Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen [1 ed.] 9783428475902, 9783428075904


115 24 17MB

German Pages 183 Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen [1 ed.]
 9783428475902, 9783428075904

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

WERNER FREISTETTER UND RUDOLF WEILER (Hg.)

Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen

Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen

herausgegeben von

Werner Freistetter und Rudolf Weiler

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Einheit der Kulturethik in vielen Ethosformen I hrsg. von Werner Freistetter und Rudolf Weiler.- Berlin : Duncker und Humblot, 1993 ISBN 3-428-07590-0 NE: Freistetter, Werner [Hrsg.]

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISBN 3-428-07590-0

VORWORT Am 16. Februar 1991 wäre Johannes Messner hundert Jahre alt geworden. Zum Gedenken an den großen Gelehrten und die vorbildliche Priesterpersönlichkeit hatte sich in Wien eine wissenschaftliche Gesellschaft, die seinen Namen trägt, gebildet. Diese Johannes-Messner-Gesellschaft lud anläßlich des Centenariums zu einem wissenschaftlichen Symposium in Verbindung mit dem Institut für Ethik und Sozialwissenschaften der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, wo er viele Jahre seines Lebens gewirkt hatte, nach Wien ein. Die dabei gehaltenen Vorträge, ergänzt durch weitere Artikel aus dem Schüler- und Freundeskreis Messners, sollen hier in einem Sammelband vorgelegt werden. Beim Opus von Johannes Messner wird zumeist sein in siebenter Auflage, zuletzt 1984, in Berlin erschienenes Naturrecht genannt. Es ist die .. Soziale Summe" des Sozialethikers Messner, der als Sozialwissenschafter ebenso ausgewiesen war wie als ein in der Naturrechtstradition stehender Ethiker. Er sah seinen Dienst an der Sozialle hre der katholischen Kirche besonders in Verbindung des theologischen Propriums der Sicht von Mensch und Gesellschaft mit der richtigen Kenntnis der irdischen Sachwirklichkeiten. So suchte er vor dem theologischen immer das sachliche Argument. Nicht anders hielt es Messner in der Ethik. Die Suche nach Begründung der sittlichen Wahrheit war ein mühevoller und langer Schwerpunkt seiner Forschung, besonders in de n Jahren seines Exils in England ab 1938 und danach bis in die sechziger Jahre. Die Frucht dieses Forschens kam der Grundlegung seiner Sozialethik im oben angesprochenen Naturrecht zugute. Das Hauptwerk dieses so entscheidenden Schaffens im Bereich der Ethik ist aber die von ihm 1954 veröffentlichte Kulture thik. Mehr als ein Drittel dieses große n W erkes von nahezu 700 Seiten ist allein der Grundlegung durch die Prinzipienethik gewidmet. Von diese r Grundlage her sollte sich der Entwurf Messners eine r sittlichen Kultur des persönlichen und folglich des gesellschaftlichen Lebens in allen sozialen Formen und kulturellen Ordnungen ergeben. Wenn heute viel von Ethik in einer multikulturellen W elt und Gesellschaft gesprochen wird, so ist der damit gemeinte ethische Universalismus immer in Gefahr, nach dem heute unverbindlichen ethischen Denken zu verblassen. Unsere Zeit ha t die ethische Sprache zwar wieder stärker

6

Vorwort

gefunden und betont, die Forderung nach Ethik und Verantwortung in der Kommunikationsgemeinschaft erhoben, aber doch nur rational und unverbindlich. Moderne Ethik, die sich dem universalen Anspruch stellen möchte, darf nicht nur rational theoretisieren, um die Differenz von Sein und Sollen entsprechend herauszuarbeiten. Vielmehr ist zu bedenken, daß zur vernünftigen Erkenntnis auch der Wille gehört, die erkannte Norm zu befolgen. Das macht Leben in der sittlichen Ordnung zum Wagnis und stellt es zugleich unter das Risiko menschlichen Versagens. Davon hat der Christ und Theologe Messner aus dem Glauben wie aus der einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Erfahrung gewußt. So ist Messners fundamentale Ethik (Prinzipienethik), vom ,.Drama des Menschen" ausgehend, immer auch Entscheidungsethik Ethik ist immer Kultur, Lebensform, hat aber eine normative Grundstruktur im Sinne des traditionellen Naturrechts. Dieses Naturrecht ist der Zugang zur Einheit des Sittlichen in einer pluriformen Kultur der Menschheit. In seiner Kulturethik hat Johannes Messner einen verbindlichen ethischen Universalismus herausgearbeitet. Er hat dabei sowohl die kulturelle Lebensvielfalt beachtet wie auch die verschiedenen ethischen Strömungen des sittlichen Denkens der Menschheit kritisch herausgearbeitet. Sein Opus setzt sich mit den neuzeitlichen Strömungen, die zum modernen ethischen Denken führten, mit bleibender Aktualität, argumentativ in einem positiven Dialog auseinander. Dieser Universalismus von Messners Ethik aus dem naturrechtliehen Ansatz erschien den beim Symposium versammelten Freunden und Mitautoren des Bandes gerade unter dem von ihm schon damals gewählten Ausdruck Kulturethik von besonderer Aktualität. Wir sahen uns durch die sich erst heute durchsetzende Verwendung des Wortes der Kulturethik als Teil eines syste matischen ethischen Fächerkanons bestätigt. So hoffen wir, mit diesem Sammelband unter dem Titel Kulturethik sogar mehr als ein ethisches Projekt vorlegen zu können, nämlich einen normativen Entwurf zu einer universellen Ethik. Werner Freistetter

Rudolf Weiler

INHALT

Worte zur Eröffnung im Gedenken an Johannes Messner Von Hans Hermann Kardinal Groer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Kulturethik - ein Grundanliegen von Johannes Messner Von Alfred Klose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Religion als Grunddimension der Kultur Von Anton Rauscher.................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Diskussion zum Referat von Anton Rauscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Die Menschheit in vielen Ethosformen und Kulturen vor der Frage nach der sittlichen Ordnung Von Rudolf Weiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Das masonische Menschenbild auf dem Prüfstand der schöpferischen Entfaltung der menschlichen Person. Eine kulturethische Konfrontation der wesenhaften und existentiellen Lebenszwecke mit der Relativierung der obje ktiven Wahrheit Von Robert Prantner..................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Zur Problematik des Naturrechts in J apan Von Johannes Sugano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Die Bedeutung der Rechtskultur Von Akira Mizunami . ........... . . .. ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Diskussion zum Referat von Akira Mizunami . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

8

Inhalt

Die Fruchtbarkeit des Naturrechtsgedankens - universell, aber dynamisch Von Seiichi Anan . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Randnotizen zum Thema .,Kulturethik" Von Ferdinand Reisinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Volksgruppen und ethnische Minderheiten als Frage des Menschenbildes. Überlegungen im Anschluß an die Naturrechtslehre von Johannes Messner Von Werner Freistetter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

Kirche und Kultur. Überlegungen zum Thema Inkulturation Von Ingeborg Gabriel...... . ...... .. .. . .... . . .. .. . .. . . . . . . . . .

127

Katholische Soziallehre und Kultur der Entwicklung Von Lothar Roos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Herausgeber- und Autorenverzeichnis.. . . ... ..... ....... .. .. . .... .

181

WORTE ZUR ERÖFFNUNG IM GEDENKEN AN JOHANNES MESSNER Von Hans Hermann Kardinal Groer

Als ehemaliger Schüler und Student bei Johannes Messner an der Wiener Universität richte ich an Sie diese Worte der Eröffnung. Mehr als fünfzig Jahre sind seither vergangen, eine lange, bewegte Zeit, eine Zeit der Heimsuchungen, seit ich ihn damals erleben und hören durfte. Er ist es, der uns heute gleichsam versammelt, um ihn wieder zu hören. Es ist eine kleine Fügung, daß das Evangelium der heutigen Tagesmese, gerade anläßlich seines hundertsten Geburtstages, die Goldene Regel in Erinnerung ruft. Gleichzeitig feiern wir heuer 100 Jahre Sozialenzyklika Rerum novarum. Dieses Dokument ist die Magna Charta unseres wissenschaftlichen Studiums gewesen. Es kommt mir als Johannes-Messner-Schüler zu, auch das dankbar zu erwähnen. Von den anderen Kollegen, die mit mir Johannes Messners Hörer gewesen sind, sind viele schon abberufen, viele im Krieg gefallen. Eins waren wir alle in der dankbaren Hochschätzung seiner Lehrtätigkeit Wir hatten im Oktober 1937 mit dem Studium begonnen. Laut Studienbuch hörten wir eine Stunde "Allgemeine Ethik" und zwei Stunden "Gesellschaftsethik". Diese drei Stunden haben es in sich gehabt. Was wir lernen durften, war unvergeßlich. Für das zweite Semester im Sommer war noch einmal eine Stunde ,,Allgemeine Ethik II" und zwei Stunden "Staatsethik" angekündigt gewesen. Doch hat Messner Sommersemester 1938 die Vorlesungen nach dem Einmarsch des deutschen Heeres unter Hitler in Österreich nicht beginnen dürfen. Sein Name und seine Gegenstände wurden vom Dekanat in den Studienbüchern durchgestrichen. Sein Name blieb jedoch in unseren Herzen. Ich kann Ihnen bezeugen, daßer - beachten Sie es aus heutiger Sicht das priesterliche Kollare immer getragen hat und vor jeder Vorlesung gebetet hat. Für mich ist er etwa erschienen wie ein großer priesterlicher christlicher ,,Sokrates", denn er war der einzige Lehrer, den ich erlebte, der das sokratische Denken, sicherlich durch die thomistische und aristotelische Tradition mitgeprägt, praktizierte. Ohne darüber zu reden, hat er nämlich den Dialog nicht nur gelehrt, sondern in jeder Vorlesung gelebt, meisterhaft gelebt. Sie wissen den Grund, warum Messner im Sommersemester 1938

10

Hans Hermann Kardinal Groer

nicht mehr lesen und sein Testat erteilen durfte, er mußte vor den Nazis fliehen. Die Zeitirrtümer und der Dünkel - manche Theologen wurden davon auch damals angesteckt- hatten ihn nicht verwirrt. Mit seinen Argumenten aus der Sozialethik ist er auf die Zeitirrtümer eingegangen und hat sie ganz sachlich entkräftet. Er hat aber dabei die anderen nie gedemütigt. Seine Argumente und Lehren finden sich noch in unseren Feldpostbriefen, die wir uns damals schrieben und die ich noch heute bei mir aufbewahre. Nach dem Krieg haben wir ihn in Anspielung auf seine Zeit im englischen Exil den .,Oxford-Gentleman" genannt. Durch sein Wesen und seine Praxis, die ganze Methode seines Forschens und Lehrens hat er allseits beeindruckt. Wir sind heute noch dankbar für die klaren Definitionen und Ableitungen in allen gesellschaftlichen Fragen, die er uns immer gegeben hat. Schließen möchte ich mit dem Bekenntnis größter Freude und Dankbarkeit für sein Leben und Wirken. Wir dürfen hoffen, daß er uns mit der Gnade Gottes weiter nahe ist.

KULTURETHIK EIN GRUNDANLIEGEN VON JOHANNES MESSNER Von Alfred Klose Der Wortsinn von Kultur als Pflege, als menschliches Tun in Familie und hauswirtschaftlicher Gemeinschaft ist heute wenig bewußt. Kultur hat einen weitreichenden Bedeutungswandel erfahren, wurde vor allem in einem umfassenden Sinn als die schöpferische Entfaltung des Menschseins angesehen: Die Ergebnisse dieser kreativen Fähigkeiten des Menschen wurden im besonderen als Kulturgüter bezeichnet. Johannes Messner ist gleichfalls von einem sehr weiten Kulturbegriff ausgegangen: Er versteht darunter alle Lebensäußerungen und Lebensbereiche des Menschen, so "Gesellschaftsordnung, Staat, Wirtschaft und Technik", ebenso "Kunst, Literatur, Wissenschaft und Politik". 1 Entscheidend ist für Messner, daß die Menschen kulturelle Werte in gesellschaftlicher Verbundenheit schaffen. Es handelt sich um Werte, die eine gewisse Beständigkeit aufweisen. Damit wird für Messner die Kultur zur in der Generationsfolge übermittelten Lebensform eines Volkes, die mit seiner "Vorstellungs-, Denk-, Sprach- und Wertwelt" verbunden ist. 2 Damit widerspricht Messner bewußt jeder Einengung der Kultur nur auf die geistigen Bestrebungen, besonders auf deren Ergebnisse in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Die Kultur hört nicht beim Konzertsaal auf, hat Messner seinen Hörern gesagt. In seinem Vorwort zur "Kulturethik" hat Messner 1954 darauf hingewiesen, daß eine Sonderdarstellung eben dieser Kulturethik längst fällig geworden sei. 3 Er hat es als besondere Funktion des Sozialthikers angesehen, diese Aufgabe zu übernehmen, eben aus der Tatsache, daß sich Kultur im gesellschaftlichen Zusammenhang entwickelt. Messner sagte in eben diesem Vorwort auch, daß sich das Gebiet dieser Kulturethik im Verlauf der Arbeit ungeahnt ausgeweitet habe. Wer immer sich mit Fragen der Kulturwissenschaft auseinandersetzt, wird immer wieder diese Erfahrungen machen. 1 Johannes Messner, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Innsbruck u. a. 1954, S. 336 ff. 2 Johannes Messner, Art. Kulturethik, in: Katholisches Soziallexikon, hrsg. von Altred Klose, Wolfgang Mantl, Valentin Zsifkovits, 2. A., Innsbruck-Graz u. a. 1980, Sp.1575ff. 3 Johannes Messner, Kulturethik, Anm. 1, Vorwort.

12

Alfred Klose

Entscheidend für die kulturelle Entwicklung ist die sprachliche Verbundenheit der Menschen. Ferdinand Ebner weist darauf hin, daß diese Sprache die Persönlichkeit der Beziehung eines Ichs zum Du zur Voraussetzung hat. 4 Jede kulturell relevante geistige Entfaltung des Menschen vollzieht sich schon wegen des sprachlichen Ausdrucks in gesellschaftlicher Verbundenheit, dies eben auch dann, wenn der einzelne diese seine kreative Aktivität in vollkommener Einsamkeit vollzieht. I. Was soll die Kulturethik uns sagen?

Es mag möglich sein, sich über das Wesen der Kultur in Wissenschaft und Politik zu einigen, darüber einigermaßen übereinstimmende Aussagen zu finden. Schwieriger ist es, sich über die Notwendigkeit einer spezifischen Kulturethik zu verständigen. Ist sie nicht einfach eine bestimmte Zielrichtung jeder Sozialethik? Ist diese insgesamt nicht einbezogen in das kulturelle Geschehen, angelegt auf bestimmte Verhaltens- und Seinsweisen des Menschen? Johannes Messner hat mit seinem Buch über die Kulturethik zunächst eher weniger Anklang gefunden als mit seiner "Sozialen Frage" und dem "Naturrecht". Anders als bei diesen Büchern gab es bei der Kulturethik keine weiteren Auflagen, es war auch diese eine Auflage lange nicht vergriffen. Im Gespräch hat Messner dies bedauert; er fühlte, daß sein Anliegen nicht so recht angekommen ist. Worin besteht nun dieses besondere Anliegen? Es mag zunächst versucht werden, aus der Persönlichkeit von Johannes Messner eine Antwort zu finden. Schon der junge Messner war am geistigkulturellen Leben sehr interessiert, besonders an der Musik, in der sein Bruder Joseph als Domkapellmeister in Salzburg und Komponist bedeutender Werke später hervorgetreten ist. Johannes Messner hat seinem Bruder auch Operntexte geschrieben und dessen musikalisches Wirken bis ins Alter mit großem Interesse verfolgt. Insbesondere in seiner Studienzeit hat Johannes Messner gerne Konzerte und Opern besucht, später teilweise über Rundfunk und Tonband, weil die Konzentration auf seine Arbeit und die gesundheitlichen Probleme den abendlichen Besuch kultureller Veranstaltungen nur mehr begrenzt ermöglicht hatten. Aber auch in anderen Kultursachbereichen war Messner immer interessiert; seine umfassende Sicht des Wesens der Kultur war von einem gleichfalls weit gezielten Interesse am geistig-kulturellen Leben mitbestimmt. Kulturethik ist für Messner so gesehen eine Herausforderung: Der einzelne Mensch soll sich am kulturellen Leben im Rahmen seiner Möglich4 Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatelogische Fragmente, Frankfurt a.M. 1980, S. 17.

Kulturethik- ein Grundanliegen von Johannes Messner

13

keiten beteiligen, die Gesellschaft soll dazu bestmögliche Voraussetzungen schaffen; so gesehen gibt es für jeden einzelnen ein Kulturminimum, eine kulturelle Anteilnahme zumindest in einem begrenzten Ausmaß; er soll aber alles tun, um ein Kulturmaximum zu erreichen. Unter dem einzelmenschlichen Kulturminimum verstand Messner "die Ermöglichung jenes Mindestmaßes von allseitiger Persönlichkeitsentfaltung durch die gesellschaftliche Kultur, das die Voraussetzung der Vollentfaltung der sittlichen Persönlichkeit bildet". 5 Messner hat dabei nicht übersehen, daß heute den meisten Menschen eine echte "Kulturchance" kaum gegeben ist. Wir müssen aber alles tun, um diese Chance des Geistigen immer mehr Menschen zu geben. Sie ist wohl weithin eine "Chance des noch nicht": Der junge Mensch muß sich bewußt werden, daß er alles daran setzen muß, um eine intensive Partizipation am geistig-kulturellen Leben zu erreichen. Messner hält dieses Kulturmaximum des einzelnen nur für möglich, wenn die Gesellschaftspolitik die entsprechenden Voraussetzungen setzt: Er spricht daher vom "gesellschaftlichen Kulturmaximum", von diesem "Kulturmaximum als sittlichem Grundziel der Kultur". Alle Berufsgruppen müßten teilnehmen "an den mit den zu erfüllenden Aufgaben erwachsenden Verantwortlichkeiten" und den entsprechenden Kulturgütern. Dieses Kulturmaximum sieht Messner freilich nur als relative Größe an, es ist entwicklungsbedingt, abhängig von den historisch gegebenen Voraussetzungen, nicht zuletzt auch von der natürlichen Umwelt. 6 Zur eigentlichen Aufgabe der Kulturethik kommen wir aus der Überlegung, daß Ethik "in Anwendung ihrer Prinzipien das sittlich Richtige in den einzelnen gesellschaftlich-kulturellen Lebensgebieten ermitteln muß" (J. Messner), dies immer mit Hilfe der von den Fachwissenschaften erarbeiteten Sachgesetzlichkeiten. 7 Für Messner führt der Weg zur Kulturethik über die Persönlichkeitsethik und die Prinzipienethik; dieser Konzeption entspricht die Dreiteilung seines Buches über die Kulturethik. Die umfassende Sicht Messners weiß um die Bedeutung der Rahmenbedingungen in der politisch-sozialen Ordnung für die Verwirklichung der kulturethischen Grundforderungen: So sind Machtbeschränkung und Machtkontrolle grundlegende Voraussetzungen für eine geistig-kulturelle Entwicklung in einem politischen System, das die Grundund Freiheitsrechte achtet und durch eine umfassende Sozial- und Bildungspolitik die Kulturchancen möglichst aller Menschen verbessert. Wie schon früher festgestellt wurde (anläßlich des Versuchs einer Textauswahl aus Messners so umfangreichem Werk) 8 , bleibt Messner bei allem OptimisJohannes Messner, Kulturethik, s. Anm. 1, S. 450 f. Johannes Messner, Kulturethik, s. Anm. 1, S. 456 ff. 7 Johannes Messner, Kulture thik, s. Anm. 1, S. 425 f. 8 Johannes Messner, 1891-1984, Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, hrsg. von Alfred Klose, Paderborn 1991. 5

6

14

Alfred Klose

mus Realist: So erkennt er die Tragik aus der Beeinträchtigung der Menschennatur auch für die kulturelle Entwicklung. In diesem Sinne scheint das menschliche Kulturstreben zwischen Ideal und Wirklichkeit, wird aus diesem Spannungsfeld immer neu belebt und befruchtet. Heute wirkt Skepsis gegenüber der Fortschrittsidee: Sie kann doch als realistisch angesehen werden, wenn wir uns der Grundkategorie der Hoffnung für den Menschen und seiner Welt bewußt sind, der immer neuen Chance eines "Noch nicht". Kulturethik bedeutet für den einzelnen den immer neuen Auftrag, sich um eine an den sittlichen Forderungen orientierte geistig-kulturelle Entwicklung in gesellschaftlicher Verbundenheit zu bemühen, für die Gesellschaft und ihre politischen Gemeinschaften (so insbesondere den Staat und die Gemeinden), die Rahmenbedingungen für eine fruchtbare und gemeinwohl-orientierte kulturelle Entfaltung zu schaffen. Aus der thomistischen Philosophie hat Messner seine besondere Betonung des Zweckgedankens genommen: Seine "existentiellen Zwecke" sind auch für die Kulturethik von Bedeutung. Der einzelne findet die Chance einer persönlichen Lebenserfüllung und Existenzbewältigung, der "Verwirklichung des vollmenschlichen Seins" ... "nicht in einem einmaligen Akt, sondern in einem das ganze Leben fortdauernden Prozeß" (J. Messner). 9 Messner betont auch, daß ein Mindestmaß geistiger Entwicklung die Bedingung für die Vollwirklichkeit menschlichen Seins des einzelnen sei: dies eben durch die Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Verantwortung. 10 Die Wirklichkeit der einzelnen Staaten zeigt, daß einem sehr großen Teil der Menschen auch die Chance auf ein Mindestmaß an geistiger Entwicklung nicht gegeben ist, daß so viele Menschen die existentiellen Lebenszwecke nicht verwirklichen können. Wir wissen heute um die Vielheit der Kulturen; die empirische Erforschung der einzelnen Kulturen hat zwar gewisse isolierte Kulturen vorgefunden. Dennoch hat die immer mehr überschaubare Welt heute zu Mischkulturen geführt, läßt sie das Gemeinsame der kulturellen Entwicklung immer deutlicher hervortreten. Daran werden auch die fundamentalistischen Gegenbewegungen nichts Entscheidendes ändern können. 11

9 Johannes Messner, Das Naturrecht - Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. A., Innsbruck u. a. 1966, S. 50. 10 Johannes Messner, Das Naturrecht, s. Anm. 9, S. 51. 11 Mohammed Rassem, Art. Kultur I, in: Staatslexikon, 7. A., Bd. 3, Sp. 746 ff.

