen für den Richterstul Jhesu Christi 28 erscheinen und deshalb rechenschafft geben […].“
Hier wird deutlich, dass den Verfassern und denen, die die Bekenntnisse unterschrieben, der eschatologische Charakter des Bekenntnisses wohl bekannt war und sie die CA als ein solches Bekenntnis verstanden.29 Edmund Schlink sieht im Bekenntnis eine Grundform christlicher Lehre, in der die anderen von ihm identifizierten Grundformen, „Gebet und Zeugnis, Doxologie und Lehre in eigentümlicher Weise“ zusammenfallen.30 Das Bekenntnis, so Schlink, wird Gott dargebracht, auch wenn es sich nicht an ihn richtet. Dieser Aspekt ist im Konkordienbuch wenig thematisiert. Aber es fehlt nicht gänzlich. Das Torgische Buch, die letzte Vorform der Konkordienformel, wurde „mit anruffung Gottes des Allmechtigen zu seinem lob und ehre“ verfasst, was sicherlich auch für die Endfas-
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„[…] das unser gemüt und meinung gar nicht were, einige andere oder neue Lere anzunemen, zuverteidigen oder auszubreiten, Sondern bey der zu Augspurg Anno 1530. einmal erkanten und bekanten warheit vermittelst Göttlicher verleihung bestendiglich zuverharren und zu bleiben […]“ (BSELK 12,35–39). „Wann dann solches etzliche Gottfürchtige friedliebende und gelerte Theologen veremerckt und wol gesehen, das diesen falschen verleumbdungen und den teglich weiter einreissenden Religionstreiten besser nicht zubegegnen, dann so die eingefallenen spaltungen von allen streitigen Artickeln gründlich und eigentlich aus Gottes Wort erkleret, entscheiden und falsche Lehre ausgesetzt und verworffen, die Göttliche warheit aber lauter bekennet […]“ (BSELK 14,21– 26). „Dann wir, abermals schließlich und endlich zu widerholen, durch dieses Concordien werck nichts neues zumachen, noch von der einmal von unseren Gottseligen Vorfahren und uns erkanten und bekanten Göttlichen Wahrheit […] gar nicht, weder in Rebus noch Phrasibus, abzuweichen […]“ gesinnt sind (BSELK 26,30–38). FC SD Vorwort, BSELK 1304,21–23. Vgl. auch in der Vorrede zum Konkordienbuch: „das wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keine andere Lere zugedulden gemeint, dann wie dieselbe zu Augspurg Anno 1530. durch mehrgedachte Churfürsten, Fürsten und Stende einmal bekant worden“ (BSELK 18,37–40). FC SD XII, BSELK 1604,31–1606,5. Vgl. auch die wiederholte Formel „wir glauben, lehren, und bekennen“ in FC SD III, V, VI, VIII, X, XI. Für die Stände, die das Konkordienbuch unterschrieben, vgl. BSELK 18,40–43. Schlink, Struktur (wie Anm. 18), 24–79, hier: 35.
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sung gilt.31 Es ist Zeugnis, da es vor Menschen abgelegt wird, auch wenn es nicht an sie gerichtet ist. Es hat Anteil an der Struktur der Doxologie, d.h. „der Anerkennung Gottes, der von Ewigkeit zu Ewigkeit, der vor seinen Heilstaten und nach seinen Heilstaten derselbe Heilige, Mächtige, Herrliche, Weise ist.“32 Es ist Zeugnis an Mitmenschen – explizit in den Vorreden zum Konkordienbuch und zu den einzelnen Bekenntnisschriften. Es ist Lehre, indem „hier ohne direkte Zuspitzung auf den konkreten geschichtlichen Menschen von Gottes endgültiger Heilstat gesprochen wird.“33 Das bedeutet allerdings nicht, dass die anderen Grundformen dadurch überflüssig werden. „Doxologie ohne Bittgebet bleibt nicht mehr wahre Doxologie, Lehre ohne konkreten Zuspruch nicht mehr die wahre Lehre, Zeugnis ohne Gebet geschähe nicht mehr in der Kraft des Namens Christi, und das Bekenntnis, das ohne Gebet und Zeugnis bleibt, würde alsbald verfallen.“34 Der Begriff des Dogmas wird außerkirchlich oft als willkürliche und unbegründete Meinung verstanden, die stur vertreten wird, innerkirchlich sieht es oft nicht besser aus. Das hat teilweise mit der Entwicklung des Dogmenverständnisses im neuzeitlichen Katholizismus zu tun, in dem das Dogma als ein Glaubenssatz, der vom unfehlbaren Lehramt definiert und legitimiert ist und in religiösem Gehorsam anzunehmen ist, verstanden wird.35 So kann das Dogma zur Chiffre für alles, was evangelischerseits im römischen Katholizismus abgelehnt wird, werden. Es gehört dann geradezu zum Wesen des Protestantismus, dass er keine Dogmen hat.36 Aber der Begriff des Dogmas muss nicht ein unfehlbares Lehramt einschließen, noch dass es im Gehorsam gegen dieses Lehramt eingefordert werden kann. Im Neuen Testament wird δόγμα meist im juristischen Sinn als „Anordnung“ gebraucht, für die Beschlüsse des sogenannten Apostelkonzils und für das alttestamentliche Gesetz gebraucht.37 Erst bei den apostolischen Vätern wird Dogma im Sinne von „Glaubenslehre“ benutzt.38 Während in der Reformationszeit der Begriff des Glaubensartikels (articulus fidei) häufiger als der des Dogmas gebraucht wird, fehlt dieser doch nicht ganz.39
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Vorrede zum Konkordienbuch (BSELK 16,11f.). Schlink, Struktur (wie Anm. 18), 28. A.a.O., 35. A.a.O., 36. Vgl. zur Entwicklung des neuzeitlichen Verständnisses Hubert Filser, Dogma, Dogmen, Dogmatik. Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin von der Reformation bis zur Spätaufklärung, Studien zur systematischen Theologie und Ethik 28, Münster 2001. Für Adolf von Harnack ist die Reformation das Ende der Dogmengeschichte. Anordnung: Lk 2,1; Act 17,7; Hebr 11,23. Im Zusammenhang des Apostelkonzils: Act 16,4; Alttestamentliches Gesetz: Eph 2,15; Kol 2,14. Ignatius, Magn 13,1. Die Überschrift zur CA lautete „Artickel Christlicher Lahr“, „Articuli fidei praecipui“ (BSELK 92,23 und 93,24). „Es heisst, Gottes wort sol Artikel des glaubens stellen und sonst niemand, auch kein Engel.“ (AS II, BSELK 734,10–12).
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Dogma kann synonym für Lehre gebraucht werden.40 Dogma hat aber auch die weitere, ältere Bedeutung eines Lehrsatzes, so dass Melanchthon auch von falschen Dogmen reden kann.41 Wahre, fromme Dogmen können von falschen, unfrommen Dogmen durch die Heiligen Schrift als einem „Probierstein“ unterschieden werden.42 Der Begriff des Dogmas, wie er heute gebraucht wird, impliziert aber nicht nur Lehre, sondern auch synchrone und diachrone kirchliche Verbindlichkeit, d.h. das Dogma hat einen ökumenischen Anspruch, es beansprucht allgemein-christlich zu sein für die Gegenwart, aber auch für die Vergangenheit und die Zukunft. „Dogma“ hat in den Bekenntnisschriften nicht diese Bedeutung, aber haben die Bekenntnisschriften den Anspruch, dass das, was sie als Lehre der Schrift gemäß lehren und bekennen, diesen ökumenischen Anspruch hat? Für ein solches Verständnis spricht das Verständnis von Bekenntnisschriften in der FC. Hier werden die altkirchlichen Bekenntnisse und die Bekenntnisse der Reformationszeit nebeneinandergestellt. Sie sind Teil des „Summarischen, einhelligen begriff[s] und Form […] darinn die allgemeine, summarische Lehr, darzu die Kirchen, so der wahrhafftigen, Christlichen Religion sind, sich bekennen, aus Got43 tes Wort zusamen gezogen“ . Die altkirchlichen Bekenntnisse, die „aus Gottes Wort in kurtze Artickel oder Hauptstück wider der Ketzer verfelschung zusamen gezogen“ sind, werden so als schriftgemäße Zusammenfassung zur Abwehr der Ketzereien ihrer Zeit rezipiert.44 Dass die altkirchlichen Bekenntnisse in der Reformationszeit als Zusammenfassung der wahren christlichen „Lehr in reinem, gesunden Vorstande aus Gottes Wort“ als das eigene Bekenntnis aufgenommen werden kann, ist nur möglich, wenn die Identität von Lehre durch die Zeiten vorausgesetzt wird.45
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„Non dant [sc. die Widersacher] operam, ut exstet apud populum certa quaedam summa dogmatum Ecclesiasticorum“ (ApolCA XXI, BSELK 579,15f.). In der Konkordienformel wird „Lehre“ in diesen Stellen im Lateinischen mit „dogma“ übersetzt: FC Ep, Summarischer Begriff, Überschrift, BSELK 1216,7/1217,6; FC Ep, Summarischer Begriff, BSELK 1216,10/1217,9 und 1216,26/1217,25 sowie 1218,14f./1219,14f. FC SD, Summarischer Begriff, Überschrift, BSELK 1308,16/1309,16. Im Beschluss der CA heißt es, dass die Augsburger Konfessionsverwandten „verhut haben, damit je kein neu und gotlose lere sich in unsern kirchen heimlich einfluchte, einrissen und uberhant nemen“ (BSELK 223,7–11); „quia manifestum est, nos diligentissime cavisse, ne qua nova et impia dogmata in Ecclesias nostras serperent“ (BSELK 223,4–7). Im Beschluss des 1. Teils in der Apologie ist die Rede von „impiis dogmatibus“ (ApolCA XXI, BSELK 579,22). FC Ep, Summarischer Begriff, BSELK 1218,13–16/1219,13–15 „[…] und bleibt allein die heilige Schrifft der einige Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probirstein sollen und müssen alle Leren erkant und geurteilet werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein.“ – „[…] sola sacra scriptura Iudex, norma et regula agnoscitur, ad quam ceu ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sund et iudicanda, an pia an impia, an vera, an vero falsa sint.“ FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1308,20–23. FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1310,11f.. Die Lehre des Konkordienbuchs ist die „einfeltige, unwandelbare, bestendige warheit“ (FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1318,24f.).
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Aber relativiert sich das Bekenntnis nicht selbst als Ausdruck des Verständnisses der Schrift zu einer bestimmten Zeit? Als Kronzeuge für ein solches Verständnis wird die FC selbst angeführt: „Die andere Symbola aber und angezogene Schrifften sind nicht Richter wie die heilige Schrifft, sondern allein zeugnis und erklerung des glaubens, wie jederzeit die heilige Schrifft in streitigen Artickeln in der Kirchen Gottes von den damals lebenden verstanden und ausgeleget und derselben widerwertige Leer verworffen 46 und verdammet worden.“
Das klingt zunächst so, als ob Bekenntnisse nur aktuale Bekenntnisse sind, ohne dass sie spätere Generationen binden. Wenn das so wäre, wozu dann die Aufnahme früherer Bekenntnisse, es sei denn als Ermutigung zum eigenen Bekennen? Der Sinn dieses Abschnittes der Epitome ist nicht, die Rezeption der altkirchlichen Bekenntnisse als das eigene Bekenntnis wieder zurückzunehmen.47 Die Epitome relativiert die Bekenntnisse, indem sie diese in die rechte Relation zur Heiligen Schrift setzt. Bekenntnisse sind abgeleitet und müssen an der Schrift geprüft werden. Sie entspringen einem historischen Prozess und was sie sagen, spricht zu den Herausforderungen ihrer Zeit.48 Die Epitome relativiert die Bekenntnisse aber nicht in dem Sinne, dass sie einfach zeitbedingte Verstehensweisen der Schrift sind, die spätere Generationen, die sich in einer anderen Situation befinden, nicht mehr binden können. Denn was die Rezeption früher Bekenntnisse möglich macht, ist die Identität dessen, was gesagt wurde, durch die Zeiten mit der Schrift.49 Schon 1873 hat Adolf von Harleß das falsche Verständnis dieser Stelle zurückgewiesen: 46
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FC Ep, Summarischer Begriff, BSELK 1218,17–21. Dieser Abschnitt ist das einzige Zitat aus dem Konkordienbuch in Schrift – Bekenntnis – Kirche. Ergebnisse eines Lehrgesprächs der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Scripture – Confession – Church. Result of Doctrinal Discussion in the Community of Protestant Churches in Europe, hg./ed. Michael Bünker, Leuenberger Texte; Nr. 14, Leipzig 2013, 37f. Er wird auch von Gerhard Ebeling (Gerhard Ebeling, Wort Gottes und kirchliche Lehre, in: Ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Kirche und Konfession 7, Göttingen 1964, 155–174, hier: 165) für sein Bekenntnisverständnis zitiert. FC Ep, Summarischer Begriff, BSELK 1216,20–27: „Und nach dem gleich nach der Apostel zeit, auch noch bey irem leben falsche Lerer und Ketzer eingerissen und wider dieselbige in der ersten Kirchen Symbola, das ist, kurtze, runde Berkentnissen, gestellet, welche vor den einhelligen, allgemeinen christlichen glauben und bekentnus der rechtgläubigen und wahrhafftigen Kirchen gehalten, als nemlich das Symbolum Apostolicum, Symbolum Nicaenum, und Symbolum Athanasii, Bekennen wir uns zu denselben und verwerffen hiermit alle Ketzerein und Leere, so denselben zuwider in die Kirche Gottes eingefürt worden sind.“ So wird die CA als Bekenntnis „besonders wider des Paptsthumbs und dessen falschen Gottesdienst, Abgötterey, Aberglauben und andere Secten, als dieser zeit unserm Symbolo“ rezipiert (FC Ep., Summarischer Begriff, BSELK 1216,30–32). „Wenn demnach die heilige Schrift als ausschliessliche Glaubensregel, als die lauterste Quelle der heilbringenden Wahrheit, alle anderen Schriften aber, einschliesslich die Symbole, nur als historische Zeugnisse von der Wahrheit betrachtet werden sollen, so liegt, abgesehen von allen hier einschlägigen concreten Momenten, in jenem Verhältniss absoluter Bedingtheit an sich in keinem Wege auch nur die logische Consequenz einer durch die Symbole der späteren Zeit zu vollziehen-
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„Aber ihr beruft euch auf unser kirchliches Bekenntniß und sagt, daß es selbst nur ‚Zeugniß und Erklärung des Glaubens der damals Lebenden‘ […] sein wolle. Dies ‚damals‘ gehöre aber einer für uns schon lang vergangenen Zeit an, und jetzt ‚sind wir so sehr fortgeschritten‘. Ich will denen, die also sagen, nicht vorrücken, daß dasselbe Bekenntniß erklärt, es wolle ‚ein öffentliches gewisses Zeugniß nicht allein bei den Jetztlebenden ‚[sic!] sondern auch bei unseren Nachkommen sein was unserer Kirchen einhellige Meinung und Urtheil von den streitigen Artikeln sei und bleiben solle. […] Denn man wird darauf antworten, daß man in letzter Beziehung damals Unmögliches erwartet hat, weil man eben jenen ‚Fortschritt der Zeiten‘ nicht hatte voraussehen können. Dagegen sei mir, einem Kinde der Gegen50 wart, erlaubt, über jenes Rühmen von ‚Fortschritt‘ etwas spöttisch zu lächeln.“
Jede Generation kann und muss frühere Bekenntnisse an der Schrift prüfen. Sie kann es, weil die Schrift klar ist und durch die Zeiten keine „wächserne Nase“ ist, d.h. ihre Bedeutung sich nicht wandelt. Sie muss es, will sie nicht in einen enthusiastischen Traditionalismus verfallen.51 Aus der Schriftgemäßheit des Bekenntnisses folgt aber nicht nur die Möglichkeit der Annahme historischer Bekenntnisse, sondern auch die Pflicht zur Annahme, wenn sie schriftgemäß sind.52
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den Abrogation der früheren. Die Verfasser der Concordienformel, indem sie die kirchlichen Bekenntnisschriften den einzelnen so oder anders bestimmten kirchlichen Zeiten als Erzeugnisse und Zeugnisse des jeweiligen Kirchenkampfes zuweisen, sind doch nicht von ferne der Meinung, als könne, was sie als Schriftwahrheit befunden und bezeugt, zu einer anderen Zeit Andern anders erscheinen: die Concordienformel will für alle Folgezeit ein Zeugniss dafür sein, welches die einstimmige Entscheidung und Willensmeinung unserer Kirche über die streitigen Artikel des Glaubens nicht blos gewesen sei, sonder auf immer bleiben solle.“ (Fr. H. R. Frank, Die Theologie der Concordienformel historisch-dogmatisch entwickelt und beleuchtet, Bd. I: Die Artikel vom summarischen Begriff der Lehre, von der Erbsünde und vom freien Willen, Erlangen 1858, 12). Adolf von Harleß, Vorwort, in: Ernst Sartorius, Über die Notwendigkeit und Verbindlichkeit der 2 kirchlichen Glaubensbekenntnisse, Gotha 1873, V–XXII, hier: XIV. Vgl. auch Sasse, Bekenntnis der Kirche (wie Anm. 1), 25: „Denn die alten Bekenntnisse sind gewiß Zeugnis dessen, wie ‚die Heilige Schrift […] von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt‘ worden ist. Aber sie sind es in einem anderen Sinne als die gleichzeitigen exegetischen und dogmatischen Werke. Denn die ‚damals Lebenden‘ haben bei ihrem Bekenntnis ja nicht nur an die Zeitgenossen gedacht. ‚Vor dem Angesichte Gottes und der ganzen Christenheit bei den Itztlebenden und so nach uns kommen werden‘ haben sie ihren Glauben bekannt und damit auch for uns. In den alten Bekenntnissen reden sie uns heute an und fordern von jedem von uns, daß wir ihre Entscheidungen, daß wir ihre Lehre an der Hl. Schrift prüfen. Diesem Anspruch des Bekenntnisses kann kein Theologe sich entziehen. Täte er es, so hätte er sich schon von der Kirche der Väter losgesagt.“ Enthusiastischer Traditionalismus scheint zunächst ein Oxymoron zu sein. Aber wenn die Kirche Traditionen unkritisch übernimmt, d.h. sie nicht mehr an der Schrift prüft, dann wird implizit der Verlauf der eigenen Tradition als mit dem Willen Gottes und als eine Offenbarungsgeschichte angenommen. Es gibt natürlich als Gegenstück auch einen enthusiastischen Modernismus, in dem das je Neueste als Offenbarung akzeptiert wird. Den Bekenntnissen ist „man derentwegen beyzupflichten schuldig / dieweil sie aus der heiligen Schrifft zusammen gezogen / vnd mit derselben durchaus vberein stimmen: Also doch / das die heilige Schrifft vber dieselbe noch die einige Regel vnd Richtschnur sey und bleibe: Sintemal gemeldte Symbola darumb vnd aus dieser Vrsach gelten / dieweil sie in heiliger Schrifft fundieret / vnd daraus als schöne helle Bechlein deriuiret und zusammen getragen.“ (Apologia oder Christliche Verantwortung des Concordien Buchs, Dresden 1584, 162v). Eine solche Pflicht besteht nicht
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Die Kontinuität der Kirche, die zuerst in Gottes Wirken in Wort und Sakrament, die Glauben schaffen und erhalten, besteht, besteht auch in der Kontinuität und Identität der Lehre. Die Kontinuität der Kirche schließt die Kontinuität der Dogmengeschichte ein, und damit auch einen Konsensus der Kirche, der kontinuierlich ist. Die Dogmengeschichte ist daher eine Explikation des Dogmas, eine Geschichte, die nicht einfach Ideengeschichte, sondern „Geschehen zwischen Gott und den Menschen“ ist.53 „Wir glauben, wie gesagt, weil wir an die innere Einheit des Wortes Gottes glauben, an die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Dogmengeschichte, weil und soweit sie in Abhängigkeit vom Worte Gottes verläuft. Das ist freilich ein reiner Glaubenssatz, der gegen den Augenschein aller Irrungen und Spaltungen geglaubt werden muß.“54 Damit ist die Geschichte des Dogmas nicht seine Kritik, sondern die Geschichte der Explikation des Inhalts des apostolischen Kerygmas in einer fortschreitenden Entwicklung. Auch Sasse versteht das Dogma als durch die Zeiten wahr und verbindlich. Er betonte 1941 die inhaltliche Identität von Bekenntnis, Dogma und Schrift. Dogma ist „der Lehrgehalt des Bekenntnisses“.55 Es gehört zum Wesen des Glaubens, wie ihn der Heilige Geist wirkt, dass er „bekennen muß, und zwar nicht nur im Lobpreis, im begeisterten Hymnus, sondern unter allen Umständen auch in der ganz schlichten, ganz sachlichen dogmatischen Aussage.“56 Gegenüber einem aktualistischen Bekenntnisbegriff, der das Bekenntnis lediglich als Ausdruck der gegenwärtigen Erkenntnis der Kirche sieht, betont Sasse das Bekenntnis als Ausdruck des consensus de doctrina evangelii in seinem synchronen und diachronen Ausdruck. Bekenntnisse sind nicht nur Ausdruck der Generation, die sie formuliert haben, sie haben Gültigkeit durch die Zeiten.57 Diese Auffassung
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absolut in der formalen Annahme der Bekenntnisse, sondern absolut nur in der Annahme dessen, was sie lehren. Man kann „Lutheraner wohl […] ohne, nicht aber gegen die Konkordienformel“ sein. (Martin Wittenberg, Rückblick auf einen Weg zum lutherischen Bekenntnis, Lutherische Blätter 32 (1980), Nr. 120, 115–125, hier: 124. Vgl. auch Hermann Sasse, Über die Einheit der lutherischen Kirche, in: Ders., In statu confessionis II, Berlin/Schleswig-Holstein 1976, 244–258, hier: 245. Werner Elert, Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, in: Ders., Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, Berlin 1957, 330. A.a.O., 333. Sasse, Bekenntnis der Kirche (wie Anm. 1), 18. Ebd. Vgl. auch Hermann Sasse, An die Kirchliche Sammlung, Stelten 1971, 10: „Wo die heilige Schrift wieder als das lebendige und kräftige Wort Gottes verstanden wird, da fordert sie eine Antwort. Man kann das Evangelium nicht hören, ohne die Frage des Herrn zu vernehmen: ‚Wer sagt ihr, daß ich sei.‘ Das Dogma ist nicht eine Erfindung der Theologen. Es ist bezeichnend, daß der Herr die Frage nicht an den einzelnen richtet, sondern an den Jüngerkreis, an die werdende Kirche […] Wie der Glaube eine Gabe des Heiligen Geistes ist, so ist es auch das Bekenntnis. Es ist immer zugleich das Bekenntnis der Kirche (‚Wir haben geglaubt und erkannt, daß du der Heilige Gottes bist‘ Joh. 6, 69) und des einzelnen Gläubigen (‚Mein Herr und mein Gott‘, Joh. 20,28).“ „Damit aber hören Bekenntnisse wie das Nicaenum und die Augustana auf, Bekenntnisse einer einzelnen Generation zu sein. In Wirklichkeit hat sich denn auch keines der großen Bekenntnisse außerhalb der reformierten Kirche so verstanden. Keines von ihnen hat nur lokal, vorläufig, bis auf weiteres gelten wollen. Sie alle haben vielmehr den großen Konsensus zum Ausdruck bringen wol-
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des Bekenntnisses und damit des Dogmas erhebt nicht menschliche Meinungen in den Rang der Schriftaussage. Es muss möglich sein zu sagen, was die Schrift sagt, andernfalls ist die Bindung an die Schrift inhaltsleer.58 Gegen ein relativistisches Verständnis des Bekenntnisses setzt Sasse die „certitudo des echten Glaubens, der weiß, was Gottes Wort ist und was es sagt.“59 Die Frage, ob Dogma als bleibende und verbindliche Lehre und das kirchliche Bekenntnis als bleibende und verbindliche Lehre möglich sind, ist damit die Frage, ob das, was die Schrift sagt, bleibend und verbindlich gesagt werden kann. Elert und Sasse bejahen dies emphatisch als die lutherische Position. Die Einheit der Kirche durch die Zeiten manifestiert sich in der Einheit und Identität ihrer Verkündigung. Diese Identität ist nicht nur im Akt der Verkündigung, sondern im Inhalt der Verkündigung, und dieser Inhalt kann und muss aussagbar sein. Die geschichtlich entstandenen Dogmen unterliegen der Prüfung durch die Schrift. Die lutherische Kirche hat die altkirchlichen Dogmen nicht aus Traditionalismus übernommen, sondern weil sie sie an der Schrift geprüft hat und geurteilt hat, dass sie 60 schriftgemäß sind. Aber dann hat die lutherische Kirche auch tatsächlich diese Dogmen als Dogmen rezipiert, wie auch die gegenwärtige lutherische Kirche die Bekenntnisschriften als wahre Auslegung der Schrift rezipiert. Weil aber die lutherische Kirche Dogmen hat und die Bekenntnisse die articuli fidei lehren, ist es nicht genug zu sagen: „Insofern sind die Bekenntnisse Lehrbekenntnisse – nicht in dem Sinne, dass darin Lehren aufbewahrt sind, sondern in dem Sinne, dass sie lehren, anleiten zu einem Verständnis der Schrift, den Schlüs-
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len, der die rechtgläubige Kirche aller Orte und aller Zeiten verbindet.“ Sasse, Bekenntnis der Kirche (wie Anm. 1), 22. „Denn wenn ich nicht mehr zu sagen vermag, ob ein Satz des Bekenntnisses schriftgemäß ist oder nicht, wenn ich allenfalls sagen kann: Heute scheint es mir so, darum lasse ihn in vorläufig gelten, dann richtet mein Zweifel sich ja im Grunde nicht gegen das Bekenntnis, sondern gegen die Schrift.“ (A.a.O., 23). A.a.O., 24. „Meinen die bekannten Einheitsformeln (Joh. 17,21; Eph 4,4f.) nur Gemeinschaft von Zeitgenossen oder Gemeinschaft mit den Heiligen aller Zeiten? Viele Sprecher der ökumenischen Bewegung und Anwälte einer deutschen Unionskirche denken immer nur an die erste. Wird ihnen die Lehre der Väter, d.h. älterer Kirchenlehrer entgegengehalten, so erheben sie gewöhnlich den Vorwurf, das sei Romantik oder, noch schlimmer, römischer Traditionalismus. Die lutherischen Bekenntnisse dagegen sind voller Väter-Zitate. Das ist weder Romantik noch Kapitulation vor dem römisch-autoritären Verständnis der Tradition, das ja gerade bekämpft wurde, sondern das von Luther selbst wie von der Kirche der Augsburgischen Konfession immer vertretene Bekenntnis zu der Gemeinde der Heiligen aller Zeiten. Herstellung einer Augenblicks-Einheit, die möglich ist, weil gerade gewisse Lehrfragen nicht aktuell sind, können wir nicht als Erfüllung der neutestamentlichen Einheitsformeln ansehen, jedenfalls dann nicht, wenn sie uns gleichzeitig nötigen, mit der bekennenden Kirche von Nicäa, von Augsburg oder von Schmalkalden zu brechen.“ (Werner Elert, Gutachten Elerts über die Stellungnahme des Evang. Oberkirchenrats in Stuttgart vom 10.7.1946 zu dem Verfassungsentwurf der Vereinigten Evang.-lutherischen Kirche Deutschlands, Erlangen 28. Juli 1946, in: Die Protokolle des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands 1945–1948, bearbeitet von Thomas Martin Schneider, AKZ, Reihe A, Bd. 15, Göttingen 2009, 140–152, hier: 149–150).
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sel bieten, durch den die Schrift ein einheitliches Gesicht und einen einheitlichen Sinn gewinnen.“61 Die Bekenntnisschriften sind in der Tat eine Anleitung zum rechten Lesen der Schrift, aber indem sie sagen, was die Schrift, recht verstanden, sagt, sind ihnen auch Lehren artikuliert, die gelehrt sein wollen. Lehre, Bekenntnis und Dogma sind zwar nicht identisch, ihnen ist aber gemeinsam, dass sie in assertorischer Form von Gott und seinen Taten sprechen. Dabei sind wenigstens vier verschiedene Ebenen dieses Sprechens zu unterscheiden. Die erste ist der konkrete Vollzug der Lehre. „Der Ort der Entfaltung der Lehre im Leben der Kirche ist zunächst die Unterweisung der Katechumenen und ihre Vorbereitung zur Ablegung des Bekenntnisses und zum Empfang von Taufe und Abendmahl. Das Lehren geschah in dieser Gestalt im engsten Zusammenhang mit Zuspruch und Mahnung, mit dem Ruf zur Buße, zum Bekennen, zur Taufe, ja es ging immer wieder in die Struktur der bezeugenden Anrede über (vgl. z.B. den erwecklichen Charakter der Katechesen des 62 Cyrill von Jerusalem).“
Auf dieser Ebene ist zweitens Dogma und das Bekenntnis der Inhalt der Lehre. Dies ist das Dogma im lutherischen Sinn. Die dritte Weise ist das Verständnis von Lehre, Bekenntnis und Dogma als Anleitung, wie zu Lehren ist, oder, in der Terminologie George Lindbecks, Lehre als Grammatik des Glaubens, der christlichen Sprache.63 Viertens wird Lehre zur Dogmatik, d.h. zur Reflexion über das, was gelehrt wird. Kirchliche Lehre wird kritisch von der Schrift her im Gespräch mit der Gegenwart unter Einbeziehung der Dogmen- und Theologiegeschichte bedacht und dargestellt.64 George Lindbeck versuchte, mit seinem Verständnis von Lehre als Grammatik die Schwierigkeiten eines Verständnisses von Lehre als metaphysische Satzwahrheit oder als sprachlicher Ausdruck religiöser Erfahrung zu umgehen, um so einerseits den Wandel von Lehre auf der ersten Ebene bei Identität auf einer höheren Ebene zu verstehen, andererseits der Gefahr einer Auflösung des spezifisch Christlichen in das allgemein Religiöse zu vermeiden. Lindbeck hat sicherlich recht, die normierende Funktion von Lehre, Dogma und Bekenntnis auf dieser Metaebene zu betonen. Gleichzeitig sieht er auch, dass gewisse Lehren, Dogmen und Bekenntnisaussagen 65 auch auf der ersten Ebene anzusiedeln sind. Das bedeutet aber, dass das von ihm abgelehnte Verständnis von Lehre als Satzwahrheit seinen Platz in der Kirche hat. Ein klassisches Beispiel für Lehre in dieser doppelten Bedeutung und Funktion ist der erste Artikel der CA. Wenn es dort heißt, „das ein einig Göttlich wesen sey, welchs 61 62 63
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Slenczka, Bedeutung (wie Anm. 25), 21. Schlink, Struktur (wie Anm. 18), 40. George Lindbeck unterscheidet drei Definitionen von Lehre: Lehre als Regelsystem, das zu einem kulturell-linguistischen Religionsverständnis gehört, Lehre als Mitteilungssätze, und Lehre als Reflexion religiöser Erfahrung. (George A. Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, TB 90, München 1994, 34–39). Schlink, Struktur (wie Anm. 18), 41. Lindbeck, Christliche Lehre (wie Anm. 63), 107. Allerdings sind diese Sätze für Lindbeck nur dann wahr, wenn sie im Kontext christlichen Lebens gebraucht werden.
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genent wird und wahrhafftiglich ist Gott, und sind doch drey personen inn dem selbigen einigen Göttlichen wesen“, dann geht es hier nicht nur darum, Regeln für die christliche Sprache aufzustellen, sondern es wird auch eine Seinsaussage gemacht.66 In Lehre, Bekenntnis und Dogma geht es nicht nur um Sprachregelung, sondern darum, was ist.67 Wenn die Apologie sagt, dass Gott Christus gesetzt hat, so dass er der Mittler ist, um dessentwillen er den Menschen gnädig ist, nicht um der den Menschen eigenen Gerechtigkeit willen, dann ist das eine Anweisung, wie recht über Christus zu reden ist, aber es ist eben auch eine Aussage darüber, wer Christus ist und was des Menschen eigene Gerechtigkeit ist.68 Eine Reduktion von Lehre zu einer Grammatik der christlichen Sprache ist nicht im Sinne der Bekenntnisschriften. Das heißt aber, dass Lehre auch eine Sammlung von Sätzen der christlichen Sprache ist, die jede Generation aufnimmt, weil sie für Christen unverzichtbar sind. Sie sind unverzichtbar, weil sie biblisch sind und die Sprache der Bibel die Sprache der Christen ist. Damit geht der Anspruch einher, dass diese Sätze sagen, was der Fall ist, d.h. wenn sie sich auf Gott und den Menschen beziehen, die Wahrheit sagen. Dies ist möglich, weil die Schrift selbst lehrhaft ist.69 Die Offenbarung schließt somit auch Lehre ein. Der Anspruch der Bekenntnisschriften ist, dass ihre Lehre aus der Schrift genommen ist, nicht, dass Lehre etwas der Schrift gegenüber Neues ist. Damit wird einerseits die Überordnung der Schrift klar ausgesagt, andererseits besteht aber auch eine Identität von Schrift und Lehre, Bekenntnis und Dogma. „Hierumb E. Kei. Ma. zu underthenigstem gehorsam uberreichen und ubergeben wir unser Pfarner, Prediger und ihrer leren, auch unsers glaubens bekentnus, was und welcher gestalt sie aus grunde Göttlicher heiliger schrifft in unsern Landen, 70 Fürstenthumen, Herrschafften, Stetten und gebieten predigen, leren und halten.“
Die Schrift allein ist die „einige wahrhafftige Richtschnur […] nach der alle Lerer und Lere zu richten und zu urteilen“ ist.71 Die wahre christliche Lehre ist „im reinen, gesunden verstande aus Gottes Wort in kurzze Artickel oder Hauptstück wider der Ketzer verfelschung zusammen gezogen“.72 Die Bekenntnisschriften haben Lehrautorität, „weil sie aus Gottes Wort genomen“ sind.73 Die Autorität des Bekenntnisses ist damit in der Schrift begründet und partizipiert in der Autorität der Schrift, weil sie 66 67
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CA I, BSELK 92,26–94,1. Vgl. die Kritik von Alister McGrath (An Evangelical Evaluation of Postliberalism, in: The Nature of Confession. Evangelicals and Post Liberals in Conversation, Downers Grove 1996 23–44, hier: 38): „Doctrine, like the kerygma, is not something that is just there, demanding that we take it or leave it. Rather, it is something that purports to represent accurately the significance of a historical event, and is open to challenge regarding its adequacy as an interpretation of that event.“ ApolCA XV, BSELK 522,28–30. Eeva Martikainen hat in ihrer Studie „Doctrina. Studien zu Luthers Begriff der Lehre“, SLAG 26, Helsinki 1992, nachgewiesen, dass dies auch das Verständnis Luthers war. Vorrede zum Augsburger Bekenntnis, BSELK 88,13–17. FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1310,8f. FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1310,10–12). FC SD, Summarischer Begriff, BSELK 1314,18.
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eine korrekte Auslegung der Schrift sind. Sie sagen das, was die Schrift sagt, in der Situation der kirchlichen Auseinandersetzung, in der das Schriftzeugnis umstritten ist. Das Bekenntnis artikuliert rein „die Göttliche warheit“74. Aus dieser Übereinstimmung zwischen Bekenntnis und Gottes Wort kommt die subjektive Gewissheit des Bekenntnisses.75 Aus dieser Übereinstimmung kommt auch der Anspruch des Bekenntnisses, die Kirche und ihre Glieder zu binden.76 Das gleiche gilt auch für das Dogma: es ist verbindlich, weil es sagt, was die Schrift sagt.77 Der Anspruch des Bekenntnisses, schriftgemäß zu sein, bedeutet, dass diese Übereinstimmung aufgezeigt werden muss. Sie ist nicht durch ein unfehlbares Lehramt noch durch einen unfehlbaren göttlich inspirierten historischen Prozess verbürgt. Was aber, wenn die gegenwärtige Kirche (oder der einzelne Christ) zu dem Ergebnis kommt, dass das Bekenntnis nicht schriftgemäß ist? Dann muss das ehrlicherweise festgestellt werden und die Anerkennung des Bekenntnisses durch die Kirche oder des Einzelnen revidiert werden. Im außerlutherischen Bereich ist dies etwa in den Schweizer Landeskirchen geschehen, in denen die Bekenntnisbindung im 19. Jahrhundert aufgehoben wurde, in Deutschland in der Bremer Evangelischen Kirche. Oder aber das Bekenntnis wird umgedeutet und die Bekenntnisverpflichtung auf einen Kern beschränkt. Für Ulrich Kühn ist die Lehre der Bekenntnisschriften nicht aus der Schrift geschöpft, sondern es besteht eine „Spannung“, nicht nur in Nebendingen, sondern in der Rechtfertigungslehre und in der Abend78 mahlslehre. Das bedeutet, dass das Bekenntnis im Lichte der Schrift einer „Relecture“ unterzogen wird und so eine „Relativierung der konfessionellen Positionen im Lichte des Schriftzeugnisses“ eintritt, weil „in ihnen bereits eine situationsbedingte Weiterentwicklung biblischer Lehre zu erkennen ist, die ihrerseits zu relativieren
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Vorrede zum Konkordienbuch, BSELK 14,26. „Wann dann dem also und wir unsers Christlichen Bekantnüs und Glaubens aus Göttlicher, Prophetischer und Apostolischer schrifft gewiss und dessen durch die gnade des heiligen Geistes in unsern hertzen und Christlichen Gewissen genugsam versicht sein […]“ (Vorrede zum Konkordienbuch, BSELK 24,35–38). Elert betont zwar, dass die Bekenntnisse die Lehre normieren und nicht den Glauben, aber da sie den Inhalt des Glaubens artikulieren, erheben sie auch den Anspruch, rechten vom falschen Glauben zu unterscheiden. Vgl. die Diskussion bei Urban. Sasse, An die kirchliche Sammlung (wie Anm. 56), 10: „Das Dogma ist nicht eine Erfindung der Theologen. Es hat seinen Grund im Evangelium selbst.“ „Wie gehen wir damit um, daß sie [die lutherische Rechtfertigungslehre] in unverkennbarer Spannung zu derjenigen des Paulus steht. Auch die theologische Konzeption etwa des Matthäusevangeliums (zu schweigen vom Jakobusbrief) ist ebenfalls nur mit Mühe in die lutherische Lehre einzubringen. Auch an die lutherische Abendmahlslehre sind von der Heiligen Schrift her Fragen gerichtet worden. Der sog. Apostolicumsstreit hat die Problematik der Nennung der Jungfrauengeburt auf einer Linie mit Kreuz und Auferstehung aufgeworfen, was so ebenfalls dem biblischen Zeugnis nicht entspricht.“ (Ulrich Kühn, Welche Bedeutung hat das lutherische Bekenntnis heute?, in: Gebundene Freiheit? Bekenntnistradition und theologische Lehre im Luthertum, hg. von Peter Gemeinhardt, Bernd Oberdorfer, Die Lutherische Kirche Geschichte und Gestalten 25, Gütersloh 2008, 122–140, hier: 132.
Lehre, Dogma, Bekenntnis
427
wäre“.79 Bindung an das Bekenntnis darf daher nicht einfach die Wiederholung der Positionen des 16. Jahrhunderts sein, weil es einen fortdauerenden Prozess des neuen Bekenntnisses und der neuen Lehre gibt.80 Die Bekenntnisse können aber noch eine gewisse Orientierung geben „hinsichtlich ihrer Konzentration auf die Glaubensgewißheit und die Tröstung des einzelnen wie vor allem hinsichtlich ihrer ekklesialen Gestalt, ihres Gottesdienstes, insbesondere der Stellung und Feier des Altarsakramentes, ihres Kirchenraums.“81 Gegen eine solche reduzierte Sicht der Wahrheit und Funktion der Bekenntnisschriften in der Kirche, die ihre amerikanischen Parallelen im „American Lutheranism“ des Samuel S. Schmucker hat, hält ein konfessionell lutherisches Verständnis der Bekenntnisschriften an ihrer Schriftgemäßheit fest, nicht aus Traditionalismus, sondern weil es aus der Schrift von der Wahrheit der Lehre der Bekenntnisschriften überzeugt ist.82 Schriftgemäße Lehre, Bekenntnis und Dogma bringen zur Sprache, was die Heilige Schrift sagt. Was zentral für die Schrift ist, ist auch der Hauptartikel des Bekenntnisses: „Das Jhesus Christus, unser Gott und Herr, sei ‚umb unser Sunde willen gestorben und umb unser Gerechtigkeit willen aufferstanden‘ Ro. 4., Und er allein ‚das Lamb Gottes‘ ist, das ‚der welt sunde tregt,‘ Jo.i., Und Gott unser aller sunde auff ihn gelegt hat, Isa. 53., Item: Sie sind allzumal Sünder und werden on verdienst gerecht 83 aus seiner Gnade durch die Erlösung Jhesu Christi inn seinem blut‘ etc., Ro. 3.“
Lehre, Bekenntnis und Dogma dienen der rechten Erkenntnis dieses Christus durch die rechte Praxis der Kirche, indem sie dazu beiträgt, dass das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. „Als Summa der kirchlichen Lehre stehen die Bekenntnisschriften einerseits mit aller Lehre der Kirche zusammen in einem Haufen unter dem Richter, der Heiligen Schrift. Andererseits stehen sie dort als ‚Fürbild der Lehre‘ (SD, Summ. Begriff, 10) einen Schritt vor den Reihen aller sonstigen Lehre und Predigt. Sie sind als Lehre der 84 Kirche Vorbild für alle Lehre und Predigt der einzelnen Glieder der Kirche.“
Vorbehalte gegen rechte Lehre, schriftgemäßes Bekenntnis und kirchliches Dogma verschwinden, wo Christus recht erkannt wird. Denn letztlich sind Lehre, Bekenntnis, und die Entstehung des Dogmas und deren Rezeption in der Kirche und bei dem einzelnen Christen nicht nur ein intellektuelles, sondern vor allem ein geistliches Geschehen. 79 80
81 82 83 84
A.a.O., 137. A.a.O., 139. „Gerade die lutherische Lehre von der Rechtfertigung bedarf einer weiterführenden Interpretation im Lichte der Heiligen Schrift, des ökumenischen Dialogs und der gegenwärtigen Glaubens- und Lebenserfahrung.“ Ebd. Zu Schmucker vgl. Charles P. Arand, Testing the Boundaries to Lutheran Identity, St. Louis 2012, 13–33. AS II,1,1–3 (BSELK 725,26–31). 2 Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 1946, 55.
Die einigende Mitte – praktisch-theologische Perspektiven
„Was macht das mit dir?“
1
Werner Klän als „Praktischer Theologe“ Christoph Barnbrock 1.
Praktische Theologie als „einigende Mitte“ der Theologie
Die Theologie als Wissenschaft hat in Deutschland Teil an der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaftslandschaft. Was früher ein Fachgebiet war, stellt sich dem Forscher und den Studierenden heute als ein schier unüberschaubarer Flickenteppich von Spezialgebieten dar. Schon in ein und demselben Fach müssen integrierende Perspektiven bisweilen mühsam gesucht werden. Umso mehr gilt dies für die Theologie als Ganzes mit ihren exegetischen, historischen, systematischen und auf die Praxis bezogenen Zugängen. Das jeweilige Forschungsniveau ist hoch, die Verbindung der verschiedenen Perspektiven aber und die Vermittlung der fachlichen Erkenntnisse in die kirchliche Praxis hinein bleibt oftmals ein Desiderat. Christian Grethlein beschreibt die Lage so: „Traditionell stellt die Theologie das Wissen bereit, das für die Ausübung des Pfarrberufs spezifisch und notwendig ist. Allerdings weisen seit längerem kritische Stimmen darauf hin, dass Theologie diese Aufgabe nur unzureichend erfüllt. Die nach reformatorischer Einsicht für Theologie unverzichtbare Vermittlungsaufgabe ist nämlich aus der ‚reinen‘ Fachwissenschaft ausgegliedert worden. […] Die stark historische Ausrichtung sowie ein allgemeines, normenkritisches Paradigma sind die entscheiden2 den Impulse für diese Fehlentwicklung wissenschaftlicher Theologie.“
Werner Klän hat als Professor an einer dezidiert kirchlichen Ausbildungsstätte, der Lutherischen Theologischen Hochschule (LThH) in Oberursel, immer wieder die hier geforderten Brückenschläge im Sinne einer „Vermittlungsaufgabe“ unternommen. In einem eher versteckten, leicht zu übersehenden und deswegen hier etwas umfänglicher zitierten Beitrag, in dem er mit seinem Kollegen Achim Behrens (Professor für Altes Testament an der LThH) ins Gespräch eintritt, beschreibt Klän im Anschluss an Oswald Bayer sein Verständnis der Zuordnung der theologischen Fachgebiete untereinander und auf die kirchliche Praxis hin: 1
2
Die Frage aus dem Titel gehört zu einer Trias von Fragen, die er einem Vorschlag von Notger Slenczka entnommen hat und mit denen er seine Katechismusmeditation strukturiert (vgl. Werner Klän, „Der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will“. Eine Katechismus-Meditation – mit Bildern von Regina Piesbergen, OUH 46, Oberursel 2006, 11). Christian Grethlein, Pfarrer – ein theologischer Beruf!, Frankfurt am Main 2009, 131.
432
Christoph Barnbrock
„Von Martin Luther wäre eine ‚theologische Wissenschaft‘ zu lernen, die Theologie ist ‚durch ihre Beziehung auf jene elementaren Sprachhandlungen, in denen Gesetz und Evangelium konkret – verpflichtend und befreiend – wirken; diese Beziehung wird in dem Bekenntnis wahrgenommen, von ihnen schlechthin abhängig zu sein, und in dem Willen, in ihnen tätig zu werden.‘ Diese an Martin Luther geschulte Theologie ist aber gottesdienstlich verankert, indem Christus hier sein Heilswerk austeilt, so dass wir Empfangende sind – in ‚Nachtmahl, Tauf und Wort‘. Insofern ‚kommt ‚Theologie‘ vom Gottesdienst her und geht auf ihn hin‘. Sie ist ‚Teilmoment des hörenden Glaubens‘, der in der Einheit von oratio, meditatio und tentatio, ‚geregelt‘ ist. Gleichwohl ist ein kritisches Wechselverhältnis von Theologie – also auch Exegese – und Kirche zu befürworten, in dem die Theologie fachkundig die biblische Grundlegung im Horizont der Kirchen- [sic] und dogmengeschichtlichen Entscheidung der zurückliegenden Jahrhunderte und einer rechenschaftsfähigen Gegenwartsverantwortung allen kirchlichen Entscheidungen gegenüberstellt, andererseits die Kirche der Theologie die Frage nach der Förderlichkeit ihrer Einsichten für Gottesdienst, Verkündigung, Seelsorge in dieser Zeit und Welt nicht 3 erspart.“
So gesehen ließe sich die Praktische Theologie tatsächlich in Schleiermacherscher Diktion als „Krone des theologischen Studiums“4, also als Krone eines Baumes, verstehen, oder aber als Scharnier zwischen wissenschaftlicher Theologie und nicht zuletzt kirchlicher Praxis, dabei ganz wissenschaftliche Theologie und eben doch in Wahrnehmung, Reflexion und Vermittlung unmittelbar auf diese Praxis bezogen. So gesehen ließe sich die Praktische Theologie als „einigende Mitte“ der Theologie und des gesamten Feldes von wissenschaftlicher Theologie und kirchlicher Praxis verstehen. Vor diesem Hintergrund möchte ich an dieser Stelle danach fragen, wie Werner Klän auch als „Praktischer Theologe“ gewirkt hat und wirkt, also als einer, der die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Fachbereiche auf die Praxis bezogen hat und „nach der Förderlichkeit ihrer Einsichten für Gottesdienst, Verkündigung, Seelsorge“ gefragt hat.
3
4
Werner Klän, Nachwort, in: Achim Behrens, Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015, 315–321 (Zitate aus: Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, ²2004, 498 bzw. 403). Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesung entworfen, Berlin 1811, zit. n. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd. 6, Berlin/New York 1998, 245–315, hier: § 31 (253).
„Was macht das mit dir?“
2.
433
Werner Klän als Praktischer Theologe
2.1
Predigt
Werner Kläns Biographie ist unübersehbar von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit geprägt. Forschung und Lehre standen und stehen an einer wichtigen Stelle in der Prioritätenliste seines Lebens. Trotzdem hat er nie vergessen, welche Aufgaben ihm bei seiner Ordination übertragen worden sind. So sind ihm Gottesdienst und Predigt bis heute Herzensanliegen. Das gilt nicht zuletzt für die täglichen Hochschulgottesdienste und -andachten während der Vorlesungszeit an der LThH, aber auch für die Mitwirkung in Gottesdiensten der St. Johannes-Gemeinde vor Ort und für sein Engagement im Kirchenbezirk Hessen-Süd der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche (SELK), in dem er insbesondere in Vakanz-, Urlaubs- und Krankheitszeiten immer wieder Gottesdienste übernommen hat. Nicht zu übersehen ist auch die Predigttätigkeit in Pretoria, wo er an der University of Pretoria eine außerplanmäßige Professur innehat und am Lutheran Theological Seminary (LTS) lehrt. In der dortigen Hochschulgemeinde und der (zu einem guten Teil deutschsprachigen) Gemeinde der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika (FELSISA) wird Klän immer wieder auch als Prediger um seinen Einsatz gebeten. 2.1.1
Predigt von Gesetz und Evangelium
So überrascht es nicht, dass Klän sich auch grundsätzlich mit der Aufgabe der Predigt beschäftigt. In seinem Aufsatz „Herausforderungen für die kirchliche Ver5 kündigung in einer nach-christlichen Welt“ buchstabiert er durch, was die lutherische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für die heutige kirchliche Verkündigung bedeutet und was dabei zu bedenken ist. Das menschliche Autonomie- und Freiheitsstreben identifiziert er dabei mit dem Grundproblem des Menschen: „Indem der moderne Mensch unserer Tage seine Freiheit zu behaupten sucht, hat er sie bereits verloren und ist der gefährlichsten aller Lebenslügen erlegen.“6 Diese zeige sich „im Kern immer als der Wahn, sein Leben selbst meistern und erneuern zu können – ohne Gott“7. Symptome dafür macht er exemplarisch in der „Suchtstruktur unserer Gesellschaft“8 aus:
5
6 7 8
Werner Klän, Herausforderungen für die kirchliche Verkündigung in einer nach-christlichen Welt. Eine Betrachtung über die Bedeutung der Ansage von Gesetz und Evangelium in unserer Zeit und Welt, in: Ders., Jeffrey Silcock, Das Maß der Freiheit. Betrachtungen über die Bedeutung der Ansage von Gesetz und Evangelium für kirchliche Verkündigung und christliches Leben in einer nach-christlichen Welt, OUH 47, Oberursel 2007, 11–28. Klän, Herausforderungen (wie Anm. 5), 16. Ebd. A.a.O., 22.
434
Christoph Barnbrock
„Eigensucht, Habsucht, Ehrsucht, Geltungssucht, Gefallsucht, Gewinnsucht – gefolgt von einer großen Zahl stofflicher Süchte wie Ess-, Alkohol-, Rauschmittelsucht, und nichtstofflicher Süchte wie Sexsucht, oder – scheinbar ehrenwert – Arbeitssucht. Sie alle sind tiefgreifende Indizien für eine tiefliegende Krankheit unserer Zeit und Welt, die sich selbst nicht helfen können, um mit sich selbst und 9 Gott ins Reine zu kommen.“
Folgerichtig sieht Klän einen Auftrag der Kirche „darin, die bittere Wahrheit anzusagen, die gleichwohl heilsamer ist als die süßeste Lüge: Dass der – jeder – Mensch nicht in der Lage ist, sich aus der ausweglosen Lage, in die er sich selbst gebracht hat, selbst zu befreien […], sondern angewiesen ist und bleibt darauf, dass Hilfe anderswoher kommt.“10 Diese Gesetzespredigt, die die Aussichtslosigkeit menschlichen Erlösungsstrebens aufdeckt, hat aber, darauf weist Klän mit Nachdruck hin, keinen Eigenwert. Sondern alles ist auf den „Fluchtpunkt des Evangeliums“11 ausgerichtet. Entsprechend vermeidet er es auch, in der Beschreibung der beiden Redeweisen Gottes als Gesetz und Evangelium von einer „Dialektik“ zu sprechen.12 Vielmehr macht er „ein eindeutiges Gefälle von der ‚Predig(t) des Gesetzes‘ hin zur ‚Predigt des heiligen Evangelii‘“13 aus. Grundlegend betont er die „seelsorgliche Dimension lutherischer Theologie und Verkündigung“14, sodass in jedem Fall „noch viel deutlicher davon [zu] reden [ist], dass Gott selbst sich auf den Weg gemacht hat, in seinem Sohn Jesus Christus, um diesem Übel [der Übertretung und Auflehnung gegen den guten göttlichen Willen, CB] abzuhelfen.“15 Konkret bedeutet dies für die Verkündigung der Kirche und das Zeugnis der einzelnen Christen, mutig anzusagen, was ihnen aufgetragen ist: „Sie werden das ungescheut tun, ohne falsche Rücksicht auf Macht, Reichtum, Bedeutung, Einfluss von Menschen, nicht kriechen vor den Mächtigen, nicht buckeln vor den Verantwortungsträgern in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft – ich sage dies, weil die Geschichte der Kirche auch eine Geschichte des Versagens vor dieser Verantwortung ist, wie die Bündnisse von Thron und Altar, Christentum und Macht, Kirche und Diktatur nur allzu deutlich belegen. Und sie werden, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden wollen, nicht kuschen vor den Mehrheitstrends und 16 dem ‚mainstream‘ der öffentlichen und veröffentlichten Meinung.“
9 10 11 12 13 14 15 16
Ebd. A.a.O., 18f. A.a.O., 13. Vgl. Werner Klän, Gesetz – Evangelium – Freiheit. Eine Blütenlese aus dem Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche, in: Ders., Silcock, Maß (wie Anm. 5), 43–62, hier: 51, Anm. 22. Klän, Gesetz (wie Anm. 12), 50. Klän, Herausforderungen (wie Anm. 5), 13. A.a.O., 28. A.a.O., 19.
„Was macht das mit dir?“
435
Solch mutiges Zeugnis ist für Klän dabei immer zusammenzudenken und zusammenzuhalten mit einer selbstkritischen Einstellung der Kirche zu sich selbst. Nur wenn das eigene Versagen nicht ausgeblendet wird, kann Kirche auch authentisch über das Versagen anderswo sprechen: „Sie [sc. die Kirche] wird also selbst immer gefragt sein, inwieweit sie selbst und ihre Glieder den göttlichen Maßstäben entsprechen, von denen sie zu sprechen hat. Und sie wird, sowohl für ihre einzelnen Glieder wie für sich selbst als Gesamtgröße, das Versagen vor und manches Vergehen gegen die göttlichen Maßstäbe eingestehen und bekennen müssen. Eben das aber wird ihre Glaubwürdigkeit nicht beeinträchtigen, sondern stärken, wenn sie nicht aus der Haltung der Selbstüberhebung, sondern in der ihr zukommenden Demut redet, die im Wissen um das eigene Scheitern am 17 göttlichen Maßstab geprägt ist, wenn sie also gewissenhaft spricht.“
All dies geschieht „immer mit dem Ziel, Menschen zurückzurufen in die Gemeinschaft, die Gott mit sich selbst gewährt, und damit in die Freiheit, die Gott schenkt“18. Solche Verkündigung sieht sich nach Klän sowohl vor eine große Herausforderung als auch unter eine nicht minder große Verheißung gestellt. Gottes Wort ist als Ausrichtung des Gesetzes und des Evangeliums in einer je besonderen Zeit und in einem bestimmten Kontext zu predigen. Dies fordert Übersetzungsleistungen, um das Wort als Botschaft, die dem Einzelnen gilt, erkennbar werden zu lassen. Gleichzeitig ist die Verkündigung mit der Zusage Gottes verbunden, durch sie Leben zu schaffen und ewiges Leben zu eröffnen: „Dabei werden die Zeugen nicht vergessen, dass die Verheißung des Herrn der Kirche ihnen als der ‚kleinen Herde‘ (Lk 12,32) gilt. Das wird sie aber nicht hindern, die großen Taten Gottes unter den Völkern der Erde zu verkündigen. Denn das Evangelium will angesagt und auf den Kopf zu gesagt, also adressatengerecht zugesprochen sein. In seiner neuschöpferischen Kraft ist es bis heute lebensspendende Ansage und Zusage zugleich, die ihre Tiefe in endzeitlicher Perspektive und 19 eschatologischer Verantwortung gewinnt.“
Wie nun lässt sich vor diesem Hintergrund Kläns eigene Predigtpraxis beschreiben? 2.1.2
Predigtpraxis
Werner Klän hat bislang seine Predigten nicht in Predigtbänden oder ähnlichen Formaten veröffentlicht. Entsprechend schwierig gestaltet sich der Zugriff auf eine auswertbare Textgrundlage. Im Internet sind allerdings etliche Predigten aus seiner Hand zu finden, die sich vor allem seiner Mitarbeit bei den „Göttinger Predigten im Internet“ (bis 2010) und bei predigten.evangelisch.de (bzw. online-predigten.de | ab 17 18 19
A.a.O., 28. Ebd. Werner Klän, Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt. Anstöße für ein konkordienlutherisches Gespräch über Lesarten der Heiligen Schrift, LuThK 40 (2016), 46–80, hier: 79f.
436
Christoph Barnbrock
2011) verdanken.20 Neben diesen Predigten finden sich auch Predigten und Beichtansprachen an anderer Stelle, z.B. auf der Homepage des Ökumenischen Predigtpreises, im Blog des damaligen Rektors des LTS in Tshwane (Pretoria), Wilhelm Weber, jun., und als Audiodatei auf der Homepage der St. Johannes-Gemeinde Oberursel.21 Nun können im Internet als Predigthilfen veröffentlichte Predigten durchaus ein Genus eigener Art darstellen, allerdings weiß ich, dass Werner Klän diese Predigten bisweilen auch in Gottesdiensten selbst gehalten hat. Als jemand, der ihn inzwischen seit rund 25 Jahren als Prediger erlebt hat, meine ich zudem behaupten zu können, dass 20
21
Dass seine Predigten durchaus auch von anderen Predigerinnen und Predigern rezipiert worden sind, lässt sich z.B. auch an dieser Predigt aus der evangelisch-methodistischen Kirche erkennen: http://www.sachsenblick.de/fileadmin/img/sachsenblick/Predigten/20110605_predigt_a_suess.pdf (Stand: 13.04.2017). Berücksichtigt habe ich die folgenden Predigten und Beichtansprachen (hier in der Reihenfolge der ausgelegten biblischen Bücher [Lutherbibel] sortiert): Werner Klän, Predigt über Psalm 147,3–6,11–14a, 16.09.2001 in der Selbständig [sic] Evangelisch-Lutherische [sic] Gemeinde (SELK) Gemünden/Ww., www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/predigt/article/predigtueberpsalm147361114a/print.html (Stand: 23.04.2015); ders., Predigt zu Klagelieder 3,22–26.31–32, http://predigten.evangelisch.de/predigt/predigt-zu-klagelieder-3-22-2631-32-von-werner-klaen (Stand: 23.04.2015); ders., Predigt zum 4. Sonntag nach Epiphanias, 30. Januar 2011 über Matthäus 14,22–33, https://predigten.evangelisch.de/sites/default/files/predigttexte/11-01-30-klaen.pdf (Stand: 02.08.2016); ders., 14. Sonntag nach Trinitatis, 28. August 2005. Predigt über Markus 1,40–45, http://www.predigten.uni-goettingen.de/archiv-7/050828-3.html (Stand: 23.04.2015); ders., Judika, 29.03.2009, Predigt zu Markus 10:35–45, http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php?id=1551&kennung=20090329de (Stand: 23.04.2015); ders., 17. Sonntag nach Trinitatis / Erntedankfest, 30.09.2007, Predigt zu Johannes 9:35–41, http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php?id=498&kennung=20070930de (Stand: 23.04.2015); ders., 3. Advent, 13.12.2009, Predigt zu 1. Korinther 4:1–5, http://www.predigten.uni-goettingen.de/ predigt.php?id=1967&kennung=20091213de (Stand: 23.04.2015); ders., Devotion [Beichtansprache] on 1 Corinthians [1. Korinther] 7:20–24 (LTS in Tshwane, 2015-09-16), https://wilhelmweber.files.wordpress.com/2015/09/devotion-on-1-corinthians-7_2015_09_16.pdf (Stand: 02.08. 2016); ders., Predigt zu 1. Korinther 15,50–58, http://predigten.evangelisch.de/predigt/ predigt-zu1-korinther-15-50-58-von-werner-klaen (Stand: 23.04.2015); ders., Predigt zu 2. Korinther 8,9, http://predigten.evangelisch.de/predigt/predigt-zu-2-korinther-89-von-werner-klaen (Stand: 23.04. 2015); ders., Devotion [Beichtansprache] on Galatians [Galater] 3:8.14.26, https://wilhelmweber.files.wordpress.com/2015/07/devotion_galatians_3_2015_07_29.pdf (Stand: 02.08.2016); ders., 11. Sonntag nach Trinitatis, 15.08.2010, Predigt zu Epheser 2:4–10, http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php?id=2405&kennung=20100815de (Stand: 23.04.2015); ders., Predigt zum 9. Sonntag nach Trinitatis, St. Paulus-Gemeinde, Pretoria: Philipper 3,7–17, https://wilhelmweber.files.wordpress.com/2015/08/predigt-zum-9-p-trin-pretoria_02-08-2015.pdf (Stand: 02.08.2016), ders., Predigt zum 16. Sonntag nach Trinitatis, St. Paulus-Gemeinde, Pretoria: 2. Tim 1,7–10, https://wilhelmweber.files.wordpress.com/2015/09/predigt-zum-16snt-wk.pdf (Stand: 02.08.2016); ders., Aschermittwoch 2016, [Predigt zu 2. Petrus 1,2–11], http://selkoberursel.de/Audiopredigten/2016/2016-02-10%20Aschermittwoch.MP3 (Stand: 02.08.2016); ders., Ewigkeitssonntag, 23.11.2008, Predigt zu 2. Petrus 3:3–14, http://www.predigten.unigoettingen.de/predigt.php?id=1293&kennung=20081123de (Stand: 23.04.2015); ders., Judika, 09.03.2008, Predigt zu Hebräer 13:12–14, http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php ?id=822&kennung=20080309de (Stand: 23.04.2015); ders., Devotion [Beichtansprache] on James [Jakobus] 3:13–18 (LTS in Tshwane, 2015-08-05), https://wilhelmweber.files.wordpress. com/2015/08/devotion-on-james-3_05_08 _2015_corr.pdf (Stand: 02.08.2016).
„Was macht das mit dir?“
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die im Internet zu findenden Predigten durchaus repräsentativ für Kläns Predigttätigkeit sind (ohne damit „Repräsentativität“ nach den Kriterien der wissenschaftlichen Sozialforschung behaupten zu können und zu wollen). Kläns Predigten folgen überwiegend einem klassischen Aufbauschema: Einleitung, Hauptteil und Schluss, im Manuskript von ihm oft mit A, B und C bezeichnet. Einleitung und Schlussteil sind in der Regel außerordentlich kurz und prägnant gehalten, sodass das ganze Gewicht auf dem Hauptteil mit der Entfaltung in häufig zwei oder drei Unterteilen liegt. Erkennbar ist, dass Klän kein Vertreter einer „Aufhänger-Homiletik“ ist, bei der der Prediger zunächst mit einer Geschichte oder einem Beispiel startet, um dann irgendwann zum eigentlichen Predigtthema zu kommen. Sondern bei Klän geht es in den Predigten direkt „zur Sache“ – oft schon 22 im ersten Satz, immer aber innerhalb der ersten Absätze. Die Sache des Evangeliums ist ihm wichtig. Deswegen kommt er direkt auf sie zu sprechen und lässt die Zuhörenden gleich wissen, worum es geht. Diesen prägnanten Einleitungen entsprechen prägnante Predigtschlüsse. Ganz im Sinne seiner Überzeugung, dass die Verkündigung ein „Gefälle“ hin zum Evangelium haben muss, enden Kläns Predigten mit einer Zusammenfassung, die fast ausnahmslos23 auf einen Zuspruch zuläuft. Am deutlichsten wird dies in den ausgewerteten Beichtansprachen, die jeweils am Ende das Absolutionswort zitieren,24 das im weiteren liturgischen Verlauf jedem Einzelnen zugesprochen wird. Aber auch in vielen anderen Predigten ist die seelsorgliche Motivation spürbar, denen, die der Predigt zuhören, ein Wort des Trostes, an dem sie sich festmachen können, mitzugeben: „Bei ihm [sc. Christus] haben wir nichts zu verlieren, nur alles zu gewinnen.“25 Oder: „Denn Christus, unser himmlischer Heiland, unser göttlicher Bruder, unser mächtiger Erlöser, unser erfolgreicher Anwalt: Christus, der Sieger von Ostern will dir sagen und sagt dir zu: Mit Mir [sic], Christus, deinem Herrn und Meister, bist du jetzt schon – ein Sieger!“26
Nicht untypisch für Kläns Predigten ist aber auch die Kombination von solch einem Zuspruch und einem doxologischen Schluss:
22
23
24 25 26
Vgl. zum Beispiel Klän, Mk 10,35–45 (wie Anm. 21): „um zielstrebiges Wollen geht es in diesem Evangelium, um erstrebenswerte Ziele, um Einfluss auch und um Ansehen.“ Oder auch Klän, Klagelieder 3,22–26.31–32 (wie Anm. 21): „An der Grenze, fast am Ende, kommt die Wende: Gottes Menschenfreundlichkeit bleibt.“ Eine paränetische Ausnahme bildet Klän, Mk 10,35–45 (wie Anm. 21): „Weil aber er uns in seine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft einbezogen hat, sind wir gerufen, ihm entsprechend zu leben, damit sein Leben eine Antwort sei auf seinen Dienst, Einsatz, seine Hingabe und sein Opfer.“ Vgl., Klän, Jak 3,13–18; ders., I Kor 7,20–24; ders., Gal 3,8.14.26 (jeweils wie Anm. 21). Klän, Joh 9,35–41 (wie Anm. 21). Klän, Phil 3,7–17 (wie Anm. 21).
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Christoph Barnbrock
„Selbst dann, selbst da wird gelten: Jesus streckt sofort die Hand aus und ergreift dich und holt dich ins Boot, das dich an Gottes sicheres Ufer bringt. Er ist wahrhaf27 tig Gottes Sohn. Sein Name sei gepriesen in Ewigkeit.“
Ein solcher Predigtabschluss ist nicht nur sachlich angemessen, sondern dient der Gemeinde auch als Signal, das es ihr ermöglicht, sich mit dem „Amen“ das in der Predigt Gesagte zu eigen zu machen, ohne vom Predigtende überrascht zu werden.28 Stilistisch lässt sich Kläns Predigtstil in gewisser Weise als meditativer Predigtstil beschreiben, zumindest wenn man Martin Luthers Verständnis von Meditation zugrunde legt.29 Die Predigtweise von Werner Klän lässt sich so verstehen, dass er sich darum bemüht, das „buchstabische wort im Buch jmer [zu] treiben und [zu] reiben“30. Dass die gezogene Parallele zu Luthers Meditationsverständnis nicht zufällig gewählt ist, lässt sich daran ablesen, dass Klän selbst das, was er in der Predigt tut, als „buchstabieren“31 bezeichnet. Solches Buchstabieren ist zum einen als ein ganz elementares Auslegungsgeschehen zu verstehen. Zum anderen setzt das Buchstabieren eine Achtsamkeit für das Detail voraus. Jeder Buchstabe und erst recht jedes Wort ist wichtig. So zeichnet es seinen Predigtstil aus, dass er eine Sache nicht bloß einmal, sondern gleich mehrfach beschreibt und versucht, sie in Worte zu fassen – so, als würde ein Versuch nicht genügen, um die Tiefe des Wortes Gottes mit den eigenen Worten auszuloten: „Die ganze Wahrheit über Jesus, die ganze Wahrheit in Jesus: Er ist der, der aller Welt Gott nahe bringt. Er ist der, in dem Gott aller Welt nahe kommt. Er ist es, und er allein, der uns Gott gegenwärtig macht. Er ist es, und er allein, in dem uns Gott in Person begegnet. Diese Einsicht erschließt sich nicht von selbst. Diese Wirklichkeit versteht sich nicht von selbst. Diese Erkenntnis ergibt sich nicht von selbst. Wir kommen darauf erst, wenn Jesus selbst sich uns erschließt und unser Herz für sich aufschließt. Wir kommen erst dahinter, wenn Jesus selbst es uns zu verstehen gibt, wie wir ihn sehen können. Wir kommen erst dazu, wenn er sich selbst uns gibt und uns Augen 32 des Glaubens schenkt.“
Indem Klän hier verschiedentlich leicht variiert und so gewissermaßen den Blickwinkel der Hörer immer wieder etwas verändert, ohne ihn von der gemeinten Sache auf etwas Neues zu richten, entsteht so tatsächlich eine detailliertere Perspektive. Häufig bedient er sich dabei Dreierformationen: einer Dreizahl von Worten oder
27 28 29 30 31 32
Klän, Mt 14,22–33 (wie Anm. 21). Vgl. Christoph Barnbrock, Hörbuch. Eine Entdeckungsreise für Predigthörerinnen und Predigthörer, Göttingen 2016, 117. Vgl. Martin Luther, Vorrede zum 1. Bande der Wittenberger Ausgabe der deutschen Schriften, WA 50,(654–656)657–661, hier v.a.: 659. A.a.O., 659,23–24. Klän, Mt 14,22–23 und ders., Eph 2,4–10 (jeweils wie Anm. 21). Klän, Joh 9,35–41 (wie Anm. 21).
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einer Dreizahl von Sätzen. Auch hier zeigt sich Klän als Schüler Luthers, ist doch nachweisbar, dass dieser etwa die Dreigliedrigkeit von „fürchten, lieben und vertrauen“ in der Auslegung des ersten Gebots im Kleinen Katechismus ganz bewusst gerade so gewählt hat.33 Dabei bedient sich Klän gezielt poetischer Stilmittel. So kann er seine Dreierformen gelegentlich sogar als Alliteration gestalten: „Teller, Töpfe, Terrinen“34 oder „‚Anfechtungen‘, also Attacken, Angriffe“35. An anderer Stelle kann er auch den Endreim gezielt nutzen: „An der Grenze, fast am Ende, kommt die Wende“.36 Auch Wortspiele finden sich regelmäßig in seinen Predigten: „Jesus wendet sich uns zu, um unser Geschick zu wenden.“ Oder: „Du kannst nur bestehen, indem du dich selbst verlässt und allein auf Gott verlässt.“37 All dies kann dazu beitragen, dass die Hörer das Gesagte leichter erinnern beziehungsweise es emotional anders auf sie wirkt. Die manchmal überraschende doppeldeutige Wortverwendung trägt so dann auch dazu bei, den Worten einen immer neuen, tieferen Sinn abzugewinnen. Und schließlich sind es Gegenüberstellungen, die Kläns Predigtstil immer wieder prägen. Diese Gegenüberstellungen stehen dabei ihrerseits wieder in einem erkennbaren theologischen Interesse, lassen sie sich doch im Sinne dessen verstehen, was Martin Luther den „frölich wechßel und streytt“38 genannt hat: „Ist nu das nit ein fröliche wirtschafft, da der reyche, edle, frummer breüdgam Christus das arm vorachte bößes hürlein zur ehe nimpt, und sie entledigt von allem übell, zieret mit allen gütern?“39 Was Luther mit recht drastischen Worten beschreibt, findet sich in den genannten Gegenüberstellungen auch bei Klän immer wieder: „Jesus bringt uns Gott. Damit bereichert er uns wirklich. Jesus Christus, Gottes Wort in Person, sagt, zeigt und vermittelt uns, wie Gott zu uns steht. Er macht sich auf den Weg zu uns, die wir den Weg zu ihm nicht wissen. Er sucht die Verbindung mit uns, die wir ihm fernstehen. Er tritt in eine echte Beziehungsarbeit mit uns ein, die wir, was Gott betrifft, oft beziehungslos dahinleben. Er trägt Gott in diese Welt hinein, die gottvergessen ihren Gang geht, im alten gott-losen Trott dahintrabt. Er beendet unsere Gottverlassenheit. Denn in ihm ist Gott selbst gegenwärtig, zu se40 hen, zu hören, zu greifen, zu spüren, zu haben.“
33
34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Birgit Stolt, „Fürchten, Lieben und Vertrauen“: strategische Emotionsarbeit, in: Dies., „Laßt uns fröhlich springen!“. Gefühlswelt und Gefühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit, Studium Litterarum 21, Berlin 2012, 109–142, hier v.a.: 122–126. Klän, II Kor 8,9 (wie Anm. 21). Klän, Mt 14,22–33 (wie Anm. 21). Klän, Klagelieder 3,22–26.31–32 (wie Anm. 21). Klän, Phil 3,7–17 (wie Anm. 21). Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7,(12–19)20–38, hier: 25,34. A.a.O., 26,4–7. Klän, II Kor 8,9 (wie Anm. 21). Vgl. auch ders., Klagelieder 3,22–26.31–32: „Wenn wir an unsere Grenzen gelangen, kann Gott uns darüber hinweghelfen. Wenn und wo wir ans Ende unserer Möglichkeiten kommen, kann Gott sie überwinden helfen. Denn Gott hält durch, trägt durch, hilft durch und rettet hierdurch, wo uns Schranken gesetzt sind […].“
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Dem Hörer verlangt Klän dabei einiges ab, wollen die Wortspiele doch als solche wahrgenommen und aufgenommen werden, müssen die verdichteten poetischen Passagen gehört und verarbeitet werden – und dies in kurzer Zeit, da den Hörenden keine Stillephase zum Nachdenken und Nachvollzug bleibt, sondern es weitergeht im Text. Hier sind Hörer gefragt, die mit Sprache umzugehen wissen und solche bisweilen komprimierten Aussagen für sich zu entschlüsseln wissen. Milieutheoretisch gesprochen werden Kläns Predigten von daher vor allem die Hörerwartungen aus dem Milieu der „Hochkulturellen“ (und benachbarter Milieus) 41 treffen. In der Terminologie der „Erlebnislogiken“, die Uta Pohl-Patalong beschrieben hat, wären seine Predigten dem Typ „Predigt als ‚Kunstwerk‘“42 zuzuordnen. Für eine solche Einordnung sprechen auch die geistes- und theologiegeschichtlichen Anspielungen, die Klän vornimmt, wenn er von der „‚Krankheit zum Tode‘“43 spricht, davon, „mit Ernst Christ sein zu wollen“44, oder vom „‚Willen zur Macht‘“45. Inhaltlich orientieren sich Kläns Predigten erkennbar am zugrundeliegenden Predigttext. Dabei kann der Textzugriff durchaus auf unterschiedliche Weise geschehen. So kann entweder ein Satz oder Motiv leitend für die Predigt werden.46 Oder aber die Struktur eines Textes mit den unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen Akteure weist den Weg für die Predigt.47 Oder aber einzelne Schlüsselworte werden vom Prediger durchbuchstabiert.48 Dabei ist grundsätzlich wahrzunehmen, dass die Predigten christozentrisch sind. Dies lässt sich schon in der zumeist gewählten Anrede „Liebe Schwestern in Christus, liebe Brüder im Herrn“49, entdecken. Und oftmals wird Jesus Christus schon im ersten Satz der Predigt programmatisch eingeführt: „Jesus im Mittelpunkt der Geschichte; sein hilfreiches Wort, auf das alles ausgerichtet ist, in der Mitte.“50 Eine gewisse Ausnahme bilden die Predigten zu alttestamentlichen Texten, in denen Klän nicht der Versuchung erliegt, gleich christologisch einzusetzen und damit die Eigenart der Texte zu nivellieren. Stattdessen lässt er die Texte zunächst mit ihrer jeweils ganz eigenen Botschaft laut werden, um dann dezent im Verlauf der Predigt51 oder auch erst ganz am Ende das Gesagte auf das Christusereignis zu beziehen.52 In solchem behutsamen Umgang mit dem Wort des Alten Testaments ist 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Vgl. Claudia Schulz, Eberhardt Hauschildt, Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für die Kirche und Gemeinde, Göttingen 2009, hier v.a.: 285. Uta Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011,138(–140). Klän, II Tim 1,7–10 (wie Anm. 21). Klän, I Kor 15,50–58 (wie Anm. 21). Klän, Mk 10,35–45 (wie Anm. 21). Vgl. Klän, Hebr 13,12–14 (wie Anm. 21). Vgl. Klän, Joh 9,35–41 und ders., Mt 14,22–33 (jeweils wie Anm. 21). Vgl. Klän, Eph 2,4–10 (wie Anm. 21). Z.B. in Klän, Mk 10,35–45 (wie Anm. 21). Klän, Mt 14,22–33 (wie Anm. 21). Vgl. Klän, Klagelieder 3,22–26.31–32 (wie Anm. 21). Vgl. Klän, Ps 147,3–6.11–14a (wie Anm. 21).
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auch etwas von der Achtung zu erkennen, die Klän dem Gottesvolk Israel entgegenbringt, wie er es auch in einer seiner Predigten formuliert: „Als Marien Sohn ist Jesus – wie Joseph ihn nennen wird – zugleich Davids Sohn und Abrahams Sohn. […] So teilt er unser Geschick: Zuallererst als jüdischer Sohn einer jüdischen Mutter, ganz eingebunden in die Geschichte des Volkes seiner Herkunft. Aus königlicher Familie ist er und von uraltem Adel, sein Leben verwoben in die Abfolge der Geschlechter, seit Gott dieses Volk erwählte, sein Volk, sein Augapfel, seine Liebe unter allen Menschen zu sein. Seine Urahnen und Vorväter zählten zu den bedeutenden Gestalten des Gottesvolkes, von Gott besonders ausgesucht, besonders begabt, besonders begnadet. Ihnen galt Gottes Zusage in besonderer Weise. Denn ihre Aufgabe war es, weiterzutragen und auszubreiten, was Gott immer schon vorhatte: Dass seine Leute mit ihm in guter Gemeinschaft Leben können. In deren Nachfolge und Aufgabe tritt Jesus ein, bestimmt, ihren Auftrag zur Vollendung zu bringen. ‚Das [H]eil kommt von den Juden‘, heißt es darum zu 53 Recht bei Johannes […].“
Eine der christologischen Lieblingsbezeichnungen von Klän ist offensichtlich der Begriff „Gottesbruder“54, in dem er für sich die Transzendenz und Kondeszendenz Gottes in Christus in besonders griffiger Weise zu fassen vermag. Solche „gottesbrüderliche“ Zuwendung zum Einzelnen macht Werner Klän in Gottes Wirken in den Gnadenmitteln fest. Dabei vermeidet er es, in diesem Zusammenhang dogmatische Chiffren zu verwenden, sondern bemüht sich, auch, ja vielleicht sogar gerade hier neue Worte zu finden, die die alte Wahrheit in neuem Licht erstrahlen lassen: „Für diese Wende steht ein Name: Jesus Christus, der sich unserer Nöte angenommen hat, wie keiner vor IHM und keiner nach IHM, Jesus Christus, der unser Geschick geteilt hat zur Gänze und bis zum letzten und bei uns ist und bei uns bleibt. Für diese Wende steht in deinem Leben ein Tag – der Tag deiner heiligen Taufe, an dem Gott dir versprochen hat: Ich bin dir gut. Für diese Wende steht heute ein Wort deines Gottes, der zu dir sagt und dir zusagt: Ich will dir wieder gut sein: Dir sind deine Sünden vergeben. Für diese Wende steht ein Vorgang, in dem dein Heiland dir schenkt, was ER eingesetzt hat zur Rettung der Welt: ‚Nimm hin und iss; das ist mein Leib, für dich gegeben in den Tod: nimm hin und trink, das ist 55 mein Blut, für dich vergossen zur Vergebung aller deiner Sünden.‘“
Wesentliches erwartet Klän dabei vom Wort Gottes, dem Evangelium, das laut wird und verkündigt wird:
53 54 55
Klän, Mt 1,1.18–25 (wie Anm. 21). Z.B. in Klän, II Kor 8,9 und ders., Mt 14,22–33 (jeweils wie Anm. 21). Klän, Klagelieder 3,22–26.31–32 (wie Anm. 21). Vgl. auch als Beschreibung der Wirklichkeit der Taufe und des Lebens aus der Taufe ders., II Tim 1,7–10 (wie Anm. 21): „Wir sind mit Gott, dem Leben selbst, verbunden; wir sind an die göttliche Wirklichkeit angeschlossen und werden von diesem Leben selbst auf das ewige Leben vorbereitet und zum ewigen Leben zugerüstet.“
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„Gott bestätigt zu Ostern vielmehr, dass Christ[i] Opfer gültig ist und wirksam und mächtig. […] Und diese Tatsache ist eine wirkliche und wirksame Wirklichkeit, eine gegenwärtige Gegebenheit. Hier, heute, jetzt, wenn das Evangelium verkündigt wird, geschieht etwas Wunderbares: 56 Jesus wendet sich uns zu, um unser Geschick zu wenden.“
Dabei lässt sich greifen, wie Klän immer wieder beide Redeweisen Gottes, das Gesetz und das Evangelium, laut werden lässt, ohne in die Fallen zu tappen, in die in der Predigtgeschichte schon viele gefallen sind: „Nun ist es auch die Aufgabe christlicher Verkündigung, solchen Nachbarn vor Augen zu stellen, wie gefährdet die menschliche Existenz tatsächlich ist. Dass wir uns nicht missverstehen: Nicht darum geht es, aus der Frohbotschaft wieder eine Drohbotschaft zu machen; nicht darum ist es zu tun, Menschen erst künstlich und gewaltsam niederzumachen, um sie dann um so großartiger wieder aufbauen zu können. Sondern das ist uns aufgetragen und anvertraut weiterzugeben: Gott will nicht, dass du den Erfahrungen erliegst, die um dich und in dir lauern. Gott will nicht, dass du in die Abgründe stürzt, die sich auf deinen Abwegen und in dir selbst auftun. Gott will nicht, dass du draufgehst bei dem Versuch, dein Leben ohne Gott zu meistern. Aber das muss eben auch gesagt werden, weil es in der Tiefe wahr ist: Ohne Gott leben zu wollen, ist am Ende tödlich; die Gefahren eines Lebens abseits von Gott zu unterschätzen, ist höchst leichtfertig; und erst recht, die Abgründe zwischen uns und Gott aus eigener Kraft überwinden zu wollen, ist unmöglich. Dagegen aber gilt: IHR SEID GERETTET! Gerettet durch alle Gefahren hindurch, gerettet über alle Abgründe hinweg, gerettet über das Sterben-Müssen und den Tod hinaus! Das gilt und steht und hat Bestand, weil Gott dafür einsteht. Das zählt und bleibt und ist in Kraft, weil Gott selbst es zusagt. Das wirkt, ist wahr und hat Ge57 wicht, weil Gott es selbst verbürgt: IHR SEID GERETTET!“
In diesem Zusammenhang ergibt sich für Klän ein angemessenes Bild erst da, wo Luthers Beschreibung des Menschen als Gerechter und Sünder zugleich58 ernstgenommen wird: „Wir verspüren auch in unserem persönlichen Glauben Widerstände und Hemmnisse, die uns hindern, voranzukommen in der Gestaltung eines Lebens, das Gottes Maßstäben entspricht. Wir merken immer wieder, dass von außen, nicht selten aber auch tief aus unserm Innern, Gegenstimmen laut werden, die uns davon abbringen wollen, auf Gott zu setzen und seiner Fürsorge zu vertrauen. Wir erleben, nicht zuletzt als Glaubende, die dessen gewiss sind, dass Gott ihnen das Leben neu geschenkt hat, in unserer heiligen Taufe, dass und wie sehr wir hinter dem zurück59 bleiben, was Gott mit uns vorhat.“
56 57 58 59
Klän, Phil 3,7–17 (wie Anm. 21). Klän, Eph 2,4–10 (wie Anm. 21). Vgl. Martin Luther, Die Vorlesung über den Römerbrief (1515/16), WA 56, hier: 347,3–9. Klän, Mt 14,22–33 (wie Anm. 21).