Kulturethik - ein Grundanliegen von Johannes Messner

15

li. Kulturordnung als Herausforderung Messners Denken über das einzelmenschliche Kulturminimum und das gesellschaftliche Kulturmaximum läßt die Bedeutung einer funktionsfähigen Kulturordnung als gesellschaftspolitisches Grundanliegen nachdrücklich hervortreten. Dabei sind in der modernen pluralistischen Gesellschaft nicht nur Regierung und Parlament des Staates, sondern auch andere Entscheidungsträger angesprochen. Im Bundesstaat gilt dies für Bundesländer und Kantone, ganz allgemein für die politischen Gemeinden, aber auch für die Kirchen und deren regionale Gliederungen bis zu den Pfarrgemeinden, für die großen und kleinen Vereinigungen, so etwa besonders die Gewerkschaften und die Kammern. In Österreich haben die hier so bedeutenden Organisationen Wirtschafts- oder Berufsförderungsinstitute und andere Bildungseinrichtungen geschaffen, die weit über die berufsbegleitende und berufsvorbereitende Bildung sich auch einen bedeutenden Platz in der Erwachsenenbildung geschaffen haben. Die Chance einer intensiven kulturellen Betätigung des einzelnen wird heute durch eine Fülle von Institutionen gegeben, wenn auch die Voraussetzungen durch Sicherung ausreichender Freizeit und entsprechender finanzieller Absicherung nicht immer leicht lösbar sind. Die modernen Massenmedien wirken vielfach sehr unterschiedlich: Auf der einen Seite bieten etwa Rundfunk und Fernsehen gewaltige Möglichkeiten der kulturellen Partizipation für Menschen, denen etwa der Besuch höherwertiger Theateraufführungen und Konzerte sonst kaum möglich wäre. Andererseits senkt der niedrige kulturelle Standard vieler Sendungen das geistig-kulturelle Niveau vieler Menschen, die sich dieser Medien sehr einseitig bedienen. Öffentliche Förderung weiter Kulturbereiche ist heute unerläßlich für eine Verbreitung geistig-kultureller Interessen. Das Ausstellungswesen kann als weithin gelungenes Beispiel für solche gesellschaftspolitisch relevante Zielsetzungen angesehen werden. Der Besuch von hochwertigen Landesausstellungen erreicht bedeutende Größenordnungen; auch private Institutionen wie Banken setzen beachtliche Impulse im Bereich des Ausstellungswesens. Es ist die Vielfalt des Gebotenen, die einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft entspricht. Allzu große Abhängigkeit vom Staat könnte auch in Demokratien zu einseitigen kulturellen Entwicklungen führen. Hier setzt auch Messner Grenzen, der immer wieder den einzelnen Menschen sieht, wenn auch in gesellschaftlicher Verbundenheit, der seine existentiellen Lebenszwecke verwirklichen will. Hier ist auch ein Grundsatz der modernen katholischen Soziallehre gegeben. In seiner ersten Enzyklika "Redemptor hominis" weist Papst Johannes Paul II. auf den hohen und einmaligen Wert des einzelnen hin: Es

16

Alfred Klose

gehe um den Menschen .,in seiner vollen Wahrheit, in allseinen Dimensionen". Es gehe nicht um den abstrakten, sondern den konkreten Menschen, um diesen einzelnen gehe es auch der Kirche, um den .,Menschen in seiner individuellen, unwiederholbaren Wirklichkeit, in der unzerstörbar das Bild und das Gleichnis Gottes enthalten" sei. Der Papst stellt freilich in der gleichen Enzyklika fest, daß die .,Situation des Menschen in der Welt von heute als noch fern von den objektiven Forderungen der sittlichen Ordnung, von den Forderungen der Gerechtigkeit und mehr noch von der sozialen Liebe zu bezeichnen" sei. 12 Anton Burghardt, der mit Johannes Messner persönlich und in seinem Denken eng verbunden war, weist nachdrücklich auf die Bedeutung der von Generation zu Generation weitergegebenen Verhaltensmuster für die kulturelle Entwicklung hin. 13 Dieses Weitergeben bedarf entsprechender Institutionen, die um die Tradition wissen. Das soll nicht bedeuten, daß das Neuartige, das Spontane in der Kultur gering geachtet wird. Es geht aber nicht ohne Beachtung der Werte der Tradition. Eine Kulturpolitik, die sich nur dem Neuen zuwendet und geschichtslose Perspektiven herausstellt, zerstört Wesenhaftes an einer humanen und existentiellen Zwecken entsprechenden Kulturordnung. Diese Verbundenheit in der Tradition zeigt sich schon in der kleinsten aber wichtigsten menschlichen Gemeinschaft, in der Familie: Sie ist jener Ort, wo menschliche Erfahrungen weitergegeben werden, grundlegende Verhaltensmuster dem Kind vermittelt und so vor allem Menschsein als zielgerichtetes Streben erlernt werden soll. Johannes Paul II. hat in seinem apostolischen Schreiben .,Familiaris Consortio" darauf hingewiesen, daß die Familie in der Erfüllung ihrer Aufgaben sowohl durch die Armut wie auch durch übertriebenen Wohlstand behindert werden kann. In den Ländern der Dritten Welt fehle es an grundlegenden Mitteln zum Überleben, aber vielfach auch an den elementarsten Freiheiten- alles Vorbedingungen für die körperliche wie die geistig-kulturelle Entwicklung des Menschen. In den reicheren Ländern wiederum beeinträchtige eben dieser übersteigerte Wohlstand und Haltungen eines Konsumismus den Willen zum Leben. 14 Messner hat die entscheidende Bedeutung von Familien, die das Kind bejahen, für die Kulturen und ihre Weiterentwicklung immer wieder betont.15 Johannes Paul II., Enzyklika .,Redemptor hominis", Rom 1979, Kap. 13, 16. Anton Burghardt, Einführung in die Allgemeine Soziologie, 3. A., München 1979, s. 59. 14 Johannes Paul li., Apostolisches Schreiben .Familiaris Consortio", Rom 1981, Kap.6. 15 Johannes Messner, Ethik und Gesellschaft. Aufsätze 1965-1974, insbes. Das Schicksal der W elt von morgen und der Streit um die Geburtenkontrolle, Köln 1975, S. 357 ff. 12

13

Kulturethik - ein Grundanliegen von Johannes Messner

17

III. Europa - auch ein kulturethisches Anliegen Die politische Neuordnung Europas wird immer mehr zu einer entscheidenden Frage innerhalb der gesamten Weltordnung. In den Tagen der Grundkonzeption einer Politischen Union im Bereich der Europäischen Gemeinschaften und der so schwerwiegenden Entscheidungen um eine Umstrukturierung Osteuropas wird uns die Rolle Europas immer deutlicher bewußt. Messner hat immer wieder, so vor allem in der so verbreiteten "Sozialen Frage", von der Notwendigkeit einer kulturellen Neubesinnung Europas gesprochen. Dieses Europa habe die Führung in Weltpolitik und Weltgeschichte verloren; Zerstörungskräfte bedrohten aber jene europäische Kultur, die immer mehr zu einer Weltkultur geworden sei. Messner hofft auf einen "christlichen Advent", auf eine neue christliche Renaissance.16 Es mag kein Zufall sein, daß in der gleichen Zeit, in der das Ringen um eine Neuordnung West- und Osteuropas im November und Dezember 1991 einen Höhepunkt erreicht hat (freilich auch die krisenhafte Situation im zerfallenden Jugoslawien), auch die katholische Kirche in einer dem Europa-Thema gewidmeten Bischofssynode in Rom solche Antriebskräfte sieht und diese in jenen christlichen Grundwerten zu finden hofft, die im Evangelium begründet sind. So wird die Konzeption einer Neu-Evangelisierung auch zu einer Chance des "Noch nicht": Das neue Jahrhundert wird entscheiden, ob dieses Europa der Welt von morgen in der Tradition seines christlichen Denkens neue Impulse für eine tragfähige politische, soziale, kulturelle und friedenspolitische Ordnung und Sicherheit geben kann. Die Bischofssynode hat an die europäischen Regierungen appelliert, ihre Bemühungen für eine friedliche politische Lösung in Jugoslawien zu verstärken. Es wurde auch hervorgehoben, daß das Recht auf Selbstbestimmung wie im Fall von Slowenien und Kroatien gegeben sei. Im Sinne der KSZESchlußakte von Helsinki 1975 und der Charta von Paris 1990 müssen gewaltsame Lösungen in Europa ausgeschlossen werden, betonte die Europa-Synode.17 Die historischen Beschlüsse von Maastricht im Dezember 1991 haben auch den Willen der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Mitgliedstaaten deutlich gemacht, daß die Anerkennung neuer Staaten nur dann gegeben sein soll, wenn diese gewillt sind, die Menschenrechte zu achten und damit auch die Rechtsstellung ihrer Minderheiten zu sichern. Rudolf Weiler hat hervorgehoben, daß sich die Menschenwürde in den Menschenrechten konkretisiert, wie sie in den Dokumenten der Vereinten Nationen rezipiert vorliegen. 18 Weiler erinnert an Messners Definition der Menschenwürde 16 Johannes Messner, Die soziale Frage, 7. A., lnnsbruck u.a. 1964, S. 737 ff. 17 Kathpress Wien, 238/1991, 10.12.1991. 18 Rudolf Weiler, Internationale Ethik, Bd. 1, Berlin 1986, S. 15. 2 Kulturethik

18

Altred Klose

.,als Ausgezeichnetsein des Menschen durch Vernunftbegabung, durch die ihm zur Erfüllung sittlicher Pflichten unmittelbare Verantwortung zukommt19 ... ". Die römische Europa-Bischofssynode hat sich bemüht, einiges von der Vielfalt der europäischen Kultur schon in ihrer Zusammensetzung zum Ausdruck zu bringen. Der europäische Pluralismus zeigt sich auch im kirchlichen Bereich, in der Vielfalt der katholischen, orthodoxen und evangelischen Kirchen und Religionsgemeinschaften, im Reichtum traditionsreicher Riten und religiöser Ausdrucksformen. Dennoch wirkt in diesem Pluralismus eine zutiefst christliche Kraft in Richtung einer Einheit. Pluralismus muß im Europa von morgen auch im politischen Bereich die Vielgestaltigkeit mit einer Einheitsidee verbinden. In der Sozialenzyklika .,Centesimus annus" wird die große Wende für Europa und letztlich die ganze Welt besonders herausgestellt, die mit dem Jahr 1989 eingesetzt hat. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Osten geht es immer wieder um eine Neubesinnung auf die wesenhaften Zusammenhänge von Staat und Kultur. Johannes Paul II. stellt in dieser Enzyklika nachdrücklich die These heraus, daß eine wahre Demokratie nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage von einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich ist. 20 Die neuen Staaten in Ost- und Südosteuropa wollen eine demokratische Ordnung schaffen: Dies ist nur unter Anerkennung und immer neuer Beachtung der Menschenrechte möglich. Die Kirchen haben die wichtige Aufgabe, die maßgebenden politischen Entscheidungsträger immer wieder auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und am Aufbau einer politischen Kultur mitzuarbeiten, die von Menschenwürde und Menschenrechten geprägt ist. Politische und religiöse Minderheiten sollten in diesem Sinn nicht als Störfaktoren angesehen werden, sondern als Bereicherung. Multikulturelle Faktoren sind in der europäischen Zukunftsgesellschaft besonders gefragt. Erfahrungen auch in Österreich zeigen, daß selbst kleine Minderheiten wichtige Aufgaben einer kulturellen Bereicherung leisten können. Wir denken im nationalen Bereich an die Kroaten im Burgenland und die Slowenen in Kärnten, im religiösen Bereich unter anderem an die orthodoxen Gemeinden der Griechen und Armenier, im besonderen auch der unierten Mechitharisten in Wien, denen die Religionswissenschafterin Mari Kristin Arat einen beachtlichen Beitrag zum Ökumenismus in Österreich bescheinigt. 21 19 Johannes Messner, Was ist Menschenwürde?, in: Internationale Katholische Zeitschrift 3/ 1977, S. 233 ff. 20 Enzyklika .,Centesimus annus", Rom 1991, Kap. 46. 2 1 Mari Kristin Arat, 175 Jahre Mechitharisten in Wien und 285 Jahre .Ökumenismus", in: Studien zur W iener Geschichte, Wien 1986, S. 47 ff.

Kulturethik - ein Grundanliegen von Johannes Messner

19

Wir müssen immer mehr sowohl im nationalen wie im religiösen Bereich in der multikulturellen Verbindung und Kooperation unterschiedlicher Institutionen und Kräfte ein Zeichen des Reichtums sehen, eine besondere Chance der zukünftigen Entwicklung. Darin kann aber auch eine Chance gelegen sein, die "Identitätssuche in komplexen Gesellschaften" (HansGeorg Zapotoczky) besonders zu intensivieren.22 Läßt doch die Vielgestaltigkeit und Pluralität einer Gesellschaft erst den Wert des einzelnen und der kleineren Gemeinschaften deutlicher hervortreten. Peter Paul Müller-Schmid sieht in einer ethisch bestimmten Einheit der Gesellschaft eine Chance für eine pluralistische Gesellschaftsordnung, die mehr ist als ein Funktionssystem formaler Regeln. 23 Wir müssen eben in dieser vielgestaltigen pluralistischen Gesellschaft gemeinsame Werte und Wertüberzeugungen finden, wie wir sie in der Menschenwürde, den Menschenrechten und jenen Grundwerten besitzen, von denen die europäische Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg in den demokratischen Staaten immer mehr bestimmt wurde. Diese geistigen Grundlagen immer stärker zum gemeinsamen europäischen Zukunftskonzept zu machen, wird zum Grundanliegen einer Kulturethik, die Johannes Messner als "zeitunabhängige Hoffnung" gesehen hat. 24 Im Sinne Messners sollte unsere Generation sagen können, daß die Welt nach ihr reicher geworden ist: Dies mit einem Europa, das neue Impulse für eine geistig-kulturelle Entwicklung in Frieden und Kooperation am europäischen Kontinent verbürgt, aber auch der übrigen Welt starke Kräfte zur Weiterentwicklung geben kann.

IV. Zukunftsperspektiven In Messners Kulturethik kommt dem Prinzip Hoffnung große Bedeutung zu: Die Kulturentwicklung soll aus dem sittlich-schöpferischen Willen des Menschen gestaltet werden.25 Der Mensch in seiner gesellschaftlichen Verbundenheit trägt Verantwortung für die einzelnen Kultursachbereiche. Besondere Bedeutung kommt der Wirtschaft zu: insbesondere in den ehemals kommunistischen Staaten und den Ländern der Dritten Welt. Eine mehr auf Privatinitiative und Marktkräfte gestützte Gesellschaft wird aber auch unmittelbar wirksame kulturelle Impulse geben.

22 Hans Georg Zapotoczky, Identitätssuche in komplexen Gesellschaften, in: "actio catholica", Wien 4/1991, S. II. 23 Peter Paul Müller-Schmid, Pluralismus und Weltordnung, Schriftenreihe Kirche und Gesellschaft, Köln 1980, S. 14. 24 Johannes Messner, Kulturethik, s. Anm. I, S. 627 f. 25 Johannes Messner, Kulturethik, s. Anm. I. S. 616.

2"

20

Alfred Klose

Es bestehen enge Zusammenhänge zwischen der Wirtschaftsordnung und den Möglichkeiten der einzelnen Menschen, kreativ und initiativ im Kulturleben tätig zu werden. In einer marktwirtschaftliehen Ordnung verbinden sich mit der freien Unternehmerinitiative viele kulturelle Aktivitäten: viele Unternehmer engagieren sich in bedeutsamem Umfang vor allem durch Förderung kultureller Einrichtungen. Dazu kommt, daß in der Tradition etwa des Handwerks sehr starke kulturelle Faktoren zur Geltung kommen; dies gilt nicht nur für den Bereich des Kunsthandwerkes. Das vielschichtige und qualitativ entsprechend hohe Nachfrageniveau der Marktwirtschaften bringt es mit sich, daß viel stärkere Impulse zur Schaffung auch kulturell anspruchsvoller Wirtschaftsgüter gegeben sind, als im allgemeinen in den Planwirtschaften. Gewiß gibt es, wie etwa das polnische Beispiel zeigt, auch in den früheren Planwirtschaften bedeutsame kulturpolitische Initiativen, doch müssen diese vom Staat getragen sein, wie dies in Polen bei der Restaurierung kulturell hochwertiger Bausubstanz der Fall war. Man darf aber nicht übersehen, daß eben in den Planwirtschaften nur jene kulturpolitisch wichtigen Anliegen erfüllt werden, die im Interesse des Staates liegen. In den Marktwirtschaften dagegen kommt es zu einer Fülle von kulturell bedeutsamen Initiativen und Anstrengungen ohne jede staatliche Einmischung oder Kontrolle. Die Chance der Marktwirtschaft ist es, über die Wirtschaft hinaus auch entscheidende und maßgebende kulturelle Initiativen zu fördern, mit den Mitteln der Massenkommunikation kulturelle Impulse in breiteste Bevölkerungsschichten zu tragen, ein vielseitiges und vielgestaltiges Kulturleben zu fördern und nach der materiellen Seite hin abzusichern. Kulturethik im Sinne von Johannes Messner weist nachdrücklich darauf hin, daß menschliches Arbeiten immer sinnbezogen sein muß. Eine besondere Folterung in den Konzentrationslagern totalitärer Systeme bestand darin, die Gefangenen zur Verrichtung absolut sinnloser Arbeiten zu zwingen. Aber auch in den modernen Volkswirtschaften empfinden manche Arbeitnehmer ihre Arbeit als sinnentleert: wenn sie etwa an Arbeitsplätzen beschäftigt sind, die keine Zukunftschancen haben, die nur durch Subventionen am Leben gehalten werden und von denen politische Kritik behauptet, sie kämen der Öffentlichkeit teurer als die Erhaltung der arbeitenden Menschen durch soziale Hilfen. Sinnentleerung wird aber auch empfunden, wenn die einzelne Arbeitsleistung nicht mehr im Gesamtzusammenhang der betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Leistungserstellung gesehen wird. Diese Art der Arbeitsleistung ist dann auch eine Form einer menschlichen Isolierung, wie wir sie in vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens kennen, etwa in Form der Vereinsamung des alten und kranken Menschen.

Kulturethik- ein Grundanliegen von Johannes Messner

21

Nun will die Kulturethik im Sinne Messners die Verpflichtung hervorheben, den Kultursinn der Arbeit zu sehen: 26 Die Verantwortlichen in Betrieb, Volkswirtschaft und politischem System müssen alles daran setzen, daß eben dieser Kultursinn der Arbeit deutlich wird, daß der einzelne arbeitende Mensch - ob in selbständiger oder unselbständiger Arbeit tätig - den Zusammenhang seiner persönlichen Arbeitsleistung mit dem Wohl der menschlichen Gesellschaft und insbesondere der ihm nahestehenden Gemeinschaft erfaßt. In der dörflichen Wirtschaftsgesellschaft war dieser Kultursinn der Arbeit leicht erkennbar - heute in der komplexen und schwer durchschaubaren Wirtschaft unserer Zeit wird eben dieser Kultursinn der menschlichen Arbeit von sehr vielen Menschen nicht mehr empfunden. Ein Grundanliegen Messners und seiner kulturethischen Konzeption ist die Erhaltung der Meinungsvielfalt und einer freien Bildung der öffentlichen Meinung in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft: In diesem Sinn darf auch die Bildungspolitik nicht monopolisiert werden, sondern muß vielmehr legitime Aufgabe verschiedener Institutionen in der Gesellschaft sein. Gewiß kommt die Gesamtverantwortung in der Bildungspolitik zunächst dem Staat zu. In demokratischen Systemen sollen aber auch andere gesellschaftliche Einrichtungen und Institutionen an der Gestaltung dieser Bildungspolitik mitwirken. Dies gilt nicht nur im Bundesstaat für die Länder, denen vielfach sogar eine gewisse Erstzuständigkeit im Bereich der Bildungspolitik zukommt, so insbesondere im Bereich des Schulwesens, in Deutschland auch für das Hochschulwesen. Vor allem aber die Kirchen und die großen Interessenverbände tragen eine entscheidende Mitverantwortung für Teilbereiche des Schulwesens und der Erwachsenenbildung, aber auch die politischen Gemeinden. Einer einseitigen Abhängigkeit vom Staat wirkt es entgegen, wenn -wie dies in vielen Staaten der Fall ist - etwa die Kirchen auch als Träger von eigenständigen Bildungseinrichtungen hervortreten, insbesondere im Schulwesen. Eine der größten Hoffnungen unserer und der kommenden Zeit liegt in der immer mehr zunehmenden Verflechtung der Menschen, in der unendlich größer werdenden Vervielfachung der geistigen Beziehungen. Jeder Mensch, der heute auch nur jenes Wissen aufnimmt, das ihm die Massenmedien wie Rundfunk, Presse und Fernsehen bieten, erlaßt Produkte geistiger Tätigkeit unzähliger Menschen. Wer darüber hinaus versucht, die Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens aufzunehmen, hält geistigen Kontakt mit einer unendlich großen Zahl von Menschen, wenn die meisten dieser Kontakte auch anonym bleiben. Je tiefer ein Mensch in die einzelnen 26

Johannes Messner, Kulturethik, s. Anm. 1, S. 480 ff.

22

Alfred Klose

Bereiche des Wissens eindringt, um so vielfältiger werden diese geistigen Beziehungen. Dieses immer dichter werdende Netz geistiger Kontakte, diese unendliche Vielfalt geistiger Spannungen bewirkt eine ständige Verbreiterung und Bereicherung der Wissensmöglichkeiten. Die Chance des Geistigen besteht nun im wesentlichen darin, daß immer mehr Menschen diese Möglichkeiten der Anteilnahme am geistigen Leben ihrer Zeit immer besser nutzen können und so dieser gewaltige Prozeß immer mehr an Dynamik gewinnt. Wenn hervorgehoben wurde, daß die Kultur an sich für jeden Menschen eine Herausforderung bedeutet, daß jeder Mensch mit seiner Stellung in der Gesellschaft auch sich in einer kulturellen Verbundenheit findet, so bedeutet dies, daß eben das kulturelle Engagement des einzelnen in seiner Zielrichtung und seinem Ausmaß auch durch Gewissensentscheidungen bedingt ist. So wird der einzelne Mensch zunächst verpflichtet sein, sich auch im Bereich der Kultur über die wesentlichen Zusammenhänge zu informieren, sich das zur Entschcidungsfindung notwendige Wissen zur Existenzbewältigung zu verschaffen. Dann geht es darum, daß der einzelne Mensch seine persönliche Verpflichtung wahrnimmt, zur eigenen Selbstverwirklichung sich auf die vorhandenen und gegebenen kulturellen Einrichtungen zu stützen: In diesem Bemühen wird der Mensch seine existentiellen Lebenszwecke verwirklichen, dies in einem Sinn, wie ihn Johannes Messner gesehen hat: Immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, nach einer wesenhaften Lebenserfüllung. 27

27

Johannes Messner, Kulturethik, s. Anm. 1, S. 280.

RELIGION ALS GRUNDDIMENSION DER KULTUR Von Anton Rauscher

Ein Blick in das gewaltige Oeuvre Johannes Messners, der zu den großen katholischen Sozialwissenschaftlern unseres Jahrhunderts zählt, wirft die Frage auf, welchen Stellenwert das im Jahre 1954 veröffentlichte Werk "Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik" einnimmt. Eine erste Phase im Schaffen Messners bildete in den dreißiger Jahren dieBefassungmit der "Sozialen Frage der Gegenwart". Die Tatsache, daß dieses Buch in wenigen Jahren fünf Auflagen erlebte, deutet darauf hin, wie sehr der Autor das Kernproblem der damaligen Zeit getroffen hatte. Die Industriegesellschaften in Europa waren in Klassen gespalten, die Arbeiterschaft nicht integriert. Ganz im Sinne der von den Päpsten seit Leo XIII. eingeschlagenen Linie verdeutlichte Messner die christlich-sozialen Positionen, die zur Lösung der Sozialen Frage führen konnten. Die zweite Phase im wissenschaftlichen Arbeiten Messners war gekennzeichnet durch die erzwungene Abgeschiedenheit im Exil in England. Hier kam er in Kontakt mit der angelsächsischen Kultur und Geisteswelt. Im Unterschied zu den Denktraditionen in Österreich und in Deutschland öffnete er sich der Erfahrung, einem gewissen Vorrang des Experiments ("trial and error") und der Praxis im Sinne der pragmatischen Bewältigung der gestellten Aufgaben. Entscheidend freilich wurde für die Jahre von 1938 bis 1949 die Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen von rechts und von links, die zum ersten Mal in der Geschichte viele Völker in Europa beherrschten und den Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen. Als Antwort auf diese Herausforderungen entstand "Das Naturrecht", das zu den klassischen Werken christlich-sozialen Denkens gehört. "Die grundstürzende Abwertung der menschlichen Person", schreibt Messner im Vorwort, "in welterschütternden politischen Systemen seit dem ersten Weltkrieg, nicht minder aber die ungeheure Entwicklung der Natur- und Sozialwissenschaften seit einem Jahrhundert ließ längst eine neue Prüfung der Grundlagen des Naturrechts und einen neuen Versuch der Ausarbeitung seiner Forderungen gegenüber der modernen Gesellschaft geboten erscheinen."1 Messner war bemüht, auf dem Boden der christlichen Anthropologie und Gesellschaftsauffassung Antworten und Lösungswege für die brennenden sozialen Ordnungsprobleme aufzuzeigen.

24

Anton Rauscher

I. Das Anliegen der Kulturethik Man kann wohl kaum von einer dritten Phase im Schaffen Messners sprechen, der die im Jahre 1954 erschienene "Kulturethik" und später noch die "Ethik" zuzurechnen wären. Leider hat die Kulturethik bis heute nicht annähernd die Aufmerksamkeit erfahren, die ihr gebührt. Im Vorwort führt Messner aus: "Der Versuch einer Sonderdarstellung der Kulturethik war längst fällig, hatten doch die empirische und philosophische Anthropologie, die Volkstumsforschung und Volkstheorie, die Kulturgeschichte, Kultursoziologie und Kulturphilosophie die Zugänge dazu erschlossen. "2 Allerdings, fügt er hinzu, habe sich im Lauf der Arbeit das Gebiet ganz ungeahnt ausgeweitet, weshalb er über "Grundzüge" nicht hinausgekommen sei. Ähnlich wie das Anwachsen der Natur- und Sozialwissenschaften eine systematische Bearbeitung des Naturrechts verlangten, so legten auch die verschiedenen Zweige der Kulturwissenschaften es nahe, einen neuen Entwurf einer Kulturethik auf christlicher Grundlage zu wagen. Schon während seiner sozialwissenschaftliehen Studien in München hatte Messner die Anstöße der Kulturethik des 19. Jahrhunderts und die von Oswald Spengler ins Spiel gebrachte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation verfolgt. 3 Auch Untersuchungen wie diejenige Theodor Litts über die Gesellschaft, der sein Buch als "Grundlegung der Kulturphilosophie" qualifizierte, erregten seine Aufmerksamkeit. 4 Aber erst die Bemühungen, angesichts der materiellen und geistigsittlichen Zerstörung eine Besinnung auf den Menschen und auch auf die Grundlagen der Kultur zu wecken, haben in Messner die Absicht reifen lassen, eine Kulturethik zu schreiben. Hier sind u. a. die Veröffentlichungen zu nennen: Adolf Portmann, der mit dem von Ch. Darwin herkommenden biologischen Entwicklungsbegriff bricht und auf die für den Menschen als Kulturwesen bestimmende Tradition verweist5 ; Arnold Gehlen, der dem 1 Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck-Wien, 1 1950, S. 5. 2 Ders., Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, lnnsbruck 1954, Vorwort. 3 Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes, 1917. -Hier wären auch die Frühschriften Max Schelers zu nennen, von denen sich einige mit dem Problembereich Kultur und Religion befassen: Frühe Schriften, hrsg. von Maria Scheler und Manfred S. Frings, Bern 1971, bes. 343 ff. 4 Theodor Litt, Individuum und Gemeinschaft, Grundlegung der Kulturphilosophie, 2 1924. 5 Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, 1944; ders., Natur und Kultur im Sozialleben: Ein Beitrag der Lebensforschung zu kulturellen Fragen, 1946.

Religion als Grunddimension der Kultur

25

Zusammenhang von Sprache und Kultur nachgeht. 6 Vor allem hat eine Reihe von englischsprachigen Untersuchungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg herausgekommen sind, wie ein Katalysator gewirkt: T. S. Eliot, Notes towards the Definition of Culture (1948); A. J. Toynbee, Civilization on Trial (1948); Ch. Dawson, Religion and Culture (1948). Was ist Kultur? Messner rückt die "gesellschaftlichen Lebensordnungen" in den Mittelpunkt und nennt Familienkultur, Rechtskultur, politische Kultur und soziale Kultur.7 Aber ebenso wichtig wie für das gesellschaftliche Wesen der Kultur die Tradition eines Volkes und die sie bildenden Anschauungen und Haltungen sind, so läßt sich der Kulturbegriff nicht ohne die Beziehungen und Verantwortlichkeiten, ohne sittliche Prinzipien und Haltungen, ohne sittliche Wahrheit und Ordnung verstehen. Wenn Kultur der "besondere Naturzustand" des Menschen ist (A. Portmann), dann kann die Ethik nicht davon losgelöst werden. Messner wendet sich gegen einen Dualismus von Technik und Kultur, von Wirtschaft und Kultur, von Zivilisation und Kultur und begründet einen universalen Begriff von Kultur, der alle Lebensäußerungen und Lebensbereiche des Menschen umfaßt. Die Einbeziehung von Technik und Zivilisation in die Kultur und die Absage an einen Dualismus ist deshalb von großer Bedeutung, weil auch große christliche Geister immer wieder geneigt sind, den Verlust an Glauben und an Grundwertorientierung dem grassierenden säkularen Geist beziehungsweise dem modernen Materialismus anzulasten. Manche Hirtenworte von Bischöfen erwecken in der Tat die Vorstellung, als ob es sich bei der Wirtschaft nicht um einen Kultursachbereich handelt, den die Menschen in Gerechtigkeit und Solidarität tragen und gestalten müssen, sondern um einen materiellen Bereich, ja um einen Bereich, in dem der materialistische Geist waltet, der deshalb eher als ein notwendiges Übel erscheint, das man zwar dulden muß, dem man aber mit Skepsis zu begegnen hat. Messner hat zeitseines Lebens gegen eine solche Verirrung angekämpft und sich dafür eingesetzt, daß Askese dort geübt wird, wo sie hingehört, nämlich von den Menschen beim Gebrauch der materiellen Güter, nicht aber fälschlich mit den Aufgaben der Wirtschaft vermengt wird. Die Kulturethik behandelt Messner in drei Gedankenkreisen: Kultur als Lebensform, wobei er auf die Tradition, das Ethos, das Recht und die Religion abstellt; Kultur als Odnung, was die Fragen nach dem Wertgrund, dem Wertgesetz und dem Wertziel umfaßt; Kultur als Aufgabe. Vorausgestellt sind der Kulturethik die "Prinzipienethik" und die Persönlichkeitsethik. Nicht wenige Fragestellungen, die den Autor schon bei der Grundlegung des Naturrechts beschäftigten, tauchen in der Prinzipienethik wieder 6

7

Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, 4 1950. Johannes Messner, Kulturethik, S. 337.

26

Anton Rauscher

auf, allerdings in einer ganz neuen Weise. Während im Naturrecht die theoretisch-systematische Betrachtungsweise überwiegt - auch wenn die Erfahrung und die Erkenntnisse und Methoden der Erfahrungswissenschaften durchaus berücksichtigt werden -, sollen jetzt die Grundfragen der Ethik in einer "entschiedenen Wendung zur Erfahrungswirklichkeit" angegangen werden, weil nur auf diese Weise die Ethik dem Menschen helfen könne, Antworten auf die Grundfragen seines Lebens zu finden (Vorwort). Messner ist überzeugt davon, daß die Offenheit für die Erfahrungswirklichkeit, die gerade die angelsächsische Denkwelt auszeichnet, nicht nur für die Natur- und Sozialwissenschaften, sondern auch für Philosophie und Theologie und im besonderen für die Ethik von Bedeutung ist. Folgerichtig beginnt die Prinzipienethik mit dem Abschnitt "Die sittlichen Tatsachen". Natürlich hat die Einsicht des Aristoteles, wonach alle Erkenntnis bei der Erfahrung beginnt, das christliche Denken bestimmt. Aber diese Einsicht konnte leicht in dem Sinne verstanden und dann auch mißverstanden werden, als ob die Erfahrung nur Bedingung der Erkenntnis wäre. In der Moderne, in der die empirischen Tatbestände, die Sinneswahrnehmung und die Beobachtung einen ganz neuen Stellenwert erhielten, kommt es darauf an, auch die "sittlichen Tatsachen" in neuer Weise zu entdecken, wenn die Ethik das Verhalten des Menschen leiten, wenn die Sozialethik die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen soll. 8 Unter diesen Umständen ist die Aufgabe der Ethik nicht einfach die Ermittlung der Normen und Prinzipien, sondern die Erfassung der Wirklichkeit, wozu auch das sittliche Bewußtsein gehört, insofern es im Menschen als Wissen um Gut und Böse vorhanden ist. Im Zentrum des sittlichen Bewußtseins steht für Messner das Gewissen. Es ist nicht nur die subjektive Fähigkeit der Wahrnehmung der objektiven Wahrheit und Gutheit; vielmehr ist es die erfahrbare Wirklichkeit, die im Bewußtsein um Gut und Böse auch bereits die sittlichen Wertmaßstäbe, um die es in der Ethik geht, umgreift und die offengelegt werden müssen. Einwände, die von Vertretern der traditionellen Moraltheologie gegen dieses Vorgehen damals erhoben wurden, als ob die sittlichen Prinzipien auf die Erfahrung begründet werden sollten, wies Messner zurück. Die Begründung der sittlichen Prinzipien kann sicherlich nicht von der Erfahrung her erfolgen. Aber die Erfahrungswirklichkeit und mithin die "sittlichen Tatsachen" reichen weiter als dies die gängige Unterscheidung zwischen Erfahrung und Vernunfterkenntnis zum Ausdruck brachte. 8 Der positive Ansatz Messners steht im Gegensatz zu der pessimistischen Auffassung Albert Schweitzers, der in seinem 1923 erschienenen Buch "Kultur und Ethik" erklärt: "Nimmt man die Welt, wie sie ist, so ist es unmöglich, ihr einen Sinn beizulegen, in dem die Zwecke und Ziele des Wirkens des Menschen und der Menschheit sinnvoll sind" (hier zitiert nach der 2. Auflage, München 1926, S. XII).

Religion als Grunddimension der Kultur

27

Der Ansatz bei der Erfahrungswirklichkeit des sittlichen Bewußtseins des Menschen drängt dazu, dem Menschen als Person und der Persönlichkeitsethik den entscheidenden Ort im Gefüge der Ethik, auch der Kulturethik, zuzuerkennen. Sittlichkeit wird begriffen als Selbstverwirklichung des Menschen in der Persönlichkeit. "Der Mensch ist nicht schon von Natur aus, was er sein kann und sein soll. Wird er es, dann ist er Persönlichkeit ... Sein wahres Selbst ist der Mensch nicht schon seiner Natur nach, diese zeichnet es ihm nur vor; sein wahres Selbst zu verwirklichen, ist seine sittliche Bestimmung. ,Selbstverwirklichung' wird damit zu einem Grundbegriff unserer Ethik. Die Richtung der Selbstverwirklichung ist dem Menschen durch seine wesenhafte Natur gewiesen ... ; kraft der Bestimmung zu dieser Selbstverwirklichung in Selbstverantwortung ist der Mensch Persönlichkeit."9 Der Begriff Selbstverwirklichung, wie Messner ihn gebraucht, gerät nicht in jenes Zwielicht, das der heute üblichen Vorstellung anhaftet, als könne, ja müsse der Mensch den Lebenssinn selbst bestimmen, selbst darüber befinden, was für ihn gut, was für ihn böse ist. Die Richtung der Selbstverwirklichung ist ihm vorgegeben. Auf der anderen Seite wird hier ein Essentialismus überwunden, der bisweilen die Ethik des existentiellen Zuschnitts beraubte und ihr den Geruch einer abstrakten Wesensschau einbrachte. Messner ist bemüht, den Menschen in seiner Grundbefindlichkeit und in seinem Seihstand beziehungsweise in seiner Selbstverwirklichung zu erreichen. II. Religion als Urgrund des Sittlichen Auch wenn die Stärke Johannes Messners unzweifelhaft in der sozialphilosophischen und ordnungsethischen Betrachungsweise liegt, so war er doch in der Denktradition der christlichen Philosophie und Anthropologie und ebenso in der theologischen Ethik beheimatet. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, über die Natur des Menschen und das Sittengesetz zu spekulieren, ohne die Verwurzelung allen Seins in Gott als dem Schöpfer mitzudenken. Eine von Gott losgelöste Ethik, eine letzten Endes auf innerweltliches Räsonnement gegründete Sittlichkeit hätte für Messner ebenso eine Sackgasse bedeutet wie eine naturalistische Anthropologie. 10 In der ersten Auflage des "Naturrechts" setzt sich Messner mit der "Theonomie der sittlichen Ordnung" auseinander. Ausgehend vom sittliJohannes Messner, Kulturethik, S. 176 f. Vgl. dazu ders., Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 1. Auf!., Innsbruck-Wien 1950, bes. S. 22 ff., 99. 9

10

28

Anton Rauscher

eben Bewußtsein des Menschen ist auch der ,.sittliche Imperativ" eine Erfahrungstatsache: ,.Wir wissen jedoch, daß wir nicht nur uns selbst verantwortlich sind, sondern auch der Autorität, deren Gesetz das Sittengesetz ist. Wir sind uns bewußt, daß es ein höchstes Wesen gibt, den Schöpfer, der Gewalt über uns hat, und daß unser endgültiges Geschick von unserem Verhältnis zu ihm abhängig ist. Wir behaupten nicht, daß jeder Mensch einen klaren Begriff davon hat und keinesfalls würden diese einzelmenschlichen Erfahrungsgegebenheiten einen zwingenden Beweis für die Existenz Gottes ergeben. In Verbindung mit unserer natürlichen Gotteserkenntnis aus anderen Quellen erweist sich das Naturgesetz jedoch klar als das Gebot dessen, der die Menschennatur mit ihrem sittlichen Imperativ geschaffen hat: das Naturgesetz ist göttliches Gesetz und der göttliche Wille die letzte Quelle der sittlichen Verpflichtung." 11 Auch wenn das natürliche Sittengesetz für sich genommen noch keinen ,.Beweis" für die Existenz Gottes abgibt, so ist es in seinem verpflichtenden Charakter nicht ohne Rückbezug auf Gott als den Schöpfer der Natur erklärbar. Messner verweist auf die Feststellung Max Schelers: ,.Wenn es einen Gott gibt, dann ist die absolute Autonomie der praktischen Vernunft widersinnig und darum unmöglich und die Theonomie selbstverständlich: Dieser Satz scheint uns evident." 12 Allerdings ist die konditionale Fassung dieser Feststellung nicht stimmig, weil der verpflichtende Charakter des Sittengesetzes ja nicht ein vom Menschen ersonnenes Postulat darstellt, sondern der Erfahrungswirklichkeit entspringt. Messner weiß sich in Übereinstimmung mit der schon von Augustinus erkannten und von Thomas von Aquin ausgebauten Lehre, wonach das Naturgesetz Teilhabe des vernunftbegabten Geschöpfesam ewigen Gesetz ist; dies wird im Gewissen offenbar. Messner bleibt freilich nicht beim Zusammenhang des Sittlichen und der Ethik mit der Religion im Sinne der natürlichen Religion stehen. Das ,.christliche Sittengesetz" unterscheide sich vom ,.natürlichen Sittengesetz" dadurch, daß es sich nicht auf die natürliche Offenbarung, sondern auf die übernatürliche Offenbarung stütze. ,.Seinem wesentlichen Inhalt nach geht jedoch das christliche Sittengesetz nur wenig über das natürliche Sittengesetz hinaus. In den zehn Geboten, wie sie in der Lehre Christi und der Apostel bestätigt und erklärt wurden, ist nicht mehr vorgeschrie ben, als das Naturgesetz selbst enthält." 13 Man würde Messner mißdeuten, wenn man in diesem erkenntnistheoretischen Ansatz so etwas wie ein Festhalten an einem antiquierten ,.Stockwerkdenken" sehen wollte, das die moderne Theologie besonders in ihrem 11 12

13

Ebda, S. 68. Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 1933, S. 630. Johannes Messner, Das Naturrecht, S. 98.

Religion als Grunddimension der Kultur

29

christozentrischen Zuschnitt mit Recht zu überwinden suchte. 14 Auch das Zweite Vatikanische Konzil hat den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Natur und Übernatur betont. Thomas selbst kann nicht für ein falsches Stockwerkdenken in Beschlag genommen werden. Auch Messner nicht, weil er von der Erfahrungswirklichkeit ausgeht, auf die alles Denken bezogen ist. Allerdings vermeidet Messner auch die entgegengesetzte Ideologisierung der Wirklichkeit, wo die Christozentrik gleichsam gegen die "Natur" ausgespielt wird, wo man sich nicht mehr bewußt ist, daß zwar alles in Jesus Christus geschaffen ist, aber eben "geschaffen", das heißt, daß die wahre Christozentrik der Erkenntnis der "Schöpfung" Gottes nicht im Wege steht, sondern sie voll einfordert. 15 Die Tatsache, daß die christliche Ethik und auch die von der Kirche verkündete Soziallehre wesentlich auf den Inhalten des natürlichen Sittengesetzes beruhen, ermöglicht den Dialog auch mit Nicht-Christen über die gemeinsamen Grundlagen der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung, ohne sie für den christlichen Glauben zu vereinnahmen. Die Besinnung auf das natürliche Sittengesetz führt, wie Messner zu bedenken gibt, keineswegs zu einer Schwächung der sittlichen Kräfte einer Gemeinschaft, die durch die Religion gewährleistet, die durch die Kirche und ihre Heilssendung gestärkt und gefördert werden. 16 Noch aus einer anderen Überlegung ergibt sich die Bedeutung der Religion für die Sittlichkeit. Messner bezieht sich auf Kardinal Newman, der für die christlichen Gemeinschaften, in dem Maße sie sich auf abstrakte Prinzipien zurückziehen, die Gefahr befürchtet, daß sie einem "Nihilismus" zum Opfer fallen, der nur verbietet, aber keineswegs schöpferisch ist. 17 Weil der verpflichtende Charakter des natürlichen Sittengesetzes ohne den Willen Gottes nicht hinreichenderfaßt werden kann, sind alle Bestrebungen, entweder Gott an den Rand zu schieben und sich mit der innerweltlichen Sittlichkeit der Gemeinschaft begnügen zu wollen, ebenso problematisch wie die Leugnung Gottes selbst. Was solchen Entwürfen fehlt, ist die Konkretheit der personalen Verpflichtung, insbesondere die inhaltliche Bestimmtheit des Zweckes und des Zieles. Das Verbot des Bösen ist nur einsichtig, wenn vorausgeht das Gebot des Guten. Die Christen sind im Hinblick auf die Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen 14 Vgl. Joseph Ratzinger, Kommentar zum Ersten Kapitel des Erste n Teils der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", in: Das Zweite Vatikanische Konzil III, Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1968, S. 313 ff. 15 In besonderer Weise hat sich Gustav Gundlach dafür eingesetzt, daß in der einen Heilsordnung das Eigengewicht der Schöpfungsordnung gesehe n wird: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Erster Band, Köln 1954, S. 26-30, 49-56. 16 Vgl. Johannes Messner, a.a.O. 17 Ebda., S. 99.

30

Anton Rauscher

Verhältnisse nur dann im Vorteil, wenn sie gegenüber anderen Entwürfen nicht nur defensiv die Grenzen des sittlich Guten anmahnen können, sondern wenn sie positiv sagen können, was die Würde des Menschen ausmacht, was die Grundrechte und -pflichten des Menschen beinhalten, was Gerechtigkeit fordert, was letzten Endes der Sinn des Daseins hier auf Erden ist. Ohne die Religion bleiben entweder der Nihilismus, der Zweifel oder Ideologien, von denen die Völker Europas in diesem Jahrhundert heimgesucht wurden. Es ist das Kennzeichen der totalitären Machtsysteme und der Ideologien, daß sie die religiöse Verankerung der Wirklichkeit, auch eine transzendente Verankerung der Sittlichkeit leugnen, um den Menschen um so besser manipulieren und sich gefügig machen zu können.

111. Anthropozentrischer Humanismus?

Dieser Gedankengang Messners läßt eine auffallende Parallele erkennen zu einem anderen großen christlichen Denker. In demselben Jahre, als "Das Naturrecht" erschien, kam die neue und ungekürzte deutsche Übersetzung des weit über Europa hinaus bekannt gewordenen Werkes von Jacques Maritain "Humanisme integral" heraus. 18 Maritain unterscheidet darin zwei Arten von Humanismus, einen theozentrischen oder wahrhaft "christlichen Humanismus", wonach Gott der Mittelpunkt des Menschen ist und die christliche Auffassung von Gnade und Freiheit, vom sündigen und erlösten Menschen eingeschlossen ist und einen "anthropozentrischen Humanismus", wonach der Mensch sich selbst die Mitte und das Maß aller Dinge ist. Maritain spricht von der Dialektik des anthropozentrischen Humanismus und demzufolge von der Tragödie des Menschen, der Kultur und Gottes. Das Bild des Menschen, wie es der Rationalismus der Neuzeit geschaffen hat, sei bestimmt vom Gedanken der Immanenz und der Autonomie. Da bleibe kein Raum für die Autorität eines Gesetzes, dessen Urheber nicht der Mensch ist. Und Offenbarung und Gnade erscheinen als unzulässige Einmischung von außen. Aber, so Maritain, der anthropozentrische Humanismus sei inzwischen in Zersetzung begriffen. Dies treffe auch für die Kultur zu. Wenn der Mensch die Natur beherrschen will, ohne den seiner Natur zugrundeliegenden Gesetzen Rechnung zu tragen, sei er im Erkennen wie im Leben gezwungen, sich in Wirklichkeit mehr und mehr Notwendigkeiten unterzuordnen, die nicht menschlich, sondern technisch sind. Schließlich habe die moderne Geistigkeit zum "Tod Gottes" (Nietzsche) geführt: "Wie würde Gott noch in einer Welt leben können, in der sein Ebenbild, das heißt 18 Jacques Maritain, Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950.

Religion als Grunddimension der Kultur

31

die freie und geistige Persönlichkeit des Menschen, im Begriffe ist, sich auszulöschen?" Das, was Maritain frühzeitig als Verhängnis der modernen Geistigkeit und der Vorstellung von der Autonomie des Menschen, die Gott aus seiner Schöpfung hinausdrängt, erkannt hat, bewegte auch Messner. Noch ehe die .. Kulturethik" erschien, veröffentlichte er eine Untersuchung über die Widersprüche in der menschlichen Existenz. 19 Er setzte sich mit den verschiedenen Entwürfen der zeitgenössischen Kulturkritik auseinander, wie sie von Spengler, Scheler, Berdjajev, Toynbee, Huizinger, Dawson vorgetragen wurden. Anders freilich als bei Maritain, dessen Kritik fast prophetische Züge annimmt, geht Messner nüchtern den Ursachen nach, die zur Schwächung des Glaubens und der Religion führen, auch den Folgen für den Menschen und das innere Gefüge der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sei auf die Untersuchungen von Hermann Lübbe verwiesen, dessen Denken und Mühen von der Fragestellung .. Religion nach der Aufklärung" bestimmt wird.20 So sehr die Aufklärung dazu beigetragen habe, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit durchzusetzen und dabei auch auf die Widerstände der Kirchen und von Theologen stieß, so müsse doch auch gesehen werden, daß die Aufklärung sich nicht nur als Freiheitsgeschichte darstelle, sondern auch als Nährboden für die freiheitsvernichtenden totalitären Mächte und religionsfeindlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sie kritisieren und diffamieren die Religion als Illusion, von der sich der Mensch zu befreien habe, um sich moralisch und erkenntnismäßig, politisch und sozial uneingeschränkt selbst zu gewinnen. Die Religion eine Lebenslüge: Das ist die Auskunft der radikalen Religionskritik von Marx bis Freud. Das Ergebnis ist inzwischen offenbar geworden, auch wenn die freiheitlichen Gesellschaften vorläufig nur auf die wirtschaftlichen und sozialen Freiheitsrechte starren und noch nicht auf das Grundübel. Ohne Religion - dies ist die Kernthese Lübbes - lassen sich Freiheit und Realitätsfähigkeit der Kultur, auch der modernen Kultur, nicht begründen und nicht sichern.

IV. Der Zusammenhang von Religion und Kultur Seinen diesbezüglichen Überlegungen stellt Messner Äußerungen Johann Wolfgang von Goethes voraus, der im überlieferten Bewußtsein eher im Geruch eines Freigeistes steht, der jedoch im .,West-östlichen Divan" 19 Johannes Messner, Widersprüche in der menschlichen Existenz. Tatsachen, Verhängnisse, Hoffnungen, lnnsbruck 1952. 20 Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln 1986.