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Diese Beschreibung des Menschen korrespondiert dann auch mit einem „schon jetzt“ und „noch nicht“. So kann Klän von einem „Doppelleben“ des Menschen sprechen: „In diesem ‚Doppelleben‘ bleiben Spannungen nicht aus. Ausgerichtet auf die großartigen Aussichten, auf die wir warten und die auf uns warten, sind wir dennoch von Gott an dieses Leben, an die Welt, a[n] unsere Mitmenschen gewiesen. In gewisser Hinsicht leben wir wie alle Menschen, was unser irdische[s] Dasein betrifft, wir arbeiten, essen, wohnen, haben Freund[e], Bekannte, haben Sorgen und Nöte wie viele andere auch. Und doch sind wir besonders, eben weil wir mit Rückblick auf Ostern, in der Freude und Dankbarkeit über Ostern, und erfüllt von österlicher Hoffnung, einen anderen Blick auf diese Erde und das Leben hier haben. Wir wissen, dass dies nicht das Letzte ist, was von uns, was von den Menschen, was von dieser Zeit und Welt zu sagen ist. So sehr wir mit diesem Planeten und unseren Mitgeschöpfen verbunden sind, weil wir selbst Geschöpfe Gottes sind, so wenig 60 sind wir im letzten an sie gebunden.“
Weil dies so ist und sich die trostvolle Seite dieses „Doppellebens“ für die menschliche Wahrnehmung nicht aufdrängt, ist Achtsamkeit gefragt, ein Wahrnehmen, das sich oft erst im Rückblick ergibt: „Du wirst es nicht immer gleich merken und spüren, dass er dir nahe ist, dich hält, dich trägt, dich tröstet, dich schützt, dich stützt. Das zu sehen, braucht oft Zeit, und erst im Nachhinein wirst du entdecken: Mitten im ärgsten Schmerz gab es erste Linderung, mitten in der ausweglosen Finsternis war in der Ferne ein, wenn auch schwacher, Lichtschein zu sehen; mitten in der größten Einsamkeit kam es zu einer unerwarteten Begegnung; mitten im jammervollen Kummer war ein tröstliches Wort zu hören. Erst in der Rückschau wird uns das oft klar. Und dann ahnen wir, sehen wir, erkennen wir auch erst: Da war ich so weit, dass ich nicht mehr weiter wusste, nicht mehr weiter konnte, nicht mehr weiter kam. Da war nur von Gott noch Hilfe zu erhoffen, nur von Gott noch Beistand zu erwarten. Alle anderen Mittel waren erschöpft; ich musste meine Machtlosigkeit erkennen, ich konnte nichts mehr hin61 kriegen, regeln, bewirken.“
Mit Blick auf das Leben des Christen bedeutet das „simul“ bzw. die Rede vom „Doppelleben“ nach Klän keine doppelbödige Existenz, in der beides, Sünde und Glaube, nebeneinander seinen guten Platz hätte. Sondern für ihn ist klar: Das neue Leben, das in der Taufe begonnen hat, wirkt sich aus im Leben des Christen und führt zu Konsequenzen in der Lebensführung, die Klän zum Beispiel so beschreiben kann: „Wem unter uns dieses Geschick [sc. des Martyriums, CB] beschieden sein mag, können wir nicht wissen, ob überhaupt einem von uns in unserer Gegend der Welt. Wenn Gott uns schont, wollen wir ihm dankbar sein; wenn er uns rauere Wege 60 61
Klän, I Kor 15,50–58 (wie Anm. 21). Klän, Ps 147,3–6.11–14a (wie Anm. 21).
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führt, wollen wir ihm die Leitung und Führung überlassen. Und das gilt jedenfalls alle Tage, in denen wir leben als Diener/innen Christi, unserer Mitchristen und Mitmenschen. Denn darin vollziehen wir nur nach, was Christus an sich – einmalig und unwiederholbar, grundlegend und unüberholbar – vollziehen ließ zu unseren Gunsten. Weil aber er uns in seine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft einbezogen hat, sind wir gerufen, ihm entsprechend zu leben, damit unser Leben eine 62 Antwort sei auf seinen Dienst, Einsatz, seine Hingabe und sein Opfer.“
Fragt man nach dem Adressatenbezug in Kläns Predigten, stellt sich schnell heraus, dass er kein predigender Geschichtenerzähler ist, der versucht, sich mit Alltagsbegebenheiten oder Beispielgeschichten die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen und Zuhörer zu erkaufen. Die biblische Botschaft steht ganz im Vordergrund. Alles andere ist darauf angeordnet und dem zugeordnet. Da haben zu umfangreiche Beschreibungen anderer Kontexte keinen Platz. Das aber bedeutet nicht, dass Klän abgehoben oder gar weltfremd predigen würde. Bezüge zur Lebenswelt finden sich immer wieder, gelegentlich auch Zitate 63 aus Redewendungen und Popularmusik. So kann er beispielsweise in einer Predigt die biblische Botschaft in Beziehung setzen zum Terror in der Welt, zum Erleben von Gewalt „im Umfeld von Fußballspielen“ oder zu den unterschiedlichen Umständen, unter denen Kinder heutzutage in Familien aufwachsen.64 Oder in einer anderen Predigt kann er Bezug nehmen auf das örtliche „,Anzieh-Eck‘“, Spendengalas und den weihnachtlichen „Einkaufs-, Back-, Koch- und Geschenke-BesorgeStress“ und die Hoffnungen, die sich mit dem Christfest verbinden.65 Adressatennähe erreicht er weiterhin durch sein Um- und Neusprechen theologischer Terminologie, wenn er etwa das Kreuzesgeschehen folgendermaßen beschreibt: „Jesus hat den schweren Weg nicht gescheut, den Weg in völlige Gemeinschaft mit uns, den Weg ins Leiden, den Weg ans Kreuz. Und ging diese[n] ganzen Weg, beladen mit unserer Schuld, belastet mit unseren Lebenslügen, die ihn am Ende umbringen. Er trug ja unsern Eigensinn ans Kreuz. Er lud ja unsere Selbstherrlichkeit 66 auf sich. Er mühte sich mit unserer Selbstbezogenheit ab.“
Theologie und Lebenswelt werden also dadurch verbunden, dass sich Klän für die Beschreibung theologischer Sachverhalte der Wortfelder des Alltagslebens bedient, manchmal sogar in durchaus überraschender Weise, wenn z.B. das Erlösungsgeschehen u.a. auch so ausgedrückt werden kann: „Jesus Christus verschafft uns freie Bahn; so können wir bei Gott landen.“67
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Klän, Mk 10,35–45 (wie Anm. 21). Vgl. Klän, II Petr 1,2–11 (wie Anm. 21). Klän, Ps 147,3–6.11–14a (wie Anm. 21). Klän, II Kor 8,9 (wie Anm. 21). Klän, Phil 3,7–17 (wie Anm. 21). Klän, Phil 3,7–17 (wie Anm. 21).
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Am stärksten gelingt der Adressatenbezug aber wohl dadurch, dass der Predigthörer bei Klän gerade auch in seinem Angefochtensein im Blick ist. Die Schattenseiten des Lebens, die Krisenerfahrungen der eigenen Existenz werden in Kläns Predigten gerade nicht außen vor gelassen, sondern präzise beschrieben.68 Die Hörenden können sich so leicht darin wiederfinden und mit ihrem eigenen Erleben in die Predigt eintragen. Klän scheut dabei auch nicht davor zurück, seine eigenen Erfahrungen hier einzubringen.69 So entsteht eine Solidarität und Gemeinschaft zwischen Prediger und Hörenden, die sich bei Klän auch sprachlich fassen lässt, wenn er in demselben Zusammenhang von der „Ich-Rede“ zur „Du-Rede“ übergeht und so verdeutlich: Wir sitzen allemal gemeinsam im selben Boot: „Und wenn er [sc. Jesus, CB] freundlich und werbend und einladen[d] zu uns spricht, werden wir gewahr: Mein Leben ist nicht so aussichtslos, wie es mir manchmal vorkommt. Gott ist nicht so weit weg, wie es mir nicht selten scheint. Im Gegenteil: Gott sucht deine Nähe! Dich will er gewinnen mit der guten Nachricht, dass er dir freundlich gesinnt ist. Dir will er alles zukommen lassen, was du 70 brauchst, um mit ihm im Reinen zu sein.“
Zwei Aspekte, die in den untersuchten Predigten weniger deutlich zum Ausdruck kommen, aber zum Adressatenbezug von Kläns Predigten meiner eigenen Erfahrung nach dazugehören, seien hier zumindest noch erwähnt. So hat Klän bei seinen Hochschulandachten immer wieder auch auf Lyrik und Bilder zurückgegriffen, um an ihnen und mit ihnen die biblische Botschaft zu entfalten. Und schließlich hat Klän – wie mir scheint in jüngster Zeit vermehrt – sein Frageschema aus seinem Katechismenbuch auch homiletisch nutzbar gemacht und in den Predigten gefragt: „[…] Wo kommst du darin vor? – […] Was sagt das über 71 dich? – […] Was macht das mit dir?“ Hier ist der einzelne Hörer ganz konkret im Blick – die Botschaft wird auf ihn hin ausgelegt. Wie schon angedeutet ist der Adressatenbezug über Erfahrungsbezug die eine Seite der Medaille, auf deren anderer Seite sich Klän selbst mit seinem Erleben zu erkennen gibt. So kann er etwa mit Blick auf das Phänomen „Geduld“ explizit auf eigene Erfahrungen Bezug nehmen: „Darum bekomme ich im Leben von Gott immer wieder Aufgaben gestellt, mich in Geduld zu üben; die deutsche Sprache sagt das sehr klar und schön: Geduld will geübt sein, sie ist nicht da, sie stellt sich auch nicht plötzlich und auf einmal ein, sie fällt mir nicht einfach zu, sondern will geübt, trainiert, exerziert sein. Nach meiner Erfahrung arbeitet Gott sogar in der Weise der ‚Wiedervorlage‘: Wenn meine Übung in Geduld nicht erfolgreich oder von anhaltendem Erfolg war – das ist sie 68 69 70 71
Vgl. z.B. oben Anm. 61. Vgl. unten 2.1.2.4. Klän, Joh 9,35–41 (wie Anm. 21). Klän, Der dich mit allem Guten (wie Anm. 1), 11 u.ö.
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nie – bekomme ich eine ähnliche, gleiche, manchmal dieselbe Geduldsprobe noch 72 einmal aufgegeben.“
Aber Klän scheut auch nicht davor zurück, eigene Schattenseiten zu thematisieren und sich so verletzbar und angreifbar zu machen. So kann er offen von eigenen Ängsten in der Predigt reden: „Er [sc. Petrus, CB] erschrak! Furcht ergreift ihn, Angst bannt ihn. Ich kenne das, nur zu gut, besser: nur zu schlecht. Es gibt in mir eine Neigung, die Schwierigkeiten, die mir begegnen[,] so groß werden zu lassen, dass sie schier unüberwindlich scheinen. Manchmal gebe ich mich dem Hang zum Zweifeln hin, dass ich nichts anderes mehr sehen kann. Meine Furcht, meine Angst, macht die Not größer, als sie in Wahrheit ist. Und ich gehe damit um, als wäre ich auf mich allein gestellt, als gäbe es Menschen nicht, die raten, helfen, mir beistehen können. Meine Niedergeschlagenheit hält mich nieder, erstickt jeden Mut, raubt alle Kraft. Und, was schwerer wiegt, ich verhalte mich, als gäbe es Gott nicht, der jedenfalls auf meiner Seite 73 ist, mich hält und trägt. So wäre ich dem Untergang geweiht, wie Petrus.“
Und auch mit Blick auf die eigene Sündhaftigkeit nimmt er kein Blatt vor den Mund und wird konkret: „Well, I have to agree that at least partially, I see myself mirrored in what I have depicted in terms of envy and selfish ambition; […]. That ‚wisdom that comes from heaven‘, like humility and peacefulness, I am far too often lacking. My motives to do this and that are not always as ‚pure‘ as they ought to be. Surely, I would like to be, as the apostle is recommending, I would like to be ‚considerate‘, much more than I usually am; I should like to be, as the apostle is proposing to us, should like to be much more ‚impartial und sincere‘ than I regularly can achieve to be. And looking with sober eyes at myself and my way of living, I have to admit that the ‚good fruit‘ that my Lord and Saviour rightly demands of me, falls short of the amount I am supposed to show. My ‚harvest of righteousness‘, if I see myself without selfdeception, is poor, minimal, and only little. Too often tend I to anger, am I inclined to rage, am I pleased with my big-shotism in that I feel myself to be superior to others. Far too many times I insist on my own right instead of giving in to the legitimate demands of my fellow-brethren. That is why I so often fail to be a peacemaker; instead I cause new conflicts over and over again. My judgements are made quickly over against others, and always they are harsh, my tendency towards bossiness is eminent, and my willingness to make concessions is under-developed; ‚submissiveness‘ is a concept far from my inner feelings; and my intention to be merciful is rather limited. And in addition, unfortunately I do rather seldom ‚sow in 74 peace‘. “
Diese außerordentlich offene Bestandsaufnahme in einer Beichtansprache dient dann aber wiederum dazu, die Beichtgemeinde zu einer ähnlich ungeschminkten 72 73 74
Klän, Klagelieder 3,22–26.31–32 (wie Anm. 21). Klän, Mt 14,22–33 (wie Anm. 21). Klän, Jak 3,13–18 (wie Anm. 21).
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Wahrnehmung der eigenen Existenz zu animieren. Der Prediger agiert hier somit als ein Vorbild für die Hörenden. Er begegnet als authentische Person, als einer, der sich auch an dieser Stelle einreiht in die Schar derer, die die Vergebung nötig haben. Gleichzeitig lässt solche Offenheit auch etwas von der Kraft des Evangeliums erkennen: Weil der Prediger sich von Gott trotz allen Scheiterns gehalten weiß, kann er sich auch den eigenen Schattenseiten stellen und muss diese nicht verbergen. Das macht das Leben nicht aus, sondern der, der all das überwunden hat. Als letztes Beispiel für das Einbringen eigener Erfahrungen in die Predigt seien Bezugnahmen Kläns auf eigene Sehnsüchte genannt: „Ja, ich weiß, ich kenn das aus eigenem Erleben: Es scheint erstrebenswert, wir könnten uns hier auf Dauer einrichten. Es ist verlockend, sich hier endgültig niederzulassen. Es ist verführerisch, hier Wurzeln schlagen zu wollen. Das reizt, wenn und weil es uns gut geht; wenn und weil wir uns wohlfühlen, weil die Sehnsucht so groß ist, endlich anzukommen, endlich zuhause, endlich geborgen zu sein. Das ist so verständlich, und doch irreführend; so nachvollziehbar und doch so abwegig. […] Worauf wir aus sind, was wir erstreben, was wir so sehr nötig haben: Heimat, Schutz und Geborgenheit – das wartet auf uns, das kommt auf uns zu. Worauf wir uns richten, was wir ersehnen, was wir so dringend brauchen: Ruhe, Trost und Ge75 wissheit – das kommt uns entgegen, darauf gehen wir zu.“
Auch hier: Der Prediger wird als Mensch erkennbar und motiviert unter Zuhilfenahme der eigenen Person die Predigthörer dazu, sich statt vorschneller Beheimatung in diesem Leben auszurichten auf das Ziel, das kommt und zu dem die Hörer kommen sollen. 2.2
Erwachsenenbildung
Dass für einen Professor, der den überwiegenden Teil seiner Berufstätigkeit mit dem Unterricht junger Erwachsener zugebracht hat, Erwachsenenbildung eine bedeutende Rolle spielt, scheint sich von selbst zu verstehen. Doch auch darüber hinaus ist bei Werner Klän ein Engagement für Erwachsenenbildung wahrzunehmen. So benennt er als Herausforderung für die Kirche im 21. Jahrhundert: „Es wird dabei darauf ankommen, dass in unseren Gemeinden bewusste lutherische Christen und Christinnen mehr und mehr und immer besser lernen, einfach 76 von den Grundüberzeugungen unseres Glaubens zu reden.“
Wie dies gelingen kann, hat Klän vor rund fünfzehn Jahren in einem Referat vor Kirchenvorstehern und anderen Gemeindegliedern ausgeführt, das in der Hochschulzeitschrift „Lutherische Theologie und Kirche“ unter der Rubrik „PRAXIS ERWACHSENENKATECHUMENAT“ veröffentlicht worden ist.77 75 76 77
Klän, Hebr 13,12–14 (wie Anm. 21). Klän, Herausforderungen (wie Anm. 5), 25. Werner Klän, „Einfach vom Glauben reden…“, LuThK 26 (2002), 92–102.
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Klän geht es dabei darum, „ein[e] Fach- und Sondersprache für Kirchenleute“78 zu überwinden und damit dem nachzukommen, was der Christenheit immer schon vorgegeben ist, denn das benennt er als eigene Überzeugung: „‚Vom Glauben reden‘ ist eine Gabe, die der Christenheit geschenkt ist, und damit zugleich eine Aufgabe, die ihr aufgetragen ist.“79 In Zuordnung von Gabe und Aufgabe wird einerseits das Verfügbare, andererseits aber auch das handwerklich Machbare dieses Geschehens deutlich. Der Mensch redet, weil Gott ihn reden lässt – aber eben doch so, dass „‚natürliche‘ Begabungen der Menschen von Gott in den Dienst genommen [werden]“ und eingebunden sind in ein Kommunikationsgeschehen, das die „Ausrichtung des Absenders an den Adressaten [erfordert]“.80 Weil eben auch Handwerk in diesem Fall gefordert ist, kann Klän feststellen: „Wir können solche Übersetzungsarbeit lernen: Denn wir selbst leben als Menschen unserer Zeit, wir haben Teil an der Sprache, die von uns und um uns herum gesprochen wird, sind, wenn auch womöglich mit kritischer Distanz, Teil der uns umgebenden Kultur, partizipieren an Strömungen und Entwicklungen in unserer 81 Gesellschaft (trotz aller Abgrenzung).“
Ganz konkret beschreibt Klän in diesem Zusammenhang zehn Übungsschritte auf dem Lernweg hin zur Sprachfähigkeit, die hier noch einmal genannt seien: „1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Biblische Wörter, Begriffe eine Tätigkeit, Eigenschaft, Person dies in die Beziehung: Gott – Mensch – Welt das Gesagte in ‚weltliche Ausdrücke, Redeweisen, Sprichwörter dazu Gegenbegriffe für das Gemeinte Umschreibungen die wörtliche Bedeutung des Sachverhalts zusätzliche Begriffe, Sachverhalte eine oder mehrere biblische Geschichte(n) von der Bedeutung für mich
FINDEN BESCHREIBEN EINORDNEN UMSPRECHEN/ ÜBERSETZEN BILDEN SUCHEN ERPROBEN ERGÄNZEN ERINNERN 82 ERZÄHLEN“
Am Beispiel „Rechtfertigung“ zeigt Klän dann, wie das Ergebnis eines solchen Lernprozesses aussehen könnte: „‚Rechtfertigung‘ ist Antwort auf die Frage: Wie kann ich vor Gott bestehen, obwohl ich bin, wie ich bin? – Du kannst nur bestehen, indem du dich verlässt – auf Gott. Alles Eigene kannst du hinter dir lassen. Du musst dich gerade nicht in dir selbst gründen, sondern findest Stand und Boden außerhalb deiner selbst. Du kannst absehen von aller Selbstbehauptung und Selbstherrlichkeit und dich ganz auf Christus ausgerichtet sein lassen. Gott räumt aus, was zwischen dir und ihm 78 79 80 81 82
A.a.O., 95. A.a.O., 96. A.a.O., 97. Ebd. A.a.O., 99.
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steht, er bereinigt, was dich beschmutzt und befleckt, er bringt in Ordnung, was zwischen ihm und dir durcheinander und nicht ist, wie es sein soll. Seine Zuwendung, sein Wohlwollen gilt uns: Er ist uns zugewandt und zugetan, wie wir an Jesus Christus sehen, an ihm ist offenkundig, an ihm ablesbar, in ihm, unserem Herrn 83 und Heiland ist greifbar: Gott nimmt dich an, obwohl du bist, wie du bist.“
Klän zeigt sich im Rückblick auf die Seminareinheiten, die er mit diesem Modell gestaltet hat, zuversichtlich, dass „sich das vorgestellte Arbeitsmodell auf eine Fülle biblisch-kirchlicher Sachverhalte anwenden [lässt]“.84 Im Rahmen seines eigenen Werks lassen sich vor allem die „KatechismusMeditation“ „Der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will“85 und das jüngst erschienene Buch „Grund-Sätze aus den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften“86 als Versuche verstehen, das konfessionelle Erbe in die Gegenwart umzusprechen und es so für Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zugänglich und kommunizierbar zu machen. 2.3
Spiritualität
Dass solche Erwachsenenpädagogik sich von lutherischer Spiritualität nicht trennen lässt, macht Werner Klän in seinem Vorwort für das Buch „Praying Luther’s Small Catechism“ deutlich: „The catechism must be taught in the Church, on all accounts. It ought to be learned, definitely […]. The catechism has to be preached, as it comprises the sound doctrine of the Church. Therefore, it may be meditated on as well. But first and foremost the catechism is meant to be prayed, as a daily exercise, as Luther 87 wished it to be.”
So fallen Lehre und Glaubensleben zusammen und stehen einander eben nicht widersprüchlich gegenüber, wie es die Rede von der „trockenen Dogmatik“ und der „lebendigen Spiritualität“ unterstellt. Diese Verbindung von beidem prägt vielmehr lutherische Spiritualität, indem so eine individualistische Verengung aufgesprengt wird: „Christlicher Glaube ist für Martin Luther zwar persönlicher Glaube, aber immer Glaube der Christenheit und Glaube in der Christenheit. Der einzelne Christ findet sich in den Raum einbezogen, in dem das Evangelium geteilt wird; der Vorgang 88 seiner Kommunikation ist dabei grundlegend.“
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A.a.O., 101f. A.a.O., dort Anm. 2. Klän, Der dir helfen (wie Anm. 1). Werner Klän, Grund-Sätze aus den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften, Göttingen 2017. Werner Klän, Foreword, in: John T. Pless, Praying Luther’s Small Catechism. The Pattern of Sound Words, St. Louis 2016, v–vii, hier: vii. Klän, Der dir helfen (wie Anm. 1), 8f.
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Besonders deutlich wird dies am Katechismus. Hier bieten die Grundlehren christlichen Glaubens eine Struktur, an der die Spiritualität sich ausrichtet und in die sie sich Tag für Tag neu einüben kann: „Das gottgesetzte Gebot zielt auf gottgeschenkten Glauben; dieser wendet sich im gottgegebenen Gebet des Herrn zu Gott und vollzieht sich in der täglichen Übung der gottgestifteten Heilsmittel; so wird ein gottgemeintes Dasein wirklich auf dem gottgewiesenen Weg zu ewigen Leben: ‚Das helfe uns der Vater aller Gnaden, dem sei Lob und Dank in Ewigkeit durch Christum, unsern Herrn. Amen‘ (BSLK, 507, 89 19–21).“
Versteht man unter der „täglichen Übung der gottgestifteten Heilmittel“ nicht zuletzt auch das tägliche Ersäufen des Alten Adam90 als tägliche Rückkehr zur Taufe, verwundert es nicht, dass Klän auch Beichte und Buße wieder in besonderer Weise in Erinnerung gerufen hat.91 Nicht zufällig und für manche sicherlich auch provokant wählt er für seinen großen Aufsatz zum Thema den Titel „Das ‚dritte Sakrament‘“ und unterstreicht damit die Bedeutung, die er beidem – mit Luther – beimisst. So kann Klän lutherische Frömmigkeit nicht anders bestimmen als in diesem umfassenden Sinn sakramental geprägt: „Alle drei Sakramente, einschließlich der Buße, deren Gabe nichts anderes als die Vergebung der Sünden im Wort des göttlichen Freispruchs ist, dienen also der Übung der Frömmigkeit, d. h., wie bereits einleitend gesagt, des gelebten, also aus der Vergebung lebenden, und darum lebendigen Glaubens; sie sind Kristallisati92 onspunkte einer alltäglichen Einübung ins Christentum.“
Dem entspricht folgerichtig, dass Werner Klän den Studierenden, die ihn als Studienberater wählten, auch immer anbot, dass – bei Bedarf – sein Büro zum Beichtzimmer werden könne, mit der Zusicherung, hier Seelsorgliches und Akademisches sauber zu unterscheiden. Dass für Klän ein geistliches Leben, das aus der Buße und damit aus der Rückkehr zur Taufe erwächst, tatsächlich auch ein neues und erneuertes Leben ist, wenn auch nicht ohne Rückschritte, Brüche und Rückfälle, steht außer Frage. So kann Klän auch von einem „Fortschreiten“93 in der Heiligung reden, wobei zu bedenken sei:
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Werner Klän, Anleitung zu einem Gott-gelenkten Leben. Die innere Systematik der Katechismen Luthers, LuThK 29 (2005), 18–37, hier: 37. – Vgl. Die Bekenntnisschriften der EvangelischLutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland [BSELK], Göttingen 2014, 860, 24f.) Vgl. Kleiner Katechismus, 4. Hauptstück, Zum Vierten (BSELK, 884,14–17). Werner Klän, Das „dritte Sakrament“. Beichte und Buße im Bekenntnis der lutherischen Kirche, in: Ders., Christoph Barnbrock (Hg.), Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelischlutherischen Kirche, OUH.E 5, Göttingen 2010, 58–76. A.a.O., 75f. Klän, Gesetz (wie Anm. 12), 57.
„Was macht das mit dir?“
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„Eigentlicher Motor solch neuen Verhaltens ist und bleibt der Heilige Geist, ohne 94 dass der Mensch als handelndes Subjekt ausgeschlossen wäre […].“
Dabei ist Heiligung weniger als ein Anspruch an den Menschen zu verstehen, sondern, mit Manfred Josuttis formuliert, viel mehr als der „Lebensvollzug“, in dem „der Wirklichkeitsgehalt der Lebensmacht [Gottes, CB] zu erfahren ist.“95 Oder um es mit Werner Klän selbst zu sagen: „Die Christenheit ist dabei der Kommunikationsraum des Evangeliums und die Vergebung die Weise seiner Applikation. Unter der Voraussetzung, dass der Glaubende ‚gerecht und Sünder zugleich‘ ist, ist mit Luther zu Recht von einem ‚Wachstum im Glauben‘ zu reden, freilich ohne dass dieses ein Rechtstitel für die Rechtfertigung des Sünders würde. In dieselbe Richtung weisen die Ausführungen der Konkordienformel, nach denen die ‚Verneuerung und Heiligung auch eine Wohltat des Mittlers Christi und ein Werk des Heiligen Geistes ist‘, jedoch strikt in 96 den Folgezusammenhang von Rechtfertigung und Vergebung einzuordnen ist.“
2.4
Seelsorge
In Werner Kläns Verständnis lassen sich Spiritualität und Seelsorge nicht wirklich voneinander trennen. So ist ja der Rückbezug auf das Wort Gottes und die Sakramente nicht nur der Wurzelgrund geistlichen Lebens, sondern ebenso Quelle der Seelsorge. Trotzdem soll der Bereich von Seelsorge hier noch einmal gesondert in den Blick geraten, da für Klän die Verbindung von Seelsorge und Eschatologie charakteristisch ist – am deutlichsten wahrnehmbar in seinem Beitrag für seinen Kollegen Hartmut Günther, in dem er sich mit Luthers Todesverständnis auseinandersetzt und dem er den Untertitel „Eine seelsorgliche Besinnung“ beigibt.97 Aber auch darüber hinaus setzt sich Klän mit eschatologischen Fragestellungen auseinander, wenn es etwa um Luthers Endzeiterwartung98 geht oder um ein angemessenes Reden vom Jüngsten Gericht99. Und immer arbeitet Klän dabei auch
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A.a.O., 61. Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, 153. Klän, Das dritte Sakrament (wie Anm. 91), 75. Werner Klän, Das „dreifältig Bild“ Christi, oder: Den Tod überleben. Perspektiven Martin Luthers für ein Leben vor und nach dem Tod. Eine seelsorgliche Besinnung, in: Wolfgang Schillhahn, Michael Schätzel (Hg.), Wortlaute. FS Hartmut Günther, Groß Oesingen 2002, 337–353. Vgl. Werner Klän, „… dass der Jüngste Tag unversehens komme“. Gewissheit des Ausgangs und Unbestimmtheit des Zeitpunkts in Luthers Endzeiterwartung, Freikirchenforschung 11 (2001), 86–99. Vgl. Werner Klän, Das Gericht Gottes. Eine alt-lutherische Sicht, in: Uwe Swarat, Thomas Söding (Hg.), Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch, QD 257, Freiburg im Breisgau 2013, 131–150.
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seelsorgliche Anwendung100 heraus oder formuliert selbst in theologisch-reflektierenden Zusammenhängen seelsorglich in der direkten Anrede101. Dabei erscheint die Grundsituation zunächst einmal bedrohlich: „Dass der Gottesbezug die alles entscheidende Größe für das Gelingen menschlichen Lebens in eschatologischer Perspektive ist, ist dabei die unumstößliche Voraussetzung. Dieser Bezug stellt (je)den Menschen unter eine letzte Verfügungsgewalt und in eine unbedingte Bindung, der er nicht entrinnen kann – und das gilt noch, ja gerade für den von Gott abgewandten, sogar in Selbstbezug verharrenden, also sündigen Menschen. Der Gottesbezug ist für den Sünder daher nur als bedrohliche Größe erfahrbar, denn er sieht sich dem gerechten Zorn Gottes ausgeliefert, der ihm in der unbedingten Forderung des heiligen Gotteswillens entgegentritt, an der der gott-ferne, gott-entfremdete und gott-feindliche Mensch scheitert, weil er 102 seine gott-gemeinte Bestimmung verfehlt[.]“
Indem aber der einzelne Christ angesichts der „Identität von Absolutionswort und Freispruch im Letzten Gerichts“103 seines endzeitlichen Heils gewiss sein darf und damit dessen, dass er das Ziel seiner eigenen Bestimmung erreicht, ergibt sich nicht nur eine neue Perspektive auf den Tod, sondern auch schon auf dieses Leben. Eschatologie hat damit nicht nur mit den letzten Dingen zu tun, sondern genauso mit den gegenwärtigen Dingen, weil unter der veränderten Perspektive auf den Tod „die irdische Existenz des Menschen Durchgangscharakter“104 gewinnt. So entsteht eine „spezifisch christliche Anschauung des Lebens vor dem Tod“105, die sich auch für die Seelsorge fruchtbar machen lässt: „Sie glaubt und weiß die Existenz des Christen zutiefst von der Christus-Wirklichkeit bestimmt, und damit ist die Todeswirklichkeit im Ansatz und im Grundsatz relativiert und überschritten; so kann Luther sagen: ‚Wir Christen haben hier schon das ewige 106 Leben, weil wir den Herrn haben, der das ewige Leben ist und gibt.‘“
So verschränken sich die Zeiten. Der Blick auf das Eschaton ist so keine bloße Vertröstung auf bessere Zeiten irgendwann, sondern es gilt: „Diese [himmlische, CB] Wirklichkeit aber ragt bereits in die irdische Existenz hinein: ‚Summa, wir sind schon über das Haupt, ja über den Rücken und Bauch, Schultern und Beine aus dem Tode, und hat nichts mehr an uns, außer eine kleine 107 Zehe, die auch bald hindurchkommen soll.‘ [Luther]“
100 101 102 103 104 105 106 107
Vgl. Klän, dass der Jüngste Tag (wie Anm. 98), 94. Vgl. Klän, Gericht (wie Anm. 99), 135. A.a.O., 131. A.a.O., 138. Klän, Das dreifältig Bild (wie Anm. 97), 339. A.a.O., 341. Ebd. A.a.O., 350.
„Was macht das mit dir?“
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Dass solcher Trost durchaus in Spannung zum Erleben des Einzelnen stehen kann, vermag Klän durchaus auch bei Luther wahrzunehmen: „In diesem Zusammenhang beachtenswert ist die Aufmerksamkeit des geschulten Seelsorgers für ‚depressive Tendenzen‘ bei Einzelnen: ‚Es werden viel betrübte Herzen sein, die dahergehen gleich als verdüstert, als die da fühlen, daß groß Unglück vorhanden sei, und sich damit tragen und fressen, und solch Herzleid fühlen, daß sie vor Traurigkeit verdorren.‘ Dabei trifft es nach Luther vor allem empfindsame Menschen, die sich nach Erlösung sehnen: […] ‚Da geht denn das Kreuz an, 108 und das Kreuz macht dies Leben verdrießlich.‘“
Aus dieser Not ergibt sich dann für Klän nach Luther auch der Beistand, der Seelsorge in ihrem Kern auszeichnet: „Daher sind die Christ/inn/en, denen das Geschick der vergehenden Welt nahe geht, [i]hrerseits der Solidarität bedürftig: ‚Darum, willst du barmherzig sein, so erbarme dich vielmehr der armen Christen, die so viel Plage und Herzleid leiden in der Welt; ja des lieben Evangelii, und des heiligen Namens Christi und GOttes, in welchem du getauft und zum ewigen Leben berufen bist […] Wollte ich doch lieber, daß noch zehn Welt zehnmal untergingen, denn ein einiger Christ in solchem Herzleid bliebe, schweige denn, daß Christus mit seiner ganzen Christenheit sollte sich lassen zertreten. Darum nur frisch und getrost gebetet: ‚Zukomme dein 109 Reich‘‘ [Luther].“
So ließe sich für Klän Seelsorge als ein Geschehen bestimmen, dass immer eschatologisch ausgerichtet ist, von daher Weite gewinnt, aber trotzdem oder gerade deswegen die Nöte und Sorgen im Hier und Jetzt konkret im Auge hat. 2.5
Pastoraltheologische Impulse
Was nun sollen lutherische Pfarrer in ihrer Ausbildung erlernen, um dann in der Praxis handeln zu können? Zu einem Teil dieser Fragestellung, nämlich unter dem Aspekt „Bekenntnis“, hat sich Werner Klän in seinem Referat auf der ersten Theological Seminaries World Conference des International Lutheran Council in Canoas (Brasilien) Gedanken gemacht.110 Konkret geht es ihm dabei darum, „wie die konfessionelle Identität eines zukünftigen Pastors im Lauf seiner theologischen Ausbildung gestaltet werden könnte“111. Zunächst beschreibt Klän Kompetenzen, die notwendig sind, um die Bekenntnistexte, auf die sich die Pfarrer in ihrer Bekenntnisbindung rückbeziehen, angemessen einzuordnen:
108 Klän, dass der Jüngste Tag (wie Anm. 98), 91f. 109 A.a.O., 92. 110 Werner Klän, Lutherische Pfarrerausbildung heute: Das Bekenntnis. Wesentliche Bestandteile der Ausbildung lutherischer Pastoren, LuThK 28 (2004), 81–100. 111 A.a.O., 84.
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„Für angehende Pastoren ist es von großer Bedeutung, die Entstehung konfessionell-lutherischer Identität im Bereich der westlichen Christenheit an der Schwelle zwischen Mittelalter und Moderne zu beobachten. Sie müssen außerdem nachvollziehen, dass die Entstehung des Konkordien-Luthertums sich in Übereinstimmung wusste mit den theologischen Absichten der Alten Kirche. Wir müssen freilich hervorheben, dass in unseren Kirchen in poststaatskirchlicher Zeit das Festhalten an den lutherischen Bekenntnissen ein Akt freiwilliger Selbstverpflichtung ist, von persönlicher Überzeugung geleitet. Und schließlich muss auch der Transfer einer Theologie und Kirchlichkeit, die im Zentraleuropa des 16. Jahrhunderts verwurzelt ist, in verschiedene Kontexte, die durch die Jahrhunderte wenig von starken evangelischen Kirchen beeinflusst wurden, wohl überlegt sein. Auch in Gegenden, die lange vom Luthertum geprägt waren, wie besonders in Europa, müssen wir erkennen, dass die Säkularisierung schnell an Einfluss gewonnen hat, teilweise bis 112 zum Verlust des lutherischen Erbes.“
Da sich „[d]ie lutherischen Bekenntnisse als Auslegung der Heiligen Schrift“113 verstehen und entsprechend auch verstanden werden wollen, fordert Klän folgerichtig auch eine Verzahnung von bekenntnistheologischen und exegetischen Kompetenzen: „Theologische Ausbildung muss dann die biblischen Wurzeln und Hintergründe dieses Artikels [von der Rechtfertigung, CB] erheben und seine Stellung im Mittel114 punkt der lutherischen Bekenntnisse als rechtmäßig und angemessen erweisen.“
Dabei ist diese Aufgabe nicht im Sinne einer konfessionalistischen Selbstabgrenzung zu verstehen, sondern immer als ein Prozess, der „die ökumenische Dimension“115 im Blick hat. Zusammenfassend fordert Klän von daher folgende Kompetenzen für die Pfarrerausbildung der lutherischen Kirche: „– gründliche exegetische Fähigkeiten, – ein Grundwissen der Kirchengeschichte, besonders der Geschichte des christlichen Dogmas, – Grundwissen über die Reformationszeit, – einen möglichst umfassenden Überblick der Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, – Hermeneutik der Bekenntnisse im Blick auf die Heilige Schrift wie auch auf die theologischen Herausforderungen unserer Zeit, – eine freiwillige, aber entschiedene Zustimmung zur Bekenntnistheologie als biblisch-fundierter Auslegung des Glaubens, vorzüglich in einem kontinuierlichen Diskurs, – eine Fertigkeit im Übertragen der Bekenntnisposition auf zeitgenössische Problematik, 112 113 114 115
A.a.O., 87f. A.a.O., 88. A.a.O., 92. A.a.O., 93.
„Was macht das mit dir?“
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– das Bemühen, die wahrhaft ökumenische Gültigkeit der lutherischen Be116 kenntnisse und ihrer Lehre zu verfechten.“
Als besondere Herausforderung für die nachwachsenden Theologinnen und Theologen benennt Klän dabei die Apologetik und damit die Sprachfähigkeit gegenüber anderen: „Ich bin überzeugt, dass die alten Methoden der Apologetik nicht mehr gut anzuwenden sind. Hier wäre ein geeignetes Diskussionsfeld für unsere Überlegungen zur Agenda der theologischen Ausbildung im neuen Jahrtausend oder im nächsten Jahrhundert oder noch bescheidener im nächsten Jahrzehnt. Die Auswirkungen der globalen Veränderungen auf unsere lutherische Identität und unseren missio117 narischen Auftrag machen ein neues Umdenken in unseren Reihen nötig.“
Dass die von Klän mit Blick auf die Pfarrerausbildung genannten Herausforderungen keine vollständige Aufzählung darstellen können, ist ebenso offensichtlich wie die Tatsache, dass für die genannten Herausforderungen noch längst keine abschließenden Antworten gefunden sind. Mit seiner Tätigkeit an der LThH hat Werner Klän aber seinen Beitrag dazu geleistet, die genannten Herausforderungen in den Blick zu nehmen und Schritte zur Bewältigung dieser Aufgaben zu unternehmen. 3.
Zusammenfassende Überlegungen
Der Überblick hat gezeigt, wie Werner Klän selbst versucht hat, in seiner Tätigkeit dem Anspruch, wissenschaftliche Theologie und kirchliche Praxis zusammenzuschauen und zusammenzubringen, gerecht zu werden. Dass manches begrenzt geblieben ist, nicht alles bis ins Letzte gelungen, würde Klän selbst wohl als Allererster betonen und behaupten. Trotzdem scheint es mir gerechtfertigt zu sein, diesen Aufsatz mit einer Beschreibung abzuschließen, die Werner Klän selbst in einem Beitrag auf den Oberurseler Liederdichter Erasmus Alber gemünzt hat, in der sich Klän aber wohl auch selbst wiedergefunden hat oder, wie ich meine, er sich zumindest wiederfinden lassen könnte: „So zeigt [er, CB] sich uns […] als lutherischer Theologie, bei dem Gott und Mensch, Erlösungsbedürftigkeit und göttliches Heilswerk, Wort, Christus und Glaube, Gottesbezug und Weltbezug, Christuszugehörigkeit und Hinwendung zum Nächsten, Geistleitung und authentisches christliches Leben in endzeitlicher Per118 spektive unabdingbar zusammengehören.“
116 A.a.O., 98. 117 Ebd. 118 Werner Klän, „Reformation im Lied“. Gesichtspunkte der kirchlichen Poetik bei Erasmus Alber, in: Achim Behrens, Christoph Barnbrock (Hg.), Theologische Erkundungen in Oberursel. FS Hella Adam, OUH 52, Oberursel 2012, 49–74, hier: 73.
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ Gedanken zu einem Lied (vgl. EG 67; LG 74; ELKG 46) Gottfried Herrmann 1.
Zur Geschichte des Liedes
Gesangbuchlieder, die von Frauen gedichtet wurden, stellen eine Seltenheit in Gesangbüchern dar. Da finden sich aus älterer Zeit nur drei Liederdichterinnen: Ämilie Juliane von Schwarburg-Rudolstadt1 (1637–1706), Eleonore von Reuß2 (1835–1903) und Elisabeth Cruziger (1505–1535). Sie sind mit je einem sehr bekannten Choral vertreten. Wie die Lebensdaten zeigen, ist Elisabeth Cruziger die früheste und so kommt ihr die Ehre zu, die „erste Liederdichterin der lutherischen Kirche“ zu sein. Dass ein beliebter Choral von einer Frau stammen sollte, war in der Reformationszeit noch so unvorstellbar, dass man bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dazu überging, unser Lied einem Rigaer Pfarrer zuzuschreiben (Andreas 3 Knöpken). Noch Johann Jakob Rambach (1693–1735) diskutiert diese Frage. Er führt an, es sei undenkbar, dass eine junge Frau von gerade einmal 20 Jahren dieses Lied verfasst habe. Es setze eine zu tiefe Kenntnis der Theologie und der lateinischen Sprache voraus. Aber schon das Wittenberger Gesangbuch von 1531 hält schlicht fest: „Ein geistlich Lied von Christo, Elisabeth Kreuzigerin“. Und zu diesem Zeitpunkt lebte die Verfasserin selbst in Wittenberg! Sie hätte eine falsche Zuschreibung wohl kaum unwidersprochen gelassen.4 Erstmals gedruckt erhalten ist uns das Lied im Erfurter Gesangbuch von 1524 unter der Überschrift „Ein Lobsang (sic!) von Christo“. Im ältesten Zwickauer Gesangbuch von 1525 ist es ebenfalls vertreten, allerdings ohne Verfasserangabe.5 In der Ausgabe von 1526 steht unter dem Lied: „Elisabeth M.“, d.h. es nimmt auf den Mädchennamen „von Meseritz“ Bezug.
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Bis hierher hat mich Gott gebracht (EG 329; LG 371; ELKG 236). Das Jahr geht still zu Ende (EG 63; LG 63; ELKG 44). Nach ihm übrigens auch noch berühmte der Hymnologe Philipp Wackernackel im 19. Jahrhundert. A. F. W. Fischer, Kirchenlieder-Lexikon, Bd. I, Gotha 1878, 252f. Das älteste Zwickauer Gesangbuch, hg. von Otto Clemen, Berlin 1960.
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“
2.
457
Zur Verfasserin
Wir wissen fast nichts über Elisabeth Cruziger.6 Im Unterschied zu ihrem Mann besitzen wir von ihr nicht einmal ein Bild. Sie wurde am 13. Februar 1505 auf dem ostpommerschen Adelssitz Meseritz bei Schivelbein geboren (heute: Swidwin/Polen)7. Bereits als Kind oder Jugendliche scheint sie ins Prämonstratenserinnen-Kloster in Treptow (an der Rega)8 gekommen zu sein. Am selben Ort wirkte seit 1504 Johannes Bugenhagen (der spätere Wittenberger Stadtpfarrer und Seelsorger Luthers) als junger Lateinschulrektor. Er wurde durch Luthers Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ für die Reformation gewonnen und ging 1521 selbst nach Wittenberg. Die junge Nonne Elisabeth von Meseritz scheint Bugenhagen bereits in Treptow schätzen gelernt zu haben. Als sie 1522 mit anderen Nonnen aus dem Kloster flieht,9 kommt sie jedenfalls nach Wittenberg und bittet ihn um Hilfe. In Wittenberg lernt Elisabeth den Studenten Caspar Cruziger (Kreuziger) kennen. Er stammt aus Leipzig, wo er am 1. Januar 1504 geboren wurde. In seiner Heimatstadt hatte der Hochbegabte bereits 1513 das Studium an der Universität aufgenommen. 1521 siedelten seine Eltern nach Wittenberg über. Der Sohn folgte ihnen dorthin. Am 13.04.1523 schrieb er sich mit 19 Jahren als Student an der Universität Wittenberg ein. Am 14. Juni 1524 wurden Caspar und Elisabeth Cruciger in Wittenberg von Luther persönlich getraut. 1525 nahm Cruciger eine Berufung als Rektor der evangelischen Stadtschule und Prediger in Magdeburg an. Er trug dort zur Festigung der Reformation bei. Die Stadt Magdeburg wurde nach Luthers Tod zur Hochburg der lutherschen Reformation („Unsers Herrgotts Kanzlei“). 1528 kehrte Cruciger auf Luthers Wunsch nach Wittenberg zurück. Er lehrte zunächst an der artistischen Fakultät (d.h. Grundstudium), bevor er am 16./17. Juni 1533 zusammen mit Bugenhagen zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Seither hielt er theologische Vorlesungen und wurde 1536 Professor der Theologie. 1539 weilte er mehrere Wochen in seiner Heimatstadt Leipzig und leitete dort die 10 Einführung der Reformation. Luther setzte große Hoffnungen auf den jungen, begabten Mann. Durch ihn als „Stenograph (Schnellschreiber) der Reformation“ sind uns viele Luthertexte erhalten geblieben.11 Später sorgte er für die Druckherausgabe von Luthers Schriften. In seiner bescheidenen, zurückhaltenden Art fühlte sich Cruciger aber mehr zu Melanchthon hingezogen. Das wurde vor allem nach Luthers Tod deutlich. Nur Crucigers früher Tod (1548) verhinderte, dass er zu einem der Wortführer unter den Philippisten wurde. 6 7 8 9 10 11
Auf Deutsch „Kreuziger“. Das ist wohl im Sinne von „Kreuzträger“ gemeint. 80 km südlich von den Küstenstädten Kolberg und Köslin, an der oberen Rega gelegen. Unweit der pommerschen Ostseeküste, in der Mitte zwischen Stettin und Köslin gelegen. Also ein Jahr vor Katharina von Boras Flucht aus Nimbschen (Ostern 1523). Vgl. dazu Gottfried Herrmann, Reformation mit Verspätung. Sachsen 1539, Theologische Handreichung und Information 2014/4 sowie Bibel und Gemeinde 2016/1, 51ff. Gotthilf Herrmann, Der Stenograph der Reformation, in: Ev.-Luth. Volkskalender 1948, 63ff.
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Gottfried Herrmann
Cruciger wird von Zeitgenossen als schüchtern und schweigsam beschrieben. Seine Kollegen beklagen, dass der talentierte Mann selbst so wenig geschrieben hat. Das hing aber wohl mit seiner Neigung zu Schwermut zusammen. Er litt immer wieder unter Depressionen und unter einer damit verbundenen Antriebsschwäche. Über seine Ehe mit Elisabeth von Meseritz erfahren wir in den Quellen nichts. Sie scheint keinerlei Anlass zu Kritik geboten zu haben.12 Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: ein Sohn und eine Tochter. Der Sohn (geb. am 19.03.1525 in Wittenberg), ebenfalls mit Namen Caspar, war später selbst Theologe und ist nach Verwicklung in die damals so genannten „kryptocalvinistischen“ Querelen in Sachsen 1597 am reformierten Hof in Kassel gestorben. Die Tochter heiratete den Eislebener Schulrektor Andreas Kegel.13 Ansonsten wissen wir nur, dass Luthers Frau Käthe mit Elisabeth Cruciger eng befreundet war, was bei den auffälligen Parallelen ihres Lebensweges nahelag. Frau Cruciger starb bereits am 2. Mai 1535 in Wittenberg, also nach elf Jahren Ehe mit 30 Jahren. Wir erfahren nichts über die Todesursache. Damals starben junge Frauen nicht selten durch Infektionen im Kindbett. Möglich, dass dies auch bei Elisabeth Cruciger der Fall war. Caspar Cruciger heiratete 1536 zum zweiten Mal. Wieder hielt Luther die Trauung. Aus dieser zweiten Ehe ging eine Tochter (Elisabeth) hervor, die später 14 Luthers Sohn Johannes heiratete. 3.
Zum Lied
Die ursprünglichen Überschriften weisen das Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ als ein Loblied auf Christus aus. Wegen der Bezugnahme auf den Morgenstern als Christussymbol (Apk 22,16) wird es heute gewöhnlich unter die Epiphaniaslieder gerechnet. Von Anfang an ist es mit der heute üblichen Melodie aus dem 15. Jahrhundert verbunden worden. Wie bei vielen anderen Melodien dieser Zeit war der Ausgangspunkt wohl ein weltliches Lied. Die Melodie gehört zu den ionischen Kirchentönen und entspricht in etwa der späteren Dur-Tonart (G-Dur). Das Lied ist in der Sprache der Reformationszeit verfasst. Das macht uns 500 Jahre später den Zugang nicht leicht. Der Text sperrt sich gegen ein gedankenloses Absingen. Im Gegensatz zur plakativen Sprache anderer Reformationslieder finden wir in diesem Choral aber einen besonderen Ton. Aus den Strophen des Liedes spricht eine innige Hingabe und herzliche Liebe zu Jesus, wie wir sie so später wieder etwa bei Valerius Herberger oder Paul Gerhardt finden.
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Anders als etwa beim späteren Zwickauer Stadtschreiber Stephan Roth (damals ebenfalls in Wittenberg), bei dem die Klagen über seine exaltierte Frau nicht enden. Theodor Pressel, Caspar Cruciger, Elberfeld 1862, 75–77. A.a.O., 77.
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“
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Trotzdem geht es im Lied nicht bloß um mystische Jesusliebe, sondern um ein Bekenntnis zur reformatorischen Wahrheit. Dies wird am Gedankengang der Strophen deutlich. Strophe 1+2 reden von der Erlösungstat Christi, als dem wahren Gottessohn und Menschensohn (objektive Rechtfertigung). Am Ende der 2. Strophe und in der 3. Strophe wird zur subjektiven Rechtfertigung übergeleitet: Uns Menschen bleibt nur, diese Erlösungstat betend im Glauben anzunehmen. Strophe 4+5 wenden sich dem christlichen Leben in der Heilung als Folge der Rechtfertigung zu. Sie bitten den Herrn Christus, uns nicht vom Glauben abirren zu lassen. Dies geschieht, indem täglich der alte Adam in uns getötet wird und den neue Mensch aufersteht. Im Einzelnen finden sich im Lied neben zahlreichen biblischen Anklängen deutliche Bezüge zu zwei altkirchlichen Texten: a) zum 2. Artikel des Nizänisch-Konstantinopolitanischen Bekenntnisses und b) zum lateinischen Hymnus „Corde natus ex parentis“ (Aus des Vaters Herz geboren) des Spaniers Aurelius Prudentius (um 400). Strophe 1 beginnt gewissermaßen mit den Worten des Nizänums: Wir glauben an „[…] Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott[…]“ Christus ist der „einig Gotts Sohn“, das heißt: der einzig geborene Sohn Gottes (lat. filium Dei unigenitum), sozusagen der einzige wirkliche Sohn Gottes. Als Christusgläubige dürfen wir uns ja auch „Söhne“ Gottes nennen (I Joh 3,1). Aber wir sind nur an Kindesstatt angenommene Kinder, also Adoptivkinder. Das unterscheidet uns von dem eingeborenen Sohn. In der Ewigkeit (vor aller Zeit und Welt) hat Gott diesen eingeborenen Sohn gezeugt. Johannes sagt: „Niemand hat Gott je gesehen, der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt.“ (Joh 1,18) Unser Lied sagt: Christus ist aus dem „Herzen“ des Vaters entsprossen. Hier hat offenbar der Hymnus des Prudentius Pate gestanden: „Corde natus ex parentis“ = aus dem Herzen des Vaters geboren. Das klingt ungewöhnlich. Aber hinter dieser Formulierung steckt eine erstaunliche Kenntnis der biblischen Sprachen, die man Frau Cruciger nicht zugetraut hat. Was Luther mit „Schoß“ übersetzt, meint in den Ursprachen die ganze Brustpartie des Menschen bis hinunter zum Schoß (griech. kolpos, lat. sinus = Busen). Und dies entspricht genau dem Hebräischen, wo im gleichen Sinn „lef“ (Herz) verwendet wird. Bei der „Brustpartie“ geht es um den Ort für Zuflucht und liebevolle Zuwendung. Wir drücken einen Menschen ans Herz, den wir lieben oder den wir trösten wollen. Das bedeutet: Indem Gott diesen eingeborenen Sohn zeugt, wendet er uns sein Herz in Liebe zu. Er erbarmt sich über uns. Er ringt sich seinen Sohn vom Herzen, um uns Sünder zu erlösen. Das ist das fast unglaubliche Wunder der Weihnacht! Das Epiphaniasfest hebt besonders hervor, dass der in großer Niedrigkeit Ge15 borene doch zugleich der himmlische König und Weltherrscher ist. Etwas von 15
Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr, Berlin ²1988, 200.
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Gottfried Herrmann
seiner Herrlichkeit leuchtet auf, als die Weisen aus dem Morgenland ihre königlichen Gaben bringen. Es leuchtet auf – so wie der Morgenstern mit seinem überhellen Schein das Ende der Nacht ankündigt. „Er ist der Morgensterne, sein Glänzen streckt er ferne (= mehr als andere) vor andern Sternen klar.“ Noch eines fällt an der 1. Strophe auf und gibt ihr reformatorische Farbe: „[…] gleichwie geschrieben steht“. Es geht bei dem Besungenen nicht um irgendwelche kirchlichen Traditionen. Das muss betont werden, gerade weil hier altkirchliche Texte die Vorlage abgegeben haben. Was die Alte Kirche bekannte, ist durch die Schrift gedeckt. Das ist der große Trumpf, den die Reformation gegenüber Rom ausspielen kann. An diesem Punkt entzünden sich in der Mitte der 20er Jahre des 16 16. Jahrhunderts heftige Diskussionen zwischen Lutheranern und Katholiken. Strophe 2 fährt fast wörtlich mit der Formulierung des Nizänums fort: „Für uns ein Mensch geboren“. Im Bekenntnis heißt es: „Er ist für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel gekommen […]“ Hier schlägt das Herz der biblischen Botschaft. Luther wird nicht müde das „Für uns“ (pro nobis) zu betonen. Das ist Evangelium pur, wie auch die folgenden Zeilen zeigen: Wir wären alle verloren, wenn dies nicht geschehen wäre. „Also17 hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an die glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16) Wann ist das geschehen? „Im letzten Teil der Zeit“. I Petr 1,20 spricht davon, dass Gott seine Liebe in Christus „am Ende der Zeiten offenbart hat“. Damit ist also nicht nur die Zeit unmittelbar vor dem Weltende gemeint, sondern die ganze Zeit seit Christi Himmelfahrt. Und Paulus bekennt: „Jetzt aber [ist es] offenbart […] durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“ (II Tim 1,10) Die Beschreibung des Erlösungswerkes endet in Strophe 2. Die folgenden Strophen sind Gebet, das sich an den Erlöser richtet. Die 3. Strophe nimmt auf, was Petrus in seinem ersten Brief als Aufgabe des Glaubenden beschreibt. Wir kennen diese Worte aus dem Introitus des Sonntags nach Ostern: „Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr schon geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.“ (I Petr 2,2f.) Das Evangelium ist Nahrung für unseren Glauben. Es richtet unser zerschlagenes Gemüt auf. Jesus sagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ (Joh 7,37) Wenn uns der Herr in der Liebe zu ihm und in seiner Erkenntnis wachsen lässt, dann bleiben wir „am Glauben“. Wir würden sagen „im“ Glauben. Vielleicht soll durch diese ungewöhnliche Formulierung (Präposition) darauf hingewiesen werden, dass der Glaube nicht etwas ist, worüber wir verfügen können, wenn 16 17
Vgl. den ersten Reichstag von Speyer, bei dem die Evangelischen das „Verbum Dei manet in aeternum“ (VDMIAE, Gottes Wort bleibt in Ewigkeit) als Aufnäher an ihrer Kleidung trugen. Das lutherische „Also“ kann hier als „so sehr“ oder „so, auf diese Weise“ gedeutet werden.
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“
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wir ihn erst einmal haben. Er ist Gabe, Geschenk, an dem wir uns nur – mit Gottes Hilfe – festhalten können. Strophe 4 wendet sich an Christus als den „Schöpfer aller Dinge“. In Christus als dem „Wort am Anfang“ (Joh 1,3) ist alles geschaffen (Kol 1,16). Im Nizänum heißt es: Christus ist „[…] eines Wesens mit dem Vater, durch welchen alles geschaffen ist.“ Vor allem aber ist es Christus, der unseren Glauben schafft und dafür sorgt, dass wir nicht wieder vom richtigen Weg abirren. Wir dürfen und sollen ihn darum bitten. Er hat die Macht dazu. Denn er regiert „von End zu Ende“ oder wie das Nizänum bekennt: „Seine Herrschaft hat kein Ende.“ In der 5. Strophe geht es um den täglichen Kampf, in dem der Christ in dieser Welt steht. Zwar schon durch Christus gerettet, leben wir doch noch in dieser Welt und bleiben den Angriffen des Teufels und der Sünde ausgesetzt. Deshalb muss der alte Adam mit seiner Sünde täglich mit Christus sterben, damit der neue Mensch auferstehen kann (Röm 6,4): „So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in einem neuen Leben wandeln.“ Zu solcher täglichen Umkehr treibt den Gläubigen nicht das Gesetz, sondern die Güte Gottes, die er uns in seinem Evangelium offenbart hat. Paulus sagt deshalb: „Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?“ (Röm 2,4) Das ist der Grund weshalb es in unserer Strophe heißt: „Ertöt uns durch dein Güte […]“ Im Zusammenhang mit der täglichen Buße weist Luther später im Großen Katechismus auf die Bedeutung der Taufe hin: „Wenn du in der Buße lebst, so gehst (lebst) du in der Taufe, welche solches neue Leben nicht nur deutet (verkündet), sondern auch wirkt, anfängt und treibt. Denn darin wird gegeben Gnade, Geist und Kraft, den alten Menschen zu unterdrücken (kränken, schwächen), dass der neue hervorkomme und stark werde.“ 4.
Schlussgedanken
Betrachtet man das Lied „Nun komm, der Heiden Heiland“ näher, kommt man nicht aus dem Staunen heraus über die Fülle seiner inhaltlichen Aussagen. Zentrale Lehren der Bibel, die von der Reformation wiederentdeckt wurden, werden in schlichten Worten bekannt. Und dies geschieht in einer herzlichen Innigkeit, die dem Lied sein besonderes Gepräge gibt. Der nüchterne, fast etwas herbe Grundzug und die Vielzahl der biblischen Bezüge legen den Vergleich mit den großen evangelischen Dichtern des 20. Jahrhunderts (J. Klepper, R. A. Schröder) nahe, die ähnliches versucht haben. Entstanden sind Lieder, die nicht leicht eingängig und singbar sind, aber gerade dadurch ihren 18 Tiefgang bewahren. 18
Weitere Literatur, zusätzlich zu den Angaben in den Fußnoten: Handbuch zum Evang. Kirchengesangbuch, Bd. I/2, 99–101; Kurt Kallensee, Lobgesang auf Christus, in: Evang.-Luth. Volkskalender 1985, 36f.; Carl Meusel, Kirchliches Handlexikon, Bd. II, Leipzig 1889, 50f.
Von der Seligkeit und Anfechtung beim Vorlesen und Zuhören Wenn im Gottesdienst aus der Heiligen Schrift vorgelesen wird 1 Wilhelm Rothfuchs Die Frage, ob und was Kirchengeschichte und Schriftauslegung miteinander zu tun haben, findet bei einem seit unseren jungen Jahren verehrten Kirchenlehrer eine markante Antwort, nämlich bei Gerhard Ebeling (1912–2001). Dieser prägte seit 1947 die bis heute gültige und sich immer noch vertiefende These: „Die Kirchengeschichte als Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift.“2 Wie dieses Konzept bis heute wirksam blieb, zeigen Carl Andresen und Ekkehard Mühlenberg im „Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte“.3 Dort wird u.a. ausgeführt, dass Ebeling in seiner These den Begriff „Auslegung“ weit gespannt verstanden wissen wollte. Auslegung geschieht für ihn „nicht nur in Verkündigung und Lehre und erst recht keineswegs nur etwa primär in Kommentaren, sondern auch im Handeln und Leiden“4. Wie auch immer „Handeln und Leiden“ von Ebeling inhaltlich gemeint und gefüllt sein möge, hier werden diese Ausdrücke als Form eines auslegenden Umgangs mit der Bibel beansprucht: Auch im aktiven Handeln mit der Schrift als Lesen und Vortragen sowie im passiven Leiden an der Schrift als Hören und Aufnehmen geschieht Auslegung. In Israels Geschichte wurde früh und fortgesetzt aus heiligen Schriftrollen vorgelesen.5 So geschah es auch in den ersten christlichen Gottesdiensten und Gemeinden.6 Schließlich findet sich wenig später am Anfang der Offenbarung vor dem Gruß an die „sieben Gemeinden“ die auffällige Anmerkung: „Selig ist, wer da liest
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Dieser Beitrag versteht sich als Gruß eines gelernten Exegeten für das Neue Testament, den kirchliche Fügung zum Vertreter der Praktischen Theologie im akademischen Lehramt berief, an einen gelernten Kirchenhistoriker, den ebenfalls kirchliche Fügung zum Vertreter der Symbolik/Dogmatik und Ökumenik im akademischen Lehramt berief. Er sei gegrüßt in allen folgenden Zeilen. Der Wortlaut der Bibelzitate richtet sich nach dem Entwurf der Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte, hg. im Auftrag der Kirchenämter von EKD, UEK und VELKD, Hannover 2014. Tübingen 1947, 1964 wieder abgedruckt in: Gerhard Ebeling, Wort Gottesund Tradition, Göttingen 1964, 9–27. Bd. 1, Göttingen 2011, XXIV unter 4a: „Kirchengeschichte als Geschichte der Schriftauslegung?“ Ebeling, Wort Gottes (wie Anm. 2), 24. Ex 24,7; Neh 13,1; Jer 36,6; vgl auch Lk 4,6; Act 13,15.17; II Kor 3,14. I Thess 5,27; Kol 4,16; I Tim 4,13; siehe auch Mk 13,14/Mt 24,15.
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und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.“ Das an diesen Stellen gebrauchte Verb „anaginoskein“ meint eher vorlesen.7 1.
Der verlorene Schatz in der Kirchengeschichte?
Weitere Nennungen dieses Umgangs mit den biblischen Schriften finden sich bei den „Apostolischen Vätern“. Fassbar aber als geordneter Dienst der Hierarchie durch die „Anagnosten“ wird dieses Handeln in den „Apostolischen Konstitutionen“, Buch VIII, einer Sammlung früherer Kirchenordnungen aus dem 4. Jahrhundert. Dort stehen die Anagnosten noch in der Ämterhierarchie. Sie verloren aber in der weiteren Geschichte mehr und mehr an Bedeutung.8 Die lutherische Reformation rückte das „Predigtamt“ als „ministerium ecclesiasticum“ ganz ins Zentrum der Ämterlehre und des Gottesdienstes. Und wenn auch in den protestantischen Kirchentümern die Lesungen immer gehalten und bis zur Aufklärung weithin auch gesungen (kantilliert) wurden, so hatten sie doch Anteil an den Auflösungserscheinungen in diesen Kirchen.9 Erst das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) brachte hier einen Neuanfang. In den Konstitutionen über die heilige Liturgie („Sacrosanctum Concilium“ 1963) und über die Kirche („Lumen Gentium“ 1964) wurden die Lesungen durch Öffnung für die Landessprache und vorsichtig auch für die Laien (Nennung der Lektoren auch außerhalb der Hierarchie) aufgewertet.10 So erscheint es nur an der Zeit und folgerichtig, dass in den folgenden Jahrzehnten über die Wende zum dritten Jahrtausend hin in zunehmend vielen Gemeinden der römisch-katholischen und der evangelischen Kirchen viele Laien in den Dienst der gottesdienstlichen Schriftlesung drängten. Hier ist heute noch vieles „im Fluss“ und bedarf der kirchlichen Aufmerksamkeit und Ordnung.11 Zunehmend werden auf allen möglichen kirchlichen Ebenen Angebote zur Gewinnung, Schulung und Fortbildung von Lektoren und Lektorinnen gemacht. Längst gibt es also auch eine theologische Literatur mit praktischen Hilfsangeboten für die Vorlesung biblischer Texte als Epistel und Evangelium plus Textreihen aus dem Alten Testament.12 Dazu gesellt sich eine wachsende praktisch-theolo7 8 9 10 11 12
Zum Lesen in der Antike siehe Werner Müller, Lesen, Schreiben, Schulwesen, in: Kurt Erlemann u.a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur, Bd. 2, 2005, 234–237. Zur Geschichte der Lesungen siehe Gerhard Kunze, Die Lesungen, in: Leiturgia II, 1955, 87–180. Vgl. Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in den evangelischen Kirchen Deutschlands bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus, 1921. Vgl. Sacrosanctum Cocilium, Absätze 6.7.24.29.35 und Lumen Gentium, Absatz 24. Vgl. das Heft 8 aus der Reihe „Lutherische Orientierung“ mit dem Titel „Amt, Ämter, Dienste in der SELK“, Hannover o.J. Wir nennen hier nur zwei solcher Angebote: Dieter Nestle, Die Lesung der Evangelien im Gottesdienst, 2001 und dazu seine hilfreichen Beiträge in der Herderbücherei Nr. 1054, „Die Ursprünge des Neuen Testaments“ (1983) und Nr. 1214, „Wenn du im Garten wandelst, lerne den Glauben“
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gische Literatur als Untersuchung und Betrachtung des Lektorendienstes.13 Zu alldem sei erinnert an die beiden Hauptreferate bei der 13. Kirchensynode der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche 2015 in Hermannsburg: Alexander Deeg, „Vom Lesen der Heiligen Schrift“; Christoph Barnbrock, „Vom Hören der Heiligen Schrift“14. Dieter Nestle und Fritz Baltruweit mit seinen Mitautoren bieten ausgeführte Vorschläge für „Präfamen“, als „Hinführungen“ zu den Lesungen. Diese „wollen biblische Texte aufschließen […] Zugleich wollen sie Bezüge zur Gegenwart herstellen und neugierig machen“15. Andererseits gilt: „Sie müssen sich in der Praxis noch bewähren.“16 Melzl und Deeg sprechen sich gegen solche Versuche aus. Melzl unterscheidet zwischen „ritueller und textueller Kohärenz“ bei der Schriftlesung. Das heißt, wenn ein verschrifteter (gedruckter) Text vorgelesen wird, dann wird er aus seiner Form als geschriebenes Wort zurückgeführt in seine ursprüngliche Form als gesprochenes Wort. Diese Rückführung der Formen geht nach Melzl einher „mit der Unterscheidung zwischen heiligem und kanonischem Text“17 beim Hörer. Das als „heiliger Text“ gehörte und wahrgenommene Bibelwort spricht für sich. Der als „kanonisch[e] Text“ gehörte und empfundene Text bedarf des fachkundigen Interpreten. Mehr oder weniger deutlich plädiert Melzl für eine Annahme der Lesung als heiliges Gotteswort, das für sich spricht. Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei Deeg. Er beklagt unter Berufung auf Nicol ein Defizit im Protestantismus, der „selbst in seiner lutherischen Spielart keine Formen des liturgischen Umgangs mit der Bibel entwickelt“ habe. Er plädiert dagegen dafür, „an dieser Stelle eine kultische Verfremdung des Wortes in den 18 Lesungen anzustreben“ . Er führt das Vorhaben einer Verfremdung aus im Nachdenken über die Theologie der Lesungen, über die Auswahl der Lesungstexte, über den Ort der Lesungen und über die „Materialität der Lesungsbibel“. 2.
Anforderungen und Chancen bei den gottesdienstlichen Lesungen
Die Kirche – und darum besonders auch die evangelisch-lutherische Kirche – steht vor hohen Anforderungen, hat aber auch große Chancen bei der Übung der gottes-
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15 16 17 18
(1985); als weiteres Angebot bieten Fritz Baltruweit u.a. (Hg.), Hinführungen zu den biblischen Lesungen im Gottesdienst, Hannover 2012; weitere einschlägige Literatur bei Thomas Melzl, Die Schriftlesung im Gottesdienst, Leipzig 2011, 109. Martin Nicol, Weg im Geheimnis, Göttingen 2009; Melzl, Schriftlesung (wie Anm. 12); Alexander Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt, Göttingen 2012. Veröffentlicht in LuThK 39 (2016), sowie Christoph Barnbrock, Wort des lebendigen Gottes, LuThK 40 (2016), 81–117, und Werner Klän, Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt, LuThK 40 (2016), 46–80. Baltruweit u.a., Hinführungen (wie Anm. 12), 8. A.a.O., 10. Melzl, Schriftlesung (wie Anm. 12), 90. Deeg, Das äußere Wort (wie Anm. 13), 499.
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dienstlichen Lesungen. Denn sie hat es hierbei zu tun mit dem „Wort des lebendigen Gottes“19. Deeg hat darauf hingewiesen,20 dass Hans Assmussen schon 1936 diesen Sachverhalt deutlich betonte: „Die christliche Gemeinde bleibt einfältig bei der Erwartung und dem Glauben, daß überall dort, wo die Heilige Schrift laut wird, etwas geschehen will. Gott will zu 21 Wort kommen. Darum ist Schöpfungszeit, wo die Schrift verlesen wird.“
Wer eine Ahnung von der Literaturgeschichte hat, wird wissen, dass die Bibel eine große Zahl verschiedener Literaturformen enthält: Erzählungen, Gedichte und Lieder, Kommentare und Gesetzeskorpora u.v.m. Der Umfang dieser vielen Formen ist im Neuen Testament erheblich überschaubarer. Wir interessieren uns hier für die sog. „Evangelien“, die in sich unterschiedliche Formen der Literatur bergen: Ahnenlisten, Erzählungen, Gleichnisse, Reden und Kommentare. Alle diese Texte haben eine deutlich wahrnehmbare Geschichte ihrer Redaktion bis zur Zusammenstellung als „Evangelium nach N.N.“ durch die Hand dieser ihrer „Evangelisten“. Die sog. „formgeschichtliche“ Forschung an den Evangelien hat aufgezeigt, dass die Einführungssätze in die meist recht kurzen Berichte von Jesu Worten und Taten oft Spuren des Bewusstseins der jeweiligen Evangelisten erkennen lassen, mit dem sie den Text in ihr Evangelium aufgenommen haben. Darum verdienen solche redaktionellen Worte eine hohe und einfühlsame Aufmerksamkeit bei denen, die sie vorlesen wollen, wie auch für diejenigen, die sie hören sollen. Einer solchen Aufmerksamkeit möchten wir nun dienen, wenn wir sie an einigen wenigen Lesungen aus der Reihe der Evangelien beispielhaft ausführen und einüben. Als Beispiele wählen wir aus der Reihe der Evangelien drei Lesungen aus: 1. das Evangelium zum Reformationstag und zum Gedenktag aller Heiligen: Mt 5,1–12, bzw. 1–10; 2. das Evangelium zum Sonntag Estomihi: Mk 8,31–38; 3. das Evangelium zum Sonntag Lätare: Joh 12,20–24. 3.
Mt 5,1–10 (11–12): die „Bergpredigt“.
Der Evangelist leitet die Predigt Jesu ungewöhnlich fast weitschweifig ein. Man wird gut daran tun, Mt 4,25 dazuzunehmen: „Und es folgte ihm eine große Menge aus Galiläa, aus den Zehn Städten, aus Jerusalem, aus Judäa und von jenseits des Jordan.“ Um diese „große Menge“ ging es dem Evangelisten, als er den nächsten Satz formulierte: „Als er aber das Volk sah“. Was in unsern Lutherbibeln mit zwei Wörtern („Menge“ 4,25 und „Volk“ 5,1 übersetzt ist, hat im Urtext nur eine Entsprechung: „ochloi“. Wir brauchen das jetzt nicht zu vertiefen, aber Luther ist mit sei19 20 21
Diese Formel entstammt den röm.-kath. Messbüchern für die erste und zweite Lesung in der Feier der Gemeindemesse. Deeg, Das äußere Wort (wie Anm. 13), 500. Hans Asmussen in seiner Gottesdienstlehre, Bd. 3: Die Ordnung des Gottesdienstes, München 1936, 27.
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nen Übersetzungen „viel Volcks“ (4,25) und „das Volck“ (5,1) dem Ansinnen des Evangelisten näher und dem Zusammenhang der Wörter auch. Wenn man Mt 4,25 dazu stellt, werden die folgenden Sätze in ihrer markanten Kürze noch auffälliger. Wir schauen sie der Reihe nach an: Als er (Jesus) aber das Volk sah – Es ist ja nicht so, dass Jesus jetzt erst das Volk sähe, als ob er bisher gar nicht gemerkt hätte, was da los war. Matthäus mochte diese Wendung offenbar, wiederholt er sie doch 9,36 wörtlich, da wo mehrfach vom Sehen die Rede ist (9,2.4). Den Hintergrund bildet natürlich Gottes Schauen, um das Asaph fleht (Ps 80,15; vgl. Jes 63,15; 66,2). ging er auf einen Berg – Der Christus des Matthäusevangeliums hat es mit den Bergen. Dieter Nestle hat das in dem Büchlein „Wenn du im Garten wandelst…“ anschaulich beschrieben: „Wer auf das Matthäus-Evangelium zugeht, nähert sich 22 einem Gebirge. Sieben Gipfel ragen besonders hervor“ : · der Berg, auf dem der Versucher dem Gottessohn alle Reiche der Welt zeigt, um ihn zu verführen. (4,8–10) · der Berg, von dem das Wort für alle Völker ausgeht, dass es ihnen gelehrt wird. (5–7; vgl. 28,20) · der Berg, auf dem Jesus ganz allein betet. (14,23) · der Berg der Krankenheilung und der Speisung der Entkräfteten. (15,29–39) · der Berg der Verklärung Jesu vor den drei Jüngern. (17,1–9) · der Berg der Ölbäume, auf dem Jesus die andere Bergrede hält (24–25,46) · der Berg der Aussendung zur Taufe und Lehre für alle Völker. (28,16–20) Nestle möchte dieses „Gebirge“ nicht systematisch „gepresst“ wissen. Aber wer den ersten Evangelisten kennt, dem kann so etwas schon mal auffallen und zu denken geben. Im Übrigen bekommt die Szene Fahrt, und es entsteht für den Hörer ein Bild. und setzte sich – Kann man sich diesen Berg wie einen „Lehrstuhl“ vorstellen? Jedenfalls sitzt der Christus erhöht und kann die vielen Menschen überschauen. Das Bild nimmt Gestalt an. Und seine Jünger traten zu ihm – Wer sind diese Jünger? Es sind nur vier: zwei Brüderpaare, Simon Petrus mit seinem Bruder Andreas; dazu Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus. Die Szene bekommt Struktur: Etwas tiefer am Berghang verharren die zahlreichen Menschen. Sie wollen nicht nur hören; sie erhoffen auch weitere Heilungswunder. Ich sehe sie gebannt nach oben schauen. Von ihnen lösen sich die vier Jünger und treten zu Jesus. Das Bild reizt mich, hinter Jesus zu treten, um ihm über die Schulter zu schauen. So habe ich Jesu Blickfeld. Ob er, der besser sehen kann als ich, den einen oder anderen seiner späteren Jünger oder eine 23 der Frauen, die ihm dann bis ans Ende nachliefen, sah?
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Nestle, Wenn du im Garten wandelst, (wie Anm. 12), 79. Nestle hat dies Bild noch anders gesehen: A.a.O., 87; eine Bildbeschreibung, deren Original er nicht nennt, die aber an Rembrandts „Hundertguldenblatt“ 1648/1650 stark erinnert.
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und er tat seinen Mund auf – Ganz ruhig holt mich der Evangelist zurück aus meinen Träumereien. Ich kann mich wieder auf ihn konzentrieren. Diese wahrhaft bildhafte Formulierung der Lutherbibel stammt wohl letztlich aus dem AT. Luther übersetzt so in Mt 13,35, wo die Wendung im Griechischen aus Ps 77,2 nach dem Wortlaut der Septuaginta von Matthäus zitiert ist. Sie taucht im AT öfter auf; im NT wird sie mehrfach von Lukas übernommen: Sie gibt einmal mehr Zeit zum Schauen und darüber hinaus zum Hören. lehrte sie und sprach: – Ab und zu haben Ausleger gefragt oder vermutet, dass Jesus nach antiker Rhetorik-Kunst unter freiem Himmel und vor großem Auditorium gesungen habe. Denn das gesungene Wort trägt weiter, wenn es richtig gesungen wird. Sieht man von Mt 5,2 hinüber zu 13,2, dann kann man schon zu der Frage kommen: Hat er die Seligpreisungen vom Berg herabgeschrien oder das Gleichnis vom Sämann aus dem Boot herübergerufen zu den vielen Leuten, die am Ufer standen und saßen? Beide Redetexte eignen sich durchaus dazu, sie musikalisch in geeignetem Sprechgesang vorzutragen. Und Luther hat nach dem Protokoll seiner Mitschreiber in einer seiner Predigten 1538 über die Heilung eins Taubstummen, der ja wirklich nichts hören konnte, den schönen Satz formuliert: „Christus cantat 24 Hephatha!“ Aus dem Kontext der Bergpredigt gibt es sieben weitere Evangelienlesungen: Mt 5,13–16 am 8. Sonntag nach Trinitatis Mt 5,38–48 am 21. Sonntag nach Trinitatis Mt 6,5–15 am Sonntag Rogate Mt 6,16–21 am Aschermittwoch Mt 6,25–34 am 15. Sonntag nach Trinitatis Das Evangelium an Rogate wird im Entwurf zur Neuregelung überhaupt nicht eingeleitet. Die anderen sechs Lesungen erhalten derart wenig sagende Einleitungen, dass man sie kaum im Sinne des Evangelisten akzeptieren kann. Wie wir sahen, hat dieser Evangelist die Bergpredigt äußerst sorgfältig eingeleitet. Es sollten darum wenigstens möglichst kurze Einführungen nach Mt 5,1f. bei diesen Lesungen vorgeschaltet sein; etwa: „Als Jesus das Volk sah, ging er auf einen Berg; und seine Jünger traten zu ihm; und er lehrte sie und sprach […].“ Der vielleicht naheliegende Einwand, Jesus habe die „Bergpredigt“ kaum in ihrer matthäischen Form „so“ gehalten, schlägt für die liturgische Lesung dieser Perikopen nicht durch. Für die Vorlesung im Gottesdienst der Gemeinde sind sie Worte der Bergpredigt als solche vorzulesen. An der Einführung zur Bergpredigt, wie Matthäus sie verfasst hat, wurden in dieser Untersuchung „beispielhaft“ nur zwei Merkmale dieses Textes als Hilfen für die Lesung des Evangeliums zum Reformationstag näher betrachtet. Wir nennen diese Merkmale noch einmal: Erstens: Die Folge der kurzen Sätze; zweitens: Die Bildhaftigkeit der Satzfolge. Beide können dem Hören und Aufnehmen des Evange24
WA 46, 494 bei Nestle a.a.O., 15f.
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liums dienen, indem sie dem Vorleser Zeit lassen, die er den Hörern gönnen sollte. Dabei sind Betonungen und Pausen wichtige Elemente des Vortrags. Jeder Satz soll für sich stehen und gehört werden können, so dass eine Vorstellung dessen, was gehört wurde, entstehen kann. Bei der Gewichtung der Sätze spielen die Verben eine wichtige Rolle. Der Lektor muss sie in seiner Vorbereitung bewusst wahrnehmen: Was tut die jeweils handelnde Person? Für den letzten Satz kann das heißen: Lies: lehrte sie < > und < > sprach. In dem Satz vom Mundauftun sollte gelesen werden: und er tat < > seinen Mund < > auf. 4.
Mk 8,31–38: Leidensankündigung und Ruf zur Nachfolge
Als zweites Beispiel wählen wir das Evangelium zum Sonntag Estomihi Mk 8,31– 38. Der erste Satz dieser Perikope lautet: „Und er fing an, sie zu lehren.“ Im Lektionar wird daraus: „Jesus fing an, seine Jünger zu lehren.“ Der sehr enge Übergang vom Petrus-Bekenntnis zu Mk 8,31 durch ein bloßes „und“ wird bei Matthäus durch die Wendung „seit der Zeit“ (wörtlich übersetzt steht da: „von da an“) gedehnt. Die gesamte Szene der Perikope bei Markus, zu der auch 8,27–30 sowie 8,34–38 gehören, ist von einer spürbaren Dramatik geprägt. Markus und Matthäus haben ihren je eigenen Anteil an dieser Dramatik. Für Markus sollen hier folgende Hinweise genügen: 1. Die äußerst kurze Form des Petrusbekenntnisses (8,29); 2. Die prägnant unvermittelten Anschlüsse der Szenen durch ein einfaches „und“ (8,30.31.34, was sich im nächsten Kapitel fortsetzt); 3. Der auffällige Satz von der „freien und offenen“ Rede Jesu; 4. Die Drohgebärden zwischen Petrus und Jesus, die in 8,32 und 25 33 durch das gleiche Verb ausgedrückt werden . Hintergrund dieser Dramatik ist das, was seit William Wrede das „Messiasgeheimnis“ des Markusevangeliums genannt wird.26 Für die Rezeption dieses „Geheimnisses“ bei Lektoren und Hörern wird die Wahrnehmung wichtig sein, dass der Evangelist Markus das Verbot Jesu, von seinem Leiden und Auferstehen weiterzutragen, bis zum Schluss seines Evangeliums (16,8) gewahrt und gehütet hat. Gerade in Furcht und Unverständnis der Jünger und Frauen (9,30–32; 10,32; 16,8) hielt er daran fest, bis das Geheimnis von anderen offengelegt werden konnte.27 Es könnte eine spannende Herausforderung für die Lesung sein, sowohl die Dramatik als auch das Geheimnis rhetorisch deutlich zu machen. Für die Dramatik kann etwa das Petrusbekenntnis in seiner schroffen Kürze durch kraftvolle Beto-
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Die Lutherbibel ermäßigt das Wort zu „Petrus wehrte ihm“ V. 32 gegenüber „Jesus bedrohte ihn“ V. 33. Diese nur schwer nachzuvollziehende „Interpretation der Persönlichkeiten“ Petrus und Jesus nimmt der Szene zudem etwas von ihrer Spannung und Dramatik. William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, 1901 mit mehreren Neuauflagen. Mk 16,8; ein Geheimnis wird anvertraut, dass es gewahrt werde. Ein Rätsel wird aufgegeben, dass es gelöst werde. Zur Offenlegung des „Geheimnisses“ siehe Mk 16,9–20.
Von der Seligkeit und Anfechtung beim Vorlesen und Zuhören
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nung des „Christus“ in seiner ersten Silbe fokussiert werden. Oder in V. 33 kann der Fluss der Erzählung „er aber wandte sich um“ – „sah seine Jünger an“ – „und bedrohte Petrus“ – „und sprach:“ – „Geh weg von mir“ – „denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ durch eine fast stakkatoartig schnelle Artikulation der einzelnen Sätze, die durch merkliche Pausen voneinander getrennt werden, dramatisiert werden. Im zweiten Teil dieser Evangelienlesung (Mk 8,34–38) spiegelt sich noch einmal das Geheimnis im Spruch von der Nachfolge (V. 34–35) und die Dramatik in den rhetorischen Fragen zum Nutzen des Alles oder Nichts (V. 36–37) sowie in der Drohung gegen die Verleugner des Christus (V. 38). Anzumerken ist schließlich, dass mit V. 34 insofern eine Zäsur eintritt, als Jesus ab jetzt zum Jüngerkreis auch das Volk zu sich ruft. Dadurch wird die gewisse Strenge und Härte, auf die das Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern (bzw. Petrus!) zugelaufen war, aufgeschlossen. Für die Frage der Perikopisierung und einer möglichen Hinführung ergeben sich im Blick auf die Lesung als Evangelium im Gottesdienst folgende Aspekte: 1. Der Anfang der Lesung mit „Und Jesus fing an“ ist unbefriedigend. 2. Die Ausdehnung der Perikope bis V. 38 ist ebenfalls unbefriedigend. Deshalb und zur Vermeidung eines selbst formulierten Präfamens sei hier folgende Definierung der Evangeliumslesung vorgeschlagen: Die Lesung nimmt den Ab28 schnitt Mk 8,27–30 zur Lesung hinzu. Am Schluss der Lesung werden vom zweiten Teil der Lesung nur die V. 34 und 35 beibehalten (diskutabel wäre auch die Hinzunahme des V. 38). Die Lesung umfasst dann also den Text Mk 8, 27–35(38). 5.
Joh 12,20–24: Bitte einiger Griechen und Ankündigung der Verherrlichung
Als drittes Beispiel zur Prüfung der Möglichkeit eines Präfamens wählen wir die Lesung des Evangeliums am Sonntag Lätare.29 Deutlich bekommt die Erzählung vom „Einzug Jesu in Jerusalem“, die der Lesung des Evangeliums an Lätare vorausgeht, eine markant genauere Bestimmung im Johannesevangelium gegenüber den synoptischen Darstellungen. Matthäus und Markus unterscheiden in der „Volksmenge“ solche, die vorausgingen von anderen, die nachfolgten (Mt 21,9/Mk 11,9). Es sei dahingestellt, inwieweit sich hier Spuren der johanneischen Darstellung finden. In jedem Fall erscheint das entstehende Bild von dem Kommen Jesu in die festlich gestimmte Stadt Jerusalem bei Johannes eindeutig als eine feierliche „Einholung“ und als ein begeisterter „Empfang“. 28
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Die synoptische Parallele Mt 16,13–19 ist Evangelium am Tag der Apostel Petrus und Paulus und Predigttext am Pfingstmontag; die Parallele Lk 9,18–22 kommt als „weiterer Text“ an Reminiszere vor. So kommt „das Petrusbekenntnis“ überhaupt in die Evangelienreihen der Sonntage. Es war bisher Evangelium am Pfingstmontag und am Tag der Apostel Petrus und Paulus. Im Entwurf zur Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte von 2014 gibt es leider eine Unstimmigkeit insofern, als auf S. 184 die neue Evangelienlesung zu Lätare aus Joh 12,20–24 vorgeschlagen ist, während in der Ausführung S. 186f. der bisherige Text (Joh 12,20– 26) gedruckt wird.
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Dem entspricht auch die Notiz des Johannes, dass den Jüngern der ganze Vorgang zunächst unverständlich war und ihnen erst nach der „Verherrlichung“ Jesu aufging (Joh 12,16). Damit aber war für Johannes das erste Stichwort für die folgende Geschichte von den Griechen gefallen (Joh 12,23). Eine weitere Vorschau auf die Griechen findet sich danach in der Notiz des Evangelisten über die Reaktion der Pharisäer, die sich sagten: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt (wörtlich: ‚der Kosmos‘) läuft ihm nach“ (Joh 12,19).30 Aus diesem Sachstand ergibt sich die Frage, ob man die Evangelienlesung wie im Vorschlag 2014 auf S. 186 unter Auslassung des „aber“ in Joh 12,20 beginnen kann. Es hat den Anschein, als sei das sprachlich möglich. Dennoch bleiben die Bedenken, dass der Text „ausdrücklich“ mit seinem Kontext mehrfach verzahnt erscheint. Es böte sich also die Möglichkeit, dieser Verzahnung durch eine Hinführung Ausdruck zu verleihen. Ein Vorschlag sei also gewagt: „Jesus war inmitten einer großen Volksmenge feierlich in das zum Passahfest geschmückte Jerusalem eingeholt worden. Das rief bei den Pharisäern den Eindruck hervor: ‚Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet, siehe, alle Welt läuft ihm nach.’“ Damit ist der direkte Anschluss von Joh 12,19 an 12,20 gewahrt. Dieser Versuch bleibt vorerst einfach so stehen. Die folgende eindrucksvolle Szene von der Bitte der Griechen, der Vermittlung durch Phillipus und Andreas und der bildhaft eingängigen Gleichnisrede Jesu ergibt in sich keine Schwierigkeiten für den Vortrag. Allerdings wird, wenn bis V. 26 oder nur V. 24 gelesen wird, sich in der Vorbereitung des Lektors oder bei den Hörern die Frage aufdrängen: Was wird denn nun aus den Griechen? Sie scheinen in diesem Evangelium keiner Erwähnung mehr wert zu sein. Dieser Evangelist aber reizt immer zum Weiterlesen. So auch hier. Die weiteren Abschnitte bieten letzte Auseinandersetzungen mit dem Volk. Die Verse Joh 12,27–33 erzählen von der „Stunde“ der Anfechtung und der Verherrlichung und „Erhöhung“. Darauf folgt in den V. 34–36 die Anfrage des Unglaubens, warum der Messias oder der Menschensohn denn erhöht, also gekreuzigt werden müsse, und die Mahnung Jesu, das noch erhellende Licht wahrzunehmen. In den V. 37–50 proklamiert Jesus ein letztes Mal seine Sendung vom Vater. In tragischer Verblendung wenden sich auch Gutgläubige unter den Obersten des Volks von Jesus ab und fallen unter das Prophetenwort Jes 53,1 und 6,9–10. In dem gesamten Komplex Joh 12,20–50, der so schwer zu analysieren ist, kann der Abschnitt V. 20–33 als eine verständliche Einheit angesehen werden. Er spricht von der Jetzt-Stunde der Verherrlichung des Menschensohns. Diese „Stunde“ ist die Zeit, in der das Bild vom Weizenkorn, also sterben und viel Frucht brin30
Es ist bemerkenswert, dass Rudolf Bultmann „alle Welt“ zwar nach Schlatter und Strack-Billerbeck im Sinne semitischer Redeweisen als „jedermann“ versteht, obwohl das „alle“ Welt textlich sehr mäßig bezeugt ist. Danach fügt er an: Diese Äußerung der Pharisäer „ist wieder eine Weissagung auf den σωτήρ τοῦ κόσμου (Retter des Kosmos WR) wie 7,35 11,51f., deren Erfüllung die nächste Szene ahnen lässt.“ Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1957, 323f.
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gen, vor sich geht. In diese „Stunde“ gehören viele Sprüche über Verheißung und Angst, Bitte um Verherrlichung und Erhörung dieser Bitte, und über das Gericht über die Welt. Bis alles gipfelt in dem Satz: „Und ich, wenn ich erhöht werde, so will ich alle zu mir ziehen“ (V. 32). Man wird also verstehen dürfen: Die Bitte der Griechen fällt in diese widersprüchliche „Stunde“. Das Bild vom Weizenkorn ist indirekte Antwort auf die Bitte der Griechen.31 Die Bitte der Griechen führt sie also in die Stunde der „Erhöhung“ (Kreuz) und der „Verherrlichung“ (Einung von Kreuz und ewigem Leben). Die Bitte der Griechen führt sie in die Nachfolge. Was heißt das für die Lesung dieses Evangeliums? Die Perikope Joh 12,20–26; oder bis V. 24 hat wichtige Interpretamente außerhalb ihrer Grenzen. In V. 19 steht das deutlich auf die Perikope vorauszeigende „alle Welt“. Und in V. 32 steht das zurückweisende „alle zu mir ziehen“.32 Vorschlag für eine Hinführung und einen Lesungsschluss: Der Lektor sagt das Evangelium in der agendarischen Form an und nennt die Schriftstelle. Die Gemeinde antwortet: „Ehre sei dir, Herre!“ Darauf fährt der Lektor fort wie oben formuliert: „Jesus war inmitten einer großen Volksmenge […] hervor: ‚Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet, siehe, alle Welt läuft ihm nach.’“ Daran schließt die Lesung von Joh 12,20–26 an: „Es waren aber einige Griechen unter denen […] den wird mein Vater ehren. (mit der Fortsetzung:) Wenige Sätze später beendet Jesus seine Rede: ‚Und ich, wenn ich erhöht werde, so will ich alle zu mir ziehen‘“. 6.
Ein Sonderfall von Evangeliumslesung
In der ev.-luth. Messordnung gibt es zwei verschiedene Aufreihungen der im Gottesdienst vorkommenden liturgischen Stücke: A: Die wechselnden Stücke des Gottesdienstes („Das Proprium“) und B: Die feststehenden Stücke des Gottesdienstes („Das Ordinarium“). Das Proprium enthält die hier verhandelten „Lesungen“ für jeden Tag des Kirchenjahres. Das Ordinarium enthält – außer der Verlesung des Predigttextes – nur 33 eine Lesung aus der Heiligen Schrift: „Die Einsetzungsworte (Konsekration)“. Diese Lesung wird in aller Regel kantilliert vorgetragen und richtet sich als Verkündigung des Evangeliums an die Gemeinde, sollte also auch mit Blick zur Gemeinde gelesen werden.34
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„durch seine Passion wird Jesus, als der Erhöhte, für sie zugänglich“, a.a.O., 325. Damit kein falscher Verdacht entsteht: der Evangelist ist kein Fan der „Allerlösung“. Seine Zahlen sind keine Statistiken, sondern Zeugen göttlicher Liebe, die zurückgewiesen werden kann, die jedoch allen gilt, die zu Jesus als seine Diener und Jünger gehören werden; Vgl. Joh 12,26; 14,3; 17,24. Die anderen Schriftworte im Ordinarium – das Vaterunser, das Nunc dimittis u.a. – sind sämtlich Gebete, die sich an Gott wenden.
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Die Einsetzungsworte können auf drei unterschiedliche „Weisen“ gesungen werden: Auf den Vaterunser-Ton, wenn sie unmittelbar nach dem gesungenen Vaterunser vorgetragen werden; auf den Ton des großen Dankgebets, wenn sie in dies Gebet eingefügt sind; auf Luthers Evangelienton in seiner Deutschen Messe. Wie ist die Sonderstellung der Abendmahlsworte als „Lesung“ aus der Schrift im Ordinarium gegenüber den Schriftlesungen im Proprium der Messordnung zu beschreiben und zu würdigen? Man könnte die Frage mit Heinrich Bornkamm beantworten: „Das Sakrament ist nur eine andere Form des Wortes Gottes.“35 Diese andere Gestalt des Wortes ruft im Ordinarium des Gottesdienstes sogleich eine neue Reaktion der Gemeinde hervor. Bei den Lesungen im Proprium hatten die Hörer auf die Lesungen akklamierend geantwortet. Jetzt im Ordinarium treten sie von ihren Plätzen im Raum der Kirche an den Altar, empfangen/nehmen das gesegnete Brot und den gesegneten Wein, essen und trinken und verkündigen den Tod des Herrn, eingedenk des gekreuzigten Jesus Christus, bis er kommt (I Kor 11,26). Damit tritt die leibhafte Gegenwart Christi in seinem Wort und die schöpferi36 sche Kraft Gottes in seinem Wort spürbar und erfahrbar ins Licht. Denn die Einsetzungsworte und ihre sakramentale Folge im Essen und Trinken sowie auch in der Verkündigung schaffen, was sie sagen: den einen Leib Christi (I Kor 10,17).37 Die Konzentration der „Einsetzungsworte“ auf das Herzstück des Evangeliums wird im Bekenntnis der ev.-luth. Kirche auf eindrucksvolle Weise „in Szene gesetzt“, wenn Luther im fünften Hauptstück des Kleinen Katechismus diese Worte Christi in der ersten Frage nach dem, was das Sakrament ist, voll zitiert, um sie danach in den drei weiteren Fragestücken dreimal konzentriert auf die Zusage Christi zu wiederholen: Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden. 7.
Rückblick und Ausschau
Der Rückblick ergibt kein liturgisch gültiges und einheitliches Bild. Die Fragen nach der personellen Besetzung des Lektorendienstes befinden sich nach eben einmal gut 50 Jahren nach dem II. Vatikanum für die lutherischen Kirchen – was ihre Zurüstung, Installation und Fortbildung betrifft – in Phasen des Werdens und 34
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Wie das an den herkömmlichen Altären mit einer Rückwand bewerkstelligt werden kann, ist in den Gemeinden der SELK immer noch dem Liturgen überlassen. Die Agende der SELK verzichtet darum auf entsprechende Rubriken. Heinrich Bornkamm, Luthers geistige Welt, Gütersloh 1959, 94. Man kann in diesem Zitat vielleicht den Ausdruck „Form“ ein wenig sachdienlicher durch „Gestalt“ ersetzen. Denn im Abendmahl tritt das Wort der Lesung nicht nur zu sichtbaren und sowohl essbaren als auch trinkbaren Elementen formal hinzu, sondern es schafft diese Elemente zu dem, was es sagt: Christi Leib und Blut. Vgl. oben Assmussen, Gottesdienstlehre (wie Anm. 21). Für die exegetischen Einzelheiten des paulinischen Textes I Kor 10 und 11,23–26 kann hier auf die Kommentare verwiesen werden.
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der Erprobung. Die Aufgaben beim Umgang mit den Perikopen sind immer neu den Notwendigkeiten einer Revision der Texte unterworfen. Die Möglichkeiten eines sachgemäßen Umgangs mit den „Hörtypen“ und einer ausgestalteten „Rezeptionsästhetik“ (Deeg und Barnbrock) steht noch ganz am Anfang.38 Damit tut sich die Sicht in die Zukunft auf. Es ist keine Frage: Die gottesdienstlichen Lesungen haben eine nicht zu übersehende Wirkungsgeschichte gezeitigt. Will man diese von den großen Linien der Kirchengeschichte unterscheiden, dann mögen sie mehr im Verborgenen der Frömmigkeitsgeschichte liegen. Sie haben darin aber ihren erheblichen Anteil an der Geschichte der großen Namen, Daten, Entscheidungen und Entwicklungen der Kirchen. Das, was täglich in den kirchlichen Gottesdiensten bis in die persönliche oder familiäre Hausandacht hinein an Bibellese leise oder laut gelesen wird, lässt Geschichte entstehen. Denn der Geist 39 des Herrn ist in seinem Wort zu Hause und lässt von dort aus Kirche immer neu geschehen und werden.
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Vgl. das in der Reihe „Lutherische Orientierung“ erschienene Themenheft „Biblische Hermeneutik“, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Hannover 2012, 19f. Hierher gehört auch das in diesem Beitrag noch völlig ausgesparte Phänomen, dass zunehmend Gottesdienstbesucher bei den Lesungen aus ihren Gesangbüchern mitlesen. Vgl. Klän, Gottes Wort (wie Anm. 14), hier besonders: 46f.
Taufsprüche Ein Beispiel für eine Personalisierung der Kasualpraxis Christoph Barnbrock/Michael Schätzel 1.
Erste Gedanken
In vielerlei Hinsicht lässt sich behaupten, dass die Taufe „das Sakrament der christlichen Einheit“1 ist. Anders als bei der Feier des Abendmahls, die gerade im Aushalten der Grenzen der Kirchengemeinschaft die Spaltung der Christenheit erkennbar werden lässt, lässt die gegenseitige Anerkennung der Taufe durch nicht alle, aber doch viele christliche Kirchen2 hier nach Eph 4,3–6 ein einheitsstiftendes Moment entdecken: Weil wir als Christen auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft sind, sind wir miteinander inkorporiert in den Leib Christi und damit eins, auch wenn die sichtbare Realität der unterschiedlichen Konfessionskirchen dieser geistlichen Realität noch nicht entspricht. Auf individueller Ebene stellt die Taufe für das geistliche Leben eines Christen ebenfalls eine „einigende Mitte“ dar, indem das Leben mit all seinen Brüchen zusammengehalten wird durch das grundlegende und nicht revidierbare Gotteshandeln in der Taufe. So bildet die Taufe das Zentrum der christlichen Existenz, zu dem 3 ein Christenmensch ein Leben lang immer wieder zurückkehrt. Für ein solches Erinnern der Taufe spielt der eigene Taufspruch in der Gegenwart eine nennenswerte Rolle. Im Internet gibt es unter www.taufspruch.de ein eigenes offizielles kirchliches Portal, in dem Eltern, Paten oder Täuflinge sich selbst einen passenden Taufspruch auswählen (lassen) können. Die Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland vermerkt dazu: „Taufsprüche, die früher oft von Pastoren ausgewählt wurden, werden nun häufig von den Eltern oder den älteren Täuflingen selbst ausgesucht. Natürlich sind solche biblischen Sentenzen nicht konstitutiv für die Taufe, freilich können durch sie 1 2
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Peter Cornehl, Art. Taufe. VIII. Praktisch-theologisch, TRE 32 (2001), 734–741, hier: 736 (im Original kursiv). Vgl. für den deutschen Kontext: Der Text der wechselseitigen Taufanerkennung im Magdeburger Dom am 29.4.2007, in: Werner Klän, Gilberto da Silva (Hg.), Quellen zur Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen ²2010, 714f. Vgl. Werner Klän, Das „dritte Sakrament“. Beichte und Buße im Bekenntnis der lutherischen Kirche, in: Ders., Christoph Barnbrock (Hg.), Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche, OUH.E 5, Göttingen 2010, 58–76, hier v.a.: 72f.
Taufsprüche
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Eltern, Paten und die ganze Gemeinde zum theologischen Nachdenken über die Taufe und zur Klärung ihres eigenen Taufverständnisses angeregt werden. Auch wenn Taufsprüche nur eine gute Sitte sind, bündelt sich in ihnen etwas, das mit der 4 Taufe wesentlich verbunden ist: persönliches Wort Gottes.“
Und auf der offiziellen Internetpräsenz der Evangelischen Kirche in Deutschland, www.evangelisch.de, ist sogar zu lesen: „Zur Taufe gehört ein Vers aus der Bibel. Dieser Taufspruch soll einerseits gut zum Täufling passen, andererseits soll der Spruch Begleiter durchs Leben sein.“5 Diese starke Betonung steht allerdings in Spannung zur bisher ausbleibenden Reflexion darüber, was ein Taufspruch eigentlich ist und sein soll. In vielen Agenden sind Taufsprüche nicht oder nur fakultativ vorgesehen. In der liturgischen Sekundärliteratur fehlt die Auseinandersetzung. Bestenfalls wird die Vergabe von Taufsprüchen vorausgesetzt.6 In den meisten anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird das Thema „Taufspruch“ gar nicht erst behandelt.7 Der Taufspruch, dem in der Praxis durchaus einiges an Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, hat es an anderer Stelle offensichtlich schwer. Peter Zimmerling vermerkt in seinen Überlegungen zu einer Taufspiritualität: „‚Kennen Sie Ihren Taufspruch?‘ Stellte man Gemeindegliedern diese Frage, würde die überwiegende Mehrzahl von ihnen, auch der am Gemeindeleben aktiv teilnehmenden – wahrscheinlich kaum die entsprechende Bibelstelle nennen können. Der in Vergessenheit geratene Taufspruch ist m.E. Symptom für die geringe Be8 deutung, die die Taufe für die persönliche Frömmigkeit hat.“
Dass nun allerdings die Kenntnis des Taufspruchs etwa in Verfahren zur Anerkennung von zum christlichen Glauben konvertierten Asylbewerbern eine durchaus herausgehobene Bedeutung spielt,9 ist angesichts dessen und der Geschichte des Taufspruchs mindestens überraschend.
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Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche. Vorgelegt vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2008, 56. http://www.evangelisch.de/taufsprueche?keys=&field_spruch_kategorie_tid_1=All&page=1 (Stand: 31.03.2017). Vgl. z.B. Christian Bunners, Die Taufe als Kasualie, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber u.a. (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3. vollst. neu bearb. u. erg. Aufl., Göttingen 2003, 417–480, hier: 476. Selbst im genannten Handbuch ist das Stichwort „Taufspruch“ anders als das Stichwort „Trauspruch“ nicht im Register aufgeführt. Vgl. z.B. das Fehlen von Gedanken zum Taufspruch bei Christian Grethlein, Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an Übergängen des Lebens, Göttingen 2007, hier der Teil zur Taufe: 99–148. Peter Zimmerling, Taufe – Visionen zu ihrer zukünftigen Bedeutung, in: Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.), „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ (Apg 8,36). Dokumentation eines Studientages der ACK in Deutschland, o.O. [Frankfurt] o.J. [2015], 83–96, hier: 94. Vgl. z.B. https://www.rechtslupe.de/verwaltungsrecht/konversion-zum-christentum-und-der-subsidiaere-unionsrechtliche-abschiebungsschutz-3102797 (Stand: 31.03.2017).
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Christoph Barnbrock/Michael Schätzel
Wir möchten mit diesem Beitrag dem Phänomen „Taufspruch“ auf die Spur kommen, herausfinden, warum er jedenfalls in gewisser Hinsicht eine „Aschenputtel“-Existenz führt, und Möglichkeiten ausloten, die sich aus der Vergabe von Taufsprüchen für eine erneuerte Taufspiritualität ergeben könnten. 2.
Agendarische Beobachtungen
Beinahe verschämt klingen die Überlegungen zum Taufspruch in der EvangelischLutherischen Kirchenagende der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK): „Wo ein Taufspruch üblich ist oder ausdrücklich gewünscht wird, kann ein biblisches Wort zum Thema ‚Taufe und neues Leben‘ Grundlage der Ansprache sein oder nach dem Vollzug der Taufe gesprochen werden, ggf. in Verbindung mit der 10 Überreichung des Taufgewandes oder der Taufkerze.“
Es scheint so, als habe der Taufspruch keinen rechten Ort im liturgischen Ablauf, sodass ihm nur auf besonderen Wunsch oder mit Rücksicht auf die Verhältnisse ein Platz eingeräumt werden kann. Ähnlich ist der Befund in der entsprechenden Agende der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) aus dem Jahr 1988, wenn es dort zum Taufspruch in pädagogischen Zusammenhängen heißt: „Taufspruch: Wenn der Taufspruch an einer sichtbaren Stelle angebracht ist, kann 11 er eine ständige Erinnerung an die Taufe sein.“
Mit dieser kurzen Notiz wird zwar die Vergabe von Taufsprüchen ganz offensichtlich vorausgesetzt, aber auch in dieser Agende fehlt in der Darstellung des liturgischen Ablaufs der Taufe eine Erwähnung des Taufspruchs. Die römisch-katholische Liturgie kennt keine Praxis, Taufsprüche zu vergeben. Allerdings sieht die liturgische Ordnung der Kindertaufe des Rituale Romanum für das deutsche Sprachgebiet in einer Rubrik vor, dass für den Wortgottesdienst im Taufritus die Lesungen auch von der Tauffamilie ausgesucht werden.12 Erkennbar anders verhält es sich mit den reformierten und unierten Liturgien. In der reformierten Theologie ist das Votum nach der Taufe flexibel. Unter der Überschrift „Zuspruch“ können hier dem Täufling ganz unterschiedliche Bibelworte, und zwar jedem Täufling einzeln, mit auf den weiteren Lebensweg gegeben 10 11
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Evangelisch-Lutherische Kirchenagende, Bd. III/1: Die Heilige Taufe, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 2010, 14. Agende für Evangelisch-Lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III: Amtshandlungen, Teil 1: Die Taufe, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), neu bearbeitete Ausgabe, Hannover 1988, 18. Vgl. Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Zweite authentische Ausgabe auf der Grundlage der Editio typica altera 1973, Freiburg/Basel/Wien u.a. 2007, 38.
Taufsprüche
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werden (abgedruckt sind I Petr 5,10 und Ps 91,11f.).13 Das Taufbuch der Evangelischen Kirche der Union (heute: Union Evangelischer Kirchen) sieht explizit die Nennung des Taufspruchs, allerdings als eigenen Akt nach dem Taufvotum, vor und führt entsprechend auch eine Liste von geeigneten Taufsprüchen an.14 Eine vergleichende Übersicht aus dem Raum der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nordrhein-Westfalen lässt erkennen, dass die Praxis, Taufsprüche zu vergeben, vor allem in den Kirchen beheimatet ist, die eine reformierte (bzw. unierte) oder freikirchliche Prägung haben.15 3.
Historische Aspekte
Liturgiegeschichtlich ist die Vergabe von Taufsprüchen erkennbar eine recht junge Praxis. Udo Hahn spricht davon, dass diese Tradition im 20. Jahrhundert aufgekommen ist.16 Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um eine Angleichung an die Praxis der Vergabe von Konfirmationssprüchen handelt. Auch diese Tradition ist ja noch vergleichsweise jung und stammt aus dem 19. Jahrhundert.17 Noch Wilhelm Löhes Agende sieht diese Praxis nicht vor,18 während etwa die erste Agende der Altlutherischen Kirche am Ende des 19. Jahrhunderts die Vergabe von Konfirmationssprüchen schon ordnet.19 Noch in der Agende der VELKD von 1964 ist der Zuspruch von Konfirmationssprüchen nur fakultativ vorgesehen.20 Gleichwohl haben biblische Worte und deren Mitteilung im Kontext der Taufe immer schon eine Rolle gespielt. In der Erzählung von der Taufe des Kämmerers aus Äthiopien (Act 8,26–40) waren es Worte aus Jes 53,7f., die Grundlage des
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Reformierte Theologie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde i.A. des Moderamens des Reformierten Bundes erarb. und hg. von Peter Bukowski u.a., Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 1999, 314 bzw. 328. Vgl. Taufbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union, Bd. 2, im Auftrag des Rates hg. von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin/Bielefeld 2000, 43 und 122– 125. Vgl. Michael Kappes, Eberhard Spiecker (Hg.), Christliche Kirchen feiern die Taufe. Eine vergleichende Darstellung, Kevelaer/Bielefeld 2003, 104–107. Eine Ausnahme scheint dabei die Armenische Kirche in Deutschland zu bilden, wobei allerdings aus der angegebenen Darstellung des Taufritus nicht erkennbar wird, an welcher Stelle der Taufspruch seinen Platz hat (vgl. a.a.O., 50 und 52). Vgl. Udo Hahn, Kasualien, Gütersloh 2002, 22. Vgl. auch für die SELK Abschnitt 5.1 dieses Beitrags. Vgl. Ulrich Heckel, Gottesdienst und Segen, in: Hans-Joachim Eckstein u.a. (Hg.), Kompendium Gottesdienst. Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart, 245–264, hier: 263. Vgl. Wilhelm Löhe, Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses, Zweiter 3 Teil, besorgt von J. Deinzer […], Nördlingen 1884, 41–48. Vgl. Agende für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen, Zweiter Teil: Die kirchlichen Handlungen, Cottbus 1886, 20. Vgl. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III: Die Amtshandlungen, Berlin/Hamburg 1964, 110.
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Gesprächs zwischen Philippus und dem Kämmerer waren, das schließlich in die Taufe des äthiopischen Beamten mündete. In der Taufpraxis der Alten Kirche lässt sich im Rahmen des Katechumenats neben der traditio und redditio symboli auch die Praxis der Übergabe biblischer Texte nachweisen: „Erst in dieser Zeit lernten die Kandidaten zentrale Texte des Christentums kennen und wurden – an manchen Orten erst nach der Taufe – in die zentralen Geheimnisse des Christentums eingeführt. Die Mitteilung fester Formeln und Riten spielte eine wichtige Rolle in dieser Taufvorbereitung. […] In Rom wurden förmlich die Evangelien ‚übergeben‘, in Neapel die Psalmen, das heißt die Taufkandida21 ten lernten diese Bibeltexte kennen und bekamen sie erklärt.“
Biblische Texte standen den Taufbewerbern also nicht immer schon zur Verfügung, sondern wurden ihnen eröffnet und nahegebracht. Die Traditio Apostolica sieht die Zulassung zum „Hören des Evangeliums“ sogar erst ganz am Ende des beschriebenen Katechumenats vor.22 Luther betont in seinem Taufbüchlein für diejenigen, die ein Kind zur Taufe tragen, die Trias von Glaube, Hören des Wortes und Gebet: „Sondern da sihe auff, das du in rechtem Glauben da stehest, Gottes wort hörest und ernstlich mit betest, denn wo der Priester spricht: ‚Last uns beten!‘, da verma23 net er dich je, das du mit im beten solt.“
Mit dem Kinderevangelium (Mk 10,13–16) und dem Vaterunser behält Luther in seinem Taufbüchlein zwei Bibeltexte bei, die im Rahmen der Taufliturgie an zentraler Stelle laut werden. Diese Praxis ist nicht einfach mit der heutigen Praxis der Vergabe von Taufsprüchen in eins zu setzen. Trotzdem ist beachtenswert, dass sich diese Bibeltexte an dieser Stelle auch in einer Weise verstehen lassen, die eine Brücke zur heutigen Praxis des Zuspruchs von Taufsprüchen bilden könnte. Albrecht Peters notiert zum Kinderevangelium und Vaterunser in Luthers Taufbüchlein: „Die grundsätzliche Einsicht des Reformators, daß die Evangelientexte wie Symbole zu meditieren sind, welche an uns bewirken wollen, was sie bezeugen, ja daß sie vollmächtig über einem Menschenkinde ausgerufen werden, wird hier handgreiflich praktiziert. Durch die Paten werden die Kinder unmittelbar unter das Gebot und die Verheißung dieses Evangeliums gestellt und dem Herrn dargebracht, damit er ihnen
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Alfons Fürst, Die Liturgie der Alten Kirche. Geschichte und Theologie, Münster 2008, 118f. Vgl. Traditio Apostolica, in: Didache. Traditio Apostolica, übers. u. eingel. v. Georg Schöllgen, FChr 1, Freiburg u.a. 1991, hier: 20. De iis accipient baptismum, 252,15–254,1. Martin Luther, Das Tauffbüchlein verdeutschet und auffs neu zu gericht, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. Irene Dingel i.A. der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014, 905–910, hier: 906,22–24.
Taufsprüche
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durch seinen Diener die Hände auflege, sie unter dem von ihm vorgesprochenen Ge24 bet segne und ihnen so die Teilhabe an der Gottesherrschaft zueigne.“
In einem solchen Verständnis des wirkmächtigen Wortes, das im Rahmen der Taufhandlung seinen Platz hat, lässt sich zumindest eine Strukturanalogie zu dem erkennen, was mit der Vergabe eines Taufspruchs heute geschieht, von dem Udo Hahn sagen kann, er habe „die Funktion, die guten Wünsche von Eltern, Verwandten und Freunden in einem Bibelwort zu bündeln“25. 4.
Deutung
Wie aber ist nun das Aufkommen von Taufsprüchen in der Kirche zu deuten? – Eine Möglichkeit wäre, darin das Symptom für einen Paradigmenwechsel zu erblicken, den Manfred Josuttis einmal mit der Unterscheidung von „Sakrament“ und „Segenshandlung“ beschrieben hat.26 Aus dem Herrschaftswechsel mit weitreichenden Folgen, der im Sakrament vollzogen wird, wird heute vielfach eine Segenshandlung, die das Leben hier und jetzt schützen soll. Mit der Wahl eines Taufspruchs, der den Taufsegen ergänzt und so den Aspekt des Segens verstärkt, könnte tatsächlich eine solche Akzentverschiebung gegeben sein. Denn hier gilt, was Ulrich Heckel für die Konfirmationssprüche festhält: „[…] Segensworte [werden] als Denksprüche festgehalten.“27 Bedenkt man, dass die Vergabe von Taufsprüchen vor allem auch in reformierten und freikirchlichen Gemeinden und Kirchen verbreitet sind, legt sich nahe, das Aufkommen von Taufsprüchen auch konfessionell zu deuten. In den Kirchen und Gemeinden, in denen die Taufe „nur als bestätigendes Zeichen dessen verstanden [wird], was Gott zuvor allein durch sein Wort wirkt“28, ist eine stärkere Betonung des Wortes Gottes durch Vergabe des Taufspruchs naheliegend. Wird die Taufe dagegen stärker als „Initiationssakrament“ und „Gnadenmittel“29 verstanden, das nicht ohne das Wort auskommt, aber doch das Worthandeln Gottes in einer besonderen Weise zuspitzt, scheint sich der zusätzliche Zuspruch eines Taufspruchs weniger nahezulegen. 24 25 26
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Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 5: Die Beichte. Die Haustafel. Das Traubüchlein. Das Taufbüchlein, hg. v. Gottfried Seeßbaß, Göttingen 1994, 178. Hahn, Kasualien (wie Anm. 16), 23. Vgl. Manfred Josuttis, Zwischen Familienfeier und Sakrament. Zur Problematik aktueller Taufpraxis, in: Johannes Block, Holger Eschmann (Hg.), Peccatum magnificare. Zur Wiederentdeckung des evangelischen Sündenverständnisses für die Handlungsfelder der Praktischen Theologie. FS Christian Möller, APTLH 60, Göttingen 2010, 214–228. Heckel, Gottesdienst (wie Anm. 17), 263. Oliver Schuegraf, Die evangelischen Landeskirchen, in: Johannes Oeldemann (Hg.), Konfessionskunde, Handbuch Ökumene und Konfessionskunde, Bd. 1, Paderborn/Leipzig 2015, 188– 246, hier: 221. Werner Klän, Altlutherische Kirchen, in: Oeldemann, Konfessionskunde (wie Anm. 28), 274– 285, hier: 279 (dort „Gnadenmittel“ als Zitat markiert).
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Aber auch andere Sichtweisen sind möglich: Die Übergabe eines Taufspruches ließe sich, auch wenn liturgiehistorisch kein Zusammenhang besteht, doch als Anknüpfung an die altkirchliche Taufpraxis verstehen, indem hier dem Täufling symbolisch ein kleiner Abschnitt aus der Heiligen Schrift, stellvertretend für das ganze Evangelium, übergeben wird. Auch mit Blick auf die für Luther zentrale Verhältnisbestimmung von Verheißung und Glauben erscheint es durchaus lohnenswert, dem Getauften ein Wort des Gottes mit auf den Weg zu geben, der sich in der Taufe zum Vater des Getauften erklärt hat. Ein solches Wort kann neben dem Faktum des Getauftseins das ganze Leben lang ein Halt für den Glauben sein und das die christliche Existenz bestimmende Wechselspiel aus Gottesrede und menschlichem Hören und der Antwort im Gebet eröffnen. Im Folgenden möchten wir erkunden, wie die Praxis der Vergabe von Taufsprüchen im Raum der SELK aussieht, wie sie gestaltet wird und welche Möglichkeiten sich daraus für zukünftiges kirchliches Handeln ergibt. 5.
Zur Taufspruchpraxis in der SELK
2015/2016 wurde eine Erhebung zur Taufspruchpraxis in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) durchgeführt. Dazu wandten sich die Verfasser mit vier Fragen und der Bitte um Mitarbeit an die Pfarrämter der SELK. Daraufhin erfolgten 38 Antworten, die Informationen zur Taufspruchpraxis in 54 Gemeinden bieten. Damit liegen zugleich Auskünfte aus den Bereichen aller vier Regionen und der verschiedenen Vorgängerkirchen der SELK vor, ohne dass die Auskünfte und Texte ausreichend Material für seriöse Rückschlüsse zu einer ggf. je eigenen Taufspruchpraxis in den einzelnen Vorgängerkirchen bietet. 5.1
Anfänge der Taufspruchpraxis
In der Erhebung wurde zunächst gefragt: „Seit wann sind Taufsprüche in den Kirchenbüchern Ihrer Gemeinde nachweisbar?“ Zu dieser Frage wurden Angaben für 53 Gemeinden und damit immerhin für knapp ein Drittel der Gemeinden vorgelegt. Auf eine besondere Schwierigkeit bei der Suche nach Nachweisen zur Taufspruchpraxis weist ein Pfarrer hin, in dessen Gemeinde mindestens seit 1964 Taufsprüche vergeben wurden, was sich aber nur aus anderen Unterlagen, nicht aus den Kirchenbüchern erheben lasse, „da im Kirchenbuch keine Spalte dafür vorgesehen ist und unsere Bürokräfte daher bis heute keine Taufsprüche eintragen, obwohl ich den Täuflingen immer einen mitgebe“. Auch andere Rückmeldungen lassen erkennen, dass möglicherweise Taufsprüche bereits vergeben wurden, bevor damit begonnen wurde, sie auch entsprechend zu dokumentieren.
Taufsprüche
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Der älteste Nachweis für die Benennung von Taufsprüchen bezieht sich auf das Jahr 1894 und geht zurück auf das Wirken von Pfarrer Paul Müller in der KantateGemeinde Mühlhausen/Thüringen in der Tradition der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche (ELAK).30 Erst ganz allmählich wächst die Praxis, den Täuflingen Taufsprüche mit auf den Lebensweg zu geben. In den folgenden Jahrzehnten lässt sich der Beginn dieser Praxis in der jeweils aufgeführten Zahl von Gemeinden nachweisen: 1900–1909 1910–1919 1920–1929 1930–1939 1940–1949
1 0 4 2 8
1900–1949
15
1950–1959 1960–1969 1970–1979 1980–1989 1990–1999
9 8 8 7 4
1950–1999
36
Aus einer Gemeinden wurde gemeldet, dass dort bis auf den heutigen Tag keine Taufsprüche vergeben werden („Wir üben diese Tradition bei uns nicht.“). Für die Anfänge der Taufspruchpraxis wird in acht Fällen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zunächst nur sporadisch Taufsprüche vergeben bzw. eingetragen wurden, ehe sich diese Praxis später dann durchgängig findet. Auch ist nicht in jedem Fall erkennbar, ob die Einträge Taufsprüche in der heute bekannten Praxis meinen oder ob es sich (lediglich) um die Bibelworte zur Predigt im Taufgottesdienst handelt; in sechs Fällen wurden in der Anfangszeit der Taufspruchpraxis die Einträge ausdrücklich als „Texte der Taufrede“ gekennzeichnet. Aus einem Pfarrbezirk wird berichtet: „Zu Anfang sind es reichlich eigenartige Sprüche, die dem Kasus oft überhaupt nicht entsprechen (willkürlich aus der Tageslesung?).“ Es sei „schwer vorstellbar, wie es den Menschen damit gegangen sein muss“. Der Pfarrer führt weiter aus, er „erlebe ältere Gemeindeglieder, die sich im lebenslangen Versuch, einen schrägen Taufspruch für sich zu interpretieren abenteuerliche Umwege gesucht haben. Aus meiner Sicht waren manche Sprüche nicht hilfreich – leben doch die Menschen inzwischen mit der Vorstellung, ein solcher Spruch solle Wegweisung für ein Christenleben geben.“
30
Paul Müller war von 1893 bis 1905 Pfarrer der Kantate-Gemeinde Mühlhausen/Thüringen.
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Christoph Barnbrock/Michael Schätzel
Ein Pfarrer hat die Taufspruchpraxis in seinem Pfarrbezirk vorgefunden, führt sie aber nur sporadisch fort: „Ich gebe einen Taufspruch nur, wenn er von den Eltern ausdrücklich gewünscht wird. Gründe: 1.) Es könnte sein, dass der Taufspruch, das Wort für das Leben, die eigentliche Gabe der Taufe verdeckt. 2.) Ich bin kein Freund einer Flut von Bibelworten. (Nachher kommt im Fall einer Eheschließung noch der Trauspruch.) Mir persönlich ist mein Konfirmationsspruch wichtig, den ich bewusst empfangen habe. Weitere Worte würden die Konzentration aufsplittern.“ 5.2
Liturgisch-homiletische Praxis
37 der 38 Antworten im Rahmen der Erhebung zur Taufspruchpraxis in der SELK erfolgten von Pfarrern im Gemeindepfarramt. 35 von ihnen praktizieren in ihren Gemeinden die Vergabe von Taufsprüchen regelmäßig, einer nur, wenn die Eltern des Täuflings dies ausdrücklich wünschen. Die Frage, wie der Taufspruch konkret im Rahmen und im Zusammenhang mit der Taufhandlung vorkommt, führte zu folgenden Ergebnissen: 16 Pfarrer gaben an, den Taufspruch im Rahmen der Taufhandlung zu verlesen. 31 Die Taufagende der SELK macht dazu einen Vorschlag. Einer der Pfarrer übt diese Praxis nur „zum Teil“, ein anderer belässt es entweder beim Verlesen des Taufspruches oder er legt ihn in einer gesonderten Ansprache aus. Einer der Pfarrer verliest den Taufspruch nur dann im Rahmen der Taufhandlung, wenn er keine gesonderte Taufansprache hält, sondern den Taufspruch erst in der Predigt auslegt. Einer der Pfarrer berichtete aus seiner Praxis: „Die Taufsprüche werden bei der Taufe durch den Vater oder eine Patin des Kindes im Zusammenhang der Taufe öffentlich gesagt.“ Die Auskünfte zum Vorkommen des Taufspruches im Taufgottesdienst insgesamt lassen erkennen, dass der Taufspruch von mehr als diesen 16 Pfarrern im Rahmen des Taufgottesdienstes benannt wird, denn 17 Pfarrer gaben an, den Taufspruch in einer gesonderten Ansprache im Rahmen der Taufhandlung – zusätzlich zur Predigt – auszulegen, vier von ihnen erklärten, dass sie entweder eine gesonderte Ansprache halten oder den Taufspruch in der Predigt auslegen. 21 Pfarrer gaben an, den Taufspruch in der Predigt auszulegen – zumeist mit dem Taufspruch als Predigttext (15 Nennungen) oder durch eine Bezugnahme (3 Nennungen) oder in Abwechslung dieser beiden Alternativen (3 Nennungen). Einer der Pfarrer legt den Taufspruch nur gelegentlich aus: „Selten predigte ich statt über den Perikopentext über den Taufspruch.“ Einer der Pfarrer meldet eine flexible Handhabung: „Wenn es sich anbietet, werden die Taufsprüche von mir auch ausgelegt – je nachdem, wie sich das Gottesdienstthema sonst gestaltet.“ Ein weiterer berichtet, die Taufsprüche würden in seiner liturgisch-homiletischen Praxis „teilweise ausgelegt“. 31
S.o., Abschnitt 2.
Taufsprüche
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Einer der Pfarrer, in dessen Praxis die Taufsprüche im Rahmen der Taufhandlung in einer etwa fünfminütigen Kurzauslegung erläutert werden, führte dazu aus: „Ich finde Taufsprüche wichtig, weil sie persönlich die Taufe im Gottesdienst hervorheben und auch die Bedeutung der Taufe erklären können. Eltern, Paten und Gemeinde sind meistens sehr aufmerksam bei der Auslegung.“ In drei Antworten wurde darauf hingewiesen, dass es mitunter gesonderte Taufgottesdienste gebe. Dann werde ausschließlich der Taufspruch als Grundlage für die Verkündigung gewählt. Zusätzlich wurden vereinzelt Hinweise zur Praxis der Taufsprüche gegeben, die aber sicher auch auf die Handhabung anderer an der Erhebung beteiligter Pfarrer zutreffen. So wurde die Aufnahme des Taufspruchs in die Taufurkunde (fünf Nennungen), in die Patenbriefe (drei Nennungen) und auf Taufkerzen (zwei Nennungen) erwähnt. 5.3
Taufsprüche: Vielfalt und Favoriten
Eine weitere Frage der Erhebung zielte darauf, ob sich „in der Zeit seit 1990 bestimmte Präferenzen für Taufsprüche feststellen (lassen)“ – und, sollte dies der Fall sein, um welche Präferenzen es sich handelt. Auch wenn ausdrücklich darauf verzichtet wurde, „eine regelrechte Statistik zu initiieren“, haben einige der Auskunft gebenden Pfarrer komplette Übersichten für den genannten Zeitraum erstellt. In einem der größeren Pfarrbezirke der SELK sind in der Zeit von 1990 bis 2015 insgesamt 114-mal Bibelworte als Taufsprüche vergeben worden. 51 dieser Sprüche sind dem Alten Testament entnommen, darunter finden sich 26 Bibelworte aus den Psalmen und 7 aus dem Jesajabuch. 26 Sprüche finden sich in den Evangelien, davon 9 bei Johannes. 36 Sprüche wurden den Briefen des Neuen Testamentes, der Apostelgeschichte oder der Offenbarung ausgewählt, ein Spruch aus dem apokryphen Buch Jesus Sirach. Von den insgesamt 114 Taufsprüchen wurde 91 einmalig und 23 doppelt oder mehrfach vergeben. Am häufigsten – nämlich 10-mal wurde Ps 91,11f. ausgewählt; dazu kommt, dass 1-mal Ps 91,10–12 und 3-mal Ps 91,11 ausgewählt wurden, sodass auf diesen Textzusammenhang insgesamt 14 Nennungen entfallen. Es folgen Joh 8,12 (7-mal) sowie – zum Teil in Auswahl – Mt 28,18–20 (6-mal) und I Joh 4,16b (5-mal). Die dargestellte Statistik belegt eindrücklich die Vielfalt der Taufsprüche, wie sie sich auch in anderen Antworten findet. So sind in einem Pfarrbezirk im Berichtszeitraum in einer Gemeinde 16 Taufen vollzogen worden, bei denen lediglich einmal ein Taufspruch doppelt vergeben wurde; in der anderen Gemeinde kam es zu 24 Taufen, bei deren Taufsprüchen sich ebenfalls eine einzige Doppelung findet. In einer Gemeinde fanden im Berichtszeitraum 26 Taufen statt, bei denen 26 verschiedene Taufsprüche vergeben wurden. Auf die Frage, ob es bevorzugte Taufsprüche gebe, antwortet ein Pfarrer: „Keine speziellen“; ein anderer schreibt, in der Praxis seiner Gemeinde seien die Taufsprüche „sehr bunt gemischt“. Auch ein
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weiterer Pfarrer erkennt hinsichtlich der Taufsprüche keine Präferenzen und begründet dies unter anderem damit, dass er versuche, „die Eltern dazu zu animieren, den Taufspruch im Hinblick auf Wünsche, Charakterzüge oder andere Dinge im Hinblick auf den Täufling auszusuchen. Die Ergebnisse sind dabei bisher immer unterschiedlich gewesen, sodass ich bis heute bis auf eine Ausnahme nie über denselben Taufspruch gepredigt habe.“ Wieder ein anderer Pfarrer beantwortet die Frage, ob es hinsichtlich der Taufspruchauswahl Präferenzen gebe mit: „Bei uns nicht.“ Lediglich Ps 119,105 und Jos 1,9 seien in der Zeit von 1990 bis 2016 2-mal vergeben worden; auch Ps 23 komme „des Öfteren vor, allerdings jeweils mit einer anderen Versauswahl“. Neben der Vielfalt lassen sich aber – wie dies auch die oben ausführlicher dargestellte Statistik gezeigt hat – in vielen Gemeinden auch deutliche Favoriten ausmachen. Dabei sind die gemeldeten Angaben zum Teil allgemeiner Art – wie 32 „Überwiegend Verse aus Psalmen/Propheten/Neuem Testament“. Zum Teil wurden aber auch konkrete Präferenzen benannt. Ein Pfarrer verbindet Vielfalt und Präferenzen, wenn er schreibt: „Es gibt schon eine große Bandbreite an Bibeltexten, die als Taufsprüche mitgegeben worden sind. Ein Bibeltext allerdings taucht im Zeitraum von 1990 bis 2015 häufiger auf: Jesaja 43,1.“ Konkrete Favoriten werden auch in anderen Antworten ausdrücklich benannt. Dabei formuliert ein Pfarrer relativierend „Psalm 91,11f erfreut sich einer gewissen Beliebtheit, jedoch nicht übermäßig (etwa jede 8. bis 10. Taufe)“, während andere Pfarrer hervorheben: „Jesaja 43,1 ist ungeschlagener Favorit.“ – „Die Renner sind eindeutig Psalm 91,(10)11–12 und 139,5.“ – „Die meisten Sprüche sind: Jesaja 43,1, Psalm 23,1, Psalm 91,11.“ – „In den Kirchenbüchern treten gehäuft die Taufsprüche Jesaja 43,1 und Psalm 91,11 (+12) auf.“ Tatsächlich ergibt sich aus den in der Erhebung konkret genannten Favoriten, dass sich die Bibelworte Jes 43,1 mit 20 Nennungen und Ps 91,11(–12) mit 19 Nennungen besonderer Beliebtheit erfreuen. Es folgen mit deutlichem Abstand Ps 139,5 und I Joh 3,1 mit je 8 Nennungen und Ps 27,1 mit 6 Nennungen. In einigen wenigen Antworten geben Pfarrer Anteil an generellen Beobachtungen zur Auswahl des Taufspruches durch die Eltern oder jedenfalls in enger Abstimmung mit ihnen. Dabei schreibt mit Bezug auf Ps 91,11 ein Pfarrer, der in einer volkskirchlich strukturierten Gemeinde arbeitet: „Engelsprüche sind mit Abstand die am meisten gewünschten.“ Ein anderer äußert: „Psalm 91,11 ist der Renner; die Motive Engel oder Schutz gehen immer, Jesus-Worte oder Verheißungsworte weniger.“ Zwei Kriterien für die Taufspruchauswahl hat ein dritter Pfarrer beobachtet: „Es sind für mich zwei Motive der Auswahl der Taufsprüche zu erkennen: 1. Gott
32
Weitere allgemein gehaltene Feststellungen aus der Erhebung: „Häufig: Jesaja, Johannesevangelium, Briefe des Neuen Testaments“; „Jesaja, Psalmworte, Johannesevangelium“; „Generell finden sich Taufsprüche aus Jesaja und den Psalmen gehäuft im Kirchenbuch.“; „Herausragend sind die Psalmen.“
Taufsprüche
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möge das Kind behüten. 2. Die Gewissheit der Taufe (Jesaja 43,1 als ‚Gewinner‘).“33 Diese Beobachtung wird durch die Erhebung insgesamt bestätigt. 5.4
Die Taufspruch-Praxis in der pastoralen Arbeit
In der Erhebung wurde den Adressaten die Möglichkeit gegeben, weitere – allgemeine – „Hinweise/Erfahrungen zur Taufspruch-Praxis“ mitzuteilen. Hier wurden in den Antworten vor allem die Praxis der Auswahl thematisiert. Dabei findet mehrfach Erwähnung, dass diese Auswahl „fast durchweg“ nicht beim Pfarrer liege,34 sondern bei den Eltern, gegebenenfalls in Kooperation mit den Patinnen und Paten.35 Damit einher gehe, so ein Pfarrer, deren Erwartung an den Pfarrer, dass dieser den Taufspruch „in Beziehung zum Täufling setzt, was sie dann – manchmal auch tränengerührt – sehr schätzen“. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass Eltern bei der Auswahl eines Taufspruchs gerne entsprechende Angebote im Internet nutzen.36 Zum Teil werden dort zu findende Listen vom Pfarrer zu eigenen Übersichten umgearbeitet oder eigene erstellt. Ein Pfarrer schreibt: „Wenn der Taufspruch (zum Beispiel aufgrund familiärer Traditionen) nicht schon festgelegt wurde, empfehle ich den Eltern beim Taufgespräch, sich die Lesungen, den Wochenspruch und den Hallelujavers des Taufsonntags anzusehen und eventuell darin einen passenden Spruch zu finden, weil ich den dann organisch und zum Proprium passend in die Predigt integrieren kann.“ Ähnlich handhabt es ein anderer Pfarrer und regt gerne die Auswahl eines Wortes aus dem Proprium an: „Auf diese Weise ‚erkennt‘ der Getaufte seinen Taufsonntag leicht wieder (Tauferinnerung).“ Zwei Pfarrer berichten, dass sie sich, liege die Auswahl des Taufspruches bei ihnen, gerne am liturgischen Kalender orientieren würden. Ein Pfarrer berichtet, dass ihm die Auswahl des Taufspruches „in der Vorbereitung der Taufe wichtig“ sei. Er bitte die „Familie oder Paten, Vorschläge zu machen“, wodurch es zum eigenen „Blättern in der Bibel“ oder zum „Nachsehen, 37 welche Taufsprüche es in der Familie eventuell schon gab“, komme. Es komme dann schon in der Taufvorbereitung zu einem „Gespräch über den Taufspruch“.38 33
34
35 36 37 38
Ein weiteres Kriterium hat ein Pfarrer bei der Recherche von Taufsprüchen aus der Zeit vor 1990 beobachtet. Nachdem er einige mehrfach vorkommende Bibelstellen angegeben hat, führt er aus: „Ansonsten sind die Texte häufig mit dem Kirchenjahr verknüpft (z.B. Titus 3,5 zu Weihnachten).“ Gegen diesen Trend: „In den meisten Fällen wünschen sich die Täuflinge bzw. deren Eltern, dass ich als Pastor den Taufspruch auswähle und erst bei der Taufe nenne.“ Und: „In der Regel werden sie (sc. die Taufsprüche) vom Pastor ausgesucht, selten von den Eltern.“ Ein Pfarrer schreibt: Grundsätzlich gilt es abzuwägen, wer den Taufspruch aussuchen soll. Darüber ist im Vorbereitungsgespräch zur Taufe mit den Eltern zu reden.“ Siehe vor allem www.taufspruch.de. Auch zwei weitere Pfarrer betonen, dass es ihnen wichtig sei, die Eltern zu ermutigen, mit entsprechenden Hilfestellungen selbst einen passenden Taufspruch zu finden. Ähnlich: „Der Taufspruch kann auch ins Taufgespräch vorher einfließen. Ich frage dann etwa: ‚Was ist Ihnen an diesem Bibelwort wichtig?‘“
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Ein anderer Pfarrer stellt fest, dass Eltern „teilweise sehr unerfahren“ seien, „was den Hintergrund der von ihnen ausgewählten Taufsprüche angeht“. Listen mit möglichen Bibelversen und ergänzende Informationen „helfen den Eltern sehr bei der Auswahl“. In einer kritischen Anmerkung wird festgestellt, dass „es nicht immer von Vorteil“ sei, wenn „die Eltern den Taufspruch aussuchen“. In der Tat besteht dabei die Gefahr, sachfremde Kriterien in Ansatz zu bringen, die den Gebrauch eines Bibelwortes problematisch erscheinen lassen. So erklärten in einem Taufgespräch die Eltern, sie hätten als Taufspruch das Christuswort „Ihr seid das Salz der Erde“ ausgesucht. Der Pfarrer war erstaunt und fragte nach den Hintergründen. „Unser Sohn ist ja in Lüneburg geboren, der Salzstadt. Daran soll ihn der Spruch ein Leben lang erinnern.“ Auch ein anderer Pfarrer hat die Taufspruchauswahl durch Eltern als teilweise problematisch erlebt – vor allem auch, weil sie oft eher in zu eng geführter Auswahl und oberflächlich geschehe. Er „neige mehr und mehr dazu, selbst Vorschläge zu machen“ und „versuche zu fragen, ob es in der Familie einen Taufspruch gibt, zum Beispiel bei Großeltern oder Eltern, der sozusagen ‚wiederverwertet‘ werden kann“. Verschiedentlich äußern Pfarrer sich kritisch zu der auf einige wenige Bibelworte begrenzten Auswahl. Wenn in einer Gemeinde Täuflinge einer Generation denselben Taufspruch bekämen, verliere der Taufspruch seine „persönliche Komponente“. Ein Pfarrer erklärt, er „erwäge mittlerweile die Einführung eines ‚ZweitTaufspruchs‘ in solchen Fällen.“ Hier wird man allerdings mit zu bedenken haben, dass es durchaus problematisch sein kann, einem Menschen ein bestimmtes Bibelwort als Taufspruch – und damit Lebenswort – vorzuenthalten, nur weil dieses Wort inflationär gebraucht wird. Diese Inflation muss nicht zwangsläufig negativ sein, sondern kann auch in der besonderen Eignung von Bibelworten für die Auswahl zum Taufspruch liegen. Und auch wenn viele Menschen den gleichen Taufspruch haben, kann er individuell Wirkung entfalten und bedeutsam werden. Als ein spezielles Problem thematisiert einer der Pfarrer, dass ihm manchmal Taufsprüche in Übersetzungen angetragen werden, die „ziemlich weit von der Lutherübersetzung entfernt“ sind; mitunter lasse sich „sogar nur schwer herausfinden, ob überhaupt eine ‚offizielle‘ Übersetzung zugrunde liegt“. Er trägt die Erwägung ein, beim Eintrag ins Kirchenbuch gegebenenfalls einen Hinweis aufzunehmen, in welcher Version der Taufspruch vergeben worden ist. „Taufsprüche erfreuen sich bei uns großer Beliebtheit, sind sie doch eine Hilfe 39 zur täglichen bzw. regelmäßigen Tauferinnerung“, schreibt ein Pfarrer. Teilweise
39
Ein Pfarrer schreibt aus dem Leben in seiner Familie: „Taufsprüche waren bei uns immer ziemlich die ersten Worte der Bibel, die die Kinder lernten. Sie gehörten selbstverständlich zur abendlichen Andacht am Bett.“
Taufsprüche
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hätten ihn „ältere Gemeindeglieder nachträglich um einen Taufspruch“ gebeten.40 Taufsprüche seien „gute Lebensbegleiter, auf die man immer wieder Rückbezug nehmen kann, die Menschen besonders prägen können, weil sie dieses Wort als persönlich zugesprochenes Wort wahrnehmen, sich daran reiben oder auch festhalten“, berichtet ein anderer Pfarrer aus seinen pastoralen Erfahrungen. Zwei Pfarrer gestalten den Taufspruch jeweils „als unter Glas an die Wand zu hängendes Plakat“ und überreichen es der Tauffamilie aus Anlass der Taufe. So kann der Taufspruch zum sichtbaren und „sprechenden“ Lebensbegleiter werden. In diesen Zusammenhang passt auch die Praxis zweier Gemeinden, die „Sprüche auf Taufkerzen“ zu überreichen. Ein anderer Pfarrer trägt die Erwägung ein, „den Taufspruch auf kleine Kärtchen zu drucken und mit einem Gruß an die Taufgesellschaft zu verteilen“. In einer anderen Gemeinde „gestalten die Kinder des Kindergottesdienstes ein Bild zum Taufspruch, das nach dem Taufgottesdienst den Eltern überreicht wird“. Zwei Pfarrer geben an, bei ihnen würden die Taufsprüche später in der kirchlichen Unterweisung aufgegriffen und thematisiert. Ein Pfarrer lässt in der ersten Stunde eines neuen Konfirmandenkurses „als Hausaufgabe den Taufspruch heraussuchen und lernen. Beim Vorstellungsgottesdienst vor der Konfirmation stellen sich die Konfirmanden mit dem Taufspruch vor.“ Ein Pfarrer gibt an, „bei Beerdigungen gerne den Taufspruch als Grundlage der Ansprache“ zu verwenden. 6. 6.1
Der praktische Umgang mit Taufsprüchen in der SELK Zur methodischen Vorgehensweise
Um Hinweise auf einen praktischen Umgang mit Taufsprüchen in den Gemeinden der SELK zu erhalten, haben wir Taufansprachen aus der SELK ausgewertet. In den Taufansprachen bzw. Taufpredigten, in denen der Taufspruch ausgelegt wird, so war unsere Ausgangsannahme, müsste zumindest erkennbar werden, wie die predigenden Pfarrer der SELK die Taufsprüche verstehen, welchen Umgang sie sich mit ihnen denken und welche praktischen Hinweise sie in diesem Zusammenhang geben. 41 Im Rahmen der Erhebung zur Taufspruchpraxis in der SELK wurde auch darum gebeten, Auslegungen von Taufsprüchen einzusenden. Insgesamt haben 22 Pfarrer der SELK reagiert. 83 Taufansprachen konnten so gesammelt und aus-
40
41
Zur individuellen Bedeutung von Taufsprüchen dieses Beispiel aus der Erhebung: „In einem Bibelkreis war eine Dame, die dann bald zur benachbarten Baptistengemeinde ging und sich dort wiedertaufen ließ. Ihr Hauptargument war, dass damals ihre Babytaufe gar keine richtige Taufe gewesen sei, denn sie erinnere sich zum einen nicht, und zum anderen habe sie vor allem gar keinen individuellen Taufspruch. Ohne etwas Individuelles wurde der Vorgang nicht als wirkliche Taufe akzeptiert.“ S.o., Abschnitt 3.
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gewertet werden. Bei den Taufen handelte es sich, soweit es für uns erkennbar war, überwiegend um Taufen von Säuglingen und Kleinkindern. Taufansprachen zu Taufen von zum christlichen Glauben konvertierten Flüchtlingen sind nicht dokumentiert. Ohne Repräsentativität im engeren Sinne beanspruchen zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass damit ein für Umfragen relativ hoher Prozentsatz der SELKPfarrer erfasst ist und tatsächlich auch Auslegungen aus allen vier Regionen der SELK vorliegen. Für die Veröffentlichung an dieser Stelle wurden die Taufansprachen anonymisiert. Die 83 Auslegungen wurden durchgängig nummeriert. Predigten desselben Verfassers sind am gleichen Buchstaben hinter der Zahl zu erkennen. Die Buchstaben stehen dabei in keinem Zusammenhang mit dem Namen des Predigtverfassers. 6.2
Funktion der Taufsprüche
Eine ganz grundlegende Bedeutung der Taufsprüche lässt sich darin erkennen, dass die Taufsprüche fast durchgehend die Grundlage für die Taufansprache bzw. Predigt im Taufgottesdienst dargestellt haben. Der Taufspruch tritt damit sowohl für die Taufgesellschaft als auch für die ganze Gemeinde in besonderer Weise ins Bewusstsein, indem er nicht bloß einmal genannt, sondern auch ausgelegt wird. Wir haben es bei dem Taufspruch in gewisser Weise mit komprimiertem Evangelium zu 42 tun, das in der Predigt entfaltet und in seiner ganzen Breite mit Blick auf das Leben des Täuflings, aber auch das der Gemeinde entfaltet wird. Im Taufspruch werden „die Verheißungen Gottes in der Taufe“43 entdeckt, sodass der Taufspruch das Handeln in der Taufe auch interpretiert.44 Für den Umgang mit dem Taufspruch wird von unterschiedlichen Predigern ein landwirtschaftliches Bild bemüht: Wie ein Same soll der Taufspruch im Leben des Täuflings wachsen, sprossen und schließlich Kraft und Wirkung entfalten.45 Ganz konkret wird dabei mit Blick auf den Täufling erwartet, dass „die Worte [sc. des Taufspruchs, CB/MS | …] von ganzem Herzen deine Worte werden, du mit ihnen umgehst, […] du sie lernst – inwendig und auswendig und immer wieder in deinem Herzen bewegst“46 – oder ähnlich: „Wer sich solche Bibelworte aussucht, wie ihr es getan habt, wer sie meditiert, sich einprägt, aufschreibt und betet, wird merken: Sie sind eine kostenlose Sprachschule für Beter.“47 Dabei ist damit die 42
43 44 45 46 47
Vgl. Predigt 4B: „Wir müssen dieses tröstliche Evangelium, das sich im Taufspruch für [N.] verdichtet hat, das [sic] es das ganze Evangelium in einem Satz ausdrückt, deswegen hören, weil wir es noch nicht sehen können.“ Vgl. auch Predigt 6B. Predigt 64P. Vgl. Predigt 67P: „Diesem Gottesgeschenk an sein Kind gehen wir nun nach unter dem Taufspruch, der über diesem Tag ausgerufen ist […].“ Vgl. Predigt 6B und Predigt 31I. Predigt 6B. Predigt 31I.
Taufsprüche
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Gewissheit verbunden, dass die Worte selbst eine Kraft haben, einen Menschen „mit[zu]nehmen“.48 Überhaupt lässt sich häufig eine Verbindung von Taufspruch und Gebet ausmachen. Der Taufspruch wird als Gebetsvorlage verstanden, die nachvollzogen werden will, als Hilfe, um das Beten zu lernen.49 Zum Teil wird dies in den Predigten auch ganz praktisch vollzogen, indem der Taufspruch (in modifizierter Fassung) als Predigtschlussgebet aufgenommen wird.50 Damit verbunden ist die „Hoffnung, dass Dir diese Worte und was dahinter steckt lieb und wert werden und du die Bedeutung der Worte einmal von Herzen verstehen darfst“51. Sowohl eine kognitive als auch eine emotionale Aneignung dieser Worte sind also mit der Vergabe des Taufspruchs intendiert. Der Taufspruch kann so als „Lebens-Losung“ verstanden werden, die den Täufling „[e]in Leben lang [begleiten] soll“52 oder als individuelles Gebot.53 Täufling und Gemeinde sollen dabei „zu einer neuen Sicht unsererselbst [sic]“54 gelangen. Dabei wird der Taufspruch nicht immer nur als auf den Täufling bezogen ausgelegt, sondern auch auf Eltern, Paten und Gemeinde.55 So kann es explizit als Aufgabe von Eltern und Paten benannt werden, „dass ihr [N.] in der Weise in den Glauben an Gott hineinführt und begleitet, dass ihm sein Taufwort in schwierigen Zeiten als Ermutigungswort dient. Dass er sich nicht verwirren lässt, sondern erinnert wird, dass Gott ihn wunderbar gemacht hat.“56
Entsprechend kann der Taufspruch auch als Rollenvorbild für Eltern und Paten gefasst werden: „Und wir können das am besten tun, wenn wir uns dem Psalmbeter anschließen und [N.] einladen: zu kommen und zu schauen, wie wunderbar die Werke Gottes 57 an den Menschen sind.“
Schließlich sind auch noch diejenigen Taufansprachen zu nennen, in denen der Taufspruch (auch) die Funktion der Gesetzespredigt erfüllt, wenn der Taufspruch mit einem „Spiegel“, der der Selbsterkenntnis dient, verglichen wird.58
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Predigt 2B. Vgl. Predigt 1A, Predigt 2B. Vgl. Predigt 59O. Vgl. zum Taufspruch als Predigtschlussgebet in modifizierter Form: Predigt 54M. Predigt 4B. Predigt 56M. Vgl. Predigt 49M. Predigt 2B. Vgl. Predigt 2B. Predigt 82V. Predigt 79U. Predigt 82V. Vgl. Predigt 81U.
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6.3
Kontextverknüpfungen
Erkennbar ist in vielen Taufpredigten/-ansprachen das Bemühen, den Taufspruch mit anderen Kontexten zu verknüpfen. In offensichtlich ländlich geprägten Verhältnissen geschieht dies etwa durch Bezüge auf eigenes Erleben der Tierhaltung bzw. der Zusammenhänge von Saat und Ernte.59 So werden Taufspruch und alltägliches Leben miteinander verwoben. Damit wird verdeutlicht: Diese Worte gehören ins (Alltags-)Leben. Auch Verbindungen zu politischen Ereignissen werden gezogen.60 Häufig finden sich auch Bemühungen, die Ansprache über den Taufspruch mit der Taufliturgie selbst zu verknüpfen.61 Dadurch wird erkennbar, dass der Taufspruch eben nicht nur ein allgemeines Lebensmotto ist, sondern der Erinnerung, Auslegung und Betonung des Taufgeschehens dient. Dabei bleibt der Kontextbezug nicht nur auf den Taufakt begrenzt. Vielmehr kann das kirchliche Leben auch im weiteren Sinn in den Blick geraten und mit dem Taufspruch in ein Wechselspiel versetzt werden. Dazu gehören Hinweise auf Vertonungen des Taufspruchs oder andere Lieder62, auf die Trauung63, die Konfirmation64, auf die Beerdigungsliturgie65 oder auf Elemente der persönlichen Frömmigkeit wie Luthers Morgen-/Abendsegen66. Zu solchen kirchlichen Kontextualisierungen des Taufspruchs gehören auch ein expliziter Kirchenjahresbezug67, die Interpretation eines Kunstwerks aus dem Kirchraum68 oder die Aufnahme des Wochenspruchs als Taufspruch69. 6.4
Praktische Hilfen zur Vergegenwärtigung des Taufspruchs
In den untersuchten Predigten ist häufig der Versuch wahrzunehmen, der Tauffamilie praktische Hinweise für die Erinnerung des Taufspruchs und für die Integration in das Alltagsleben mitzugeben. Ein Prediger fasst es allgemein so: „Solche Worte […] sind Wegbegleiter für das ganze Leben, man kann sie aufschreiben, auf einen Spickzettel, in ein Tagebuch, in einer Blumenlese schöner Worte und Gedichte, sie finden selbst im kleinsten Koffer einen Platz. Es sind Worte zum mit-
59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69
Vgl. Predigt 12D und Predigt 31I. Vgl. Predigt 28H. Vgl. Predigt 11D, Predigt 32I, Predigt 84L u.ö. Vgl. Predigt 29I und Predigt 43K, sowie Predigt 32I und Predigt 84L. Vgl. Predigt 31I bei einem Gottesdienst mit Trauung und Taufe. Vgl. Predigt 80U bei der Taufe (und Konfirmation) eines Jugendlichen. Vgl. Predigt 29I und Predigt 38I. Vgl. Predigt 38I. Vgl. Predigt 21E, Predigt 59O und Predigt 61O. Vgl. Predigt 15D. Vgl. Predigt 79U.
Taufsprüche
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nehmen [sic]; auf Arbeit, in die Wiesen, Felder und Äcker, in die Wohnung im Plat70 tenbau, in die Fabrik, in die Schule und ins Krankenhaus, selbst mit ins Grab.“
Noch konkreter umgesetzt ist dies, wenn auf der Taufkerze der Taufspruch (zum Teil) angegeben ist71, gute Wünsche (mit Bezug auf den Taufspruch?) auf einem selbst gestalteten Strampler abgebildet sind72 oder der Prediger anregt, den Taufspruch in Holz schnitzen zu lassen73. Eine Besonderheit liegt in dem Fall vor, in dem eine Mutter den Taufspruch ihres Kindes selbst vertont hat.74 Der besseren Erinnerbarkeit des Taufspruchs bzw. der Taufpredigt dienen dann auch verschiedene Versuche der symbolischen Veranschaulichung, wenn die Prediger verschiedene Paar Schuhe75, eine Engelfigur76, eine Taschenlampe77, eine Mimose78 oder ein Sackgassenschild79 mit auf die Kanzel nehmen. Auch die Veranschaulichungen durch Bilder lassen eine entsprechende Bemühung erkennen.80 Dem Anliegen, den Taufspruch verständlich zu machen und so auch die Adaption in den Familien zu erhöhen, sollen darüber hinaus wohl die Versuche dienen, den Taufspruch auch (noch einmal) in einer anderen als der liturgisch gebräuchlichen Übersetzung81 oder als Paraphrase82 lautwerden zu lassen. 6.5
Besonderheiten
Auch einige Besonderheiten sind im Umgang mit dem Taufspruch zu beobachten. Als erstes sei hier der Versuch eines Predigers genannt, ein zukünftiges Gespräch zwischen Täufling und Eltern anhand der Motivik des Taufspruchs zu imaginieren.83 Durch diese Predigtkonzeption gelingt es dem Prediger, die Zukunft als Möglichkeitsraum zu entwerfen, in dem der Taufspruch tatsächlich in der alltäglichen Kommunikation eine Rolle spielen könnte.84 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
Predigt 31I. Vgl. Predigt 46L. Vgl. Predigt 32I. Vgl. Predigt 35I. Vgl. Predigt 67P. Vgl. Predigt 36I. Vgl. Predigt 38I. Vgl. Predigt 39J. Vgl. Predigt 40J. Vgl. Predigt 79U. Vgl. Predigt 76T und Predigt 12D. Vgl. Predigt 25G und Predigt 60O. Vgl. Predigt 19E, Predigt 35I und Predigt 61O. Vgl. Predigt 12D. Vgl. dazu grundsätzlich Frank M. Lütze, Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik, APrTh 29, Leipzig 2006, 278–290, hier: 278f.: „Besteht das Ziel rechtfertigender Predigt darin, Glauben zu wecken, so wird mit den beschriebenen Mustern antizipiert, wie Leben im Horizont des Glauben [sic] aussehen könnte. Es handelt sich um das Angebot an den Hörer, den Freiraum der Gnade sich für den Moment vorzustellen, probeweise eine veränderte Selbst- und Weltsicht einzunehmen. […] Antizipatorische Akte werben demnach um den Hörer –
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Erkennbar ist gelegentlich auch die Notwendigkeit, die Relevanz des Taufspruchs gegenüber anderen Ansprüchen zu sichern. Dies ist zum Beispiel dort der Fall, wo die Eltern für die Taufe ein nicht biblisches Wort ausgesucht haben und der Pfarrer diesem nun ein biblisches Wort als Taufspruch an die Seite stellt.85 Im besten Fall gelingt es hier, das Befremden der Familie gegenüber der religiösen Sprachwelt durch einen Dialog von säkularem Taufwort und Bibelwort zu überwinden und das Wort Gottes so in die Fragestellungen, die die Eltern bewegen, auszurichten. Ähnlich ist es aber auch dann, wenn der Taufspruch in seinem Kontext zunächst wie eine „Drohung“86 klingt. Hier kann es dann Aufgabe der Taufpredigt sein, zu einem angemessenen Verständnis dieses biblischen Wortes anzuleiten. Als letzte Besonderheit sei hier benannt, wie in einer Taufpredigt vom Prediger gesprächsweise ganz konkret die „Glaubenserfahrung“87 eines Kirchenvorstehers eingespielt wird, um damit anzudeuten, dass das, was der Taufspruch verheißt, sich tatsächlich auch erleben lässt. Auch dies ein bemerkenswerter Versuch, Bibeltext, gemeindliches Leben und alltägliche Erfahrung miteinander zu verbinden. 7. 7.1
Rückblick und Ausblick Rückblick
Mit unserem Beitrag haben wir einen ersten Schritt unternommen, um die wissenschaftlich weithin unreflektierte Praxis der Vergabe von Taufsprüchen zu beleuchten. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Praxis der SELK, wobei wir annehmen, dass die Taufspruchpraxis in diesem kirchlichen Bereich durchaus in Verbindung zu der Praxis in der Ökumene steht. Gleichwohl bleibt für diesen Bereich insgesamt noch viel Forschungsbedarf. Deutlich geworden ist, dass die Praxis, Taufsprüche zu vergeben, tatsächlich vor allem im 20. Jahrhundert gewachsen ist. Es bleibt eine noch zu bestätigende Vermutung, dass das Vorbild der Konfirmationsspruchvergabe dann auch auf die Taufe übertragen wurde. Auch wenn Ursprung und konkrete Funktion der Vergabe von Taufsprüchen weiterhin zu einem guten Teil im Dunkeln liegt, lassen die Rückmeldungen der befragten Pfarrer und die Verwendung der Sprüche in Taufpredigten doch erkennen, dass vonseiten der liturgisch Verantwortlichen die Bedeutung der Taufsprüche reflektiert wird. Wahrnehmbar ist, dass der Aspekt der Personalisierung des Taufgeschehens, der mit der Vergabe eines solchen Taufspruches einhergeht, eine herausragende
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so, wie man um die Liebe wirbt: durch die Imagination der Möglichkeiten, die sich aus einer Beziehung ergeben könnten.“ Vgl. Predigt 57M. Predigt 74S. Predigt 79U.
Taufsprüche
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Bedeutung hat – bis zu der skurrilen Taufspruchentscheidung, die in diesem Beitrag auch dokumentiert ist. Theologisch verstanden entspricht eine solche Personalisierungspraxis durchaus dem lutherischen Anliegen, die Gnadengaben Gottes als ein Geschenk für mich (pro me) erkennbar werden zu lassen. Die Predigten lassen darüber hinaus erkennen, dass die Prediger den Tauffamilien Hilfestellungen geben, wie sich solche persönliche Aneignung gerade auch durch Vermittlung des Taufspruchs einüben lässt, etwa dadurch, dass der Taufspruch gelernt wird, er zur Gebetsvorlage wird oder eben als Lebenslosung als Ermutigung und Weisung für das Leben dient. Die Übung, den Taufspruch an anderen Stellen in der Biographie des Getauften wieder aufzugreifen, ist ebenfalls belegt. Erstaunlich ist die Kreativität und Vielfalt, die offensichtlich in den Gemeinden an den Tag gelegt wird, um den Taufspruch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ihn mit der Lebens- und Glaubenswelt zu verknüpfen oder in der Predigtpraxis verständlich auszulegen. Hier haben wir unseres Erachtens einen großen Schatz, der auf den ersten Blick verborgen war, bergen können. Bemerkenswert sind auch die gemeindepädagogischen Implikationen, die sich ergeben, wenn Eltern und Paten im Rahmen der Suche nach einem Taufspruch wieder neu mit der Bibellektüre beginnen oder sie intensivieren. Dass sich die Vergabepraxis von Taufsprüchen auch kritisch hinterfragen lässt, hat dieser Beitrag ebenfalls deutlich gemacht. Neben grundsätzlichen sakramentstheologischen Fragen sind es vor allem praktische Fragen, die Bedeutung haben: die anscheinend unpassende Versauswahl, die Tatsache, dass Taufsprüche häufig gewählt werden und so das Persönliche verlieren, oder der Umstand, dass sich Eltern einer fremden Bibelübersetzung bedienen. Als besonders gewichtig erscheint der Einwand, der Taufspruch könne als Segenswort am Ende das Taufgeschehen in den Hintergrund drängen. Gegenüber diesen Einwänden ist aber überraschenderweise zumindest festzustellen, dass die Vielfalt der Taufsprüche offensichtlich doch größer ist als angenommen, wenn es in einigen Gemeinden zu gar keinen oder nur wenigen Doppelungen bei der Vergabe von Taufsprüchen gekommen ist. Der Prozess der Taufspruchwahl durch Eltern und Paten wird sicherlich durch den Pfarrer auch immer wieder zu begleiten sein, ggf. auch durch kritische Nachfrage. Insgesamt scheint uns der Wert, den diese liturgiegeschichtlich gesehen neue Praxis hat, doch die Schwierigkeiten deutlich zu übersteigen, insbesondere dann, wenn der Taufspruch nicht einfach nur als magisches Segenswort verstanden wird, sondern mit der Taufe verbunden wird und in den Kontext christlichen Lebens in der Gemeinde eingebunden wird.
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7.2
Ausblick
In einem letzten Schritt wollen wir in diesem Beitrag ausloten, welche Leistungsfähigkeit die Vergabepraxis von Taufsprüchen gerade in Problemzonen der Kasualpraxis entfalten könnte. Und wir möchten ein Praxisbeispiel mit Hilfen für die Gemeindearbeit präsentieren, in dem deutlich wird, wie sich Taufsprüche im gemeindlichen Miteinander als Schätze wiederentdecken lassen können. Kristian Fechtner hat darauf hingewiesen, dass die Taufpraxis auch in schamtheoretischer Perspektive wahrzunehmen ist. Er erinnert an den statistischen Befund, dass „[d]ie Taufquote von Kindern nichtverheirateter evangelischer Mütter […] signifikant geringer als der Durchschnitt [ist]“88. Dabei bringt er diesen statistischen Befund in Zusammenhang mit früherer kirchlicher Praxis, nach der die Taufe von unehelichen Kindern in bestimmter Weise sanktioniert wurde (kein Glockengeläut, keine Danksagung, Taufe nicht im öffentlichen Gottesdienst). Daraus folgert er: „Sich im familiären Taufarrangement eines Gemeindegottesdienstes öffentlich als alleinstehende Mutter mit Kind zu zeigen, rührt an einem ‚Makel‘. Angesichts der durch die Geschichte immer noch virulenten Diskriminierungen könnte man auch zugespitzt sagen: Es geht nicht nur darum, einen Makel zu haben, sondern ein Makel zu sein, was sich auf den Täufling überträgt. Eine wesentliche Bedeutungsdimension der Taufe ist die Gabe: Was kann und soll einem Kind ‚mitgegeben‘ werden? Was kann in der Taufe davon symbolisch sichtbar gemacht werden? Und 89 umgekehrt: Was bekommt das Kind ungewollt mit auf den Weg?“
Die Vergabe eines Taufspruches könnte hier einen Beitrag leisten, nämlich transparent zu machen, was dem Kind mitgegeben wird. Er könnte als Zusage Gottes dem Schamempfinden entgegengestellt werden und so nicht zuletzt auch die emotional belastete Situation aufbrechen. Nicht die Vorurteile anderer, nicht die Schmerzen familiärer Brüche, nicht die Scham, Ansprüchen nicht zu genügen, soll dem Täufling „mitgegeben“ werden, sondern Gottes Zusage, dass durch die Taufe all das überwunden ist und er selbst mit diesem Kind und seiner Familie auf seinem Lebensweg mitgeht. Wie Taufsprüche prominent in der Gemeindepraxis vorkommen können, macht das Beispiel eines Gottesdienstes der Hannoveraner St. Petri-Gemeinde der 90 SELK im Jahr 2015 deutlich. Dort werden in jedem Jahr sechs „etwas andere Gottesdienste“ gefeiert, lutherische Lobpreisgottesdienste (LoGo). Einem ersten LoGo zur Jahreslosung folgen fünf weitere zu einem Jahresthema. Dieses lautete für 2015 „Lebensworte“ und widmete sich – in dieser Reihenfolge – Taufsprüchen, Konfirmationssprüchen, Trausprüchen, Haus-Segenssprüchen und Bibelworten zur Beerdigung. Das LoGo-Team wollte damit die Vergabe, den Inhalt und die Bedeu88 Kristian Fechtner, Diskretes Christentum. Religion und Scham, Gütersloh 2015, 134. 89 A.a.O., 136. 90 Vorbereitungstexte, Grundentscheidungen und Materialien zum Gottesdienst liegen vor unter http://www.logo-hannover.de/pdf/LoGo_2015-03-01_Stammbuch.pdf (Stand: 08.07.2017).
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tung solcher Bibelworte zu besonderen Anlässen (neu) ins Bewusstsein rufen und den Umgang damit fördern. In dieser Reihe bildete der Gottesdienst zu Taufsprüchen („Ins Stammbuch geschrieben“) den ersten. In der Vorbereitung zeigte sich das LoGo-Team überrascht, dass sich die Faktenlage zum Thema „Taufspruch“ nicht ohne Weiteres eindeutig erheben lässt, wovon auch der vorliegende Aufsatz Zeugnis gibt. Der ursprüngliche Gedanke, ein Ranking („Hitliste der Taufsprüche“) zu erstellen, wurde aufgegeben, da das Team davon ausging, dass „nach jetzigem Kenntnisstand Taufsprüche erst seit den 70er-Jahren üblich(er) wurden“. Stattdessen wurde vereinbart, ein Ran91 king für den Folge-LoGo vorzusehen, der den Konfirmationssprüchen („Auf eige92 nen Beinen“) gewidmet war. Das Team entschied sich dafür, in einem Anspiel die eigene Recherche zum Thema nachzuspielen und dabei folgende Punkte aufzugreifen: Geschichte der Taufsprüche; Sinn der Taufsprüche; Kriterien für die Auswahl der Taufsprüche; exemplarische Nennung einiger Taufsprüche; Umgang mit Taufsprüchen im Leben der Getauften. Diese Aspekte wurden flankiert und ergänzt93 durch die Predigt, in der zugleich mit Ps 91,11–12 exemplarisch einer der Taufspruchfavoriten94 ausgelegt wurde. Die intensive Beschäftigung mit dem wertvollen Gut der Taufsprüche war nicht nur für das Team gewinnbringend, sondern hat auch dazu geführt, in der Gemeinde eine ganz neue Aufmerksamkeit für Lebensworte aus der Taufe als Schätze in der persönlichen Praxis des Glaubens zu wecken. Das individuell zugeeignete Gotteswort kann im geistlichen Leben seine ganz eigene Wirkung entfalten – und will darum gerne zur Anwendung kommen. Das kann auf vielerlei Weise geschehen, wie die Praxisbeispiele dieses Beitrags zeigen.