32

Anton Rauscher

sagt: .,Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Glaubens und des Unglaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch will, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanz prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit der Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag." 21 Es gibt sicher viele Gründe, warum Religion und Glaube, vor allem auch die Kirche, an prägender Kaft verloren haben. In Europa ist es vor allem der Säkularismus, der im Gefolge der verschiedenen Aufklärungswellen und begünstigt durch das Fortschrittsdenken und den früher so nicht gekannten Wohlstand in der Nachkriegszeit die Denkweisen und Einstellungen breiter Kreise der Gesellschaft bestimmt. Aber entgegen allen Erwartungen sind neue krisenhafte Ereignisse und Zuspitzungen eingetreten: die Ölkrise von 1973, die ökologische Fragestellung, die immer neuen Kriege und Streitigkeiten in vielen Teilen der Welt, die Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen und technischen Machbarkeit des Lebens und der Lebensverhältnisse, die Manipulierbarkeit des Menschen, die Frage: ob wir alles machen dürfen, was wir können, die Sinnleere, die sich aus immer noch steigendem Wohlstand ergibt, die stärker werdenden Süchte vor allem junger Menschen, das ebenfalls sich ausdehnende Gefühl der Einsamkeit und der Vereinsamung so vieler Menschen, die verschiedenen Formen von Arbeitslosigkeit, die Wissenschaft und Politik endgültig überwunden zu haben vorgaben, die Unsicherheiten und die fehlende Orientierung vieler Menschen in der pluralistischen Gesellschaft, die abnehmende Fähigkeit der Kirche, die Wahrheiten und Werte des Evangeliums, des christlichen Menschenbildes und der daraus erwachsenden Gesellschaftsauffassung glaubwürdig zu vermitteln. Die krisenhaften Ereignisse und Zuspitzungen wecken bei vielen Menschen erneut die Frage nach Religion und Glaube, nach dem Zusammenhang von Religion und Kultur, von Glaube und Kultur, auch wenn die öffentliche Meinung nach wie vor von der säkularisierten und bisweilen antireligiös-kirchlichen Welle erfaßt ist. Um so dringlicher stellt sich heute die Aufgabe für die Kirche, nicht nur das Evangelium zu verkünden, sondern gerade auch die mit dem Evangelium, mit dem Glauben, mit der christlichen Tradition des Nachdenkensund des Handeins (Theorie und Praxis) gegebenen Einsichten in den Sinn des Daseins, in den Sinn der menschlichen Existenz, in den Sinn von Kultur und Gesellschaft, in den Sinn der Geschichte als Heilsgeschichte aufzudecken. 21

Abgedruckt bei Johannes Messner, Kulturethik, S. 376 f.

Religion als Grunddimension der Kultur

33

Dabei wäre es von größter Bedeutung, daß Wissenschaften wie die Christliche Gesellschaftslehre, die Philosophie oder die Pastoraltheologie nach Wegen suchen, wie diese Botschaft, wie die Werte und Normen des christlichen Menschen- und Gesellschaftsverständnisses den Menschen heute vermittelt und erschlossen werden können. Es geht um jene Wechselseitigkeit von Religion und Kultur, von Glaube und Weltgestaltung, die in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils an mehreren Stellen dargelegt wird. Ich erinnere nur an die Feststellung der Konzilsväter, daß die Kirche auf Vieles, auch auf die Ausübung legitim erworbener Rechte, verzichten könne, aber immer und überall das Recht in Anspruch nehme, "in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen ... " (Nr. 76). Es handelt sich hierbei nicht etwa um zwei Aufgabengebiete, um die Heilssorge auf der einen und um die Weltsorge auf der anderen Seite. Vielmehr sollte die Wechselseitigkeit gesehen werden. Die Kirche wird die Frohe Botschaft um so eher den Menschen verkünden, je mehr sie erkennen, daß aus der der Kirche eigenen religiösen Sendung, wie es an anderer Stelle der Pastoralkonstitution heißt, Auftrag, Licht und Kraft fließen, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein (Nr. 42). Auf die Frage, welche Bedeutung der Religion für die Kultur zukomme, verweist Messner auf die von der Religion ausgehende Verwurzelung der wesentlichen Werte der Tradition und des Ethos im Ewigen, Unbedingten und Unwandelbaren. Darüber hinaus begründe die Religion gesicherte Überzeugungen über den Daseinssinn des Menschen und seine Stellung in der Welt, was für die Lebenserfüllung sowohl nach der einzelmenschlichen als auch gesellschaftlichen Seite wesentlich ist. Schließlich werden durch die Religion dem Menschen Werte erschlossen, "die ihn ganz und gar über die Enge seines so leicht in den sinnenhaften Lustwerten sich verfangenden Ich hinausheben und seiner Hingabekraft die höchsten Ziele weisen". 22 In der Fußnote zu dieser Stelle erinnert Messner an Sirnone Weil, die 1949 im Bemühen um die geistige Erneuerung Frankreichs formulierte: "Den Zug zum totalitären Staat hält nichts auf als ein wirklich religiöses Leben. Wenn die Kinder daran gewöhnt werden, Gott zu ignorieren, können sie nur Faschisten oder Kommunisten werden zufolge des menschlichen Dranges, sich an etwas hinzugeben." Goetz Briefs hat, als er 80 Jahre alt wurde, bei einem Empfang in der Godesberger Redoute formuliert: Für ihn sei es bestürzend, wie dünn die Decke der Humanität sei. Er bezog sich auf die menschenverachtenden totalitären Systeme, die im 20. Jahrhundert so ungeheures Leid über die 22

Johannes Messner, Kulturethik, S. 378.

3 Kulturethik

Anton Rauscher

34

Völker Europas und über die ganze Welt gebracht hätten. Trotz der viel gepriesenen modernen Freiheitsgeschichte und der Idee der Menschenrechte sei es zu schrecklichen Rückfällen in die Barbarei gekommen. Wie kann man solchen Rückfällen wehren? Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Zusammenhänge klar gesehen werden. Wenn ohne Religion, wenn ohne den Glauben an Gott und das Evangelium die Humanität nicht gesichert werden kann, dann dürfen wir nicht meinen, eine Methode könne genügen: Demokratie und Dialog, so wichtig und unersetzlich sie auch für einen wahrhaft menschlichen Umgang miteinander sind, sie können nicht die Wertinhalte ersetzen. Auch das Streben nach Wahrhaftigkeit kann nicht die Suche nach Wahrheit ersetzen. Was nun den Zusammenhang von Religion und Kultur betrifft, so würde er verkannt, wenn man der Religion lediglich eine Dienstfunktion der Kultur gegenüber zuweisen würde:" Weil aber ihre Wertwirklichkeiten und Wertziele den ganzen Menschen, sein Denken und Wollen, sein Tun und Leben beanspruchen, wird die Religion allumfassender Lebensgrund der Kultur, ohne daß Kultur bewußtes Produkt der Religion oder die Religion unmittelbar Dienstbefohlene der Kultur sein könnte. Würden sie dazu gemacht, müßten sie, Religion wie Kultur, ihres innerstenWesensund Wertes verlustig gehen." 23 Aufgabe der Religion ist nicht die Kulturförderung, so wie auch Kultur nicht nur auf Religion ausgerichtet gesehen werden darf. Ebensowenig können Religion und Glaube den übrigen Kultursachgebieten nur bei- oder nebengeordnet werden, weil in dieser Sicht die fundierende Bedeutung der Verankerung des Menschen, auch der Kultur im Unbedingten, im Ewigen, in Gott nicht hinreichend gesichert wäre. Ein Gedanke, den Messner bei Dawson fand, hat ihn fasziniert. Von der historisch-soziologischen Forschung über die Religion als Kulturkraft in den Grundanschauungen des Menschen und in den gesellschaftlichen Lebensformen der Völker gelangte Dawson zu der Frage, wie die Stellung des Christentums im Vergleich zu anderen Religionen erklärt werden könne. Vor allem wie es ihm gelungen sei, in einer verhältnismäßig kurzen Spanne Zeit die Kraft zur Umformung der Welt zu erlangen und zur Befreiung aus der bisherigen Abhängigkeit des Menschen von der Natur zu kommen. Eine Erklärung hierfür sieht er darin, daß die anderen großen Weltreligionen ihre in der Synthese von Religion und Leben erreichten und geheiligten Ordnungen unverändert durch Jahrhunderte und Jahrtausende aufrechterhielten, im Christentum aber die Veränderung der Welt zu einem wesentlichen Teil seines Kulturideals geworden sei. Dies werde in erster Linie am missionarischen Charakter des Christentums deutlich. Durch dieses dynamische Prinzip unterscheide sich das Christentum von allen anderen Religionen. Auch die Überwindung der gegenwärtigen Stagnation und Krise der westli23

Ebda., S. 379.

Religion als Grunddimension der Kultur

35

chen Kultur ist nach Dawson nur möglich durch eine Rückkehr zu dem Geist und zu den Werten, die ihre Geschichte bestimmen. 24 Die Überwindung der Krise der Gesellschaft steht und fällt für Messner mit der Wiederentdeckung der Religion und der Kraft des Glaubens; ja, man kann sagen, mit der Wiedergewinnung des missionarischen Charakters des Christentums. Dieses verträgt sich nicht mit einer Vorstellung, die die Religion, die auch die Kultur eher in einen Freiraum der Beliebigkeit und der Zufälligkeit verweisen möchte. Religion und Kultur sind nicht "Angebote" aus dem Warenhaus für Weltanschauungen und Kulturen, deren man sich nach Belieben bedienen könnte. Wenn ich davon überzeugt bin, daß die Wahrheiten und Werte, wie sie der christliche Glaube enthält, für alle Menschen und für alle Völker eine wesenhafte Bedeutung haben, dann werde ich bemüht sein, sie davon zu überzeugen und sie dafür zu gewinnen. Dies braucht keineswegs in eine Proselytenmacherei auszuarten. Aber ohne die missionarische Dimension ist das Christentum nicht mehr das Salz der Erde. In einer Welt, die alle Wirklichkeiten dem Nützlichen und dem Zweckhaften zu- und unterordnen will, ist das Anliegen, das Messner in seiner Kulturethik bewegt und das er uns als Vermächtnis mit auf den Weg gibt, vordringlich: die Wiederentdeckung des Zusammenhangs von Religion und Kultur, von Glaube und Kultur. Ohne Gott wird der Mensch sich mehr und mehr zu einem Rätsel. Und eine Geschichte, die den Glauben als Hobby einstuft und verkennt, wie unverzichtbar er für die Bewahrung de r Menschlichkeit ist, würde die Grundlagen ihrer Kultur in Frage stellen. Den Zusammenhang von Religion und Kultur, von Glaube und Kultur wieder ins Bewußtsein zu rücken, ist heute ein vordringlicher Dienst am Menschen und an einer menschenwürdigen Gesellschaft, den die Kirche - und das sind wir alle - zu leisten aufgerufen ist.

24

3"

Ebda., S. 380 f.

Diskussion zum Referat von Anton Rauscher Die Diskussion befaßte sich insbesondere mit dem Verhältnis von Kultur, Vernunft und Religion als für das Humanum konstitutiv. Hierbei kommt besonders bei der christlichen Religion das Verständnis des Verhältnisses von übernatürlicher Offenbarung und Vernunfteinsicht zur Sprache. Auf die Frage von Schmitz nach dem Zusammenhang von christlicher Ethik mit religiösen Glaubenswahrheiten und deren materialer inhaltlicher Bedeutung antworteten Rauscher: Die christliche Ethik versteht sich als Gesellschaftslehre aus christlichem Anspruch, verbindet das natürliche mit dem christlichen Sittengesetz. Im Bezug auf die Gesellschaft gibt es in Wirklichkeit keinen wesentlichen Unterschied zwischen natürlichem und christlichem Sittengesetz. Das christliche Sittengesetz geht nicht wesentlich über das natürliche Sittengesetz hinaus. Dennoch bedeutet zum Beispiel Nächstenliebe für den Christen auch Nachfolge Christi. Andere Religionen sollten wir ebenso in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nicht abwerten. Wir Christen können aber zu Gott in eigentlichem Sinn durch die Erlösung durch Jesus Christus "Vater" sagen. Das ist ein Gewinn für jeden Menschen, und darum besteht in unserer christlichen Ethik immer auch ein missionarisches Element. Die Kirche als Institution ist für die christliche Religion unentbehrlich. Das mag bei anderen Weltreligionen nicht so der Fall sein. Reisinger: Das Christentum ist mit anderen Religionen nicht vergleichbar. Die Sache Jesu ist auf Erlösung hingerichtet, die durch die christliche Religion vertreten wird. Ethische Fragen sind jedoch immer auch mit religiösen Fragen verbunden, sie bedürfen aber einer sachlichen, rechtlichen Lösung im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Man kann hier nicht einfach einer Religion die Schuld geben, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, sondern wird wirklich der Frage unter Bezug auf die Grundwerte nachgehen müssen und sich nicht auf rein religiös-weltanschauliche

Diskussion zum Referat von Anton Rauscher

37

Meinungen zurückziehen können. Es geht hier aber immer auch um Wertentscheidungen der gesamten Rechtsgemeinschaft, die nicht einem individuellen Urteil überlassen werden oder einfach freigegeben werden können.

DIE MENSCHHEIT IN VIELEN ETHOSFORMEN UND KULTUREN VOR DER FRAGE NACH DER SITTLICHEN ORDNUNG Von Rudolf Weiler I.

1. Messners Anliegen mit der "Kulturethik" Messners Anliegen mit der .,Kulturethik" drückt er im Vorwort seines Buches .,Kulturethik, mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik", Tyrolia-Verlag, Innsbruck 1954, so aus: .,Der Versuch einer Sonderdarstellung der Kulturethik war längst fällig, hatten doch die empirische und philosophische Anthropologie, die Volkstumsforschung und Volkstheorie, die Kulturgeschichte, Kultursoziologie und Kulturphilosophie, die Zugänge erschlossen. Den Versuch zu unternehmen, schien im besonderen die Aufgabe des Sozialethikers zu sein." Im Verlauf der Arbeit, so Messner, sei es ihm bewußt geworden, daßertrotz des Umfanges der nun vorliegenden Themenbehandlung nicht über Grundzüge hinausgelangt wäre. Wie kommt Messner zur wissenschaftlichen systematischen Behandlung der Begriffe Kultur und Ethik? .,Was die Ethik mit Kultur zu tun habe", so fragt er sich.1 Sehr viel, war seine Antwort, sobald mit der Kulturanthropologie unter Kultur die gesamte Lebensweise eines Volkes und die gesellschaftlichen Verhältnisse und folglich die entsprechenden Lebensordnungen bedacht würden. Dann wäre auch die .,soziale Frage"- ein Schlüsselwort im Lebens- und Wissenschaftsprogramm Messners! -eben auch eine entscheidende Kulturfrage. 2 In der Erforschung der sittlichen Ordnung hat Messner mit seiner Habilitationsschrift., Sozialökonomik und Sozialethik" 3 die ethischen Fragen eines Teilbereichs des gesellschaftlichen Lebens analytisch von der Empirie und den empirischen Wissenschaften her angegangen, nicht zuerst von den Prinzipien her. Die entsprechende These - nach der Vertiefung dieser Position im Erleben der englischen Tradition im Exil während des Zweiten 1

2 3

Kulturethik, 339 Vgl. 341. Paderborn 1927.

40

Rudolf Weiler

Weltkrieges - lautet nun in der .,Kulturethik": 4 sittliche Wahrheiten und Prinzipien würden .,vermittelt" mit den .,übrigen Wertprinzipien der Kultur", in die der Mensch hineingeboren werde.

2. Stellung und Bedeutung der Kulturethik im Werk Johannes Messners Die Methodenvielfalt menschlicher Wissenschaft und menschlichen Forschens wird durch Messners Naturbegriff im Menschen vereinigt. Natura humana als Kulturbegriff ist integral verbunden mit der Betrachtung der .,äußeren", der physischen Welt und Umwelt des Menschen. Aber Sittlichkeit als Naturordnung ist zugleich immer auch kulturell gelebte .,Ordnung der Selbstverwirklichung des Menschen in seinem wesenhaften Selbst". 5 Der Kulturbegriff zerfällt für ihn nicht in voneinander getrennte Bereiche der Geisteskultur und der materiellen Kultur, als Zivilisation verstanden. Für ihn stehen daher die kulturellen Sachbereiche in innerem Zusammenhang mit der sittlichen Ordnung, die Sachrichtigkeit als Natur der Sache mit der Naturgemäßheit in der Seinsordnung des (natürlichen) Sittengesetzes. Von seiner frühesten Kindheit an erlebt der Mensch Kultur. Kultur bedeutet für Messner jenen .Inbegriff von Überzeugungen und Haltungen gegenüber dem Leben und der Welt, die er zuerst in sich aufnimmt und die ihn geistig zu innerst durchformen". So ist für ihn die Kultur ein erster Gegenstand der Ethik, auch wenn es um die Grundlagen der Sittlichkeit geht. Wer den Menschen einerseits als Kulturwesen betrachtet, für den ist andererseits die ihm so vermittelte .,Ordnung in Verbindung mit seinem wesenhaften Selbst" gegeben, Sittlichkeit als .,Ordnung menschlicher Selbstverwirklichung" aber doch nur über die Erfahrung von gesellschaftlich gelebter Kultur möglich. Aus solcher Erfahrung erst gelangt der Mensch zur Erkenntnis seiner wesenhaften Lebenszwecke, wie Messner das Kriterium der Sittlichkeit im Anschluß an die naturrechtliche (christliche) Tradition6 zuerst benennt. Später zieht er bekanntlich den Ausdruck .existentielle Zwecke" dafür vor? Dieser Ansatz der gesamten naturrechtliehen Ethik Messners ist zu bedenken, wenn er seine ethische Systematik im mit ,,Kulturethik" über331. 331. 6 Das Naturrecht ist für Messner nicht an sich .,christlich", da es rein auf Erfahrung beruht und so Gegenstand rein philosophischer Ethik sein kann. V gl. das Vorwort zur Kulturethik! 7 Vgl. Das Naturrecht, Berlin 7 1984, 45. 4

5

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

41

schriebenen Werk entfaltet. Insofern ist ihm die Kulturethik nicht bloß ein Teil der Ethik. Sie bestimmt durch das Kriterium der Sittlichkeit als ,.Naturrichtigkeit" gemäß der Tradition seine Prinzipienethik oder Fundamentalethik ebenso mit wie seine Persönlichkeits- oder Individualethik und seine Sozialethik. Andererseits kommt für ihn der Kulturethik ein eigener Teilbereich im Gesamt der ethischen Disziplinen zu, der bis dato 1954 und bis heute sonst keine einheitliche Darstellung gefunden hat. Selbst der Name Kulturethik ist immer noch nicht allgemein rezipiert worden. Messner war dem Konzilsdokument Gaudium et spes zehn Jahre voraus, als er im Streben nach einer ,.zentralen Ethik" seine Prinzipienethik als Antwort auf die ,.geistige Situation" verstand und den so gestellten Grundfragen des Lebens des Menschen und der Gesellschaft von heute. Zeitnahe Problemsicht und Kulturwelt des heutigen Menschen verbinden sich bei diesen Antworten mit den Prinzipien, die nur im Grunde, nicht in der Formulierung und nicht in der Methode der Anwendung zeitunabhängig sind. Kultur gehört für Messner zwar ,.ganz und gar in das Reich der Werte". 8 Wertprinzipien sind aber nie von einer Kultur losgelöst zu verstehen, sie sind einer Kultur als Lebensform immanent, nicht einfach als bloße allgemeinste Prinzipien ohne historisch-soziale Einbettung abrufbar. Sie müssen sich ,.im ethischen Urteil über die menschliche Kulturtätigkeit" bewähren. Kultur will Lebensentfaltung und Lebenserfüllung im sittlichen Streben gemäß der (später von Messner so genannten) existentiellen Zwecke als letztes Kriterium. Dieses Kriterium ist also immer auf die Wirklichkeit des Menschen bezogen als kulturellen Vorgang und sittlichen Fortschritt. 9 Insofern es um den Menschen und seine sittliche Persönlichkeit geht, kommt der Persönlichkeitsethik der Vorrang zu. Aber die Kultur steht kraft des gesellschaftlichen W esens des Menschen in Wechselwirkung zur Persönlichkeit. Insofern muß die Kultur die Voraussetzungen schaffen, die materiellen und geistigen, für die menschliche Entfaltung. Das bedeutet Zielaufgaben für die soziale Kultur insgesamt. Kultur ist nach Messner10 ,.die gesellschaftlich-geschichtliche Form der Lebensentfaltung eines Volkes als Ganzheit mit dem Grundziel der Persönlichkeitsentfaltung auf den einzelnen Lebensgebieten". So deckt auf Grund des weiten Kulturbegriffes die Kulturethik unter dem Aspekt des ,.besonderen Naturzustandes" des Menschen 11 die sittlichen Kulturethik, 333. Vgl. Kulturethik, 334. 1° Kulturethik, 343. 11 A. Portmann, Natur und Kultur im Sozialleben, zitiert bei J ohannes Messner, Kulturethik, 341 . 8 9

42

Rudolf Weiler

Ordnungsfragen im Zusammenhang mit ihrer Einbettung in Gesellschaft und Geschichte ab. Sie ermöglicht die Anwendung des sittlichen Apriori in Raum und Zeit ebenso wie den Zugang zu diesen Prinzipien in ihrer Raumund Zeitbedingtheit Für Messner hat die kulturethische Betrachtung einen zentralen Stellenwert für gelebte Sittlichkeit. Die sittliche Kultur ist ebenso im persönlichen wie im gesellschaftlichen Zusammenhang entscheidend. Die Gesellschaftskultur differenziert sich in die wichtigsten Teilbereiche von Rechts-, Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsethik Kulturethik befaßt sich zwar mit allen Lebensäußerungen und Lebensbereichen des Menschen, ist aber nicht einfach eine Verdoppelung der gewohnten Unterteilung der Ethik in ihre Teilbereiche. Die Kultur als Spezifikum der Ethik ist für Messner durch drei Wesenszüge differenziert: als Lebensform, als Ordnung und als Aufgabe oder Weg. Unter Lebensform erschließt sich für ihn in Verbindung mit der Tradition gesellschaftlicher Wirklichkeit der anthropologische Grund von Mensch und Gesellschaft und demnach von Ethos und Recht und der religiösen Bestimmung von Mensch und Gesellschaft. Kultur heißt immer auch Ordnung im Sinne von Einheit und Gesetzmäßigkeit, die sich an der sittlichen Wertordnung ausweisen müsse. Kultur als Aufgabe von diesem Wertgrund und-gesetzaus stellt den Menschen in Entscheidungen, bringt Dynamik, um weiterzukommen, und steht zwischen Tragik und Hoffnung im kulturellen Wandel. Diese kulturethische Sicht bringt die heute oft von Gegnern des Naturrechts, nicht zuletzt den ,.Romantikern", als fehlend monierte ,.Bewegung" in die Individual- und Sozialethik ein, läßt ihren dynamischen Charakter erkennen, den Entscheidungsgehalt des sittlichen Urteils ebenso wie seine Besonderheit. Hier erweist sich der ,.Sozialrealist" Messner in seiner Offenheit zur Situation und zum möglichen Wandel normativer naturrechtlicher Sicht des Sittlichen. Der Kulturethik hat Johannes Messner vom Anfang seiner Lehrtätigkeit in Wien an große Bedeutung zugemessen. Der vor einigen Jahren verstorbene Professor für Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Budapest, Janos Pfeifer, hat diesen Beginn vom Sommersemester 1930 an erlebt. Hier der Aufbau der Vorlesungen: Sommersemester 1930: Grundbegriff und Grundsätze der christlichen Soziallehre, Studienjahr 1930/31:

Der Sozialismus in seiner Entwicklung und heutigen Gestalt,

Studienjahr 1931/32:

Kapitalismuskritik im Sinne der christlichen Gesellschaftslehre,

Studienjahr 1932/33:

Einführung in die Wirtschaftsethik,

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

Studienjahr 1933/34: Wintersemester: Sommersemester:

43

Grundzüge der Sozialpädagogik, Einleitung in die Kulturphilosophie und Kulturethik.