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Für die Tradition der Konfirmationssprüche ist belegt, dass sie aus dem 19. Jahrhundert stammt (s.o., Abschnitt 3). Vorbereitungstexte, Grundentscheidungen und Materialien zum Gottesdienst liegen vor unter: http://www.logo-hannover.de/pdf/LoGo_2015-05-10_Beine.pdf (Stand: 09.07.2017). Taufspruch als „Small-Talk-Opener“: „Über diesen einen Vers baue ich meine Beziehung zu Gott auf. Dieses eine Wort wende ich hin und her. Mal ist jener Teil, mal dieser für mich im Vordergrund. Der Taufspruch ist der Anfang des Gespräches mit Gott.“ Und: Taufspruch als „Portal“: „So sind für mich […] Taufsprüche. Persönliche Türen zur Bibel. So kann ich in die Lesung des Wortes Gottes einsteigen […]“ S.o., Abschnitt 5.3.
Verbindende Exzentrizität Der Christus extra nos als Mitte des Gottesdienstes, der Verkündigung und der christlichen Existenz Daniel J. Schmidt 1.
Einleitung
Sein wollen wie Gott – das ist der Versuch des Menschen im Sündenfall, sich zum Herrn zu machen über Gottes offenbaren Willen und sein Gesetz. Seitdem ist das Herz des Menschen unruhig, wie Augustin sagt; auf der Suche nach der Vollkommenheit und Unvergänglichkeit, die es in sich selbst nicht mehr findet; nach einem Halt außerhalb seiner selbst. Alle Religion ist eine blasse Erinnerung daran. Doch wenn der eigentliche Halt des menschlichen Lebens außerhalb liegt, dann muss er ihm offenbart werden. Das aber ist geschehen im Kreuzestod Christi, der das Grunddatum der neutestamentlichen Verkündigung ist, wie der Apostel Paulus im Ersten Korintherbrief schreibt: „Sondern wir reden, wie geschrieben steht (Jes 64,3): ‚Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.‘ […] Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen.“ (I Kor 2,9.13, vgl. V. 2)
Dieser Christus extra nos ist die Mitte des Gottesdienstes, der Verkündigung und der christlichen Existenz. Darin liegt eine verbindende Exzentrizität, der dieser Beitrag nachzuspüren versucht. Dies geschieht in der Hoffnung, dass die Wahl eines bestimmten Blickwinkels zwar andere, nicht minder wesentliche Aspekte zurücktreten lässt, aber dadurch auch manchen Einblick eröffnet. 2. 2.1
Der Christus extra nos als Mitte des Gottesdienstes Christi Werk ist der wahre Gottesdienst, den er für uns tut
Das Kreuz Christi offenbart uns, wie weit Gott geht, um uns von der selbstgewollten Unabhängigkeit von ihm und der selbstverschuldeten Abhängigkeit von der Sünde zu erlösen. Unsere eigene Gerechtigkeit kann vor seinem Gesetz nicht bestehen; er
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gibt sich zum Opfer und verschafft uns damit eine neue, bessere Gerechtigkeit, seine eigene. 2.1.1
Die Evangelien als Bericht von der Erfüllung seines Apostolats
Das Auftreten Jesu ist begleitet von der Frage: „Wer ist der, der so redet und handelt?“ (vgl. Mk 2,7; Mt 8,27). Er tut Zeichen, die ein Mensch aus eigener Macht und Vollmacht nicht tun kann, und spricht Sündenvergebung zu. Damit beansprucht er einen Platz bei dem, der Einer ist und keinen anderen neben sich duldet, wie es sein Volk im Shema Jisrael bekennt und lehrt (Dtn 6,4). Die einen halten ihn, wie die Jünger berichten, für jemanden, der von Gott gesandt ist; einen oder gar den Propheten, der aus seiner Nähe zu Gott heraus in besonderer Vollmacht redet und handelt. Doch die Utopie, die sich für sie damit verbindet, wird durch ihn nicht verwirklicht. Für die anderen setzt er sich an Gottes Stelle und ist damit vom Teufel. So wird er konsequent des Aufruhrs gegen die Ordnung für schuldig gesprochen; vor allem gegen die Ordnung Gottes, sein Gesetz; für dieses Urteil findet sich zuletzt eine Mehrheit. So wird die Frage nach seinem Sein zur Frage nach dem Woher seines Tuns und seiner Vollmacht. Die Antwort der Apostel und Evangelisten, implizit und explizit, ist diese: Er ist der Ur-Apostel (Hebr 3,1), der Gesandte dessen, von dem Israel bekennt, dass er allein Herr ist. Entsprechend weist sich Jesus selbst aus: Er redet, was er vom Vater hört. Er tut dessen Willen. Und wie ihn der Vater sendet, so sendet er die Jünger. Der Auftrag, den sie erhalten, hat wie sein eigener seinen Ursprung vor aller menschlichen Geschichte (Gen 3,15) und außerhalb des menschlichen Horizonts. Wäre der „Menschensohn“ nicht von Gott gesandt, so wäre die Sendung der Jünger eine ganz menschliche Angelegenheit; sie hätten nur ihr Eigenes, von dem sie reden könnten, und wären nur in ihrer eigenen Macht und Vollmacht unterwegs. Sie wären nur scheinbare Apostel (ψευδαπόστολοι, siehe II Kor 11,13). An ihrer externen Sendung – und der ihres Auftraggebers – entscheidet sich der Wahrheitsgehalt ihrer Botschaft und die Tatsächlichkeit ihres apostolischen Handelns im Lösen und Behalten von Sünden und in der Berufung von Nachfolgern in dieselbe Mission. Sind sie in Wahrheit von ihm gesandt, dann lautet ihre Botschaft, dass der wahre Gottesdienst, den Gott von den Menschen fordert, von Christus getan worden ist. Dann finden durch ihr Reden und Handeln die, die diese Botschaft aufnehmen, in diesem Gottesdienst das Heil. 2.1.2
Die Evangelien als Bericht von seinem Opfer
Der Vorläufer Johannes weist auf Christus mit den Worten: „Siehe, das ist Gottes Lamm“ (Joh 1,29.36). Der versprochene Retter kommt als Opfer. Dem entspricht sowohl die Verbindung des Christusbekenntnisses der Jünger mit seiner eigenen
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Leidensankündigung im Markusevangelium wie die scharfe Zurückweisung des unmittelbar darauf folgenden frommen Versuchs zu verhindern, dass er zum Opfer wird (Mk 8,29–33). Doch weil Gott ihn dafür hergibt, bringt dieses Lamm schon auf dem Weg zu seiner Opferung Sündern Vergebung. Die Frau, die als überführte Ehebrecherin nach göttlichem Recht den Tod verdient, wird von Christus nicht verdammt, weil ihre Strafe auf ihm liegt (Joh 8,11; vgl. Lev 16,21f.). Der Gesandte Gottes wird nicht einfach das Opfer eines Justiz-Versagens. Sein Sterben fällt in die Zeit, zu der im Tempel die Lämmer für die jährliche Passahfeier geschächtet werden und ihr Blut nach alttestamentlicher Vorschrift vergossen wird (Dtn 12,15f., vgl. Lev 1,11). Es schafft eine Versöhnung, die größer ist als die des Jom Kippur, des jährlichen Versöhnungstages; eine Versöhnung ein für alle mal (siehe Hebr 9,28). Die Jünger sind bei diesem Opfer nicht passiv; doch was sie dazu beitragen, ist ein erschreckender Synergismus mit seinen Gegnern: einer von ihnen verrät ihn, einer verleugnet ihn, die gesamte Jüngerschaft lässt ihn im Stich. Sie sind nicht beteiligt an der Verurteilung des Herrn, aber sie tragen dazu bei, dass er mit seinem Werk allein ist. So wird durch ihr Versagen wahr, was Gottes Volk seit alters bekennt: Der Herr, unser Erlöser, ist Einer. Er allein rettet und hat keinen neben sich. 2.1.3
Die Evangelien als Bericht von der Erfüllung der göttlichen Gerechtigkeit durch ihn
„Der Herr, dein Erlöser“ – so nennt sich der Herr im zweiten und dritten Teil des Jesajabuches in der Anrede an sein Volk (Jes 54,8 u.ö.). Darin klingt der Hauptsatz des Dekalogs an, den Gott mit seiner Rettungstat begründet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland […] geführt habe“ (Ex 20,2). Mit diesem Satz schafft Gott die Beziehung zu seinem Volk. Doch das Verhalten des Volkes führt immer wieder zu einem Beziehungsproblem. Es hilft nichts, Gott muss selbst zu seiner Erlösung kommen. Wie der Löser nach dem Gesetz ein Verwandter sein muss (Lev 25,25), so kommt er als ein Mensch von Fleisch und Blut. Er gibt nicht mehr Ägypten als Lösegeld (Jes 43,3), sondern zahlt selbst den Preis, damit Abrahams Kinder ihr Erbteil wiedererlangen, d.h. ihren Anteil an der von Gott zugesicherten Heimat, die sie durch ihre Schuldknechtschaft verloren haben. Er kommt als Mensch und doch zugleich als der, dessen Wesen Gerechtigkeit und Heiligkeit ist, und von dem daher als einzigem im letzten Sinne gilt, dass dieses rettende Opfer ohne Fehl ist (Ex 12,5). So weist der alttestamentliche Titel „Der Herr, dein Erlöser“ voraus auf das, was die Evangelien berichten: Weil kein Mensch die Gerechtigkeit hat, die er vor Gott haben soll, weil sie auch bei seinem Volk nicht zu finden ist, dem doch sein gerechter Wille im Gesetz offenbart ist, kommt Gott selbst, um alle Gerechtigkeit zu erfüllen (Joh 3,15). Das göttliche Muss (δεῖ), mit dem Christus als Auferstandener den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus das Verständnis seines Erlö-
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sungswerkes am Kreuz öffnet (Lk 24,26), gilt von seinem gesamten Weg, angefangen mit der Geburt durch eine Jungfrau (Mt 1,21–23). Mit der Beschneidung acht Tage später wird Gottes Sohn wie jeder männliche Jude verpflichtet, das Gesetz ganz zu halten. Am Jordan reiht er sich ein in die Sünder, die Umkehr und Vergebung nötig haben, weil sie das nicht vermögen, und bei seiner Taufe hören die Jünger die Freude des Vaters darüber, dass der Sohn den entscheidenden Weg zur Opferung nun öffentlich antritt (Mk 1,11). Denn es muss also geschehen, damit alle Gerechtigkeit erfüllt wird und Menschen begründete Hoffnung auf Rettung be1 kommen (Röm 8,4). 2.2
Christi Werk ist unsere Gerechtigkeit
Hoffnung gibt es nie kollektiv und allgemein, wenn sie nicht zugleich konkret und individuell ist. Nicht ohne Grund beginnen die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse in der ersten Person Singular mit credo, „ich glaube“. Solches Credo aber ist das Lebensmotto dessen, der mit der heiligen Taufe in die Gerechtigkeit Christi eingetaucht ist, der in der Buße immer wieder diese Gerechtigkeit sucht und für den der Leib und das Blut des Gottessohnes das entscheidende Lebens-Mittel ist. 2.2.1
Der Christus extra nos in der heiligen Taufe
Der christliche Glaube ist die Hoffnung auf Rettung von dem Sold, den der Mensch mit seiner Sünde verdient, dem ewigen Tod. Und wie es von der Erschaffung des Menschen heißt: „So ward der Mensch ein lebendiges Wesen“ (Gen 2,7), so spricht der Apostel Petrus auch von der Neuschaffung individuell und in einer existentiellen Verbindung dieses göttlichen Aktes mit der Person: sie wird „eine lebendige Hoffnung“ (I Petr 1,3). Das geschieht im Bad der Wiedergeburt. Dem Ruf dazu zu folgen ist zwar ein Akt des Gehorsams nach Mt 28,19f. Aber das Wesen der Taufe liegt nicht darin, dass der Mensch damit eine Erwartung Gottes an ihn erfüllt. Wenn es von Gott bestimmt ist, dass der Mensch in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor ihm leben soll, dann erreicht dieser seine Bestimmung auch nicht dadurch, dass er ganz „zu sich selbst“ kommt oder dass ihm alle Möglichkeiten zur Selbstentfaltung geboten werden. Denn damit bliebe doch alles beim Alten: In seinem Zentrum (cor) fände sich, geistlich geurteilt, nur Ungerechtigkeit und Unheiligkeit (vgl. Ps 32). Der Mensch ist angewiesen auf eine bessere Gerechtigkeit außerhalb seiner selbst; auf die Gerechtigkeit Christi, die allein vor Gott gilt (II Kor 5,21). Diese kann dem Menschen mitgeteilt werden, weil Gott aus sich herausgegangen ist, sich entäußert hat, und sich in seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit selbst mitteilt. Das aber geschieht notwendigerweise in dieser Welt, wo die Menschen in ihrem vergänglichen,
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Vgl. Luthers Wiedergabe des hebräischen Imperfekts ּתִפּ ָדֶ הin Jes 1,27: „Zion muss durch recht erlöset werden.“ (Hervorhebung DS, Lutherübersetzung 1984).
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sündenbeladenen Sein existieren. Im geistlichen Wasserbad wird der Täufling in Christi Gerechtigkeit eingekleidet (Tit 3,4–7; vgl. Eph 4,24). Dies ist ein entscheidender Event im Leben eines Menschen, weil Gott damit eine Tatsache schafft: Dem Täufling wird von außen eine neue Identität zugeeignet, er wird zu einem Christianus, einem Christusangehörigen. Zu solcher Erneuerung gehört auch die dem Menschen damit offenbarte Erkenntnis, dass nicht er selbst der Mittelpunkt seiner eigenen Lebenswelt ist, sondern der, der das Licht der Welt ist: „Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ“ (Paul Gerhardt). Nur wer an diesem Zentrum außerhalb seiner selbst hängt, von dem gilt das Jüngerprädikat: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14) – eben weil seine Existenz in Christus ist. 2.2.2
Der Christus extra nos in unserer täglichen Reue und Buße
Doch weil die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nur außerhalb des Menschen zu finden ist, ist die Predigt von ihr zugleich Mahnung und Ruf zur Umkehr. Sie zeigt dem Menschen, dass er da, wo er seine eigene Gerechtigkeit sucht, Gottes furchtbarem Gericht verfällt; dass die Flucht weg von Christus nicht zu Friede und Unabhängigkeit führt, auch wenn viele Stimmen am Weg solches verheißen. Sie offenbart ihm auch, dass solcher Fluchtreflex aus dem Unglauben kommt. Sie wirbt deshalb um den entlaufenen Sünder und ruft ihn dorthin, wo eine bessere Gerechtigkeit zu finden ist als die menschenmögliche, stets vom Virus der Gottlosigkeit korrumpierte; zu der Gerechtigkeit extra hominem, die in Christus ist. Das entscheidende Kennzeichen des täglichen privaten Confiteors ebenso wie des gottesdienstlichen der Gemeinde ist deshalb nicht, dass hier menschliches Versagen kollektiv ausgesprochen wird oder dass Menschen gemeinsam unter Geschehenes einen Strich ziehen. Es ist auch nicht die Umkehr zu dem inneren Gutmenschen. Es ist die Umkehr zu Christus, in dessen heiligen Wunden reuige Sünder Zuflucht finden als in einer iustitia aliena, die ihnen im Rechtfertigungsgeschehen zugerechnet wird als ihre eigene. 2.2.3
Der Christus extra nos im heiligen Mahl
Solche Zueignung der Gerechtigkeit Christi wird leiblich erfahrbar im heiligen Mahl. Nicht die Gottesdienst feiernde Gemeinde noch ein gottesdienstlicher Leiter ist der Gastgeber am Altar; es geht auch nicht um das feierliche Begehen der Gemeinschaft untereinander. Es ist Gottes Sohn, der hier handelt. Was die Gemeinde an irdischen Gaben darbringt – Brot und Wein –, wird durch sein Wort eins mit seinem Leib und Blut. Das wird dem Sünder gereicht, damit teilt Christus sich leiblich dem Christianus mit, und tauscht dagegen dessen Ungerechtigkeit und Todverfallenheit. Das ist eine wechselseitige communicatio, in der der Sünder an sich selbst den Gottes-Dienst erfährt, der ihn von der Gottlosigkeit reinigt
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(vgl. Joh 13,6ff.), und in der Christus in Liebe und Glauben die vereint, die durch die Gräben der Sünde von ihm und voneinander getrennt waren. 3. 3.1
Der Christus extra nos als Mitte der Verkündigung Der Prediger als Empfänger einer externen Botschaft
Das Sakrament als Geschehen der Teilnahme an Christus involviert das Herz des Menschen, aber es ist nicht das Produkt dessen, was er sich im Herzen wünscht, vorstellt oder vornimmt. Das gilt ebenso von der Kommunikation des Wortes Gottes, die in der Predigt geschieht. 3.1.1
Das Wort kommt von außen zum Prediger
Die kritische Frage nach dem Wesen und der Herkunft Christi entspricht der Erfahrung, dass es immer auch Propheten gibt, die von der Welt sind. Für den Botschafter Christi ist daher ebenso wie für seine Hörer entscheidend, dass die Botschaft von außen zu ihm kommt. Denn der Prediger ist kein unbeteiligter Sprecher einer „guten Nachricht“, er überbringt eine Botschaft, die auch für ihn selbst von existentieller Bedeutung ist. Doch niemand wird Botschafter durch Selbstbeauftragung oder eine gesellschaftliche Mehrheitsentscheidung. In der Politik erfolgt eine Entsendung durch das Regierungsoberhaupt, und der Botschafter ist stets von außen an seinen Einsatzort gesandt. So eignet dem Botschafter Christi durch sein Amt zwar keine Qualität, durch die er sich von anderen abhebt; doch dass er tatsächlich nach Gottes Willen zu diesem Amt geordnet ist, ist entscheidend. Gott bindet den Auftrag zur Verkündigung an individuelle Personen, denen diese damit zur heiligen Pflicht und zur besonderen Verantwortung vor ihm wird. Dass sie von sich sagen können: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt“ (II Kor 5,20) setzt voraus, dass sie nach seinem Willen rite vocati sind, und ist deshalb auch für ihre eigene Gewissheit unabdingbar. Für die Hörer aber geht es nicht zuerst darum, welcher individuelle Botschafter im Gottesdienst spricht, sondern dass er von dem beauftragt ist, der mit seiner Stimme zur Umkehr ruft und Trost gibt. 3.1.2
Er hat etwas von außerhalb zu sagen
Wo ein Botschafter von Amts wegen handelt, hat er nichts Eigenes zu sagen. Das gilt auch vom Botschafter Christi auf der Kanzel. Predigen ist deshalb mit Arbeit verbunden, mit der Arbeit an dem geschriebenen Wort, das diesem aufgegeben ist, aber auch mit der Arbeit des Wortes Gottes an seiner Person. Der Prediger rechnet in der Vorarbeit damit, dass das Wort gerade in seiner ursprünglichen, nicht alltäglichen Gestalt sein bisheriges Verständnis und seine eigene Einstellung dazu korri-
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giert, erneuert und erweitert. Er glaubt, dass das Wort, das ihm von außen gegeben wird, ein Richter zuerst seiner eigenen Gedanken, seines Handelns und Redens ist. Er gebraucht es nicht nur als Anregung oder Bezugsrahmen für seine eigenen Worte und entscheidet nicht vor solcher Arbeit, was er zu sagen gedenkt. Er hört es zunächst als Mahnung und Trost für sich selbst. Dass er etwas von außerhalb zu sagen hat bedeutet zugleich, dass seine Botschaft trotz aller Einfühlsamkeit für das, was seine Hörer bewegt, nicht von ihrer Erwartung abhängt. Denn was er auszurichten hat, richtet auch ihre Gedanken, ihr Handeln und Reden. Es ist eine gute Botschaft eben deshalb, weil sie einen fatalen Irrtum aufdeckt – dass der Mensch aus eigenem Werk gerecht werden kann –, und weil sie einen Trost bringt, den dieser nach göttlichem Recht (und in der Anfechtung auch gerade nach seiner eigenen Erfahrung) nicht zu erwarten hat. Und es ist eine „erbauliche“ Rede, weil Christus durch sie den einzelnen und die Gemeinde aufbaut, und stärkt gegen allen menschlichen Widerstand, Zweifel, Gleichgültigkeit und Angriffe. Wo die Predigt aus dem Wort Christi geschöpft wird, da gilt mit ganzem Ernst und mit noch größerer, tröstlicher Gewissheit sein Wort an seine Botschafter: „Wer euch hört, der hört mich“ (Lk 10,16; Joh 5,24). 3.1.3
Er kann es nur in Christo sagen
„Der Abgesandte eines Menschen ist wie dieser selbst.“ Dies ist der Grundsatz des 2 bis heute praktizierten jüdischen Rechtsinstituts des Shaliach (שליח, Gesandter). Dabei gilt: Der Sendende kann über den Abgesandten verfügen, und dieser übernimmt dessen Plan und Auftrag.3 Darauf beruht die Aussendung der Zweiundsiebzig, der ersten temporären Apostel Jesu (Lk 10,1ff.). In seinem Namen heilen sie Kranke, bringen Frieden oder wenden sich von dort ab, wo sie nicht aufgenommen werden. Soweit und solange sie gemäß ihrem Auftrag reden und handeln, ist ihr Herr darin das Subjekt. Zu einer solchen Mission hat er besonders die Zwölf berufen. Er wählt sie aus einer größeren Zahl von Nachfolgern aus und nennt sie Apostel (Mk 3,14; vgl. Mt 10,2; Lk 6,13). Mit seiner Himmelfahrt wird ihre Sendung zeitlich und räumlich entgrenzt. Das impliziert die Weitergabe ihres Auftrags. Zur damit verbundenen Lehre gehört deshalb auch das Wesen der vollmächtigen Sendung durch ihn und die Verantwortung vor ihm, die das apostolische Amt ausmachen. So verfügt er auch heute über die berufenen Boten des Evangeliums, denn sie sind von der heiligen Kirche, deren Haupt er ist, in seinem Namen dazu eingesetzt und haben mit der Ordination seinen Auftrag übernommen. Obgleich durch das Handeln der Kirche 2 3
Siehe z.B. https://www.rabbinicalassembly.org/sites/default/files/public/halakhah/teshuvot/19912000/bergman_shaliachlkabbalah.pdf (Stand: 30.11.2016). Karl Heinrich Rengstorf, ἀποστέλλω (πέμπω), ἐξαποστέλλω, ἀπόστολος, ψευδαπόστολος, ἀποστολή, in: Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band I: Α–Γ, Stuttgart u.a.1990, 415.
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vermittelt, ist ihre Sendung immer unmittelbar; sie sind direkt und primär ihrem Herrn Rechenschaft schuldig. Sie sind darauf angewiesen, dass sie von ihm immer wieder ihres Auftrags versichert werden, und dass sie ihr Selbstverständnis als Beauftragte stets neu in ihm finden. Der Prediger ist Subjekt der Predigt nur, soweit er als Botschafter spricht, der in seiner Individualität mit seinen Gaben wie mit seiner Fehlbarkeit hinweist auf den, der ihn gesandt hat. In diesem Sinne hat das Ich des Predigers in der Predigt seinen Platz, und weist den Hörer zugleich immer auf den einen hin, der als Sendender durch ihn redet und der von sich sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6) 3.2
Die externe Werkgerechtigkeit
Der Mensch, der sich von Gottes Gebot lossagt, kann seine Gerechtigkeit nur in sich selbst suchen. Die Bekehrung des Sünders aber besteht darin, dass er hört, was Gottes Wort ihm über die Gerechtigkeit sagt, die vor Gott gilt, und darüber, wo diese zu finden und wo sie nicht zu finden ist. 3.2.1
In uns ist keine Werkgerechtigkeit
Doch gegen den exklusiven Anspruch Jesu auf die entscheidende Gerechtigkeit in seinem Werk regt sich ein natürlicher Widerspruch im Herzen des Menschen. Er will sich nicht nur seinen Weg selbst suchen und selbst entscheiden, was Wahrheit ist. Er geht auch davon aus, dass die in der Welt und im Gewissen erkennbare Ordnung der Weg zum Guten ist; theologisch gesprochen: zu dem, der allein gut ist. Wo solche Überzeugung konsequent zum Antrieb für alles Handeln und Entscheiden wird, hat sie bemerkenswerte Auswirkungen. Doch sie führt zugleich dazu, dass der Mensch das Angebot einer fremden Gerechtigkeit, die ihm ohne eigenes Zutun zuteilwird, als Moralisierung begreift, als Zumutung oder als Kritik an seinem eigenen Bemühen und an solcher Ordnung. Jesu Zuwendung zu den offenbaren Sündern wird daher von den Pharisäern als Kritik an ihrem Lebenswandel und ihrer Lehre verstanden. Dass er Sündern Gemeinschaft mit sich gewährt, ist aus der Sicht derer, die ihre eigene Gerechtigkeit suchen, Gotteslästerung. So trägt die Frage nach seiner Person, über der es zum Bruch kommt, die Frage nach der eigenen Gerechtigkeit des Menschen in sich. Was das Gesetz verlangt, ist das unvergleichlich Gute: Die vollkommene Liebe zu Gott und zum Menschen. Die Fähigkeit zu solcher Liebe hat der Mensch jedoch im Sündenfall verloren, und das gute Gesetz kann den gefallenen Menschen nicht gut machen. Das ist die Erkenntnis, die für Paulus mit seiner Konfrontation durch Christus vor Damaskus begonnen hat. Er begreift, dass die von ihm mit unvergleichlichem Einsatz verfolgte Selbstgerechtigkeit kein Gewinn, sondern ein geistlicher Verlust
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war. Sie hat dazu geführt, dass er die Anhänger des „neuen Weges“ (Act 9,2) verfolgte und ihre Botschaft bekämpfte. Das macht ihn zu einem demütigen Apostel (I Kor 15,9), der sich fortan von solchem „Kot“ distanziert (Phil 3,8). 3.2.2
In Christus allein ist Werkgerechtigkeit
Christus hat die Forderung des Gesetzes auf sich genommen, das sagt: „Es muss alles erfüllt werden.“ Er lehrt die bleibende Gültigkeit des Gesetzes. Er bestreitet weder das Bemühen der Gesetzestreuen noch nennt er das Streben nach Gerechtigkeit unnötig. Es ist wahr: Ungerechtigkeit trennt einen Menschen von Gott. Doch über den Graben, den die Sünde aufreißt, kommt der Sünder beim besten Willen nicht hinüber. Sie steckt in den tiefsten Regungen seines Herzens, kaum steuerbar und von außen kaum wahrnehmbar, wie Jesus exemplarisch in der Bergpredigt zeigt (Mt 5,17–32). So gilt für alle seine Hörer das Wort: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 5,20)
Das ist der Hinweis auf die bessere Gerechtigkeit dessen, der so redet; die Gerechtigkeit seines Heilswerks, die er tut und bringt. Die Predigt, dass ein Mensch gerecht wird ohne Werke, ist unchristlich, wenn sie nicht dieses eine Werk verkündigt, das als einziges den Menschen vor Gott gerecht macht. Der Satz des Paulus in Röm 3,28 wird ohne die Charakterisierung per fidem nicht nur verkürzt. Er wird in sein Gegenteil verkehrt. Denn das Evangelium ist die Botschaft von der Gerechtigkeit des Werkes Christi in seinem Leiden und Sterben, und die Predigt vom Kreuz macht nicht nur die eigene Gerechtigkeit des Menschen zunichte, sie macht ihm viel mehr die Gerechtigkeit Christi groß und lieb, dass er sich diese gerne und ohne eigenes Zutun von außen zukommen lässt. 3.2.3
Christi Werkgerechtigkeit wird im Gottesdienst unsere
Christi Werk ist der wahre Gottesdienst. Das gilt auch umgekehrt: Wahrer Gottesdienst ist das, was Christus an denen tut, die sein Wort hören und seiner Einladung folgen. Damit wird die Verdienstlichkeit aller Beiträge des Menschen zu dem, was vor Gott gilt, zunichte. Das Confiteor am Eingang des Gottesdienstes ist daher kein liturgisches Mittel zur Demütigung eines freien und selbstbestimmten Menschen. Es ist das demütige Bekenntnis der christlichen Gemeinde, dass der Mensch ohne das Werk Christi nicht frei, sondern fremdbestimmt ist durch die zerstörerische Macht der Sünde. Wer so in den Gottesdienst kommt, für den ist die Verkündigung der Werkgerechtigkeit Christi im anschließenden Gottesdienst tröstlichstes Evangelium, in dem ihm diese Gerechtigkeit zuteilwird. Der sucht sie auch, wenn er dem Ruf folgt, zum Altar zu kommen. Gewiss soll er dort Christus sein Herz übergeben. Aber ein unter Gottes Gesetz geängstetes, zer-
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schlagenes Herz ist alles andere als ein „Geschenk“ für ihn (vgl. Ps 50,19). Doch im Altarsakrament geschieht das Unfassbare: Christus kommt, um Wohnung im Sünder zu nehmen und ihm ein neues Herz zu schaffen (vgl. Ez 36,26). So locken die Gnadenmittel den Sünder, der mit seinen Werken vor Gott nicht bestehen kann, mit der Gerechtigkeit des Werkes Christi. Hier bekommt er, was er in sich selbst nicht findet. Hier wird sein Leben neu ausgerichtet auf das Zentrum außerhalb seiner selbst, das die Mitte des Gottesdienstes, der Gemeinde und des christlichen Lebens ist: Christus. 3.3 Das externe Gericht Am Gericht Gottes führt kein Weg vorbei. Weil Gott aber nicht den Tod des Sünders will, sondern dass er sich bekehre und lebe, hat er beschlossen, dieses Gericht nicht an ihm, sondern außerhalb von ihm zu vollziehen – an seinem Sohn. Das ist das Evangelium von Christus. 3.3.1
Das Gericht findet außer uns statt
Es ist eine bleibende Wahrheit, dass der Mensch nur durch die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung des Gesetzes vor Gott bestehen kann. Und es ist die Botschaft der Kirche, dass Christus allein diese Erfüllung leisten kann und geleistet hat. Es ist ebenfalls eine bleibende Wahrheit, dass Sünde unter das Urteil Gottes fällt, und dass der Mensch ohne Vollzug dieses Urteils als Angeklagter unter Gottes Gericht bleibt. Die Botschaft der Apostel aber ist das Wort vom Kreuz. Dort ist das Urteil vollzogen worden; nicht am Sünder – das wäre sein Ende –, sondern außer ihm. Sie predigen nicht, dass es keinen zornigen Gott gibt, sondern dass sein Zorngericht seinen Sohn getroffen hat. Wie es keine Freiheit von der Gerechtigkeitsforderung des Gesetzes gibt ohne das Werk Christi, gibt es auch keine Freiheit von seiner Strafforderung ohne die Sühne durch Christi Blut. Dass der Mensch mit seiner eigenen Gerechtigkeit vor Gott bestehen könne, ist ebenso eine gefährliche Utopie wie die Annahme, dass die Realität des Gottesgerichts durch die Geistesgeschichte dieses oder jenes Kulturraums überholt sei. Das Kreuz zeigt unübersehbar, dass am Gehorsam gegen Gottes Willen und an der Sühne für den Ungehorsam kein Weg vorbeiführt. Und es zeigt, dass Christus diesen Weg für den Sünder gegangen ist. Ohne diese Botschaft verliert der Gottesdienst sein externes Zentrum; in seine Mitte rücken andere Inhalte. 3.3.2
Nur außer dem Menschen ist Gnade zu finden: in Christus
Nach dem bürgerlichen Gesetz des alten Bundes führten unbezahlbare Schulden in die Schuldknechtschaft. Diese bedeutete eine zeitlich begrenzte Unfreiheit bis zum nächsten, alle sieben Jahre wiederkehrenden Erlassjahr. Ein Volksgenosse war
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dabei nicht wie ein Sklave, sondern wie ein Tagelöhner zu halten, der zudem nicht mit leeren Händen zu entlassen war. Diese Institution sicherte ihm so sein tägliches Leben und gab ihm die Möglichkeit zum Wiederaufbau einer Existenz (Ex 21,2ff.; Lev 25,39ff.; Dtn 15,12ff.). So demonstriert Gott im bürgerlichen Bereich, dass Recht nach seinem Willen Recht bleibt, dass er aber zugleich das Leben und den Neuanfang des Verschuldeten will. Wo Jesus von einer unbezahlbaren Schuld vor Gott spricht, vernehmen seine Hörer dies vor dem Hintergrund des von Gott geordneten Umgangs mit einer solchen Geldschuld. Wie schwer die Sündenschuld dagegen wiegt, mag ihnen daran bewusst werden, dass deren Folge nicht zeitlich begrenzt, sondern ewig ist. So ist es begreiflich, dass Jesus dem Gelähmten zuerst aus seiner Schuld hilft und ihn dann auch von seiner Krankheit erlöst (Mk 1). Er ruft mit seinem Kommen ein Erlassjahr aus, wie er es in einer Predigt zu Jes 61,1f. in seiner Heimatstadt sagt. Seine Hörer aber wundern sich, dass solche Worte der Gnade aus seinem Mund kommen. Sie glauben dem Propheten nicht, der einer der Ihren ist, und wollen ihn aus dem Weg räumen (Lk 4,18ff.). Doch wer ihm glaubt, der erfährt, dass dieses Gnadenjahr die Endzeit ist, die mit seinem Kommen anbricht. Der findet am Kreuz des Gottessohnes Erlösung von der Forderung des Gesetzes nach Gehorsam und nach Sühne: Dort ist sein Schuldzettel für immer angeheftet (Kol 2,14), dort hat Christus öffentlich erklärt, dass die Schuld bezahlt ist (Joh 19,30). Wer den Sohn Gottes hat, der schuldet dem Gesetz nichts mehr. Der findet bei ihm ein Auskommen für jeden Tag wie die Tagelöhner im Weinberg (Mt 20,1ff.; vgl. Mt 6,11), für den beginnt eine neue Existenz (Gal 6,15). Gott will nicht den Tod des Sünders. Durch seinen Gesandten und in seinem Gesandten ruft er ihn zu seiner Gnade, so lange noch Zeit ist. 3.3.3
Das christliche Gewissen hat darum einen externen Halt
Die Rede vom Gerechtwerden des Menschen ohne die vom Gesetz geforderten Werke wird in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sie nicht vom Glauben handelt und aus Glauben kommt, d.h. wenn das Gerechtwerden nicht am Werk Christi festgemacht ist. Ebenso wird die Rede von der Freiheit des Gewissens zu einem nichtchristlichen Dogma, wenn sie die Loslösung des Gewissens von jeglicher externen Instanz meint. Dann fallen die gesetzgebende und die richtende Autorität im Menschen je individuell zusammen. Sofern das Gesetz jedoch eine überindividuelle Instanz ist, die das Leben in Gemeinschaft ermöglicht, ist die Konsequenz einer solchen Loslösung des Gewissens entweder die Gesetzlosigkeit, die den Menschen letztlich gewissenlos werden lässt. Oder sie ist die subjektive Illusion einer Freiheit, wenn sich der Mensch in allen potentiellen Anklagepunkten selbst freispricht, während ihn das allen gegebene Gesetz schuldig spricht. Reale Freiheit im Gewissen kommt deshalb nicht zustande durch die Anpassung des Gesetzes an das eigene Wollen und Tun. Sie kommt zustande durch das
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Urteil des gerechten Richters, der das, was der von ihm gestellte Verteidiger vorbringt, annimmt und urteilt, dass dem Gesetz damit volle Genüge getan ist. Nur wo sich der Angeklagte seinem göttlichen Verteidiger überlässt, wird das Gewissen frei und das Herz fest. Das geschieht durch seine Gnade und ist ein köstliches Ding (Hebr 13,9). Für den angefochtenen Menschen, der sich im Herzen selbst richtet, ist das die von außen kommende Wahrheit, durch die er von seinem schlechten Gewissen loskommt (siehe I Joh 3,19). 4. 4.1
Der Christus extra nos als Mitte der christlichen Existenz Der Christ als Bürger im „Reich zur Rechten“
Wenn das, was die Identität und die Existenz eines Christen ausmacht, nicht in ihm selbst und nicht in der Welt zu finden ist, dann gilt von ihm: Er ist in der Welt, aber nicht von der Welt. Sein Leben ist das eines Pilgers oder noch treffender – da er sich im täglichen Handel und Broterwerb kaum von seinen Mitmenschen unterscheidet – eines Migranten. 4.1.1
Der Christ als Migrant in dieser Welt
Im fachlichen Diskurs über Migration in der Gesellschaft erscheint eine Kategorie von Personen „mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung“. Es sind Menschen, die die Heimat ihrer Eltern nur aus Erzählungen kennen. Die Rückkehr dorthin ist jedoch möglicherweise ein Ziel in der Familie, wenn die Umstände es zulassen. Christen wachsen auf als Bürger dieser Welt. Sie sprechen die Sprache der Gesellschaft, in der sie leben, sie kennen ihre Wertmaßstäbe und ihr Selbstverständnis. Doch die Zugehörigkeit zu ihrer Umgebung, auch wenn sie ein ganzes Leben andauert, ist nur vorübergehend. Ihre Identität liegt in der Zugehörigkeit zu dem, der sie aus der Knechtschaft der Sünde erlöst hat und dessen Blut sie von der letzten großen Plage, dem ewigen Tod, rettet; ihr Ziel ist die Heimkehr in eine Heimat, die nicht in dieser Welt ist. Christen haben einen geistlichen Migrationshintergrund, auch ohne eigene Migrationserfahrung. Diese Situation des Volkes Gottes zeigt sich archetypisch im Alten Bund. Die im ägyptischen Exil geborenen Hebräer waren vertraut mit dem System der ägyptischen Gesellschaft und mit deren Selbstbewusstsein. Der Exodus aus Ägypten war eine über Jahrzehnte andauernde Migration in die unbekannte Heimat. Die detaillierte bürgerliche und geistliche Gesetzgebung am Sinai war der Beginn einer neuen Identitätsfindung dieses Volkes aus ehemaligen Sklaven. Sie hing an der Identität dessen, der ihnen lange vorher ihre Existenz als Volk in ihrem eigenen Land zugesagt hatte, und der sie mit seiner Erlösungstat zu seinem Volk gemacht hat (Ex 20,1).
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Die Zugehörigkeit zu ihm ist jedoch nicht nur eine Sache der Tradition, die in einer veränderten Umgebung zu einem religiösen Konglomerat wird, sondern eine Sache des Herzens; denn aus der Fortsetzung des Leitsatzes im Dekalog wird klar, dass sie keinen anderen Erlöser brauchen, und dass dieser keinen anderen neben sich duldet: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ 4.1.2
Er ist geprägt von einer Kultur außer der, die ihn umgibt
Die Migrationserfahrung der alten Israeliten prägte auch die nachfolgenden Generationen bis hin zum Gottesvolk des Neuen Bundes. Christen sind in einer Kultur außerhalb derer, die sie umgibt, zuhause. Das Gespräch mit dem Vater und mit den Brüdern und Schwestern ist für sie eine ständige Erinnerung daran, dass sie hier keine bleibende Stätte haben. Jede neue Generation von Christen, die in der Welt aufwächst, ist deshalb herausgefordert, als Migranten ihren Platz in ihr einzunehmen, ohne das Ziel der himmlischen Heimat zu verlieren. Dies bedeutet weder die bloße Repristination überkommener Lebensweisen noch die Idealisierung etwa eines „christlichen Abendlandes“. Es bedeutet Achtung und Dankbarkeit für die gewachsene, christliche Prägung mehr als einer Kultur der Gegenwart und zugleich eine weise Unterscheidung zwischen bürgerlicher Moral und einem christlichen Lebenswandel. Es bedeutet auch die Einübung in die Kunst der Apologetik gegen Irrlehre, nachchristliche und neuheidnische Strömungen. Eine solche Haltung ist ein bleibendes Zeugnis in einer Gesellschaft, die keine andere Heimat kennt als diese Welt. Sie ist auch ein wichtiger Kontrapunkt gegen alle Tendenzen in den eigenen Reihen, die doppelte Staatsbürgerschaft aufzugeben und die von außerhalb geprägte Identität in der Gastkultur aufgehen zu lassen. 4.1.3
Entscheidend ist für ihn, was Christus will
Der Wille Gottes für das Zusammenleben mit ihm und mit den Menschen ist seinem Volk von Anfang an offenbart und hat bleibende Gültigkeit. Ein Christ lebt nicht in ständiger Opposition zur jeweiligen Gesellschaftsform. Aber er kennt den obersten Richter über Gut und Schlecht, und respektiert sein Urteil mehr als das seiner Umgebung. Von dieser Unterscheidung schreibt Paulus an die jungen Christen in der römischen Bürgerkolonie von Korinth: „Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Habgierige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ (I Kor 6,9–11)
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Dem entspricht es, dass bereits mit der Ankündigung des imminenten Reiches Gottes die Frage nach dem ihm gemäßen Leben an den Vorläufer Johannes gerichtet wird (Lk 3,10–14). Dem entsprechen auch die Tugendkataloge und die Ansätze einer christlichen Ständeethik in den neutestamentlichen Briefen an die Gemeinden und an die Botschafter Christi der zweiten Generation. 4.2
Der Christ als neue Existenz: ein Liebesziel des gottesdienstlichen Geschehens
Ein Christ ist immer im Werden. Er jagt der neuen Existenz nach (Phil 3,12), er sucht sie in ihrer Quelle, in den gottesdienstlichen Akten, durch die Gott seine Gnade vermittelt. 4.2.1
Die neue Erfahrung der Liebe Gottes
In einer Existenz im Ausland ist die Liebe zur angestammten Heimat das stärkste Motiv für eine Bewahrung der Herkunftskultur. Das gilt auch für Migranten der nachfolgenden Generationen, denen diese Liebe durch Erzählungen und durch gemeinsam praktizierte Bräuche vermittelt wird. Für das Volk Israel, das schon vor der Zeitenwende von der Erfahrung des Exils und der Diaspora außerhalb Palästinas geprägt ist, ging es dabei um mehr als um nationale oder ethnische Traditionen. Jerusalem war mehr als ihre Hauptstadt, und der Tempel mehr als ein in der antiken Welt berühmter Bau. Denn mit diesem Ort verband sich durch die von Gott gegebene Ordnung der Sündopfer die Möglichkeit der Sühne und die Zusage seiner gnädigen Gegenwart. Zudem geht es um die geistliche Kultur dieses Volkes, wenn bis heute jede nachwachsende Generation in der jährlichen Feier des Pessachfestes hinein genommen wird in das Bekenntnis zu dem Herrn als dem Erlöser, wenn dem Kind die Frage vorgesprochen wird: „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“, und die Antwort in der ersten Person Plural erfolgt: „Sklaven waren wir einst dem Pharao in Ägypten. Da führte uns der Ewige, unser Gott, von dort 4 heraus […]“ Die Begründung der christlichen Existenz in der heiligen Taufe ist die Erfahrung der unverdienten und unbedingten Liebe Gottes in Christus. Die Kirche ist der Ort, an dem Gott die Teilgabe daran zugesagt hat. Die Zielrichtung der christlichen Existenz ist bestimmt durch die Sehnsucht nach der ewigen Heimat; nicht als ungewisses oder utopisches Verlangen nach einer besseren Zukunft, die „nicht von dieser Welt“ ist, sondern als gewisse Hoffnung auf eine bleibende Existenz in der Fülle seiner Liebe, die für alle Generationen gilt (Act 2,39). Kinder, die in der Kirche heranwachsen, erfahren diese Liebe lange vor einer verstandesmäßigen Unterweisung, wenn sie das Glaubensbekenntnis der Kirche mitzusprechen lernen, die
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Aus der Pessach-Haggada, siehe Monika und Udo Tworuschka, Die Welt der Religionen. Geschichte, Glaubenssätze, Gegenwart, Gütersloh 2006, 147.
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Sakramentsfeiern in der Gemeinde miterleben und den Segen empfangen. Und es ist eine Grunderfahrung, dass Sterbende, die in diese Liebe hineingewachsen sind, auf dieselbe Weise Trost finden, wenn ihr Verstand nicht mehr erreichbar scheint. 4.2.2
Das Leben in Liebe zu Gott
Die Prägung der Christen durch ihre Zugehörigkeit zum Reich Gottes besteht nicht einfach im Festhalten an einem alten Gesetz. Ihnen ist ein Gebot gegeben, in dem das ganze Gesetz hängt, und das doch neu ist, weil es die neue Existenz im Reich Gottes kennzeichnet. Es ist kein Gebot, das alles aufhebt, was in der bürgerlichen Gesellschaft geboten ist; es ist auch kein zusätzliches Gebot. Es ist die Anweisung, in der Liebe dessen zu bleiben (Joh 15,9f.), der das Leben seines Sohnes für seine Freunde gegeben hat (Joh 15,13), und vom Brot und Wasser des Lebens zu leben wie von der täglichen Nahrungsaufnahme (Joh 6,35; Joh 4,10). Es ist die Aufforderung, Gott wiederzulieben, weil er die Sünder zuerst geliebt hat (I Joh 4,19). Es beschreibt das Leben derer, die ihre Existenz außerhalb ihres eigenen vergänglichen Daseins in dem haben, der die Liebe ist; die in seiner Liebe bleiben wie die Reben am Weinstock. Es bezeichnet das Leben in der Erfüllung des Gesetzes, die aus Gottes Gnade fließt (Röm 13,10). 4.2.3
Das Leben in Liebe zum Nächsten
Ein solches Leben ist ein Bekenntnis zum Herrn aller Herren in Wort und Tat. Es kennzeichnet diejenigen, die Bürger des Reiches sind, das nicht von dieser Welt ist. So erscheint es mehrfach insbesondere in den johanneischen Schriften im Neuen Testament (siehe etwa II Joh 1,5; vgl. Joh 13,34; I Joh 2,7f.). Wer seinen Bruder hasst, d.h. wer nicht in dieser Liebe lebt, der wandelt, johanneisch gesprochen, in der Finsternis: Der sieht nicht mehr das Ziel der ewigen Heimat, zu dem Gott sein Volk aus dieser Welt herausruft. Im Kontrast dazu gehört zur Liebe untereinander auch die Verantwortung für das eigene Leben. In einer Umgebung, in der Arbeit nicht für Freie vorgesehen war, führt dies vom Anfang der Kirche an zu einer neuen Arbeitsethik ohne Unterscheidung der gesellschaftlichen Position. Alle werden zu einem „ordentlichen Leben“ in Christus ermahnt, und das heißt, „dass sie still ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen“ (II Thess 3,10–12). 4.3
Der Christ als neue Existenz: ein Glaubensziel des gottesdienstlichen Geschehens
Solange ein Christ im Werden ist, solange er als Migrant diesseits der ewigen Heimat unterwegs ist, bleibt seine neue Existenz eine Sache des Glaubens, nicht der Empirie. Solcher Glaube kommt aus dem gottesdienstlichen Geschehen, in dem Gott diesen weckt und die Christenheit darin erhält.
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4.3.1
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Gegen alle innerweltliche Utopie
Das Erlöstsein und Geheiligtwerden durch die von Christus vollbrachte Gerechtigkeit ist ein Glaubenssatz. Es wird in diesem Leben immer erfahren unter dem Vorzeichen des simul iustus et peccator und unter der Vorläufigkeit der begonnenen, noch nicht vollendeten Neuschöpfung. Die neue Existenz ist daher ein Glaubensartikel und gehört zur Lehre von den letzten Dingen. Sie ist geprägt vom Wissen, dass der Mensch nicht durch eigene Anstrengung und nicht durch eine innerweltliche Evolution wesensmäßig gut wird, sondern durch das Vergehen des alten Menschen in seinem Sterben, durch die Vollendung der in der Taufe angefangenen neuen Existenz und den Eingang in die ewige Gegenwart des lebendigen Gottes. Die neue Existenz ist damit in dieser Welt zu glauben, aber nicht empirisch zu etablieren. Sie gehört zu der neuen Welt, die jenseits aller irdischen Erfahrung ist. Sie wird jedoch im gottesdienstlichen Geschehen bereits in dieser Welt empfangen und wird im Glauben zur Gewissheit, in der sich die Christiani in der Anbetung des dreieinen Gottes eins wissen mit den vollendeten Gerechten. 4.3.2
Gegen jedes innerweltliche Untergangsszenario
Das Bekenntnis zu dem offenbaren Willen Gottes, dass er nicht den Tod des Sünders will, sondern sein Leben, und dass dieses Leben untrennbar mit der Zielrichtung auf die ewige Heimat verbunden ist, ist ein Bekenntnis gegen jedes innerweltliche Untergangsszenario. Zunehmende Katastrophen natürlichen und menschlichen Ursprungs kennzeichnen die Endzeit dieser Welt. Eine solche telische Weltsicht führt, wo sie Eingang in säkulare und populärwissenschaftliche Entwürfe findet, zur Bildung von Untergangs- oder von alternativen Heilsszenarien. Die Katastrophen sind jedoch nicht das Ende selbst. Das wird von dem herbeigeführt, der zum zweiten Mal sichtbar in die Welt kommen wird und der sie bis dahin in seiner Hand hält mit allen innerweltlichen Entwicklungen. Er ist der Anfang und das Ende in Person. Wenn davon abgesehen wird, entbehrt der Blick auf die Vorzeichen des Endes der entscheidenden Wahrheit, nämlich dass er kommt, um das, was alt ist, zu richten und alles neu zu machen. 4.3.3
In Erwartung der ausstehenden Vollendung
Das, was im christlichen Gottesdienst geschieht, hat eschatologische Konsequenzen über diese Welt und dieses Leben hinaus. Die Taufe führt den Menschen über die Schwelle in das Reich Gottes. Sie ist damit einmalig, und sie ist ein Schwellenritus. Sie ist aber unabhängig von einer bestimmten Lebensphase. Sie dient auch nicht der Vergewisserung irgendeiner höheren, hoffentlich wohlwollenden Macht; in solcher Unbestimmtheit läge keine Gewissheit. Sie vergewissert den Täufling, dass Christus, der die Verpflichtung zur Erfüllung des Willens Gottes übernommen hat, diesen Willen für den Täufling mit seinem Leben und Sterben vollständig er-
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füllt hat, und dass dem todbringenden Urteil des Gesetzes mit seiner Auferstehung Genüge getan ist. Die Gültigkeit seines Heilswerkes wird dem einzelnen in seiner Taufe persönlich zugeeignet. Sooft er sich von da an im Licht der Gerechtigkeit und Heiligkeit seines Herrn reumütig als Sünder erkennt, wird ihm diese Gewissheit in der Absolution von neuem zuteil. Genauso oft gilt ihm die Einladung zum Tisch des Herrn, wo er mit seinem Essen und Trinken den Tod des Herrn verkündet – d.h. die von ihm erfüllte Gerechtigkeit und den Sieg über den, der die gesamte menschliche Schöpfung mit sich ins Verderben reißen will. Denen aber, die sich von Christus aus der vergänglichen Welt herausrufen lassen in die ἐκκλησία, gilt das, was Paulus an die Christen in Thessalonich schreibt: „Euch aber lasse der Herr wachsen und immer reicher werden in der Liebe untereinander und zu jedermann, wie auch wir sie zu euch haben, dass eure Herzen stark und untadelig seien in Heiligkeit vor Gott, unserm Vater, wenn unser Herr Jesus kommt mit allen seinen Heiligen.“ (I Thess 3,12f.)
Das geschieht, wenn himmlische und irdische Welt in der Neuschöpfung eins werden, und Gott sichtbar inmitten seines Volkes wohnen wird. 5.
Schluss
Der Mensch, der seine Existenz in Christus hat, wird in ihm zur neuen Kreatur, die dem Willen Gottes von neuem entspricht. Damit wird sein ganzes Leben zum Gottesdienst, wie Paulus ihn der Gemeinde in Kolossä vorstellt: „Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn“ (Kol 3,15–17).
Dies ist die Beschreibung des Gottesdienstes, der christlichen Verkündigung und der Existenz der Christen in der Exzentrizität, die sie mit ihrem Herrn und untereinander verbindet, dem Christus extra eos mit seiner Gerechtigkeit.
Die einigende Mitte – missionswissenschaftliche Perspektiven
Remembering Rightly Sermon on Ephesians 2,17–221 Thomas Beneke “And he came and preached peace to you who were far off and peace to those who were near. For through him we both have access in one Spirit to the Father. So then you are no longer strangers and aliens, but you are fellow citizens with the saints and members of the household of God, built on the foundation of the apostles and prophets, Christ Jesus himself being the cornerstone, in whom the whole structure, being joined together, grows into a holy temple in the Lord. In him you also are being built together into a dwelling place for God by the Spirit.” (Ephesians 2,17–22, ESV)
Liberation through commemoration? That is the theme given to our Synod. If we look at it closely it might seem like a contradiction – being freed my remembering the past. Remembering the past does not free us, it binds us. It binds us to our sins and the sins of our fathers. God tells Moses that he is a jealous God and will remember and punish the sins of the fathers for four generations (Ex 20:5). The psalmist prays: Remember not the sins of my youth! (Ps 25:7, ESV) I am sure all of us could join him in his prayer. Remembering the past is dangerous business. If we look closely, if we listen carefully, if we are honest about our past we all will be in trouble. We will see and hear stories of hurt, of violence, of negligence, stories of looking the other way when someone was being treated unjustly, when someone needed help. If you feel that this does not apply to you, if you feel that you have a clean slate, have nothing to be 1
Prof Dr. Werner Klän war dem Prediger während seines Studiums in Deutschland und darüber hinaus durch die Arbeit der Trilateralen Apartheid-Kommission ein ständiger akademischer und pastoraler Begleiter. Er hat meinen Werdegang wie den vieler anderer Studenten der Afrikanischen Schwesterkirchen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) tiefgehend geprägt. Eine Frucht dieser Prägung ist folgende Predigt. Sie wurde im Öffnungsgottesdienst der 60. Synode der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika (FELSISA) am 8. September 2016 in Kirchdorf, Südafrika gehalten. Das Thema der Synode war „Erinnerung als Befreiung“ und zielte darauf, die FELSISA bei der Auseinandersetzung mit ihrer von Apartheid gekennzeichneten Geschichte anzuleiten. Prof. Klän war selbst als Redner zum Thema „How to Cope With Hurt and Grief in Personal Life, in History and in Church – He heals the brokenhearted and binds up their wounds (Ps. 147:3)“ bei der Synode dabei. Dem Prediger fallen bei der Relektüre der Predigt verschiedene „Klänismen“, z.B. dem Betreiben von am kirchlichen Bekenntnis gebundener lutherischer Theologie als Essen von Schwarzbrot, auf. Die Predigt zielt darauf, die Hörer darin zu versichen, dass ihnen in Christus vergeben ist und sie darin ihre Identität haben, und sie zu einem unbefangeneren Umgang mit dem Thema „Apartheid“ zu befreien.
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ashamed of, you are probably missing something. Nelson Mandela taught us that oppression does not only harm the oppressed, the victim2. But oppression takes away the humanity of the oppressor. If we look at the bigger picture the perpetrator actually looses out on more than the victim, he looses his humanity. Let us apply this theologically: Where we become guilty of sin against our neighbour – especially if this sin is systemic, if it has become part of our everyday lives – we loose out on our God-given humanity. With time and repitition we don’t even notice that we are doing something wrong, that our neighbour is hurting, that we have become coldhearted. We become blind to our sin and the hurt of our neighbour, even the hurt to our own body: The fourth beer after work is necessary to calm my frayed nerves I tell myself, the feelings I have for my colleague are just part of my God-given nature, my disregard for the suffering of my workers teaches them to toughen up. Then when God’s send his word or another human being to tell us where we have gone astray, our temper quickly flares up. We get angry and defensive, we try to justify ourselves. So is the Bishop, is the Synodical council a bit crazy proposing this theme? Liberation through commemoration? Are they just looking for trouble? No, they are not. For there is more to remembering the past than looking at what we have done though the mirror of God’s law. Thanks be to God, remembering the past also involves remembering the wonderful things God has done in the past! Paul, in his letter to the Ephesians and the other congregations in Asia Minor, reminds us of these wonderful things - we have heard sermons on them often in the last months. Things God has done, in Christ, for us. He made us, who were dead though our sins – alive though Christ and has placed us next to Christ in heaven. Not on account of our track record, but through grace on account of Christ. Christ who has given us access to to God through his Spirit. Both to us, the gentiles who had previously been cut of from God’s promise and also to the Jews, who had always been part of God’s people, his chosen ones. Paul paints a beautiful picture of the church – a building, a body – a picture of unity, of love, of peace. Here he does not deal with concrete problems, like he does in his other letters. That is why, when hearing or reading his letter we might be tempted to think, but what about us? Why isn’t Paul writing about us? Why don’t we feature in his love-letter to the church. Our church, our life, our congregation is everything but peaceful. Power struggles, gossip, bitterness, doubt, envy, they all seem to flourish. Why is that?
2
“A man who takes away another man’s freedom is a prisoner of hatred, he is locked behind the bars of prejudice and narrow-mindedness. I am not truly free if I am taking away someone else’s freedom, just as surely as I am not free when my freedom is taken from me. The oppressed and the oppressor alike are robbed of their humanity. When I walked out of prison, that was my mission, to liberate the oppressed and the oppressor both.” Nelson Mandela, Long Walk to Freedom: The Autobiography of Nelson Mandela (New York: Back Bay Books, 1994), 622.
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The church, the peace Paul reminds us of is a preached church, a preached peace. A peace and a church, which we cannot measure according to our own criteria of success. A church which is hidden. A seemingly weak and sickly church built on words. A wobbly peace declared by imperfect, sinful preachers. Seems a bit shaky, doesn’t it? But if God gives us the patience to chew on the whole-wheat bread which is his word – good, wholesome, German bread, not the fluffy stuff from the supermarket – his word becomes sweet. Where he gives us patience to endure the trials of life his word becomes wholesome to us. He teaches us to trace the work of his Spirit back in history. To the days of our Lutheran forefathers and -mothers who remembered God’s wonderful works in their confessional writing. We are led to the foundation which God laid in the words of his apostles and prophets. We are brought to Christ himself, the cornerstone who holds everything together. And having reached Christ, as our Gospel reading taught us (John 12:44ff.), we reach God himself – all powerful, with all the authority in heaven and earth. A God who is not ashamed of preaching things into existence – like he did the whole world at creation, and today speaks our church and the peace we have in Christ into existence through the simple words of our preachers. His speaking, his preaching transcends the boundaries of time, the boundaries of culture and the boundaries of language, forgiving and creating as it is heard and believed. It even crossed the boundary that we imposed on ourselves as a church, when our Synod decided in 1932 that we would not recognize any person of colour as a member of our church. Thanks be to God! So Paul reminds us of who we are, having been baptised into Christ. We are members of his body, bona fide citizens of his kingdom, heirs of God’s family. Yes Julius Malema. I am not just a privileged white racist, I am a forgiven sinner. In Christ I have peace. In Christ I belong. In Christ my conscience is clean. In Christ I have been liberated. So, if this has been established by God, what am I here for? What purpose do I have in this life? Should I just make myself comfortable and try to enjoy it as much as I can. If yes, then Julius would be correct in calling me a privileged and heartless racist and capitalist. But God has given our lives a different purpose. Our father in the faith – Martin Luther - formulates it this way: “Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.” / “A Christian is a perfectly free lord of all, subject to none. A Christian is a perfectly dutiful servant of all, 3 subject to all.” God is almighty, he is free, he is God, he does not need us. Our neighbour needs us. Our neighbour needs our ears, our words, our hands – that which is in our pockets. That is why we live. That is why we do good works. God does not need them. We are silly if we want to prove something to him, or to prove something to ourselves, or to other people and churches. We do not do good to be able to justify ourselves. That is God’s job. We have been freed of that. Freed to serve our neighbour.
3
Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 37.
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Thomas Beneke
Who is my neighbour? Whoever God puts in front of my nose. Regardless of culture, language, or colour of the skin. So as we start this Synod, as you give your vows, as we present, deliberate, and even argue, remember who you are and remember what you are here for. You are a baptised and forgiven people of God. You are here to serve you neighbour, each in your own capacity. Do not think that this is a tribunal on our sins and the sins of our fathers. Jesus dismisses the imagery of a courtroom as a way to describe his business and the business of the church. I did not come to judge the world but to save the world, he says in our gospel reading. Who has made me an arbitrator over you? He asks his disciples. No, we are not here to judge. Neither are we here to justify ourselves. That is God’s business. He had done it on the cross and will do it in the fullness of time. When Paul speaks of the church in the letter of Ephesians, he speaks of a body, of a building, of a household, a family. So our roles in the church will be those of construction workers, of structural engineers identifying where counterfeit material has been used in the foundations, of doctors, nurses, of brothers and sisters: building, digging, repairing – diagnosing, treating, healing – listening, remembering, forgiving, receiving forgiveness, supporting, disciplining, caring. So that as Jesus has become Christ to us, we might become a Christ to our neighbour. Amen.
Getrenntes Nebeneinander im südlichen Afrika Die Apartheid, die Schwesterkirchen und die einigende Mitte Karl Böhmer „Eine unbefangene und unparteiische Vergleichung der lutherischen Lehre mit den Lehren der andern Kirchen, namentlich mit den Lehren der römischen und reformirten Particularkirche ergibt, daß sie in allen Unterscheidungslehren zwischen beiden die gerechte Mitte hält, daß sie die Mitte der Confessionen ist. In keiner einzigen Lehre vertheidigt sie ein Extrem, sondern überall bietet ihre Lehre die allein mögliche Vereinigung und Union der in den verschiedenen Particularkirchen 1 sich ausprägenden extremen Gegensätze“.
Mit diesen markigen Worten stellt Wilhelm Löhe (1808–1872) 1845 unbefangen seinen Grundsatz auf, die lutherische Lehre sei die einigende Mitte der Konfessionen. Offenkundig geht es Löhe um die in den lutherischen Bekenntnisschriften festgehaltene Lehre. In der Überlieferung konkordienlutherischer Kreise wird dieser Grundsatz jedoch etwas umgewandelt, denn dort heißt es bekanntlich in der schon fast zum Schlagwort gewordenen Aussage, die lutherische Kirche verkörpere die Mitte der Konfessionen. Löhe zufolge mag das ja auch zutreffen, aber eben nur in zweiter Instanz, d.h. eben nur in dem Maße, in dem die lutherische Kirche die lutherische Lehre auch bekennt, vertritt und sich zu eigen macht. Das mag auf der Hand liegen, ist dennoch ein wichtiger und folgenschwerer Unterschied. Deshalb fährt Löhe fort: „In einer Zeit, wo Union das dritte Wort ist, haben sichs deshalb die Kinder der wahren Kirche recht deutlich zu machen, daß ihre Kirche vermöge der Lehre, welche sie bekennt, die Union der Gegensätze sei und daß es der große Beruf der reinen Kirche sei, diese wahre Union zu lehren und immer aufs neue den Kirchen des Gegensatzes gegenüber zu halten, nachzuweisen, daß, was alle wollen, recht verstanden sich in der Lehre unsrer Kirche vereine und durch das Leben 2 dieser Lehre ins Leben gesetzt werde.“ Sprich: Dadurch, dass und in dem Maße, wie die lutherische Kirche tatsächlich auch die lutherische Lehre verkörpert und auslebt, wirkt sie laut Löhe als Gegensätze unierende Kraft. In diesem Zusammenhang bringt Löhe unmissverständlich seine Überzeugung zum Ausdruck, die lutherische Kirche stehe in ihrer Eigenschaft als „Wächterin der 1
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Wilhelm Löhe, Von der lutherischen Kirche, in: Ders., Drei Bücher von der Kirche. Den Freunden der lutherischen Kirche zur Ueberlegung und Besprechung dargeboten, Stuttgart 1845, 101–132, hier: 109. A.a.O., 110.
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reinen Lehre“ und Verwalterin „des reinen Bekenntnisses“ voll und ganz auf dem Grund der Wahrheit und biete eben darin der Christenheit ihre ökumenische Weite3 – Löhe, so behauptet z.B. Reese, vertrete keineswegs einen „verengten Konfessionalismus“, sondern sehe die lutherische Kirche gerade aufgrund ihrer Schriftmäßigkeit als wahrhaft katholisch4 und insofern „eingespannt in ein ökumenisches Kirchenverständnis“5. So stellt Löhe sich auch entschieden gegen alle menschlichen, auf Kosten der Wahrheit gehenden Unionsbestrebungen; Gott der Herr sei es, der uniere, „und zwar auf Grund der Wahrheit und durch die Wahrheit“6. Löhes Kirchentheorie trage daher „zwar antiunionistische, aber ökumenische Züge“7. Aus der postmodernen Perspektive schätzen wohl wenige Löhe als unbefangen oder unparteiisch ein. Kritiker stufen ihn heute als Vertreter eines konfessionellen Neuluthertums, gar eines Konfessionalismus ein, der sich letztlich nicht einer Bekenntnisverabsolutierung erwehren konnte8 und „für das Fortschreiten der Radikalisierung und den Sieg des Konfessionalismus eine entscheidende Rolle spielte“.9 Aber auch schon seinerzeit gab es Kritiker genug; so formulierte ein zeitgenössischer Rezensent: „Allein wer wird ihm dieß Alles ohne Weiteres glauben, der nicht ohnehin entschiedener Lutheraner ist?“10 Inwiefern es nun tatsächlich Löhes Absicht war, durch seine Beweisführung Nichtlutheraner für seine Sicht der Dinge zu gewinnen, sei dahingestellt; immerhin widmete er seine Drei Bücher von der Kirche gezielt „den Freunden der lutherischen Kirche zur Ueberlegung und Besprechung“11. Inhaltlich scheint seine Argumentation auch eher darauf gerichtet zu sein, Lutheraner zum Festhalten am und zur Wertschätzung vom dezidiert lutheri3
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A.a.O., 110–114. Vgl. Werner Klän: In dem Evangelium, „wie es die lutherische Kirche auf der Grundlage der Hl. Schrift in der Gemeinschaft der einen Christenheit annimmt, glaubt, ansagt, weitergibt, bekennt, liegt auch ihre wahrhaft ökumenische Weite begründet: Denn dieses Evangelium ist nichts weniger als die einigende Mitte der Konfessionen.“ Ders., Die einigende Mitte der Konfessionen: 475 Jahre Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, CA), Predigt gehalten am 25.06.2005 in der Providenz-Kirche, Heidelberg (wie in diesem Band abgedruckt). Vgl. Detlev Graf von der Pahlen, Bekenntnis und Kirche bei Löhe. „Wir Lutheraner sind die wahren Katholiken“ – wirklich?, CA 4 (2007), 16–19, hier: 18. Hans-Jörg Reese, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit, AGK 28, Göttingen 1974, 61. Vgl. auch Johannes Friedrich, Die Bedeutung Wilhelm Löhes für die Bayerische Landeskirche heute, in: Hermann Schoenauer (Hg.), Wilhelm Löhe (1808–1872). Seine Bedeutung für Kirche und Diakonie, Stuttgart 2008, 63–84, hier: 72–74. Löhe, Von der lutherischen Kirche (wie Anm. 1), 113. Christian Albrecht, „Ganz antik und ganz modern“. Das Werk Wilhelm Löhes in kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Schoenauer (Hg.), Wilhelm Löhe (wie Anm. 5), 135–151, hier: 143. Vgl. Gottfried Hornig, Die Theologie des Neuluthertums, in: Carl Andresen (Hg.), Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte 3, Göttingen 1984, 174–188, hier: 180. Johannes Aagaard, Mission – Konfession – Kirche. Die Problematik ihrer Integration im 19. Jahrhundert in Deutschland, Studia missionalia Upsaliensia 8, Lund 1967, 652. Friedrich Kayser, Rezension von W. Löhes Drei Büchern von der Kirche, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1846), 729–753, hier: 750. Löhe, Von der lutherischen Kirche (wie Anm. 1), i.
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schen Bekenntnis anzuleiten und vor unionistischen Bemühungen als fehl am Platz und letztlich kontraproduktiv zu warnen. In konkordienlutherischen Kreisen zumindest werden Löhes hier erörterten Grundsätze bis heute größtenteils geschätzt und bejaht,12 was nicht zuletzt aus der Thematik des hier vorliegenden Bandes hervorgeht. Um das Ganze noch einmal auf den Punkt zu bringen: In bekenntnislutherischen Kreisen wird das gemeinsame Festhalten an der lutherischen Lehre wertgeschätzt, gerade weil die reine Lehre der vollen Wahrheit Grund und Mittel zur wahren Einheit (die „einigende Mitte“) biete, wodurch Gott der Herr selbst Gegenpole uniere. So wird z.B. auch der Werdegang der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) als übertragbares ökumenisches Modell und Lernprozess ge13 deutet. Zwar sei die Einheit der Kirche an sich Gegenstand des Glaubens und nicht des Schauens, doch bleibe sie nichtsdestotrotz auch Gegenstand der bewussten kirchlichen Bemühung. „Die ökumenische Arbeit, d.h. die ernsthafte theologische und kirchliche Bemühung um eine sichtbare Darstellung der kirchlichen Einheit zieht sich durch die Geschichte der Christenheit hindurch. […] [D]er Aufgabe, um die Einheit der Christen in der Wahrheit zu ringen, können wir uns guten Gewissens nicht entziehen.“14 Im Anbetracht der Lage der bekenntnislutherischen Kirchen in meinem Heimatkontext stellt sich im Lichte dieser Feststellung freilich die Frage: Ist es dann folgerichtig oder überhaupt zumutbar, dass zwei bewusst konkordienlutherische Kirchenkörper, die z.T. im gleichen Raum leben und wirken, auf die gleichen geschichtlichen Ursprünge zurückgehen, die gleiche Bekenntnisgrundlage anerkennen, sich in im ökumenischen Raum strittigen Fragen eins sind und miteinander gar in erklärter Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft stehen, dennoch vollkommen parallele Existenzen führen und vorsätzlich voneinander getrennt bleiben – und das faktisch schon seit über 150 Jahren, zumal es sich bei den Gegenpolen, die sie voneinander trennen, überwiegend um äußerliche Unterschiede handelt? Da darf man doch wohl guten Gewissens (wenn auch etwas überspitzt) fragen: Widersetzt man sich da nicht laut eigener Aussage den Unionsbestrebungen Gottes? Entzieht man sich in solch einem Falle nicht tatsächlich der Aufgabe, „um die Ein-
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Vgl. z.B. Graf von der Pahlen, Bekenntnis und Kirche bei Löhe (wie Anm. 4), 19; Gottfried Martens, Zum 40jährigen Bestehen unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: Armin Wenz, Gemeindebrief der St. Johannes-Gemeinde, Oberursel, Oktober bis Dezember 2012, 6, unter: http://www.selkoberursel.de/Gemeindebrief/2012-03.pdf (abgerufen am 07.12.2016); Manfred Weingarten, Bekenntnisbildung und Bekenntnisbindung. Entstehung und Bedeutung der Bekenntnisse, insbesondere der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 9, unter: http://www.selk.de/ download/Weingarten-Bek.pdf (Stand: 07.12.2016); und Werner Klän, Die Verantwortung der Kirche in der Oekumene. Vortrag auf der 6. Kirchensynode der SELK vom 16.–21.06.1987 in Groß Oesingen, 5, http://www.selk.de/download/Kisyn-1987-1.pdf (Stand: 07.12.2016). Vgl. Klän, Verantwortung (wie Anm. 12), 5ff. A.a.O., 2–3.
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heit der Christen in der Wahrheit zu ringen“? Oder ermangelt es denn doch eher der reinen Lehre oder der vollen Wahrheit? Diese Frage ist berechtigt, und zwar handelt es sich dabei nicht etwa um eine abstrakte oder rein theoretische Fragestellung, sondern um die vorfindliche Lage der konkordienlutherischen Kirchen im südlichen Afrika. Seit 1854 gibt es eine lutherische Präsenz vor Ort; spätestens seit 1869 herrscht Trennung zwischen weißen und schwarzen lutherischen Gemeinden, und in der bekenntnislutherischen Bewegung schlug sich diese Trennung 1892 in einer organisatorischen, sprich: institutionellen Separation nieder. Es wurden getrennte Kirchenkörper gegründet, die bis heute je eigene Existenzen führen, eigene Pfarrkonvente, eigene Synoden abhalten, ihre Theologiestudenten getrennt ausbilden lassen, von Anfang an zwar miteinander in erklärter Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft standen, diese aber 15 selten und nur unregelmäßig praktizierten. Diese Spannung wirft unwillkürlich Fragen auf: Wie soll in solch einem Umfeld die lutherische Kirche nach eigener Aussage glaubwürdig oder überhaupt eigentlich die einigende Mitte der Konfessionen verkörpern, wenn sie sich einerseits voll und ganz zur lutherischen Lehre bekennt, anderseits aber offenkundig in sich selbst uneins ist? Wie kann sie dann noch ihrer ökumenischen Verantwortung Rechnung tragen? Diesen Fragen wollen wir uns stellen indem wir uns einen geschichtlichen Überblick über die Trennung verschaffen, Bemühungen und Bestrebungen um Einheit würdigen, jüngste Fortschritte ins Auge fassen und einen Ausblick geben, wie eine zukünftige Entwicklung aussehen könnte.
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Vgl. Dieter Reinstorf, Hans-Jörg Voigt, Wilhelm Weber, Geleitwort, in: Werner Klän, Gilberto da Silva (Hg.), Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 13, Göttingen 2013, 10–13, hier: 12.
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Geschichtlicher Überblick16
Bekanntlich ließen sich die ersten von Ludwig Harms17 ausgesandten Hermannsburger Missionare und Kolonisten18 in 1854 in Natal, Südafrika nieder19. Nicht nur die Missionare, sondern auch die Kolonisten hatten vor der Ausreise vor dem Altar der Peter-Paulskirche in Hermannsburg ein Gelübde abgelegt und Ludwig Harms versprochen, lebenslänglich der Mission zu dienen und in Afrika zu sterben.20 Nach fünf Jahren des friedlichen Nebeneinanders, des Aufbaus und des ersten Aufblühens in Afrika folgte unter dem ersten Missionssuperintendenten Dr. Dr. August Hardeland eine Zeit radikaler Umwälzung, Umstrukturierung, autoritärer Herrschaft, Zensur, drastischer Zielsetzungsverschiebungen, strategischer Neuansätze, belasteter zwischenmenschlicher Beziehungen und heftigen Konflikts.21 Da Hardeland einen herrischen Ansatz und die Prügelstrafe lautstark befürwortete, darauf bestand, Schwarze als unmündige Kinder zu behandeln, und darauf aus war, das zahlreiche Missionspersonal in Afrika mit allen Mitteln drastisch zu reduzieren, litten nicht nur die Missionare, sondern insbesondere die schwarzen Konvertiten 16
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Es würde unseren Rahmen sprengen, wollten wir hier den Verlauf der Geschichte der lutherischen Kirchen im südlichen Afrika auch nur notdürftig darlegen. Gleichzeitig wäre es wenig sinnvoll oder hilfreich, anderswo Berichtetes zu duplizieren. Stattdessen soll an dieser Stelle knapp und stichwortartig verfahren werden, um einen Überblick zu vermitteln, Schwerpunkte zu setzen und den Wechsel der Kontexte schemenhaft zu umreißen. Hinweise auf ausführlichere Darstellungen werden an entsprechenden Stellen gegeben. Eine allgemeine Übersicht über die südafrikanische (Kirchen-)Geschichte findet sich in: Richard Elphick, Rodney Davenport, Christianity in South Africa. A Political, Social and Cultural History, Los Angeles 1997. Eine Übersicht der deutschen Auslandsarbeit im südlichen Afrika, insbesondere der lutherischen Missionen findet sich u.a. in: Christian Hohmann, Auf getrennten Wegen. Lutherische Missions- und Siedlergemeinden in Südafrika im Spannungsfeld der Rassentrennung (1652–1910), Wiesbaden 2011; Hanns Lessing, Julia Besten, Tilman Dedering, Christian Hohmann, Lize Kriel (Hg.), Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Wiesbaden 2011; Hanns Lessing, Tilman Dedering, Jürgen Kampmann, Dirkie Smit (Hg.), Umstrittene Beziehungen. Protestantismus zwischen dem südlichen Afrika und Deutschland von den 1930er Jahren bis in die Apartheidzeit, Wiesbaden 2015; Ernst-August Lüdemann (Hg.), Vision: Gemeinde weltweit. 150 Jahre Hermannsburger Mission und Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen, Hermannsburg 2000. Zur Person und zum Wirken von Ludwig Harms, vgl. Jobst Reller, Heidepastor Ludwig Harms. Gründer der Hermannsburger Mission, Holzgerlingen 2008; Hartwig Harms, Jobst Reller (Hg.), In treuer Liebe und Fürbitte. Gesammelte Briefe 1830–1865, 2 Bände, Münster 2004; Andrea Grünhagen, Erweckung und konfessionelle Bewusstwerdung. Das Beispiel Hermannsburg im 19. Jahrhundert, Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.Luth. Missionswerkes in Niedersachsen 19, Berlin 2010. Laien-Handwerker. Zur Übersicht dieser Missionsgeschichte, vgl. Karl Böhmer, Der Hardeland-Konflikt. Streit um Ideen und Ideale in den Rheinischen und Hermannsburger Missionsgesellschaften in Borneo und im südlichen Afrika (1839–1870), in: Ders., August Hardeland and the „Rheinische“ and „Hermannsburger“ Missions in Borneo and Southern Africa (1839–1870). The History of a Paradigm Shift and its Impact on South African Lutheran Churches, OUH.E 18, Göttingen 2016, 294–317. Vgl. a.a.O., 176–191.264. Vgl. a.a.O., 308–317.
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und weißen Kolonisten unter seiner Strenge und Unnachgiebigkeit und mussten sich schimpfliche Beleidigungen gefallen lassen.22 Obwohl Gottesdienste anfangs getrennt auf Zulu und auf Deutsch für die verschiedenen Sprachgruppen gehalten wurden, gab es des Öfteren auch gemeinsame Gottesdienste; statt verstärkt auf Kooperation hinzuarbeiten, ergriff Hardeland jedoch Maßnahmen, die die Sprachund Kulturgruppen zunehmend voneinander trennten.23 Auch nach Hardelands Rückkehr nach Deutschland dauerten die Konflikte an. Ludwig Harms starb, zwischen Hannover und Preußen tobte Krieg, die Mission schrieb rote Zahlen, und die kläglichen finanziellen Verhältnisse wurden von vielen irrigerweise den Kolonisten zur Last gelegt. Denjenigen Kolonisten, die nicht freiwillig dem Druck nachgaben und ihres eingangs abgelegten Gelübdes zu Trotz kündigten, wurde nahegelegt, ebenfalls um ihre Entlassung anzuhalten; die letzten Kolonisten wurden 1870 ausgesteuert.24 Die ehemaligen Kolonisten schlossen sich in dieser Zeit mit wenigen Ausnahmen zu deutschsprachigen lutherischen Gemeinden zusammen. Die ohnehin schon vorgegebene Trennung nach Sprache, Kultur, Lebensgestaltung, Bildungsstand und Hautfarbe wurde so als direkte Folge der Konflikte bekräftigt. Die diesbezügliche Gründung weißer, von der Muttergesellschaft unabhängiger lutherischer Gemeinden in Südafrika ist an sich als Folge von Konflikt und Drangsalierung einzuschätzen. Mentalitätengeschichtlich kann man festhalten, dass diese Gemeinden sich selbst früh als „Kirche“ (im Gegensatz zur „Mission“) wahrnahmen, sodass man zunehmend zwischen der „schwarzen“ Mission und der „weißen“ Kirche unter25 schied. Bedenkenswert ist, dass diese an Hautfarbe, Sprache, Bildungsstand usw. festgemachte Doppelgleisigkeit der politischen Apartheid mit fast 80 Jahren voranging. Die Trennung geschah zwar vordergründig unter dem Vorzeichen des Friedens, doch die Beleidigungen und der Druck, denen die Kolonisten ausgesetzt worden waren, überschatteten den Abschied; obwohl die ehemaligen Kolonisten die Mission im Nachhinein nach Kräften unterstützten,26 verwundert es nicht, dass es in der Folgezeit immer wieder zu Spannungen zwischen weißen Gemeinden und Missionaren kam, da Verbitterung lange nachwirkte.27 22 23 24 25 26 27
Vgl. a.a.O., 255–260.261–271. Vgl. a.a.O., 255–258. Vgl. a.a.O., 279–287. Vgl. Karl Böhmer, Intentional Forgetting and Intentional Commemoration. Past and Present, Referat gehalten auf der Synodalversammlung der FELSISA 08.–10.09.2016 in Wartburg, 15–21. Vgl. z.B. Karl Hohls an Theodor Harms, 11.11.1873, in: Hermannsburger Missionsblatt 1874, 12. Es wurde z.B. bei der Synodalversammlung der FELSISA 1897 beschlossen, dass kein Missionar als Präses der FELSISA dienen dürfe, und die Abgeordneten debattierten lautstark darüber, ob Missionare die Synodalversammlung überhaupt ansprechen durften. Pastor Stielau aus Kirchdorf erläuterte, dass „das Misstrauen gegen die Missionare […] aus früheren Erfahrungen” stamme, führte das aber nicht weiter aus. Protokoll der Synodalversammlung der FELSISA (zit: P. S. FELSISA), 13.–14.05.1897 in Kirchdorf, Natal. Im darauffolgenden Jahr verbot die FELSISA allen Missionaren, der Synodalversammlung zuzusprechen, abgesehen von Ausnahmefällen. Vgl. P. S. FELSISA, 16.–17.05.1898 in Bergen. Erst 1908, bzw. 1928 wird dieser Entschluss revidiert. Vgl.
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Weitere Konflikte folgten. In der Hermannsburger Mission gab es wiederholt Streit wegen der inzwischen eingeführten, jedoch recht spärlichen Gehälter der Missionare. Wer versuchte, sein Gehalt mit Handel aufzustocken, wurde des „Handelsgeistes“ bezichtigt und in extremen Fällen entlassen.28 Auch die durch Handel verursachten Konflikte sorgten für Ärgernis in den weißen Gemeinden und verschärften die Entzweiung zwischen ihnen und der Mission.29 Politische Unruhen führten inzwischen zum Zulukrieg (1879)30, zum ersten Burenkrieg (1880– 1881)31, zum zweiten Burenkrieg (1899–1902)32, im Zuge dessen zahlreiche deutsche Lutheraner in Konzentrationslagern inhaftiert wurden und unter anderen auch das Pfarrhaus in Lüneburg und die Schule und Kirchgebäude der Bergener Gemeinde niedergebrannt wurden33, und zum Bambatha Aufstand (1906)34. Bei diesen Konflikten handelte es sich durchweg um bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Sprach-, Stammes- und Kulturgruppen. In diesem Rahmen ist es verständlich, dass unter den deutschen Gruppen die deutsche Identität im Gegenüber zu anderen Einwanderern und zu der einheimischen Bevölkerung hervorgehoben wurde, da man sich fortwährend gegen andere Grup-
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Dieter Schnackenberg, Die Auswirkung der Apartheid auf das Leben und Handeln der FELSISA, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 123–148, hier: 130. Vgl. Georg Haccius, Denkschrift über die von 1887–1889 abgehaltene General-Visitation der Hermannsburger Mission in Süd-Afrika, Hermannsburg 1890, 63–70. Vgl. z.B. Christian Bartels an Theodor Harms, 29.09.1881, AA VI 600/l2 (Archiv der ELM in Hermannsburg); Christian Bartels an Georg Haccius, 17.02.1888, AA VI 600/l2 (Archiv der ELM in Hermannsburg); Vgl. Ian Knight, The Zulu War 1879, Oxford 2003; Ian Castle, Zulu War. Volunteers, Irregulars and Auxiliaries, Oxford 2003; Adrian Greaves, Rorke’s Drift, London 2002. Vgl. John Laband, The Transvaal Rebellion. The First Boer War, 1880–1881, Harlow/New York 2005; Joseph H. Lehmann, The First Boer War, London 1985. Vgl. Martin Bossenbroek, Tod am Kap. Geschichte des Burenkriegs, München 2016; Birgit Seibold, Emily Hobhouse und der Burenkrieg. Die Konzentrationslager in Südafrika von 1899–1902, Stuttgart 2012; Walter Volker, Boer War Stories of the Piet Retief Commando and District, Pretoria 2012; Ders., Piet Retief Commando. The Story of a Border Commando, 1880 to 2007, Pretoria 2011; Christian Hohmann, Die Folgen des Südafrikanischen Krieges für die Arbeit der HM, in: Ders., Auf getrennten Wegen (wie Anm. 16), 145–169; Ulrich van der Heyden, Der „Burenkrieg“ von 1899 bis 1902 und die deutschen Missionsgesellschaften, in: Ders., Jürgen Becher (Hg.), Mission und Gewalt. Der Umgang christlicher Missionen mit Gewalt und die Ausbreitung des Christentums in Afrika und Asien in der Zeit von 1792 bis 1918/19, Stuttgart 2000, 207–224. Vgl. Aletta Gevers, Hildegard Stielau (Hg.), Chronik der lutherischen Peter-Pauls Gemeinde Lüneburg, Natal, Südafrika, Krugersdorp, o.D.; Oswald Paul (Hg.), Chronik der evangelischlutherischen Gemeinde Wittenberg (RSA) 1902–1993, Mariannhill 1994, 34f. Vgl. Ulrike Lindner, Die Bambatha-Rebellion von 1906 in Natal und die deutsche Wahrnehmung, in: Dies., Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880–1914, Frankfurt/New York 2011, 281–292; Lars Berge, The Bambatha Watershed. Swedish Missionaries, African Christians and an evolving Zulu Church in Rural Natal and Zululand 1902–1910.
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pen abgrenzte und in Härtefällen aufgrund von Volkszugehörigkeit auch ausgegrenzt wurde.35 In 1892 wurde aus Bekenntnisgründen die sich als konkordienlutherisch verstehende Freie Evangelisch-Lutherische Synode in Südafrika (FELSISA) als Protest gegen die Handlungsweise und kompromittierende theologische Standortbestimmung der Hermannsburger Mission gegründet.36 Obwohl mehrere Missionare mit ihren schwarzen Missionsgemeinden dabei ebenfalls aus der Hermannsburger Mission austraten und sich zusammen mit den sich zur FELSISA konstituierenden Gemeinden zur Hannoverschen Evangelisch-Lutherischen Freikirche (HELF) hielten, spielte Volkszugehörigkeit hier offensichtlich eine bedeutsame Rolle,37 da die bestehende Doppelgleisigkeit stillschweigend übernommen wurde; nur weiße deutschsprachige Gemeinden schlossen sich zur FELSISA zusammen, wohingegen die schwarzen Gemeinden nun zur ebenfalls neugegründeten Bleckmarer Mission der HELF gerechnet wurden38.
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Vgl. Christian Hohmann, Zur Bedeutung der deutschen Identität, Sprache und Kultur für die Lebenswirklichkeit der deutschsprachigen lutherischen Gemeinden, in: Ders., Auf getrennten Wegen (wie Anm. 16), 145–169; Vgl. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 127f. Vgl. Johannes Schnackenberg, Entstehung der Freien ev.-luth. Synode in Süd-Afrika, in: Ders., Geschichte der Freien ev.-luth. Synode in Südafrika 1892–1932, Celle 1933, 5–21. In diesem Zusammenhang sind zum Verständnis die Beobachtungen Christian Hohmanns hilfreich. Er schreibt: „Wenn wir die Entwicklung deutschsprachiger (lutherischer) Auslandsgemeinden vergleichen, müssen wir feststellen, dass in der Regel die Gründung dieser Gemeinden von dem Bedürfnis nach muttersprachlichen Gottesdiensten und dem Anliegen, die eigene Identität in einem fremden Kontext zu erfahren, bestimmt waren. Damit verband sich auch der Wunsch, die eigene Kultur im Kontext einer fremden Kultur zu bewahren. Es ist sicher nachzuvollziehen, dass vor allem zum Zeitpunkt der parallelen Entstehung von Siedler- und Missionsgemeinden während des 19. Jahrhunderts die damals bestehenden starken kulturellen und sprachlichen Unterschiede, die das Aufeinandertreffen von europäischen Immigranten und verschiedenen indigenen Stammeskulturen prägten, dazu geführt haben, dass die deutschsprachige Bevölkerung in den deutschsprachigen lutherischen Gemeinden die Verbundenheit mit der Heimat in der Fremde suchte. […] In den deutschsprachigen Gemeinden konnte man in der Muttersprache sprechen und fühlte sich durch die gemeinsame Herkunft, Kultur und Mentalität sehr verbunden. Die Tatsache als solche, dass sich auf der Basis einer gemeinsamen sprachlich-kulturellen und konfessionellen Identität Auslandsgemeinden bildeten, kann grundsätzlich nicht als illegitim bezeichnet werden. Wir erleben inzwischen ebenso in umgekehrter Richtung, dass Christen aus Afrika und Asien in Deutschland eigene Auslandsgemeinden bilden und sich nur selten den vorhandenen Denominationen anschließen, sofern sie aus dem Umfeld der früheren Missionskirchen stammen. […] Allerdings erwies sich dieses legitime Interesse in dem Moment als illegitim, als der Wunsch nach Bewahrung der eigenen Identität zu einem für Christen anderer Hautfarbe ausschließenden Prinzip erklärt wurde und damit die in der Gesellschaft praktizierte Rassentrennung seitens der weißen Gemeinden nun auch als innerkirchliches Ordnungsprinzip zwischen weißen und schwarzen Gemeinden zu gelten hatte […]“ Hohmann, Auf getrennten Wegen (wie Anm. 16), 7–9. Nebenbei schützte das Deutschtum in Südafrika auch vor calvinistisch-reformierten Einflüssen. Vgl. Ernst-August Albers, Von der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika, in: Friedrich W. Hopf (Hg.), Lutherische Kirche treibt lutherische Mission. Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum der Bleckmarer Mission, Bleckmar 1967, 150–158, hier: 153. Vgl. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 128–131.
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Im Laufe der Zeit verfestigte sich diese Doppelgleisigkeit. Weiße bekenntnistreue Lutheraner gehörten zur FELSISA; ihre schwarzen Glaubensgenossen gehörten sozusagen „selbstverständlich“ zur Mission der HELF.39 Von Bleckmarer Missionaren betreute Weiße wurden gar zwangsläufig zu Gliedern der FELSISA.40 Dadurch spiegelte die parallele Struktur der Kirche auch die zunehmend parallele Struktur und die Trennung der allgemeinen Gesellschaft in Südafrika wider. 1932 wurde in der FELSISA dann der folgenschwere und aus heutiger Sicht tief beklagenswerte Entschluss gefasst, „dass wir keinen Farbigen als Glied unserer Synode anerkennen“41. Gleichzeitig veränderte der Entschluss an der vorfindlichen Sachlage im Wesentlichen nichts, sondern diente eher nur dazu, sie weiterhin aufrecht zu erhalten. So kam auch die Einführung der Apartheid in 194842 nicht wie aus heiterem Himmel gefallen, sondern als Bekräftigung einer schon vorfindlichen Rassentrennung. In vielen Hinsichten standen die Missionare der Bleckmarer Mission an der Schnittstelle zwischen den Kulturen,43 da sie als einzige deutsch(stämmig)e Weiße in überwiegend, oft ausschließlich schwarzen Zulu- und Tswanagemeinden dienten, jedoch weiterhin persönlichen Kontakt zu deutschsprachigen Kreisen pflegten. Auch diesen Missionaren fiel es mitunter schwer, in voller Parität mit ihren Gemeindegliedern zu leben. So empfing z.B. der langjährige und bewährte Missionssuperintendent Christoph Johannes grundsätzlich nicht mit schwarzen Gemeindegliedern oder Amtsbrüdern, sondern lediglich in der benachbarten weißen Gemeinde das Abendmahl.44 Zumindest ein früherer Bleckmarer Missionar bekannte sich ausgesprochen zur Apartheidpolitik.45 Lange schwiegen die Missionare und die Missionsleitung über die durch die Apartheid verursachte Problematik der anschwellenden Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung Südafrikas.46 Wie bei
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Vgl. P. S. FELSISA, 16.–17.06.1906 zu Kirchdorf; P. S. FELSISA, 04.–05.07.1907 in Bergen. Diese Abmachung wurde auch von der HELF anerkannt. Vgl. P. S. FELSISA, 04.–05.07.1907 in Bergen. Vgl. auch P. S. FELSISA, 09.–10.07.1908 in Uelzen; P. S. FELSISA, 07.–08.07.1910 in Lüneburg. Dazu musste ab 1914 allerdings der für diese Weißen zuständige Pastor seine Erlaubnis geben. Vgl. P. S. FELSISA, 06.07.1914 in Kirchdorf. P. S. FELSISA, 21.01.1932 in Uelzen. Zur Einführung in die Apartheid, vgl. David Tswaedi, Apartheid in South Africa. Its Impact on the Lutheran Church in Southern Africa, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 80–95, hier: 82–84; D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 124–126. Vgl. Friedrich W. Hopf, Bericht des Missionsdirektors am 24. März 1977, in: Markus Büttner, Werner Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf. Kritische Standpunkte für die Gegenwart. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf des Dritten Reichs, über seinen Bekenntniskampf nach 1945 und zum Streit um seine Haltung zur Apartheid, OUH.E. 11, Göttingen 2012, 300–318, hier: 313. Vgl. Friedrich W. Hopf, Lutherische Mitverantwortung für das christliche Zeugnis im Südlichen Afrika, in: Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 326–365, hier: 329. Vgl. Karl Meister, Referat gehalten auf der General Lutheran Conference am 12.09.1950 in Durban (Archiv Bleckmar). Friedrich W. Hopf, Ein Jahr der Bewährungsproben, in: Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 255–264, hier: 262f.
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mehreren FELSISA Pastoren wurde dieses Schweigen mitunter legitimiert durch Berufung auf die Zwei-Regimente-Lehre Luthers.47 1967 kam es zur Gründung der aus den schwarzen Missiongemeinden hervorgehenden Lutheran Church of Southern Africa (LCSA).48 Dabei wurde die zwischen FELSISA und Bleckmar bestehende Kirchengemeinschaft auf die LCSA übertragen und bestätigt.49 Im nächsten Jahr veröffentlichte Missionsdirektor Friedrich Wilhelm Hopf (1910–1982) eine Stellungnahme gegen die Apartheid im Missionsblatt der Bleckmarer Mission.50 Hopf hatte spätestens 1960 der Apartheid entschieden den Kampf angesagt.51 Diesbezügliche Bemühungen seinerseits stießen in der FELSISA jedoch auf Widerstand.52 So wurde z.B. auf der Synode in 1968 mit Stimmenmehrheit beschlossen, „Herrn Pfarrer Hopf die Mitteilung zu machen, daß die Freie Ev.-Luth. Synode in Südafrika gegen die politische Stellungnahme in seinem Missionsblatt protestiert. Solche Stellungnahmen stellen die Freudigkeit zur Missionsarbeit bei uns in Frage und bringen uns in Konflikt mit unserer Regierung.“ Die schriftliche Mitteilung enthielt dann auch noch die Drohung, dass die FELSISA „im Notfall das Missionsblatt abbestellt“53. Dazu kam es dann doch nicht. Dennoch 47
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Eine ähnliche zeitgenössische Haltung seitens deutschsprachiger Lutheraner in Südafrikaner wird von Hans Florin in 1967 wie folgt beschrieben: „The overriding consideration among missionaries in the past was to avoid all interference in so-called political issues […] This past hesitation shared by all Lutherans is today still being maintained by the European Lutheran churches [=deutschsprachigen Kirchen].” Hans Florin, Lutherans in South Africa, (Preface to the revised report), Hamburg 1967, 2, zitiert nach Hohmann, Auf getrennten Wegen (wie Anm. 16), 11. Inwiefern diese Anwendung der Zwei-Regimente-Lehre ihrer eigentlichen Intention entspricht, bedarf noch der gründlichen theologischen Aufarbeitung. F. W. Hopf vertrat seinerzeit immerhin die Gegenposition. Vgl. Hopf, Lutherische Mitverantwortung (wie Anm. 44), 347–350. Roland Johannes bemerkt zu diesem Thema: „In der herkömmlichen Interpretation verhält sich die Kirche (gemäß Röm 13) angeblich neutral. Dabei bemerkt sie nicht, dass durch diese Neutralitätshaltung lediglich Position für den Staat bezogen wird.“ Ders., Bleckmar und Apartheid. Eine Untersuchung der Schriften von Missionsdirektor Friedrich Wilhelm Hopf unter besonderer Berücksichtigung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, Hauptseminararbeit, Lutherische Theologische Hochschule, Oberursel, 31–33, hier: 32. Vgl. Georg Schulz, Der Weg zur Kirchwerdung, in: Hopf (Hg.), Lutherische Kirche (wie Anm. 37), 103–116. Vgl. Albers, Von der Freien (wie Anm. 37), 157; vgl. auch D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 137. Vgl. P. S. FELSISA, 12.–13.08.1968 in Shelly Beach, 4. Vgl. Kampf gegen die Apartheid, in: Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 219–383; Volker Stolle, Die Auseinandersetzungen der Bleckmarer Mission/Lutherischen Kirchenmission in der Bundesrepublik Deutschland mit der Apartheid, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 14–34, hier: 20; D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 142. Vgl. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 142. Übrigens gab es auch Widerstand gegen Hopfs Position unter den Bleckmarer Missionaren. Vgl. Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 297–299. Roland Johannes erwähnt auch, dass „es zwischen dem Missionsdirektor Hopf und dem Missionssuperintendenten Johannes gelegentlich erhebliche Spannungen gab“. Ders., Bleckmar und Apartheid (wie Anm. 47), 10, Anm. 32. P. S. FELSISA, 12.–13.08.1968 in Shelly Beach, 4.
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blieben die Spannungen zwischen FELSISA und Hopf bestehen. Sie übertrugen sich zweifellos auch auf diejenigen Bleckmarer Missionare, die Hopfs Linie vertraten und sich nicht davor scheuten, etwa von der Kanzel bei Missionsfesten in der FELSISA kritische Töne anzuschlagen und rassistische Verhaltensmuster zu denunzieren. Zusammenfassend darf festgehalten werden, dass die FELSISA und LCSA auf die gleichen geschichtlichen Wurzeln zurückgehen, dass die Existenz der Vorgängergemeinden der FELSISA in Afrika dabei überhaupt eine Folge von Diskriminierung und Ausstoßung aus der Mission war. Daraus entwickelte sich nicht nur ein distanziertes Verhältnis zur Mission, sondern auch ein vertracktes Nebeneinander von weißen und schwarzen bekenntnislutherischen Kirchen, das sich durch die politischen Entwicklungen tief einbürgerte. Sowohl FELSISA- als auch LCSA-Gemeinden taten sich schwer damit, regelmäßig, wenn überhaupt die bestehende Kanzel- und Abendmahls54 gemeinschaft sichtbar zum Ausdruck zu bringen. Wohlgemerkt: es wurden auch vor der Gründung der LCSA schon hin und wieder Missionsfeste auf Bleckmarer Missionsstationen gehalten, zu denen FELSISA Gemeinden eingeladen wurden und auch kamen, jedoch blieben solche gemeinsamen Gottesdienste zunehmend eher die Ausnahme als die Regel.55 Im Allgemeinen führten schwarze und weiße Lutheraner trotz der erklärten Kirchengemeinschaft überwiegend parallele und getrennte Existenzen. 2.
Bemühungen und Bestrebungen um Einheit
Dieses Nebeneinander darf allerdings nicht dahin ausgelegt werden, als hätte man in der FELSISA kein Herz für die Sache der Mission oder die LCSA gehabt. Einerseits war man sich der durch die gemeinsame Bekenntnisgrundlage und die Kirchengemeinschaft bestehenden Glaubenseinigkeit sehr wohl bewusst. Dieses Bewusstsein war überhaupt der Auslöser für die Spannung, die die institutionelle Trennung immer wieder auch in der FELSISA hervorrief.56 Andererseits sah die
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Vgl. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 137–140. Karin Gevers, persönliches Gespräch mit dem Verfasser, 19.11.2016. So heißt es z.B. im Präsesbericht von 1980: „Im Gedenken an das 450-jaehrige Jubilaeum der Augsburgischen Konfession ergibt sich fuer uns die Frage, ob wir wirklich aus diesem Bekenntnis leben oder ob wir nur einer alten ehrwuerdigen Tradition nachhängen. Diese Frage ist sehr deutlich zu stellen im Blick auf die Kirchengemeinschaft mit der [LCSA], der Schwesterkirche in unserer Nachbarschaft, mit der wir im gleichen Glauben und Bekenntnis verbunden sind. Es wird wieder einmal deutlich gesagt, dass diese Kirchengemeinschaft gegeben ist von Jesus Christus, dem Herrn der Kirche, der uns durch den Heiligen Geist in der Einheit des Glaubens und Bekennens zusammengefuehrt hat. Wo diese Kirchengemeinschaft aus aeusseren menschlichen oder rassischen Gründen verhindert wird, wird die Bekenntnisstellung unserer Kirche offen verletzt. Darum fordert der Praeses auf, dass die Synodalversammlung noch einmal durch ein Votum die Gemeinden ermahnt, jeden ungeistlichen Widerstand gegen die Praktizierung der Kirchengemeinschaft mit der [LCSA] aufzugeben.“ P. S. FELSISA, 26.–27.08.1980 in Johannesburg. Ähnliche Äuße-
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FELSISA die Bleckmarer Mission auch als „ihre“ Missionsgesellschaft an.57 Das lässt sich schon allein an der Tatsache erkennen, dass die Bleckmarer Mission regelmäßig bei FELSISA Synoden thematisiert wurde und der Missionsbericht spätestens ab 1948 ein beständiger Punkt auf der Tagesordnung war.58 Die FELSISA leistete der Mission personelle Unterstützung: zu Anfang dienten mehrere FELSISA Pastoren gleichzeitig als Bleckmarer Missionare;59 viele Bleckmarer Missionare stamm(t)en zudem aus der FELSISA.60 Die FELSISA drückte auch ihr Zugehörigkeitsempfinden zur Bleckmarer Mission, bzw. den schwarzen Glaubensbrüdern und -schwestern vor Ort dadurch aus, dass sie regelmäßig sowohl finanzielle61 als auch praktische Hilfeleistungen62 erbrachte. Während der beiden Weltkriege und eine Zeitlang nach dem zweiten Weltkrieg trug die FELSISA die laufenden Kosten der Mission notgezwungen im Alleingang.63 Auf diese Weise wurde über die Jahre ein bedeutsamer Beitrag geleistet. Bis heute stocken mehrere FELSISA Gemeinden in Härtefällen die Gehälter von LCSA Pastoren in ihrer Nachbarschaft auf. Letzteres ist selbstverständlich eine enorme und anerkennenswerte Leistung. Dennoch ist sie nicht ganz unproblematisch. Im Allgemeinen verschlimmerte die
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rungen finden sich z.B. in P.S. FELSISA, 22.–23.08.1978 in Greytown und in P. S. FELSISA, 21.– 22.07.1970 in Homestead Park, §8 und sonst auch. „Wir sind durch die Abmachung in der Mission entstanden, wir bauen mit den Missionaren dasselbe Reich Gottes unter Weißen und Schwarzen.“ Heinrich Christoph Johannes, P. S. FELSISA, 13.–14.05.1897 in Kirchdorf. Anfangs wurden die Protokolle der FELSISA Synodalversammlungen auch im Kirchenblatt der HELF, „Unter dem Kreuze“ (auch „Kreuzblatt“ genannt) abgedruckt. Vgl. P. S. FELSISA, 15.–16.06.1899 in Eben Ezer. Das Kreuzblatt wurde von der FELSISA noch bis 1928 auch als ihr „kirchl. Organ“ angesehen. P. S. FELSISA, 03.–04.07.1928 in Wittenberg. Ab 1932 stellte die FELSISA in dem südafrikanischen Missionsausschuss zwei vom Synodalausschuss ernannte Vertreter und beteiligte sich dadurch an der Missionsverwaltung. P. S. FELSISA, 21.01.1932 in Uelzen. Vgl. auch P. S. FELSISA, 28.–29.04.1954 in Uelzen. Vgl. P. S. FELSISA, 14.07.1948 in Kirchdorf. Prigge in Goede Hoop, Johannes in Lüneburg/Bergen, Stielau in Kirchdorf und Bielefeldt in Pella. Vgl. Johannes Junker, Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre 1892–1992. Hundert Jahre lutherische Kirchenmission (Bleckmarer Mission), Groß Oesingen 1992, 23. Heinrich Prigge, Johannes Schröder, Sup. Christoph Johannes, Wilhelm Weber, Dr. Johannes Schroeder, Ernst-Heinrich Schwacke, Dr. E. A. Wilhelm Weber, Stillfried Niebuhr, Erwin Dammann, H. A. F. Dammann, Edmund Hohls, Henry Niebuhr, Dr. K. P. P. Wilhelm Weber, Dr. KlausDetlev Schulz, Rainald Meyer, Hugo Gevers, Christian Tiedemann, Christoph Weber, Peter Weber und Thomas Beneke. Vgl. auch Anm. 40. Vgl. Missionsbericht Superintendent Christoph Johannes, P. S. FELSISA, 09.07.1958 in Kirchdorf; Missionsbericht Sup. Christoph Johannes, P. S. FELSISA, 05.07.1960 in Wittenberg; Missionsbericht Superintendent Christoph Johannes, P. S. FELSISA, 12.07.1963 in Uelzen. Vgl. z.B. Radikobo Ntsimane, A Critical History of the Lutheran Medical Missions in the Time of Apartheid, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 97–121, hier: 105; Missionsbericht Friedrich Dierks, P. S. FELSISA, 26.–27.08.1980 in Johannesburg, §9 u.a. Vgl. Ludwig Wiesinger, Die Entwicklung der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika in den 75 Jahren ihres Bestehens, in: Johannes Schnackenberg (Hg.), Fünfundsiebzigjähriges Jubiläum der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika, Pretoria 1967, 4–6. Vgl. auch P. S. FELSISA, 14.07.1948 in Kirchdorf, B.3.
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Apartheidpolitik das bestehende Gefälle zwischen weißen und schwarzen Südafrikanern im Blick auf Wohlstand und Bildungsstand.64 Immer wieder weisen Zeitzeugen auf diese Unterschiede hin.65 Dass unter solchen Umständen finanzielle Hilfeleistungen und Sachleistungen nicht unproblematisch sind, liegt auf der Hand, denn es entsteht ein Teufelskreis: schwarze Lutheraner werden von dem politischen System der Apartheid benachteiligt, so dass viele unter der Armutsgrenze leben und auf Hilfe angewiesen sind, gleichzeitig dann von den hilfespendenden weißen Glaubensgeschwistern abhängig und ihnen zu Dank verpflichtet. Dadurch entstehen auf Dauer die Gefahren von Paternalismus, von (wenn auch nicht ausgesprochenen) Macht- und Überheblichkeitsansprüchen seitens der weißen Christen66 und von dauernden Abhängigkeitsverhältnissen, die nicht zuletzt der Einheit der Empfängerkirche zu schaden drohen67. Diese mögen wiederum dazu führen, dass den Empfängern ihre Würde genommen wird, da den Finanzen eine übergeordnete Rolle zugedacht und die Partnerschaft eine einseitige wird. „All too often if we come from wealth or a cultural heritage of privilege, we do not value or notice the wisdom and resources of those coming from a less affluent heritage.“68 Das trifft speziell auf die südafrikanische Lage zu, wo europäische und afrikanische Mentalitäten aufeinandertreffen und es erhebliche Unterschiede zwischen den Kulturen gibt, was die 64
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Im Großen und Ganzen trifft das schon zu, wie Tswaedi nachweist. Vgl. Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 85–87. Aber es gab auch eine Kehrseite, die Beachtung verdient. Es kam immer wieder vor, dass von der Apartheid bevorrechtigte Gemeinschaften sich für benachteiligte Gemeinschaften einsetzten, um ihnen weitere Bildung zu ermöglichen, die schwarzen Gemeinschaften das jedoch nicht wollten. So baute z.B. Mineneigentümer Hugo Johannes 1972 der schwarzen Gemeinschaft in Zungwini eine Schule, die von der Regierung betrieben wurde. Zunächst lief der Unterricht nur bis zur 4. Klasse, jedoch beabsichtige Johannes, die Schule allmählich bis zur 12. Klasse auszubauen. Als er 1977 zusätzliche Klassenzimmer bauen wollte, lehnte die Gemeinschaft das Angebot ab. Es hieß: „Unsere Kinder sollen nicht länger als 4 Jahre zur Schule gehen, denn dann können wir sie nicht mehr kontrollieren.“ Walter Johannes, persönliches Gespräch mit dem Verfasser, 13.12.2016. Nicht immer war schulische Bildung ein Desiderat, doch im Allgemeinen schätzte man in schwarzen Gemeinschaften die Schulen und die Fähigkeiten, die die Deutschen lehrten: „The schools established by the German missionaries and the skills that the German immigrants brought would help to build this country and contribute to the betterment of all of South Africa’s people.“ Thabo Mbeki, Remarks at the Official Banquet in honour of the President of the Federal Republic of Germany, 21.01.2002, http://www.dirco.gov.za/docs/speeches/2002/mbek0121.htm (Stand: 14.12.2016). Vgl. z.B. Missionsbericht des Superintendenten, P. S. FELSISA, 08.06.1966 in Kirchdorf, § 5; Missionsbericht Georg Schulz, P. S. FELSISA, 24.–25.08.1976 in Durban, §§ 8–9; Friedrich W. Hopf, Bericht des Missionsdirektors bei der Jahreshauptversammlung des Missionskollegiums und der Missionsleitung 24.–25.03.1976, in: Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 272–299, hier: 277–278; vgl. auch Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 85–87. Vgl. Mary T. Lederleitner, Paternalism Couched as Accountability, in: Dies., Cross-Cultural Partnerships. Navigating the Complexities of Money and Mission, Downers Grove 2010, 77–85; vgl. auch D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 136. Vgl. Mary T. Lederleitner, Common Unintended Consequences, in: Dies., Cross-Cultural Partnerships (wie Anm. 66), 86–97. Mary T. Lederleitner, Fostering Dignity and Mutuality, in: Dies., Cross-Cultural Partnerships (wie Anm. 66), 122–131, hier: 123.
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Anwendung und den Stellenwert von Ressourcen und Mitteln betrifft.69 Auch ist zu bedenken, dass derartige Hilfeleistungen Gebern keineswegs als Vorwand dazu dienen dürfen, sich der Aufgabe zu entziehen, weiterhin um die Einheit der Christen in der Wahrheit zu ringen. Freilich kam es hin und wieder zu Begegnungen zwischen den Schwesterkirchen – Schnackenberg führt z.B. gemeinsame Missionsfeste, Kommissionen, Treffen zwischen den Kirchenleitungen, vereinzelte gemeinsame Pastorenkonferenzen und „die Zusammenarbeit zwischen Gemeinden der FELSISA und LCSA auf lokaler 70 Ebene“ auf. Es fanden seit dem Jahr 2000 auch verstärkt gemeinsame Pfarrkonvente zwischen den beiden Schwesterkirchen auf regionaler Ebene statt. Nichtsdestotrotz veränderten diese Begegnungen wenig am gelebten Alltag der Kirchen.71 Gewiss konnten sich die südafrikanischen Schwesterkirchen selten, wenn überhaupt zu tiefgründigen und offenen Gesprächen durchringen, wie Bischof Dr. David Tswaedi es deutlich beklagt.72 Schon 1967 (!) schrieb FELSISA Pastor Ernst-August Albers: „Man fragt seit der Konstituierung [der LCSA] oft, ob es denn zwei Kirchen sein müssen, ob man nicht Afrikaner und Europäer in einer Kirche organisatorisch vereinigen könnte. Das sind schwierigste Fragen, die vielen von uns auf dem Herzen brennen. Aber auch wenn eine organisatorische Einheit einstweilen aus vielen Gründen nicht möglich zu sein scheint, bleibt hier ja die Frage nach dem Verhältnis von schwarzen und weißen Christen gleichen Glaubens in einem Lande, das durch das Prinzip von Rassentrennung geprägt ist. […] An diesem Punkt geraten die Christen in Südafrika in ein ungeheures Spannungsfeld hinein. Auf diesem Gebiet sind schwerwiegendste Fragen bisher unbeantwortet geblieben […] An dieser Stelle kann darüber nicht mehr gesagt werden. Was hier zu tun und zu reden ist, 73 muß bei uns in Südafrika geschehen […]“
Auch seitens der LCSA wurden derartige Anliegen ausgesprochen. So schloss Dekan Dube sein Referat in 1989 mit folgenden Worten: „Ich, ein Pastor der LCSA, habe die Bitte, daß alle lutherischen Kirchen auf Erden, die Kirchengemeinschaft (mit uns) haben, zu Gott beten und ihn bitten, er möge diesen unseren Kirchen, der FELSISA und der LCSA, helfen, daß sie schnell die Apartheid der Haut, die unter ihnen besteht, überwinden, damit wir eine Kirche 74 bekommen, die Menschen aus allen Völkern in unserm Land aufnimmt.“
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Vgl. David Maranz, Use of Resources, in: Ders., African Friends and Money Matters. Observations from Africa, Dallas 2002, 13–62. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm.27), 138. Vgl. Stolle, Auseinandersetzungen (wie Anm. 51), 15. Vgl. Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 80. Albers, Von der Freien (wie Anm. 37), 157f. Isashar Dube, Ist die LCSA eine Kirche, die Menschen aller Völker/Rassen annimmt? Referat auf dem Allgemeinen Pfarrkonvent der LCSA in Enhlanhleni vom 18.–20.04.1989, 16.
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Das Verlangen nach einer sichtbaren Einheit besteht nach diesen Äußerungen bei vielen und schon recht lange. Umso auffallender ist es, dass obwohl die LCSA75 und die FELSISA76 je für sich gelegentlich das Thema der Rassentrennung ansprachen, und obwohl die Kirchenleitung der LCSA 2003 dem Missionskollegium der Bleckmarer Mission eine Reihe von Fragen zu deren Position zur und während der Apartheid stellte,77 die das Missionskollegium dann auch 2009 beantwortete,78 es bis lange nach dem offiziellen Ende der Apartheid dauerte, bis sich Vertreter der beiden Kirchen in Südafrika an einen Tisch setzten und gezielt das Thema der Apartheid und Vergangenheitsbewältigung ansprachen79. Gleichzeitig ist es fraglich, wie auch Dr. Radikobo Ntsimane und Tswaedi andeuten,80 ob vorher die nötige Offenheit für solch ein Gespräch gegeben gewesen wäre, wenn es denn tatsächlich zur Zeit der Apartheid gehalten worden wäre, da beide Seiten zu brenzligen Themen oft schwiegen.81 75
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Tswaedi schreibt 2011: „The LCSA […] did not take a vocal and public stance against the (apartheid, KB) system in the General Synods, Pastoral Conventions, seminars, conferences, Youth Retreats, etc. There was one pastoral convention where the issue of race and church was broached. However no public statement was issued to the parishes and the general public.“ Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 85–87. Tatsächlich beschäftigten sich mindestens eine LCSA Synode und zwei Pfarrkonvente mit den Themen „Rassismus“ und „Diskriminierung“. Vgl. Synode der LCSA vom 20.–22.10.1989 in Roodepoort, Pfarrkonvent der LCSA am 24.–26.04.1990 in Enhlanhleni. Der zweite Pfarrkonvent wurde zum Thema Apartheid und Vergangenheitsbewältigung in 2010 gehalten. Vgl. K. P. P. Wilhelm Weber, Email an den Verfasser, 06.12.2016. Z.B. wurde in 1992 die Notwendigkeit eines diesbezüglichen Gesprächs dadurch evident, dass die FELSISA Gemeinde in Johannesburg schwarze Gemeindeglieder aufgenommen hatte. Vgl. D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 131; ein zweites Beispiel ist der Pastorenkonvent der FELSISA im August 2010. Vgl. Werner Klän, Konstituierende Sitzung der zwischenkirchlichen Arbeitsgruppe „Vergangenheitsbewältigung“, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 203–204. Diese Fragen wurden ursprünglich nach der Sitzung der Kirchenleitung der LCSA am 06.02.2002 nach Abschluss der Arbeit der Truth and Reconciliation Commission in Südafrika formuliert, an der sich die FELSISA, die LCSA und die SELK/LHM nicht beteiligt hatten. Mophalane Peter Ntshoe, Progress Report by LCSA Representatives in the Working Group (Church and Apartheid) dealing with the Past. Presented in the LCSA General Synod held in Wartburg on the 08–11 December 2014. Markus Nietzke, 9 Fragen der LCSA an die Lutherische Kirchenmission, beantwortet in einem Brief an das Church Council of the Lutheran Church in Southern Africa, 09.11.2009. Siehe unten. Vgl. Ntsimane, A Critical History (wie Anm. 62), 120; Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 81. Vgl. Nietzke, 9 Fragen (wie Anm. 78), Frage/Antwort 4; vgl. auch Anm. 47. Wie Prof. em. Dr. Volker Stolle in seiner Ausführung zu dieser Thematik darlegt, wartete F. W. Hopf zeitlebens vergeblich auf eine Bearbeitung dieser Erfahrung seitens der bekenntnislutherischen Kirchen Afrikas und es warten viele noch darauf. Vgl. Stolle, Auseinandersetzungen (wie Anm. 51), 33f. Das ist auch angemessen und richtig. Dennoch gilt im übertragenen Sinne: „Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen!“ (Apk 14,12) Denn das gegenseitige Misstrauen zwischen den Rassen und Kulturen in Südafrika sitzt tief in den Knochen. Es gibt auch heute wohl kaum einen Schwarzen, dem nicht schon mal Weiße mit Unverständnis, Hartherzigkeit, unverhüllter rassistischer Haltung oder sogar Gewalt entgegengetreten sind, und das enorme Wohlstandsgefälle besteht nach wie vor im Land. So sagt es auch David Tswaedi: „The scars run deep for those who feel left behind.” Tswaedi,
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Jüngste Fortschritte und Hoffnungszeichen
Den obigen Ausführungen nach mag es scheinen, als handele es sich hier im Großen und Ganzen vornehmlich um zwei Parteien im gleichen Umfeld, die miteinander nicht recht umzugehen wissen. Dieser Eindruck täuscht, denn von vornherein waren eben nicht nur die schwarze und die weiße Kirche im südlichen Afrika an der Lage beteiligt, sondern auch die Bleckmarer Mission (ab 2005: Lutherische Kirchenmission, oder LKM) und im weiteren Sinne die HELF, bzw. deren Nachfolgerkirche, die SELK. Dankbar ist aus der Perspektive der afrikanischen Partner wahrzunehmen, dass die SELK sich in der langen Geschichte der Zusammenarbeit im südlichen Afrika mit Hilfeleistungen aller Art immer wieder positiv eingebracht hat, sei es über die LKM, in der Person des Bischofs, in Form von theologischen Hilfestellungen und Ermahnungen über die Theologische Lehrkommission, von Stu82 dienplätzen und Subventionen für Theologiestudenten, von Zuwendungen, von Lehrkräften, anderen personellen Ressourcen und vieles mehr. Dafür sind wir Afrikaner der SELK und der Bleckmarer Mission (bzw. Lutherische Kirchenmission, oder LKM) einen großen Dank schuldig, den ich stellvertretend an dieser Stelle ausgesprochen wissen möchte.83 In diesem Sinne ist auch das ausdrückliche Votum von Prof. Dr. Werner Klän beipflichtend entgegenzunehmen: „Mir ist außerordentlich wichtig, persönlich und für meinen Zugang zu diesem komplexen Thema, dass ich weder mich selbst, noch meine Kirche oder die Lutherische Kirchenmission als ‚Außenseiter‘ bezüglich der bisherigen Entwicklungen […] verstehe. Vielmehr waren wir in Deutschland in die Geschichte der konfessionellen lutherischen Kirchen im südlichen Afrika eingebunden und sind es nach wie 84 vor […]“
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Apartheid (wie Anm. 42), 86. Gleichzeitig gibt es wohl kaum einen Weißen, der nicht unter seinen engsten Angehörigen und womöglich am eigenen Leibe brutale Gewalterfahrungen durch die Hand von schwarzen Kriminellen gemacht hat. Allein in meinem direkten Familienkreis zähle ich drei Angehörige, die schon mehrfach derartige leidvolle Erfahrungen machten und – Gott sei es gedankt – mit knapper Not dem Tode entgingen. Unter solch gereizten Umständen im Land sind auch in der Kirche Geduld und ein langer Atem nötig. An dieser Stelle mag erwähnt werden, dass (wenn man den nunmehrigen Vikar dazu nimmt) volle zwei Drittel der derzeitigen Geistlichen der FELSISA unter Prof. Dr. Werner Klän an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel studiert haben. Dadurch hat er eine beachtliche und prägende Wirkung ausgeübt, nicht nur auf die einzelnen Pastoren, sondern auf die FELSISA als Ganze, für die wir unendlich verbunden sind. Ich schließe mich hier dem Dank an, den David Tswaedi, Dieter Schnackenberg u.a. schon ausgesprochen haben. Vgl. Tswaedi, Apartheid (wie Anm. 42), 89; D. Schnackenberg, Auswirkung (wie Anm. 27), 123. Werner Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft. Theologische, historische und methodische Gesichtspunkte für den Umgang mit der jüngeren Vergangenheit der konfessionellen lutherischen Kirchen im südlichen Afrika, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 54– 67, hier: 56.
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So überrascht es auch nicht, dass die SELK mit der ersten Afrikareise von Bischof Hans-Jörg Voigt85 und danach gezielt mit dem Symposium über Mission und Apartheid 2011 diesbezüglich wieder neue Impulse zur Vergangenheitsbewältigung gab.86 Schon während der Aufarbeitung der „9 Fragen“ der LCSA war Klän es, der Missionsdirektor Markus Nietzke die Empfehlung aussprach, die Thematik der Apartheid und Vergangenheitsbewältigung „auf der Ebene der Ausbildung am Seminar in Tshwane zu verankern und dort kontinuierlich weiter zu erforschen“87. Nachdem Stolle aus Anlass des 100. Geburtstages Hopfs den Vorschlag machte, ein Symposium zur Apartheid an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel (LThH) zu halten,88 griff Klän den Vorschlag auf und gewann die Fakultät der LThH dafür. Zusammen mit Prof. Dr. Gilberto da Silva arbeitete er an der Gestaltung des Symposiums und später auch an der Herausgabe des Sammelbandes. Gemeinsam setzte sich die Fakultät dafür ein, die nötigen Fördermittel zu erhalten, die dann auch großzügig von der SELK, der LKM und dem Kreis der Freunde und Förderer der LThH Oberursel zugesichert wurden.89 Auf diese Weise geschah es, dass Vertreter der LCSA und der FELSISA sich 2011 in Deutschland einfanden, um gezielt und gemeinsam mit Vertretern der SELK das Thema der Apartheid und Vergangenheitsbewältigung anzusprechen. Diese Entwicklung markierte im Blick der Vergangenheit beider Kirchen an sich ein geschichtsträchtiges Ereignis, das gebührend gewürdigt zu werden verdient. Gemeinsam erfolgten in der Gegenwart (ehemaliger) LKM-Mitarbeiter nach den Referaten Aussprachen zu dem Gehörten.90 Natürlich kam es nicht zu einem sofortigen Konsens; wegweisend ist jedoch, dass alle Parteien reden und hören konnten und es zum Dialog kam. Dahingehend lautet auch das Selbstverständnis des Sammelbandes: „So ist zu hoffen, dass die Drucklegung der […] Vorträge hilfreich ist, das eben erst begonnene Gespräch über die Auswirkungen von ‚Apartheid‘ auf die lutherischen Bekenntniskirchen anzuregen und zu fördern.“91 Drei weitere Entwicklungen sind in diesem Rahmen zu nennen. Zum einen die Gastvorlesungen, die Werner Klän regelmäßig und unentgeltlich seit 2008 an dem Lutherischen Seminar in Tshwane, Pretoria, Südafrika unter den dort Studierenden und für Pastoren beider Schwesterkirchen hält. Auch dazu werden Fördermittel aus der SELK, der LKM und von anderswo in Deutschland immer wieder freigegeben. Zu diesen Anlässen ergreift man gern die Gelegenheit, Klän in afrikanische Gemeinden, zu Rüstzeiten, Synoden und Konventen als Prediger, Ratgeber und Red-
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Vgl. Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft (wie Anm. 84), 57. Vgl. Werner Klän, Gilberto da Silva, Vorwort, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 7–9. Vgl. Nietzke, 9 Fragen (wie Anm. 78). Vgl. Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft (wie Anm. 84), 64. Vgl. Gilberto da Silva, Email an den Verfasser, 06.12.2016. Vgl. Klän, da Silva, Vorwort (wie Anm. 86), 8f. Ebd.
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ner einzuladen, wo er sich zum Wohle der Kirche als Brückenbauer und stellvertretend für die SELK/LKM immer wieder unermüdlich einsetzt. Zum zweiten darf in diesem Rahmen auf die Entstehung und wichtige Arbeit der Trilateralen Forschungskommission für Apartheid und Vergangenheitsbewältigung hingewiesen werden. Infolge des erwähnten Symposiums an der LThH im Jahr 2011 wurde diese Kommission von Vertretern der LCSA, der FELSISA, der SELK und der LKM ins Leben gerufen. Sie verdankt ihre Entstehung Anregungen von K. P. P. Wilhelm Weber und Werner Klän, die beim Symposium ausgesprochen wur92 den. Aufgabe der Kommission ist es, die Vergangenheit der Partnerkirchen anhand von primären Quellen aufzuarbeiten, zu sichten und den Kirchen zu präsentieren. Klän wurde von der SELK in die Arbeitsgruppe delegiert93 und während der ersten Versammlung der Kommission am 19.03.2012 einstimmig zum Vorsitzenden gewählt.94 Diese Wahl sagt einiges über die Hochachtung aus, die Klän von den Schwesterkirchen gezollt wird. Analog zu Hopf95 zieht auch Klän Lehren aus der leidvollen Geschichte Deutschlands während und nach dem zweiten Weltkrieg und speziell dem späteren Umgang Deutschlands mit dieser Geschichte, um sie gewinnbringend für die Vergangenheitsbewältigung im südafrikanischen Umfeld anzuwenden.96 Zum dritten ist darauf hinzuweisen, dass sich Missionsdirektor Nietzke seitens der LKM für die Verfehlungen der Bleckmarer Missionare vor, während und nach der Apartheid bei der LCSA entschuldigt und um Vergebung gebeten hat.97 Seitdem hat sich bei der Synodalversammlung der FELSISA im Jahr 2016 Bischof Dr. Dieter Reinstorf in seinem Bischofsbericht ebenfalls persönlich für seine eigenen Verfehlungen in dieser Hinsicht entschuldigt und die FELSISA als Ganze dazu aufgerufen, es ihm nachzutun.98
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97 98
Vgl. Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft (wie Anm. 84), 65; Ders., Konstituierende Sitzung der zwischenkirchlichen Arbeitsgruppe „Vergangenheitsbewältigung“, in: Klän, da Silva (Hg.), Mission und Apartheid (wie Anm. 15), 203. Vgl. a.a.O., 203f. Mophalane Peter Ntshoe, Report to LCSA Synod, held in Wartburg on the 08–11 December 2014, 2. „Aus den Erfahrungen des Kirchenkampfs, dem Schweigen der Kirchen und seiner eigenen Person, ist Hopfs Engagement gegen die Apartheid zu verstehen.“ Markus Büttner, Werner Klän, Einleitung, in: Büttner, Klän (Hg.), Friedrich Wilhelm Hopf (wie Anm. 43), 7–32, hier: 26. Vgl. Werner Klän, Beobachtungen aus der deutschen Kirchengeschichte und Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert, in: Ders., Unentrinnbare Zeitgenossenschaft (wie Anm. 84); Ders., Coping with Trauma? Some Aspects, Beitrag zur Trilateralen Apartheid-Kommission, 06.09.2016; Ders., How to Cope with Hurt and Grief in Personal Life, in History and in Church: “He heals the brokenhearted and binds up their wounds” (Ps. 147:3), Keynote Address to the 60th Synodical Convention of the Free Evangelical Lutheran Synod in South Africa, 09.09.2016. Vgl. Nietzke, 9 Fragen (wie Anm. 78); vgl. auch Klän, Unentrinnbare Zeitgenossenschaft (wie Anm. 84), 57. Dieter Reinstorf, Liberation through Commemoration. Synodical Report to the 60th Regular Synodical Convention of the Free Evangelical Lutheran Synod in South Africa, 7.
Getrenntes Nebeneinander im südlichen Afrika
4.
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Fazit
Wir stellten zu Anfang die Frage, ob es folgerichtig oder überhaupt zumutbar sei, wenn zwei bewusst konkordienlutherische, z.T. im gleichen Raum befindliche Kirchenkörper parallele Existenzen führen und vorsätzlich voneinander getrennt bleiben. Im Blick auf das Verhältnis zwischen der FELSISA und der LCSA wird aus den obigen Ausführungen deutlich, dass die dort vorfindliche Trennung sich zwar geschichtlich erklären lässt, gleichzeitig jedoch eine Spannung hervorruft, die lange schon von Christen in beiden Kirchenkörpern und anderswo empfunden wird und das glaubwürdige Zeugnis des Konkordienluthertums tatsächlich eigenen Aussagen nach in Frage stellt. Dass zwei bekenntnislutherische Kirchen in solch einem Umfeld ihre Lehre als die einigende Mitte der Konfessionen verstehen, synchron aber aufgrund geschichtlicher oder kultureller Gründe voneinander getrennt bleiben, sticht ins Auge und wurde daher auch von Vertretern ihrer deutschen Schwesterkirche immer wieder beanstandet. Äußerst bedenklich war einerseits, dass die FELSISA lange offiziell keine Nichtweißen als Glieder aufnahm. Schwerwiegender noch als die organisatorische Trennung zwischen den beiden südafrikanischen Schwesterkirchen war andererseits, dass sie ihre erklärte Kirchengemeinschaft so selten praktizierten. Immerhin ist die Einheit der Kirche Gegenstand des Glaubens, und daher ist organisatorische Einheit nicht zwingend nötig; dennoch ist es zweifellos die Aufgabe der Kirche(n), auf sichtbare Einheit hinzuarbeiten. Speziell im Blick auf die einleitende Fragestellung sei an dieser Stelle Hopfs Erschütterung über das Nichtkommunizieren einiger weißer Missionare in den schwarzen Kirchen angeführt: „Wie sag ich’s meinen Brüdern, dass diese Abendmahlstrennung nicht recht ist? Wird dadurch nicht außerdem auch unsere lutherische-freikirchliche, konfessionell begründete Abendmahlstrennung unglaubwürdig gegenüber jenen 99 Lutheranern, die mit unionistischen Kirchen verbunden sind?“ Diese Aussage lässt sich problemlos auf das gesamte Verhältnis zwischen der FELSISA und der LCSA und wiederum deren Verhältnis zu anderen Kirchen des südlichen Afrikas anwenden: Wenn schon organisatorische Einheit, d.h. Fusion der konkordienlutherischen Kirchen (immer noch) nicht möglich ist oder vorübergehend nicht dem Wohle der Kirche(n) dient, dann ist regelmäßige Praktizierung der Kirchengemeinschaft umso unabdingbarer; dann sollten beide Kirchen zumindest ihrer eigenen Standortbestimmung nach ihr Möglichstes tun, um die durch die gemeinsame Bekenntnisgrundlage und erklärte Kirchengemeinschaft bestehende Glaubenseinigkeit auch regelmäßig zum Ausdruck zu bringen, gerade in einer Lage, in der sowohl Rassentrennung als auch Unionismus in vielen Kirchen immer noch vor100 herrschen. Dadurch könnten die Partnerkirchen sichtbar und glaubwürdig zum 99 Hopf, Lutherische Mitverantwortung (wie Anm. 44), 329f. 100 Hopf: „Man wollte nicht zugeben, dass diese Gemeinschaft am Tisch des Herrn im Wesen des Sakraments begründet und von daher gefordert sei. Man sprach von der auf Erden verborgenen Einheit der Kirche, die erst in der Ewigkeit offenbar werde. Ich argumentierte demgegenüber schlicht damit, dass der zwischen Himmelfahrt und Jüngstem Tag für uns ‚verborgene‘ Herr Chris-
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Ausdruck bringen, dass die Einheit in der Vergebung, in Christus und im Bekenntnis tatsächlich äußerliche Unterschiede übersteigt. Auf diese Weise würde die Lehre der lutherischen Bekenntnisschriften handfester verkörpert und somit Löhes Grundsatz auch eindeutiger entsprochen. 5.
Ausblick
Die Ergebnisse der Forschung der Trilateralen Apartheid-Kommission stehen noch aus. Viele schriftliche Quellen sind schon gesammelt worden. Mittlerweile werden verstärkt seitens Delegierten der LCSA Interviews mit Zeitzeugen geführt. Die Ergebnisse dieser Interviews müssen noch zusammengetragen werden, und die Sichtung der vielen Quellen steht auch noch aus. Gleichzeitig weckt die Zusammenarbeit dieser Kommission und die Bereitwilligkeit der Schwesterkirchen, ihre Arbeit zu begleiten und ihre Ergebnisse entgegenzunehmen, Hoffnung. Positive Signale kommen u.a. von der FELSISA. Im September 2016 stellte die Trilaterale Apartheid-Kommission einen Antrag an die delegierenden Kirchen und Instanzen, gemeinsam den 500. Jahrestag der Reformation, das 50. Bestehensjahr der LCSA 101 und das 125. Jubiläum sowohl der FELSISA als auch der LKM in 2017 zu feiern. In der Aussprache nach dem Bischofsbericht während der Synodalversammlung der FELSISA in 2016 wurde dieser Antrag auch thematisiert und infolgedessen von Bischof Reinstorf die Zusage gegeben, die FELSISA werde sich alle Mühe geben, die Jubiläen auch entsprechend gemeinsam zu feiern und die LCSA und LKM daraufhin anzusprechen.102 Am 19.10.2015 trafen sich die Kirchenleitungen der LCSA und FELSISA wieder und erklärten, sich jährlich treffen zu wollen, verstärkt gemeinsame Pastorenkonvente und möglicherweise alle drei Jahre ein gemeinsames Missions- oder Sängerfest zu halten. Außerdem sprachen beide Kirchenleitungen das Verlangen aus, die erklärte Kirchengemeinschaft öfter zu praktizieren.103 Letztlich verdient noch Beachtung, dass ein dritter, ursprünglich aus einer Zusammenarbeit mit der amerikanischen konkordienlutherischen Schwesterkirche, der Lutheran Church–Missouri Synod (LCMS), hervorgegangener und neu etabtus doch für uns jetzt schon zu fassen ist – dort, wo ‚wir ihn finden können im Nachtmahl, Tauf und Wort‘ – so werde auch die verborgene Einheit der Kirche als die Einheit seines Leibes für uns offenbar und müsse von uns über alle Unterschiede und Trennungen hinweg am Altar bezeugt werden.“ A.a.O., 330. 101 Vgl. Werner Klän im Auftrag der Trilateren Apartheid-Kommission, Antrag an die LCSA, FELSISA, LKM und SELK, 06.09.2016. 102 Vgl. auch Helmut Straeuli, Minutes of the 60th General Synodical Convention of the FELSISA, 08–10.09.2016 at the Christuskirche, Kirchdorf. Ersten Reaktionen der LCSA zufolge bevorzugt sie es jedoch, sich 2017 unter Leitung von Bischof Modise Maragelo vorerst auf mit der eigenen Identität (50 Jahre LCSA) verbundene Feiern zu konzentrieren. Dieter Reinstorf, Schreiben des Bischofs an die Pastoren der FELSISA, 14.11.2016. Ob es also tatsächlich 2017 zu gemeinsamen Festgottesdiensten kommen wird, steht im Moment der Abfassung dieses Beitrags noch aus. 103 Vgl. Reinstorf, Liberation through Commemoration (wie Anm. 98), 19.
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lierter Kirchenkörper namens Confessional Lutheran Synod (CLS) aus Middelburg in Südafrika inzwischen ebenfalls Kirchengemeinschaft mit der LCMS und dadurch Anschluss an den internationalen konkordienlutherischen Bund beantragt hat. Durch die Vermittlung der LCMS kam es zu einem Treffen der Bischöfe der LCSA, der FELSISA und der CLS am 16.05.2016. Verschiedene Modelle der Zusammenarbeit und evtl. auch der Zusammenlegung werden zurzeit gemeinsam mit der LCMS in Erwägung gezogen – u.a. wird die Möglichkeit einer Föderation bekenntnislutherischer Kirchen im südlichen Afrika erörtert.104 Diese Entwicklungen sind ausgesprochen positiv und ganz im Sinne von Löhes Argumentation. Sie geben Grund zur Hoffnung, dass sich die Lage entspannt und sich die Kirchen langsam durch geschickte Vermittlung und positive Impulse aufeinander zu bewegen. Das Ergebnis bleibt fürbittend abzuwarten.
104 Vgl. a.a.O., 20.
The Bantu Presbyterian Church of South Africa The first ten years, 1923–1933. From mission to church; from church to mission? Graham A. Duncan 1.
Introduction Historians have increasingly emphasised that Africans were not passive victims of colonisation, oppression and segregation, but were involved in a wide range of in1 ventive political responses and innovative forms of action . […] At the same time, the limits of nationalist and working-class organisation have been recognised. Africans could not mount any coordinated political action which might challenge the state. In many senses, the rural areas rather than the cities were the primary focus of political conflict in the 1920s. […] the incomplete transformation of African societies, together with the thrust of state policy, opened areas of compromise in the reserves where opportunities for African advance sometimes seemed more tangible. Some popular movements were actually separatist in character. The accommodation reached ultimately helped to defuse conflict in the inter-war years at the 2 height of segregation.
But this was not only a socio-economic-politico matter, for it was also predominantly true in the rural areas that: […] the conversion of the heathen must be followed by the institution of a Church for the converts. Congregations must become self-supporting. Aspirations towards full independence would inevitably follow and the “mother” Church must not try to frustrate them. Nor must it decolonise the converts or destroy their indigenous cul3 ture. Therefore an independent and separate Church was the obvious answer.
It was in these complex political and ecclesiastical contexts, by 1923, that the time had arrived for black Presbyterian Christians to become and be a church denomination fit for purpose to continue God’s mission in South Africa. The Moderator of the first General Assembly, Rt Rev William Stuart, commented: Little wonder if the taking of this step had occasioned doubts, fears and anxieties in the minds of some of our people … It has been well for ourselves and for these 1 2 3
Cf. J. Comaroff and J. Comaroff, Of revelation and revolution: The dialectics of modernity on a South African frontier (Chicago: University of Chicago Press 1991, 1997). W. Beinart, Twentieth century South Africa (Oxford: OUP, 1994), 108. P. Hinchliff, The Church in South Africa (London: SPCK, 1966), 201.
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communities that the taking of this step has been matter of long continued earnest 4 deliberation, much consultation and many earnest prayers.
Discussions, arguments, secessions and plans preceded this step. It had been a long, arduous and complex journey but one which eventually bore fruit. It was now up to the church to prove its worth by making its mark both in the ecclesiastical and wider context of South Africa. Yet, despite Elphick’s view that: By the 1920s, after Protestants had been conducting intensive missions in parts of South Africa for more than a century, the fulfilment of the implication of their gospel – that the equality of believers before God entailed equality of black and white 5 in church and society – had been, it seemed, indefinitely postponed.
Despite the fact that: The local missionaries fretted that Africans were unable to administer organisations, manage money, rebuke sin, or maintain high standards of doctrine and morality. Yet many hoped that the ordained African ministers would be allies in the battle against laxness and vice and prove to the world that missions had been a suc6 cess . Whatever their personal reservations about Africans’ abilities, no missionaries publicly advocated perpetual European domination of the African church. In theory, the principles of Christian universalism and the indigenous church dovetailed neatly, since the proclamation of a single gospel throughout the world would give rise to churches equal in stature though implanted in different cultures. In South Africa, however, where white Christians had founded well-endowed and cohesive churches, the two principles were in tension. Universalism in South Africa meant close fellowship and effective equality between white and black Christians, while the doctrine of indigenous churches implied that Africans, with their distinctive cultures, 7 would go their own way, as whites would go theirs.
Therefore, the Bantu Presbyterian Church of South Africa (BPCSA) was birthed in the midst of racial tension which I have dealt with in greater detail.8
4 5 6 7 8
Bantu Presbyterian Church of South Africa (BPCSA) 1923–1932. Proceedings of the General Assembly (Lovedale: Lovedale Press), Moderatorial Address, 1923, 35. R. Elphick, The Equality of Believers: Protestant Missionaries and the Racial Politics of South Africa (Charlottesville and London: University of Virginia Press, 2012), 81. Ibid., 86. Ibid., 94–95. Duncan, “To unite or not to unite? That is the question: A case study of Presbyterianism in South Africa, 1897–1923,” HTS (2017, forthcoming).
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2.
Graham A. Duncan
The First General Assembly of the BPCSA
A convocation of Presbyterian missions gathered at Lovedale on the evening of 4th July 1923. Rev PL Hunter took the Chair. Rev J Lennox gave a brief historical survey of the events leading to union, following which the uniting missions tabled reports. The Synod of Kafraria resolved to convey to the new church all of its properties; the Presbytery of Kaffraria tabled the disjunction certificates of all in the Presbytery with the exception of Rev J Lundie of Malan, along with the disjunction certificates in favour of the Presbytery from the Presbyterian Church of South Africa (PCSA). The Presbytery of Mankazana tabled its disjunction from the PCSA and it was reported that the Mission Council of Natal had not yet met but would report subsequently. The membership of the new denomination was in the region of 25,000 souls. Rev W Stuart of Burnshill was then unanimously elected Moderator of the Gen9 eral Assembly. Sundkler’s claim that Rev Yekela Mbali was the Moderator of the first General Assembly of the BPCSA is an error. Mbali became the first black Moderator in 1925.10 Stuart formally constituted the gathering and gave his Moderatorial Address. He commented that the union of the UP and FC missions with the Mission Council of Natal was “a forward step in the line of natural development” and a result of “earnest and prayerful deliberation, full and careful consideration of the many interests involved and persons specially concerned”. The highest office was open to blacks “as it ought to be”, so the new church retained the concepts of equality and parity. “The Church of Christ is for any and everyone, irrespective of nationality, colour or tongue”11, though van der Spuy12 believes that this remark would have been more appropriate in the context of a united church. Many would disagree with this assessment. Nonetheless the BPCSA “was placed in a paradoxical situation for while it claimed universality and colourblindness, its very name, composition and future relationships proclaimed something different”13. This was a rather negative view for it was open to all as many missionaries and a few non— missionary church workers discovered. Often it was the missionaries who proved the truth of the statement for having served their working years in the BPCSA, many retired into the service of the PCSA!14 One matter which remained unclear was the relationship of the General Assembly to the Mission Council of Kaffraria. This was another potential problem area and a joint commission was appointed to consider the matter (see below). 9 10 11 12 13 14
B. G. Sundkler, Bantu prophets in South Africa (Oxford: OUP 1961), 32. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1925–1926, 5. Rev. W. Stuart, “Moderatorial Address at 1st General Assembly”, BPCSA, General Assembly (footnote 4), Minutes: 39. D. van der Spuy, The origins, growth and development of the Bantu Presbyterian Church of South Africa (BD diss., Grahamstown: Rhodes University, 1971), 45. Ibid. See “Swiss missionaries have upon retirement, left the EPCSA/SMSA to join local white churches”. T. S. Maluleke, “Some legacies of 19th century mission: The Swiss Mission in South Africa,” Missionalia 23, no.1 (April 1995): 9–29, 19.
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Rev J Lennox was appointed Senior Clerk and Rev M Sililo of New Scotland, Natal, Junior Clerk. Thereafter, a number of representatives of other churches brought greetings to the General Assembly along with a number of tribal chiefs “to congratulate the Presbyterian Missions on the step they had taken and to stimulate the newly formed Church to greater and nobler efforts for the spiritual uplift of the African races”15. The FMC conveyed the Extract Minute recording its satisfaction with the completion of negotiations for union. In loyal addresses to the King and the Prime Minister there are references to the current situation in the country: “unrest and bitterness so widely manifest in the social and political life of the world” and to moves being made “to improve the relations between the different races in the land” that demonstrate the context in which the birth of the BPCSA has occurred and the church’s social and political concern.16 3.
Constitution of the BPCSA
The constitution adopted was basically that of the United Free Church of Scotland.17 The Constitution was unashamedly Presbyterian.18 Its distinctive features included: 4. Congregations are not independent of each other, but are integral portions of one and the same Church having a common doctrine and being subject to a common government. […] 6. The constitution of the Church being entirely spiritual, appeal from the decision of any of the courts to the Civil Tribunals is regarded as an offence against the laws of the Church. […] 11. This Church has the inherent right, under the safeguards for deliberate action and legislation which it itself has provided to frame and adopt its Subordinate Standards, to revise and alter the same, whenever in its opinion the necessity for so doing arises,to interpret its Statement of Doctrine, to modify or change its Constitution, but always in agreement with the Word of God and with due regard to liber19 ty of opinion which do not enter into the substance of the faith.
4.
The Name of the Church
In dealing with the name of the new church, Sikutshwa is extremely circumspect. Prior to the formation of the Church, the agreed name was “The United Presbyterian Church of South Africa”. Sikutshwa does not even mention this. He refers to churches being named after their founders, ie. the retention of the designation “Presbyterian” or “Rabe”. However, he suggests that the name of the church has to be seen in the light of attempts at a solution of the “Native Problem” and avoidance 15 16 17 18 19
D. V. Sikutshwa, Formation of the Bantu Presbyterian church (Lovedale: Lovedale Press 1946), 12. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, Minute 26,46. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1925, 51–70. Ibid., 1925, 51. Ibid., 1925, 51–52.
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of “political tactics”.20 Perhaps he comes nearest to the truth when he declared the importance of avoiding a name which is too similar to that of another church ie. the PCSA. Here there possibly could be confusion. In fact, the PCSA objected to the proposed name of “United” church. Its General Assembly had “agreed to facilitate a Native Church in federal relationship with the Presbyterian Church of South Africa and that the name of the proposed new body failed to make this clear and further would lead to confusion in the public mind”21. “Public mind”, of course, would have meant white mind! The final choice of name was “The Bantu Presbyterian Church of South Africa”, proposed by the Commission on Union and adopted by a large majority over six votes cast for “The United Presbyterian Church of South Africa”. So it was clearly designated a black church — a good thing to make it clear that it was African, but a bad thing because of the racial connotation. The General Assembly agreed to: […] instruct Clerks to inform the Government of the Union of South Africa of the step now taken in constituting this Church, so that the Church now formed may be 22 officially registered under the new name.
This would avoid complications which many of the South African initiated churches (AICs) had encountered. Assembly further decided to raise the status of mission stations “under Native Missionaries” as soon as they demonstrated that they were self-sufficient23. 5.
The Role of Missionaries
The place and function of Missionaries had to be speedily resolved because, at the time of union, there were still many serving in South Africa and keen to continue doing so. It was agreed that the following should have seats in the higher courts of the Church: · ordained ministers in pastoral charges; · ordained Missionaries appointed by the General Assembly “with the view of giving all necessary advice and assistance, but they shall leave the conduct of business as far as practicable to the native members.”24 · This area was problematic because no checks and balances were built in to limit the missionaries’ exercise of power. It was going to be as difficult for them to accept a reduced role as it would be for black ministers to assert themselves. This 20 21 22 23 24
Sikutshwa, Formation (footnote 15), 13. Presbyterian Church of South Africa (PCSA), Blue Book (Johannesburg: PCSA, 18th September 1922), 34; Ac 1971/Ahl.3., William Cullen Library, Wits. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, 25. Ibid., 1923, 31. Plan of Union of the UFCoS, section on Administration of Missions, para, 6; minute 41,2(a) of General Assembly, BPCSA 1923 in Sikutshwa, Formation (footnote 15), 14. United Free Church of Scotland (UFCoS), Manual of Practice and Procedure (Edinburgh: UFCoS, 1927).
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was especially true when there had to be a debate about the status of Native assistants in courts of the Church before it was resolved to admit them to higher than associate status25: · theological tutors; · representative elders from each congregation or mission.
It was further agreed that ordained Native assistants be given seats in the courts of the BPCSA.26 It should be noted that there was a difference between Missionaries and missionaries; the former being foreign appointments, while the latter designated black ministers who were without a call and appointed to congregations.27 6.
Theological Education
Related to the above, theological education had become a contested field following the secessions of the late nineteenth and early twentieth century. As the need for an indigenous ministry expanded, so did the need for improved training facilities. Theological education had begun in earnest at Lovedale Missionary Institution in 1870 and remained so into the 1920s. The opening of the South African Native College, Fort Hare in 1916, stimulated the drive for an educated black ministry and the building of Iona house, partly funded by the Women’s Association provided further impetus to the establishment of divinity at Fort Hare in the 1930s.28 7.
The Pastoral Care of the Church
In the first instance, seven presbyteries were formed to care and supervise the work of the Church — Kaffraria, Mankazana, Transkei, Griqualand East, Umtata, Natal and Zoutspansberg. It had been planned to unite the Presbyteries of Kaffraria and Mankazana, but this was considered premature at the time, though they later united. The business of the Church was dealt with by seventeen Committees: Life and Work, Finance, Board of Trustees, Welfare of Youth, Education, Training of Theological Students, Evangelists, Temperance, Statistics, Publications, Church Extension, Creed and Formulae, Presbyterian Hostel Fund, Preparation of Loyal Addresses, Relations with the Mission Council of Kaffraria, Representatives to the General Assembly of the PCSA and Committee for Work amongst Lepers at Emjan-
25 26 27 28
G. A. Duncan, Scottish Presbyterian Church mission policy in South Africa, 1898–1923 (MTh diss., Pretoria: UNISA, 1997), 153. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, 23. Cf. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1925, 35. P. Denis, G. A. Duncan, The native school that caused all the trouble: A history of the Federal Theological Seminary of Southern Africa (Pietermaritzburg: Cluster, 2011), 28.
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yana.29 However, there was no committee on missions. This demonstrates a high level of organisation and extensive interests both in church and community. The new Church adopted the “Practice and Procedure” of the UFCoS (1927) until it drew up its own Manual of the Bantu Presbyterian Church in 195830. With regard to pastoral charges, it was felt that mission stations should be upgraded to full status as pastoral charges when they “reached a stage of maturity to manage satisfactorily their financial responsibilities”31. Black ministers were to be paid by their congregations. The question arose concerning non-payment due to financial stringency. If this occurred, supplements would be paid from Assembly funds. This posed a potential problem because the stipends of missionaries were secured and poorer congregations were put in the position of becoming paupers. The matter of shortage of ordained ministry impacted significantly on the pastoral care of the denomination through the administration of the sacraments in a scattered context. It was decided to restrict celebration of Baptism and Holy Com32 munion to “those who are clerically ordained” . Pastoral affairs even extended into the field of politics when Rev TB Soga issued a letter condemning the Pass Laws in 1925 and the BPC took up the matter to little effect. Another pastoral matter which exercised many assemblies was that of temperance.33 8.
Liturgy
A remarkable event took place in 1929 with the publication of Amaculo ase Rabe, the Xhosa hymn book which has stood the test of time and is still used by most of the Xhosa speaking churches today. This was a joint project of the “Bantu Presbyterian Church, the Congregational Church, the Missions of the Free Church of Scotland and some other religious bodies”34. 9.
Women’s Association
Although the women’s organisations had been operating prior to 1923, they also united at the first General Assembly.35 It became the custom for a delegation of the Women’s Association to be received at each General Assembly where they would report on their work and make donations for the work of the denomination. In 1924, they presented their Constitution and it was decided that the Business Committee 29 30 31 32 33 34 35
BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, 22. BPCSA, Manual of the Bantu Presbyterian Church. (Lovedale: Lovedale Press, 1958). BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, minute 53:31. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1925–1926, 21. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1927, 14, BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1928, 16–17. BPCSA, Incwadi yamaculo AmaXhosa (Ehlaziyiweyo) (Lovedale: Lovedale Press, 1929), ix. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1923, 23–24.
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should report at the next Assembly: “On relations between the Conference of the Women’s Association and the Assembly regarding issues wherein through cooperation between the two bodies can be furthered”36. Their constitution stated that they would meet annually along with the General Assembly.37 This was the beginning of what would, in time, become a symbiotic relationship. 10. Finance and Property A basic approach to the sustenance of the denomination was agreed in 1925: […] it is the Christian duty and privilege of each member and candidate to give freely and liberally for the support and extension of the Work of Christ, through the Church according to their means; but that the offering shall not be regarded as a tax imposed by the Assembly, nor a payment for the privileges of Church member38 ship.
An initial principle was agreed that all the immovable property of the BPCSA should remain vested in the name of the General Trustees of the United Free Church of Scotland.39 However, by 1926, another view prevailed and it was proposed that: In view of the fact that at present the newly formed Bantu Presbyterian Church of South Africa has no direct control over the Property held in trust for them, the Assembly desires humbly to petition the Foreign Mission Committee of the United Free Church to associate the Trustees of the Bantu Presbyterian Church with the Representatives of the Home Church trustees for the South African property, so as 40 to prepare ways and means on the question of transference of property.
This was a forward looking step as events transpired. Property early became a matter of dispute between the BPCSA and PCSA in Glenthorn in Mankazana Presbytery where recourse had to be made to “the Bantu Presbyterian Congregation at Glenthorn, as shown by documents in the possession of the South African Representatives of the Board of Trustees of the United Free Church of Scotland”41. 11.
Relationship with the UFCoS
While this appeared to be a matter that was settled on the formation of the BPCSA this by no means the case. Pending the retirement of Rev JM Auld from Columba Mission in 1927, The BPCSA requested that the Foreign Mission Committee (FMC) grant the congregation a right of call.42 This was refused with the suggestion that the 36 37 38 39 40 41 42
BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1925, 32. Ibid., 1925, 71. Ibid., 1925, 38. Ibid., 1925, 37. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1926, 12. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1928, 22. Columba Min. 471, BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1927, 35.
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BPCSA form a “Native congregation” on the grounds that “the area superintended from Columba, with its numerous schools, and its service for the European population, and other responsibilities, cannot be regarded as a suitable parish for a Native minister”43. It was made clear that the European station, buildings and farm lands “are not the property of a congregation”44. Separate development was their view and nothing could be done without consultation with the Mission Council whose membership was solely white missionaries. The matter was referred back to the FMC for reconsideration: as in the judgment of the Assembly, the Minute deprives the Bantu Presbyterian Church Assembly of rights in the control of congregations which Assembly has believed to belong to itself and the lower courts of the Church through and since the 45 formation of the Bantu Presbyterian Church .
This could easily be construed as a racist stance on the part of the FMC. A further step was taken by Rev William Gavin the next year when he proposed a South African venue for resolving such issues by the Joint Committee of Assembly and the Mission Council be consulted.46 The FMC responded.47 First, they commended the competent manner in which the BPCSA had organised and carried out its affairs and patronisingly commented that the Mission Council (“Big Brother”) “will rejoice in every evidence of the growing ability of the Bantu Assembly to rule her own house, and that the Assembly will always cherish the affectionate and grateful feelings of a daughter to her mother”48. However, the FMC “cannot overlook the fact that the Native ministry is not yet adequate to undertake full responsibility for the whole work formerly administered and now in process by the Mission Council”49. It is a pity that this had not been made clear prior to 1923. In order to resolve the dissonant views, the FMC suggested: “the appointment of a Committee of Assembly (including Native ministers, elders and Scottish missionaries) to consider all questions in which the functions of Assembly and the Mission Council are intertwined”50. The FMC blurred the issue by asserting that the BPCSA “has autonomous powers in the organisation and government of the Church in all spiritual matters”51 (which were not defined). The problem arose because of the involvement of Mission Councils as the FMC’s “representatives on the field”52. With regard to property the FMC “hold all the mission property as a
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Columba Min. 523, BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1928, 25. Columba Min. 523, ibid., 1928, 25. Columba Min. 523, ibid. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1929, 40. Ibid., 1929, 46–49. Ibid., 1929, 46. Ibid. Ibid., 1929, 47. Ibid. Ibid., 1929, 4 para.5.(5).
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trust, and they have the responsibility for seeing that it is used in the best interests of evangelisation in Africa”53. There was no way in which the BPC could approach the FCoS directly despite protestations to the contrary: The Committee will be glad to receive communications from the Bantu Church direct, but suggest that all matters which affect the relations of the Bantu Church to the Council should be dealt with first by the proposed Special Committee, who will pass on their recommendations to the Council and Assembly. If the Bantu Assembly communicate directly with the Foreign Mission Committee will necessarily require to pass such back to the Council, who are the Committee’s local executive, for their opinion before the Foreign Mission committee’s answer to the Assembly can be given.
This hardly demonstrates autonomy for the BPCSA. This was an issue that would endure until the dissolution of the Mission Council in 1981. The BPCSA was held in bondage by Mission Councils which were dominated by missionaries and, later, missionary opinion and their imprimatur, nihil obstat was required before any policy decisions regarding property and finance could be made. The BPC had to copy the Mission Council regarding correspondence with the FMC, but the reverse was not required. The following year, a report was received regarding this matter and the BPCSA Assembly: 6. […] But would ask that the Foreign Mission Committee consider the advisability of arranging for handing over, under legal title, the property of some station or stations as a first step towards more general transfer and in order to give the Trustees of the Bantu Presbyterian Church the opportunity of training in the management of property. 7. With a view to removing misunderstandings between the General Assembly and Mission Council and improving relations between these bodies, all correspondence to and from the Foreign Mission Committee and Mission Council which affects the Bantu Presbyterian Church be submitted to the Special Committee to be appointed by the General Assembly.
The existing situation promoted and maintained an imbalance in relationships. This was clear from a letter from Robert Forgan, Joint Convener of the FMC, to the BPCSA: […] I have sent a copy to Mr Godfrey thinking it right that the Mission Council should be informed of our action. We earnestly hope that the Bantu Assembly in September will be wisely guided, and that action may be taken on lines that will lead to united action in the future and prevent separate action on the part either of 54 the Assembly or the Mission Council.
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Ibid., 1929, 4 para.5.(6). Forgan to Shepherd, 8 May 1930, BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1930, 45.
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This seemed to mean that the BPCSA was to conform to the policy of the Mission Council. But the core of the matter was explained in a message sent by the FMC to the 1930 BPCSA General Assembly referring to the proceedings of the 1929 General Assembly: In which several cases are recorded as giving rise to difficulty just because they were being dealt with separately by the General Assembly and the Mission Council. […] Further the Foreign Mission Committee [confirms] the full recognition of the independence of the Bantu Church.
The heart of the problem was that the FMC did not envisage a situation where there is no need for a Mission Council “where such Christian Natives were unrepresented”55 where there is an independent church. This raises the question regarding what independence does the BPCSA actually have? Rev TB Soga, prepared a memorandum relating to this and argued that the matter of relations between the BPCSA and Mission Council should have been finalised prior to the formation of the BPCSA. Hence in the current situation, “they are calculated to radically destroy the principle and autonomy of the Native Church in South Africa. As things are, evidently the Church Overseas has no intention of leaving these problems wholly to the discretion of the Bantu Assembly”56. He challenged the idea of dividing the mission areas as a means of weakening them rather than consolidating them and of being anti-Presbyterian. What were adiophora prior to union are now of great consequence.57 Members of Mission Council (MC) possessed double powers of voting. He summarises his view very strongly: The Minute indicates: “that should any disagreement arise concerning matters of Mission Council interest, the Bantu Assembly will have no say; but that such matters will have to be forthwith referred to the FMC, ‘where the Bantu Assembly will not be represented again; and more weight will ultimately, be given to the opinion of the MC as such. This is what we understand by the Mission Council’s executive powers in South Africa’; and it is an indirect way of nullifying the very autonomy of the Bantu Church. What the UF Church gives with one hand, it indirectly takes away with an58 other. […] these [lands] cannot be claimed by the Bantu Church as a right” .
Soga pointed out the resulting unhealthy relationship of distrust between the Mission Council and BPC which he determined to be spiritual matter and a cause of “estrangement between the Bantu Church and the Mission Council will remain forever”59. Regarding the issue of the control of mission lands; “one sees no end to conflict”60. These were to be prophetic words indeed. Loyalty was another issue 55 56 57 58 59 60
Ibid., 1930, 52. Ibid., 1930, 4. Ibid., 1930, 49. Ibid. Ibid. Ibid.
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raised by Soga who reminded the FMC that the missionaries “have become members in full of more than one church”61. Therefore, to whom did they owe their first loyalty? Land was an extremely sensitive issue, and one of which the missionaries and certainly the FMC had little or no understanding. There was no comprehension that land was not the absolute property of the FCoS although they “owned” it and used it as they saw fit. There was considerable ignorance of the spiritual nature and value of land.62 Soga explained the significance63: At the commencement of the Church’s mission in South Africa the nation through their then chiefs marked out certain lands for the use of early missionaries and school people. Later when the political circumstances changed, and rule was taken from Native hands, government authorities granted some tracts of lands for the use of missionary societies, and small allotments with commonage rights adjoining mission glebes were given to the individual Christian families within mission station boundaries separate from the rest of the district. This is the land now in question, and the missionary holds it to be the property of the Home Church, and that it must meet Mission Council interest.
Soga continued in this vein even mocking the FMC for delegating the “higher” functions of spiritual oversight while withholding the temporal oversight of property.64 He is scathing in his assessment of the FMC’s power, through the Mission Council where it has “liberty to tamper with our Assembly decisions exclusively, subsequently, and, privately”65. He reiterates the point that “the White [missionaries] belong to two churches legally, where the Native does not belong so”66. This was clearly a very difficult memorandum to pen by one who held the Mission and the UFCoC in such high regard.67 In the 1931 General Assembly agreed to copy correspondence to the FMC to the Mission Council.68 It was further agreed that Dr Shepherd’s proposal be implemented: That the Assembly accept the principle of the demarcation of the present European mission areas into suitable parishes and refer the matter to the Committee on Relationships between the Assembly, the Foreign Mission Committee and the Mission 69 Council for consideration and report to the next Assembly.
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Ibid., 1930, 50. See G. A. Duncan, “The migratory dimension of Scottish Presbyterianism in Southern Africa” African Historical Review (2016): 85–114, doi:1080/17532523.2015.1130203. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1930, 50. Ibid., 1930, 51. Ibid., 1930, 52. Ibid., 1930, 52–53. Ibid., 1930, 53–54. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1931, 22. Ibid., 1931, 24.
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Later, the same Assembly rejoiced in “earnest and constant desire of the Foreign Mission Committee to promote both the spiritual progress and material prosperity of the Bantu Presbyterian Church”70. The FMC response to TB Soga’s memorandum indicated a clear change of policy for if communication was to be through the Mission Council they “shall be sent without any alteration by the Council. If the Mission Council desires to make any observations on such proposals from the Bantu Assembly they will be requested to do so quite apart from the proposals themselves”71. The FMC confirmed that the duty of superintendence is the function of the Presbytery. They reminded the BPC of the cost of Trusteeship of property and asserted the long term time scale involved in transfer of property (This, in fact, took until the 1970s and 1980s). This required that the BPCSA be registered as Trustees of property.72 It was at this Assembly that the momentous step was taken to include “Native members” of the Mission Council.73 The only other denomination that was formed in the same manner was the Tsonga [Evangelical] Presbyterian Church in South Africa.74 It also suffered identical problems concerning their relationship with the Département Missionaire of their Swiss mission church during the same period. Hence, the BPCSA provided a “unifying centre” for the development of black churches in South Africa. 12. Conclusion In many ways the Bantu Presbyterian made a good start as an independent denomination. It had a strong Presbyterian ethos and this was reflected in its organisation. The lack of a separate mission committee meant that missions were treated on a business as usual basis. This was hampered by the tensions which existed between the Foreign Mission Committee of the United Free Church of Scotland, The Mission Council and the Bantu Presbyterian Church General Assembly. Clearly, insufficient thought and action had taken place in the process leading to the formation of the BPCSA regarding the potential problems that could arise. These were an enduring sore in the life of the BPCSA until the dissolution of the Church of Scotland South Africa Joint Council in 1981 and probably restricted her faithfulness as a missionary church. Despite all this, it was a “unifying centre” for future ecclesiastical developments in South Africa.
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Ibid., 1931, 37. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1931, 47. BPCSA, General Assembly (footnote 4), 1932, 35. Ibid. Maluleke, Swiss Mission (footnote 14), 9–29.
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Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Gründung der Bantu Presbyterian Church of South Africa (BPCSA) im Jahr 1923, die eine „einigende Mitte“ für die Gründung anderer schwarzer Denominationen in Südafrika bildete, da sie die erste ihrer Art war. Andere Kirchen mit europäischem Hintergrund gingen anders mit Integration um. Allerdings wurde die BPCSA heftig kritisiert, weil sie als das Ergebnis von Rassenpolitik verstanden wurde. Wäre der Rassismus nicht vorherrschend gewesen in Südafrika, wäre die Gründung als Teil der missionarischen Arbeit der United Free Church of Scotland nicht nötig gewesen. Wie auch immer, die Kirche wurde gegründet, und dabei gab es kein Zurück. Allerdings wurde die missionarische Arbeit durch Versuche behindert, sie von außen durch die schottische Kirche und von innen durch Missionare und ihr Mission Council zu kontrollieren. Die ersten zehn Jahre ihrer Geschichte belegen das. Die darauffolgende Geschichte zeugt von dem Versuch, sie zu einer authentischen afrikanischen missionarischen Kirche zu entwickeln, die offen ist für die ökumenische Landschaft.
The Doctrine of Justification as the “Unifying Center” of Theology and Missions Glenn K. Fluegge 1.