3. Die Diskussion um den Kulturbegriff heute Unter dem Einfluß der technologischen Entwicklung einerseits und der Diskussion um die gesellschaftlich-kulturellen Kennzeichen der gegenwär~ tigen Epoche andererseits ist die Sicht des Kulturbegriffs heute viel breiter geworden. Besonders die Herausforderung der Postmoderne auf die Charakteristika der Moderne und die folgende Auseinandersetzung über Leitvorstellungen und die Auflösung aller Verbindlichkeiten und die Freigabe aller Möglichkeiten und Wertvorstellungen hat doch die sittliche Komponente und damit die ethische Frage in der ganzen Breite von Kultur neu ins Licht gesetzt. Peter Koslowski 12 spricht in seiner Analyse des gegenwärtigen Kulturbewußtseins von "drei Hauptprovinzen der Kultur, in Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft". In allen drei Bereichen ließe sich "das Gegensatzpaar Anthropomorphismus versus Technomorphismus nachweisen". Die Moderne wäre nach ihm vom Prinzip her technomorph, die postmoderne Kultur anthropomorph. Der Pendelschlag des Einflusses der Zerstörungen zwischen technologischer und anthropologischer Wertorientierung in einer Kulturepoche kann bei einem breiten Ansatz des Kulturbegriffs den Blick auf die Ethik nicht verstellen, wohl aber können es szientistische Wissensformen, worauf auch Koslowski hinweistY Es war sicher schon Messners Weitsicht, daß er sich gerade auch in seiner Kulturethik mit den szientistischen Standpunkten in den neuzeitlichen ethischen Systemen so breit auseinandergesetzt hat und bis herauf in die Gegenwartsethik seiner Zeit die willkürliche hypothetische Begrenzung ethischer Aussagen von einer szientistischen Position als Verzicht auf ethische Wirklichkeiten aufzeigte. Die neue Gefahr postmoderner Orientierung am Menschen freilich führt in agnostischer Selbstverengung des Kultischen zu verschiedenen Kulturformen statt zu einer in Grundwerten gemeinsamen sittlichen Kultur. So erscheint die kulturethische Fragestellung heute von großer Aktualität. Sie kann besonders an der Diskussion um den kulturellen Wandel festgemacht werden. Hierbei ist die Rolle der Kunst für das Verständnis eines Zeitalters von Bedeutung, um so mehr als die Materialien und Formen künstlerischen Schaffens heute vom Technischen sehr mitbestimmt sind. Der Zugang zur 12

13

Die postmoderne Kultur, München 1987, 33. 33 ff.

44

Rudolf Weiler

ästhetischen (Wert-)Frage in Verbindung mit der ethischen Kultur ist hier auffällig. Für die Bildung ästhetischer Begriffe und Werturteile scheint die jeweilige kulturelle Tradition ebenso wie das Zeitgefühl von ausschlaggebender Bedeutung. Dennoch erhebt sich auch hier die Frage nach dem allgemeinen Gemeinsamen und nach Wahrheit. So kann es im Anschluß an Kunstrichtungen einen Paradigmenwechsel in der Urteilstindung für das Schöne immer wieder geben. Der Grundwert in allem Dialog der Kulturen und ihrer Merkmale wird sich nie in reine Vermittlung relativieren und auflösen lassen. So trägt auch jede kulturelle Krise und Wende die Rückkehr zur Ordnung, in der Ästhetik zum Schönen, in der Ethik zum Guten in sich, allerdings immer kulturell eingebettet. Alasdair Maclntyre unterscheidet in den Gifford Lectures von 1990 14 drei miteinander im Wettstreit liegende Richtungen der moralischen Untersuchung. Er nennt die im England des 19. Jahrhunderts herrschende Richtung nach der 9. Auflage der Encyclopaedia Brittanica die .. encyclopädische Version": ein wenigstens ungefähres Verstehen von moralischer Richtigkeit müsse dieses wissenschaftlich noch vertiefen, mehr ginge eben nicht. Seit damals wäre dieser bequeme ethische Optimismus angesichts verschiedener solcher sittlicher Kulturen nicht mehr aufrecht zu halten. So ergäbe sich die Unvermittelbarkeit historischer ethischer Kulturen mit dem sittlichen Wahrheitsanspruch. Die Folge sei die andere Version ethischer Theorie, nämlich die Absage an die Universalität sittlicher Urteile zugunsten in sich unterschiedlicher ethischer Konzepte und Kulturen, von ihm als .. Genealogy" benannt. Diesen beiden Versionen setzt Maclntyre eine auf den .. Thomismus" gestützte Version (..Tradition"), als Bindeglied verstanden, hinzu, die die Traditionen und Autoritäten der je eigenen ethischen Kultur durch intellektuelle Einsicht in die moralische Untersuchung mittels des Naturrechtsdenkens argumentativ verbinden möchte. Das Schlüsselproblem einer solchen Vorgangsweise ist die Verbindung sittlicher Argumentationskulturen von analytischen Vorgangsweisen und von unvoreingenommenen Einsichten her, die immer - auch für die Naturrechtstradition! - in kultureller Vermittlung stehen. Das heißt, das analytisch-wissenschaftliche Argument steht angesichts der ethischen Grundfragen der sittlichen Entscheidung, sich nach der Tradition ethischer Wahrheitseinsicht zu richten, vor einer Wertentscheidung, die intellektuell im System der Kultur allein nicht gelöst werden kann, die aber als offene Frage zumindest unter dem Kulturanspruch sittlicher Universalität gezeigt werden kann. So führt Kulturethik zur ethischen Erkenntnistheorie nicht nur als logische, sondern auch als elementar sittliche Frage der Wahrheitsannahme. 14 Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopedia, Genealogy, and Tradition, London 1990.

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

45

4. Die Rezeption der Kulturethik in das Curriculum der katholischen Sozialethik Außer bei Messner findet sich meines Wissens nach eine ausdrückliche Fachbezeichnung Kulturethik für jenen Teil der Ethik, der sich formal der Theorie der Kultur zuwendet, in der Ethik und Sozialethik, auch unter katholischen Autoren nicht. Wohl gibt es nach der Systematik der Wissenschaften die Kulturphilosophie und die empirischen Kulturwissenschaften. Das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft hat immer einen breiten Artikel der Kultur gewidmet und behandelt auch die Kulturphilosophie sowie damit verbundene sittliche Fragen der Kultur. Der Artikel von Franz Keller 15 aus dem Jahr 1929, in der 5. Auflage, spricht eigens von sittlicher Kultur, "die den naturhaften Drang zur Lebenserhaltung und Lebensentfaltung frei wollend auffängt und zur Lebenserfülung mit den höchsten, absoluten Werten empfänglich macht". Diese sittliche Kultur umfaßt nach ihm sowohl den individuellen wie den sozialen und den religiösen Lebensbereich. Der entsprechende Band der 6. (1960) und auch der 7. Auflage (1987) des Lexikons verweisen im Literaturteil auf Messners Kulturethik Die letztere Auflage teilt die Literaturangabe nach "Mensch und Kultur" und "Kirche und Kultur", wobei Messners Kulturethik nicht ganz richtig, unter letzterem Aspekt eingeengt, angeführt wird. Die Rezeption von Begriff und Inhalt der Kulturethik nach Messner findet sich in den in Österreich herausgegebenen Lexika, im Katholischen Soziallexikon, in der 1. (1964) und 2. Auflage (1980), bei denen Alfred Klose als Herausgeber zeichnet, einem Messner sehr verbundenen Sozialethiker. Der Artikel dazu stammt von Messner selbst und ist für die 2. Auflage außer Literaturergänzungen unverändert übernommen worden. Im Lexikon der christlichen Moral, das Karl Hörmann 1976 h erausgegeben hat, zeichnet Johannes Messner für den Artikel Kultur. 16 Messner verweist nach der Einführung in den Kulturbegriff hier auf die Gefahr, daß die Eigengesetzlichkeit der Kultursachgebiete als die einzige Kulturnorm angesehen wird, daß sie vielmehr relativ zu sehen ist und zugleich in der sittlichen Weltordnung steht. Daher ist die Sittlichkeit die "ausschlaggebende Kulturnorm" auch für die Sachbereiche. Im Literaturverzeichnis zum Artikel, das nicht von Messner stammt, fehlt aber der Hinweis auf Messners Kulturethik! Das von HansRotterund Günter Virt 1990 als Nachfolgewerk besorgte "Neue Lexikon der christlichen Moral" hat nun den Artikel "Kultur" Alois Hutter anvertraut. 17 Der hier vertretene Kulturbegriff spricht von "Natur" als 15

3. Bd., (665-672) 666.

16

941-953.

17

407-413.

46

Rudolf Weiler

"Summe des Vorhandenen", die den Menschen zur "Kultur" als etwas "Künstlichem" veranlaßt So würde der Mensch Kulturwesen, da er sonst "nicht zu leben vermöchte". Gehlens Anthropologie wird mit Kants Naturbestimmung des Menschen zur "höchsten Kultur" ergänzt, um GehJens Naturbegriff mit "Geist" zu verbinden und auf Religion und Bildung zu sprechen zu kommen. "Zwischen Kultur und Gesellschaft zu unterscheiden und von gesellschaftlichen Bedingungen zu sprechen", sei eben "unter dem Einfluß marxistischen Denkens" üblich geworden. Daß Gesellschaft auch eine "kulturelle Dynamik", kulturgestaltend und -verändernd neben den ökonomischen Verhältnissen ausüben könne, wird man allerdings nach Hutter anzuerkennen haben. Einen ethischen Ansatz im Sinne sittlicher Ordnung und des Naturrechts findet sich im ganzen Artikel nicht. Ein merkwürdiger Nachfolgeartikel für Messners Beitrag von vorher in dieser Neuauflage.

5. Durch die Soziallehre des Konzils sah sich Messner in seiner naturrechtliehen Konzeption bestätigt "Du und der andere, vom Sinn der menschlichen Gesellschaft" heißt der Kommentar Messners zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Köln 1969. Auf Seite 15 hebt er das mehr "dynamische und evolutive Verständnis" des Naturrechts durch das Konzil (Gaudium et spes, Nr. 5) gegenüber früheren Zeiten hervor, besonders auch die positive Einstellung zu den anthropologischen Disziplinen im allgemeinen und im besonderen, die Betonung der Eigengesetzlichkeit, Eigenständigkeit und Autonomie der irdischen Wirklichkeiten (Nr. 36, 43 und 59). Die Berechtigung dieser empirischen Wissenschaften ist für Messner ebenso zweifelsfrei, wie ihnen keine "Zuständigkeit für das sittliche Urteil über tatsächliche Vorgänge und Verhaltensweisen" zukommt. Sie könnten vielmehr den Ethiker "über Tatbestände und Entwicklungen informieren, deren Kenntnis ihm für das ethische Urteil unerläßlich ist". Die entscheidenden Aussagen des Konzils zur Kultur finden sich in der Pastoralkonstitution. Im 2. Hauptteil behandelt das II. Kapitel die richtige Förderung des kulturellen Fortschritts, wobei einleitend eine Definition der Kultur versucht wird (Nr. 53). Unter Kultur wird alles verstanden, "wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet", also das Gesamt der Lebensformen des Menschen. Die menschliche Gestaltung des Lebens, des individuellen und vor allem des gesellschaftlichen Lebens im institutionellen und moralischen Bereich, die geistige Komponente aber wird betont. Gerade die Hervorhebung des sozialen Gedankens und der sittlichen Verantwortung (vgl. auch Nr. 59) läßt

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

47

das Konzil einen ,.neuen Humanismus" hervorheben (Nr. 55). Ganz ähnlich findet sich bei Messner der Ausdruck - an einer Reihe von Stellen in der Kulturethik - ,.sozialer Humanismus" oder ,.Sozialhumanismus". Die wichtigsten Aussagen des Konzils zur Kultur und dem Zusammenhang mit der Sittlichkeit finden sich aber im 1. Hauptteil der Pastoralkonstitution, und zwar im II. Kapitel, dort unter der Überschrift ,.Die menschliche Gemeinschaft". Der Leiter der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, der damals als Herausgeber für eine Kommentarreihe verantwortlich war, Prof. Dr. Anton Rauscher, hat offenbar ganz bedacht Johannes Messner mit der Kommentierung dieses Abschnitts betraut. Die Kulturabhängigkeit des sittlichen Urteils bei der Anwendung auf konkrete Verhältnisse beeinträchtigt für Messner unter Verweis auf Nr. 23 der Pastoralkonstitution nicht die Grundlage des Urteils auf den immer gültigen ,.allgemeinen sittlichen Grundsätzen, die ,der Schöpfer in die geistliche und sittliche Natur des Menschen eingeschrieben hat"'.18 Dies gibt Messner aber auch zum Hinweis Gelegenheit zu betonen: ,.Bei der Anwendung auf konkrete Verhältnisse kann das kirchliche Lehramt für deren sittliche Beurteilung nicht die schlechthin unbedingte Geltung solcher Urteile beanspruchen wie für die allgemeinen Grundsätze, vielmehr ist die Geltung solcher Urteile bedingt durch die Richtigkeit der Kenntnis des Sachverhalts, der für das Urteil als maßgebend angenommen wird." 19 Nach Messner lehrt das Konzil zwar ,.keine Autonomie der Kultursachgebiete im Sinne einer Unabhängigkeit von Gott", die Kirche anerkennt aber ,.das Recht der Sachvernunft, soweit nicht die von der Natur der Sache sEölbst gesteckten Grenzen überschritten werden, voll und ganz an". Mensch und Gesellschaft hätten ,.nach den Sacherfordernissen gemäß den Sachgesetzlichkeiten die gesellschaftlichen Ordnungen der verschiedenen Lebensbereiche" einzurichten. In diesem Sinn bekenne sich die Kirche zur Säkularisierung!20 In Verbindung mit dem Wesen der Gesellschaft und dem Gemeinwohl spricht das Konzil von einer . umfassenden Kultur des inneren Menschen" 21, die aber stete Aufgabe von Gewissensbildung und -erziehung ist und damit vom ,.Fortschritt der menschlichen Person" und dem ,.Wachsen der Gesellschaft als solcher" gegenseitig bedingt ist, also auch unlösbar im kulturellen Prozeß steht. 22 Mit der menschlichen Freiheit sieht in diesem Prozeß das 18 Du und der andere, 25. 19 20

21 22

a.a.O. a.a.O., 24 f. Gaudium et spes, Nr. 31. Nr. 25.

Rudolf Weiler

48

Konzil auch in ,.den kommenden Geschlechtern Triebkräfte des Lebens und der Hoffnung" wirksam23 , die der Schöpfer als .. Gesetze des gesellschaftlichen Lebens" in ,.die geistliche und sittliche Natur des Menschen eingeschrieben hat". 24 Insofern wird entgegen dieser Entwicklungslinie - Beispiele der Bedrohung der menschlichen Würde werden angeführt - die Gefahr einer ,.Zersetzung der menschlichen Kultur" gesehen, und zwar in höchstem Maß als ,.Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers". 25 Später bei der Behandlung des kulturellen Fortschritts kommt die Pastoralkonstitution des Konzils nochmals auf die gesamtmenschliche sittliche Bedeutung der Kulturen zu sprechen. Wenn die Kirche sich ,.an keine besondere Art der Sitten ausschließlich und unlösbar gebunden" weiß, trägt sie doch im Zusammenhang von ihrer ,.eigenen geschichtlichen Herkunft" und ihrem Vermögen mit "den verschiedenen Kulturformen eine Einheit einzugehen, zur Bereicherung sowohl der Kirche wie der verschiedenen Kulturen" bei. 26 Das Konzil verweist damit auf die Verschiedenheit der Kulturformen und die Eigengesetzlichkeilen einerseits und andererseits auf die in der Vernunftnatur des Menschen ebenso wirksamen allgemeinen sittlichen Ordnungskräfte. Eine dem entsprechende ,.Geisteskultur" verbinde sich so durchaus dann mit christlicher SittlichkeitY So besehen führt die Synthese der Kulturen hin zu einer ,.menschlichen Gesamtkultur", wenn auch gegenwärtig ,.das Idealbild eines universal gebildeten Menschen immer mehr schwindet". 28 Messner faßt mit Recht seinen Kommentar zum angezogenen Abschnitt der Pastoralkonstitution- die Parallelen zu Inhalt und Verständnis seiner Kulturethik konnten wir wohl aufzeigen! - wie folgt zusammen: 29 Die Kirche wende sich anders als früher .an die eigene Erfahrung des Menschen, ... an das überall erwachte Bewußtsein von der Würde der menschlichen Person. Die Sprache dieser Soziallehre läßt die Nähe zu den Menschen spüren.... Aus allem hört man die Sorge um das irdische Dasein des Menschen.... Die Kirche weiß sich einer säkularisierten Gesellschaft gegenüber mit einem neuen Bewußtsein von Selbstverantwortung und Sachgesetzlichkeiten. Sie gibt aber nichts von der in ihrer Sendung begründeten Hoffnung preis, mit den ihr anvertrauten Wahrheiten und Werten, 23 24

25 26 27 28

29

Nr. 31. Nr. 23. Nr. 27. Nr. 58. Nr. 62. Nr. 61. a.a.O., 160.

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

49

Heilskräften und Heilsgütern überall neues Leben zu wecken, im Namen dessen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, dessen Gesetz der Liebe aber der heute sich in überstürzender Entwicklung begriffenen, geängstigten Welt den Weg in die Zukunft weisen kann". Damit ist auch der Wesenszusammenhang von Kultur und Religion, letztlich der Heilssendung der Kirche im kulturellen Kontext auch der religio als natürliche Tugend des Sittengesetzes betont. Die Konzeption einer umfassenden Kulturethik als sozialethische Disziplin nach Messner trifft sich mit Weichenstellungen der Konzilskonstitution Gaudium et spes. II. Zur Aktualität einer Kulturethik heute

1. Zur Auseinandersetzung mit der analytischen Ethik 30 Im ethischen Diskurs der Systeme heute wird jeder Anspruch auf eine universelle Ethik vorweg insbesondere von den Vertretern einer analytischen Position bestritten. Sittliche Einstellungen sind ihnen eine Frage der Kulturgeschichte. Darauf wird auch die von der Religion auferlegte sittliche Ordnung zurückbezogen. Allgemein gültige sittliche Aussagen und Wertbezüge seien zwar ebenso dem populären Denken vorweg zugänglich, dann aber wissenschaftlich argumentativ verallgemeinert ebenso schwer zu begründen. Jedenfalls hat im modernen ethischen Denken der analytische Weg logischer ethischer Argumentation eine Fülle verschiedener ethischer Überlegungen eröffnet. Mehr als vorläufige Richtigkeit für die Praxis, die hier durchaus kulturabhängig gesehen werden kann, wird nicht beansprucht und scheint auch zu genügen. Die Untersuchung der sittlichen Fragen kann so für neue Erkenntnisse offen bleiben und kommt doch zu vorläufigen befriedigenden Ergebnissen. Der Analytiker kann sich für seinen Weg zur Urteilstindung zudem auf die heute so deutlich werdende kulturelle Vielfalt unserer Welt berufen. So allein könnte im Zusammentreffen fremder Kulturen die Berufung auf die einzig gültige Interpretation der Sittlichkeit durch einen bestimmenden einstigen Philosophen und eine Richtung der Philosophie vermieden werden. Was einmal als richtig und wahr erkannt worden war, muß das nicht immer bleiben. Das zeige eben die Kulturgeschichte der Philosophie mit ihrem Verweis auf das menschliche Handeln, das immer in einem bestimmten Zeit- und 30 Diese Überlegungen sind besonders angeregt von der Publikation von Alasdair Maclntyre, Three Rival Versions of Moral Enquiry, o. a.

4 Kulturethik

so

Rudolf Weiler

Ortszusammenhang steht. Die Berufung auf Werte ändere nichts an der Relativität des Urteils, beruhten diese Werte doch wieder auf kulturellen Vorgaben der Rechtfertigung gemäß der Vertragstheorie. Festzuhalten wäre angesichts dieser Position, daß Ethik im Dialog der Kulturen heute weitestgehend diskursiv-analytisch betrieben werden muß. Wir können nicht zuerst eine Wertebasis und metaphysische Grundsätze als absolut verbindlich voraussetzen und verlangen. Auch der Verweis der Universalistischen Ethik auf eine (oft uneingestandene) Evidenz von Sätzen oder der Hinweis auf die Absolutsetzung der eigenen Hypothesen, von denen die analytische Kritik an einem universellen Standpunkt ausginge, hat danach oft für analytisches Denken keine Überzeugungskraft So bleibt beim kulturethischen Ansatz gegenüber der analytischen Ethik dennoch die Aufgabe verständlich, das "Bindeglied" zwischen der analytischen Methode der Untersuchung und den jeden Menschen existentiell bewegenden Fragen nach dem Richtigen seines Handeins in der Tiefe kulturellen Bewußtseins zu suchen, nämlich im menschlichen Verstand. Intellektualität des Menschen ist immer in Kultur eingebettet und in erlebter Autorität von sittlicher Richtigkeit, die prima facie auf Allgemeingültigkeit hinweist. So bleibt es auch für den Weg ethischer Tradition nach Aristoteles und Thomas von Aquin und dem Naturrecht dieser Richtung auch heute Aufgabe, trotz und angesichts der eigenen kulturellen Gebundenheit, den letztlich metaphysischen Grund sittlicher Evidenz konkret zu sehen. Deshalb wohl hat Johannes Messner seine in Rücksicht auf die Ethik entwickelte Erkenntnistheorie in der "Kulturethik" am ausführlichsten dargebotenY Deutlich wird bei dieser traditionellen Naturrechtsposition auch, wie sehr im letzten die christliche Offenbarung bei der Einsicht in ein allgemeingültiges Sittengesetz und seine Erfassung durch das Gewissen eine Rolle spielt. Die Aufgabe für die christliche Moral wird jedoch erleichtert, wenn die naturrechtliche ethische Forschung sich besonders auch der kulturellen Bestimmtheit des menschlichen Gewissens klar ist und sich ihr zuwendet. 2. Offenheit der Ethik zu den empirischen Wissenschaften Eine aktuelle Hauptaufgabe der Kulturethik heute im Sinne Messners scheint mir die Mitarbeit der Ethik und Sozialethik im Ensemble der empirischen Wissenschaften, insbesondere der Kulturwissenschaften, zu sein. Ich beginne mit dem Hinweis, daß Kulturkunde heute zu einem Schulgegenstand wird und die Begleitung durch die Ethik ein wichtiges Anliegen des Bildungsauftrags auf allen Ebenen wäre. 31

a.a.O., 225-267.