Introduction
“The oldest mission is the mother of theology” wrote Martin Kähler over a century ago.1 In summing up the origins of Christian mission, Martin Hengel made a similar remark: “The history and theology of early Christianity are mission-history and mission-theology.”2 While this may be an accurate description of the early church, generally speaking it no longer seems to be the case. Theology and missions3, once inextricably woven together, appear to have drifted apart and taken divergent paths. Bemoaning this trend, prominent missiologist David J. Hesselgrave recently pointed out that in this last century “the agendas of conservative missionary conferences at every level tend to be crammed with issues and programs having to do with leadership, education, strategy, justice, poverty, environment and the like to the diminution of theology and doctrine.” 4 This led him to plead for a review and reaffirmation of the historic faith and a recognition of its inseparable relation to every aspect of missionary activity. Also indicative of this dichotomizing tendency between theology and missions is the struggle to find a place for the study of “missions” or “missiology” in the accepted seminary or university curriculum. More often than not it is either added on as a rather awkward “addendum” or absorbed into other theological disciplines which ultimately neglect to do it justice.5 The reality is that, with few 1
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Martin Kähler, “Die Mission – ist sie ein unentbehrlicher Zug am Christentum?“, in Schriften zu Christologie und Mission: Gesmtausgabe der Schriften zur Mission Mit einer Bibliographie, ed. Heinzgünter Frohnes (Munich: Chr. Kaiser Verlag, [1908] 1971), 190: “Die älteste Mission wurde zur Mutter der Theologie.” Martin Hengel, “Die Ursprünge der christlichen Mission,” New Testament Studies 18 (1971–72): 38. By “missions,” I am referring to those specific missionary activities carried out by Christians as they participate in the Mission of God. See Klaus Detlev Schulz, Mission from the Cross: The Lutheran Theology of Mission (St. Louis: Concordia, 2009), 13–14. David J. Hesselgrave, “Will We Correct the Edinburgh Error? Future Mission in Historical Perspective,” Southwestern Journal of Theology 49, no. 2 (Spring 2007): 133. See also his attempt to identify and discuss ten key doctrines integral to Christian missions, Paradigms in Conflict: 10 Key Questions in Christian Missions Today (Grand Rapids: Kregel Publications, 2005). David J. Bosch, “Theological Education in Missionary Perspective,” Missiology 10, no. 1 (Jan 1982): 13–34. For an overview of the development of the discipline of missiology, see also David J. Hesselgrave, Today’s Choices for Tomorrow’s Mission (Grand Rapids: Zondervan Publishing, 1988), 131–146. Many solutions have been proposed for integrating theological education and missions. See, e.g., Andrew Kirk, The Mission of Theology and Theology as Mission (Valley Forge:
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exceptions, scholars of theology and practitioners of missions seem inclined to live and breathe in different worlds as they go about fulfilling their callings. And this is lamentable because what has been lost is the truth in the traditional theological maxim, lex orandi, lex credendi (the rule of praying [is] the rule of believing) or to create a dictum for the purposes of this essay: lex mittendi, lex credendi (the rule of missions/sending [is] the rule of believing). The relationship between the two is sometimes one of simple indifference: What has one to do with the other? At other times, it is more a matter of benign neglect whereby either theology or missions is thought to spontaneously happen and therefore needs no intentional attention. This then results in an underappreciation of one or the other, depending on one’s vantage point. But, all too often, the distance is further exasperated by a mutual fear or, in some cases, disdain that the other is not only counter-productive, but poses a threat. Missions are feared for their potential to avert theology from its pure pursuit and theology for its potential to hinder missions from carrying out the urgent task at hand. Hesselgrave has traced at least some of the blame to what he considered the “fateful decision” to intentionally exclude discussions of theology at the World 6 Missionary Conference in Edinburgh held in 1910. Others have gone further back th and identified the 16 century reformers and their 17th century progeny as the culprits.7 A thorough analysis of this issue is, unfortunately, beyond the scope of this essay. Suffice it to say that, although recognizing the limiting effect that historical realities of the time most certainly had on actual foreign mission endeavors,8 this study does not accept the hypothesis that a disregard for missions was (even unintentionally) part of the Lutheran reformers’ mentality or that a lack of missionary zeal can be legitimately derived from their theological views.9 In fact, quite to the
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Trinity Press International, 1997); Robert Banks, Reenvisioning Theological Education: Exploring a Missional Alternative to Current Models (Grand Rapids: William B. Eerdmans, 1999). Hesselgrave, “Edinburgh Error” (footnote 4) 121. See, e.g., Bosch, “Theological Education” (footnote 5), 16–19. Gustav Warneck of the late nineteenth century, often described as the founder of modern missiology, was the first to popularize this idea and, in fact, blamed what he saw as missionary inaction on certain fundamental theological views of the first reformers (e.g., Luther, Calvin). See, e.g., the section treating the Reformation in his widely read Outline of a History of Protestant Missions (first published in German in 1881). Unfortunately, Warneck’s hypothesis is still embraced by many scholars and mission practitioners, despite that fact that he was clearly operating with an anachronistic definition of “missions” (see, e.g., Schulz, Mission from the Cross [footnote 3], 45–47). To mention only a few: The initial “illegal” status of Lutheranism, preoccupation with first spreading the “evangelical church” to regions in the near vicinity, the Schmalkaldic War and its aftermath (mid-sixteenth century) and the devastating Thirty Years War (1618–1648), distinctive roles of church and state in the German territories, lack of ready access to overseas colonies, lack of monastic orders ready for missionary service, etc. A succinct and, what I consider, historically fair and informed treatment of this issue is offered by th th Klaus Detlev Schulz, “Lutheran Missiology in the 16 and 17 Centuries,” Lutheran Synod Quarterly 43, no. 1 (March 2003): 4–53. The following is an incomplete list of some of the sources available in English that call for a reconsideration of Warneck’s original thesis. One of the first to
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contrary, this essay attempts to bridge the gap between theology and missions by appealing to these same Lutheran reformers, particularly to the raison d’être of their entire reformation effort: The doctrine of justification by grace alone through faith alone. This is not to offhandedly dismiss other ways of conjoining the two, but I suggest that it is done most fittingly by holding forth the article of justification as their “unifying center.” It is important to recognize that the current disconnect between theology and missions is inevitably caught up in the age-old question regarding the proper relation between theology and its practice: Is theology practical and, if it is, how so? In fact, for the most part, how one conceptualizes the practical nature of theology largely determines how one will view the relation between theology and missions. Hence, what follows will trace inversely throughout the last five hundred years three views of the relation between theology and practice and their consequent implications for the relation between theology and missions. Ultimately, I contend that Martin Luther’s understanding of the practical nature of theology centered unequivocally on the article of justification is the approach that most naturally, biblically, and inextricably unites theology and missions. 2.
Theory-Practice: A misguided solution
One misguided, although commonly accepted, paradigm often used to relate theology and its practice (including missions) is borrowed from other contemporary professional disciplines (e.g., education, nursing) and assumes that overcoming the theology-missions gap is simply a matter of devising strategies to bridge what has come to be known as the theory-practice dichotomy. This approach, although seemingly convenient at first glance, poses a number of problems, not the least of which is that it counteracts its own goal. It actually ensures the permanent disjunction – not conjunction – of theology and missions. To make sense of this one must realize that the modern theory-practice dualism is of rather recent origin. Edward Farley, in tracing the history of the concept of theology, has pointed out that, in their efforts to emphasize the practice of Christianity as the goal of theology, the eighteenth century German Lutheran pietists question Warneck and highlight missionary accents in Luther’s theology was Werner Elert, The Structure of Lutheranism, trans. Walter A. Hansen (St. Louis: Concordia, 1962), 385–402. See also Ingemar Öberg, Luther and World Mission: A Historical and Systematic Study, trans. Dean Apel (St. Louis: Concordia, 2007); Robert Kolb, “Late Reformation Lutherans on Mission and Confession,” Lutheran Quarterly 20 (2006): 26–43; Volker Stolle, The Church Comes from All Nations: Luther Texts on Mission, trans. Klaus Detlev Schulz (St. Louis: Concordia, 2003); Schulz, Mission from the Cross (footnote 3), 45–67; Hans-Werner Gensichen, “Were the Reformers Indifferent to Missions?” in History’s Lessons for Tomorrow’s Mission: Milestones in the History of Missionary Thinking (Geneva: World’s Student Christian Federation, 1960), 119–127; Eugene W. Bunkowske, “Was Luther a Missionary?,” Concordia Theological Quarterly 49, no. 2–3 (1985): 161–179.
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ironically ended up objectifying theology and re-conceptualizing it as merely content, a mere collection of truths.10 In so doing, they inadvertently introduced the modern theory-practice bifurcation into theology and created the perpetual challenge of bridging the gap between those truths and the actual practice of the Christian life. This is especially evident in the plethora of theological literature often referred to as “theological encyclopedia” that emerged out of the late eighteenth and early nineteenth centuries.11 A distinctive feature of this encyclopedic literature was the distinction within theology itself between disciplines of theory and those of practice – a bifurcation that would have been utterly foreign to reformers such as Martin Luther (d. 1546) and even to seventeenth century “orthodox” theologians such as Johann Gerhard (d. 1637).12 The question of how to resolve this dichotomy and overcome the theorypractice “gap” has ever since been a major preoccupation of any serious theological endeavor. One solution that has emerged over the past two hundred years and become particularly prominent in the United States is what Farley has called the “clerical paradigm” whereby the unity of theology is teleologically derived from its “capacity to prepare the student for future clergy responsibilities.”13 According to this paradigm, the otherwise separated disciplines of theology (i.e., biblical, historical, systematic, and practical) are now united exclusively by a new common end – the techniques of ministry, that is, the function-oriented practical know-how needed to complete the tasks of ministry. Theology, thus understood, resembles a kind of professional or technical study – hence the tendency to use the same theorypractice bridging strategies as other professional disciplines.14 This is so common in the contemporary American arena, especially in the seminary setting, that it has become almost commonsensical. It is hard to imagine that it was ever otherwise. It 10
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Edward Farley, Theologia: The Fragmentation and Unity of Theological Education (Eugene, Oregon: Wipf and Stock, [1983] 2001), 61, see also 49–72. See also Richard A. Muller, After Calvin: Studies in the Development of a Theological Tradition (New York: Oxford University Press, 2003), 120–121. See, e.g., Primae lineae encyclopediae theologiae (Mursinna, 1764), Theologische Encyclopädie (Francke, 1819), Encyclopädie und Methodologie (Danz, 1832), Encyclopädie und Methodologie d. Theologische Wissenschaften (Hagenbach, 1833). Although not bearing the word in its title, Schleiermacher’s Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf Einleitender Vorlesungen (Brief Outline on the Study of Theology), published in 1811, also belongs to this genre of literature and played an influential role in further shaping it (Farley, Theologia [footnote 10], 73–98). Ibid., 77. For a somewhat less pessimistic view of “theological encyclopedia” that, nonetheless, points out its contribution to an altered understanding of theory and practice, see Richard A. Muller, The Study of Theology: From Biblical Interpretation to Contemporary Formulation (Grand Rapids: Zondervan, 1991), 32–34, 46–49. Farley, Theologia (footnote 10), 98, fn. 37, see also 42–44, 85–88. I should point out that strategies such as field-based education, problem-based learning, case study pedagogy, interdisciplinary courses, specialized ministry courses, and other such curricular revisions are helpful and not to be dismissed offhandedly. Nonetheless, they target symptoms rather than the underlying problem; see Farley, Theologia (footnote 10), 5–6.
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is like the air we breathe – so foundational to everything we do that it is hardly noticeable anymore. The problem with such a functionalist conceptualization of theology lies in the very fact that it permanently sets up certain theological disciplines (i.e., biblical, historical, and systematic) as purely theoretical over and against that which is purely practical. Within this framework in its purest form, the so-called theoretical disciplines are never practical and the so-called practical discipline is never theoretical. Exegetical studies examine the biblical texts in their own contexts; historical studies research the church throughout the ages; systematics investigates the coherent account of the various Christian doctrines. When these three are united only by an orientation toward ministerial techniques which lie external to them, not only do they lack any necessary internal, essential coherence, but “practice” is made external to them. Consequently, the so-called theoretical disciplines, generally thought of as more purely theological, are separated from any necessary practical dimension, including that of missions. Theology tends to become divorced from its practice and vice versa. In addition, what has come to be known as “practical theology,” in being separated from the purely theoretical and theological disciplines, consists increasingly of skills training derived primarily from other non-theological fields (e.g., leadership, rhetoric, education, strategic planning, counseling). The point here is not to diminish the value of other fields for effective ministry and missions. Their contribution as such is not only undeniable, it is unavoidable. Notwithstanding, it becomes problematic when what has come to be known as the practical dimension 15 of “theology” is carried out “to the diminution of theology and doctrine.” There is yet another even more fundamental problem with this modern bifurcation between theory and practice. One of the reasons it is so common in the United States is due to the strong American tendency toward “pragmatism” – that philosophy which has so greatly influenced the field of education in the wake of John Dewey in the early twentieth century. In the context of Deweyan Pragmatism the truth, value, and certainty of knowledge are assessed and evaluated by the success of its practical application or “testing” in real life scenarios.16 This is not to imply that other more traditional epistemologies dismiss the life applications of knowledge as unimportant, but they base such applications on the sure conviction that knowledge is already true and valuable in and by itself. It is not rendered so by those applications, as modern pragmatism would imply. It is perhaps not too much of an oversimplification to say that according to pragmatism what is true is that which “works.” Hence, Gerhard Ebeling’s comments on the modern tendency to favor the practical also capture the sentiment of American pragmatism: “It is characteristic 15 16
See above, fn. 4. See, e.g., John Dewey, “The Analysis of the Complete Act of Thought,” in John Dewey, The Middle Works, 1899–1924, vol. 6: 1910–1911, ed. Jo Ann Boydston (Carbondale and Edwardsville, Illinois: Southern Illinois University Press, 1978), 234–241; The Quest for Certainty: A Study of the Relation of Knowledge and Action (New York: Minton, Balch, 1929).
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of modern times that theory is valid only in relationship to practice.”17 It is not hard to see how such a pragmatic approach is especially devastating to a discipline such as theology which is in the business of dealing with divine truth. Traditionally, the validity and value of theological truth (e.g., the divinity of Christ) stems from its divine source, not from its practical effectiveness (even if Christ’s divinity may have a great many practical applications). So, to make techniques of ministry the measure of the validity and value of theology, is to stand “the whole enterprise […] on its head.”18 It becomes a classic case of the tail wagging the dog. And the result in the end is the devaluation of theology and its chronic separation from any practice, including that of missions. It is this unfortunate context that gives rise to the all too frequent complaints from students that the theology learned at seminary has no real relevance for their day-to-day pastoral and missionary practice. Church historian and seminary professor Richard Muller relates the story of a Doctor of Ministry student who, in his graduation speech, scorned the “ivory tower” theological disciplines and boasted that his program consisted only of the practical “how-to” skills of ministry: He had come and gone and remained inwardly unchanged. He was […] quite representative […] of a deep problem in the study of theology in America. Theology made no sense to him. He was intent on practicing ministry without it. Where had 19 he gone wrong? Where had we gone wrong?
And so we have come full circle, for if the theory-practice approach fails to unite theology and practice, then theology and missions likewise remain disconnected. Hesselgrave’s complaint has not been resolved, but only exacerbated by contemporary attempts to overcome the modern theory-practice dichotomy. Hence, the question remains: How can we put theology and missions back together again? 3.
Theology as Praxis: Towards a Solution
We find a possible Aristotelian solution among the seventeenth century Protestant theologians. They, too, were interested in that important question that had been debated since at least the Middle Ages: Is theology theoretical or practical?20 In other words, is theology theoria (speculation, contemplation) or praxis (action)? These 17
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Gerhard Ebeling, The Study of Theology, trans. Duane A. Priebe (Philadelphia: Fortress Press, 1978), 116. Note also the connection to current “emergent” theologies that emphasize “orthopraxis” as opposed to “orthodoxy.” See, e.g., Peter Rollins, How (Not) to Speak About God (London: Paraclete Press, 2006). Muller, Study of Theology (footnote 12), 33. Ibid., xii–x. See Farley’s (Theologia [footnote 10], 4) similar complaint. See Oswald Bayer, Theology the Lutheran Way, ed. and trans. Jeffrey G. Silcock and Mark C. Mattes (Grand Rapids: William B. Eerdmans, 2007), 14. For a very helpful analysis of this medieval question taken up again by seventeenth century Protestant theologians, see Richard A. Muller, Post-Reformation Reformed Dogmatics, vol. 1, Prolegomena to Theology (Grand Rapids: Baker, 1987), 215–226.
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terms, however, must be understood within their Aristotelian context as interpreted and discussed by these early modern theologians and not according to their contemporary usage today.21 They do not refer to abstract rationalization on the one hand and its practical application on the other. Such a schema only serves to ensure the permanent disjunction between the two as we have seen above. Rather, theoria identifies a discipline which is pursued for its own sake.22 One engages in a theoretical pursuit of knowledge when one’s goal is simply and purely the speculation and contemplation of the truths of that pursuit. Praxis identifies a discipline pursued for the sake of a goal beyond itself.23 Hence, one engages in a practical pursuit of knowledge when one’s goal is some action (i.e., the doing or making of something) as a result of the truths discovered during that pursuit. It is important to note that both are intellectual pursuits insofar as both involve the intellect because both constitute knowledge.24 In other words, even praxis is a matter of knowledge, albeit oriented towards a practical goal. We can say, then, that the Aristotelian idea of praxis actually could include and conjoin both “theory” and “practice” as those terms are commonly used today. Hence, when seventeenth century Lutheran theologians (e.g., Johann Gerhard, Abraham Calov, Johann König) described theology as a “practical habitus,” they were in no way indicating that theology was or should be devoid of theoretical reflection on Christian doctrine.25 Quite to the contrary, these so-called “Protestant Scholastics” insisted increasingly on serious academic study of Scripture and the doctrine thereof. Aristotle, of course, favored theoria versus praxis because it was the purer pursuit and led to “perfect happiness.”26 Theoria dealt with necessary truths (that which cannot be otherwise, i.e., eternal truths) versus contingent truths (that which could be otherwise, i.e., things to be done or made).27 It would seem natural, then, that theology as the “study of God” would be deemed theoria seeing as it deals with God Himself, the most necessary of all things. So, why would Lutheran theologians of the seventeenth century, otherwise so influenced by Aristotelian thought, identify theology as a practical pursuit? To be sure, the concept of “practical” was evolv-
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That context was most often the intellectual habitus (i.e., virtues) as explicated by Aristotle especially in his Nicomachean Ethics, book 6. Richard A. Muller, Dictionary of Latin and Greek Theological Terms: Drawn Principally from Protestant Scholastic Theology (Grand Rapids: Baker, 1985), 285. Ibid., 233. According to Aristotelian psychology, the human soul can be divided into faculties, two of which are the intellect (accounting for understanding, reasoning, and knowledge) and the will (giving rise to desire/disgust); see Aristotle, Nicomachean Ethics I, 1102a26–03a10 and On The Soul, 413b13–32, 432a15–b8, 433a31–b13. E.g., for Calov’s understanding of theology as practical, see Robert D. Preus, The Theology of PostReformation Lutheranism, vol. 1, A Study of Theological Prolegomena (St. Louis: Concordia, 1970), 196–206. Aristotle, Nicomachean Ethics X, 1178a31–b17. Aristotle, Nicomachean Ethics VI, 1139b20–24, 1141b15–23, 1142a12–30.
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ing during this time.28 Nonetheless, it suffices for our purposes here to emphasize that the primary concern of these theologians was that theology’s ultimate goal be salvation and the ensuing godly life. Insofar as this goal went beyond mere contemplation of God and lay outside of theology proper, theology had to be a practical discipline. It is important to recognize that this is markedly different than deeming theology “practical” because of an orientation toward certain ministerial techniques and skills. That is not what is in view here. Although the learning of such practical know-how was surely a concern of church leaders at the time,29 those techniques and skills were not what made theology practical (as foreign as that may seem to modern thinking). Rather, theology was practical because it was knowledge oriented toward the goal of salvation and godliness – not only for self (piety), but also and especially for others (mission). Although they did not refer to it as “mission,” the concern that one engaged in theology for the salvation of others (allopraxis) in addition to that of oneself (auto-praxis) became increasingly evident in the definitions of theology given throughout the seventeenth century.30 So, for example, in the latter half of his definition of theology penned in 1625, the Lutheran theologian Johann Gerhard defines theology as “a God-given habitus […] by which [the theologian] […] is rendered apt and ready to inform others about the way of salvation […] so that people might be led to the kingdom of heaven glowing with true faith and good works.”31 This neo-Aristotelian approach appropriated by the seventeenth century Lutheran theologians could readily be adapted and used today to bring together theology and missions. And, both Muller and Farley, to varying extents, appeal to it in their proposals to fix the current plight of theology, including the chronic disconnect between theology and its practice.32 As such it merits further study and reflection. Nonetheless, 28
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See my analysis of this “shift” in Glenn K. Fluegge, “The Making of the Theologian: The Nature and Study of Theologia according to Johann Gerhard” (Ph.D. diss., University of Pretoria, 2015), 123– 126, 145–147. Recent research has emphasized this: Robert Kolb, “The Pastoral Dimension of Melanchthon’s Pedagogical Activities: On the Education of Pastors,” in Philip Melanchthon: Theologian in Classroom, Confession, and Controversy, ed. Irene Dingel et al. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012), 29–42; Mary J. Haemig and Robert Kolb, “Preaching in Lutheran Pulpits in the Age of Confessionalization,” in Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675, ed. Robert Kolb (Leiden: Brill, 2008), 117–158. For the “re-conceptualization” of theology from an ethical (for the benefit of self) to a medicinal (for the benefit of others) orientation, see Walter Sparn, Wiederkehr der Metaphysik (Stuttgart: Calwer Verlag, 1976), 30–35. The terms autopraxis and allopraxis have been used recently to distinguish between these two orientations, see Marcel Nieden, Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium in Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung (Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 192, 241–243. For the historical context of this shift, see Kenneth G. Appold, “Academic Life and Teaching in Post-Reformation Lutheranism,” in Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550–1675, ed. Robert Kolb (Leiden: Brill, 2008), 94–99. Prooemium de Natura Theologiae, § 31, my translation. Muller, Study of Theology (footnote 12), 154–156; Farley, Theologia (footnote 10), 151–203.
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might there be an approach less philosophical and more theological and biblical in its orientation? 4.
Theology as practical and missionary: A Reformation solution
When insisting on the salvation-oriented practical nature of theology, the seventeenth century theologians were heavily influenced by Martin Luther himself.33 On several occasions the reformer had clearly described theology as practical.34 His understanding of that term, however, flows less from an Aristotelian framework and much more from a theological framework centered squarely on the doctrine of justification. This is important since the inherent missionary nature of Luther’s “practical theology” becomes particularly evident in its very discrepancies with Aristotelian thinking. In his 1532 lectures on Psalm 51, Luther made a deceivingly simple declaration about theology: “The subject of theology is the sinful and lost human being and the 35 justifying and saving God.” For Luther, this was a long time in coming, a natural outflowing of his “discovery” of what would become his “doctrine of justification by faith alone” during his earlier lectures on the Psalms (1513–1515) and the book of Romans (1515) and his careful analysis on what it meant to be a “theologian of the cross” during the Heidelberg Disputation (1518). In retrospect, however unremarkable it may seem to modern evangelical ears, this short statement was groundbreaking to say the least. It broke decidedly from the commonly accepted definition of theology. Since at least the time of Thomas Aquinas, “theo-logia” etymologically 36 defined as “talk about God” focused on “God” as its unifying subject matter. As such, theology could be considered a “science” (in the Aristotelian sense of scientia), one of the speculative pursuits since it focused primarily on “necessary” divine things that lay outside the realm of “contingent” human history.37 Luther, by contrast, made theology practical by insisting that the subject matter to unify the entire discipline of theology was a relationship between God and human beings. This
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Though see below fn. 53. For Luther on “theology as practical,” see WA TR 2:56, 22f. (no. 1340), 464f. (no. 2444); WA TR 1:72f. (no 153); WA TR 5:384, 16f. (no. 5867); LW 54:22. LW 12:311. The Latin reads: “subjectum Theologiae homo reus et perditus et deus justificans vel salvator.” I follow the translation and am indebted to the helpful analysis of Bayer, Theology (footnote 20), 16–21. See also Nieden, Erfindung des Theologen (footnote 30), 86–87. Johannes Wallmann, Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt (Tübingen: Mohr Siebeck, 1961), 15–19. For a more detailed analysis of the pre-Reformation history of the concept of “theology” available in English, see G. R. Evans, Old Arts and New Theology: The Beginnings of Theology as an Academic Discipline (Oxford: Clarendon Press, 1980); Yves M. J. Congar, A History of Theology, ed. and trans. H. Guthrie (New York: Doubleday & Co., 1968). See Aquinas’ defense of theology as “science” with God as its subject matter: Summa Theologica I, qu. 1, art. 1–8. For an overview of the debate over how to classify theology, see Muller, Dogmatics (footnote 20), 205–215.
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was shocking for a few reasons, most of which escape our attention today because we tend to misunderstand the philosophical and historical contexts. First of all, Luther is asserting that the theologian can only encounter God on the level of “relation” and dare not seek to investigate him with regard to “substance,” “quantity,” or “quality.”38 Referencing Aristotle’s well-known “categories” was a matter of course for any university scholar at this time. Remarkable, however, and quite contrary to accepted Aristotelian thinking was his insistence that theology can only be done legitimately if it is carried out according to the category of relation.39 Moreover, theology was not merely about examining the God-human relation from a distance, but theology was also and ultimately about being in relation with God. Of course, Luther knew that God is God according to his substance and that our relation to him does not somehow make or validate him. Notwithstanding, Luther believed that any legitimate engagement in theology necessarily creates faith within the theologian and brings about salvation. This alone has deep ramifications for how theology is simultaneously and inextricably bound up with real practical life. It shatters the entire theory-followed-by-application paradigm. Such a relational approach to theology also helps us comprehend how and why Luther’s theology was (and remains) inherently missionary. Secondly, Luther’s redefinition of theology placed its subject matter squarely within the confines of history and time. This was a rather dubious move. Since Aristotle’s insistence on the superiority of the purely speculative, theology was generally thought to operate according to timeless principles. Although with some modifi40 cations, Aquinas generally agreed, as did most others. It would have been highly irregular that a time-bound act of God in history (Deus justificans) and not God in general serve as the centerpiece uniting all of theology.41 And yet that is precisely what Luther asserted. In fact, Aristotle had claimed “wisdom” as the highest and purest science far above the empirical realm of time-bound experience. Yet based on his study of the Hebrew language, the Wittenberg professor turned such thinking on its head by identifying theology as “experiential wisdom” that a person only truly received by experiencing in real time the killing accusation of the law and the lifegiving promise of forgiveness.42 Such a theology, centered on an act in history that had been and could be experienced, must by its very nature be practical indeed. And if that act centers on the salvation of all people, then indeed it renders theology eminently missionary.
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“[…] If you depart from this God whom we are placing in the category of relation and investigate Him in the category of substance or quantity, you will be overwhelmed by His majesty. If you search Him in the category of quality, you will be consumed […] Therefore stay with God in the category of relation” (LW 3:122). See Bayer’s (Theology [footnote 20], 19–20) comments on “theology as relation.” For a helpful comparative analysis of Aristotle, Aquinas, and Luther, see ibid., 28–32. Wallmann, Theologiebegriff (footnote 36), 18–19. WA 9:98, 21. See Bayer, Theology (footnote 20), 28–31.
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Thirdly and very importantly, according to Luther, this time-bound act of God was a verbal, communicative relation between God and individual human beings.43 Pre-reformation Christian thought and practice revolved around the use of rituals as the primary way of gaining access to God. Within this system, grace became understood, in many ways, as a quantifiable commodity that was distributed based on one’s participation in those rituals. In stark contrast, the Wittenberg reformer insisted that God takes the initiative and establishes our relationship with him merely by speaking. Luther’s study of the Hebrew language and culture of the Old Testament and his robust doctrine of creation, coupled with fellow professor Philipp Melanchthon’s emphasis on classical languages and rhetoric gave rise to a strong 44 doctrine of the active Word of God. He distinguished between a Heissel-Wort, a word that simple labels something that is already there, and a Thettel-Wort, a deedword that creates the very thing it says even as it is uttered.45 The beginning words of God, “Let there be […]” (Gen. 1) were creating words and God continues to speak thus. This has startling implications for the inherently practical and missionary nature of theology. Theology, as such, ceases to be a matter of mere reflection and contemplation. It is not merely an explanation about divine things, nor is it only a statement about how one is justified by God. It is that, but much more than that. Whereas teachings in other disciplines remain teachings about this or that, “only the teaching of God’s Word can take the human creature as its direct object.”46 Luther believed that theology, as the teaching of God’s Word, becomes something that God does to the sinner, an event taking place in real time. As command, it accuses and condemns; as promise, it saves by creating faith, the passive righteousness that is our right relationship with God. Could any other theology be as abundantly well suited to simultaneously foster the central evangelistic task of all missions – speaking the gospel?47
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Ibid., 18–19. Kolb, “Melanchthon’s Pedagogical Activities” (footnote 29), 30. For Luther’s understanding of the Word of God, see Robert Kolb and Charles P. Arand, The Genius of Luther’s Theology: A Wittenberg Way of Thinking for the Contemporary Church (Grand Rapids, Baker, 2008), 129–220; Robert Kolb, Martin Luther: Confessor of the Faith (Oxford: Oxford University Press, 2009), 42– 55, 68–71, 131–151. WA 26:284, 5–10; David C. Steinmetz, “Luther, the Reformers, and the Bible,” in Living Traditions of the Bible: Scripture in Jewish, Christian, and Muslim Practice, ed. James E. Bowley (St. Louis: Chalice Press, 1999), 167–170. Regarding “Deed as Word and Word as Deed,” see also Oswald Bayer, Living By Faith: Justification and Sanctification, trans. Geoffrey W. Bromiley (Grand Rapids: William B. Eerdmans, 2003), 45–47. Robert Kolb, Speaking the Gospel Today (St. Louis: Concordia, 1995), 58. There are few other books in English that I have encountered that underscore the inherent evangelistic and missionary dimension of every aspect of doctrine as well as Kolb, Speaking the Gospel. It is also readily accessible to the layperson. Not so accessible, but definitely worth digging into is Klaus Detlev Schulz, “The Missiological Significance of the Doctrine of Justification in the Lutheran Confessions” (Ph.D. diss., Concordia Seminary, 1994).
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Of course, for Luther, emphasizing the verbal and present nature of justification (for me) dare not be divorced or even separated from the ultimate determinative act of God’s grace, an act (also for me) likewise situated in history “in those days [when] Caesar Augustus issued a decree” (Luke 2:1) and “under Pontius Pilate” (Apostles’ Creed). Helpful as the classifications of “objective” and “subjective” justification are in addressing the extremes of universalism and existentialism, they do tend toward a piece-meal approach to theology. Such could not be further from Luther’s thought. According to the reformer’s confession, both the redemptive Christ event and the 48 justifying faith event are “the first and chief article.” They always “remain indissol49 uble as the two sides of the article of justification.” The “embodied” Word of God in Christ (John 1:1) cannot be separated from the Word of God that “grew and multiplied” (Acts 12:24). On the one hand, a proclamation without the historical Christ event is void of power, merely wishful thinking (1 Cor. 15:14), just as such a baptism is a mere empty ritual void of the very death and life to which the baptized is to be joined (Rom. 6). On the other hand, a historical Christ event without the dynamic faith-creating Word leaves theology mired in the past and rather awkwardly disjointed from present realities. Good news [becomes] old news.50 Christianity is reduced to a mere memory and salvation to merely recalling a past event. On the contrary, maintaining the proper link between the Christ event and the faith event has deep significance for ensuring the continued practical and missionary nature of theology: Throughout it all, both then and now, God is at work. The “mighty act of God” in redeeming the world through his Son’s death and resurrection continues in the present as the “mighty act of God” in proclamation to the world.51 Fourthly and finally, despite his use of the technical Aristotelian term “practica,” the reformer broke from the commonly accepted Aristotelian “binary scheme” of categorizing any and all endeavors as either theoria (contemplation) or praxis (action) and identified theology as the vita passiva (receptive life).52 Theology, and all of Christian life, is lived passively, that is, the Christian suffers or undergoes God’s active work.53 This approach to theology is necessary “so that we are not led astray by the active life (vita activa) with its works, or by the contemplative life (vita
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Smalcald Articles, Part 2, The Book of Concord, edited by Robert Kolb and Timothy J. Wengert (Minneapolis : Fortress Press, 2000), 300–301. Schulz, Mission from the Cross [(footnote 3), 77. Gerhard O. Forde, Theology is for Proclamation (Minneapolis: Fortress Press, 1990), 6. Ibid., 30. See also Georg F. Vicedom, The Mission of God: An Introduction to a Theology of Mission, trans. Gilbert A. Thiele and Dennis Hilgendorf (St. Louis: Concordia, 1965), 32, 52–53. Bayer, Theology (footnote 20), 21–27. Bayer argues that in denoting theology as “practical,” Luther has in mind the vita passiva. The term vita passiva can be found in AWA 2:302, 15; 303, 5; WA 5:165, 35f; 166, 11. Here one notices a nuanced difference between Luther’s meaning of “practical” and that of the seventeenth century theologians such as Johann Gerhard, who claimed theology is practical because it leads the theologian to action, i.e., good works (Prooemium de Natura Theologiae, § 12). See Fluegge, “Making of the Theologian” [(footnote 28), 145–146, 157–159.
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contemplativa) with its speculations.”54 Hence, the passive nature of the doctrine of justification is applied to and becomes characteristic of the theological endeavor in general. Theology is a matter of receiving from God versus working one’s way to God. This is further clarified toward the end of Luther’s life, when he wrote a Preface to the Wittenberg Edition of his German Writings and commented on the “correct way of studying theology” according to Psalm 119.55 There he established three “rules” that give further insight into how one lives the “receptive life”: Oratio, meditatio, and tentatio. Much ink has been spilt on this famous Triad.56 Oratio is the budding (or mature) theologian’s supplication for the Holy Spirit’s intervention in understanding what God says in the Scriptures. Meditatio is the theologian’s deep and continuous study and interaction with those same Scriptures.57 Tentatio is the spiritual attack and temptation that the theologian undergoes or suffers in the face of trials and tribulations brought on by faithfulness to God’s Word.58 Missions, it would seem, relate to the “receptive life” especially in regard to this third rule: Tentatio. Not only does theology naturally and spontaneously give rise to mission practice, but that very missionary activity immediately produces tentatio, as the old evil foe rages against the growth and spread of God’s Word. That tentatio, in turn, drives the theologian back into the Word for comfort and for deeper understanding, which gives rise to further missions, and so on and so forth. The circular nature of the “receptive life” continues. This is in stark contrast to the medieval monastic practice of meditation which led to the experience of contemplation and 59 ultimately to the experience of union with the glorified Christ. Luther’s meditation, as part of the “receptive life,” submits the theologian to the “great apocalyptic” battle between God and Satan, a battle that takes place in real time against very real enemies of the Word as that Word grows and spreads.60 In other words, although Luther does not couch it in these contemporary terms, the very practical (i.e., re54 55 56
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AWA2:137, 1f; WA 5:85, 2f. LW 34:283–288. For a brief, yet insightful, overview, see John W. Kleinig, “Oratio, Meditatio, Tentatio: What Makes a Theologian?”, Concordia Theological Quarterly 66, no. 3 (2002): 1–12. For a much deeper analysis, see Bayer, Theology (footnote 20), 33–66. For the continued historical significance of the Triad after Luther, see Chi-Won Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit: Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts (Basel: Brunnen Verlag Giessen). See John W. Kleinig, “The Kindled Heart: Luther on Meditation,” Lutheran Theological Journal 20, no. 2–3 (1986): 142–154. The authoritative work on this subject is Martin Nicol, Meditation bei Luther (Göttingen: Vandenhoeck and Ruprecht, 1984). See the helpful analysis of Steven A. Hein, “Tentatio,” Lutheran Theological Review 10 (1997– 1998): 29–47. Kleinig, “Oratio, Meditatio, Tentatio” (footnote 56), 7. Bayer, Theology (footnote 20), 60–61. For the Devil’s role in tentatio, see Heiko Oberman, Luther: Man Between God and the Devil, trans. Eileen Walliser-Schwarzbart (New York: Doubleday, Image Books, 1992). The Luther texts on missions are notably laden with themes of conflict and resistance; see, e.g., Volker Stolle, The Church Comes from All Nations (footnote 9), 18, 24–25, 26, 28–29, 30.
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ceptive) nature of theology always naturally and necessarily implicates the theologian in the very Mission of God (Missio Dei). 5.
Conclusion
In tracing throughout the last five hundred years differing views of the relation between theology and practice, we have uncovered three possible solutions to the current disjunction between theology and missions. The first solution stemming from the eighteenth century pietists and focused on the modern theory-practice dichotomy, appears misguided. Though commonly accepted today, it may actually exacerbate rather than alleviate the problem. The second solution borrowed from the seventeenth century Lutheran theologians could provide a way forward, but seems less biblical and theological than we might desire. The third explored Martin Luther’s understanding of theology as practical and found it remarkably and inherently missionary. One might find this analysis surprising in light of the fact that some have rather offhandedly dismissed seventeenth century “orthodox theology” and Luther’s reformation theology as inherently un-missionary. I beg to differ and would set forth especially Luther’s view of theology as eminently missionary precisely because of his understanding of justification by faith alone as its “uniting center.” For Luther, the practical nature of theology goes beyond the “logic” of the article of justification and actually submits the theologian to that very justifying act. Hence, for Luther, theology is God justifying as much as it is about the justifying God. And this is what makes his understanding of theology so deeply missionary. Admittedly, Luther’s attention is first and foremost focused on the theologian’s 61 own salvation, the self. He is unaccustomed, when talking of theology, to direct it toward the salvation of the unbeliever, the other. To our post-Enlightenment sensibilities, this seems strange, almost selfish, and disappointingly un-missionary. But nothing could be further from the truth. Historical and pedagogical reasons aside, 62 Luther is understandably reluctant for a deeply theological reason. To focus theology on the third-person (him/her), distances it from the first-person–second-person (IThou) relation.63 A theology overly directed at the other inevitably reverts to a theology about a justifying God. It risks degenerating into a theology devoid of personal spirituality – a danger that still poses a very real threat to any study of theology today, especially to those curricula heavily influenced by the “clerical paradigm.”
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This gradually shifts in the seventeenth century (see fn. 30). At the time, education understood in the sense of paideia (culture) was primarily concerned with the cultivation and culturing of the student (see Farley, Theologia [footnote 10], 152–153). Skills training to prepare a person to serve a third party was normally carried out in the apprenticeship system. For the significance of “I-Thou” language, see Gustaf Wingren, The Living Word: A Theological Study of Preaching and the Church, trans. Victor C. Pogue (Philadelphia: Muhlenberg, 1960), 119–136.
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Hence, to be fair to Luther, one must read his comments regarding theology together with his other comments that manifest a clear concern for missions.64 In retrospect, Luther’s view of “practical theology” allows theology to be firmly “embedded” within missions. It sets up a circular relationship between them. This is not to say that theology is the equivalent of missions or that missionary activity somehow creates the theologian. Luther is quite clear that only God creates the theologian through His written Word. Nonetheless, when properly cultivated, Luther’s “practical theology” gives rise necessarily and spontaneously to missions, like the ever expanding progression of waves from a stone tossed into water.65 In turn, that very missionary activity occasioned by theology serves quite naturally as the very setting (tentatio) within which God makes the theologian. In fact, it is in this very sense that mission was the “mother of theology” in the early days of the church and in this very way that theology and missions are most naturally, biblically, and inextricably brought back together. Zusammenfassung Dieser Beitrag fragt nach dem, was Theologie und Mission zusammenhält. Dabei wird die Rechtfertigung allein aus Gnaden, allein durch den Glauben als die „einigende Mitte“ identifiziert. Dabei wendet sich der Verfasser gegen eine falsche Unterscheidung im Sinne einer Trennung von Theorie (Theologie) und Praxis (Mission). Eine weitere Verhältnisbestimmung, nämlich die einer Theologie als Praxis, erscheint als ein möglicher Weg, um beides zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Als darüberhinausgehende und genuin reformatorische Lösung wird schließlich das Konzept einer Theologie, die sich als praktisch und missionarisch versteht, eingeführt. Theologie wird eingezeichnet in die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, geschichtlich verortet und als Wortgeschehen verstanden. Dabei bleibt Theologie passivisch bestimmt, also von dem her, was Gott am Menschen getan hat und tut. Theologie ist entsprechend nicht bloß eine Lehre über den rechtfertigenden Gott, sondern in gleicher Weise das Geschehen selbst, dass Gott rechtfertigt. Auf Theologie und Mission bezogen ergibt sich daraus eine zirkuläre Struktur zwischen beidem, ohne dass Mission mit Theologie identifiziert würde oder der Theologe als Produkt missionarischer Aktivität verstanden würde.
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See Stolle, The Church Comes from All Nations (footnote 9). See also fn. 9. WA 10:139, 17–140, 16; cf. Stolle, The Church Comes from All Nations (footnote 9), 24–25.
„… den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht …“ Völkermord an Armeniern im osmanischen Reich und die Berichterstattung darüber in ausgewählten Zeitschriften aus dem Bereich konfessionell-lutherischer Minoritätskirchen. 1 Markus Nietzke 1.
Eröffnung und Einleitung
„Was macht eigentlich unser Pastor, wenn er teils noch spät abends am Computer im Pastorat sitzt?“, fragte unlängst ein hochbetagtes und interessiertes Gemeindeglied der Kleinen Kreuzgemeinde (SELK) in Hermannsburg. Er hatte es eines Abends im relativ offen einsehbaren Pastorat bemerkt. Die Frage ist natürlich berechtigt. Zum Hintergrund: Das Pastorat ist zugleich Büro, Amtszimmer und Studierzimmer des Pfarrers. Mit Siegel, Kartei, Akten, Telefon ist das Amtszimmer ein der Öffentlichkeit zugewandter Raum.2 Es gilt aber auch als Studierzimmer nach innen gewandt: „Studieren gehört zum Amt“3 und gibt Raum für „unablässiges“ Studieren4; und zwar in diesem Sinne, dass es geradezu ein Ort ist, an dem „reiche und universale Ansätze und Bezüge“ für die eigene Frömmigkeit, die vielen Predigten, Andachten und seelsorgerlichen Briefe für den Alltag in der Gemeinde erarbeitet und hergestellt werden. Ein Raum also für das Studium der Schrift und Väter, der zeitgenössischen Welt und einem eigenen geistlichen Leben5, in dem eine „geordnete, geistige Welt“6 geschaffen wird, denn dort „haben und behalten bestimmte 1
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Den Begriff „konfessionell-lutherische Minoritätskirche“ habe ich im Studium beim geehrten und geschätzten Professor Dr. Werner Klän im Zusammenhang mit der Kirchengeschichtsschreibung kennen gelernt. Mit diesem Artikel möchte ich aufzeigen, dass das Interesse an der von ihm angestoßenen Thematik der Erforschung von Themen innerhalb und aus Sicht der Vorgängerkirchen der heutigen SELK und deren „Freikirchengeschichte“, wie sie auch genannt wird, bei mir nie aufgehört hat. Ich möchte diesen Artikel deswegen als einen Versuch werten, aufzuzeigen, wie zumindest in ersten, zaghaften Ansätzen eine Art ökumenische Verantwortung in der Hannöverschen Evangelischen Lutherischen Kirche bei aller konfessionellen Eigenart sichtbar wird, wenn es auch damals (im Zeitraum 1914–1921) so nicht genannt worden ist. Martin Fischer, Vom Studierzimmer des Pfarrers, WPKG 69 (1980), 503–506, hier: 503. A.a.O., 504. A.a.O., 505. A.a.O., 503. A.a.O., 505.
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Bücher ihren bleibenden Rang“7. Neben der Heiligen Schrift in verschiedensten Sprachen, den Bekenntnissen der Kirche, einer Reihe Kommentare, Lexika und Handbücher gehören für mich ausdrücklich auch kirchliche Zeitschriften dazu. An diesen immer wieder durchgeblätterten und gelesenen (bewährten) Büchern und Zeitschriften (aus der eigenen kirchlichen Tradition) wird Neues gemessen, werden Aussagen verglichen und überprüft, interpretiert und wird Nutzen als Anregung für gegenwärtiges Tun und gegebenenfalls neue Inszenierung geschöpft.8 Theologie in konfessioneller und ökumenischer Verantwortung im Alltag eines Pfarrers wahrzunehmen ist eine bleibende Herausforderung. So weit, so gut. Aber wie und wo geschieht das konkret? Was kostet das an Arbeit und Zeitaufwand? Mit welcher Absicht geschieht das? In diesem Beitrag möchte ich auf die Frage des interessierten Gemeindeglieds in einem gewissen Sinne antworten. Dabei möchte ich schildern, wie ich in den vergangenen zwei Jahren vorgegangen bin. Eine Voraussetzung schicke ich vorweg: Ich bin realistisch genug, einzuschätzen, dass es für Forschungsarbeit, beispielsweise für eine Dissertation und deren Erarbeitung, nur sehr, sehr wenig Zeitfenster im Alltag des Gemeindelebens in einem Pfarrbezirk mit zwei Gemeinden geben kann. Was aber durchaus gelingt, ist, neue Bücher und vergangene Artikel in mir zugänglichen Zeitschriften zu lesen; zwei, drei Rezensionen zu verfassen, für eine Veröffentlichung zu sorgen und auf diese Weise mit der akademischen Welt im Gespräch zu bleiben – wenigstens ein bisschen. Das wird also im Pastorat (auch spät am Abend) erarbeitet, wenn der Pastor nicht nur etwas in den Computer tippt, sondern auch mal auf der Couch liegt und dabei ein gutes Buch in die Hand nimmt. Rezensionen ermöglichen es, auf neue Medieneinheiten (Bücher, CD-Roms etc.) aufmerksam zu machen und angesichts steigender Publikationszahlen auch 9 im wissenschaftlichen Sektor Orientierung zu geben. Außerdem gehe ich im übertragenen Sinn davon aus, dass über diese Medien alte (Zeitschriftenartikel, beispielsweise,) und neue Texte (gegenwärtige Veröffentlichungen) sozusagen miteinander „sprechen“, wie in einem Gespräch, in dem neue Themen und Bezüge identifiziert werden und neues Wissen entsteht.10 2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914. Dazu war vorab eine Materialhilfe der EKD mit dem Titel „Richte unsere Füße auf den Weg 7 8
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Ebd. Ich nutze im Pastorat diesbezüglich gerne das Missionsblatt der Lutherischen Kirchenmission, eher bekannt als ‚Bleckmarer Mission‘ (seit 1899), das Kirchenblatt „Unter dem Kreuze“ der ehemaligen „Hannöverschen Ev.-Luth. Freikirche“ (seit 1866) und den Gemeindebrief „Hermannsburger Bote“ (seit 1907). Günter Mey, Editorial Note: Wozu Rezensionen? Oder: Warum Rezensionen eigenständige Beiträge sein sollten, Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research, 1(3), Art. 40, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0003400. (Stand: 28.09.2015). Sharon Walker, Literatur-Reviews als generative und transformative Konversation Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 16(3), Art. 5, http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0114-fqs150352. (Stand: 28.09.2015).
„… den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht …“
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des Friedens (Lukas 1,79). Erinnern an den Ersten Weltkrieg.“11 erschienen. Sie bot auf 87 Seiten eine Fülle an anregendem Material mit „Fakten“ (5–18), „Themen“ (22–24), Gestaltungsvorschlägen für einen Gottesdienst (25ff.) mit liturgischen Bausteinen (34) und „Formen des Gedenkens“ (71–81) für ein erinnerndes Gedenken an den Beginn und Verlauf des Ersten Weltkriegs an. Ein „Service“Angebot (82–87) und Impressum beschließen die Materialsammlung. Die Materialhilfe bietet eine Fülle von Anregungen, die den Rahmen eines angedachten Gedenksonntags am 3. August 2014 spreng(t)en. Darin finden sich in einer Chronologie des Weltkriegs auch diese Hinweise: „24. April 1915 Auf Anordnung des osmanischen Innenministers Talaat Bey werden führende Mitglieder der armenischen Gemeinde in Konstantinopel verhaftet. Der so genannte ‚Rote Sonntag‘ gilt als Beginn des Völkermords an den Armeniern im Osmani12 schen Reich.“ „7. August 1916 Die Dokumentation des evangelischen Pfarrers Johannes Lepsius ‚Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei‘ wird in Deutschland von der Zensur 13 verboten. Lepsius emigriert in die neutralen Niederlande.“
Armenier? Da war doch was? Das erinnerte ich vage aus der Lektüre irgendwann früher Mal im Kirchenblatt „Unter dem Kreuze“ aus der konfessionell-lutherischen Minoritätskirche, der Hannöverschen Ev.-Luth. Freikirche (künftig HELF), und aus dem „Missionsblatt der Hannöverschen Ev.-Luth. Freikirche“ (künftig MHELF) etwa um die Jahrhundertwende 1900 und aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Dem wollte ich nun gezielter14 nachgehen und habe also angefangen zu recherchieren. Durch meine Mitarbeit im Redaktionskreis „Jahrbuch Mission“15 wurde ich dann aufmerksam auf ein Buch, dass ich zum Thema „Armenien“ gerne lesen und rezensieren wollte16. So geschah es: Ich fing an, das Buch zu lesen und in den alten Zeitschriften zu blättern. 11
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Uwe Birnstein, Antje Ernst, Stephan Goldschmidt, Roger Mielke, Katharina Ratscko (Hg.), „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ (Lukas 1,79). Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Materialsammlung der EKD, 2014. Das Material ist einsehbar unter https://web.archive.org/web/2015-0326154955/http://www.ekd.de/download/mek_materialsammlung_komplett.pdf (Stand: 02.12.2017). A.a.O., 16f. A.a.O., 17. Ich hatte mir 2014 vorgenommen, in den Jahren 2014–2018 jeden Monat die alten Zeitschriften (1914–1918) durchzusehen und Themen, die von Belang scheinen, in Predigten, Andachten, Vorträgen und Beiträgen für den Gemeindebrief zu reflektieren. Dies dauert auch gegenwärtig an. Das „Jahrbuch Mission“ (JbM) wird herausgegeben vom Evangelischen Missionswerk (EMW) und dem Verband Evangelischer Missionskonferenzen (VEMK). Ich gehöre dem Redaktionskreis des Jahrbuchs an. Das Jahrbuch steht in der Nachfolge des Jahrbuchs Evangelische Mission (EvMiss) und dem Lutherischen Missionsjahrbuch (LMJ). Markus Nietzke, Rezension zu Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Völkermord an den Armeniern, JbM 48 (2016), 232f.
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2.
Markus Nietzke
Der Völkermord an Armeniern im osmanischen Reich und die Berichterstattung darüber im Jahre 1915
Das Buch „Tod in der Wüste“ von Rolf Hosfeld17, Kulturhistoriker und wissenschaftlicher Leiter des Lepsius-Hauses in Potsdam, hat mir die Augen geöffnet für einen überaus erschreckenden Umstand. Der Völkermord an den Armeniern war mir in diesem Ausmaß nicht bekannt. Die Frage entstand: Was steht – wenn überhaupt – in den von mir bevorzugten Zeitschriften dazu? 2.1
13. Juni 1914 – 28. Juli 1914 – September 1914:
Es deutet sich etwas an. Im Missionsblatt der HELF18, das sich in der Hauptsache mit Afrika und insbesondere Südafrika beschäftigt, wird im September 1914 aus dem Blatt: „Nachrichten aus der Lutherischen Mission in Persien“ (vom 28. Juli 1914), Beiblatt zum „Hermannsburger Missionsblatt“, zitiert und von einem Pastor Pera Johannes19 und Gemeindeältesten berichtet, die am 13. Juni in Wasiribad – aufgrund russischer Gewalteinwirkung – ins Gefängnis gekommen seien. Der Artikel ist unter dem Vorzeichen der Missionsarbeit in Persien und im osmanischen Reich veröffentlicht worden und beinhaltet eine antirussische Spitze. Zugleich ist bemerkenswert (und mindestens geographisch naheliegend), dass in Bleckmar besonders auch auf Meldungen aus dem benachbarten Hermannsburg Rücksicht genommen wird,20 wo es um die Missionsarbeit der Hermannsburger Mission ging, ohne dass damit der Konflikt um die Trennung von Hermannsburger Mission und HELF und die Entstehung der Bleckmarer Mission – wie anderswo in gewisser Regelmäßigkeit – thematisiert wurde. 2.2
18. Juli 1915:
Unter dem Titel ‚Große Not in Armenien‘ bringt der Herausgeber E. Bingmann im Juli 1915 eine Mitteilung des „Deutschen Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient“21 im Kirchenblatt der HELF, „Unter dem Kreuze“22 unkommentiert zum Abdruck. Dort heißt es unter anderem: 17 18 19 20
21
Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München, 2015. N.N. [= Conrad Dreves], Nachrichten aus der Lutherischen Mission in Persien, MHELF XVI (September 1914), 76f. Zu P. Pera Johannes wird es im weiteren Verlauf des Aufsatzes noch Hinweise geben. Dieses wird sich auch je und dann im Kirchenblatt „Unter dem Kreuze“ niederschlagen. Kein Wunder, denn der Herausgeber des Missionsblattes bis Juli 1915, P. Conrad Dreves, lebte im Pastorat der Kleinen Kreuzgemeinde und in engster Nachbarschaft zur Hermannsburger Mission. Sein Nachfolger als Herausgeber, P. Friedrich Wolff, lebte in Bleckmar. Bei allen Spannungen zwischen der HELF und der Hermannsburger Mission gab es immerhin Verbindungen, die in Berichten aus der Hermannsburger Mission am Ergehen der anderen Anteil nimmt. Ein bisschen Recherche im Internet gehört zum Lesen und eigenem Begreifen dazu: Wer oder was ist dieser Hilfsbund? Auf deren Internetseite erfährt man: 1896: Nach dem Bekanntwerden der
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„Wieder einmal ist eine ganz besondere Not über Armenien hereingebrochen, und wir halten es für unsere Pflicht, davon Kenntnis zu geben, um nach Möglichkeit dem Leid zu steuern und Tränen zu trocknen. […] In den direkt von den Armeniern bevölkerten Gegenden hat man mit einem Abtransport armenischer Familien begonnen, wodurch zahllose Familien von bitterstem Weh heimgesucht sind. […] Durch die weiten und schlechten Wege durch das Gebirge kamen viele im kläg23 lichsten Zustande an, Frauen, die ihre Kinder von weither mitgeschleppt hatten, legten die kleinsten, die nicht mehr laufen konnten, am Straßenrand nieder, und so waren unsere Missionare gezwungen, die Fürsorge […] zu übernehmen, um sie vor dem Verhungern zu bewahren. […]“
Bemerkenswert ist dann der Nachsatz aus dem abgedruckten Artikel: „Dass wir trotz der herrschenden Zensur von den Vorgängen unterrichtet sind, ist uns ein deutlicher Fingerzeig Gottes, dass wir nach Möglichkeit bereit sein sollen, helfend und lindernd beizuspringen.“
Schon in der nächsten Ausgabe des Kirchenblattes vom 25. Juli 1915 ist unter den Belegen für eingegangene Spenden zu lesen: „Für die armenischen Waisen: Vermächtnis des Frl. Laura Sagert in Hermannsburg: 47 M“24. Das finanzielle Engagement seitens der Gemeindeglieder der HELF setzte sich über Jahrzehnte – auch über den Ersten Weltkrieg hinaus – fort. 2.3
15. September 1915:
Höchst erschreckende und ausführliche Nachrichten über Gräueltaten in fürchterlichem Ausmaß an Christen im Orient und weitere Informationen von P. Luther Pera aus Urmia25 in Persien (der Ort liegt in Nachbarschaft zur heutigen Grenze zur Türkei) erreichten die Leserinnen und Leser des „Hermannsburger Boten“26, dem
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Armenier-Massaker kommt es zur Gründung des „Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk“ durch Pfarrer Ernst Lohmann und Dr. Johannes Lepsius in Frankfurt/Main. // 1896–ca. 1920 Enorme Ausweitung der sozial-diakonischen und missionarischen Arbeit in der Türkei, vor allem bedingt durch die großen Massaker und Armenier-Deportationen in den Jahren 1915/1916. http://www.hilfsbund.de/ueber-uns/geschichte/ (Stand: 28.12.2016). N.N., Große Not in Armenien, UdK Xl (18. Juli 1915), 230. Es handelt sich dabei um einen Bericht aus dem Ort Marasch, https://de.wikipedia.org/wiki/ Kahramanmara%C5%9F (Stand: 29.12.2016). N.N. (E. Bingmann), Quittungen, UdK Xl (25. Juli 1915), 240. Siehe dazu auch den Eintrag „Urmia“ bei Wikipedia, in dem es heißt: „Die Christen verschiedener Konfessionen machten 1900 mehr als 40% der Stadtbevölkerung aus. Im Laufe des Ersten Weltkrieges begingen Truppen aus dem Osmanischen Reich mit kurdischer und iranischer Unterstützung Massaker an der christlichen Zivilbevölkerung – den Völkermord an den Assyrern und Aramäern“, https://de.wikipedia.org/wiki/Urmia (Stand: 29.12.2016). Es lohnt auch ein Blick auf die englischsprachige Wikiseite (Stand: 29.12.2016). Hermannsburger Bote, Volksblatt der Kreuzgemeinde (15. Sept. 1915), 9.
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Gemeindebrief der Großen Kreuzgemeinde zu Hermannsburg27. Der Ausgabe vom 15. September 1915 waren „Nachrichten aus der Lutherischen Mission in Persien“ (vom 1. September 1915)28 beigelegt worden. Dass es danach keine weiteren Berichte oder Bezüge im „Hermannsburger Boten“ gab, liegt auch daran, dass die Gemeindeglieder das „Hermannsburger Missionsblatt“ lasen.29 2.4
Dezember 1915:
Der neue Herausgeber, P. Friedrich Wolff aus Bleckmar, anstelle von P. Conrad Dreves, bringt in der Dezemberausgabe des Missionsblattes unter der Überschrift „Literarisches“ unkommentiert einen Auszug aus den „Deutsch-evangelischen Volksheften zum Verständnis der Gegenwart“, in denen Dr. Johannes Warneck zum Thema „Kreuz und Halbmond“ Stellung bezogen hatte. Im Hinblick auf die Lage im osmanischen Reich schreibt Warneck und wird im MHELF zitiert: „Ein schweres Bedenken liegt für das christliche Gewissen auch in dem Umstande, dass die christlichen Völker des Morgenlandes, Armenier, Maroniten, Nestorianer, in den Russen ihre Beschützer sehen, wie die Christen in Syrien und Ägypten in den Franzosen und Engländern. Hier liegen die Ursachen schwerer Konflikte, und die Ausschreitungen der Türken gegen diese Christen würden auf das Gewissen der deutschen Christenheit fallen. Bisher hat die türkische Regierung wohl strenge Maßregeln gegen die Armenierunruhen ergriffen, aber die ausländischen Missionen wohlwollend behandelt. Jedenfalls hat Deutschland den Türken gegenüber die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, ihnen das Evangelium zu bringen und es durch das Beispiel der Christen zu fördern. Auch kann Deutschland seinen Einfluss benutzen, diesen gequälten, verfolgten, verbitterten und abgestumpften 30 Christen des Morgenlandes zu Leben und Frieden zu helfen. […]“
Hintergrund solcher Veröffentlichungen war auch die Verwunderung mancher Christen, dass das Deutsche Reich gemeinsam mit dem Osmanischen Reich (in dem hauptsächlich Muslime lebten) in den Krieg gezogen war. Warneck schreibt von ‚Armenierunruhen‘ einerseits und einer Verantwortung seitens des Deutschen Reiches und seiner Christen für Menschen im Orient, auch für Armenier anderer27
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Der „Bote“ (in der Nachfolge des „Hermannsburger Boten“) ist gegenwärtig der Gemeindebrief sowohl der Großen Kreuzgemeinde (SELK) und der Kleinen Kreuzgemeinde (SELK) als auch der St.-Johannis-Gemeinde (SELK) Bleckmar. Nachrichten aus der Lutherischen Mission in Persien 2 (1.September 1915), 4. Hier möchte ich ein ausdrückliches Desiderat meines kleinen Forschungsberichtes kenntlich machen. Unter der Perspektive der mir zugänglichen Zeitschriften der Bleckmarer Mission, der HELF und des Hermannsburger Boten habe ich bisher keinen Einblick in vergleichbare Zeitschriften aus dieser Zeit, wie z.B. dem Hermannsburger Missionsblatt, genommen. Dadurch entsteht eine Wissenslücke, die hier nur benannt, aber nicht aufgefangen werden kann. Mit Sicherheit wird eine Relecture des Hermannsburger Missionsblattes 1914–1918 erhellende Informationen bieten. Es kann davon ausgegangen werden, dass sowohl P. Conrad Dreves, P. Friedrich Wolff als auch P. E. Bingmann das Hermannsburger Missionsblatt rezipiert haben. N.N. [= F. Wolff], Literarisches, MHELF XVII (Dezember 1915), 115.
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seits. Diesen Gedanken greift auch Georg Haccius, Missionsdirektor der Hermannsburger Mission in einem Epiphaniasgruß zu 1916 aus der Adventszeit 1915 auf, der dem ‚Hermannsburger Boten‘31 beigeheftet wurde. Hinsichtlich der Orientmission in Persien ist sich Haccius gewiss, dass die „Mohammedanermission kräftiger als je“32 aufgenommen werden könne, denn; „[…] es ist unsere Zuversicht, dass die Kampf- und Sieg-Genossenschaft mit dem Türken uns dazu die Wege bahnt.“ Na, denn! Das oben erwähnte Buch von Rolf Hosfeld hatte mich gepackt, aber auch ein wenig erschlagen: Im Entsetzen darüber, wie über dieses Thema wohl auch deswegen hinweggesehen wurde, weil es im Weltkrieg nicht opportun war, einen Verbündeten des Deutschen Reiches zu diskreditieren. Die Chronologie der Ereignisse im Osmanischen Reich, hier: die armenische Bevölkerung betreffend, wird in seinem Buch „Tod in der Wüste“ (2015) umfassend geschildert. Öffentliche – in Deutschland jetzt zugängliche – Berichte, wie z.B. der damals bald verbotene „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ (1915) von Johannes Lepsius und Berichte aus dem Politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes u.v.a. werden ausführlich rezipiert. Dazu kommt Bildmaterial aus dem Informations- und Dokumentationszentrum Armenien in Berlin und in Yerevan, Fotos von Armin T. Wegner, eines Zeitzeugen, auch vielfältige Telegramme, Briefe, Noten und Notizen u.ä. von Diplomaten und Gesandten aus dem Deutschen Reich und darüber hinaus. Sie zeigen, wie wenig Notiz – trotz eindringlicher Appelle aus der Türkei von Beobachtern vor Ort – von der Verfolgung und der Drangsal der Armenier am Ende im Deutschen Reich genommen wurde. Nun geht es mir bei meinen Forschungen ausdrücklich nicht darum, mit Blick auf die Lutherische Kirchenmission oder auf die Hannöversche Evangelische Lutherische Kirche im Sinne von Schuldzuweisungen zu arbeiten. Es stellt sich viel33 mehr die Frage nach der „unentrinnbaren Zeitgenossenschaft“ und wie sich diese zeigt. In diesem Zusammenhang stellte sich mir eine weitere Frage: Welche Rolle spielen Zeugnisse von Überlebenden und Nachfahren als Quelle für die Erforschung solch eines Themas? Durch die Lektüre des Buches von Hosfeld angeregt, habe ich z.B. den Beitrag „Meine armenische Großmutter: die Türkei und ihre Identität“ von Muriel Mirak-Weißbach (am 10.02.2012 im Lepsius-Haus Postdam gehalten) mit Interesse eingesehen.34 31 32 33
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Hermannsburger Bote, Volksblatt der Kreuzgemeinde (15. Dez. 1915), 12. Zum Epiphanias-Feste 1916. Hermannsburg, Missionshandlung, Advent 1915. Dem „Hermannsburger Boten“ beigeheftet. Diesen Begriff entleihe ich: Werner Klän, Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen, in: Jürgen Kampmann, Werner Klän (Hg.), Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, OUH.E 14, Göttingen 2014, 317–343, hier: 341. http://www.lepsiushaus-potsdam.de/uploads/images/Publikationen/gro%C3%9Fmutter%20mirak-weissbach.pdf (Stand: 02.12.2017).
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Dann schrieb ich in meiner Rezension für das Jahrbuch Mission (zum 1. Dezember 2015 musste diese für die Veröffentlichung im Druck abgegeben sein): „Spannend wird bleiben, wie innerhalb und außerhalb der Türkei künftig mit dem Thema umgegangen werden wird“35 und sozusagen als kleinen Auftrag auch für mich selbst: „Die weitere Aufarbeitung und Zur-Kenntnisnahme – angesichts des Erinnerns an den Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren – sollte nicht aus den Augen verloren werden.“36 3.
Der Völkermord an Armeniern im osmanischen Reich und die Berichterstattung darüber im Jahre 1916 (und in den folgenden Jahren)
Wie gesagt, das Buch „Tod in der Wüste“ von Rolf Hosfeld hatte mir 2015 die Augen geöffnet für einen erschreckenden Umstand: Was damals in kirchlichen Zeitschriften unter dem Thema „Armenier“ kurz gestreift wurde, war mir vorher so nicht bekannt. Daher wollte ich mich 2016 weiter in die Thematik einlesen. Diesen Zweck erfüllte das vorliegende Buch von Jürgen Gottschlich „Beihilfe zum Völkermord“37 ganz und gar. Schon der Titel macht deutlich, dass eine weitreichende Beteiligung des Deutschen Reichs am Genozid der Armenier geschildert werden würde. Jürgen Gottschlich (*1954), seit vielen Jahren in Istanbul lebend, ist als Journalist für verschiedene Zeitungen tätig. Er recherchierte in Deutschland und der Türkei und kommt in seinem Buch zu niederschmetternden Erkenntnissen. Eine Gruppe deutscher Militärs und Diplomaten war weitaus aktiver an der Vernichtung der Armenier beteiligt, als ich es für möglich gehalten hätte. Die Entsandten handelten nicht autonom, sondern das Vorgehen vor Ort wurde im Deutschen Reich in Kauf genommen, ja, teilweise ausdrücklich gebilligt. Dort, wo Protest über das Geschehen angemeldet wurde, wurde dieses als ‚nicht oppurtun‘ abgetan. Das Literaturverzeichnis und die Fußnoten lassen erkennen, wie viel Fachliteratur für die Recherche Gottschlich eingesehen hat. Bedeutende Dokumente und Reden werden zum Schluss des Buches abgedruckt. Viele zeitgenössische Bilder ergänzen die Texte. Ich ging zeitgleich nach meinem Schema (jeden Monat den entsprechenden Monat in Missionsblatt, Kirchenblatt und Hermannsburger Boten aus dem Jahr 1916 einzusehen) vor.
35 36 37
JbM 48 (2016), 233. Ebd. Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015.
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3.1
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Januar 1916:
Im Bleckmarer Missionsblatt findet sich gleich in der Januarausgabe 1916 ein zusammenfassender Überblick38 über die Lage der Christen im Orient. P. Wolff spricht in diesem Bericht von einer „sehr traurigen Lage“39. Er berichtet weiter: „[…] Nachdem die Verbindung mit Persien und dem Inneren der Türkei […] abgeschnitten gewesen, kommen jetzt erschütternde Nachrichten über das entsetzliche Elend, welches der Krieg über die syrischen Christen in Persien und über die Arme40 nier in der Türkei gebracht hat. […] ‚Das Unheil in Nord-Persien‘ , heißt es […] ‚ist nur ein Vorspiel der Katastrophe, die inzwischen über das armenische Volk in der Türkei hereingebrochen ist‘ […] Während die Männer im Heere stehen, sind ihre Frauen und Kinder zu tausenden von der türkischen Regierung aus ihrem Heimatlande ausgewiesen und nach den südlichen Provinzen verschleppt worden, wo die Not unter denen, welche die Mühsale und Entbehrungen des Weges überlebt haben, noch größer sein soll als seiner Zeit nach den Armenierschlächtereien des Sultans 41 Hamid . Das Bündnis mit der Türkei legt Deutschland die Pflicht auf, sich der unterdrückten und gequälten Christen im türkischen Reiche anzunehmen.“
Was könnte man nun unternehmen? P. Wolff macht keinen eigenen Vorschlag, wie diese Pflicht erfüllt werden könnte, sei es seitens der Bleckmarer Mission oder der HELF, er bringt aber noch folgenden Hinweis zum Abdruck: „In diesem Sinne hat eine namhafte Anzahl von einflussreichen Personen sich mit einer Eingabe an die Reichsregierung gewendet und von derselben die Zusicherung erhalten, dass das Auswärtige Amt alles mögliche tun werde, um bei der türkischen Regierung den nötigen Schutz und die nötige Hilfe für ihre christlichen Un42 tertanen zu erwirken.“
Auf ebendiese Eingabe nimmt aber P. E. Bingmann in „Unter dem Kreuze“ Bezug und berichtet etwas ausführlicher über die Eingabe und die Reaktion des damaligen Reichskanzlers darauf, die ausführlich zitiert wird. Bingmann selbst kommentiert diesen Vorgang mit diesen Worten: „[…] Wir sind überzeugt, dass diese Erklärung in weiten Kreisen Deutschlands mit Genugtuung begrüßt werden wird. […] Die deutschen Christen werden sich darauf verlassen, dass auch fernerhin alles seitens der deutschen Regierung geschieht,
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W. [= Friedrich Wolff], Die Lage der Christen im Orient, MHELF XVIII (Januar 1916), 7f. In dem Bericht wird ein kleiner Überblick geboten, der sich sowohl aus den Berichten der Deutschen Orientmission, Briefe von Pera Johannes u.v.a. speist. Die Rezension erscheint im JbM 49 (2017). W. [= Friedrich Wolff], Die Lage der Christen im Orient, MHELF XVIII (Januar 1916), 7f. Vergleiche dazu: Hermannsburger Bote, Volksblatt der Kreuzgemeinde, 8. Jg. (15. Sept. 1915), 9. Zur kurzen Information habe ich dazu bei Wikipedia nachgesehen: https://de.wikipedia.org/wiki/ Abd%C3%BClhamid_II. (Stand: 02.12.2017) Siehe aber auch: Jürgen Gottschlich, Beihilfe (wie Anm. 37), 208 und https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_an_den_Armeniern_1894%E2%80% 931896 (Stand:02.12.2017). W. [= Friedrich Wolff], Die Lage der Christen im Orient, MHELF XVIII (Januar 1916), 8.
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was diesem Zweck dienen kann, und zwar in ihren humanitären Bestrebungen zur 43 Linderung bestehender Not nachdrückliche Unterstützung finden werden.“
Wie sehr er und andere sich darin getäuscht haben – und getäuscht wurden – zeigen die erwähnten Bücher von Jürgen Gottschlich und Rolf Hosfeld auf. P. Bingmann zitiert in der Ausgabe Ende Januar aus der Nummer 215 der „Mitteilungen aus dem Kaiserswerther Diakonissenhaus“ und berichtet von tausenden verschleppten Armeniern, die nach Aleppo gebracht wurden, nur um anschließend ‚bis hinter Damaskus‘ (sprich: in die Wüste) getrieben zu werden. Er berichtet über: „[die] […] in der deutschen Presse veröffentlichten Nachrichten über die ‚Schuld‘ der Armenier beleuchtet in bemerkenswerter Weise Dr. Lepsius in dem Artikel: ‚Die Wegführung nach „Assyrien“ in der November / Dezembernummer 1915 des „Christlichen Orient“ […] Er zeigt u.a., mit welcher Vorsicht gewisse Berichte auf44 zunehmen sind […]“
3.2
April 1916:
Unter „Allgemeine Missionsnachrichten“ berichtet P. Friedrich Wolff erneut „über die Leiden der weggeführten Armenier“45. Er zitiert ebenfalls aus dem Brief aus der Nummer 215 der „Mitteilungen aus dem Kaiserswerther Diakonissenhaus“. P. Wolff fährt dann fort: „Die in der deutschen Presse veröffentlichten Nachrichten über die Schuld der Armenier, die im Wesentlichen auf türkische Quellen zurückgehen, beleuchtet in sehr bemerkenswerter Weise Dr. Lepsius in dem Artikel: „Die Wegführung nach ‚Assyrien‘ in der November / Dezembernummer 1915 des ‚Christlichen Orient‘ […]“
„Sehr bemerkenswert“ schreibt Wolff – Bingmann sprach von „bemerkenswert“ – und das lässt deutlich werden, dass sie die Vorgänge schon deutlich einzuschätzen wussten. Allerdings heißt es direkt im Anschluss im Sinne der Ethik daran: „‚Der Sonnenaufgang‘, die Mitteilungen des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient, […] macht mit Recht wiederholt darauf aufmerksam, dass bei der gegenwärtigen Lage eine eingehende öffentliche Erörterung der Schuldfra46 ge nicht möglich und nicht nützlich ist, nötig aber das Werk barmherziger Nächstenliebe im Orient. […]“
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N.N. (E. Bingmann), Aus der Kirche, UdK XLI (2. Januar 1916), 6. N.N. (E. Bingmann), Aus der Kirche, UdK XLI (30. Januar 1916), 37f. N.N. [= Friedrich Wolff], Allgemeine Missionsnachrichten der Deutschen Evangelischen Missions=Hilfe, MHELF XVIII (April 1916), 27f. Woher „Schuld“? Der Vorwurf seitens der türkischen Regierung war der der Kollaboration „der Armenier“ mit den Russen und anderen Mächten wie Frankreich oder England.
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Meines Erachtens bleibt die Haltung Wolffs, wie auch schon die Haltung Bingmanns im Januar 1916, etwas ambivalent. Man sieht die Not, verlässt sich auf Artikel aus renommierten Quellen, bleibt aber – jenseits von der Bitte um Spenden für die diakonische Arbeit47 – zurückhaltend. Aber: Dass die Frage nach der Schuld – der Armenier – zu dem Zeitpunkt als nicht opportun angesehen wird, sieht auch Wolff so. Die Frage nach deutscher Mitwirkung oder Schuld auf deutscher Seite stellt sich so (noch) nicht. 3.3
Mai 1916:
Erneut wird das Thema: „Deutsche Orientmission“ im Missionsblatt im Mai 191648 aufgegriffen. Hier zitiert Wolff nun das „Hannoversche Missionsblatt“, in dem ebenfalls weitere Zeitschriften zitiert wurden – auch in Sachen Schuldfrage: „[…] ‚Die Frage, wie weit dieser Jammer durch eine Minderheit des armenischen Volkes verschuldet sei, wird immer unsicherer. Es fehlt nicht an ernsthaften Beurteilern, die jede Schuld in Abrede stellen. Liegt eine Schuld vor, so steht sie jedenfalls in keinem Verhältnis zu dem, was nun Hunderttausende zu leiden haben.‘ […] 49 Manches ist noch ungeklärt . […] ‚Jedenfalls ist unumwunden anzuerkennen – so schreibt das „Miss.=Mag.“ weiter –, dass in Zukunft das deutsche Volk den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht hat. Einen wesentlichen Teil davon wird die deutsche Mission und Liebestätigkeit im Orient zu erfüllen haben. Man lasse den Gedanken nicht aufkommen, dass man in den Armeniern die Feinde der Türkei unterstütze. Das sind sie nicht. […]“
Im „Hermannsburger Boten“ wird im Mai 1916 kurz Bezug auf das Schicksal der Christen im Orient über zwei Veröffentlichungen50 von P. K. Röbbelen über den Verlag der Missionshandlung genommen. Dabei erfährt man auch: „[…] Der Sohn unsers alten Pera Johannes, Pastor Pera Luther, ist ja als Flüchtling jetzt hier und wird gerne bereit sein, den Missionsfreunden Mitteilung über die Ereignisse in Persien zu machen. Die beiden kleinen Schriften werden aber allen 51 Freunden des Reiches Gottes herzlich empfohlen.“
3.4
Juni 1916:
Auch im Juni 1916 wird die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser des Missionsblattes auf die Lage der Armenier gelenkt. Zwar werden wie gewohnt Artikel aus 47 48 49 50
51
So z.B. N.N. (E. Bingmann), Quittungen, UdK XLI (30. Januar 1916), 40. N.N. [= Friedrich Wolff], Deutsche Orientmission, MHELF XVIII (Mai 1916), 37. So kommentiert hier F. Wolff wörtlich. N.N. [= Friedrich Wolff], Deutsche Orientmission, MHELF XVIII (Mai 1916), 37. Es handelt sich dabei um: K. Röbbelen, Die christliche Kirche in Persien und ihre merkwürdigen Schicksale, Hermannsburg, 1916 und Ders., Die Kirche des Ostens in alter und neuer Zeit, Hermannsburg 1916. Hermannsburger Bote, Volksblatt der Kreuzgemeinde (15. Mai 1916), 59.
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anderen Missionszeitschriften zitiert, aber die Auswahl der Zitate nimmt die überaus bedrängte Lage der Armenier in den Blick. P. Wolff bringt ausführlichere Artikel und daraus dann doch diese Zeilen, einmal in Sachen „Schuld“ und andererseits in Sachen Aufarbeitung des Schicksals der Armenier aus deutscher Sicht. 52
„Übrigens macht der ‚Sonnenaufgang‘ seine Leser wiederholt darauf aufmerksam, dass er jetzt keine eingehenden Nachrichten über die Lage im Orient bringen könne. ‚[…] die Türken sind unsere Waffengefährten im Kriege, man kann sich 53 nicht wundern, wenn man den Deutschen Schuld gibt, dass die Armenier als Opfer dieses Krieges wieder bluten mussten. Einige Schuldige zogen ungezählte Un54 schuldige mit sich in Tod und Verderben.“
In der „außerordentlichen einmaligen Bitte um Hilfe für unbeschreibliches Elend“55 heißt es dann durchaus mit deutlichen Worten und appellativem Charakter: „[…] Abzumessen, wie die Schuld an dem Elend, das heute zum Himmel schreit, sich auf die einzelnen zusammenwirkenden Faktoren verteilt, steht uns nicht zu. Wir erheben unsere Stimme nicht, um irgend eine Seite anzuklagen. Wir stehen erschüttert vor einer der furchtbarsten Katastrophen, die die Geschichte kennt, und suchen als Christen Hilfe für ein sterbendes christliches Volk. […] Gerade wir, die wir Freunde und Bundesgenossen der Türkei sind, wir deutsche Christen, würden dereinst nicht mit ruhigem Gewissen auf diesen Krieg zurückblicken können, wenn wir uns nicht bereit fänden, unsern Glaubensgenossen im osmanischen Reich in äußerster Not zu helfen. Einzelheiten über diese Not mitzuteilen, verbietet 56 die gegenwärtige Lage. […]“
3.5
Oktober 1916:
Im „Kreuzblatt“, wie die Kirchenzeitung „Unter dem Kreuze“ auch gerne genannt wurde, bringt P. E. Bingmann in der Oktoberausgabe einen umfassenden Bericht über die diakonische Hilfe über Kollekten aus der HELF. Er nimmt direkten Bezug auf den abgedruckten Artikel im Missionsblatt und der einmaligen Bitte um Hilfe. Mit den Spenden aus der HELF wurden Waisenhäuser unterstützt, die unter Schirmherrschaft des ‚Hilfsbund‘ standen. Dass sie besonders gefördert werden, wird ebenfalls hervorgehoben. Dazu schreibt P. Bingmann dann auch – aus meiner persönlichen Sicht – folgende wertvolle Zeilen:
52 53 54 55 56
Das ist der Name der damals herausgegebenen Zeitschrift des Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient. Vergleiche dazu ausführlich dargestellt in Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord (wie Anm. 37); Hosfeld, Tod in der Wüste (wie Anm. 17). N.N. [= Friedrich Wolff], Armenische Waisen in Aleppo, MHELF XVIII (Juni 1916), 47. N.N. [= Friedrich Wolff], Eine außerordentliche einmalige Bitte um Hilfe für unbeschreibliches Elend, MHELF XVIII (Juni 1916), 47f. A.a.O., 48.
„… den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht …“
581
„[…] Hier wird diesen armen Kindern nicht nur allein leibliche Hilfe, sondern auch eine christliche Erziehung zuteil, die vielleicht nicht in allen Stücken unsern lutherischen Grundsätzen entspricht, aber doch den Kindern den gekreuzigten und auf57 erstandenen Christus als ihren sie gerecht und selig machenden Heiland bringen 58 will. […]“
Soweit so gut. Im Jahr 1916 folgen keine weiteren Berichte zur Lage der Armenier im „Kreuzblatt“. 3.6
Dezember 1916:
Nach den in kurzer Folge im Frühling 1916 im Missionsblatt erschienen Berichten kommt erst in der Dezemberausgabe – erneut unter Bezugnahme auf den ‚Hilfsbund‘ und die ‚Deutsche Orientmission‘ die Lage der Armenier aus missionsinteresse-geleitetem Horizont in den Blick, wenn es dort heißt: „[Die Missionsarbeit] […] ist zur Zeit sehr beschränkt und wird besonders in ihrer Arbeit unter den unglücklichen Armeniern mit Misstrauen betrachtet.“59 Das berichtende Engagement kommt damit nach einer Blüte im Frühjahr zum Erliegen. Das Interesse an der Lage der Armenier jedoch nicht. Auch wenn ich die Jahrgänge 1917 bis 1920 bisher nicht ausführlich eingesehen habe, nahm ich durch einen hier nicht weiter zu erwähnenden Umstand auch den Jahrgang XIVI (1921) „Unter dem Kreuze“ vor und fand eher zufällig eine Anmerkung zu Armenien. 3.7
Januar 1921:
Wie üblich sandte der Rechnungsführer der Hannöverschen Evangelischen Lutherischen Kirche, P. E. Bingmann aus Celle, Anfang Januar 1921 die Kollekten (insgesamt 1800 Mark) aus den Gemeinden der Kirche für armenische Waisen an den stellvertretenden Vorsitzenden des „Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient“, F. Schuchardt in Frankfurt am Main. Bingmann hatte im Begleitschreiben um den Stand der Dinge gebeten und Antwort bekommen. Daraus 60 hat er im Kirchenblatt ausgiebig zitiert. Neben einem Flugblatt des Missionswerkes, aus dem ausführlich zitiert wird, gab es ein paar Hinweise von Schuchardt, wie die Lage in verschiedenen Orten und Landstrichen aussieht. Nach wie vor herrscht
57
58 59 60
Die Suche und die Betonung einer ‚einigen Mitte‘ im ekklesiologisch-ökumenischen Bereich, wie es für das Engagement des durch diesen Aufsatz geehrten Werner Klän beschrieben werden kann, findet sich hier zumindest in einem kleinen zarten Ansatzpunkt aus der Feder eines Pastors aus einer der konfessionell-lutherischen Minoritätskirchen des vorigen Jahrhunderts wieder. Das Versöhnungshandeln Jesu Christi wird damit – immerhin mal zitierbar ausgesprochen – in die Mitte diakonisch-ökumenischen Handelns seitens der HELF gerückt. Gott sei Dank! N.N. (E. Bingmann), Für die armenischen Waisen, UdK XLI (29. Oktober 1916), 344f., hier: 344. N.N. [= Friedrich Wolff], Kleine Mitteilungen, MHELF XVIII (Dezember 1916), 95. E. Bingmann, Wie sieht es in Armenien aus?, UdK XlVI (30. Jan. 1921), 36f.
582
Markus Nietzke
Unruhe und Krieg.61 Auf die Vertreibung und Auslöschung der Armenier vor fünf Jahren (=1915/1916) wird in der Flugschrift kein direkter Bezug genommen. 3.8
Dezember 1921:
Das ändert sich aber in einem weiteren Bericht aus dem Kirchenblatt62 im Dezember 1921. Die Arbeit des „Hülfsbundes“ besteht auch in der Unterstützung notleidender armenischer Christen, „von denen so viele da und dort in Kleinasien als versprengte Flüchtlinge im Elend leben. Unter ihnen befinden sich zahlreiche ehemalige Zöglinge oder auch alte 63 treue Mitarbeiter aus den Hülfsbundanstalten.“
In Sachen Evangeliumsverkündigung generell heißt es: „[…] wäre es doch für die Sache des Evangeliums im Orient ein unermeßlicher Schaden, wenn das armenische Volk durch die Verfolgungen nicht nur äußerlich und zahlenmäßig so entsetzlich eingebüßt hätte, sondern auch innerlich darüber 64 zugrunde ginge […]“
Die hier genannten ‚entsetzlichen Einbußen‘ werden sich nicht nur auf das zurückliegende Jahr 1921 bezogen haben, sondern im weitesten Sinne auch auf das, was im Krieg geschah. 4.
Ergebnissicherung
Welche Aktualität die Aufarbeitung der Geschichte des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg in der Türkei hat, zeigte das Nachspiel um die Erklärung zum deutschen Bundestag im Sommer 2016 zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren.65 Ich möchte künftig noch weiter in zeitgenössische kirchliche Literatur und entsprechende Missionsblätter blicken (d.h.: jenseits von den Zeitschriften der Bleckmarer Mission und HELF) und erkennen, inwieweit die Vernichtung der Armenier dort während des Ersten Weltkriegs oder danach reflektiert wurde. Ich hoffe dabei auf eine kritische Auseinandersetzung der Redaktionen. Es wäre den Versuch wert, das Kapitel der Geschichte, das „bis heute nicht befriedigend“66 aufgearbeitet ist, um eine Nuance zu bereichern und damit Texte miteinander und unter uns ins Gespräch67 zu bringen. 61 62 63 64 65 66 67
Hier von mir nur überaus verallgemeinernd auf die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs im Vorderen Orient hinzuweisen muss im Rahmen dieses Artikel genügen. Ich bitte um Nachsicht! E. Bingmann, Zur Lage der deutschen Mission im Orient, UdK XlVI (11. Dez. 1921), 372f. A.a.O., 372. A.a.O., 373. Dieses hier nachzuzeichnen, sprengt bei weitem die Vorgaben zum Erstellen dieses Aufsatzes. Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord (wie Anm. 37), 307. Walker, Literatur-Reviews (wie Anm. 10).