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

51

Besonders eingehen möchte ich auf die Verbindung der Kulturanthropologie mit der Geschichtswissenschaft und den Konnex wieder mit der Ethik. Nach Thomas Nipperday sind die ,.Strukturen menschlichen Handeins und Sichverhaltens" Gegenstand der Kulturanthropologie. Sie zielt damit ,.auf invariable Gefüge und Gesetze ab, die für alle Gesellschaften gelten". Der Geschichtswissenschafter braucht nach ihm das anthropologische Fragen bei seiner Frage nach dem Menschen und seinem Bewußtsein. Einerseits steht er vor dem Phänomen der ,.Plastizität aller menschlichen Strukturen und forscht doch im Gefüge von Strukturvariationen" nach einer .. Typologie von Grundmöglichkeiten und Grundformen des menschlichen Daseins". 32 Die historiographische Tradition und die sozialgeschichtliche Richtung der Geschichtswissenschaft genügten der anthropologischen Fragestellung nach Nipperday aber nicht, auch nicht die Hereinnahme der systemtheoretischen oder psychoanalytischen Methoden. Er nennt immer neue ,.Kategorien und Gesichtspunkte, die für die anthropologische Dimension bei der Gesamtinterpretation von Kulturen, Zeitaltern oder Gesellschaften (,.Systemen") und für die Interpretation von Prozessen wichtig sind". Trotz allem weiß Nipperday, daß auch diese Breite der empirischen anthropologischen Fragestellung in Verbindung mit der wissenschaftlichen Methode der Geschichtswissenschaft nur eine Wissenschaft vom Menschen ist, die mit ,.vielen Nachbardisziplinen ... von der Philosophie und Theologie . . . bis zur Erziehungswissenschaft" versucht, ihrem Gegenstand zu entsprechen, insbesondere aber versucht, ,.die ,Sozialgeschichte' als Richtung vor gefährlichen Verkürzungen" zu bewahren. 33 So scheint der Kulturethik eine wichtige vermittelnde und orientierende Funktion in der Kulturgeschichte der Moral der Menschheit vorbehalten zu sein. Ihr Blickpunkt ist von universeller Ausrichtung auf den Einfluß der geistig-sittlichen Entwicklungen im Lauf der Menschheitsgeschichte, deren Träger im Continuum der gesellschaftlichen kulturellen Tradition letztlich die menschliche Person ist. In diesem Zusammenhang ist auf die Folgen einer Geschichtsphilosophie hinzuweisen, wie sie der Marxismus als eine Strömung des Determinismus gebracht hat. Die Ausschaltung der Ethik und der sittlichen Verantwortung durch diese Strömung und ihr analytisch-historisches Entwicklungsmodell hat zu einer Kulturnot sondergleichen in deren politischem Einflußgebiet geführt. Der Ruf zurück zu einer Kultur der Solidarität und einem Sozialhumanismus aus sittlicher Kultur ist überhaupt ein Merkmal des postmarxistischen Zeitalters. Andererseits ist die Zusammenarbeit der Sozialethik mit den empirischen Wissenschaften gerade in der Analyse des sittlichen Phänomens 32 Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, im Sammelband von ihm, Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, (33-58) 37 f. 33 a.a.O., 9, im Vorwort.

4'

52

Rudolf Weiler

heute von besonderer Wichtigkeit. Die sittliche Erfahrung hat einen induktiv-anthropologischen Ansatz im Werden der sittlichen Persönlichkeit, insbesondere in der Familie. Kultur, Sitte und Norm hängen innig zusammen. Hier besteht der Erfahrungszugang und haben empirisch-analytische Methoden der Forschung ihre Richtigkeit. Die ethische Erziehung steht aber am Ende dieser Beobachtung der Sitten auf Grund des sittlichen Gewissens und seiner Norm. 34 Eine reine Kulturkunde wäre unter Vermittlung der Ergebnisse der Kulturanthropologie, heute zu einem Unterrichtsfach geworden, ohne Kulturethik nicht in der Lage, wahre Erziehung zu leisten. Dabei soll nicht geleugnet werden, daß Erziehung nicht auch ein sehr breit gefächertes Spektrum der kulturell geübten Werte berücksichtigen kann, aber immer auch unter dem Aspekt der Werteinheit des Sittlichen zu stehen hat, um so mehr als die Menschheit heute immer mehr als Einheit erkennbar wird. Der Erfahrungsansatz der Kulturethik kommt besonders beim Streben des Menschen nach Glück zur Sprache. Entgegen dem Hedonismus und seiner Kultur des Konsums (Konsumerismus) hilft nicht nur die Analyse menschlicher Bedürfnisse, sondern vor allem nur eine existentielle ethische Analyse des menschlichen Glücksstrebens. Diese Bedürfnisse gemäß den existentiellen Zwecken sind im Sinne eben der Kulturethik immer auch kulturell definiert. Dies bedeutet aber die Überwindung des ethischen Relativismus und Evolutionismus ohne jeden sittlichen Grund. Im Sittlichen liegt für den Menschen die Überwindung der Entfremdung.

3. Pluralismus und Identität in einer .,multikulturellen Gesellschaft" - ein primär kulturethisches Problem Der Wandel der Kulturen und die Rückfrage nach Identität, folglich auch der Kulturvergleich, ist sowohl im zeitlichen Verlaufsprozeß als auch im geographisch-räumlichen Vergleich der Kulturen im Zeitalter der Massenkommunikation und der großen Wanderungsbewegungen ganz besonders erlebbar. Dieses Erleben der Veränderbarkeil und des Wandels der Kulturen wird besonders am Erleben der Sittlichkeit und folglich der Fragestellung der Ethik deutlich. Eine erfahrungsbezogene Ethik hat daher ihren ersten systematischen Ansatz in der Kulturethik zu sehen, von wo aus die Naturrechtslehre einzusetzen hat, will sie das heutige Rechtsdenken wieder mehr an der Naturrechtslehre ausrichten und die heutige Kritik in ihr überwinden. Das verweist auf die Beachtung und Hereinnahme der Ergeb34 Vgl. dazu den Artikel von Roman Bleistein, Ethische Erziehung heute, in: Stimmen der Zeit, 207. Bd. (1989), (751-759), insbes. 757, Impulse zur ethischen Erziehung!

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

53

nisse der empirischen anthropologischen Wissenschaften in die ethische Forschung, worauf Johannes Messner auch im .. Naturrecht" hingewiesen hat. Unter Zitat einer Buchbesprechung von Albrecht Beckel aus 1961 übernimmt er hierzu die These dieses seines Rezensenten, .,daß die ,Kulturethik' dem ,Naturrecht', wenn auch nicht zeitlich, so doch systematisch vorausgeht". 35 Die Menschheit steht heute ganz aktuellangesichtsder vielen Ethosformen und Kulturen in ihrer Suche nach Einheit und Gemeinwohl als Überlebensfrage vor der Aufgabe einer gemeinsamen sittlichen Grundordnung. Daniel Lohn-Bendit hat das Schlagwort von der multikulturellen Gesellschaft36 heute geprägt. Multikultur an sich gibt es aber nicht. Es gibt das mehr oder minder gelungene Zusammenleben in einer Gesellschaft mit mehreren Kulturen. Dazu bedarf es der Integrationswilligkeit von (verschiedenen) Kulturen. Diese hinwieder hängen vom Identitätsverständnis einer Kultur ab, wobei Identitätsstärke in der Regel zur Integration von Kulturen in positiver Relation zu sehen ist. Letztlich aber beruht die kulturelle Identität auf der einzelnen sittlichen Person in einer kulturellen Gemeinschaft. Ebenso wenig wie es Multikultur gibt, gibt es auch nicht eine panhumane Kultur als tatsächlich gelebte Kulturform. Es ist mit dem Zusammen von Kulturen nach Mehrheiten und Minderheiten wie mit dem Zusammenleben auch von Personen in einer Kultur, es ist eine soziale Gegebenheit auf den Ebenen der Persönlichkeitskultur unter Führung des menschlichen Bewußtseins, des sittlichen Gewissens in seiner sozialen Dimension wie in seiner individuellen Verantwortung. Richtig ist es also, von einer interkulturellen Gesellschaft bis zur Weltgesellschaft unter einem kulturellen Universalismus heute zu sprechen. Kulturelle Öffnung für fremde Kulturen, Übernahme kultureller Differenz, Absage an kulturellen Fundamentalismus wie ebenso das Bekenntnis zur eigenen Kultur in der Vielfalt der Kulturen ist letztlich eine Frage der sittlichen Person und nicht eine kulturelle Gemengefrage. Nicht der .,Mann ohne Eigenschaften", um ein Wort Robert Musils zu zitieren, ist der Mensch der Welt der Zukunft. An dieses Dictum hat Robert Spaemann in seiner Laudatio auf Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 angespielt, um das Schweigen Luhmanns zum universalen Urteil als Verzicht des Soziologen auf die ethische Reflexion, nicht auf Sittlichkeit zu interpretieren. 37 36, Anm. 3. Vgl. Claus Leggewie, Multi Kulti, Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin 1990. Die in diesem Sammelband vom Herausgeber vertretene These lautet: Man kann aus einem sozialen Faktum keine moralische Norm basteln. Daran zeigt sich deutlich die Grenze einer .,multikulturellen Gesellschaft"! 37 Paradise lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990. 35 36

54

Rudolf Weiler

Moralische Fragen müssen aber heute der interkulturellen Diskussion unterworfen werden. Das zeigt der Dialog über den Frieden oder über die Interpretation der Menschenrechte zwischen den Kulturen. Diese Fragen sind heute ein weltweites, auch kulturelles Problem geworden. Nur über die Vielheit der Wege der Kulturen wird der Grund zur Einheit der Ordnung gefunden. Das ist, um Max Weber abzuwandeln, ein mühevolles Arbeiten mit Augenmaß, wobei die Qualität des Maßes nicht allein an der Optik liegen kann. Es braucht einen Grundkonsens, der der subjektiven Beliebigkeit entzogen ist. Die Geschichte des moralischen Bewußtseins ist zugleich seine Kulturgeschichte.38 Sie ist aber zugleich eine kulturethische Anfrage nach einem Grundkonsens, der den Historismus übersteigt. Sie weist auf die Individualität des Menschen gegenüber den Traditionen und Institutionen ebenso hin wie angesichts einer Atomisierung des Sozialen auf Einheit und Ordnung. Zu beobachtender Kulturzerfall durch den Individualismus der Neuzeit steht die Ordnungskraft der menschlichen Vernunft durch ihre Kulturkraft in immer neuen Zeichen und Sinnfragen gegenüber. Daraus folgt eindrucksvoll die innovatorische Kraft der Kulturen, die auf die geistigen Anlagen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft zum Schöpferischen hinweisen. Pluralismus der Kulturen und Einheitsgedanke erweisen in schöpferischer Spannung zueinander geradezu den geistigen sittlichen Grund des Kulturellen im Menschen. Die Frage nach einer allgemein-menschlichen Moral im Erleben des im Naturrecht begrenzten Pluralismus der Kulturen ist nicht in jeder Kultur so sehr als Frage eines sittlichen Absolutismus und der Transzendenzbezogenheit menschlichen Handeins auf objektive sittliche Ordnung und Wahrheit bezeugt. Dennoch ist sie eine Grunderfahrung mit personalem Hintergrund. Als Zuwendung zur Wahrheit in der Frage und im Vertrauen auf den Nächsten und seines Minimums am gemeinsamen Ethos erwächst eine Plausibilität der sittlichen Ordnung, die hinter der erwarteten Praxis Objektivität der Überzeugung, sittliche Wahrheit in Umrissen erwarten läßt. 39 So wird sittliche Ordnung über die Hinwendung zur Tugend erlebbar, die sich auf Gutsein zurückführt als OrdnungsregeL Eine solche metaphysische Seinswurzel des in sich guten Menschseins ist doch kein naturalistischer Fehlschluß oder abstraktes Absolutum in der Moral, wie es zum Beispiel Josef Fuchs problematisiert. 40 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Gewissen und Geschichte, Heidelberg 1990. Hingewiesen sei hier auf den Gedanken des Emmanuel Levinas, von der "Epiphanie des menschlichen Antlitzes" im Hinweis auf das "Sein des Anderen" und dessen ethische Bedeutsamkeit. (Die Spur des Anderen, Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1983, 198 ff.) 40 Das Absolute in der Moral, Stimmen der Zeit, 118. Jg. (1989), 825-838. 38 39

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

55

Die Vielheit der Ethosformen der Menschheit bedingt auch einen Pluralismus der ethischen Identität. Dies ist aber mehr als eine ethnische Identität zu verstehenY Hinter den verschiedenen Formen und Ebenen der Identitätstindung und ihrer Vielheit gibt es eine Einheit, die nicht der Vielheit Abbruch tun muß. Dies trifft dann zu, wenn sie aus einer Einsicht in Gemeinsamkeiten folgt, die auf eine sittliche Grunderfahrung der Identitätstindung des Menschen mit seiner Bestimmung zurückgeht, die man als sittliche Urerfahrung aus dem reflexenBewußtsein des Menschen schöpfen kann. Aus der Formgeschichte und Kulturgeschichte des Ethos schöpft die der Erfahrung zugewendete Ethik. Man kann diese Urerfahrung von der Zukunft des Menschen und Mitmenschen und von der Erhaltung der Schöpfung für den Menschen nach Hans Jonas als Verantwortung 42 bezeichnen. Man kann ein Weltethos als "Projekt" zu formulieren suchen wie etwa Hans Küng. 43 Dem Guten für den Menschen bleibt das sittlich Gute als Seinsgutes zugrunde liegend. Pluralismus der Ethik, Ethosformen ermöglichen ethische Identität und sind demnach nicht Argument gegen die sittlichen universellen Werte und ein natürliches Sittengesetz. 4. Die Ethosformen in Teilbereichen der Kultur und die "Verfassungs/rage" der Gesellschaft bis zur Menschheit oder Völkergemeinschaft

Die Massengesellschaft ohne kulturell entwickelte Lebensformen familiärer, regional-föderativer oder beruflich-korporativer oder freier Art, also ohne gepflegte Gliederung droht uns heute ebenso wie auch der von konstitutionellen Bindungen an die Naturverfassung der Gesellschaft "befreite", herrschaftsfreie Diskurs über Ethik Palaver der" 1000 Gespräche" von Philosophen bleibt. Vorherrschend scheint Skepsis vereint mit Pragmatismus zu sein. Das ist ein Grund für das viel beklagte Fehlen der politischen Kultur heute, nämlich der Verlust des Ordnungsgedankens, der durch Postulate, auch durch transzendental-kategorische, nicht genügend ersetzt werden kann. Der Mangel an Kultur und des Ordnungsgedankens ist vielleicht noch unmittelbarer spürbar im Bereich der Wirtschaft bis zur Weltwirtschaft. Die in der Wirtschaftsethik gern gebrauchte Formel "in oeconomicis oeconomice" für Sachrichtigkeit in der Wirtschaft auch als 41 Der soziologische Betrachtungsansatz von Minderheiten unter dem Begriff Ethnicity, wie er in den USA gebräuchlich ist, trifft das Problem eben nur vordergründig. 42 Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984. 43 Projekt Weltethos, München 1990.

56

Rudolf Weiler

Grundregel der Sittlichkeit in derselben gilt in allen sozialethischen Fragen und in allen Kulturbereichen: Rationalität ist kein Gegensatz, sondern in allen sittlichen Ordnungsfragen auch Grundregel und Voraussetzung der Sittennorm beim Handeln. Im Ökonomischen, im Politischen und - in engerem Sinn gesprochen - im Gesellschaftlichen gilt für jede entsprechende sittliche Kultur der Imperativ des oeconomice, politice et sociale. Die Kulturethik muß im Zeitalter des Szientismus-Pragmatismus besonders der Tatsache des Einflusses der Ideologien auf die Kulturen in allen Lebensbereichen nachgehen. Insofern ist Kulturethik auch Ideologiekritik und sucht im Dialog der Weltanschauungen nach der sittlichen Wahrheit als Ordnungsgrundlage. Erst so können Rechte, aber auch Pflichten der Kulturen im Gesamtzusammenhang - auch als gesellschaftliches Aufbauprinzip mit Eigenrechten - realistisch erarbeitet werden. Zusammenfassend kann man von einer Welttheorie einer mundialen Kultur mit einem Weltethos sprechen. Friedrich H. Tenbruck sieht die Entwicklung auf eine Globalisierung der Kultur hin im Gange.44 Wir können vom Ordnungsdenken einer naturrechtliehen Kulturethik ausgehend von diesem Weltethos45 in vielen Ansätzen und Formen in den Kulturen antreffen, wobei freilich interkultureller Dialog und Konsens in die Verantwortung der Menschen gelegt sind. Es geht um eine ständige Enkulturation des Sittengesetzes! 5. Sittlichkeit im kulturellen Wandel Die Frage nach dem zeitgeschichtlichen Wechsel von Kulturepochen muß sich nicht erst vom Standpunkt einer Entwicklungstheorie des Kulturprozesses stellen, um nicht zur Betrachtung allgemeiner Relativität und Offenheit kulturellen Wandels zu gelangen. Es genügt der Hinweis auf die Unberechenbarkeit kultureller Veränderungen, um die Betonung kultureller Konstanten in der Menschheit als Essentialismus abzuqualifizieren. Freilich ist dann ebenso leicht wieder die Versuchung naheliegend, einen Paradigmenwechsel im Verlauf der Kulturgeschichte zu orten, der durchaus zumindest Teile seines prognostizierten Inhalts Wunschvorstellungen des Autors verdankt. Deutlich machen läßt sich das an der Diskussion um die Postmoderne. Insbesondere gilt das, wenn nicht bloß über Kunstrichtungen, sondern über geistesgeschichtliche Entwicklungen diskutiert wird, wenn zum Beispiel Pastoraltheologen im Gefolge von Kultursoziologen von Begriffsverbindun44 45

Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen 1989. V gl. R. Weiler, Internationale Ethik, Bd. 1, Berlin 1986, 26 ff.

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

57

gen mit Epochenmerkmalen der Postmoderne wie ,.postmaterialistisch" oder ,.postautoritär" nachsinnen. 46 Damit soll nicht die Ortung von gesellschaftlichen Trendanalysen an sich in ihrer Bedeutsamkeil verkannt werden. Es soll aber zur Vorsicht bei der Auswertung gemahnt werden, wenn damit kulturelle Bruchlinien zwischen ,.ganz anderen" Zeitaltern erwiesen werden sollten. Ein aktuelles Beispiel für solche kulturellen Paradigmenwechsel ist die schon angeklungene Frage nach dem Ende der Moderne als einer Geschichtsepoche. Bedeutet der Eintritt in die Postmoderne eine Epochenschwelle? Ist das, was im Entwicklungsgang der Menschheit aus unserer europäischen Geschichtsbetrachtung Neuzeit heißt, durch die Aufklärungsphilosophie, den Rationalismus und die Naturbeherrschung ausschließlich und entscheidend bestimmt, dann könnte als ,.Dialektik der Aufklärung" nach Horkheimer und Adorno sich diese tatsächlich absolut setzen und in Selbstzerstörung umwandeln. Nach der New-Age-Philosophie wäre der Umschlag in einen innerweltlichen Mythos die Alternative. Basisbegriffe der Moderne wie Freiheit, Autonomie oder Gleichheit, zu alleinigen Säulen humaner Kultur erhoben, hätten dann zur Folge, daß vernünftiges Denken über menschliche Praxis mit Einschluß der Transzendenz und Religion in allgemeinen Begriffen und Schlüssen hinfällig wäre. Damit verlieren sich aber die geistigen Grundlagen jeder Kultur oder Zivilisation. Nur die Verbindung von Kultur mit praktischer Vernunft vermag die Grundlagen jeder Kultur zu bewahren. Das kulturelle Krisensignal ist für die Moderne und die angebrochene Postmoderne heute vielen Zeitkritikern die ökologische Problematik für die Zukunft der Menschheit. Ethik ist als ,.ökologische Ethik" wieder im Ansehen, Lösungen sind aber philosophischangesichtsdes bestehenden Subjektivismus und Pluralismus zur Zeit noch weniger in Sicht als in der kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichen und politischen Praxis. Nach Reinhart Maurer47 stellt gerade die ökologische Krise heute .,die Moderne von ihrer Basis her in Frage"! Ihre Basis ist ein Strang der neuzeitlichen Denkbewegung, die von Maurer aufgezeigte ,.progressive, wissenschaftlich-technisch-industriell-ökonomische Naturbeherrschung". 48 So sieht die Kulturethik die Lösung wieder in der Rehabilitierung der Vernunft in ihrer sittlichen Dimension innerhalb der als Ganzheit verstandenen technischen und menschlichen Kultur. Das bedeutet nicht etwa das Vgl. Paul M. Zulehner, Religion im Leben der Österreicher, Wien 1991. Moderne oder Post-Moderne? Ein Resümee, in: Moderne oder Postmoderne?, hrsg. von Peter Koslowski, Robert Spaemann, Reinhard Löw, Weinheim 1986, (277282) 279. 48 a.a.O., 278. 46 47

58

Rudolf Weiler

Setzen auf Mythen in Zukunft, sondern auf eine menschliche Natur, die in ihrer Kulturleistung von einer Bestimmung und inneren Ordnung, einschließlich eines religiösen Transzendenzbezuges, ausgeht, die Vernunft und Natur zusammenführen und "den Rang des Moralischen in seiner Unverletzlichkeit und Würde" wieder zu erkennen geben. 49 Der Anspruch postmoderner Philosophen vom Ende der Moderne ist heute das Gegenteil zum Anspruch rationaler Welterklärung unter den Vorzeichen exakter Wissenschaft. Heute hat die Entwicklung dieses wissenschaftlichen Anspruchs unter der Entwicklung des Systemdenkens zu einem Zerfall jedes Ordnungsgedankens und damit auch der Ethik geführt. Am Ende dieses Zerfalls steht darum heute das Szenario des drohenden Weitendes. So ermöglicht die von der Postmoderne gepriesene Vielheit der Geisteshaltungen zwar angeblich dem Einzelnen, ohne Angst verschieden sein zu können, weil es letztlich kein letztes Fundament nach allen Wissenschaften gäbe. 5° Mit der Katastrophenangst schlägt diese Position aber auf den Menschen zurück. Hier hilft dann auch keine Beschwörung aus Esoterik und "ganzheitlichem Denken" (Fritjof Capra). Wird der Abschied vom Prinzipiellen jeder Praxis nicht auch zur Verleugnung menschlicher Erfahrung und zur Verachtung des Menschlichen selbst? Die Behauptung vom Ende einer zeitgemäßen Ethik ist nicht schon das Ende der sittlichen Kultur als eines normativen Ethos, das aus dieser Erfahrung nach einer ethischen Reflexion und Ethik immer rufen wird. Die dieser Behauptung vom Ende des Menschen als handelndem Subjekt der Geschichte und Kultur zugrundeliegende Hypothese ist, auch wenn sie im System nicht so angesehen wird, dennoch eine solche für die existentielle Einsicht des Menschen und zeigt diese wissenschaftliche Position als neuen Religionsanspruch.

6. Die Enkulturation des Christentums

Die politische Theologie und die Befreiungstheologie gehen von einer Politisierung der christlichen Botschaft aus zur Begegnung mit der Welt hin auf Erlösung und Gerechtigkeit. Religion ist aber auch in sich kulturelle Wirklichkeit und hat auch eine natürliche Bedeutung für die Kultur, indem sie den religiösen Gedanken und Transzendenz in die Gesellschaft einbringt. Hier hat das Christentum, besser die Kirche, durch ihre kulturelle Kraft die 49 Joseph Ratzinger, Wie wir es auch wenden, Artikel in: Die Presse vom 30./31. März 1991, Seite I!. 50 Vgl. W olfgang Welsch, Nach welcher Moderne?, in: Moderne oder Postmoderne?, a.a.O., 237-257.

Die Menschheit vor der Frage nach der sittlichen Ordnung

59

Aufgabe und Chance als Verbündeter des Sittengesetzes für religiöse Wahrheit in Formenvielfalt für eine religiöse Grundkultur einzutreten. Erst damit, wenn auch praktisch zugleich oder in wechselnder Konsekutivität sogar, können wir von Enkulturation des Evangeliums und des Christlichen in eine bestimmte Kultur sprechen, bzw. von christlichem Erbe und christlicher Kultur auf der Höhe der Zeit. Die naturnotwendige .,Enkulturation" des Sittengesetzes in den Sitten der Kulturen geht immer der Enkulturation des Christentums logisch voraus. Dies ist auch die Voraussetzung- naturrechtlich und theologisch! -, fundamentalistische Fehler und Strömungen zu erkennen und zu vermeiden. Von hier aus sieht man auch das Ziel des christlichen Buropa als eines offenen und sozial-humanistischen gläubigen Kontinents deutlicher vor sich. Eine Kultur der Wahrheit und in Wahrheit läßt keine Teilung ihres Grundes, des Menschen und seiner Vernunft zu. Wahrheit und Kultur gründen im ganzen Menschen, wenn auch gelebte Kultur immer Stückwerk bleiben muß und auf Gnade von oben her aus der Transzendenz nur offengehalten werden kann. Johannes Messner ist gerade in seiner Kulturethik den Interessen und Fragen auf Grund des Wissensstrebens unseres Zeitalters nachgegangen, ohne die großen Antworten der klassischen philosophischen Tradition zu verlieren, sondern sie zu entfalten. Ein Frühjahr 1990 erschienenes Buch von Ulrich Steinvorth kommt dieser Position Messners nahe, wenn er im Schlußwort zusammenfaßt: .,Obgleich sich aber nur eine klassische Ethik als fähig erwies, die Moralprinzipien zu begründen, finden wir uns bei deren Anwendung verwiesen auf Konkretisierungsverfahren, deren Begründung zu den wichtigsten Zielen der modernen Ethik gehörte. Die klassische Ethik kann deshalb die moderne Ethik nicht ersetzen; sie muß sie vielmehr integrieren, wenn sie praxisrelevant werden will. Das Interesse der Moderne an der Praxis erklärt die Vorherrschaft der modernen Ethik in einer Epoche, die die menschliche Praxis verändert hat wie keine andere. Eben dies Interesse hinderte die moderne Ethik an einer überzeugenden Antwort auf die spekulative Frage nach dem Grund der Moral. Die Anerkennung der seinsethischen Moralbegründung liefert der modernen Ethik das fehlende Fundament, wie die moderne Ethik der klassischen zur Lösung ihrer Anwendungsprobleme verhilft. "51 Mein Plädoyer für die Kulturethik in Fortsetzung der von Johannes Messner damit gesehenen Erneuerung des Naturrechts zeigt: Das Naturrecht ist nicht abstrakt, es findet sich aktuell im Leben des Menschen und der Kulturen. Es ist Gesetz gesellschaftlichen Lebens in seiner Wirklichkeit 51 Klassische und moderne Ethik, Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek bei Harnburg 1990, 206.