„… den unglücklichen Armeniern gegenüber eine besondere Ehrenpflicht …“
583
Was bleibt nun von diesen Einblicken in die alten, vergangenen Zeilen und Zeiten für die Tätigkeit eines akademisch interessierten Pfarrers in der Lüneburger Heide? Weitere Themen aus einer Fülle von zu bedenkenden Themen für eine Erforschung im Bereich selbstständiger evangelisch-lutherischer Minoritätskirchen im vorigen Jahrhundert sind aus meiner Sicht: a) Das „ekklesiale Bewusstsein“68 damaliger Zeit: Wie und in welcher Weise nahm wer in kirchlicher Verantwortung Anteil am Geschehen im osmanischen Reich? Gab es eine Beteiligung seitens Soldaten oder Offizieren aus diesen Kirchen? Was war opportun, in kirchlichen Zeitschriften zu berichten, und was nicht? Welche Mentalitäten spielten dabei eine ausschlaggebende Rolle? b) Aus heutiger Perspektive die aufgeworfene Frage nach Schuld und Scham einerseits und Trauma-Erfahrungen andererseits im Zusammenhang der 69 Aufarbeitung der Vergangenheit. Hier liegt die Verantwortung nicht nur bei Forschern in der Türkei, sondern zur Wahrheitsfindung gehört auch die Frage, inwieweit wir als Forschende in Deutschland dazu beitragen können, dass sich eine Art Selbstreflexion einstellt, die um unsere möglicherweise völlig ungeahnte Beteiligung – auch nur im entferntesten Sinne – weiß. 5.
Epilog
Hat die Lektüre der alten Zeitschriften und zwei neuerer Veröffentlichungen so etwas wie Empathie für Armenier bei mir ausgelöst? Ja. Überraschenderweise wurde das Thema unerwartet aktuell und konkret durch einen Gedenkgottesdienst seitens der ACK im April 201570 und wieder während der Friedensdekade, (durchgeführt seitens der Ev.-Luth. St.-Peter-Paul-Gemeinde in Hermannsburg unter Beteiligung der Kleinen Kreuzgemeinde [SELK]) im November 2015 in Hermannsburg. Da haben wir von armenischen Nachfahren unter uns gehört, deren Familiengeschichte bis heute vom damaligen Grauen vor 100 Jahren nach wie vor geprägt ist. „Keine Wissenschaft dient im gleichen Maße dem Tage wie die Theologie, die um des lebendigen Gottes willen nach Zeit und Zeitgenossen fragt“71, formuliert Martin Fischer in seinem Aufsatz vom Studierzimmer des Pfarrers. Er hat Recht. 68 69
70 71
Auch diesen Begriff entleihe ich: Klän, Konfessionalisierung und Pluralisierung (wie Anm. 33), 319.331. „Die Reflexion der Vergangenheit könne ‚nur dann heilen, wenn sie nicht von außen als Waffe gegen uns eingesetzt wird, sondern von innen als Selbstreflexion wirksam wird.‘“ Hier wird Jürgen Habermas im Zusammenhang der Frage nach der Aufarbeitung der Vergangenheit als Versuch, der Verleugnung und Abwehr von Schuld zu begegnen. Zitat aus: Michael Beintker, Schuld und Verstrickung in der Neuzeit, in: Ders., Theologische Erkundungen, Tübingen 1999, 27. http://www.oekumene-ack.de/aktuell/nachrichtenarchiv/artikel/artikeldetails/oekumenischergottesdienst-zum-100jaehrigen-gedenken-an-voelkermord-an-den-armeniern/ (Stand: 02.12. 2017). Fischer, Studierzimmer (wie Anm. 2), 506.
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Markus Nietzke
Studieren in einem solch verstandenen Sinne dient dem Leben und Denken, dem Wort und Gebet. Und auch dem, was uns als Zeitgenossen hier, jetzt und heute angeht. Ich denke, damit ist die eingangs gestellte Frage, was der Pastor abends spät eigentlich im Pastorat am Computer macht (heute war es auch so ), in gewisser Weise recht ausführlich beantwortet worden. Ein Thema wie das hier angerissene und doch nur andeutungsweise beleuchtete, wie der Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren, hat seine Aktualität auch heute nicht verloren.
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf Randnotizen zu lutherischer Freiheit und Freikirche aus Südafrika Wilhelm Weber 1.
Südafrika: endlich frei
26 Jahre ist es her, seit der Freiheitskämpfer Mandela am 11. Februar 1990 aus der politischen Verbannung in die Freiheit zurückkehrte. Vier Jahre später wurde Südafrika eine freie Demokratie und er ihr erster Präsident. Es hat lange gedauert.1 1955 wurde der „Freedom Charter“2 verabschiedet und 1962 nahm die Südafrikanische Kommunistische Partei ihr geheimes Parteiprogramm „The Road to South African Freedom“3 an. Das vergangene Jahrhundert Südafrikas war eines der Unfreiheit, Diskriminierung, Rechtsminderung und relativen Rechtlosigkeit, Gefangenschaft, Abschiebung aus angestammter Heimat4, aber ebenso eines der Hoffnung, Emanzipation, Heilung, Freiheit, und Selbständigwerdung.5 Freiheit ist 1
2 3
4
5
Zachariah Keodirelang Matthews, Freedom for my people. The autobiography of Z.K. Matthews: 2 Southern Africa 1901–1968, Cape Town 1986; Nelson Rolihlahla Mandela, Long Walk to Freedom. The Autobiography of Nelson Mandela, Johannesburg 1994; Albert John Mvumbi Luthuli, Let my people go, Cape Town 2006. Congress of the people, Freedom Charter 1955, Kliptown, 30. März 2011, http://www.sahistory.org.za/article/freedom-charter (Stand: 27.12.2016). SA Communist Party, The road to South African freedom: Programme of the South African Communist Party, Januar 1963, http://www.sahistory.org.za/archive/the-road-to-south-africanfreedom-programme-of-the-south-african-communist-party (Stand: 27.12.2016). Peter Delius, The Land belongs to us. The Pedi polity, the Boers and the British in the nineteenth century Transvaal, Berkeley u.a. 1984; Jean Comaroff, John Comaroff, Of revelation and revolution. Christianity, colonialism, and consciousness in South Africa, Chicago/London 1991; Antjie Krog, Country of my skull: Guilt, sorrow and the limits of forgiveness in the new South Africa, Portland 1998; John Maxwell Coetzee, Disgrace, New York 1999; Sampie Terreblanche, A history of inequality in South Africa 1652–2002, Scottsville 2002; J.H. Thompson, Dit was oorlog. Van afkak tot bosbefok. Suid-Afrikaanse dienspligtiges praat, Cape Town 2006; P.G. du Plessis, Fees van die ongenooides, Cape Town 2008; Sean Field, Oral History, community and displacement. Imagining memories in post-apartheid South Africa, New York 2012; Hermann Giliomee, Die laaste afrikanerleiers. ’n Opperste toets van mag, Kaapstad 2012; John Matison, God, spies and lies. Finding South Africa's future through its past, Vlaeberg 2015. Hans-Jürgen Becken, Wo der Glaube noch jung ist. Afrikanische Unabhängige Kirchen im Südlichen Afrika, Erlangen 1985; Beyers Naudé, My land von hoop. Die lewe van Beyers Naude, Kaapstad/Pretoria/Johannesburg 1995; Desmond Mpilo Tutu, No future without forgiveness, London u.a. 1999; Redi Tlhabi, Endings and Beginnings. A story of healing, Auckland Park 2012; Max du Preez, A rumour of spring. South Africa after 20 years of democracy, Cape Town 2013.
586
Wilhelm Weber
bedeutungsschwer, vor allem weil die Welt weitergeht und es gilt, Freiheit in Verantwortung zu bewähren. 25 Jahre nach Mandelas Freilassung stellt sich die Frage, ob die Freiheit Bestand hat.6 Droht, was Achebe feststellt: „Things fall apart. The centre doesn’t hold“?7 Elert präzisiert: „Ob Lösung Erlösung oder Auflösung ist, das ist die Frage.“8 2.
Mission der Lutherischen Freikirche und Gründung einer selbständigen Kirche
Auch in der Kirche wird Freiheit großgeschrieben. Vielleicht besonders groß in der Lutherischen Kirche und erst recht in der sogenannten „Freikirche“. Was ist es um diese kirchliche Freiheit? Die Lutherische Kirche im südlichen Afrika (LCSA) ist eine Tochter der Mission Evangelisch-Lutherischer Freikirchen und hat von ihr nolens volens das Freiheitsverständnis als Teil der Ausstattung geerbt. Wie ist es darum bestellt, wenn sich die junge Kirche anlässlich des 50. Jubiläums ihrer Konstitution am 31. März 1967 auf der Roodepoorter Missionsstation9 als selbständige und freie besinnt? Was ist die gängige Vorstellung von Selbständigkeit und Unabhängigkeit in dieser Kirche? Ist das theologische Erbe noch erkennbar und bestimmt es sie auch noch nach 50 Jahren Unabhängigkeit? Es geht u.a. um Fragen der Übersetzung, Akkommodation und Adaption des freikirchlichen Erbes in der lutherischen Missionskirche über 50 Jahre.10 Ihre damals freudig erwartete und gefeierte Selbständigwerdung war Folge 75-jähriger Vorbereitung der Bleckmarer Mission11.12
6 7 8
9 10
11
12
John Maxwell Coetzee, Waiting for the Barbarians, Baskerville 1980; R.W. Johnson, How long will South Africa survive? The looming crisis, Jeppestown 2015. Chinua Achebe, Things fall apart, New York 1959. 3 Werner Elert, Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 1956, 492. Elert schließt die Ausführungen zur Freiheit nachdenkenswert. (Ders., Das christliche Ethos. Grundlinien einer christlichen Ethik, Tübingen 1949, 313). Bei Ventersdorp im damaligen West-Transvaal heute Tshing, North-West. 2 Lamin Sanneh, Translating the message. The missionary impact on culture, Maryknoll 2009; Friedrich Wilhelm Hopf, Kritische Standpunkte für die Gegenwart, hg. von Markus Büttner und Werner Klän, Göttingen 2012; Werner Klän, Gilberto da Silva (Hg.), Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, Göttingen 2013. Georg Schulz, Der Weg zur Kirchwerdung, in: Lutherische Kirche treibt Lutherische Mission. Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum der Bleckmarer Mission. 1892 + 14.Juni + 1967, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Bleckmar über Soltau 1967, 103–116. Bei den Hermannsburgern seit 1854 bzw. 1857 (Heinrich Voges, Von der Mission über die Missionskirchen zur südafrikanischen Kirche. Die Arbeit im südlichen Afrika, in: Vision: Gemeinde weltweit. 150 Jahre Hermannsburger Mission und Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen, hg. von Ernst-August Lüdemann, Hermannsburg 2000, 798). Andere Kirchen haben nach 1562 begonnen, vgl. u.a. Peter Beyerhaus, Die Selbständigkeit der jungen Kirchen als missionarisches Problem, Wuppertal-Barmen 1956; Richard Elphick, The equality of believers. Protestant missionaries and the racial politics of South Africa, Charlottesville/London 2012; Theo
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf
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Die Festschrift,13 die die Vorbereitung aus Bleckmarer Sicht darstellt, zeigt, was die mütterliche Mission der Tochter in die Selbständigkeit neben Unabhängigkeit noch als Brautschatz mitgibt. Der Herausgeber Pfarrer Friedrich Wilhelm Hopf D.D.14 war Direktor der Mission Evangelisch-Lutherischer Freikirchen während der letzten Vorbereitungsdekade auf diesem Weg zur kirchlichen Selbständigkeit15. Als solcher hat er die „Freiheitstheologie“ des sogenannten Neo-Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts16 auf die Kirchkonstituierung im südlichen Afrika angewandt17. Was das bedeutet, führt er in einigen wenigen, aber präzisen Leitsätzen und Begleitschreiben an die junge Kirche aus. Löhe paraphrasierend, könnte es heißen, die missionarische Kirche bewegt sich in von Gott eröffneter Sendung, seine Freiheit grenzüberschreitend in der Welt zu behaupten und über die Zeiten hinweg die vielen Völker von den Enden der Erde in der Kraft des Heiligen Geistes zur Mitte dieser Freiheit des lebendigen Gottes in Jesus Christus zu bringen.18 Dabei stellt sich die Frage, inwiefern das bekenntniszentrierte Freiheitsverständnis mit dem herrschenden Vorverständnis von Liberalität korreliert bzw. kollidiert.19 Elerts Bezeichnung der theologischen Aufgabe gilt für die vorliegenden Notizen: „Auch dieses Thema (ist) von Gott her zu verstehen.“20 3.
Der Befreite als Nachtigall der Freiheit
Der Reformator hat christliche Freiheit als Mitte des Evangeliums21 entdeckt22 und in der reformatorischen Blüte vor 500 Jahren vielfältig ausgedrückt23. Sie drückt
13 14 15
16 17 18 19 20 21
22
Sundermeier, Mission, Bekenntnis und Kirche. Missionstheologische Probleme des 19. Jahrhunderts bei C.H. Hahn, Wuppertal 1962. Friedrich Wilhelm Hopf (Hg.), Lutherische Kirche treibt Lutherische Mission (wie Anm. 11). Dominik Bohne, Friedrich Wilhelm Hopf (1910–1982). Pfarrer, Kirchenpolitiker, theologischer Publizist, Mann der Mission, Münster 2001. 1961 wird Südafrika Republik und der ANC mutiert in eine bewaffnete Befreiungsbewegung für ein „nicht rassisches Südafrika“. Die Apartheidregierung setzt „getrennte Entwicklung“ durch. Das Ziel ist „unabhängige Bantustans“ zu festigen, dass Menschen nach Rasse und anderen Eigenheiten getrennt, selbständig voneinander leben. Die „schwarze“ Mehrheit lehnt diese Freiheit und Selbständigkeit ab. Andrea Grünhagen, Erweckung und Konfessionelle Bewusstwerdung. Das Beispiel Hermannsburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2010. Hopf, Standpunkte (wie Anm. 10). Wilhelm Löhe, Drei Bücher von der Kirche. Den Freunden der lutherischen Kirche zur Überlegung und Besprechung dargeboten, Darmstadt 1969, 15. 13 Constitution of the Republic of South Africa, Cape Town 2014. Elert, Glaube (wie Anm. 8), 490. A.a.O., 490ff.; Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1968; Timothy Wengert, The Freedom of a Christian 1520, Vol. 1, in: The annotated Luther. The roots of reform, ed. Timothy Wengert, Minneapolis 2015, 467–538. Im Zuge der reformatorischen Erfahrung benennt sich Martin Luder in Luther (eleutherius) um, und zwar schon im Oktober 1517 vor dem „Thesenanschlag“ (vgl. Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2016).
588
Wilhelm Weber
„Mitte und Ziel der neuen, reformatorischen Botschaft aus“24. Das Streben nach ihr hat damalige Menschen in Spannung gehalten und tut es noch. „Der Kampf um den Ruf der Freiheit durchzieht die Kirchengeschichte […] Die christliche Freiheit wird geschenkt, nicht geraubt, und mehr erlitten als gelernt.“25 Ebeling benennt das Vermächtnis der Reformation als „Ruf zur Freiheit“ und weiß, dass es „Bedenken, Anstoß und Widerspruch“26 erregt und Erklärung bedarf: „Die Frage nach dem Vermächtnis der Reformation reißt uns […] unvermeidlich in den Streit um die Freiheit.“27 Wie steht die LCSA zu den Grundlagen nach 50 Jahren? Darum wird zuerst ein „revisit“ der Ausgangsposition bei Hopf und ein „relecture“ der Ursprünge bei Luther vorgenommen. 4. 4.1
Hopf im Kampf um die Freiheit der Kirche Präliminarien
Hopf sah seine Aufgabe vor und nach seinem Ausschluss aus der Landeskirche darin, den Unterschied zwischen Bekenntnis- und Einheitskirche zu erklären und 23 Martin Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium Martini Lutheri/Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Ein Vorspiel von Martin Luther (1520), in: Die Kirche und ihre Ämter, hg. von Günther Wartenberg und Michael Beyer, Leipzig 2009, 173–375; Martin Luther, Freiheit und Lebensgestaltung. Ausgewählte Texte, hg. von Karl-Heinz zur Mühlen, Göttingen 1983; Martin Luther, Luthers Psalmen-Auslegung, hg. von Erwin Mühlhaupt, Göttingen 1959. Seine relevanten Auseinandersetzungen mit Schwärmern wie Karlstadt und dem Humanisten Erasmus fehlen wegen Platzbegrenzung, ebenso wie die aussagekräftigen Schriften an die Bauern vor und nach dem Bauernkrieg und seine politischen Schriften z.B. „An den christlichen Adel […]“ (1520), „An die Ratsherrn […]“ (1526), „Von den Konziliis und Kirchen“ (1539). 24 zur Mühlen, Freiheit und Lebensgestaltung (wie Anm. 23), 228. 25 Käsemann, Freiheit (wie Anm. 21), 8. 26 Gerhard Ebeling, Frei aus Glauben. Das Vermächtnis der Reformation, Bd. 1, in: Lutherstudien, Tübingen 1971, 308–329. 27 A.a.O., 311. Es wird kontrovers beurteilt, ob Luther das mit der „Freiheit in Verantwortung“ (Ernst Alfred Wilhelm Weber, Der Begriff der Verantwortung in der Theologie Martin Luthers und Dietrich Bonhoeffers, Pretoria 1975; Oswald Bayer, Freiheit als Antwort, Tübingen 1995; Georg Schmidt, Luther und die Freiheit seiner „lieben Deutschen“, in: Der Reformator Martin Luther 2017, hg. von Heinz Schilling, Berlin u.a. 2014, 173–194; Georg Schmidt, Die ernestinische Alternative. Wahres Luthertum und aggresive Politik, Bd. 83, in: Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung, hg. von Christopher Spehr, Göttingen 2016, 71–87) recht dargelegt hat oder ob die sogenannte „Befreiungstheologie“ im Gefolge Münzers recht hat, wenn sie ihn als inkonsequent ablehnen. Luthers Haltung im Bauernkrieg (Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Martin Luther. Deutsch-deutsche Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2012, 277–315, hier: 279), die Freiheit aus Glauben und soziale Veränderung nicht gleichsetzt (zur Mühlen, Freiheit und Lebensgestaltung [wie Anm. 23], S.241), sorgt für Missverständnisse (Bayer, Freiheit [wie siehe oben], 106; Notger Slenczka, Christliche Hoffnung, in: Luther Handbuch, hg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2010, 435–443; Peter Blickle, Luther und die Bauernkriege. Interpretationen zwischen den Gedenkjahren 1975–2017, in: Der Reformator Martin Luther 2017, hg. von Heinz Schilling, Berlin u.a. 2014, 233–243). Es geht um die angemessene Auslegung und Anwendung des paulinischen Leitsatzes (Gal 5,1–2).
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf
589
was solche „Bekenntnisposition kirchlich und rechtlich bedeutete.“28 Die programmatische Frage nach der Gültigkeit konsequenter lutherischer Bekenntnisbindung als Ausdruck christlicher Freiheit in Kirche und Mission beantwortet er positiv und befürwortet sie „noch schärfer und klarer“29 zu formulieren als die Väter.30 Freiheit ist hier im Sinne von Selbständigkeit zu verstehen, d.h. Freiheit von außerkirchlichen Faktoren und gleichzeitig ausschließliche Bestimmung durch Schrift und Bekenntnis, nicht unbegrenzte Autonomie des Menschen und seiner ratio wie beim aufklärerischen Kant. In der Bindung an die Heilige Schrift als dem verbürgten Gotteswort und seiner verbindlichen Auslegung in dem lutherischen Bekenntnis erwächst der Kirche die Freiheit von allen anderen Kriterien und Meinungsmachern. „Hoc dixit Dominus!“ ist maßgeblicher Rahmen für kirchliches Denken, Reden und Handeln. Vom heilsamen Zentrum begabt und zugerüstet mit Kraft aus der Höhe erwächst ihr die notwendige Gabe der Geisterunterscheidung bei Grenzüberschreitungen und im Begegnen des Fremden. Leben gebunden in Gott, doch frei den Juden ein Jude und Griechen ein Grieche zu sein, ist „zutiefst 31 eine Frage des Glaubens“. Die theologischen Klärungsversuche werden in der von ihm als Schriftleiter herausgegebenen Zeitschrift „Lutherische Blätter“ auf internationaler Ebene weitergeführt. Als Seminarleiter in Bleckmar und Missionsdirektor der Mission Evangelisch-Lutherischer Freikirchen (MELFK) hat Hopf seine Sichtweise von bekenntnisgebundener Mission vertreten. Er vertrat den Leitsatz, dass lutherische Kirche lutherische Mission treiben und lutherische Mission zur lutherischen Kirche führen müsse. In diesem Sinne befürwortet er die Selbständigwerdung als Bodenständigkeit der Lutherischen Kirche im südlichen Afrika (LCSA), aber nicht abgesondert als „Bantukirche“ von der aus Europa sendenden „weißen“ Kirche à la „Apart32 heidsideologie“, sondern verbunden als eine, heilige christliche Kirche. Getrennt aber um des Evangeliums willen von allen, die es verkürzen, fälschen oder verwässern. Darum fordert er: „Eine junge lutherische Kirche wird ihre Selbständigkeit gerade dadurch beweisen, dass sie von sich aus den Zusammenhang mit der rechtgläubigen Kirche festhält.“33
28 29 30 31 32
33
Bohne, Hopf (wie Anm. 14), 173. Friedrich Wilhelm Hopf, Lutherische Kirche treibt Lutherische Mission, in: Ders., Kritische Standpunkte (wie Anm. 10), 219–254, hier: 244. Bohnes Schriftenverzeichnis (Bohne, Hopf [wie Anm. 14]), 319ff. zeigt, wie Hopf sich zeitlebens mit den lutherischen Vätern und ihrer Kirchen- und Missionsauffassung auseinandergesetzt hat. A.a.O., 160. Beyerhaus: „Die Kirche kann nur leben im Zusammenhang der Rebe mit dem Weinstock. Es kommt also zu keinem selbständigen Sein der Kirche, auch und gerade nicht als seines Leibes!“ (Selbständigkeit [wie Anm. 12], 282) Friedrich Wilhelm Hopf, „Selbständigkeit der Kirche“ nach evang.-luth. Lehre, in: Ders., Kritische Standpunkte (wie Anm. 10), 157–161, §16.
590
Wilhelm Weber
4.2
Ringen um die Mitte: Jesu Christi Alleinherrschaft
Die Hopf’sche Bekenntnisstellung ist eine konfessorische Kampfesansage34, die Altar und Kanzel nicht der übermächtigen Opposition freistellt, sondern angemessen35 streitig macht in freier Bindung an den Herrn, der seine Kirche von dort baut und zwar auf sakramentale, d.h. realpräsente Weise. Es geht in Hopfs Ringen um die Ober- und Deutungshoheit in Kirche und Mission.36 Es ist der Herr, der das Sagen hat und sich durchsetzt.37 Die Gnadenmittel sind seine wirkmächtigen Taten und Zeugnisse38, die er als Heilsmitte in Kirche und Welt testamentarisch fest- und freigesetzt hat,39 um Glauben zu schaffen […] ubi et quando visum est Deo40. So gewährleistet er die „Freiheit der Kirche“41. Hopf betont, dass sich die kirchliche Selbständigkeit einer Bekenntniskirche grundsätzlich unterscheidet von der sonst propagierten Freiheit „der farbigen Völker auf politischem, wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet“42. 4.3
Der Taterweis christlicher Freiheit
Hopf verweist im Jahr nach der Konstituierung der lutherischen Kirche im südlichen Afrika in seinem Aufsatz „Ein Jahr der Bewährungsproben“ (1968)43 auf Löhe (1808–1872), dass dieser den „Tatbeweis“44 erbringen wollte, „dass Gott der Herr ‚uns arme Lutheraner‘ von den Werken der Inneren Mission und der Diakonie nicht deshalb ausschließe, weil ‚wir das Fähnlein der ungemischten Abendmahlsgemeinschaft‘ emporhielten.“45 Das erhoffte sich Hopf ebenso von der Bleckmarer Mission.46 Er meint gewiss nicht nur die Sakramentsfeier, doch wie für Löhe ist sie für ihn das Schibboleth von Orthodoxie und -praxis.
34 35 36
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
A.a.O., 158, §9 zum „ständige[n] Kampf um die Reinerhaltung der Gnadenmittel.“ Vgl. a.a.O., 157 §1. Vgl. ApolCA VII, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2014 (BSELK), 408,12–22. Hopf, Lutherische Kirche 1967 (wie Anm. 13), 162. Ebd. „Seht, wie so mancher Ort Hochtröstlich ist zu nennen, Da wir ihn finden können Im Nachtmahl, Tauf’ und Wort.“ (Johann Rist, 1651). Vgl. CA V. Hopf, Lutherische Kirche 1967 (wie Anm. 13), 161. Vgl. ders., Selbständigkeit der Kirche (wie Anm. 33), 157, §4. A.a.O., S.161 §17. Friedrich Wilhelm Hopf, Ein Jahr der Bewährungsproben, in: Ders., Kritische Standpunkte (wie Anm. 10), 255–264. Bohne, Hopf (wie Anm. 14), 264. Ebd. Ebd. Vgl. Volker Stolle, Wille und Wirklichkeit, o.O. 1969.
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf
591
Bischof Schulz D.D. war in der LCSA ein gutes Vierteljahrhundert Oberhirte47. Die rechtliche Bekenntnisbindung der Kirche war eindeutig wie unter seinem Nachfolger Tswaedi auch. Entsprach die Umsetzung dessen im Alltag der Kirche dieser Zielsetzung?48 Im Gegensatz zur Lehre, in der es keine Kompromisse geben darf, bleibt unser Leben mangelhaft, wie christliche Liebe verglichen mit seligmachendem Glauben.49 Das entschuldigt nicht, erklärt aber den leidigen Sachverhalt. Elert urteilt: „man kann aus den sichtbaren Folgen allein nie sicher entscheiden, ob die Freiheit usurpierte, dämonische Freiheit oder Freiheit der Kinder Gottes ist.“50 Die wahre Kirche bleibt in dieser Welt gefährdet. Um Christi willen und durch ihn wird sie das Ziel der ecclessia triumphans erreichen. Noch sind Verführer, Schismatiker und Häretiker auf dem Plan.51 Der Teufel macht ein großes Geschrei. Die verführbaren Gläubigen werden von Sünde, Schanden und Laster versucht.52 Auseinandersetzung, Standfestigkeit und Wachsamkeit sind in der ecclesia militans nötig. Die Mitte des Glaubens, der Kirche und Mission werden in Frage gestellt, stehen angeblich zur Disposition. Dabei sind die Amtsträger der Kirche53 aufgerufen, den wahren Schatz der Kirche zu verteidigen und selbst unter Widrigkeiten zu bezeugen und auszuteilen.54 Sie tun das in der Regel im Zusammenhang mit der christlichen Gemeinde. Der Zuspruch von Christi Gegenwart gilt ihnen allen.55 Eisenach und Leuenberg liegen zurück ebenso der Kairos von Sharpeville, Belhar, Marikana und Nkandla. Doch noch ist das Ende nicht da!56 Es ist entscheidend, dass in Kirchgründungen die Bereitschaft und Voraussetzung gegeben sind „den Kampf gegen alte und neue Irrlehren zu führen sowie die entsprechenden Grenzen der Kirchengemeinschaft anzuerkennen und zu verteidigen.“57 47
48
49 50 51 52 53 54
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Diese Amtszeit dauerte 26 Jahre und 8 Monate. Die Kirchkonstituierung wurde am 31. März 1967 vollzogen. Schulz wurde am 2. April als Bischof eingeführt. Am 2. Advent, dem 5. Dezember 1993, führte er David Phaladi Tswaedi DD auf Roodepoort ein und übergab ihm das Bischofskreuz. Die wesentliche Unterscheidung von „de iure“ und „de facto“ wurde von lutherischen „Freikirchlern“ als entscheidend für den kirchlichen Bekenntnisstand und Unterscheidungskriterien eingefordert. (Stolle, Wille und Wirklichkeit [wie Anm. 46]). Hopf zur Verborgenheit und Erkennbarkeit der Kirche in §8 (Hopf, Lutherische Kirche 1967 [wie Anm. 13], 162). Elert, Ethos (wie Anm. 8), 312. „Vernichtungsplänen und Zerstörungsabsichten der Feinde Gottes […]“ (Hopf, Lutherische Kirche 1967 [wie Anm. 13], 163) Nikolaus Selnecker (1572/1578): „In dieser schwern betrübten Zeit […]“ (LKG 53,2–9). „Wahre Selbständigkeit der Kirche steht und fällt mit der Freiheit des geistlichen Amtes.“ Hopf, Lutherische Kirche 1967 (wie Anm. 13), 162 §10. Hopf schreibt: „Mit der Bindung der Kirche an ihre Kennzeichen ist ihr, der ständige Kampf um die Reinerhaltung der Gnadenmittel auferlegt.“ (Hopf, Lutherische Kirche 1967 [wie Anm. 17], 162 §9; vgl. A. F. C. Vilmar, Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik, Darmstadt 1968, 3ff.). Hopf, Lutherische Kirche 1967 (wie Anm. 17), 39. Das ist nicht neu: „Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit, ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit […] zu preisen und zu loben das Evangelium.“ (Karl Johann Philipp Spitta, 1827, http://www.liederdatenbank.de/song/13424 (Stand: 22.09.2017) Hopf, Lutherische Kirche 1967 (wie Anm. 13), 163, §III,14.
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5.
Wilhelm Weber
Luther: Reformation und Befreiung
Als der Mönch vor Kaiser und Reich in Worms seine Bindung durch Gottes Wort bekennt58, bezeugt er sich in dieser Verbindlichkeit frei bezüglich anderer Richter und Normen59. Der absoluten Abhängigkeit von Gott entspricht Autarkie gegenüber allem anderen. Sie wird ihm von außen durch Gottes Wort verbürgt und im Evangelium zugesagt. Für ihn ist geistliche Freiheit „ein Verhältnis zwischen Gott und Mensch“60. Er ist kein autonomer Mensch der Moderne, sondern Christ, der sich verbindlich an die Schriften der Apostel und Propheten gewiesen weiß. Wie das Schulz thesenartig formuliert: „Die Clausula Petri muß das Leben des Christen in den weltlichen Ordnungen so bestimmen, dass er sich niemals mit dem Hinweis auf Gesetze, Anordnungen oder Befehle der Obrigkeit entschuldigen kann, wenn er dem Willen Gottes in weltlichem Bereich zuwiderhandelt.“61 5.1
Freiheit in Gottes Mission62
1519 legt Luther die Psalmen zum zweiten Mal aus und erarbeitet sich so das exegetische Rüstzeug, mit dem er den seit 1517 ausgebrochenen Kampf um die Reformation bestritt. Torheit manifestiert sich darin, dass sie Gott nicht anerkennt noch fürchtet, geschweige denn vertraut und liebt.63 Das ist die erbsündliche Verdorbenheit aller Menschen. Gottes Gnade vermittelt in der Taufe neues Leben in Christus durch die Wiedergeburt im Heiligen Geist. Die grundsätzliche Unfreiheit des Menschen hat Christi Inkarnation, Heilswerk und andauernde Mission zur Folge. Die natürliche Gotteserkenntnis der Menschen kann nicht retten. Vielmehr verführt sie in tieferen Götzendienst. Darum ist „Neutralität“ eine Täuschung.64 Der Mensch ist entweder im rettenden Glauben oder in Unglauben verloren. „Denn wo keine wahre Kenntnis Gottes ist, da ist auch keine wahre Liebe […] Sie tun nicht allein Böses und sind ungläubig, sondern sie tun auch
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59
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62 63 64
Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 1983; Robert W. Bertram, Augsburg: A modern „Time for confessing“ in: A time for confession, ed. Michael Hoy, Grand Rapids 2008, 1–22; zur Mühlen, Freiheit und Lebensgestaltung (wie Anm. 23), 229. „Bin ich kein Prophet, so bin ich aber doch für mich selbst gewiß, daß das Wort Gottes bei mir und nicht bei jenen ist. Denn ich habe die Schrift für mich und sie nur ihre eigene Lehre“ (Mühlhaupt, Luthers Psalmenauslegung [wie Anm. 23], 201). Elert, Glaube (wie Anm. 8), 493. Georg Schulz, Die Clausula Petri – Zur Frage der Gehorsamsverweigerung des Christen in den weltlichen Ordnungen, in: Unter einem Christus sein und streiten. Festschrift zum 70. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Hopf DD, hg. Jobst Schöne und Volker Stolle, Erlangen 1980, 75–105, hier: 100 § 7. Mühlhaupt, Luthers Psalmen-Auslegung (wie Anm. 23), 159–203. Psalm 14,1f. Von der Erbsünde vgl. CA II „Der Ander“ (BSELK, 94f.). Mühlhaupt, Luthers Psalmen-Auslegung (wie Anm. 23), 200.
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niemals etwas Gutes und sind niemals fromm.“65 Das Wort Gottes, wie Psalm 14, lehrt Anthropologie aus theologischer Perspektive. In der sündlichen Beschaffenheit des Menschen regiert nicht Friede und Freude, wie das romantische Bild des „glücklichen Wilden“ suggeriert. Vielmehr ist er nach Vers 5 bestimmt von Furcht und Schrecken. Jedoch, wer im Glauben von außen gerechtfertigt ist, wird von Gott regiert und hat partizipatorisch an allem Guten teil: „Freiheit ist […] nicht primär eine Idee, sondern ein Widerfahrnis.“66 Die Befreiten sind Gottes missionarische Zeichen in der Welt, um die im Unglauben gefangenen einzuladen, ihm zu vertrauen, weil er „Armen beisteht und seine Hoffnung ist“67, Luther erklärt die christologisch fundierte Mission: „Sowie nämlich Christus von Gott ausgegangen ist und uns zu sich gezogen hat, so müssen auch wir, wenn wir durch den Glauben zu ihm eingegangen sind, herausgehen, um andere heranzuziehen, nur danach trachtend, daß wir allen dienen und viele zusammen mit uns retten.“68 5.2
Freiheit durch die Taufe69
1520 schreibt Luther eine Reihe von reformatorischen Schriften zur evangelischen Freiheit, womit die babylonische Gefangenschaft, mit der die päpstliche Institution die Kirche gefangen hielt, überwunden wurde.70 Die emanzipierende Konsequenz der evangelischen Freiheit ist, dass Gottes Testamente in Gebot und Zusage Gehör finden, während andere Stimmen relativiert werden und nicht maßgeblich bleiben. Die römische Sakramentstradition wird korrigiert und auf Taufe und Abendmahl reduziert. Bisher waren Sakramente nicht für, sondern gegen den Glauben71 und als solche Zwangsmittel, die Kirche unevangelisch gefangen zu halten. Dagegen postuliert Luther die „Taufe und ihre Freiheit.“72 Dabei geht er die notwendige Reform nicht revolutionär an.73 In den Invocavit-Predigten betont er, dass das Sakrament für Angefochtene eingesetzt und der Sünden Menge durch Liebe zu erdulden ist. Er predigt: 65 66 67 68 69 70 71
72 73
A.a.O., 198f. Ebeling, Frei aus Glauben (wie Anm. 26), 325; vgl. Vishal Mangalwadi, Truth and Transformation. A manifesto for ailing nations, Seattle 2014. Mühlhaupt, Luthers Psalmen-Auslegung (wie Anm. 23), 202. zur Mühlen, Freiheit und Lebensgestaltung (wie Anm. 23), 1983, 17. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (wie Anm. 23), 173–375. Erik H. Herrmann, The Babylonian Captivity of the Church 1520, in: Church and Sacraments, ed. Paul W. Robinson, Minneapolis 2016, 9–129. Herrmann fasst zusammen: „Christians are being fleeced, coerced, and misled by those who should be guiding and caring for consciences. The errors of Rome are intolerable because they are so injuirious to faith […] (by) the pastoral implications of Rome’s misuse and tyranny.“ (Hermann, Babylonian Captivity [wie Anm. 70], 10f.). „Verum, haec interim de Baptismo et libertate eius, satis.“ (Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae [wie Anm. 23], 296) Vgl. Ebeling, Frei aus Glauben (wie Anm. 26), 335.
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„Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis an den Himmel. Die Liebe, sag ich, ist die Frucht dieses Sakraments […] Ihr aber wollt von Gott all sein Gut im Sakrament nehmen und wollt es nicht in der Liebe wieder ausgießen, keiner will dem andern die Hände reichen, keiner nimmt sich des andern ernstlich an […] Das ist zum Erbarmen. Das ist euch sehr lange gepredigt, all meine 74 Bücher sind dahin gerichtet und davon voll, den Glauben und die Liebe zu treiben.“
Die Kraft der Taufe ist durch Werkerei75 überschattet worden, obwohl Gott durch sie Vergebung der Sünden schenkt. „Da siehst Du, wie reich ein Christenmensch, daß heißt ein Getaufter, ist.“76 Die Buße ist eine ständige Rückkehr zur Taufe und somit die praktische Ausführung der Taufe im Leben der neuen Kreatur, wie Luther Römer 6,4 in der 4. Tauffrage auslegt77. So wirkt sich die Gabe der Rechtfertigung schöpferisch „ohn’ unser Verdienst und Würdigkeit“ im Glauben an die Verheißung aus. Die Taufe kommt im Tod zum Ziel. Dem dient das tägliche Absterben des sündlichen Wesens und die „Lebendigmachung des Geistes“78. Darum ist Sterben keine Katastrophe, sondern Erfüllung der Taufe. Luther geht noch weiter: „Je Schlimmeres wir erleiden, desto glücklicher entsprechen wir der Taufe.“79 Darum kann er sagen: „Dass wir getauft werden, das heißt getötet werden und im Glauben an Christus leben.“80 Das ist die paradoxe „Glorie unserer Freiheit.“81 Die moritificatio widerstreitet dem alten Adam, der nicht fassen kann, dass Gottes Gnade, Güte (Chesed) besser als Leben ist.82 Angesichts der evangelischen Heilstatsachen kritisiert Luther Papst & Co., dass sie die unterdrückt haben.83 Doch die Taufe ist Gabe Gottes, wozu er „allen Völkern und allen Menschen jeglichen Staates freien Zugang […] gewährt“84. Er stellt die Kindlein frei und sichert sie so vor „Tyrannei von Habgier und Irrglaube“85 ab.
74 75 76 77 78 79
80 81 82 83 84 85
Martin Luther, D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung: Die Passions- und Ostergeschichten aus 2 allen vier Evangelien, hg. von Erwin Mühlhaupt, Bd. 5, Göttingen 1954. Vgl. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (wie Anm. 23), 285. A.a.O., 259. A.a.O., 273; vgl. David P. Scaer, Baptism, ed. John R. Stephenson, Bd. 11 , St. Louis 1999. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (wie Anm. 23), 275. Darum ist die frühe Verfolgungs- und Märtyrergeschichte die glücklichste der Kirche gewesen, denn die Kraft der Taufe herrschte in ihr unumschränkt (Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae [wie Anm. 23], 274: „pleno imperio“). Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (wie Anm. 23), 277. A.a.O., 275ff. Vgl. Ps 63,4; vgl. Elert, Ethos (wie Anm. 8), 304f. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (wie Anm. 23), 277. A.a.O., 253. Ebd.
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf
5.3
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Frei im Glauben und gebunden in Liebe86
Luther fasst hier „das neue Gesamtverständnis des reformatorischen Christentums“87 zusammen. Die „Zentralanschauung“ der reformatorischen Botschaft besagt: „Die Freiheit gründet im Glauben und wirkt sich in der Liebe aus“88. Das liegt daran, dass der Mensch nicht durch äußere Dinge frei oder gebunden wird.89 Die evangelische Freiheit ist eine Konsequenz der „Predigt von Christus“90 und besteht im Vertrauen auf Gottes Verheißung, die er durch Gnadenmittel vermittelt. Durch den Glauben hat der Mensch Anteil an der Freiheit Christi, im „fröhlichen Wechsel und Austausch“ mit ihm. „Ist nun das nit ein fröhliche wirtschafft / da der reyche / edle / frummer breudgam Christus / das arm vorachte boszes hurlein zur ehe nympt / und sie entledigt von allem ubell / zieret mit allem gutern.“91 Sie traut ihm und hat so alles, was er verspricht. So erfüllt der Glaube das erste und alle Gebote Gottes.92 So werden im Glauben alle Christen zu Priestern93 und Königen. Das bezeichnet eine „geistliche Herrschaft, die da in der leiblichen Unterdrückung regiert […] Siehe, was ist das für eine köstliche Freiheit und Macht der Christen!“94, denn es geschieht unter dem Kreuz und gegen allen Augenschein allein durch den Glauben.95 Dieses ist eine zutiefst fruchtbare Vereinigung, die gute Werke des lebendigen Glaubens hervorbringt. Der Glaube ist stets tätig und gönnt und tut dem Nächsten alles Gute. Er eignet sich des Nächsten Not zu und trachtet danach, ihm zu helfen wie Christus ihm zuerst geholfen hat. Die christliche Freiheit im Glauben ist eine Freiheit zur Liebe.96 Das ist kein Ruhekissen.97 Im Gegenteil, der Christ ist dem Gesetz Gottes untertan, wird von ihm reguliert und diszipliniert. Im Verzicht98 wird dem neuen Menschen Raum und Luft gegeben, dem alten Adam jedoch genommen. Im Leben aus der Taufe ist der Christ zu selbstlosem Dienst befreit. Luther fasst zusammen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“99 „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“100 D.h. 86 87 88 89 90 91 92 93
Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, (wie Anm. 27), 277–315. A.a.O., 279. A.a.O., 280. A.a.O., 283. A.a.O., 285, vgl. auch a.a.O., 297–299. A.a.O., 290. A.a.O., 293. Dieses Priesteramt macht uns „würdig […] vor Gott zu treten und für andere zu bitten“ (a.a.O., 295). 94 Ebd. 95 A.a.O., 295–297. 96 „Nicht der ist frei, der tun kann, was er will, sondern der ist frei, der wollen kann, was er tun soll.“ (Elert, Ethos [wie Anm. 8], 304). 97 Vgl. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, (wie Anm. 27), 299ff. 98 Vgl. a.a.O., 301; vgl. Röm 7,22f., I Kor 9,27 und Gal 5,24. 99 A.a.O., 281. Vgl. I Kor 9,19. 100 Ebd. Vgl. Röm 13,8.
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„das eyn Chrsten mensch lebt nit ynn yhm selb / sondern ynn Christo vnd seynem nehstenn / ynn Chrsto durch den glauben / ym nehsten / durch die liebe / durch den glauben feret er vber sich yn gott / ausz gott feret er widder vnter sich durch die liebe / vnd bleybt doch ymmer ynn gott vnd gottlicher liebe […] Sihe das ist / die rechte / geystliche / Christliche freyheyt / die das hertz frey macht / von allen sundenn / gesetzen / vnd gepotten / wilch alle andere freyheyt vbirtrifft / wie der hymell die er101 denn / Wilch geb vns gott recht zuuorstehen vnd behaltenn / AMEN“ .
5.4
Testfall: Luther zum Bauernkrieg
Bereits vor dem Bauernkrieg äußert sich Luther zum Thema „Bauernfreiheit“ und zwar mit einer gewissen Präferenz für die Bauern102. Jedoch nachdem seine Vermahnung überhört worden ist, schlägt das in Enttäuschung und Abneigung um.103 Die theologische Haltung Luthers zeigt sich vor und nach dem Krieg geradlinig und unbeirrt. Er wehrt sich durchgehend gegen eine Vermischung von geistlichem und weltlichem Recht. Die Freiheit zu der uns Christus berufen hat, ist nicht mit dem Anspruch auf die politisch-soziale Freiheit gleichzusetzen. Das ist die crux und führt zum status confessionis. Er meint, die Enthusiasten und falschen Propheten wie Münzer und Karlstadt verführten das Volk, indem sie ihm falsche Hoffnungen weckten. Doch Luthers nüchterne Vermahnung verklingt wirkungslos. Die Bauern gehen zum Waffengang über. Sie meinen sich im Recht und fordern es für sich ein. Sie greifen über berechtigte Forderungen hinaus und nehmen, was sie können. Und die Fürsten schlagen zurück. Erbärmliches geschieht! Und weil sie Gottes Gebote übertreten und auch geltendes Recht, gibt er sie reaktionärer Strafe frei. Die Warnung, dass der Krieg schlimm ausgehen wird, bewahrheitet sich aufs furchtbarste. Nicht nur Papst und Kaiser, sondern auch die Bauern verschließen sich dem Evangelium und der verantwortungsvollen Freiheit im Unglauben. Der Bauernkrieg wird zur Krise der Reformation. „Es ist ein nicht zu bemeisterndes Geschehen, das im104 mer neue Fragen aufwirft.“
101 A.a.O., 314. 102 Woraus aber „kein Privileg für den Bauernstand“ (Siegfried Bräuer, Luthers Beziehung zu den Bauern, in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, hg. von Helmar Junghans, Berlin 1985, 457–472, hier: 457) abzuleiten ist. Vgl. Martin Luther, Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu verhäten vor Aufruhr und Empörung, Bd. 2, in: Luthers Werke in Auswahl., hg. von Otto Clemen, 300–310. Bonn 1912 und Martin Luther, Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben, Bd. 3, in: Luthers Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen, Bonn 1913, 47–68. 103 Rudolf Frenzel zitiert bei Bräuer, Luthers Beziehung (wie Anm. 102), 458. Vgl. Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauer, Bd. 3, in: Luthers Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen, Bonn 1913, 69–74, und Martin Luther, Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, Bd. 3, in: Luthers Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen, Bonn 1913, 75–93. 104 Hermann Dorries zitiert bei Bräuer, Luthers Beziehung (wie Anm. 102), 462.
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Christen sind der Obrigkeit untergeordnet. Von dieser Schuldigkeit befreit die Taufe nicht. Sie stellt weder Hab und Gut jedem frei, noch stiftet sie freie Gütergemeinschaft wie die „vnsinnigen bawren toben“105. Die der Apostelgeschichte war freiwillig und zwar unter den Christen, doch nicht erzwungen für reiche Herren wie Herodes oder Pilatus. Darum sind die Bauern frei, ihr Hab und Gut zu teilen, doch verbietet das siebte Gebot den Griff nach fremdem (d.h. unrechtem) Gut.106 6.
Folgerungen
Zur Anthropologie: Gefangen durch die Sünde, befreit durch Christi Heilswerk. Gottes Gesetz gilt seinen menschlichen Geschöpfen ohne Unterschied. – Philosophisch wird postuliert: „Du kannst, denn du sollst!“ – Nach göttlichem Urteil ist der Mensch schuldig, unfrei und unfähig sich zu helfen. – Luther unterscheidet theologisch Sünder und Gerechte, aber nicht rassistisch zwischen Schwarz und Weiß.107 · Freiheit ist der Freispruch Gottes des Sünders von dieser Schuld.108 – Der Heilige Geist beruft usw. aus Gnaden zum Glauben durch Gnadenmittel. – Durch die Taufe werden Sünder mit Christus vereint, damit sie geheiligt leben, ihm zur Ehre und Mitmenschen zu Dienst. – Geschlecht, Alter, Rasse usw. disqualifizieren nicht zur Taufe usw. · Christen bleiben zeitlebens simul iustus et peccator. – Erst in der Vollendung wird es heißen non posse peccare.109 – Die fünfte Bitte des Vaterunsers ist unser tägliches Gebet. – Christliche Freiheit gilt unter eschatologischem Vorbehalt.110 · Die evangelische Rechtfertigung des Sünders gilt ohne Ansehen der Person. – Darum sind Hochmut und Verzweiflung verfehlt. – Der himmlische Vater hat uns als Kinder angenommen. – Christus wurde unser Bruder. – Darum sollen wir einander als Geschwister annehmen. – Diskriminierung und Verachtung, Rassismus oder Xenophobie haben Gottes Gebot gegen sich.
·
105 Luther, Wider die Rotten (wie Anm. 103), 71. 106 Ähnlich fünftes und sechstes Gebot. 107 Die Bezeichnungen „Juden“, „Muslime“, „Römer“, usw. sind nicht rassische, biologische oder auch nationale Kategorien, sondern theologische bzw. konfessorische, religiöse. Es ist zu beachten, dass Luthers Bauern, Fürsten, Ratsmitglieder usw. nicht deckungsgleich mit heutigen Arbeitsverhältnissen in Südafrika sind. Farmer sind wohl eher mit Fürsten als mit Kleinbauern der Reformationszeit zu vergleichen, aber auch das ist eine Verallgemeinerung. Arbeitgeber und -nehmer, gewählte Abgeordnete in einer Demokratie gab es damals nicht und stellen die Kirche vor neue Herausforderungen. 108 I Tim 2,4; vgl. Volker Stolle, Gottes Hilfe für alle Menschen (1.Timotheus 2,4), in: Schöne, Stolle, Unter einem Christus sein (wie Anm. 61), 26–36. 109 Elert nennt das Ziel „Totalfreiheit“ (Elert, Ethos [wie Anm. 8], 313). 110 Somit gehört es „streng genommen bereits zu den ‚letzten Dingen‘“ (Elert, Glaube [wie Anm. 8], 490, vgl. ders., Ethos [wie Anm. 8], 310).
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·
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Wenn Unrecht erlitten wird, gibt Luther den Rat: – Die Sache ist Gott anheimzustellen, denn er wird es wohl machen! – Das eigene Schuldbekenntnis ist stets fällig z.B. fünfte Bitte des Vaterunses, vgl. Lk 6,27f. – Das Gebet hat Gottes Gebot und Verheißung gegen Mächte und für Befreiung. – Fliehen ist besser als Bleiben oder gar bewaffneter Waffengang.111 – Das Wort soll eifrig protestieren und zur Besserung dienen.
Zur Ekklesiologie: Geschart um den Herrn, ausgesandt in die Welt · Die Heiligen Gottes sind in der Kirche um den gegenwärtigen Herrn versammelt. – Mit seinem Wort schafft und erhält er den Glauben. – Mit seinem Leib und Blut tut er eben das und erhält sie so in Gemeinschaft mit sich und untereinander. – So rüstet er die Gemeinde zum liebevollen Dienst zu in Kirche und Mission. – Über Grenzen der Gemeinde, Nation, Religion usw. hinweg. · Das Evangelium ist ein fahrender Platzregen, – Kirche bleibt in Bewegung;112 – Christen bleiben wanderndes Gottesvolk; – Pastoren sind „stehengebliebene Missionare“113. · Gott befreit von bösen Mächten zum gläubigen Gehorsam, – damit seine Kirche sich in Liebesdienst bewährt. – Sie soll sich nicht einfangen lassen durch Ideologien, leere Versprechen usw. – Gewissensschulung durch Gottes Wort und Luthers Lehre bleibt nötig. – Kritische Distanz im Sinne der clausula Petri gilt es einzuüben. – Legalisierung ist keine theologische Legitimation. – Macht hat nicht immer recht, ebenso wenig Geld. – Die Seinen hören seine Stimme. 7. 7.1
Praktische Auswirkungen der Freiheit Visitation als gegenseitige Bestärkung und Förderung Evangelischer Freiheit
Wie in Luthers Zeiten, werden Visitationen in der LCSA als „Teamwork“114 durchgeführt. Sie kann das, weil sie die Freiheit hat, von der Luther115 zeugt.116 Visitation ist 111 Das ist eine Frage des Berufs. Pfarrern, Soldaten bzw. Polizei oder Eltern gilt das nicht. Wer soll die Gemeinde in ihrer Not mit den Gnadenmitteln versorgen, wer die Unschuldigen vor der unrechten Gewalt schützen und wer nimmt sich der Kinder an, wenn die Eltern fliehen? 112 Löhe schreibt „wenn nicht, was unmöglich ist, würde sie sterben!“ 113 Georg Schulz, „Das geistliche Amt nach lutherischem Verständnis in der missionarischen Situation“, in: Kirchenmission nach lutherischem Verständnis. Vorträge zum 100-jährigen Jubiläum der Lutherischen Kirchenmission (Bleckmarer Mission), hg. von Volker Stolle, Münster 1993, 162–174, hier: 167. 114 Das soll den „Kompetenzen-Pool“ erweitern und Teamfähigkeit fördern. Missionare spielen dabei eine kritische Rolle für Denken “outside the box”, die zuerst als bereichernde Chance gewertet wer-
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nötig, um den statistischen Bestand wirklichkeitsnah zu erfassen, aber kann als gemeinsame „Schatzsuche“117 dienlich sein, aufzudecken, wie Freiheit optimal zum Ausdruck kommen kann. Das selbständige Handeln der Kirche hat Tradition: · Trauerarbeit über negative Geschichte, z.B. Buß- und Bettag, „Healing of memories“; · Anerkennung, Freude und Dank über positive Erlebnisse, z.B. Missionsfest; · Feiern der Freiheit in Kirche usw., z.B. Erntedank- und Reformationsfest; · Gemeinsames Hören auf Gottes Gesetz und Evangelium zum Thema „Freiheit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit“, z.B. Studientagung am Seminar usw.; · Neue Schritte der Liebe wagen im Glauben an Gottes Leitung, z.B. Synode. Es geht vornehmlich um die Förderung kirchlicher Dienste, die in gut 100 Gemeinden der LCSA in 5 Diözesen mit knapp 50 ordinierten Pfarrern, Missionaren, aber auch Evangelisten, Diakonen und ungefähr 5.000 Gemeindegliedern und ihren unterschiedlichen Verbänden (Leagues)118 geschieht, in Gottesdiensten wie Lese-, Lehr-, Gebets- und Predigtgottesdiensten, Abendmahlsfeiern, öffentlichen und privaten Beichten mit Absolution, auch Kinder-, Konfirmanden- und Taufunterricht, Beerdigungen, Hochzeiten usw. Die Gemeinden sind frei, missionarisch über ihre Grenzen hinweg Außenstehende einzuladen und in ihre Gemeinden zu integrieren. Es bleibt die Frage offen, ob und wie diese Freiheit genutzt wird. 7.2
Herausforderungen in Kirche und Gemeinde
Der zahlenmäßige Rückgang119 beschränkt die Gemeinden in ihrer Aktionsfreiheit und in ihrem Wirkungskreis.120 Oft fehlt so „kritische Masse“ an Kompetenzen und Personal. Dabei hat der Knecht mit einem Talent, die Freiheit und Aufgabe dieses gewinnbringend im Dienst des Herrn einzusetzen. Armut kann das Unvermögen, praktische Lösungen für Probleme zu finden, bedeuten. Es bleibt eine Heraus-
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den sollte und nicht als Bedrohung der Überfremdung oder Rückfall in die Unabhängigkeit. Auch als aktive Vermittler in internationalen Netzwerken ist ihre positive Rolle kaum zu überschätzen. (vgl. Volker Stolle, Das Missionsverständnis bei der konfessionell-lutherischen Missionswirksamkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kirchenmission nach lutherischem Verständnis. Vorträge zum 100-jährigen Jubiläum der Lutherischen Kirchenmission (Bleckmarer Mission), hg. von Volker Stolle, Münster 1993, 124–161, hier: 145). Martin Luther, Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetyen, Grund und Ursach aus der Schrift, Bd. 2, in: Luthers Werke in Auswahl, hg. von Otto Clemen, Bonn 1912, 395–403, hier: 395. Thema des LCSA Pfarrkonvents im September 2010 (Karl Weber, Visitation: Old christian custom – new challenge to the church. Pastor's Convention, Pretoria 2010; John T. Pless, The Saxon Visitation (1528): Insights for Contemporary Lutheran Church Life. Pastor's convention, Pretoria 2010). K. G. Krause, Herausforderung der Gegenwart, in: Visitation – urchristliche Praxis und neue Herausforderung der Gegenwart, hg. von K.G. Hahn, Hannover 2006, 51–69. Dazu gehören u.a. die Männer-, Frauen- und Jugendkreise, der Posaunenverband und Singchöre. Gründe dazu sind u.a. die Zerstreuung durch „Zwangsumsiedlung“, Austritte, HIV/Aids, Verstädterung, Entfremdung, Arbeitslosigkeit, finanzielle Armut usw. Mt 13,12f.; Lk 12,48f.
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Wilhelm Weber
forderung angesichts erlebter Not und Mangelerscheinungen an die Befreiung durch Christus zu glauben und sich trotz aller Einschränkungen in eigener Verantwortung selbständig im Dienst des Nächsten einzusetzen. Pastoren sind oft nicht frei in ihrem Dienst, sondern gefangen (z.B. Elia Syndrom bzw. „burnout“) und zum Dienst untauglich. Frühzeitige Entlassungen kommen zu häufig vor. Da gilt seelsorgerlicher Dienst und Fürsorge zum Bestehen in der Freiheit. Sie werden oft schlecht versorgt und da klingt die Klage Luthers über den Geiz der Bauern nur zu bekannt. Es gilt, die Freiheit angesichts solch schwieriger Lebenslagen in Familie und Umwelt auszuleben. Der christliche Glaube ist keine „Muttersprache“, sondern lehrt eine neue Sprache und zwar in kirchlicher Liturgie und christlichem Dogma. Verständnis und Einvernehmen dieser Sache der Freiheit bedarf der Übersetzung, Grenzüberschreitung und Horizontverschmelzung unter Anleitung des Heiligen Geistes durch Wort und Sakrament, ehe es zur „Heimischwerdung“ kommt. Die Gemeinden werden angefochten durch traditionelle Ahnendienste, vielerlei 121 synkretistische Sekten und enthusiastische Schwärmer, aber auch neue Pfingstlerische Erscheinungen wie „Prosperity gospel“122 und „konfessionslose Gemeinschaftskirchen,“ die ihrerseits in neue Gesetzlichkeiten verwickeln. Daneben strömen die Folgen des Materialismus123, sexuelle Freizügigkeit, gottlose Selbstverwirklichungsprogramme durch Medien und soziale Netzwerke auf Groß und Klein ein. „Things fall apart. The centre doesn’t hold!“124 7.3
Auf dem Weg der Freiheit für Lutheraner in Christi Mission
Kirchliche Einheit ist unter konfessionellen Lutheranern organisatorisch so zu strukturieren, dass die Komplementarität der unterschiedlichen Charismen in dem einem Leib Christi zeichenhaft zum Ausdruck kommen als Zeichen evangelischer Freiheit.125 Eine gemeinsame · Kirchenleitung, · Synode konfessionsgebundener Gemeinden,126 · Pastorenausbildung, · Missionsarbeit usw. wären Schritte auf diesem Weg.127 121 Eliot Sibongisile Sithole, The contributions of African Independt Churches (Zionist-Apostolic) to the communication and contextualisation of the Gospel in Natal (South Africa) using Beliefs of African Traditional Religion, CTS Ft.Wayne 2014, unveröffentlichte Dissertation. 122 Eric Gboto, Commercialized gospel, Pretoria 2015. 123 „Shop till you drop!“ 124 Achebe, Things (wie Anm. 7). 125 Die LCSA steht in Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft mit den Kirchen des International Lutheran Council (ILC) und auch in Arbeitsverbindung mit der Lutheran Communion in Southern Africa (LUCSA) Dort sind Interaktionen auf kirchenleitender Ebene, die der Kirche als Ganzes zugutekommen sollen. 126 Lutheran Church – Southern African Synod (LCSAS).
Freiheit nachgefragt bei Luther und Hopf
601
Wir können nur auf Gott hoffen, dass er uns gnädig sei und uns nicht straft wie wir es verdient haben. Der Herr möge sich erbarmen, dass wir bußfertig im Glauben bleiben und uns liebevoll im Guten befleißigen als freie Christen, dank seiner Gnade.128
127 Stolle, Missionsverständnis (wie Anm. 114), 145. 128 Nach der Bischofswahl von Modise A. Maragelo (LCSA) im Dezember 2014 hielt Bischof H-J. Voigt D.D. eine Predigt zu Galater 3,26–29 und zwar über die Schlagworte der Französischen Revolution: „Liberté – Egalité – Fraternité“ (Hans-Jörg Voigt, 2015, http://www.lutherisch-inberlin.de/images/PDF/Berichte/Hirtenwort_Bischof_Voigt.pdf, Stand: 2016).
Anhang
Curriculum Vitae von Werner Klän 13.5.1952
geboren in Wuppertal
27.7.1952
getauft in Wuppertal-Elberfeld
19.3.1967
konfirmiert in Duisburg
1970–1976
Studium der Evangelischen Theologie in Oberursel und der Evangelischen Theologie und Philosophie in Münster
1976
Erstes Examen in Münster
1977–1979
Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes
1982
Zweites Examen in Oberursel
28.11.1982
Ordination in der Ev.-Luth. Kirche zu St. Thomas in Münster
1982–1985
Assistent an der Lutherischen Theologischen Hochschule und (Pfarr-)Vikar in der St. Johannes-Gemeinde Oberursel
1984
Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
1985–1987
Pfarrer in der St. Thomas-Gemeinde Münster
1987–1991
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ostkirchen-Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
ab 1990
Lehrbeauftragter für Ökumenische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
1994
Habilitation im Fach Kirchengeschichte an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster
1993–1996
Lehrstuhlvertreter für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
ab 1996
Professor für Kirchengeschichte an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
2003
Wechsel auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
seit 2008/09 Lehrauftrag am Lutheran Theological Seminary Tshwane, Pretoria (Südafrika) seit 2013
zusätzlich: Extraordinary Professor of the Department of Church History and Church Polity an der University of Pretoria (Südafrika)
31.3.2018
Emeritierung als Professor an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
606
Curriculum Vitae von Werner Klän
Gremienarbeit/Akademische Selbstverwaltung (in Auswahl) seit 1993
Mitglied (1996–2006 stellv. Vorsitzender) des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses
seit 1997
Mitglied der Theologischen Kommission der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche
1997–2013
Leiter des Kirchenarchivs der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche
seit 1998
Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie
1998–2000
Rektor der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
2004–2006
Rektor der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
2008–2010
Mitglied der bilateralen Gesprächsgruppe Lutherische Theologische Hochschule – Johann-Adam-Möhler Institut, Paderborn
seit 2012
Mitglied und Vorsitz in der trilateralen Kommission zum Themenfeld „Apartheid“ mit Vertretern der Lutheran Church of Southern Africa, der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika und der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche/Lutherischen Kirchenmission/Mission of Lutheran Churches
seit 2014
Mitglied der bilateralen Gesprächsgruppe Internationaler Lutherischer Rat/Römisch-Katholische Kirche
2015–2017
Rektor der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel
Bibliographie von Werner Klän Buchpublikationen Herausgeber der Oberurseler Hefte Ergänzungsbände (OUH.E) ab Band 4, Göttingen 2007. 1.
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8. 9. 10.
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Die Evangelisch-lutherische Immanuelsynode in Preußen. Eine Kirchenbildung im Gefolge der ekklesiologischen Auseinandersetzungen im deutschen Luthertum des 19. Jahrhunderts (EHS XXIII 234), Frankfurt am Main/Bern/New York 1985 [Dissertation, Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universtiät Münster]. Quellen zur Entstehung und Entwicklung selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland (EHS XXIII 299), Frankfurt am Main/Bern/New York 1987 [hg. zusammen mit Manfred Roensch] Neuauflage s. 12. Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783–1843) (Peter Hauptmann, Werner Klän, Peer Maser [Hg.], Kirche im Osten Monographienreihe [KO.M] 20), Göttingen 1987. Die evangelische Kirche Pommerns in Republik und Diktatur. Geschichte und Gestaltung einer preußischen Kirchenprovinz 1914–1945 (Roderich Schmidt [Hg.], Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte 30), Köln/Weimar/Wien 1995 [Habilitationsschrift, Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universtität Münster]. Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen östlich von Oder und Neisse – eine Zwischenbilanz, OUH 30, Oberursel 1996. Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten. Festschrift für Volker Stolle (Theologie: Forschung und Wissenschaft 12), Münster 2005 [hg. zusammen mit Christoph Barnbrock]. Kirchengemeinschaft und Abendmahlszulassung. Texte aus der Geschichte der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und ihrer Vorgängerkirchen, OUH 44, Oberursel 2005. „Der dir helfen und dich mit allem Guten reichlich überschütten will“. Eine Katechismus-Meditation – mit Bildern von Regina Piesbergen, OUH 46, Oberursel 2006, 22008. Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Millenniumswende, OUH.E 4, Göttingen 2007. Das Maß der Freiheit. Betrachtungen über die Bedeutung der Ansage von Gesetz und Evangelium für kirchliche Verkündigung und christliches Leben in einer nachchristlichen Welt, OUH 47, Oberursel 2007 [hg. zusammen mit Jeffrey Silcock]. Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche. Festschrift für Wilhelm Rothfuchs zum 75. Geburtstag, OUH.E 5, Göttingen 2010 (i.e. 2009) [hg. zusammen mit Christoph Barnbrock]. Quellen zur Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 2010 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. Hermann Sasse, In statu confessionis III. Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, OUH.E 10, Göttingen 2011 [hg. zusammen mit Roland Ziegler]. Friedrich Wilhelm Hopf, Kritische Standpunkte für die Gegenwart. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf des Dritten Reiches, über seinen Bekenntniskampf nach
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15. 16.
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Bibliographie von Werner Klän
1945 und zum Streit um seine Haltung zur Apartheit, OUH.E 11, Göttingen 2012 [hg. zusammen mit Markus Büttner]. Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen, OUH.E 9, Göttingen 2012 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. Lutherisch und selbstständig. Einführung in die Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland, Göttingen 2012 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 12, Göttingen 2012 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, OUH.E 14, Göttingen 2014 [hg. zusammen mit Jürgen Kampmann]. Grund-Sätze aus den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften, Göttingen 2017.
Aufsätze 1.
Die Anfänge der altlutherischen Bewegung in Breslau, in: Peter Hauptmann (Hg.), Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde, KO 21/22 (1978/79), 141–169. 2. Julius Diedrich und Theodor Harms – ein unbekannter Briefwechsel, in: Jobst Schöne, Volker Stolle (Hg.): Unter einem Christus sein und streiten. Festschrift zum 70. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Hopf, Erlangen 1980, 125–144. 3. Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“, LuThK 9 (1985), 16–24. 4. Johann Gottfried Scheibel, in: Peter Hauptmann, Werner Klän, Peter Maser (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), KO.M 20, Göttingen 1987, 11–29. 5. J. G. Scheibel an Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869). Zehn Briefe um Kirche und Bekenntnis, in: Peter Hauptmann, Werner Klän, Peter Maser (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), KO.M 20, Göttingen 1987, 77–100. 6. Johann Gottfried Scheibel. Ausgewählte Texte, in: Peter Hauptmann, Werner Klän, Peter Maser (Hg.), Gerettete Kirche. Studien zum Anliegen des Breslauer Lutheraners Johann Gottfried Scheibel (1783–1843), KO.M 20, Göttingen 1987, 138–185. 7. Selbständige evangelisch-lutherische Kirchen im „Dritten Reich“. Versuch einer Zwischenbilanz, LuThK 11 (1987), 73–87. 8. Die evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche, in: Hubert Kirchner (Hg.), Freikirchen und konfessionelle Minderheitskirchen. Ein Handbuch, Berlin 1987, 127–135. [zusammen mit Johannes Zellmer] 9. Die Kirchen in den preußischen Ostprovinzen aus der Sicht von Gestapo und SD, KO 33 (1990), 9–57. 10. Die altlutherische Kirchenbildung in Preußen, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Das deutsche Luthertum und die Unionsproblematik, Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 13, Gütersloh 1990, 153–170. 11. Der Weg selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland – ein ökumenisches Modell im Kleinen, Lutherische Kirche in der Welt 37 (1990), 205–228.
Aufsätze
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12. Um Kirche und Bekenntnis. Die preußischen Altlutheraner zwischen Selbstbehauptung und Staatstreue, in: Bernhard Jähnig, Silke Spieler (Hg.), Kirchen und Bekenntnisgruppen im Osten des Deutschen Reiches. Ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft, Bonn 1991, 177–199. 13. Kirchliche Reaktionen um das Ende des 1. Weltkriegs in Pommern 1916–1921, in: Hans- Jürgen Zobel (Hg.), Pommern. Geschichte-Kultur-Wissenschaft. 1. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte, 13. bis 15. November 1990, Greifswald 1991, 193–203. 14. Kirche und Volkstum – Nation und Konfession. Der Evangelische Siedlungsdienst und die Siedlungsfrage in Pommern, KO 35 (1992), 9–59. 15. An der Wegscheide. Die „Bruderschaft junger Theologen“ in Pommern zwischen „Illegalität“ und „Legalisierung“ 1936–1939, in: Peter Maser (Hg), Kirchen und Gemeinden im deutschen Osten und in Osteuropa im Gegenüber zum Nationalsozialismus, KO.M 21, Göttingen 1992, 136–158. 16. Ein Kirchenkampf-Bericht aus Pommern. Mutmaßungen über seinen Verfasser und die Adressaten, in: Internationale Bonhoeffer-Gesellschaft, Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, Sektion Bundesrepublik Deutschland 39/1992, 23–37. 17. Ein Kirchenkampf-Bericht aus Pommern. Mutmaßungen über seinen Verfasser und die Adressaten, Baltische Studien NF 79 (1993), 25–43. 18. Kirche in der Krise. Die Wende vom Kaiserreich zur Weimarer Republik in ihrem kirchlichen Vollzug am Beispiel der evangelischen Kirche in Pommern, LuThK 17 (1993), 90–123. 19. Der „vierte Mann“. Auf den Spuren von Nikolaus Selneckers (1530–1592) Beitrag zu Entstehung und Verbreitung der Konkordienformel, LuThK 17 (1993), 145–174. 20. Die Fortentwicklung des Missionsimpulses der Erweckung unter den Bedingungen konfessioneller Kirchenbildungen, in: Volker Stolle (Hg.), Kirchenmission nach lutherischem Verständnis. Vorträge zum 100-jährigen Jubiläum der Lutherischen Kirchenmission (Bleckmarer Mission), Beiträge zur Missionswissenschaft und Interkulturellen Theologie 5, Münster/Hamburg 1993, 5–19. 21. Lebenslauf und verwandte Gattungen als Quellen freikirchlicher Geschichtsschreibung, LuThK 18 (1994), 50–71. 22. Die Bekennende Kirche in Pommern 1934–1945, in: Hans-Jürgen Zobel (Hg.), Pommern. Geschichte-Kultur-Wissenschaft. 3. Kolloquium zur Pommerschen Geschichte, 13./14. Oktober 1993 in Greifswald, Greifswald 1994, 394–409. 23. Vom Kirchenkampf zum Kirchentag. Reinold von Thadden und die evangelische Laienbewegung 1932–1951, in: Werner Buchholz, Günter Mangelsdorf (Hg.), Land am Meer – Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V 20, Köln/Weimar 1995, 593–613 [Antrittsvorlesung vom 10.01.1994]. 24. Auswanderung und Rückwanderung am Beispiel der Missouri-Synode und der evangelisch-lutherischen Freikirche in Sachsen, Freikirchenforschung 5 (1995), 47–59. 25. „Doctrina, fides et confessio“. Konfessorische Formeln im Werk Nikolaus Selneckers, LuThK 20 (1996), 2–28. 26. Luther, Melanchthon und ihre Schüler: Das Ringen um die Sicherung des reformatorischen Erbes. Eine theologiegeschichtliche Skizze, LuThK 21 (1997), 152–167 [Antrittsvorlesung an der Lutherischen Theologischen Hochschule, Oberursel].
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Bibliographie von Werner Klän
27. Schritte auf dem Weg zu konfessionell-lutherischer Bewußtwerdung – Sieben Briefe Rudolf Rocholls an Ernst-Wilhelm Hengstenberg, in: Jürgen Diestelmann, Wolfgang Schillhahn (Hg.), Einträchtig lehren. Festschrift für Bischof Dr. Jobst Schöne, Groß Oesingen 1997, 266–285. 28. Die Errichtung eines kirchlichen Jugendamtes in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Preußen, in: Christian Utpatel (Hg.), Hinhorchen, kennen und einfühlen. 60 Jahre organisierte Jugendarbeit selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen, OUH 37, Oberursel 1997, 9–30. 29. Theologische Ausbildungsstätten selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland – Vorgeschichte und Gründungsphase der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, in: Lutherische Theologische Hochschule 1948–1998. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum, OUH.E 3, Oberursel 1998, 9–38. 30. „Reformation als Umbruch“ und „Konfessionalisierung“. Zwei Paradigmen zur Kirchengeschichtsschreibung des 16./17. Jahrhunderts – in Literaturbericht, in: Lutherische Theologische Hochschule 1948–1998. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum, OUH.E 3, Oberursel 1998, 160–179. 31. Reinold von Thadden-Trieglaff, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, 691–699. 32. Zwischen Beharrung und Wandel, Anpassung und Widerstand. Die Evangelische Kirche Pommerns 1914–1950 – Ein Überblick, in: Roderich Schmidt (Hg.), Tausend Jahre Pommersche Geschichte, Köln/Weimar/Wien 1999, 415–437. 33. „Eine merkliche Bekehrung der meisten Juden sei vor dem Ende der Welt zu erwarten …“ (Johann Gerhard, 1582–1637). Zur Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Synagoge im Horizont der lutherischen Konfessionalisierung, LuThK 24 (2000), 14–35. 34. „… dass der Jüngste Tag unversehens komme“. Gewissheit des Ausgangs und Unbestimmtheit des Zeitpunkts in Luthers Endzeiterwartung, Freikirchenforschung 11 (2001), 86–99. 35. Theologia crucis in der Ökumene – eine Fehlanzeige?, in: Robert Kolb, Christian Neddens (Hg.), Gottes Wort vom Kreuz. Lutherische Theologie als kritische Theologie, OUH 40, Oberursel 2001, 75–90. 36. Zur „Charta Oecumenica“, LuThK 25 (2001), 202–207. 37. „Einfach vom Glauben reden …“, LuThK 26 (2002), 92–102. 38. Das Augsburgische Bekenntnis als Grundlage einer neuen Konfessionalisierung in Hessen, LuThK 26 (2002), 114–134. 39. Das „dreifältig Bild“ Christi, oder: Den Tod überleben. Perspektiven Martin Luthers für ein Leben vor und nach dem Tod. Eine seelsorgliche Besinnung, in: Wolfgang Schillhahn, Michael Schätzel (Hg.), Wortlaute. Festschrift für Hartmut Günther, Groß Oesingen 2002, 337–353. 40. „… das Gesammtdasein menschlichen Geschlechts mit all’ den geschichtlich gewordenen Zuständen …“ (A. v. Harleß). Schöpfungsordnung und Lebensverhältnisse, LuThK 27 (2003), 91–105. 41. Zur Osteuropa-Politik der SELK, Lutherische Kirche in der Welt 50 (2003), 215–234. 42. Lutherische Pfarrerausbildung heute: das Bekenntnis. Wesentliche Bestandteile der Ausbildung lutherischer Pastoren, LuThK 28 (2004), 81–100. 43. Anleitung zu einem Gott-gelenkten Leben. Die innere Systematik der Katechismen Luthers, LuThK 29 (2005), 18–37.
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44. Aspekte lutherischer Identität. Eine konfessionelle Sicht, in: Christoph Barnbrock, Werner Klän (Hg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten. Festschrift für Volker Stolle, Münster 2005, 323–338. 45. Einig in der Rechtfertigungslehre? Anfragen an die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ aus konkordienlutherischer Sicht, in: Uwe Swarat, Johannes Oeldemann, Dagmar Heller (Hg.), Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 78, Frankfurt am Main 2006, 95–124. 46. Essential ingredients for training confessional Lutheran pastors / Ingredientes essenciais para treinar pastores luteranos confessionais, in: Paulo M. Nerbas (Hg.), Preparing Lutheran pastors for today. ILC – Theological Seminaries World Conference 2001, Canoas 2006, 165–195. 47. Einführung zum Symposion „Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit“, in: Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit. Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Millenniumswende, OUH.E 4, Göttingen 2007, 15–28. 48. „Ubi Christus, ibi ecclesia“. Gedanken über die Zuordnung von Gemeinde und kirchlichem Dienstamt in der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Zugleich eine Auseinandersetzung mit Erwägungen Hermann Sasses, LuThK 31 (2007), 135–159. 49. Einleitung, in: Das Maß der Freiheit, OUH 47, Oberursel 2007, 7–9 [hg. zusammen mit Jeffrey Silcock]. 50. Herausforderungen für die kirchliche Verkündigung in einer nachchristlichen Welt, in: Das Maß der Freiheit, OUH 47, Oberursel 2007, 11–28 [hg. zusammen mit Jeffrey Silcock]. 51. Gesetz – Evangelium – Freiheit. Eine Blütenlese aus dem Bekenntnis der evangelischlutherischen Kirche, in: Das Maß der Freiheit, OUH 47, Oberursel 2007, 43–62 [hg. zusammen mit Jeffrey Silcock]. 52. Der Papst und Jesus, LuThK 32 (2008), 134–160. 53. Hinführung zum Thema: Wilhelm Löhe und Ludwig Harms, in: Wilhehn Löhe und Ludwig Harms *1808. Vergleichende Studien zum lutherisch-konfessionellen Aufbruch im 19. Jahrhundert. Beiträge des Dies Academicus an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel am 10. November 2008, OUH 49, Oberursel 2010 [hg. zusammen mit Achim Behrens]. 54. Was uns eint – II: in Bezug auf Theologie und Bekenntnis, LuThK 33 (2009), 145–160. 55. Das „dritte Sakrament“. Beichte und Buße im Bekenntnis der lutherischen Kirche, in: Werner Klän, Christoph Barnbrock (Hg.): Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche, OUH.E 5, Göttingen 2010 (i.e. 2009), 58–76. 56. Die evangelisch-lutherische Immanuelsynode (Einführung), in: Quellen zur Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 2010, 120–122 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. 57. Vereinbarungen, Zusammenschlüsse, Vereinigungen (Einführung), in: Quellen zur Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 2010, 558–565 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. 58. Oecumenica (Einführung), in: Quellen zur Geschichte selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland. Dokumente aus dem Bereich konkordienlutherischer Kirchen, OUH.E 6, Göttingen 2010, 665–668 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva].
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Bibliographie von Werner Klän
Die Einführungen Nr. 57–59 wurden durchgesehen für Abdruck in „Lutherisch und selbstständig“ (vgl. oben Nr. 16). Flucht, Vertreibung, Reorganisation kirchlichen Lebens 1945–1954. Das Beispiel selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirben, in: Uwe Rieske (Hg.), Migration und Konfession. Konfessionelle Identitäten in der Flüchtlingsbewegung nach 1945, LKGG 27, Gütersloh 2010, 308–324. Historisch-biographische Einleitung, in: Hermann Sasse: In statu confessionis III. Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, OUH.E 10, Göttingen 2011, 7–16 [hg. zusammen mit Roland Ziegler]. Hinführung, in: Gottfried Hoffmann: Kirchenväterzitate in der Abendmahlskontroverse zwischen Oekolampad, Zwingli, Luther und Melanchthon. Legitimationstrategien in der inner-reformatorischen Auseinandersetzung um das Herrenmahl, OUH.E 7, Göttingen 2011, 9–12. Mentalitäten und Identitäten in lutherisch-konfessioneller Sicht, ÖR 60 (2011), Nr. 4. The Third Sacrament. Confession and Repentance in the Confessions of the Lutheran Church, Logia. A Journal of Lutheran Theology, vol. XX, no. 3 (2011), 5–12 [Übersetzung von Nr. 51]. Was machen wir aus Luther?, in: Karl-Hermann Kandler (Hg.): Das Bekenntnis der Kirche zu Fragen von Ehe und Kirche: Die Vorträge der Lutherischen Tage 2009 und 2010 (Lutherisch Glauben), Neuendettelsau 2011, 90–117. Einleitung, in: Friedrich Wilhelm Hopf, Kritische Standpunkte für die Gegenwart. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf des Dritten Reichs, über seinen Bekenntniskampf nach 1945 und zum Streit um seine Haltung zur Apartheit, OUH.E 11, Göttingen 2012, 7–32 [hg. zusammen mit Markus Büttner]. Bekenntnis und Sakramentsgemeinschaft – Anfragen an die Tragfähigkeit des Modells der ,,Leuenberger Konkordie“ aus konkordienlutherischer Sicht, in: Die Leuenberger Konkordie im innerlutherischen Streit. Internationale Perspektiven aus drei Konfessionen, OUH.E 9, Göttingen 2012, 74–91 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. ,,Reformation im Lied“. Gesichtspunkte der kirchlichen Poetik bei Erasmus Alber, in: Theologische Erkundungen in Oberursel, OUH 52, Oberursel 2012, 49–74. Response to “Theological hermeneutics after meaning”, Lutheran Theological Journal 46, 1 (2012), 17–25. Unentrinnbare Zeitgenossenschaft. Theologische, historische und methodische Gesichtspunkte für den Umgang mit der jüngeren Vergangenheit der konfessionellen lutherischen Kirchen im südlichen Afrika, in: Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 12, Göttingen 2012, 51–64 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva]. Unavoidably contemporary. Theological, historical and methodological aspects in dealing with the recent history of the confessional Lutheran churches in Southem Africa, in: Mission und Apartheid. Ein unentrinnbares Erbe und seine Aufarbeitung durch lutherische Kirchen im südlichen Afrika, OUH.E 12, Göttingen 2012, 65–76 [hg. zusammen mit Gilberto da Silva] [Übersetzung von Nr. 66]. Das Gericht Gottes. Eine alt-lutherische Sicht, in: Uwe Swarat, Thomas Söding (Hg.), Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch, Quaestiones Disputatae 257, Freiburg/Basel/Wien 2013, 131–150. Konfessionalisierung und Pluralisierung angesichts gemeinsamer Herausforderungen, in: Preußische Union, lutherisches Bekenntnis und kirchliche Prägungen. Theologische
Aufsätze
73. 74. 75.
76. 77.
78. 79.
80. 81.
82. 83.
84. 85. 86.
87. 88.
89. 90.