60

Rudolf Weiler

und bestimmt sein Gelingen oder das Gemeinwohl. Wenn heute so viel von Fehlen von oder Streben zu einer Kultur der Solidarität, des Friedens, der Liebe geredet wird, geht es niemals ohne gelebte sittliche Ordnung, also nur auf dem Grund der Werthöhe sittlicher Kultur. Für die Wissenschaft zeigt dies die fundamentale Notwendigkeit einer Kulturethik

DAS MASONISCHE MENSCHENBILD AUF DEM PRÜFSTAND DER SCHÖPFERISCHEN ENTFALTUNG DER MENSCHLICHEN PERSON

Eine kulturethische Konfrontation der wesenhaften und existentiellen Lebenszwecke mit der Relativierung der objektiven Wahrheit Von Robert Prantner I. Die Fragestellung nach der Substanz einer Gesprächsebene zwischen naturrechtlich-christlicher und masonischer Anthropologie Im Dialog zwischen den Exponenten der Römisch-katholischen Kirche und verschiedenen Repräsentanten europäischer Großlogen der angelsächsischen Denomination des Freimaurertums, aber auch des Großorients von Paris, erhebt sich die Ausgangsfrage nach der Qualität der Gesprächsebene. Die Substanz eines informativen Dialogs bedarf einer Festigkeit, die nur aus einer zumindest minimalen Plattform gemeinsamer Grundanschauungen abzuleiten ist. Die folgende kulturethische Untersuchung, die vom naturrechtlich-christlichen Menschenbild ausgeht, welches Johannes Messner in seiner ,.Kulturethik" 1 einleitend interpretiert (Prinzipien- und Persönlichkeitsethik), soll eine maßgebliche Antwort auf die Fragestellung erbringen: gibt es eine gemeinsame Profilierung des Menschenbildes der in Rede stehenden Partner und lassen sich deduzierte Termini wie Menschlichkeit, Humanität, Humanismus auf einen gemeinsamen Deckungsnenner bringen? Erst kürzlich hat der ,.Theologe des päpstlichen Hauses", der Dominikanerordenspriester Georges Cottier, einen kritischen, jedoch teils affirmativen Aufsatz dieser Themenstellung gewidmet. Unter dem Titel ,.Regards Catholiques sur la Franc-Maconnerie" 2 untersucht der Autor die ,.humanitäre Verklammerung", die von verschiedenen Seiten reklamiert wird. Deren 1 Vgl. Johannes Messner, Kulturethik (mit einer Grundlegung durch Prinzipienund Persönlichkeitsethik), lnnsbruck-Wien-München 1954. 2 Georges Cottier, Regards Catholiques sur Ia Franc-Maconniere, in: Atheisme et dialogue, 1987, Nr. 2 und 3; vgl. auch Tommaso Ricci, Der Theologe des päpstlichen Hauses, in: Trenta giorni, Dezember 1991.

62

Robert Prantner

Solidität, ja deren Brauchbarkeit überhaupt, könnte schlußfolgernd zu kulturethischen Umsetzungen in die Praxis der gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche führen oder dieselbe mangels der erforderlichen Fundamente ausschließen. Wie Antonio Socci die Überlegungen Georges Cottier einschätze, hat dieser in der zitierten Zeitschrift des Rates für das Gespräch mit den Nichtglaubenden unter dem Titel "Ein katholischer Blick auf die Freimaurerei" vor allem der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß es sich bei den polemischen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Freimaurerei "um ein historisches Kapitel handelt, das man endgültig abgeschlossen hat": "Von einer freimaurerischen Sekte zu sprechen ist nicht zutreffend, zumindest aber ein Anachronismus ... Das Bild, das man damit von der Freimaurerei macht, ist das eines einheitlichen Blockes. Es scheint, daß man sich nicht genügend der rituellen, philosophischen und nationalen Heterogenität und der verschiedenen Obödienzen der Freimaurerei bewußt war. Was den Inhalt anging, so wurde angemerkt, daß es angebracht sei, in Anlehnung an die getrennten Zuständigkeitsbereiche der Kirche und der politischen Gesellschaft auch völlig zwischen religiösen und politischen Motiven zu unterscheiden. Ebenso wurde angeregt, daß der Kanon nur auf die Freimaurer angewendet werde, die die Kirche bekämpften, und daß er nicht die gemäßigten, theistischen und den Katholizismus respektierenden Obödienzen betreffe."4 Diese Betrachtungen stellte der "Theologe des päpstlichen Hauses" anläßlich der zur Zeit der Abfassung des neuen Codex iuris canonici laufenden Meinungsverschiedenheiten zur Abschaffung des Kanon 2335 des alten Kirchenrechts von 1917 an, um schließlich drei Ebenen zu proklamieren, auf denen "der Dialog und die Zusammenarbeit notwendig seien": 5 "1. . . . Der Dialog auf der im strengen Sinne doktrinären Ebene, der von philosophischer Art ist . . . und von allen Beteiligten eine aufrichtige Suche der Wahrheit und Wahrheitsliebe verlangt .. . Der Dialog ist eine Schule, in der der Mensch seine Menschlichkeit am besten ausdrückt. Er ist eine Schule des Humanismus, ein Zeugnis für die Größe des Menschen und die Größe der Probleme, die sich seinem Geist stellen."

2. . . . Der Dialog über ethische Werte, insofern sie das soziale, politische und auf den Dienst am Menschen und die Förderung seiner Person ausgerichtete Handeln betreffen. Einfacher gesagt, es handelt sich um die Verteidigung und Förderung der ,Menschenrechte'. Unsere beiden Traditionen- die sich beide humanistisch nennen und es sein wollenhaben nicht das Recht, sich dafür nicht zu interessieren." 3

4 5

Antonio Socci, Logenbrüder, brave Brüder, in: Dreißig Tage, Dezember 1991. Georges Cottier, a.a.O. Ebd., vgl. auch A. Socci, 47.

Das Masonische Menschenbild

63

3. . .. Die Zusammenarbeit im Dienst der großen Aufgaben, die sich der gesamten Menschheit stellen. Dazu gehören das Überleben der Arten und Kulturen, die Probleme von Friede und Krieg, die Probleme der internatioalen Ordnung, des Hungers in der Welt und des Nord-SüdVerhältnisses im allgemeinen, die Probleme, die mit den möglichen Manipulationen des Menschen und seines genetischen Erbgutes verbunden sind, nicht zu vergessen, dann die sofortige Hilfe bei Naturkatastrophen oder Katastrophen sozialer Art ... Unsere humanistischen Traditionen verpflichten die eine wie die andere Seite, auf diesem Wege mit mutigen Initiativen voranzuschreiten". Folgt man dieser von Zuversicht und irrationalem Optimismus getragenen Admonition des Autors, so wird man nicht nur von analytischen Aufgaben nicht entbunden, sondern geradezu aufgefordert, solche auszuführen:

1. Ist das Menschenbild von Kirche und Freimaurertum tatsächlich ein gemeinsames und lassen sich daher Abstraktionen wie "Humanität" und "Humanismus" als Begriffe mit gemeinsamen Inhalten verstehen? 2. Trägt das Gottesbild der Freimaurerei tatsächlich theistische Züge und ist der Deismus aus den Grunddokumenten gewichen, um einem konkreten Offenbarungsbegriff Gottes Platz zu geben? 3. Gibt es tatsächlich menschheitsweite gemeinsame Aufgaben von Kirche und Freimaurerei?

II. Die Entfaltung des natürlichen Menschenbildes in concreto bedeutet die schöpferische Ausformung der einzelnen Persönlichkeit in der triebrichtigen Erstrebung adäquater Lebensziele. Zu diesen zählt höchstrangig das bleibende Glück in einem "höchsten Gut" (summum bonum) Liest man aus der Erfahrung des Menschen mit seiner eigenen Person deren Doppelwesen - Leib und Seele - mit einer ebenfalls zweifachen Natur (Einzel- und Gesellschaftsnatur) ab und bedient man sich bei der Handhabung dieses Unterfangens der Eigenerkenntnis der Vernunft, des Instinktes (Gewissens), der empirischen Eigenerfahrung und der Fremderfahrung (Geschichte), so entdeckt man unschwer in die Menschennatur eingestiftete Triebe (Neigungen, inclinationes), deren zielorientierte Verfolgung die "Entfaltung des Menschseins" erstrebt bis zu einem Erfüllungsgrad, dessen Vollkommenheitsmaß realistisch als "Vervollkommnung mit begrenzten Dimensionen" bezeichnet werden kann. Unverbindliche, die Wirklichkeit relativierende Lebensorientierungen schaffen auf der anderen Seite

64

Robert Prantner

jenes qualitative und quantitative Unbehagen oder jenen Status der Unerfülltheit und des Unbefriedigtseins, der bis zum "taedium vitae", zum Ekel am Leben, verführen kann. Die kulturethisch "rechte" oder "richtige" Lenkung (mittels freier Willensentscheidungen) geleitet hingegen auf dem Pfade einer nicht begreifbaren Sehnsucht zu einem angestrebten höchsten Ziel der Glückserfüllung: einem "summum bonum", einem höchsten Gut oder höchstguten Wesen, das die Völker in der Geschichte ihrer transzendierenden Suche danach "das Göttliche" oder "Gott" nennen. Der menschliche Weg der Selbstentfaltung ist also ein, durch des Menschen Natur bestimmter, zielorientierter Weg und nicht etwaigen "eigengesetzlichen" (autonomen) Zielvorstellungen willkürlich anheimgestellt. Jede Kulturethik, die von einem natürlichen, vernunfterkennbaren Menschenbild ausgeht, ist der "Bewertung" oder der Wertfrage gegenübergestellt. Johannes Messner sieht darüber hinaus in Wahrheit die entscheidende Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der Kultur (als objektiv beschreibbare geistige und materielle Welt des Menschen) in der von ihm ausgehenden Klarheit hinsichtlich der der Transzendenz angehörenden Wahrheiten und Werte und hinsichtlich der sich dem Menschen damit eröffnenden Einsicht in den Sinn seines Daseins.6 Diese Diagnose der menschlichen Entfaltungsorientierung ist kraft der natürlichen Qualität jedem übernatürlichen, aus religiöser Offenbarung stammenden Menschenbild vorgelagert. Der Mensch als Ebenbild Gottes, geschaffen, gefallen, erlöst und wiederhergestellt, entspricht etwa dem Inhalt der christlichen, geoffenbarten Anthropologie, während das Streben nach Gotteserkenntnis und dem Besitz Gottes schon zuvor in die Natur des Menschen eingestiftet wurde.

111. Gibt es ein verbindliches "Ethos des Menschen", das die Richtigkeit seines sittlichen Bewußtseins in der Wahrheitsfindung vorweist? Eine der möglichen Deutungen des Begriffes "Ethos" - und zwar die primär erhellende- ist jene, die mit "Charakter", "festem Platz", "bleibender Orientierung" wiedergegeben wird. Im weiteren Sinne ist damit auch jene Identität gemeint, welche die Unverwechselbarkeit des Menschseins signalisiert. Wie alle Wissenschaften, so muß auch die Ethik von den Erfahrungstatsachen ausgehen. Johannes Messner legt auf den Doppelstatus der Erfahrungen besonderen Nachdruck: sind doch die Tatsachen unserer Erfahrung tatsächlich zweifacher Art, nämlich solche der äußeren 6

Johannes Messner, a.a.O., 387 ff.

Das Masonische Menschenbild

65

und andere der inneren Erfahrung. Die der äußeren Erfahrung werden als Beobachtungstatsachen bezeichnet, die der inneren Erfahrung als Bewußtseinstatsachen. Die innere Erfahrung bezüglich der Bewußtseinstatsachen ist eine wirkliche Form der Erfahrung zufolge des gesamten Sprachgebrauches der Menschheit. Den Ausdruck Erfahrung nur auf die Sinneserfahrung und die direkte oder indirekte äußere Wahrnehmung zu beschränken, wie alle positivistische Philosophie es versucht, ist eine reine Willkür. 7 Das sittliche Bewußtsein des Menschen istapriorikeine unbeschriebene Tafel. Vernunft und Instinkt, das Gewissen als informierter und kultivierter Instinkt, zeugen dafür. Nun gehen zwar alle Formen der Ethik von der Tatsache des sittlichen Bewßtseins des Menschen aus und suchen es in seiner Bedeutung und seiner Tragweite zu erklären, doch beginnt die Verzögerung und auch die Trennung der Wege bereits bei der Einschätzung des Wissens des Menschen um Gut und Böse. Ganz eng damit verbunden ist die Akzeptanz oder Leugnung einer objektiven, erkennbaren und verbindlichen - lebensverbindlichen! - Wahrheit. Deren Verneinung hat den schönsten und klarsten literarischen Ausdruck in der Ringparabel in des Freimaurerdichters Gotthold Ephraim Lessings Drama "Nathan der Weise" gefunden. Das sittliche Gewissen, so oft als höchste Instanz falsch angepriesen, prägt das sittliche Bewußtsein des Menschen durch drei besondere Tatsachen: es meldet sich mit seiner Warnung oder Mahnung (immer) im Falle einer notwendigen Entscheidung über Gut und Böse einer Handlung, es beansprucht eine über ihm stehende unbedingte Autorität, seine Anklage nach einer Handlung im Widerspruch zu seiner Mahnung oder Warnung hat den "Gewissensbiß", auch die Gewissensunruhe, den Gewissenszweifel genannt, zur Folge. 8 Mit der Alternative von Gut und Böse ist die Wertorientierung in die sittlich richtige Bewußtseinsbildung eingebracht. Nach Johannes Messner ist für die grundlegende Tatsache der unmittelbaren Werterfahrung des Menschen ein Wert das einem Triebverlangen Entsprechende, oder einfach das Triebentsprechende, wobei an die geistigen wie an die körperlichen Triebe zu denken ist. 9 Werte sind bedingt durch Bedürfnisse, Bedürfnisse sind bedingt durch Triebe. Was den ihn bewegenden Bedürfnissen entspricht, ist für den Menschen ein "Gutes", ein "Gut". Die subjektive Natur des Wertes sollte auf der Suche nach dem Verbund von objektiver Wahrheit und natürlicher menschlicher Triebrichtung nicht außer Acht gelassen werden. 7 8 9

Johannes Messner, a.a.O., 7 f. Johannes Messner, a.a.O., 8. Johannes Messner, a.a.O., 89.

5 Kulturethik

66

Robert Prantner

Damit wird - im Angesicht der höchstpersönlich zu definierenden Lebenszwecke, welche die "existentiellen" als Überhöhung der wesentlichen, "essentiellen" erkennbar machen- die ursprüngliche Werterfahrung auch in besonderer Weise zur Erfahrung eines unbedingten Lebenssinnes: "Zufolge des absoluten Geltungsanspruches und des absoluten Hingabeanspruches, die für das Bewußtsein des Menschen mit seiner Werterfahrung im sittlichen und religiösen Bereich zuinnerst verbunden sind, ist es zuallererst die Werterfahrung, in der sich dem Menschen der Zugang zur Erkenntnis eines ihn über sich hinausweisenden Sinnes seines Lebens und der dadurch seinem Leben gesetzten Ordnung erkennen läßt." 10 So eröffnet vor allem die Werterfahrung dem ursprünglichen Bewußtsein im Lichte des essentiell gültigen Ethos den Zugang zur Erkenntnis des Existenzsinnes und der Existenzordnung, während an diesem geistigen Ort die gemeinwohlbezogene Gestaltungskraft den Menschen zum Kulturmenschen macht. Denn nur nach dem ihm vorgegebenen Ethos ist der Mensch auch Vollmensch: das ist Mensch in der Vollwirklichkeit seiner Vernunftnatur11, er kann somit im Widerspruch zu diesem Gesetz, das seinen "festen Platz" charakterisiert, nicht wirklich Kulturmensch sein. "Kultur als Wertverwirklichung, worin ihr allgemeinstes Wesen besteht, ist daher an die die wesenhafte Selbstverwirklichung des Menschen begründenden Werte gebunden. Das sittliche Naturgesetz des Menschen ist demnach auch sein sittliches Kulturgesetz."12 Ste ht doch die Entfaltung des Menschseins nicht außerhalb der sittlichen Ordnung. Nichts kann kulturrichtig sein, was nicht naturrichtig ist. Der Entstehungsgrund des Sittlichen im Menschen besteht in der Abhängigkeit seines Handeins als Mensch von seiner Selbstbestimmung: Die Freiheit ist der Entstehungsgrund des Sittlichen. Sie ist die Schubkraft, die das Ethos realisiert, und sie strebt in der Trieborientierung des Menschen auf die Wahrheit zu, denn nur diese kann "triebrichtig" sein. IV. Entspricht das masonische Menschenbild dem natürlichen, vernünftig einsichtigen, triebbestimmten und vollkommenheilsorientierten Ziel des adäquaten Menschenbildes? Die "symbolische oder spekulative Geistesmaurerei" integriert vier Elemente: 1. den philosophischen Deismus, der das 17. Jahrhundert kennzeichnet. Das Gottesbild des Deismus ist nicht personal. Es umschreibt keine feste 11

Johannes Messner, a.a.O., 95. Johannes Messner, a.a.O., 407.

12

Ebd.

10

Das Masonische Menschenbild

67

Vorstellung eines göttlichen Wesens. Es ist monistisch, weitgehend von pantheistischen Zügen geprägt und unbestimmt bezüglich der Attribute Gottes. Dieses "göttliche Wesen" ist auch in unverbindlicher Weise nur als Schöpfer zu bezeichnen, wiewohl der "Baumeister aller Welten" als in etwa unverursachte Ursache angesehen wird. Der Mensch ist nicht in direkter Weise einem persönlichen Sittengesetz unterworfen, das durch den persönlichen Willen Gottes der menschlichen Natur eingestiftet wurde. Das Gottesbild ist nicht einmal hinsichtlich einiger weniger Aussagen fundamentaltheologisch erkennbar. Seine Beschreibung ist dem Gefühl und der willkürlichen Orientierung des einzelnen Menschen ausgeliefert. Nicht einmal das Gesetz der Kausalität zwischen Schöpfer und Geschöpf hat vordergründige Bedeutung. Der Mensch relativiert daher als "autonomes" Wesen den Katalog sittlicher Verbindlichkeiten nach persönlicher Einstellung, Lebensumständen und Opportunitäten. Das "Gottesbild" ist nicht theistisch, sondernwenn eingefordert- philosophisch deistisch. Es ist im engsten Sinne des Wortes "unverbindlich". Das Menschenbild folgt dieser Spurenlegung. 2. den philosophischen Rationalismus mit dessen maßloser Überschätzung und Primatisierung der menschlichen Vernunft. Das sittliche Bewußtsein, eingemahnt von Instinkt und Gewissen, wird ebenfalls von Umständen, Zeiteinstellungen, Zweckvorgaben in Relation gesetzt und von objektiv wahren Befindlichkeiten abgehalten. Der Mensch in seiner Willkür- so zu handeln oder anders zu handeln, unbeschränkt durch den Willen eines nicht akzeptierten Gottes - wird zum isolierten Quellgrund der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Er ist das kulturethische Maß aller Dinge. HOMO MENSURA MASONICA 3. die adäquate Utopie vom "Ewigen Frieden" durch eine auf größtem gemeinsamen Nenner zu formulierende "Einheitsreligion", der "Religion des Menschengeschlechtes". Der Mensch wird zum eigentlichen Herrn, der sich nicht gebunden weiß (religio = Rückbindung) an ein allmächtiges Wesen über ihm, sondern sich das eigene Maß einer MenschheitsReligion ohne gemeinsame Formel, sondern eher in gemeinsamen Gefühlen schwingend, setzt. Die Wirklichkeit dieses Menschenbildes unter dem "Allmächtigen Baumeister aller Welten" wird weder theoretisch noch praktisch eingefordert. Die Erfahrungstatsachen der Widersprüche der menschlichen Existenz werden nicht hinterfragt und gedeutet, wie es monotheistische Hochreligionen schon im fundamentaltheologischen Bereiche, vorgelagert dem Selbstmitteilungs- oder Offenbarungsbereich Gottes, handhaben. Die Gebrochenheit der menschlichen Natur durch die belastende Ursünde des Stolzes und der selbstherrlichen Auflehnung gegen das beschränkende Verbot Gottes, die Konsequenzen des luziferischen NON SERVIAM und der geöffneten Augen ERITIS SICUT DEUS, s·

68

Robert Prantner

die Vorrangigkeit einer erkennbaren Wahrheit vor der willkürlichen Selbstbestimmung des "Wahren" in Relation zum Subjekt und ein voluntaristischer Irenismus kennzeichnen das neue Verhältnis einer weltumschlingenden "Brüderlichkeit". 4. die rosenkreuzerischen Geheimnisse der Gnosis verschmelzen sich etwa seit dem 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem evolutionären, synkretistischen, gnostischen, bewußtseinserweiternden IRRATIONALISMUS auf ein holistisches Weltbild zu, das alle monistisch-kosmischen Züge traditioneller Mythen trägt. Die einer "Bauhütte" Zugeordneten - heute Brüder einer Loge des Geistes, allzumal der Perfektions- und Spekulationslogen der Hochgrade - verstanden und verstehen sich als Suchende nach einer höheren Erleuchtung, nach einem höheren, auf natürlichem Wege zu erfassenden Licht (= kognitive Erkenntnisfülle), denen ein umfassenderer Zugang mittels einer Art von "Lauschen in die Ewigkeit" zuteil wird, umfänglicher als dem Nichteingeweihten, dem "Profanen", zu denen auch Gläubige von Offenbarungsreligionen gezählt werden. Diese "Gnosis" = "Erkenntnis" sollte, über das Licht der menschlichen Vernunft hinaussteigend, das menschliche Bewußtsein zu Dimensionen erweitern, die eine unüberbrückbare Trennung, eine Unterscheidung vom "Menschsein der Nichteingeweihten" bedeutet. Ein gemeinsames Menschenbild etwa mit der naturrechtliehen oder christlichen Konzeption ist diesem Denken fremd. Der kosmische Gottes- und Menschenbegriff der Gnosis erfährt in der Gegenwart eine Neubelebung in den breiten Spektren des NEW AGE mit ihren Grundsätzen, die einem "Selbstorganisationsprinzip des Universums" göttliche Identität zumessen. Darin findet sich der unpersönliche Weltenbaumeister, der Demiurg, der im philosophisch-deistischen Sinn "einmal den Kosmos erschaffen", diesen dann aber evolutionär "in die Selbständigkeit entlassen hat". Aus der Gnosis des ersten Jahrtausends nach Christus entfaltet sich ein Geistesstrom, der sich die Symbole des Kreuzes (Erlösung durch die Menschwerdung und den Opfertod der zweiten göttlichen Person des trinitarischen Gottes) und der Rose (evolutionierende Natur) zu eigen macht und durch Suche nach Licht-Erkenntnis im Makro- wie im Mikrokosmos "Selbsterlösung" erstrebt. Die rosicrucianische Bewegung, das pansophische Streben der rosenkreuzerischen Menschen nach le tzter gedanklicher (spekulativer) Durchdringung der Natur und rational erstrebte Erkenntnis des gesamten kosmischen Seins, steht ebenfalls an der Wiege jener mittelalterlichen Meister, die, über die Werkstoffarbeit am Bau der Kathedrale transzendierend, den Geistesdom durch Geistesmaurerei errichten wollten. Strukturelle Orientierungen an magischen, alchemistischenund kabbalistischen Inhalten sind erst in einem späteren Stadium erkennbar und in