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Ortsbestimmungen im Ringen um Anspruch und Reichweite konfessioneller Bestimmtheit der Kirche, OUH.E 14, Göttingen 2014, 317–343 [hg. zusammen mit Jürgen Kampmann]. Zum Gedenken. 75 Jahre Novemberpogrom, LuThK 37 (2013), 206–223. Authentisches Luthertum in „Versöhnter Verschiedenheit“? Kirchengemeinschaft als Einheit im Glauben, Confessio Augustana 4 (2014), 17–21. Echten Glauben und rechtes Leben fördern. Laudatio auf Prof. Dr. Robert Kolb anlässlich der Verleihung des Hermann-Sasse-Preises am 9. November 2013, LuThK 38 (2014), 3–20. Wie ökumenische Partner die SELK sehen – DNK/LBW-SELK, LuThK 38 (2014), 101–119. Abfall vom lutherischen Bekenntnis? Der kritische Blick von außen auf die Union, in: Karl-Heinrich Lütcke, Eckhard Zemmrich (Hg.), Was heißt Kirchen-Union heute? Beiträge zu einem Symposium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, Leipzig 2015, 49–58. Altlutherische Kirchen, in: Johannes Oeldemann (Hg.), Handbuch der Ökumene und Konfessionskunde. Bd. 1: Konfessionskunde, Leipzig/Paderborn 2015, 274–285. Ich habe aber Recht. Wahrheit und Toleranz, in: Achim Behrens (Hg.), Christentum und Toleranz. Eine Ringvorlesung der Fakultät der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Hochtaunus, OUH 55, Oberursel 2015, 43–61. In praise of Prof. Dr. Robert Kolb. On the occasion of the awarding of the HermannSasse-Prize, Concordia Journal 41 (2015), 49–56 [Übersetzung von Nr. 76]. Nachwort, in: Achim Behrens, Theologische Reflexionsgeschichte des Alten Testaments. Exegetische Studien im Kontext evangelisch-lutherischer Theologie, OUH.E 15, Göttingen 2015 [2014], 315–321. Realpräsenz. Skizze einer ökumenischen Bestandsaufnahme, LuThK 39 (2015), 41–69. Reformation jubilees: Is there cause for celebration in 2017? – What remains?, in: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 71,3 (2015), http://dx.doi.org/10.4102/hts.v71i3.3111 (Stand: 02.12.2017). Transformationsprozesse. Die SELK und ihre Mission im südlichen Afrika, Jahrbuch Mission 47 (2015), 160–165. Zum Gedenken an Professor em. Gottfried Hoffmann, LuThK 39 (2015), 199–200 [hg. zusammen mit Achim Behrens]. Fortschritte und Hemmnisse auf dem Weg zur Gestaltung der Einheit. Trient – evangelisch gesehen, in: Uwe Swarat, Thomas Söding (Hg.), Heillos gespalten? Segensreich erneuert? 500 Jahre Reformation in der Vielfalt ökumenischer Perspektiven, QD 277, Leipzig 2016, 136–157. Gottes Wort ist der Ort, wo Gott wohnt. Anstöße für ein konkordienlutherisches Gespräch über Lesarten der Heiligen Schrift, LuThK 40 (2016), 46–80. Law – gospel – freedom: A bouquet taken from the confessions of the evangelicallutheran church, Lutheran Theological Journal 50 (2016), 240–253 [Übersetzung von Nr. 52]. Real presence. Outline of an ecumenical review, in: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 72,1 (2016), http://dx.doi.org/10.4102/hts.v72i1.3341 (Stand: 02.12.2017). Reformationsjubiläen und Kulturprägungen des Luthertums. Eine selbstkritische Betrachtung, LuThK 40 (2016), 230–273.
614
Bibliographie von Werner Klän
91. Freiheit, die Luther meint. Gesprächsfäden, in: Thomas Söding, Bernd Oberdorfer (Hg.), Kontroverse Freiheit. Die Impulse der Ökumene, QD 284, Freiburg 2017, 190–218. 92. Kulturprägungen des Luthertums. Eine selbstkritische Betrachtung, in: Ulrike LinkWieczorek, Uwe Swarat (Hg.), Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem „Neuen Atheismus“. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 111, Leipzig 2017, 463–499. 93. Shaping confessional Lutheranism for the 21st century. The impact of the Lutheran Reformation on mission, worship, and worldview, Journal of Lutheran Mission 4 (2017), 2, 2–11, https://issuu.com/thelcms/docs/jlm-no10-aug2017/6 (Stand: 02.12.2017). 94. Von der Verborgenheit Gottes. Ein lutherischer Versuch in ökumenischer Absicht, in: Ulrike Link-Wieczorek, Uwe Swarat (Hg.), Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem „Neuen Atheismus“. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 111, Leipzig 2017, 367–385.
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Frank, Anne, in: Walther Killy (Hg.), Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 3, Gütersloh/München 1989, 473f. Goebbels, Paul Joseph, in: Walther Killy (Hg.), Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 4, Gütersloh/München 1989, 182. Weizsäcker, Carl-Friedrich von, in: Walther Killy (Hg.), Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 12, Gütersloh/München 1992, 233f. Wilamowitz-Moellendorf, Fanny von, in: Walther Killy (Hg.), Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 12, Gütersloh/München 1992, 325f. Selbständige evangelisch-lutherische Kirche, in: EKL3, Bd. 4 (1996), 201–202. 4 Altlutheraner, in: RGG , Bd. 1 (1998),379–381. Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, in: RGG4, Bd. 1 (1998), 1270. Selbständige evangelisch-lutherische Kirche, in: TRE, Bd. 31 (2000), 103–105. Agendenstreit, in: ELThG2, Bd. 1 (2017), 67–68. Altlutheraner, in: ELThG2, Bd. 1 (2017), 193–194. 2 Augsburger Bekenntnis und Apologie, in: ELThG , Bd. 1 (2017), 538–541 2 Bekenntnisschriften I. lutherische, in: ELThG , Bd. 1 (2017), 715–718. Corpora Doctrinae, in: ELThG2, Bd. 1 (2017), 1288–1289. Dogmengeschichte, in: ELThG2, Bd. 1 (2017), 1506–1509. Kein anderes Evangelium Bekenntnisbewegung (No Other Gospel Movement), in: Religion Past and Present, http://dx.doi.org/10.1163/1877-5888_rpp_SIM_01706 (Stand: 02.12.2017). Old Lutherans, in: Religion Past and Present, http://dx.doi.org/10.1163/18775888_rpp_COM_00530 (Stand: 02.12.2017).
Buchanzeigen und Rezensionen 1 2.
Klaus Wappler, Der theologische Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27.9.1817 (Theologische Arbeiten XXXV), Berlin [1978], KO 24 (1981), 193–197. Hugo Gotthard Bloth, Die Kirche in Pommern. Auftrag und Dienst der evangelischen Bischöfe und Generalsuperintendenten der Pommerschen Kirche von 1792 bis 1919
Buchanzeigen und Rezensionen
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(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern, Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte 20: Pommersche Lebensbilder V), Köln/Wien 1979, KO 25 (1982), l76f. Viorel Mehedintu, Offenbarung und Überlieferung. Neue Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der orthodoxen und der evangelisch-lutherischen Kirche (Forschungen zur Systematischen und Ökumenischen Theologie 40), Göttingen 1980, KO 21 (1989), 181–183. Martin Kiunke, Johann Gottfried Scheibel und sein Ringen um die Kirche der lutherischen Reformation. Neudruck: KO.M, Bd. 19, Göttingen 1985, LuThK 9 (1985), 155. Wolf-Dieter Hauschild, Georg Kretschmar, Carsten Nicolaisen (Hg.), Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984, Göttingen 1984, LuThK 9 (1985), 16f. Karl Zehrer, Evangelische Freikirchen und das „Dritte Reich“ (AGK, Ergänzungsreihe 13), Göttingen 1986, LuThK 11 (1987), 38f. Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 1981, LuThK 11 (1987), 62–64. Joseph Listl (Hg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1 und 2, Berlin 1987, LuThK 13 (1989), 35f. Kurt Nowak, Friedrich Hübner, Wolf-Dieter Hauschild, Albrecht Peters, Barmen und das Luthertum (Bekenntnis. Fuldaer Hefte 27), Hannover 1984; Ernst-Heinz Amberg, Günther Gassmann, Albrecht Peters, Jürgen Roloff, Apostolizität und Ökumene (Bekenntnis. Fuldaer Hefte 30), Hannover 1987, LuThK 13 (1989), 125f. Peter Hauptmann, Gerd Stricker (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), Göttingen 1988, LuThK 13 (1989), 126f. Rudolf von Thadden, Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, LuThK 14 (1990), 126–128. Gerhard Besier, Gerhard Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985, LuThK 14 (1990), 40f. Eberhard Müller, Widerstand und Verständigung. Fünfzig Jahre Erfahrungen in Kirche und Gesellschaft 1933–1983, Stuttgart 1987, LuThK 14 (1990), 4lf. Gerhard Besier, Jörg Thierfelder, Ralf Tyra (Hg.), Kirche nach der Kapitulation, Bd. 1: Die Allianz zwischen Genf, Stuttgart und Bethel, Stuttgart/Berlin/Köln 1989, LuThK 14 (1990), 43f. Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung und Entwicklung von fünf Freikirchen im Wuppertal, Gießen/Wuppertal 1989, LuThK 15 (1991), 130–132. Martin Wittenberg, Im „Dritten Reich“ gepredigt. Aus der Verkündigung eines fränkischen Dorfpfarrers in den Jahren 1940 bis 1942, Fürth 1985, LuThK 16 (1992), 50–52. Gerhard Besier, Stephan Wolf (Hg.), „Pfarrer, Christen und Katholiken“. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen, LuThK 16 (1992), 92–96. Inge Mager, Die Konkordienformel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag – Rezeption – Geltung (StKGNS 33), Göttingen 1993, LuThK 18 (1994), 42–44.
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Bibliographie von Werner Klän
19. Anneliese Bieber, Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie anhand des Matthäuskommentars und der Passionsund Auferstehungsharmonie, Göttingen 1993, LuThK 18 (1994), 180–182. 20. Ralf Kötter, Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus. Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525), Göttingen 1994, LuThK 18 (1994), 182–184. 21. Andreas Permien, Protestantismus und Wiederbewaffnung 1950–1955. Die Kritik der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Kirche von Westfalen an Adenauers Wiederbewaffnungspolitik – zwei regionale Fallstudien, Köln 1994, ThLZ 120 (1995), 254f. 22. Rudolf Keller, Die Confessio Augustana im theologischen Wirken des Rostocker Professors David Chyträus (1530–1600) (FKDG 60), Göttingen 1994, LuThK 19 (1995), 34f. 23. Stefan Süß, Gottfried Hain (Hg.), Das Naemi-Wilke-Stift in Guben. Eine Stiftung zwischen Tradition und Moderne, Berlin 2005, LuThK 30 (2006), 55–57. 24. Lutherisch Glauben. Schriftenreihe des Lutherischen Einigungswerkes, Hefte 1–4, Neuendettelsau 2000–2006, LuThK 31 (2007), 248–253. 25. Christoph Raedel (Hg.), „Mitarbeiter der Wahrheit“. Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht, LuThK 38 (2014), 139–143. 26. Johannes Hund, Das Wort ward Fleisch. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 und 1574 (FSÖTh 114), Göttingen 2006, LuThK 38 (2014), 76–79.
Miszellen 1.
„Die Zukunft des Ökumenismus“. Bericht über die 33. Tagung für Catholica- und Oecumenica-Referenten im Konfessionskundlichen Institut der EKD, Bensheim, LuThK 8 (1984), 93f. 2. Anhang I: Geschichte der SELK, in: Hartmut Hauschild, Winfried Küttner (Hg.), Auf festem Glaubensgrund. Fast alles über die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, Groß Oesingen 1984, 143–151. 3. Die Verantwortung der Kirche in der Ökumene. Referat zur 6. Kirchensynode der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, 16.–21. Juni 1987 in Groß Oesingen, OUH 24, Oberursel 1987, 5–17. 4. Skizzen aus der ökumenischen Landschaft heute, LuThK 12 (1988), 66–73. 5. Die Tagebücher der Anne Frank, LuThK 12 (1988), 129–132. 6. „Wir sind ein gottsuchendes, geistiges, frommes Volk“. Ein Versuch über das säkulare Datum als theologischer Faktor, LuThK 14 (1990), 49–62. 7. Trauerarbeit tut not. Gedenkrede zur Feierstunde in der Gedenkstätte Bergen-Belsen am 6. Oktober 1990 anläßlich der 119. Jahrestagung des Evangelisch-lutherischen Zentralvereins für Zeugnis und Dienst unter Juden und Christen e.V., Friede über Israel. Zeitschrift für Kirche und Judentum 73 (1990), 147–155. 8. Das Ende des Reichsbruderrats, LuThK 15 (1991), 36–42. 9. Canberra 1991 – ein ökumenisches Menetekel, LuThK 15 (1991), 68–79. 10. Aufgaben der Geschichtsschreibung über die Frühzeit selbständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland – eine Problemanzeige, LuThK 16 (1992), 83–88.
Miszellen
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11. Ökumenische Aspekte der Ordination von Frauen, in: Volker Stolle (Hg.), Frauen im kirchlichen Amt?, OUH 8, Oberursel 1994, 19–34. 12. Anhang I: Geschichte der SELK, in: Konrad Uecker (Hg.), Kirche auf festem Glaubensgrund. Fast alles über die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, Groß Oesingen 2 1995, 140–151. 13. Die ersten siebzig Jahre, in: Werner Klän, Friedel Pfeifer, Ulrich Gotthard Schneider, Die Evangelisch-Lutherische Kreuzgemeinde in Witten 1896–1996. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen, OUH 32, Oberursel 1996, 9–63. 14. Bekenntnis. Der Angelpunkt: Artikel IV, Confessio Augustana 1 (1997), 53–56. 15. Ein unbeugsamer Bekenner: W. Löhe, Confessio Augustana 4 (1999), 64–66. 16. Von der Reichgründung 1871 bis zu den Reformationsjubiläen 1883, in: Helmut Edelmann, Niels Hasselmann (Hg.), Nation im Widerspruch. Aspekte und Perspektiven aus lutherischer Sicht heute. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses der VELKD und des DNK/LWB, Gütersloh 1999, 145–151. 17. Wiederbegründung lutherischer Gemeinde und Kirche. Von einer erwecklichen Bewegung zu einer kirchlich-konfessionellen Gemeindebildung, in: Gemeinde Sankt-MariaMagdalena (Halle): 175 Jahre Gemeinde St. Maria-Magdalena der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Halle 2009, 36–41.
Bildquellenverzeichnis Autoren, Herausgeber und Verlag haben sich bemüht, für urheberrechtlich geschützte Abbildungen die derzeitigen Rechteinhaber ausfindig zu machen. Diejenigen Rechteinhaber, bei denen dies nicht gelungen ist, bitten wir auf diesem Weg um Kontaktaufnahme mit dem Verlag. Seite 50
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Grafik, Hans Georg Anniès, ohne Jahr © Hans Georg Anniès, abgedruckt in Hermann Mahnke, „Siehe, ich bin bei euch“. Grafiken zur Bibel von Hans Georg Anniès, Clausthal-Zellerfeld 2014, mit freundlicher Genehmigung von Uta Welcker-Anniès.
Seite 165
Arbeiter im Weinberg. Malerei, Lucas Cranach d. J., ohne Jahr © abgedruckt in Hans Düfel, Art. Cranach, Lucas der Jüngere (1515-1586), TRE 8, hier: 225f.
Seite 172
Beichte/Bußwerke/Ablass. Grafik, unbekannter Künstler, ohne Jahr. Abgedruckt in: Josef Brems, Zeichnungen zum Katholischen Katechismus für Wandtafel und Werkheft © Verlag Ehrenwirth 1957.
Seite 191
Benjamin Schmolck, Andächtiger Kirchen Gefährte, Deckblatt. Kupferstich, unbekannter Künstler, ohne Jahr © Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Seite 292
Entwurf für einen Deckenleuchter. Zeichnung, Lucas Cranach d. Ä., um 1530/1540 © Klassik Stiftung Weimar/Museen/KK 103.
Seite 298
Verdammnis und Erlösung. Gemälde, Lucas Cranach d. Ä., 1529 © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (Foto: Lutz Ebhardt, CC BY-NC-SA).
Seite 299
Martin Luther, Ausle/gung der Euange/lien von Aduent bis/auff Ostern, Deckblatt. Holzschnitt, vermutlich Cranach-Werkstatt, 1528. Abgedruckt in: Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Band 2: Abbildungen © Christian Verlag 2006, GeraNova Bruckmann 2018.
Seite 302
Urbanus Rhegius, Vom hochwirdigen Sacrament des altars, Deckblatt. Holzschnitt, Jakob Thanner, 1525 © Österreichische Nationalbibliothek Wien, 79.V.73-Alt.
Seite 305
Der heilige Hiernonymus in der Wüste. Gemälde, Lucas Cranach d. Ä., 1502 © Kunsthistorisches Museum Wien, GG6739.
Seite 306
Der Kurfürst und Martin Luther knien vor dem gekreuzigten Christus. Holzschnitt, Cranach-Werkstatt, nach 1526 © Braunschweigisches Landesmuseum.
Seite 307
Theologia deutsch, Deckblatt. Kupferstich, Lucas Cranach d. Ä., 1518 © Bayerische Staatsbibliothek München, 4 P.lat. 1580, urn:nbn:de:bvb:12bsb:10990940-8,VD16 T 896; http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10990940_00005.html Text.
Seite 309
Kardinal Albrecht von Brandenburg vor dem Gekreuzigten. Gemälde, Lucas Cranach d. Ä., 1520‒1525 © Alte Pinakothek München.
Bildquellenverzeichnis
619
Seite 309
Johann Friedrich I., der Großmütige, Kurfürst von Sachsen. Holzschnitt, Lucas Cranach d. J., 1552 © Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, G42,20.
Seite 311
Hieronymus Emser, Missae Christianorum contra Lutheranam missandi formulā Assertio, Deckblatt. Holzschnitt, Georg Lemberger, 1524 © Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Polem. 1034, Tbl.
Seite 312
Martin Luther, Deudsche Messe vnd ordnung Gottis diensts, Deckblatt. Kupferstich, Cranach-Werkstatt, 1526 © SLUB/Dresdner Digitalisierungszentrum (Fotograf) 2012, Deutsche Fotothek SLUB Hist.eccl.E.299,8.
Seite 313
Jesus und die Ehebrecherin. Malerei, Lucas Cranach d. Ä., um 1520 © bpk Bildagentur.
Seite 315
Altar in der Schlosskirche Wittenberg, Rekonstruktion der nicht mehr möglichen geschlossenen Ansicht. Fotomontage, Lucas Cranach d. J., 2018. Fotos von Jürgen Maria Pietsch © Evangelische Stadtkirchengemeinde Wittenberg.
Seite 317
Altar in der Schlosskirche Wittenberg. Foto, Lucas Cranach d. J., 1547/1548 © Michael Tschirsch 2017.
Verzeichnis der Beiträger dieses Bandes Dr. Christoph Barnbrock ist Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel und deren Rektor. Dr. Achim Behrens ist Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Thomas Beneke ist Pfarrer und Missionar der Lutherischen Kirchenmission in Newcastle (Südafrika). Dr. Karl Böhmer ist Dozent für Kirchengeschichte und Missionswissenschaft am Lutheran Theological Seminary in Tshwane (Pretoria/Südafrika). Dr. Frank Martin Brunn ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kirche und Gemeinwesen am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg und Privatdozent für Systematische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dr. des. Jacob Corzine ist Assistant Professor für Systematic Theology an der Concordia University Chicago (USA). Dr. Graham A. Duncan ist emeritierter Professor für Church History und Church Polity an der University of Pretoria (Südafrika). Dr. Glenn K. Fluegge ist Associate Professor für Theology an der Concordia University Irvine (USA). Dr. Erich Geldbach ist Professor i.R. für Ökumenik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und lebt in Marburg. Dr. Andrea Grünhagen ist als Pastoralreferentin Assistentin im Kirchenbüro der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hannover. Dr. Gottfried Herrmann ist Dozent für Kirchengeschichte und Altes Testament am Lutherischen Theologischen Seminar in Leipzig. Dr. Johannes Hund ist Privatdozent am Seminar für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und Pfarrer in Fürfeld (Rheinhessen). Dr. Jürgen Kampmann ist Professor für Kirchenordnung und Neuere Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Werner Klän ist Professor für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Dr. Dr. h.c. mult. Robert A. Kolb ist emeritierter Professor für Systematic Theology des Concordia Seminary St. Louis (USA). Dr. Ernst Koch D.D. ist Honorarprofessor für Kirchengeschichte an der Friedrich-SchillerUniversität Jena und lebt in Leipzig. Dr. Christian Neddens ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische und Systematische Theologie und am Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Markus Nietzke B.A. ist Pfarrer in Hermannsburg und Bleckmar. Dr. Bernd Oberdorfer ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Augsburg. John T. Pless M.A. ist Assistant Professor für Pastoral Ministry und Missions am Concordia Theological Seminary in Fort Wayne (USA).
Verzeichnis der Beiträger dieses Bandes
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Dr. Dieter Reinstorf ist Bischof der Freien Evangelisch-Lutherischen Synode in Südafrika und lebt und arbeitet in Pietermaritzburg (Südafrika). Dr. Robert Rosin ist emeritierter Professor für Historical Theology des Concordia Seminary in St. Louis (USA). Dr. Wilhelm Rothfuchs ist emeritierter Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel und lebt in Oldendorf bei Hermannsburg. Dr. Jorg Christian Salzmann ist Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Dr. Dorothea Sattler ist Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik sowie Direktorin des Ökumenischen Instituts der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Michael Schätzel ist Geschäftsführender Kirchenrat der Selbständigen EvangelischLutherischen Kirche und lebt und arbeitet in Hannover. Dr. Daniel Schmidt ist Pfarrer in Groß Oesingen und Koordinator des Theologischen Fernkurses der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche. Dr. Jobst Schöne D.D. ist emeritierter Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und lebt in Berlin. Dr. Jeffrey Silcock ist emeritierter Professor für Systematic Theology am Australian Lutheran College/University of Divinity in North Adelaide (Australien). Dr. Gilberto da Silva ist Professor für Historische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Dr. Volker Stolle ist emeritierter Professor für Neues Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel und lebt in Mannheim. Hans-Jörg Voigt D.D. ist Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche und lebt und arbeitet in Hannover. Dr. Wilhelm Weber leitet das Internationale lutherische Studien- und Begegnungszentrum „Alte Lateinschule“ in Wittenberg. Dr. Armin Wenz ist Pfarrer in Halle (Saale) und Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Hochschule für Philosophie in München. Dr. Roland Ziegler ist Robert D. Preus Associate Professor für Systematic Theology und Confessional Lutheran Studies am Concordia Theological Seminary Fort Wayne (USA).
Register Personenregister Achebe, Chinua 586, 600 Achilles 226 Aelred von Rievaulx 306 Agamemnon 226 Alber, Erasmus 455 Albers, Ernst-August 526, 532 Albrecht von Brandenburg, Kardinal 295, 308–311 Alexander der Große 226 Andreae, Jakob 142, 148, 150, 155–157, 159, 201, 203f., 206–209, 211, 213– 216, 415 Andresen, Carl 462, 520 Anna von Dänemark, Kurfürstin 148, 153 Anna von Mecklenburg 116 Apollinaris 374 Arendt, Hannah 384f., 391f. Aristoteles 9, 85, 210, 373, 377–379, 385, 559–563, 565 Arius 371 Athanasius 371f. August von Sachsen, Kurfürst 142–145, 147–159, 204, 214 Augustinus 34, 36, 225, 227, 264, 330, 332, 340, 496 Auld, J. M. 547 Aurelius Prudentius 459 Averdiek, Elise 139 Avignon, Franz Lambert von 117 Baltruweit, Fritz 464 Barnbrock, Christoph 88, 131, 393, 438, 450, 455, 464, 473f. Barth, Hans-Martin 354 Bastian, Herman 126 Baur, Ferdinand Christian 22 Bayer, Oswald 44f., 362, 374f., 377– 380, 431f., 559, 562–566, 588 Beckett, Samuel 366 Behrens, Achim 19, 23, 27–29, 34, 39, 92, 431f., 455 Belting, Hans 291, 304 Benn, Gottfried 366
Bernanos, Georges 229 Bernhard von Clairvaux 306 Bethge, Eberhard 368 Beutel, Albrecht 21, 318, 588 Bey, Talaat 571 Beza, Theodor 151–153 Bingmann, E. 572–574, 577–582 Bloch, Ernst 366 Bodelschwingh, Friedrich von 363 Bonhoeffer, Dietrich 19, 368 Boquin, Pierre 146 Böttcher, Johannes 240 Bouman, Walter 335 Brandmüller, Walter, Kardinal 395f. Breit-Keßler, Susanne 179 Brems, Josef 171f. Brenz, Johannes 145, 148, 415 Brunner, Peter 392f., 412 Bucer, Martin 120–122, 124–128 Cajetan, Kardinal 321, 325 Calov, Abraham 560 Calvin, Johannes 142, 145, 151, 157, 555, 557 Campis, Johannes de 116 Camus, Albert 366 Chemnitz, Martin 151, 156f., 201, 203f., 208, 211, 213f., 216, 378 Christine von Sachsen 128 Christoph von Württemberg, Herzog 144, 147f. Chyträus, David 156f., 201, 204, 208, 211, 214, 216 Cicero 226 Cracow, Georg 155, 159 Cranach, Lucas, der Ältere 292, 298, 305, 307, 309, 313, 315, 317 Cranach, Lucas, der Jüngere 164f., 168, 291, 309, 314, 316 Cranach-Werkstatt 291f., 295, 298–301, 304, 306, 312, 314, 316, 318 Crell, Paul 148 Crüsemann, Frank 25
Personenregister
Cruziger, Caspar 457 Cruziger, Elisabeth 456–458 Cyrill von Alexandria 369, 372–374, 378 Cyrill von Jerusalem 424 Dalferth, Ingolf U. 306, 354 Deeg, Alexander 464f., 473 Degen, Pankraz 228 Delitzsch, Franz 97–115 Dewey, John 558 Dingel, Irene 12, 20, 88, 110, 143f., 146, 150, 157f., 162, 205, 212, 247, 259, 297, 359, 370, 390, 397, 406, 413, 450, 478, 561, 590 Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar, Herzogin 158 Dreves, Conrad 572, 574 Dube, Isashar 532 Duhm, Bernhard 25 Dürrenmatt, Friedrich 366 Ebeling, Gerhard 325, 329, 420, 462, 558f., 588, 593 Eber, Paul 144, 148, 164 Eck, Johannes 325 Eleonore von Reuß 456 Elert, Werner 51, 295, 370–374, 388, 407, 422f., 426, 556, 586f., 591f., 594f., 597 Elisabeth I. von England, Königin 157 Emser, Hiernoymus 311 Engels, Friedrich 363 Enzensberger, Hans Magnus 366 Erasmus von Rotterdam 217f., 226, 258, 293, 319–321, 326–328, 330, 332, 588 Erasmus, Desiderius 259 Erast, Thomas 146 Euripides 224 Eutyches 372, 374 Farley, Edward 556f., 559, 561, 567 Fechtner, Kristian 494 Feige, Johannes 121 Fernando von Alba 154 Fischer, Martin 569, 583 Flacius, Matthias 145, 150, 210–212, 215, 318 Fleck, Miriam Verena 299f., 303
623
Foucault, Michel 220f., 230 Francke, August Hermann 340 Frank, Franz Hermann Reinhold 407– 409, 421 Freud, Sigmund 366 Friedrich II. von Dänemark, König 157f. Friedrich III. von der Pfalz, Kurfürst 146f., 153, 156 Friedrich Wilhelm I. von SachsenWeimar, Herzog 158 Frisch, Max 384f. Gabler, Johann Philipp 21 Gallus, Nikolaus 209f. Gavin, William 548 Gavrilyuk, Paul 369f., 379 Gerhard, Johann 251, 260, 265, 557, 560–562, 565 Gerhardt, Paul 190, 310, 458, 500 Glass, Salomon 251–265 Goodman, Russell 219f. Gottschlich, Jürgen 576–578, 580, 582 Grafe, Hugald 131 Grethlein, Christian 431, 475 Gumbrecht, Hans Ulrich 296 Gunkel, Hermann 25 Haccius, Georg 525, 575 Hahn, Udo 346, 416, 477, 479 Hardeland, August 523 Harleß, Adolf von 99, 420f. Harms, Christian 132 Harms, Ludwig (Louis) 131–137, 139– 141, 523 Harms, Theodor 132, 134f., 139, 524f. Harnack, Adolf von 28, 362, 418 Hartmann, Johann Ludwig 340 Hauschildt, Friedrich 346, 409f., 440 Hecht, Christian 294, 310f. Heckel, Ulrich 61, 477, 479 Heidegger, Martin 366, 391 Herberger, Valerius 458 Herms, Eilert 353, 410, 414 Heshusius, Tileman 146, 211 Hesselgrave, David J. 554f., 559 Hildebrandt, Franz-Reinhold 393 Hirsch, Emanuel 28, 412 Hoffmann, Friedrich W. 234
624
Register
Hopf, Friedrich Wilhelm 38, 51, 88, 113, 234, 241–245, 393, 526–528, 531, 533, 535–537, 585–592 Hosfeld, Rolf 571f., 575f., 578, 580 Hunter, P. L. 542 Huxley, Aldous 366 Ionescu, Eugen 366 Isidor von Sevilla 220 Jaspers, Karl 366 Jens, Walter 272, 274 Joachim II. von Brandenburg, Kurfürst 144, 149 Johann Casimir von Pfalz-Simmern, Pfalzgraf 148, 152 Johann Friedrich I., der Großmütige, Kurfürst 308f. Johann Friedrich II., Herzog 145, 147 Johann Georg von Brandenburg, Kurfürst 204 Johann von Sachsen, Kurfürst 293 Johann Wilhelm I. von Sachsen-Weimar, Herzog 158 Johannes, Christoph 527, 530 Johannes, Pera 572, 577, 579 Josuttis, Manfred 451, 479 Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog 213 Jung, Carl Gustav 366 Jüngel, Eberhard 353 Kafka, Franz 366 Kähler, Martin 554 Karl V., Kaiser 129, 238 Karl XII., König 183 Kasper, Walter, Kardinal 354f. Kaufmann, Thomas 294f., 325, 330 Klän, Werner 9f., 19, 20f., 34f., 38–41, 53, 55, 77, 86–88, 90f., 136, 231– 235, 237–239, 241, 246–250, 252, 291, 334, 343f., 368, 384, 386, 392f., 396, 409f., 431–438, 440– 455, 464, 473f., 479, 515, 520–522, 525, 527f., 530f., 533–536, 538, 569, 575, 581, 583, 586 Klebitz, Wilhelm 146 Klepper, Jochen 92, 461 Knöpken, Andreas 456 Koepplin, Dieter 296, 304, 318
Koerner, Joseph 296 Kohlbrügge, Friedrich 335 Kolb, Robert 44f., 87, 143, 210, 213, 216, 303, 556, 561, 564f. König, Johann 560 Körner, Christoph 157, 204 Körtner, Ulrich 21, 271, 281, 284, 387 Krafft, Adam 116, 124 Kühn, Ulrich 352, 426 Kuiter, Harry 275 Küng, Georg 274 Küng, Hans 269, 272–274, 276, 278, 280–283 Lennox, J. 542f. Leo I., Papst 369 Leppin, Volker 144, 294, 297, 305, 307f., 311 Lepsius, Johannes 571–573, 575, 578 Listhenius, Georg 153 Löhe, Wilhelm 9, 97–106, 108, 110– 115, 135, 141, 249, 334–342, 415, 477, 519–521, 538f., 587, 590, 598 Ludwig VI. von der Pfalz, Kurfürst 158 Lundie, J. 542 Luther, Johannes 458 Luther, Martin 9, 13–15, 20, 28–30, 32– 39, 41–45, 54, 56, 76–78, 85–87, 100, 109f., 114, 116–118, 120f., 124, 128, 142, 145, 147, 149f., 154, 159, 164, 167, 170, 173, 179, 201–205, 209f., 213f., 216, 217f., 221f., 228– 231, 237, 240f., 243, 254, 256, 258, 262, 264, 269, 287–289, 292f., 296f., 298–301, 303f., 306–308, 310–312, 314, 317, 319–332, 334, 338–341, 352, 359f., 362, 364–368, 370, 373–378, 380–383, 391, 395– 398, 403, 405f., 411, 415, 423, 425, 432, 438f., 442, 449–453, 457–461, 465, 467, 472, 478–480, 490, 499, 517, 528, 555–557, 562–568, 585, 587f., 592–600 Luther, Pera 573, 579 Lyotard, Jean-Francois 217, 219 Mädrich, Karl 242 Major, Georg 150, 205 Malina, Bruce J. 46, 52
Personenregister
Mandela, Nelson 516, 585 Mann, Thomas 320 Marcion 28 Margarethe von der Saale 128 Martin, Heinrich 241f., 244–246 Maximilian I., Kaiser 116 Maximilian II., Kaiser 142, 149 Maxwell, David R. 371–374, 585f. Mbali, Yekela 542 Melanchthon, Philipp 121, 143–146, 148–150, 159, 201, 204, 208, 210f., 213f., 216, 293, 297, 319, 321, 398, 403f., 406f., 419, 457, 561, 564 Melander, Dionysius 124 Melzl, Thomas 464 Meyer, Harding 343f., 347f., 350 Meyer-Blanck, Michael 387 Mirak-Weißbach, Muriel 575 Möhler, Johann Adam 334 Moltmann, Jürgen 368f., 380f. Moritz von Sachsen, Kurfürst 143, 215 Mörlin, Maximilian 146 Mühlenberg, Ekkehard 462 Müller, Gerhard Ludwig, Kardinal 355 Müller, Paul 481 Muller, Richard 557, 559–562 Münch, Birgit Ulrike 304, 312 Müntzer, Thomas 116, 296 Musculus, Andreas 157, 204, 206–208 Neidecker, Andreas 222–230 Nestle, Dieter 463f., 466 Nestorius 372–375, 377, 382 Newman, John Henry, Kardinal 335, 342 Neyrey, Jerome 46 Nicol, Martin 464, 566 Nietzke, Markus 533, 535f., 571 Nikolaus von Flüe 306 Ntsimane, Radikobo 530, 533 Oeming, Manfred 22 Oesch, Wilhelm 240 Orwell, George 366 Osiander, Andreas 203, 214 Ottheinrich von der Pfalz, Kurfürst 144 Ozment, Steven 229, 292 Pannenberg, Wolfhart 349, 352f., 357 Peters, Albrecht 30, 35f., 367, 478f. Peucer, Caspar 143, 154f.
625
Pfeffinger, Johannes 210 Philipp von Hessen, Landgraf 116–122, 124, 127–129, 144 Pilch, John C. 52 Pöhlmann, Horst Georg 366 Pohl-Patalong, Uta 440 Praetorius, Abdians 206 Preuß, Horst Dietrich 26f. Rambach, Johann Jakob 456 Rausch, Eduard 238, 244f. Reese, Hans-Jörg 520 Reinitzer, Heimo 299, 303 Reinstorf, Dieter 45f., 522, 536, 538 Rhegius, Urbanus 299, 302, 317 Rinck, Melchior 122f., 126f. Rist, Johann 377, 590 Ritschl, Albrecht 362, 406–409 Röbbelen, K. 579 Rössler, Martin 197 Sagert, Laura 573 Sartre, Jean-Paul 366 Sasse, Hermann 19, 38, 51, 53f., 113, 242f., 334, 338–342, 411, 421–423, 426 Scheibel, Johann Gottfried 135f., 138, 335, 338 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 28, 432, 557 Schlichting, Wolfhart 98–104, 110–112 Schlink, Edmund 409, 415, 417f., 424, 427 Schloemann, Martin 76, 364f. Schlunk, Rudolf, jun. 242f., 245, 247 Schmidt, Wilhelm 245 Schmolck, Benjamin 183–200 Schmucker, Samuel S. 427 Schnabel, Georg (Jörg) 125 Schnackenberg, Dieter 525–529, 531f., 533f. Schneider, Anne 269, 272–274, 276, 280 Schneider, Meike 273 Schneider, Nikolaus 272f. Schöne, Jobst 55, 214, 592 Schröder, Rudolf Alexander 461 Schuchardt, F. 581 Schulz, Georg 591 Schütz, Christian 153
626
Register
Schweitzer, Alexander 42 Schwenckfeld, Kaspar 212, 376 Selnecker, Nikolaus 20, 87, 151, 155, 157, 204, 208, 214, 216, 257, 591 Semmlers, Johann Salomo 22 Shepherd 549, 551 Sikutshwa, D. V. 543f. Sililo, M. 543 Silva, Gilberto da 39, 53, 233–235, 237–239, 241, 246–248, 250, 344, 384, 392, 396, 474, 522, 525, 527f., 530, 533–536, 586 Slenczka, Notger 28, 416, 424, 431, 588 Slenczka, Ruth 296, 300 Slevogt, Max 221 Soga, T. B. 546, 550–552 Spangenberg, Cyriakus 210, 213 Speratus, Paul 173f. Spuy, D. van der 542 Srocka, Werner 241, 245 Stockhausen, Jonas von 288 Stössel, Johann 146, 152–155 Strigel, Viktorin 210 Stuart, William 178, 540, 542 Stutte, Hermann 119 Sundkler, B. G. 542 Tacke, Andreas 292, 295, 310, 314 Tauler, Johannes 316 Tertullian 370f. Tesch, Peter 127 Tswaedi, David 527, 531–534, 591
Vilmar, August Friedrich Christian 135, 236, 243, 335, 338 Vilmar, Wilhelm 234 Vinet, Alexandre 335 Virgil 226 Vögelin, Ernst 145, 153 Voigt, Hans-Jörg 392, 522, 535, 601 Wagner, Philipp 153f. Walther, Carl Ferdinand Wilhelm 335, 338, 340f. Warneck, Johannes 574 Weber, K. P. P. Wilhelm 436, 530, 533, 536 Weidner, Daniel 294, 296 Wellhausen, Julius 97 Wenz, Gunther 27, 296f., 304, 308, 351f., 409 Westermann, Claus 25 Wicke, Heinrich 240–242, 244–246 Wigand, Johannes 211 Wilhelm II., Landgraf 116 Wolff, Friedrich 572, 574, 577–581 Wolff, Johann 259 Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken, Pfalzgraf 144, 147 Zimmerli, Walther 40 Zimmerling, Peter 9, 475 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 9 Zwingli, Huldrych 54, 120f., 124, 145, 157, 310, 314, 319, 331f., 377
Sachregister Abendmahl (Eucharistie), Abendmahlslehre 41, 49–56, 59, 69f., 85, 100, 108, 114, 121, 124–126, 128f., 133f., 137, 140, 144–149, 151, 153, 155, 157, 168, 176, 186–188, 193, 195– 198, 204, 214f., 233, 237, 251–254, 256, 258–260, 262–265, 289, 296, 302, 312, 314, 316f., 330–332, 336– 339, 378, 389, 424, 426, 472, 474, 505, 512, 527, 537, 546, 593, 599 Ablass 171f., 176, 323, 325, 331 Absolution 134, 195, 252, 512, 599
Amt, Amtsverständnis 134f., 252, 463 Anfechtung, Angefochtensein 192, 289, 314, 330, 332, 445, 462, 470, 502, 593 Anthropologie 25, 29, 208, 210f., 300, 307, 593, 597 Apartheid 39, 384, 515, 519, 522, 524f., 527f., 530–536, 538, 586, 589 Apologetik 455, 508 Apologie der Confessio Augustana 115, 145, 147, 150, 152, 235, 237, 240f., 297, 340, 419, 425
Sachregister
Apostolisches Glaubensbekenntnis 235, 359, 397, 420 Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) 343, 475, 477, 583 Armenien, Armenier 569, 571–584 Athanasianisches Glaubensbekenntnis 359 Beichte 134, 137, 172, 186–188, 195, 316, 387, 450, 474, 479 Bekenntnis, Bekenntnisse, Bekenntnisschriften 11f., 19f., 26f., 29f., 34, 53f., 70, 87–91, 93, 98–111, 113, 115, 121, 133, 143, 146, 149–153, 157, 162, 203, 214, 232–236, 239– 241, 243–249, 259, 262, 272, 276, 280, 291, 293, 296f., 304, 316, 331, 334f., 338–340, 342, 347, 352, 357– 359, 367, 370, 390, 393, 397, 404– 409, 411–414, 416f., 419–427, 432, 434, 449f., 453–455, 459f., 468, 472, 474, 477f., 504, 509–511, 515, 519–521, 529, 538, 564, 575, 587f., 590f. Bekenntnisbindung 453, 521, 589, 591 Bekenntnishermeneutik 19, 406, 409 Bild, Bilder 36, 72f., 77, 82, 88, 99, 104, 110, 125, 139f., 152, 164, 166, 168, 233, 261, 281, 285, 287–291, 293, 295f., 300, 303–305, 308, 311, 314, 316, 349, 442, 445, 451f., 457, 466, 469, 470–472, 487f., 491, 576, 593 Bischof, Bischofsamt 117, 321, 354, 400f., 403, 516, 532, 534–536, 538, 591, 601 Brasilien 453 Buße 64, 126, 300, 389, 392f., 424, 450, 461, 474, 499f., 594 Christologie, christologisch 40, 58, 91, 145f., 156, 214, 216, 251, 262, 269f., 324, 354–356, 359, 371, 373f., 422, 440, 554, 593 Confessio Augustana (Augsburger Be– kenntnis) 11–13, 20, 26, 28, 54f., 87, 114, 121, 146, 149f., 152, 203f., 235, 237, 240–242, 247f., 250, 291, 293, 297, 302, 314f., 338–342, 390,
627
396–398, 400, 403–409, 413, 415– 420, 422, 424f., 520, 590, 592 Deutschland 53, 102, 104, 114, 222, 231, 233, 236f., 239f., 246, 269, 271, 296, 304, 307, 318, 327, 343f., 363, 385, 396, 415, 423, 426, 431, 463, 474f., 477, 515, 520, 523– 526, 528, 534–536, 571, 574–577, 583 Dogma 145, 297, 300, 354, 411, 418f., 422–427, 506, 600 Dogmatik 21f., 124, 203, 214, 265, 282, 366, 408, 418, 424, 449, 462, 586 Einsetzungsworte 145, 253, 262, 265, 471f. Ekklesiologie, ekklesiologisch 9, 98– 100, 104, 109, 111–113, 231, 249f., 279, 342–344, 346f., 350, 354, 357, 395–401, 403–405, 581, 598 Erwachsenenbildung 447 Erweckung, Erweckungsbewegung 100, 131–137, 139, 141, 523, 587 Eschatologie, eschatologisch 99, 104, 111f., 115, 181, 265, 323, 356, 359, 365f., 414, 417, 451–453, 511 Evangelium 50f., 55, 202f., 205, 209, 213, 337, 340, 371, 377, 517f., 541, 564 Exegese, exegetisch (Schriftauslegung) 9f., 19–28, 30, 33, 38–40, 45, 60, 63, 86, 97, 151, 251f., 260, 265, 323–325, 328, 330, 348, 412, 421, 431f., 454, 462, 472, 592 Frauenordination 351, 355 Freiheit 11, 14f., 30, 68f., 87, 90, 163, 175, 179, 243, 246, 269, 280, 362, 385, 412, 426, 433–435, 439, 505f., 517, 585–600 Frömmigkeit, Frömmigkeitspraxis 13, 131, 171, 294, 305, 313, 450, 473, 475, 490, 566, 569 Gebet, Gebete 79, 132, 176, 183, 185– 189, 193f., 197–199, 280, 310, 324, 417, 450, 460, 471f., 477–480, 489, 584, 597–599 Gebot, Gebote 30–38, 162, 233, 329, 388, 450, 478, 489, 503, 510, 593, 595–598
628
Register
Gemeinde, Gemeinden 29, 34, 45, 51, 55–70, 72–75, 85, 89, 98, 100, 102– 105, 108, 110, 113f., 119, 123, 128f., 133, 135, 138, 140f., 161, 179, 183, 234, 236, 239, 242, 245–247, 252, 293, 318, 331, 337, 341, 363, 393– 395, 397f., 400f., 413–415, 423, 433, 436, 438, 440, 447, 457, 462f., 465, 467, 471f., 475–477, 479–484, 486–489, 493–495, 500, 502, 504f., 509f., 512, 516, 521–527, 529f., 532f., 535, 545–548, 569–571, 574, 581, 583, 586, 591, 598–600 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) 343–347, 349, 350f., 353–357 Gemeinsame offizielle Feststellung (GOF) 344f. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) 271, 420 Genozid 576, 584 Gerechtigkeit, gerecht 11–13, 20, 66, 102, 164, 170f., 174, 180f., 196f., 249, 263, 272, 283, 290, 295, 297, 300, 327, 329f., 332, 357, 366, 392– 394, 409, 425, 427, 434, 451f., 455, 496, 498–500, 502–505, 507f., 511f., 519, 581 Gericht 109, 128, 174, 277, 298, 312, 360, 363, 367, 451f., 471, 500, 505 Gesangbuch 167, 173, 180, 193, 197, 310, 377, 456 Geschichte, geschichtlich, Kirchengeschichte 19, 21, 24, 32, 42, 51, 53, 67, 70, 81, 88–91, 97–99, 105f., 109, 112, 114, 120, 130, 143–147, 156, 160f., 186, 203, 209f., 220–223, 225, 228f., 231, 233–237, 239, 248f., 294, 321, 324, 330, 334, 338– 340, 344, 347, 357f., 361, 364, 368, 378f., 384, 386, 392–396, 398, 412, 415, 422, 425f., 434, 437, 440f., 448, 454, 456, 462f., 465, 470, 473– 475, 477f., 494f., 497, 509, 515, 517, 521, 523, 525f., 534, 536, 542, 545, 553–558, 561–563, 565f., 580, 582, 585, 588, 599
Gesetz und Evangelium 20, 34, 43, 85f., 297, 299, 303, 432–434, 599 Glaube 11, 13, 20f., 26, 33–36, 38, 42– 44, 54, 56, 58, 60, 65–68, 73–75, 84, 86, 93, 107f., 110f., 113–115, 118f., 121–123, 126, 128, 131, 143, 149, 151, 156, 161f., 169f., 173, 179, 186, 189, 194f., 198–201, 204f., 207–210, 212f., 215f., 218f., 221, 230, 246f., 253, 256–258, 261, 263, 265, 269, 272f., 277, 279, 281f., 285, 287, 293, 297, 300, 302f., 307f., 312, 314, 316–318, 321, 323f., 327f., 335–338, 340, 343–345, 348f., 351, 353, 355f., 360, 367, 370, 374, 390, 394, 397f., 403, 405– 407, 409–416, 421f., 424, 426f., 432, 438, 442f., 447–451, 454f., 459–461, 463, 465, 475, 478, 480, 488f., 491, 495, 499, 501, 506, 510f., 517, 521, 529f., 532f., 537, 543, 554, 556, 561–565, 567f., 585–595, 597–601 Gnade 20, 29, 42, 72, 106, 137, 164, 174f., 181f., 189, 195–197, 212, 257, 265, 286, 289, 293, 298f., 301, 303, 312, 314, 322, 329, 367, 393f., 407f., 427, 461, 491, 505–507, 509f., 592, 594, 601 Gnesiolutheraner, gnesiolutherisch 148f., 204, 209f., 215f. Gottesdienst, Gottesdienste 36f., 70, 89, 119, 133, 137, 140, 163, 177, 183– 190, 192–194, 198f., 252, 293, 360, 386f., 397f., 415, 420, 427, 432f., 440, 462f., 465, 467, 469, 471f., 477, 479, 483, 490, 494–497, 500f., 504f., 511f., 524, 529, 571 Götzenopfer 58, 68f., 72 Heidelberger Katechismus 149, 152, 161 Heiligung 134, 175, 254, 315, 352, 450f. Heilsgewissheit 256, 345 Hermannsburger Mission, Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM Hermannsburg) 133, 523–526, 572, 574f., 586
Sachregister
Hermeneutik, hermeneutisch 19–22, 26f., 29, 33, 35, 38, 40, 81, 150, 251, 327f., 332 Hochschule, Hochschulen 10, 169, 252 International Lutheran Council (ILC) 41, 453, 600 Israel 25, 32, 34f., 72, 125, 388, 441, 497, 509 Judentum, Jude, jüdisch 37, 43, 63, 66, 69, 72–74, 82f., 87, 118, 123, 227, 239, 265, 326, 384, 390, 441, 499, 502, 589, 597 Kasualie, Kasualien 184, 188, 475, 477, 479 Katechismus, Katechismen 30, 32, 34– 38, 104, 110, 127, 137, 140, 149– 153, 171, 175, 227, 237, 240f., 245, 293, 297, 303, 312, 320, 367, 397, 405, 411, 415, 431, 439, 449f., 461, 472, 479 Kirche, Kirchen 9f., 12f., 15, 19–24, 27– 29, 34, 37, 39, 41–43, 51, 53–56, 60, 75, 85, 88–90, 93, 98–118, 124– 128, 134–136, 138, 140, 142, 145, 149f., 157f., 160–162, 166–169, 171, 174f., 177, 181, 183–201, 203–205, 209, 212, 215f., 218, 221–223, 225–228, 231–251, 253, 259–261, 263, 265, 270, 272f., 276, 291, 294, 297, 304, 311, 313–316, 319–323, 325, 330f., 333–352, 354–359, 361, 363, 366, 368–371, 373f., 377f., 380, 382, 384, 386, 388, 390–409, 411–417, 419–424, 426f., 432, 434– 436, 440, 447, 449f., 454, 456–458, 460, 462–464, 471–479, 481, 502, 505, 509f., 515–529, 532–556, 558f., 561, 564, 566–570, 575, 578f., 581, 583, 585–591, 593f., 597–600 Altlutherische Kirche, Evangelischlutherische Kirche in Preußen, Altlutheraner 232, 238, 249 Bantu Presbyterian Church of South Africa (BPCSA) 540–542, 544, 547, 553
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Bund selbständiger evangelischlutherischer Kirchen in Hessen und Niedersachsen 239 Confessional Lutheran Synod (CLS) 539 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 12, 20, 88, 110, 150, 157, 239, 242, 247, 259, 270–273, 277, 279, 297, 356, 359, 370, 387, 390, 393, 397, 406, 413, 450, 462, 474f., 478, 570f., 590 Evangelisch-Lutherische Freikirche (in Sachsen und anderen Staaten) 53, 232, 234, 240, 248 Evangelisch-lutherische Kirche in Baden 239 Evangelisch-lutherische Synode in Baden 234 Freie Evangelisch-Lutherische Synode in Südafrika (FELSISA) 41, 51, 54f., 433, 515, 524, 526–539 Hannoversche EvangelischLutherischen Freikirche (HELF) 234, 240, 526f., 530, 534, 571– 574, 577, 580–582 Lutheran Church of Southern Africa (LCSA) 41, 528–530, 532f., 535– 539, 586, 588f., 591, 598–601 Lutheran Church–Missouri Synod (LCMS) 538 Presbyterian Church of South Africa (PCSA) 542–544 Renitente Kirche ungeänderter Augsburger Konfession 232, 234f., 237–242, 244–248, 250 Selbständige evangelisch-lutherische Kirche (alt) 239, 241f., 244–246 Selbstständige EvangelischLutherische Kirche (SELK), selbstständige evangelischlutherische Kirchen 10, 19, 23, 33f., 53, 135, 231, 233, 238, 240– 248, 250, 271, 343–345, 386, 388, 392–394, 409, 425, 433, 436, 450, 463f., 472f., 476f., 480, 482f., 487f., 492, 494, 515, 521, 533–536, 538, 569, 574, 583
630
Register
Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in den hessischen Landen 237, 244 Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in Hessen-Darmstadt 232, 237 Union Evangelischer Kirchen (UEK) 392–394, 409, 462, 477 United Free Church of Scotland (UFCoS) 543f., 547, 552f. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) 242, 247, 410, 462, 476f. Vereinigung Evangelisch-Lutherischer Freikirchen in Deutschland 239 Konfession, konfessionell 9, 11, 15, 26, 39, 41, 51, 53–56, 88f., 93, 98, 102, 104, 109f., 113–115, 131, 133–135, 142f., 146f., 149, 156, 158, 161, 189, 201, 229, 231–233, 235, 237–239, 241, 243–246, 249, 291–296, 300, 304, 308, 310, 334f., 337–339, 341– 343, 350, 353, 356, 409, 411, 415, 420, 423, 426, 449, 453, 517, 519f., 522f., 526, 529, 534, 537, 569, 573, 600 Konkordienbuch 27, 54, 135, 157f., 204, 235, 237f., 359, 409, 411, 416–418, 420, 426, 565 Konkordienformel 20, 86, 142f., 145, 150, 156–159, 201, 203–205, 208– 210, 213f., 235, 237–246, 248f., 338f., 370, 377, 415–417, 419–422, 425, 451, 542 Kunst 22, 45, 85, 164, 291, 293, 296, 298, 304, 313, 318, 467, 508 Laie, Laien 116–120, 122, 124, 127, 129f., 173, 395, 463, 523 Leidensunfähigkeit 368f., 373f., 376, 381–383 Lektoren, Lektorendienst 463, 468 Lesung, Lesungen 272, 462–465, 467– 469, 471–473, 476, 485, 495 Leuenberger Konkordie 19, 113, 409f. Lied, Lieder 25, 92, 108, 140, 167, 173, 180, 183–189, 193f., 197f., 254– 258, 265, 455f., 458f., 461, 465, 490
Lutheran Theological Seminary (LTS) 41, 334, 433, 535 Lutherische Kirchenmission (Bleckmarer Mission | LKM) 10, 526–530, 533–536, 538, 570, 572, 574f., 577, 582, 586f., 589f., 598f. Lutherische Theologische Hochschule Oberursel (LThH) 10, 19, 41, 240, 431, 433, 455, 528, 534–536 Lutherischer Lobpreisgottesdienst (LoGo) 494f. Luthertum 28, 89, 99–101, 106, 112, 142, 146–148, 150, 156–158, 239, 244, 260, 291, 293–296, 301, 308, 314, 342, 396, 407, 426, 454, 588 Menschenbild 29 Mentalität, Mentalitäten, Mentalitätsgeschichte 39, 239, 265, 365, 531, 583 Messopfer 297, 310f. Migration, Migranten 361, 507–509 Mission, Missionare 39, 58, 71, 73, 100, 133, 135, 140f., 234, 239, 242, 347, 384, 497, 502, 520, 522–531, 533– 537, 541f., 544–556, 558f., 561, 564–568, 570–577, 579–582, 586f., 589–593, 598–600 Mitte 9–11, 15, 28, 41, 63, 72, 76–85, 87, 91–93, 95, 98, 104, 110, 114, 122, 183, 186, 189, 199–201, 203, 216, 230f., 249f., 266, 269, 274, 294, 297, 322, 330, 332, 342f., 345, 355–358, 429, 431f., 440, 457, 460, 474, 496, 501, 505, 507, 513, 519– 522, 537, 553, 568, 581, 587, 590f. Nationalsozialismus 238f., 385 Nicänisches Glaubensbekenntnis 90, 359, 367, 371f. Norm, normativ 22, 27, 272, 323, 355 Ökumene, ökumenisch 9f., 19, 41, 56, 75, 101, 113–115, 144, 175, 202, 231f., 240f., 249, 270, 342–344, 346–348, 350f., 353f., 356–358, 369, 386, 394, 400f., 410, 419, 423, 427, 451, 479, 492, 521f., 570, 581 Ordination 103, 184, 242, 245, 401, 403, 405, 433, 502
Sachregister
Orthodoxie 21, 99f., 109, 143f., 351, 355, 399, 411, 590 Papst, Papsttum 91, 117, 166, 176, 233, 300, 321f., 325, 354, 594, 596 Pastoraltheologie, pastoraltheologisch 139, 451 Pate, Paten 188, 459, 474f., 478, 483, 485, 489, 493 Pfarrer, Pastor 45, 98, 123, 127, 132, 137–141, 165, 177, 195, 197, 199, 234, 236, 240–242, 244f., 247, 293, 302, 340, 411, 415, 431, 453f., 456, 474, 480–488, 492f., 524, 527f., 530, 532, 534f., 538, 569f., 572f., 579, 584, 587, 598–600 Pietismus 109, 200, 566 Prädestination, Prädestiationslehre 210, 256, 330 Predigt, Predigten, Predigen, Prediger 9–11, 21f., 26, 38f., 45, 58, 64f., 76f., 85, 87, 103, 108, 110, 116, 119, 126, 131f., 134–141, 153, 162, 186f., 193–195, 198, 211f., 230, 251–254, 256–259, 265, 296, 302, 316, 348, 367, 390, 391, 393, 407, 413, 425, 427, 433–440, 444–447, 457, 465, 467, 469, 481f., 485, 488–493, 495, 500–504, 506, 515, 520, 535, 569, 571, 593, 595, 601 Predigthörer 81, 84, 89f., 132, 194f., 261, 265, 387, 438–440, 445, 447, 464, 466, 472, 491, 501–504, 506, 515 Pretoria 45, 334, 433, 436, 525, 530, 535, 545, 561, 585, 588, 599f. Realpräsenz 147f., 253, 265, 314, 332, 355 Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre 12f., 61, 100, 113, 174f., 203, 240, 243, 288f., 291, 297, 300, 302, 304, 312–316, 318, 321, 328, 343–357, 416, 426f., 448, 451, 454, 459, 554, 556, 562, 566, 568, 594, 597 Reflexionsgeschichte 19, 23, 29, 34, 39, 432 Reformation, Reformator, Reformatoren 12f., 20f., 30, 39, 43, 53, 113, 116f.,
631
120–123, 128–130, 138, 142–144, 149, 159f., 162, 164, 167–169, 173, 176, 178, 181, 183, 185, 220, 222f., 229, 240, 243, 265, 291–294, 296f., 299f., 302, 304f., 307, 310, 316, 318, 321f., 327, 329–331, 334, 341, 343, 349, 362, 378, 395f., 399–401, 403, 413f., 416, 418f., 454–458, 460f., 463, 538, 555f., 559–562, 587f., 592, 596f. Reformationsgedenken, Reformationsjubiläum 114, 142, 160, 182, 326, 386f., 392 reformiert 100, 109, 113f., 167, 233f., 236, 292, 326, 422, 458, 476f., 479, 526 Religion 26, 133, 143, 218, 230, 235, 239, 291, 294f., 363, 411, 419, 424, 494, 496, 598, 600 Reue 186, 300, 394, 500 römisch-katholisch 25, 102–104, 113, 130, 166, 171, 174f., 180, 184, 269, 291f., 297, 300, 304, 310, 312, 314, 326, 344–351, 354–357, 363, 395f., 398–400, 402, 404f., 463, 476, 520 Sakrament, Sakramente 55, 100, 107, 110, 113, 125, 131, 134, 161, 186, 237, 253–257, 259–265, 302f., 316, 331f., 335, 337, 339, 342, 344, 347, 349, 352, 354, 397f., 400, 403–405, 407–409, 422, 427, 450f., 472, 474, 479, 501, 537, 593f., 600 Schmalkaldische Artikel 147, 150, 237, 240f., 297, 406, 416 Schöpfung 31, 85, 211–213, 298, 356, 358, 512 Schriftprinzip 27, 319, 321f., 326, 330– 332 Schuld 26, 62, 175, 239, 282, 384, 386– 394, 413, 444, 506, 578–580, 583, 597 Seelsorge, seelsorglich 126, 138, 183, 269, 271, 432, 451–453 Sterben, Sterbehilfe 86, 174, 179, 186, 269–287, 289, 303, 306f., 442, 498, 504, 511, 594
632
Register
Südafrika 41f., 54, 56, 98, 114, 334, 384, 433, 515, 523–528, 530–533, 535, 539–542, 544f., 547f., 550– 553, 572, 585–587, 597, 600 Sünde, Sünder 12f., 31, 44, 88, 101, 103, 115, 126, 137f., 170, 173, 177, 195f., 202, 205f., 208–212, 254, 257f., 287, 289, 300–302, 308, 317, 328f., 345, 350, 352f., 355, 358, 365–367, 387–391, 427, 442, 451f., 459, 461, 496, 499f., 504f., 507, 510, 512, 591, 597 Systematische Theologie 19, 76, 86, 93 Taufe 13, 77, 102, 107f., 110f., 114f., 123–126, 134, 161, 184, 186, 188, 215, 316, 389, 403, 414, 424, 441– 443, 450, 461, 466, 474–480, 482– 485, 487f., 490, 492–495, 499, 509, 511, 565, 592–595, 597 Taufspruch, Taufsprüche 474–477, 479– 495
Transsubstantiation, Transsubstantiationslehre 233, 310, 318 Union, altpreußische Union, Unionsgespräche, Unionskirche, uniert 19, 101, 109, 162, 236, 239, 249f., 334, 338f., 392–394, 409f., 423, 477, 519–521, 544, 575 Unterricht 22, 39, 293, 447, 531 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 114, 348f., 363 Verheißung 13, 29f., 316, 318, 356, 360f., 363, 435, 471, 478, 480, 594f., 598 Wort Gottes 21, 26f., 37f., 40f., 61, 85, 117, 134, 141, 161, 175, 194, 202f., 205, 209, 212, 216, 253, 257, 312, 318, 328, 336f., 420, 422, 441, 451, 462, 475, 492, 543, 564f., 592f. Zeitgenossenschaft 11, 19, 38–40, 342, 384–386, 390, 394, 534–536, 575
Bibelstellenregister Gen 1 Gen 2,1–3 Gen 2,7 Gen 3 Gen 3,15 Gen 15,6 Gen 18,1ff. Gen 18,1–16 Gen 19,17 Gen 22 Gen 28,18 Gen 43,2
564 36 499 97 497 23 190 49 186 23 261 258
Ex 3,5 Ex 12,5 Ex 16,13f. Ex 17,15 Ex 19,5 Ex 19,6 Ex 20 Ex 20–23 Ex 20,1
192 498 190 261 388 403 30, 33 33 507
Ex 20,1–6 Ex 20,1–17 Ex 20,2 Ex 20,2f. Ex 20,3 Ex 20,4 Ex 20,5 Ex 20,5f. Ex 20,6 Ex 20,7 Ex 20,8 Ex 20,11 Ex 20,12 Ex 20,13 Ex 20,13–17 Ex 21,2ff. Ex 24,7 Ex 28,15ff. Ex 34,14 Ex 34,28
32 31f. 34, 36, 162 498 36 35 34, 36, 515 388 36 32 32 31 32 32 32 506 462 260 262 33
Bibelstellenregister
Lev 1,11 Lev 11,14 Lev 11,44f. Lev 16,21f. Lev 17 Lev 17,11 Lev 18 Lev 19,2 Lev 20,7 Lev 21,28 Lev 24,16 Lev 25,25 Lev 25,39 Lev 26
498 46 46 498 72 255 72 46 46 46 81 498 506 46
Num 7,7 Num 21,9
388 261
Dtn 4,13 Dtn 5 Dtn 5,6 Dtn 5,6–21 Dtn 5,8 Dtn 5,9 Dtn 5,11 Dtn 5,12 Dtn 5,14 Dtn 5,15 Dtn 5,17–21 Dtn 5,18–21 Dtn 5,20 Dtn 5,21 Dtn 6,4 Dtn 6,20–25 Dtn 10,4 Dtn 12–26 Dtn 12,15f. Dtn 15,12ff. Dtn 16,18–18,22 Dtn 17,6f. Dtn 17,7 Dtn 19,15 Dtn 26,5–9 Dtn 27,2f.
33 30, 33, 36 31, 34 31f. 35 34 32 31 31, 34 31 32 32 32 31f. 497 34 33 33 498 506 34 81 63 81 90 261
Jos 1,9 Jos 4,9f.
484 261
Jos 4,10
261
Jdc 7,19 Jdc 9,13
82 265
I Reg 19,9–13
190
Neh 9,2 Neh 13,1
389 462
Hi 2,7f. Hi 2,10 Hi 3,11–23 Hi 5,6f. Hi 6,4 Hi 6,9–11 Hi 6,10 Hi 7,5 Hi 33,24–26 Hi 42,7–9
285 285 286 286 286 286 285 285 264 286
Ps 1,1f. Ps 3,6 Ps 14 Ps 14,1f. Ps 19,11 Ps 23 Ps 23,1 Ps 25,7 Ps 27,1 Ps 32 Ps 34,9 Ps 42 Ps 45,3 Ps 45,4 Ps 46,3f. Ps 47,9 Ps 50,14 Ps 50,19 Ps 51 Ps 51,9 Ps 51,10 Ps 51,19 Ps 63,4 Ps 63,6 Ps 71,16 Ps 77,2
207 77 593 592 254 262, 484 484 515 484 499 255 311 263 263 79 389 265 505 562 254 257 258 594 255 264 467
633
634
Register
Ps 80,15 Ps 84 Ps 90 Ps 90,10 Ps 90,12 Ps 91,11 Ps 91,11f. Ps 91,10–12 Ps 91,(10)11f. Ps 91,11f. Ps 102,25–29 Ps 103,2–4 Ps 104,14 Ps 110,1 Ps 111 Ps 117,1 Ps 119 Ps 119,7f.11f. 62.164.171f.174f. Ps 119,32 Ps 119,105 Ps 121,1 Ps 122 Ps 132,10.17 Ps 139,5 Ps 147,3 Ps 147,3–6.11–14a Ps 148,12f.
466 265 77, 92 287 280 483f. 483f. 483 484 495 92 262 262 83 314 389 566
Cant 2,8 Cant 4,16 Cant 5,10.14
192 192 263
Jes 1,27 Jes 6,9f. Jes 7,4 Jes 28,16 Jes 33,24 Jes 40,29–31 Jes 41,17 Jes 43,1 Jes 43,3 Jes 53 Jes 53,1 Jes 53,5 Jes 53,7f. Jes 53,10f.
499 470 186 260 264 264 256 484f. 498 427 470 265 477 281
255 264 484 186 190 256 484 515, 536 436, 440, 443f. 265
Jes 54,8 Jes 54,13 Jes 55,1–3 Jes 55,3 Jes 55,4 Jes 58,7 Jes 61,1f. Jes 63,15 Jes 64,3 Jes 65,13f. Jes 66,2 Jes 66,7f.
498 252 252, 254, 256 256 253 258 506 466 496 265 466 264
Jer 2,32f. Jer 7,9 Jer 31,20 Jer 31,29f. Jer 31,33 Jer 31,33f. Jer 36,6
254 33 368 389 254 254 462
Klgl 3,22–26.31f.
436f., 439–441, 446
Ez 1,14 Ez 34,14 Ez 34,23f. Ez 36,25 Ez 36,26 Ez 36,26f. Ez 37,24
197 262 256 254 505 254 256
Hos 3,5 Hos 4,2 Hos 11,7–11
256 33 378, 380
Am 3,2
388
Mi 2,2
33
Sach 9 Sach 9,9 Sach 9,10–12 Sach 9,11 Sach 9,15 Sach 9,16 Sach 9,16f. Sach 10,3.5.12
259, 264 259 259 259 264 259f. 259 264
Bibelstellenregister
Sach 13,7
262
Sir 4,8–11 Sir 33,5 Sir 33,19–30
87 197 47
Mt 1,1.8–25 Mt 1,21 Mt 1,21–23 Mt 4,8–10 Mt 4,23 Mt 4,25 Mt 5–7 Mt 5,1 Mt 5,1f. Mt 5,1–10 Mt 5,1–12 Mt 5,2 Mt 5,6 Mt 5,13–16 Mt 5,14 Mt 5,17–32 Mt 5,20 Mt 5,23f. Mt 5,23–26 Mt 5,25f. Mt 5,38–41 Mt 5,38–48 Mt 6,5–15 Mt 6,11 Mt 6,16–21 Mt 6,25–34 Mt 7,1 Mt 7,16 Mt 8,1–4 Mt 9,1–8 Mt 9,2.4 Mt 9,35 Mt 9,36 Mt 10 Mt 10,2 Mt 10,7 Mt 10,32 Mt 11,1 Mt 11,4 Mt 11,28 Mt 12,10
441 253 499 466 131, 413 465f. 466 465f. 467 465 465 467 256 467 500 504 504 59, 63 59 59 59, 63 467 467 506 467 467 59 124 77 389 466 413 466 416 502 132 414 413 132 252, 260 78
635
Mt 13,2 Mt 13,12f. Mt 13,35 Mt 14,22–33 446 Mt 14,23 Mt 15,29–39 Mt 16,13–19 Mt 17,1–9 Mt 18 Mt 18,2 Mt 18,15 Mt 18,15–18 Mt 18,15–20 Mt 18,17 Mt 19,12 Mt 19,15 Mt 19,16–25 Mt 19,21 Mt 20,1–16 Mt 20,1ff. Mt 20,26 Mt 21,1–9 Mt 21,9 Mt 24–25,46 Mt 24,15 Mt 25 Mt 25,14–30 Mt 25,19 Mt 25,31–45 Mt 25,40.45 Mt 26,27 Mt 26,28 Mt 26,62 Mt 27,31 Mt 27,38 Mt 28,16–20 Mt 28,17 Mt 28,18–20 Mt 28,19 Mt 28,19f. Mt 28,20
467 599 467 436, 438, 440–442,
Mk 1 Mk 1,1 Mk 1,11 Mk 1,11.22.27
506 76, 87 87, 499 83
466 466 469 466 59 78, 81 59 62 63 63 172 81 171 172 163 506 172 259 469 466 462 172 82 82 173 277 331 254 81 77 83 466 86 483 389 499 413, 466
636
Register
Mk 1,12 Mk 1,14 Mk 1,14f. Mk 1,15 Mk 1,16–3,6 Mk 1,21 Mk 1,35 Mk 1,40–45 Mk 1,45 Mk 2,7 Mk 2,10.28 Mk 3,1–6 Mk 3,2–5a Mk 3,2.6 Mk 3,3 Mk 3,4 Mk 3,5b Mk 3,6 Mk 3,14 Mk 4,2–9 Mk 4,3 Mk 4,13–20 Mk 4,14 Mk 4,35–41 Mk 4,41 Mk 5,1 Mk 5,1–20 Mk 5,10 Mk 5,14–17 Mk 5,18–20 Mk 5,20 Mk 6,32–44 Mk 6,45 Mk 6,45–52 Mk 6,47 Mk 6,48–50a Mk 6,50b–52 Mk 7,1ff. Mk 7,15 Mk 7,31 Mk 7,31–37 Mk 7,33a Mk 7,36f. Mk 8,22–26 Mk 8,27 Mk 8,27a Mk 8,27b–33
77 76 85 84, 88 78 80 76 436 77 497 83 78 78 78 78 90 78 90 502 83 83 83, 88 84 79 83 80 80 77 80 80 80 79 79 79 78f. 79 79 330 331 78, 80 80 80 80 84 497 84 84
Mk 8,27–30 Mk 8,27–33 Mk 8,27–35(38) Mk 8,29 Mk 8,29–33 Mk 8,30.31.34 Mk 8,31 Mk 8,31–32a Mk 8,31–38 Mk 8,32 Mk 8,33 Mk 8,34 Mk 8,34f. Mk 8,34–38 Mk 8,35 Mk 8,36f. Mk 8,38 Mk 9,7 Mk 9,30–32 Mk 9,31 Mk 9,32 Mk 9,33–37 Mk 9,36 Mk 9,37 Mk 10,13–16 Mk 10,29–31 Mk 10,32 Mk 10,35–45 Mk 10,37.40 Mk 10,40 Mk 10,45 Mk 11,9 Mk 12,8 Mk 12,12 Mk 12,28–34 Mk 12,36 Mk 13 Mk 13,3 Mk 13,3–23 Mk 13,14 Mk 13,31 Mk 13,32 Mk 13,33 Mk 13,34 Mk 13,34–37 Mk 13,35 Mk 13,35b
468f. 84 469 468 498 469 468 80 465, 468 468 468f. 84, 469 469 468f. 88, 469 469 469 87 468 80 80 80 78 80 80, 478 88 468 436f., 440, 444 83 83 80 469 77 90 90 83 81 82 88 89, 462 84, 88 83 82 81f. 88 78, 82 82
Bibelstellenregister
Mk 13,35.37 Mk 13,35–37 Mk 13,37 Mk 14,1 Mk 14,9.28 Mk 14,17–26 Mk 14,24 Mk 14,36 Mk 14,54.66–72 Mk 14,55–59 Mk 14,55–65 Mk 14,60 Mk 14,60f. Mk 14,62 Mk 14,62–65 Mk 15,20 Mk 15,39 Mk 16,1–8 Mk 16,5 Mk 16,5–7 Mk 16,7 Mk 16,8 Mk 16,9–20 Mk 16,20
81 81 81 81 88 53 78 81, 83 81 81 81 78 81 83 81 77 87 84 84 92 84, 88 468 468 131
Lk 1,30 Lk 1,47 Lk 1,50 Lk 1,54 Lk 1,72 Lk 1,78 Lk 1,79 Lk 2,1 Lk 3,10–14 Lk 4 Lk 4,6 Lk 4,18ff. Lk 5,16 Lk 5,27–6,5 Lk 6,8 Lk 6,13 Lk 6,27f. Lk 6,27.35 Lk 6,36 Lk 7,36–50 Lk 9,10–17 Lk 9,18–22
190 46 46 46 46 46 571 418, 565 509 227 462 506 77 49 78 502 598 46 46 49 49 469
Lk 9,47 Lk 10,1ff. Lk 10,16 Lk 10,34 Lk 10,37f. Lk 10, 38–42 Lk 10,42 Lk 11,37–54 Lk 12,32 Lk 12,48f. Lk 13,20f. Lk 13,29 Lk 14,1–24 Lk 14,15–23 Lk 15 Lk 15,1–32 Lk 15,2 Lk 15,11–31 Lk 15,15 Lk 15,16–31 Lk 15,17 Lk 15,17–20a Lk 15,20b–24 Lk 15,25 Lk 15,31 Lk 17,7–10 Lk 17,10 Lk 18,11 Lk 18,13f. Lk 18,17 Lk 18,38 Lk 19,1–10 Lk 20,1 Lk 21,26–29 Lk 21,27 Lk 21,28 Lk 21,34–36 Lk 22,7–38 Lk 22,14–23 Lk 23,26 Lk 23,33 Lk 23,47 Lk 24,13–35 Lk 24,26 Lk 24,28–35 Lk 24,21–43
78, 81 502 502 254 46 49 46 49 435 599 49 49 49 49 48 49 46 46, 49 48 49 47 47 47 47 48 182 182 387 46 81 46 49 413 367 360 364, 367 82 49 53 77 83 87 190 499 49 49
637
638
Register
Joh 1 Joh 1,1 Joh 1,3 Joh 1,18 Joh 1,26 Joh 1,29.36 Joh 3f. Joh 3,14 Joh 3,15 Joh 3,16 Joh 4,10 Joh 4,14 Joh 5,24 Joh 6 Joh 6,35 Joh 6,35.37 Joh 6,45 Joh 6,54 Joh 6,56 Joh 7,35 Joh 7,37 Joh 8 Joh 8,11 Joh 8,12 Joh 9,35–41 Joh 10,3 Joh 10,16 Joh 11,51f. Joh 12,16 Joh 12,19 Joh 12,20 Joh 12,20–24 Joh 12,20–26 Joh 12,20–33 Joh 12,20–50 Joh 12,23 Joh 12,24 Joh 12,26 Joh 12,27–33 Joh 12,32 Joh 12,34–36 Joh 12,37–50 Joh 12,44ff. Joh 13,6ff. Joh 13,26 Joh 13,34 Joh 14,3
427 371, 565 461 459 83 497 306 76 498 45, 460 510 252 502 266 510 252 252 255, 264 264 470 252, 460 212 498 483 436–438, 440, 445 406 336 470 470 470f. 470 465, 469 469, 471 470 470 470 470f. 470f. 470 471 470 470 517 501 317 510 471
Joh 14,6 Joh 15,6 Joh 15,9f. Joh 15,13 Joh 17,20f. Joh 17,21 Joh 17,24 Joh 19,18 Joh 19,30 Joh 20,19.26 Joh 20,22f.
194, 503 254 510 510 232 423 471 83 506 83 390
Act 1–12 Act 1,11 Act 1,25 Act 2,39 Act 2,42 Act 2,46 Act 2,46f. Act 3,21 Act 4,12 Act 5,42 Act 8 Act 8,23 Act 8,26–40 Act 9,2 Act 10,41 Act 12,24 Act 13,15.17 Act 15 Act 15,1–2a Act 15,2b–5 Act 15,7 Act 15,7–11 Act 15,11 Act 15,19 Act 15,35 Act 16,4 Act 17,7 Act 26,2 Act 26,9–23
57 360 260 509 337, 413 57 265 151 257 413 197 254 477 504 260 565 462 48, 58, 71, 73 72 72 72 72 72 72 413 418 418 91 90
Röm 1,17 Röm 2,4 Röm 2,15 Röm 3 Röm 3,21
170 47, 461 208 427 43
Bibelstellenregister
Röm 3,23ff. Röm 3,28 Röm 4 Röm 5 Röm 6 Röm 6,4 Röm 6,9 Röm 6,17 Röm 6,23 Röm 7,22f. Röm 8,4 Röm 10,9 Röm 10,12 Röm 10,17 Röm 13,8 Röm 13,10 Röm 14 Röm 14f. Röm 14,1 Röm 14,1.3 Röm 14,1–12 Röm 14,1–15,13 Röm 14,2–4 Röm 14,3f. Röm 14,5 Röm 14,5b Röm 14,6–9 Röm 14,7–9 Röm 14,10–12 Röm 14,13–15 Röm 14,15 Röm 14,16–18 Röm 14,19–20a Röm 14,19–21 Röm 14,20a Röm 14,20b–21 Röm 14,22 Röm 14,22a Röm 14,22f. Röm 15,1–4 Röm 15,5f. Röm 15,7 Röm 15,7–13 Röm 15,8–12 Röm 15,13 Röm 16,17
76 504 427 211 565 77, 461, 594 264 413 287 595 499 414 259 131, 212, 257 595 510 71 58, 60, 65 65 66 66 65 65, 67 66 65 66 66f. 66 66f. 66 66, 68 66f. 67 66 67 68 68 68 66f. 66 66 66f. 390 66 66 51, 413
I Kor 1f. I Kor 1–4 I Kor 2,2 I Kor 2,4f.13–16 I Kor 2,9.13 I Kor 3,6–10 I Kor 3,11 I Kor 4,1–5 I Kor 4,6 I Kor 4,14f. I Kor 4,15 I Kor 5 I Kor 5,13 I Kor 6,1–8 I Kor 6,7 I Kor 6,9–11 I Kor 7,20–24 I Kor 7,29–32 I Kor 8–10 I Kor 8,4–6 I Kor 8,4–6.8f. I Kor 8,9–13 I Kor 9,19 I Kor 9,22 I Kor 9,27 I Kor 10 I Kor 10f. I Kor 10,16 I Kor 10,17 I Kor 10,20–22 I Kor 10,23 I Kor 10,25.27 I Kor 10,28f. I Kor 10,29a I Kor 10,29b I Kor 10,31 I Kor 11 I Kor 11–14 I Kor 11,2–16 I Kor 11,3–34 I Kor 11,17–31 I Kor 11,17–34 I Kor 11,22 I Kor 11,23 I Kor 11,23–26 I Kor 11,24 I Kor 11,25
57, 62 64 43, 496 90 496 64 260 436 64 64 264 63 63 59, 62 62 508 436f. 365 58, 68, 71 69 69 69 595 69 595 472 51 253, 262 472 69 69 69 69 69 69 69 59, 69 70 51 52 55 51–53 70 259 69, 472 53, 258 254
639
640
Register
I Kor 11,26 472 I Kor 11,27.29 I Kor 11,29 I Kor 11,31f. I Kor 12 I Kor 12–14 I Kor 12,1–3 I Kor 12,13 I Kor 13 I Kor 14 I Kor 14,1–25 I Kor 14,26–40 I Kor 15,1–8 I Kor 15,3–8 I Kor 15,9 I Kor 15,14 I Kor 15,41 I Kor 15,50–58
51, 254, 261f., 264, 253 51, 85, 128 53 70 59 70 264 70 69f. 70 70 85 90 504 565 85 436, 440, 443
II Kor 1 II Kor 1,3ff. II Kor 1,9 II Kor 1,10 II Kor 1,12ff. II Kor 1,15–2,2 II Kor 1,19f. II Kor 1,20 II Kor 1,23 II Kor 2 II Kor 2,1ff. II Kor 2,1–4 II Kor 2,5 II Kor 2,6 II Kor 2,7–10 II Kor 2,12–17 II Kor 2,14f. II Kor 2,17 II Kor 3,5 II Kor 3,14 II Kor 4,2–4 II Kor 4,4 II Kor 4,7–10 II Kor 4,7–18 II Kor 4,10–12 II Kor 4,16 II Kor 5,14f.
57 60 61 60 61 61 61 256 61 62 61 59 62 62 62 61 61 61 61 462 61 61 58 61 287 254 254
II Kor 5,20 II Kor 5,21 II Kor 6 II Kor 6,8–10 II Kor 6,11–13 II Kor 6,14 II Kor 6,16 II Kor 7,1 II Kor 7,2 II Kor 8,9 II Kor 10f. II Kor 10–13 II Kor 11,6 II Kor 11,13 II Kor 12,9 II Kor 12,9f. II Kor 12,19 II Kor 12,21 II Kor 13,4
501 499 62 62 62 62 260 254 62 436, 439, 441, 444 57 61 57 497 62 265 58 58 58
Gal 1,6–9 Gal 1,8 Gal 1,10 Gal 1,10–12 Gal 1,13–24 Gal 2 Gal 2,1–10.11–21 Gal 2,6 Gal 2,11–14 Gal 2,11–21 Gal 2,14 Gal 3,1 Gal 3,8.14.26 Gal 3,24 Gal 3,26–29 Gal 4,1 Gal 4,19 Gal 4,30 Gal 5,9 Gal 5,12 Gal 5,24 Gal 6,15
51 63 89 89 89 73 89 71 58 63 85 63 436f. 195 601 85 264 51 51, 413 58 595 506
Eph 2 Eph 2,4–6 Eph 2,4–10 Eph 2,15
212 265 436, 438, 440, 442 418
Bibelstellenregister
Eph 2,17–22 Eph 2,20 Eph 3,16 Eph 3,16f.19 Eph 3,19 Eph 4,3–6 Eph 4,4f. Eph 4,24 Eph 5,14f. Eph 5,18f. Eph 5,30
515 260 254, 263 255 263 474 423 500 186 265 300
Phil 1,12–18 Phil 1,23 Phil 1,27–30 Phil 2,5–11 Phil 2,12 Phil 2,13 Phil 3,4b–11 Phil 3,7–17 Phil 3,8 Phil 3,12 Phil 3,21
65 283 65 65, 90 65 65 90 436f., 439, 442, 444 504 509 264
Kol 1,16 Kol 1,17 Kol 1,24 Kol 2,9 Kol 2,14 Kol 3,15–17 Kol 4,16
461 368 58 368 418, 506 512 462
I Thess 3,12f. I Thess 5,27
II Tim 2 II Tim 2,26
212 254
Tit 3,4–7
500
I Petr 1,3 I Petr 1,5 I Petr 1,17–19 I Petr 1,20 I Petr 2,2 I Petr 2,2f. I Petr 2,24 I Petr 2,9 I Petr 5,10
499 254 254 460 254 460 254 403 477
II Petr 1,2–11 II Petr 1,4 II Petr 3,3–14
436, 444 263 436
512 462
I Joh 2,7f. I Joh 2,22 I Joh 3 I Joh 3,1 I Joh 3,19 I Joh 4,2 I Joh 4,3 I Joh 4,15 I Joh 4,16b I Joh 4,19 I Joh 5,7 I Joh 5,8 I Joh 5,11 I Joh 5,11f.20 I Joh 5,20
510 414 211 459, 484 507 414 414 414 483 510 255 253 255 255 259
II Thess 2,15 II Thess 3,10–12
413 510
II Joh 1,5 II Joh 9
510 413
I Tim 2,4 I Tim 2,5f. I Tim 3,15 I Tim 4,13 I Tim 6,20
597 346 261 462 414
II Tim 1,7–10 II Tim 1,10 II Tim 1,12.14
436, 440f. 460 414
Hebr 2,11 Hebr 3,1 Hebr 5,9 Hebr 5,14 Hebr 9,12 Hebr 9,14 Hebr 9,28 Hebr 11,23 Hebr 13,8
25 497 255 86 255 263 498 418 380
641
642
Register
Hebr 13,9 Hebr 13,12 Hebr 13,12–14 Hebr 13,15 Hebr 13,20
507 49 436, 440, 447 265 255, 262
Jak 1,6 Jak 2,14–26 Jak 3,1ff. Jak 3,2–12 Jak 3,3 Jak 3,13–18 Jak 3,14 Jak 4,1 Jak 4,1–3 Jak 4,1–10 Jak 4,6.10 Jak 4,7f.
86 58 64 64 64 64, 436f., 446 64 64 64 64 64 64
Jud 3
411
Apk 1,1–20 Apk 1,6 Apk 1,8
92 403 92
Apk 1,12f. Apk 1,20 Apk 2,1 Apk 2,7 Apk 3,12 Apk 4,6 Apk 5,5 Apk 5,6 Apk 5,10 Apk 6,6 Apk 7,13–17 Apk 7,17 Apk 14 Apk 14,12 Apk 17,1–18 Apk 20 Apk 21,9f. Apk 21,14.19 Apk 22,1f. Apk 22,2 Apk 22,8f. Apk 22,15 Apk 22,16 Apk 22,17
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