Das Masonische Menschenbild

69

einer perfektionierten Arkandisziplin andeutungsweise präsent. Das Geheimwissen des Rosenkreuzers (der 18. Grad in den 30 Stufen der .. Roten Hochgrad-Freimaurerei") wird auch im erloschenen und wiederbelebten Orden der Templer und in den Sekten der Katharer und Waldenser tradiert: Es wurde zum eigentlichen Element der ,.geheimen" Königlichen Kunst der Werkleute in den Bauhütten und zugleich zum Wesensbestand im Urgeheimnis der Geistesmaurerei, die ab dem 18. Jahrhundert allgemein als .. Freimaurerei" bezeichnet wird. Baugedanke, Evolution und freimaurerische Symbole sind rosenkreuzerisches Erbgut, der übernatürlichen Offenbarung (in Christus ist das Licht erschienen, das allen Menschen leuchtet) als natürliche Selbstentfaltung des Menschen entgegengesetzt13 Das Aufnahmeritual der blauen Johannis- oder Niedergradmaurerei ist dabei von hoher Beweiskraft. Der aus dem .. Dunkel der Unwissenheit" Kommende {und sei er auch ein ordentlicher Universitätsprofessor im Fache mystisch-aszetischer Theologie und Spiritualität mit einem hohen persönlichen Heiligkeitsstreben verbunden) ist als Kandidat ein ,.Profaner" und wird zu einem "Suchenden". Er tritt eine ,.allegorische Reise ins Licht" an, bis zur Erhellung seiner verbundenen Augen und der Übergabe des Lichtes. In der Zeremonie der Verleihung des Meistergrades dominiert das Erleben des symbolischen Sterbens, aus dem erst im höheren Sinne das Leben wird. Der Tod ist durch Erkenntnis und Verstehen zu überwinden. Nicht ,.Werde und Stirb" ist das Lebensgebot des Maurers, sondern das ,.Stirb und Werde" des Bruders Johann Wolfgang von Goethe. Der Teppich mit dem Musivischen Pflaster deutet auf den salomonischen Tempelbau hin und auf die ,.Integrationspflicht" im manichäischen dualistischen Sinne: das Helle und das Dunkle, das Gute und das Böse als ganzheitlicher Elemente der kosmisch präfigurierten mikrokosmischen Natur des Menschen anzunehmen, zu begreifen und zu integrieren. Diese Anforderung, auch ein Grundelement im Paradigmenwechsel der ,.Neuen Ethik" des NewAge, bedeutet die Zertrümmerung der Werttafeln, wie es Johannes Messner bereits 1972 vorausgesagt hat. 14 Das Gute als das ,.Naturrichtige" und das Böse als Seinsmangel weichen einer dämonisiertschillernden Souveränität des Menschen, der sich seine ,.handverlesenen" individuellen Eckwerte setzt, die in Relation zu seinem Bewußtsein und den 13 Vgl. Robert Prantner, Freimaurertum, Eine Punktation als Orientierungshilfe, Wien 1989. 14 Robert Prantner, Kulturethik und die alternative Wertordnung des New-AgeBewußtseins, in: A. KloseI H. Schamheck IR. Weiler, Das Neue Naturrecht (Die Erneuerung des Naturrechts durch Johannes Messner), Berlin 1985 und Johannes Messner, Moral in der säkularisierten Gesellschaft, in: Internationale katholische Zeitschrift 2, 1972, 137 ff.

70

Robert Prantner

Inklinationen seiner existentiellen Lebensentfaltung stehen mögen. Die Bejahung des Musivischen Pflasters findet im .,Tempel" seinen allgemein erkennbaren Ausdruck, der sich erstreckt .,von Osten nach Westen, von Süden nach Norden und vom Mittelpunkt der Erde bis zu den Sternen". Er repräsentiert die Quintessenz freimaurerisch-gnostischer Suche nach dem Licht, ist ein .,Symbol des Weltalls", ein Ort .,geistiger Bestrebungen", die über das irdische Materielle hinausgehen. Was strebt die "Neue Ethik" des gnostischen, masonischen Menschenbildes gerade im Gefüge des vierten Elements seiner Merkmale an? Die Bejahung der dunklen Wirklichkeiten, die keineswegs als Seinsmangel (das Böse als Fehlen des Guten) betrachtet werden, sollen "Spannungen im einzelnen Menschen auflösen, um einen harmonischen Status zufriedener Glückseligkeit, ungetrübt von Gewissensproblemen rund um den fehlenden Sündenbegriff zu erreichen". 15 Es ist dies auch das Paradigma im neuen "Zeitalter des Wassermanns", dessen Proklamation mit der Jahrtausendwende 1999/2000 in etwa zusammenfällt und das die "biblische Unterdrückung des Menschen" durch den Sündenbegriff im auslaufenden ,Zeitalter des Fisches" durch Harmonie- und Zärtlichkeitsverheißung ablöst. Diese Applikation verleiht dem masonischen Menschenbild auch hedonistische Züge einer Unbelastetheit von Geboten und Beschränkungen menschlicher Willkür, die einfach Lust zu maximieren meinen. Ziel der menschlichen Selbstentfaltung und Selbsterlösung im masonischen Menschenmaß ist es, "sich in die Gesetzmäßigkeiten des Universums einzuordnen" und die "lebendige Beziehung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos zu erfahren, um das eigene Leben in zunehmendem Maße aus einem übergeordneten Bewußtsein zu verstehen und praktisch zu gestalten". Schönheit, Stärke und Weisheit als symbolische Lichter für die Maßstäbe mögen dem "übergeordneten" (unabhängigen, autonomen) Bewußtsein Ausdruckskraft verleihen: das natürliche Menschenbild im Raster sittlicher Ordnung widerspricht dem masonischen Konzept auf allen Linien.

V. Das Streben nach Erreichung des "höchsten Gutes" (summum bonum) als höchstem Glück und die Erlangung der absoluten, göttlichen Wahrheit im objektiven Sinne ist dem masonischen Menschenbild utopisch Die Einbindung eines Profanen in den .,Bund der Eingeweihten" befaßt ihn vor allem mit der Einübung jener Lebensgrundsätze, die als die .,Alten Pflichten von 1723" die masonische MAGNA CHARTA repräsentieren. Darin findet sich 16 das ,.allgemeine Kapitel" Nr. 1: Robert Prantner, Freimaurertum, a.a.O., 21. James Anderson, "Die Alten Pflichten von 1723", neue Übersetzung von Großloge A.F.u.A.M.v.D., Harnburg 1982. Weitere wichtige Grunddokumente in Zusammenschau: 15

16

Das Masonische Menschenbild

71

VON GOTT UND DER RELIGION .,Der Maurer ist verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch ein bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Lande zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen. Sie sollen also gute und redliche Männer sein, von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mitte l, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären."

Das masonische Menschenbild meidet grundsatzkonform die Suche nach einer einzigen, allgemein gültigen, weil objektiven Wahrheit, und dies auch im Sinne eines praktischen Lebensbekenntnisses, als Überzeugung, gemäß der - etwa der Christ - sein Leben gestaltet. Hält er seine religiöse Überzeugung als die in ihrer Fülle und Vollkommenheit exklusiv wahreso setzt er also seinem Streben nach der Erlangung des .,summum bonum", der Sehnsucht nach Gott mit allen Folgewirkungen, dieses Glück weiterzugeben durch Mission, einen Riegel vor. Dies bestätigen eine Reihe zeitgemäßer Publikationen aus masonischer Feder, wie etwa der Sammelband AppelMöller, Was ist Freimaurerei?, Harnburg 1975;17 .,Religion und Politik, denen sicher die meisten Menschenopfer gebracht wurden, dürfen, nach dem freimaurerischen Grundgesetz der Alten Pflichten von 1723, nicht zum Gegenstand freimaurerischer Diskussion gemacht werden. Jeder Freimaurer muß vielmehr seine persönlichen religiösen und politischen Überzeugungen vor der Logentüre zurücklassen." Konstitutionenbuch und .,Alte Pflichten"; Primärquelle des in .,Regularität" organisierten Freimaurertums ist das .,Konstitutionenbuch" mit den .. Alten Pflichten", verfaßt und veröffentlicht im Jahre 1723 durch den schottischen Presbyter James Anderson. Es enthält symbolisch-esoterisches Brauchtum aus zwei Quellen : - aus den .Alten Konstitutionsschriften der englischen Werkmaurer" und - aus dem .Maurerwort" der schottischen Werkmaurer. In den Konstitutionsschriften der englischen Werkmaurer finden sich: a) das Eröffnungs- und Schlußgebet für die maurefische Versammlung (.,Arbeit") b) eine le gendäre Geschichte des mit der .. Fre ien Kunst der Geometrie" gleichgesetzten Steinmetz- und Maurerhandwerks c) und Vorschriften für das sittliche und berufliche Verhalten (.. Allgemeine" und .. Besondere" Pflichten) Davon stehen noch heute in den meisten Logen das Anfangs- und Schlußgebet sowie die Verpflichtungsformel in Gebrauch. Aus dem .. Maurerwort" der schottischen Werkmaurer stammen Erkennungszeichen, Brauchtum und Zeremonien. Ein Großteil des Inhalts des .,Schottischen Maurerworts" besitzt auch heute Gültigkeit und Rechtskraft. 17 Appel l Möller, Was ist Freimaurerei?, Harnburg 1975.

72

Robert Prantner

Treffend artikuliert auch die Festschrift "200 Jahre Freimaurerei in Österreich"18 das Selbstverständnis, welches anderslautende, verschleiernde Beteuerungen eindeutig entkräftet: "Freimaurerei ist eine Lebenshaltung auf religiöser Basis, sofern man RE-LIGIO als das versteht, was sie sein soll: die RÜCK-BINDUNG an das Absolute, das der Freimaurer zu begreifen sucht unter dem ,Allmächtigen Baumeister aller Welten'. Immer eröffnet sich dem wahrhaft Suchenden in den Logen die Mystik der Vernunft, der Tugend, des Mitgefühls, der menschlichen Brüderlichkeit, wie sie ... Jean Jacques Rousseau entwickelt hatte, frei von jeder Zwangsjacke, allen Möglichkeiten des Denkens und Erscha uens offen, die Gott dem Menschen gewähren mag. Trotz allen Angriffen steht die Freimaurerei unerschüttert da, weil sie die einzige Ideologie ist, in der sich Wissen und Glauben in eins setzen."

Erstaunlicherweise begreift masonisches Verständnis Freimaurerei als "Ideologie", also als ein in sich starr geschlossenes Gedanken- und Lehrsystem, in welchem Vernunft und Religion eins werden, das Wissen und Glauben auf eine Ebene zurechtschiebt Damit kontrastiert das . Geheimnis der Freimaurerei" in unauflösbarer Weise mit dem Mysterium der christlichen Offenbarung und dem Heilsanspruch christlicher Existenz. Ähnliches ist auch im Verhältnis masonischer Ideologie zu den monotheistischen Offenbarungsreligionen des Judentums und des Islams festzustellen. VI. Der masonische Humanitätsbegriff ist mit dem naturrechtlichchristJichen "vom Menschen auf der Suche nach der absoluten Wahrheit" als möglicher Zielvorstellung nicht vereinbar Die Begriffe "Menschlichkeit und Humanismus" sind aus dem dargestellten masonischen, relativen Menschenbild abzuleiten und daher von extremer Unverbindlichkeit gegenüber einer exakten Beschreibungsanforderung. Marcel Valmy 19 beschreibt das Offenbleibende : "Der nach den freimaurerischen Ritualen stattfindende symbolische Bau des Tempels soll in jedem Beteiligten dessen beste Anlagen und Kräfte erwecken, veredeln und vervollkommnen, um diese in der Bewährung des Alltags, bei der Begegnung mit seinen Mitmenschen anzuwenden. Diese bedeutet Achtung vor allen Menschen, unabhängig von Geburt und Stand, Konfession, Nationalität und Hautfarbe ; bedingungslose A nerkennung der Menschenrechte, als da sind das Recht auf die persönliche Freiheit und auf Eigentum, Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit und auch das Recht, sich notfalls persönlich für die Durchsetzung dieser Forderungen einsetzen zu können."

Dabei sind die gesamtmenschheitliche Identifikation, die Wandelbarkeit ethischer Imperative und der genuin maurefische Toleranzbegriff besonders zu beachten : 18 Festschrift "200 Jahre Fre imaurer in Österreich", Wien 1976, 284. 19 Marcel Valmy, "Die Freimaurer", 1988, 10.

Das Masonische Menschenbild

73

a) Die Identifikation mit der Menschheit. Der einzelne Mensch, der ... im Sinne eines ethischen Imperativs, durch permanente Aufklärung in einer brüderlichen Gemeinschaft dazu befähigt werden will, sich und seine Mitmenschen, ungeachtet aller Gegensätze in jedem Augenblick mit der Menschheit als Ganzes zu identifizieren. b) Sittliche Vervollkommnung und WertewandeL Freimaurerei bringt ihr Bemühen auf die Formel, daß sie den Menschen sittlich vervollkommnen wolle, wobei sie davon ausgeht, daß auch die sittlichen Normen einem ständigen Wandel unterworfen sind. Das masonische Menschenbild bekennt sich demnach zu Relativität und Wandelbarkeit der Werte und ist dem Trend nach .,neuen Werten" offen und aktiv zugetan. Der Paradigmenwechsel, als Generalimperativ des NewAge, entspricht freimaurerischem Ethos. c) Freiheit, Toleranz und Brüderlichkeit. Freimaurerei verweise deshalb, auf die Grundlagen angesprochen, auf Freiheit, Toleranz und Brüderlichkeit, die zwar auch ständig neu zu definieren sind, von deren Kern aber nichts aufgegeben werden darf. .,Freiheit" erscheint als Terminus vorrangiger Libertinität, ja als gesellschaftsphilosophisches Paradigma eines .,weltanschauungsfreien" Liberalismus. Toleranz bedeutet auch Gleichgültigkeit aller Wertvorstellungen und Religionen, eine Absage an jedweden Wahrheitsanspruch, wie ihn etwa die Römisch-katholische Kirche bezüglich der christlichen Offenbarungslehre erhebt und ihn trotz Dammbrüche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht geschmälert hat. Masonisch betrachtet ist jede Weltanschauung und Religion ohne Wahrheitsfrage indifferent zu akzeptieren und zugleich zu relativieren. Damit wird die von naturrechtlich-christlicher Betrachtung her geforderte mitmenschliche Toleranz und Dialogbereitschaft mit dem Träger eines bestimmten Bekenntnisses ausgeweitet. 20

Daraus resultiert eine dermaßen profilierte Unterschiedlichkeit der Standpunkte, daß auch auf kleinen, beschränkten Segmenten einer denkbaren Kooperation von Römisch-katholischer Kirche und Freimaurertum kaum eine Tangente vorstellbar ist. Dies gilt aber auch für den vorreligiösen Raum der natürlichen Vernunfterkenntnis des Menschenbildes. Denn unter Toleranz im allgemeinen versteht das natürliche Denken der Vernunft die Achtung vor Überzeugungen und Haltungen sowie das Gewährenlassen ihrer öffentlichen Äußerung und Betätigung durch die Einzelnen und durch die Staatsgewalt, solange nicht lebensnotwendige Gemeinwohlgüter der Gesellschaft geschädigt werden oder bedroht sind. Die Schranken der Toleranz sind nach Johannes Messner in ihrem Begriff selbst hervorzuheben, weil sie von ihrem Wesen nicht zu trennen sind: 21 .,Die Staatsgemeinschaft, die einen Verteidigungskrieg auf Leben und Tod gegen einen ungerechten Angreifer zu führen hat, ist nicht nur berechtigt, sondern 20 21

Vgl. Appel I Möller, a.a.O., 9. Johannes Messner, 509 f.

74

Robert Prantner verpflichtet, eine, die Verteidigungsmoral beeinträchtigende, pazifistische Propaganda zu verhüten. Ein absolutes Toleranzprinzip hat genausowenig eine innere Begründung und Berechtigung wie ein absolutes Souveränitätsprinzip. Davon bildet die Gewissenstoleranz (Gewissensfreiheit) keine Ausnahme, nämlich die Achtung des natürlichen, sittlichen Rechtes des zum Vollgebrauch seiner Vernunft gelangten Menschen, in seinem Verhalten dem klaren Spruch seines Gewissens zu folgen."

Der höchstrangige Lebenszweck und Lebenssinn im Gefüge der menschlichen Zwecktriebe ist die Erkenntnis der Wahrheit des höchsten Gutes, also die religiöse Orientierung. Eine Toleranz von Scheinwahrheiten und Unwahrheiten wäre daher im engsten Sinne sittenwidrig und unsittlich. Ein Kompromiß würdeapriorieinen Widerspruch in sich beinhalten.

VII. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner für das natürliche Menschenbild und die Fundamente der masonischen Philosophie und Praxis Die Fragestellung nach der Substanz einer Gesprächsebene zwischen naturrechtlicher bzw. naturrechtlich-christlicher Anthropologie, formuliert gemäß einem Dialogbeitrag des Theologen des päpstlichen Hauses, P. Georges Cottier 0. P., hat mit dem bisher Gesagten den Versuch einer Antwort erfahren (vgl. Abschnitt 1): 1. Das Menschenbild von Naturrecht und christlich erhelltem naturrechtliehen Denken im Rahmen der Katholischen Kirche ist nicht mit dem Freimaurertum gemeinsam. Die abstrakten Begriffe, zunächst nur Worthülsen ohne vorgegebene Inhalte, wie .,Humanität" und "Humanismus", lassen sich nicht als Begriffe mit gleichem oder ähnlichem Inhalt verstehen. 2. Das Gottesbild des masonischen Lehrgutes trägt keinerlei theistische Züge. Es schwankt, entsprechend den Auffassungen der beiden großen maurerischen Obödienzen, zwischen philosophischem Deismus, gnostischem Monismus und vulgärem Atheismus. Jene sind vor allem der angelsächsischen Denomination, der Großloge von London zu eigen, dieser herrscht im Grand Orient de Paris zwischen der Seinestadt, der Großloge von Rom und den Logen im ibero-lusitanischen Raume Südamerikas vor. Der Deismus aus dem Grunddokument der "Alten Pflichten von 1723" ist kaum als exakte Verhaltensnorm begriffen worden, als Dogmatismus gehütet und niemals auf ein theistisches Gottesbild hin korrigiert worden.

Das Masonische Menschenbild

75

3. Primäraufgabe der Kirche als fortlebender Geheimnisvoller Leib Christi ist die Vermittlung des ewigen Heils eines jeden einzelnen Menschen, der ihr angehört, und die Evangelisation der Nichtchristen. Sekundärsorge der Katholiken als Bürger dieser Welt ist eine menschenwürdige Lebensweise für alle Erdenbürger in Respektierung der "dignitas humana", und dies in sozialer Gerechtigkeit. Diese Lebenssorge in Subsidiarität und Solidarität ist für den Christen, wie für jeden Erdenbürger, unabdingbar und unverzichtbar. Sie wird durch die soziale Liebe und durch Brüderlichkeit erhöht. Auf diesem Felde sind auch sittliche Verpflichtungen, die einer masonischen Gemeinschaft zuzuordnen sind, anzutreffen. Man kann in diesem Falle unbefangen von einer tatsächlichen Gemeinsamkeit sprechen, die aus der Natur von Mensch und Gesellschaft im Gemeinwohlkonzept motiviert wird. Sie ist kein eigentliches Thema in der Dialogführung von Kirche und Loge. Das masonische Menschenbild auf dem Prüfstand seiner Dialogdisposition mit dem naturrechtlich-christlichen Denken hält schon in seinen Fundamenten den Anforderungen einer möglichen Annäherung auch unter geänderten Zeitumständen in der Gegenwart nicht stand. Die schöpferische Entfaltung der menschlichen Person, Kultur im eigentlichen Sinn des Wortes, prägt das Individuum zur Persönlichkeit, deren wesentliche und deren existenzbezogene Lebenszwecke nach einer vollmenschlichen Seinserfüllung streben. Die Suche nach dem Sinn und der Vollendung des Lebens weist auf die Wahrheitstindung hin. Diese Wahrheit ist absolut, sie duldet keine Relativierung, unbeschadet der persönlichen Orientierungen aus Wissen und Gewissen. Persönlichkeitsethik ist die Ausgangsbasis jeder kulturethischen Ausformung. Ohne Hintansetzung der Leib-Geist-Natur des Menschen ist daher die Einbürgerung in die masonische Welt nicht denkbar. VIII. Die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz von 1980 über die Unvereinbarkeit von katholischem Christentum und Freimaurerei Die E1klärung deiDeutschen Bischofskonieienz von 1980

Eine umfassende Presseerklärung der Deutschen (Fuldaer) Bischofskonferenz (April 1980) hebt die Gründe für die Unvereinbarkeit von katholischem Christentum und Freimaurerei interpretativ hervor. Auszugsweise stehen im folgenden Text die Weltanschauung der Freimaurer, ihr Wahrheitsbegriff, ihr Religionsbegriff, ihr Gottesbegriff, das Verhältnis von freimaurerischem Gottesbegriff und Offenbarung, die Toleranzidee der Freimaurer, die Ritualhandlungen der Freimaurer, der An-

76

Robert Prantner

spruchder Freimaurer auf Vervollkommnung des Menschen, die Spiritualität der Freimaurer, die Abgrenzung der verschiedenen maurerischen Denominationen (Großloge von England, Grand Orient de France, u. a.) sowie die Schlußformel der Untersuchungen der Deutschen Bischofskonferenz in Rede. 1. Die Weltanschauung der Freimaurer Sie ist nicht verbindlich definiert. Es überwiegt die humanistische und ethische Tendenz. Die textlich festgelegten Ritualbücher mit ihren Worten und Symbolhandlungen bieten einen Vorstellungsrahmen, den der einzelne Freimaurer mit seiner persönlichen Auffassung ausfüllen kann. Eine gemeinsame verbindliche Ideologie ist nicht festzustellen. Dagegen gehört der Relativismus zur Grundüberzeugung der Freimaurer... Die Freimaurerei dürfte das einzige Gebilde sein, dem es auf die Dauer gelungen ist, Ideologie und Praxis weitgehend von Dogmen freizuhalten. Die Freimaurerei kann daher als eine Bewegung aufgeiaßt werden, die relativistisch eingestellte Menschen zur Förderung des Humanitätsideals zusammenzufassen trachtet." (Eugen Lenhoff I Oskar Posner, Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1975, Sp. 1300.) Ein Subjektivismus dieser Art läßt sich mit dem Glauben an das geoffenbarte und vom Lehramt der Kirche authentisch ausgelegte Gotteswort nicht in Einklang bringen. Außerdem erzeugt er eine Gotteseinstellung, welche die Haltung des Katholiken zu Wort und zu Handlungen im sakramentalen und sakralen Geschehen der Kirche gefährdet.

2. Der Wahrheitsbegriff der Freimaurer Von den Freimaurern wird die Möglichkeit objektiver Wahrheitserkenntnis verneint. Während der Gespräche der Fuldaer Bischofskonferenz mit den Repräsentanten der Vereinigten Großloge von Deutschland wurde das Wort von Gotthold Ephraim Lessing zitiert: ..Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzig immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ,Wähle', ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ,Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich alleine!'" (G. E. Lessing, Duplik, 1977, Ges. Werke, V, 100) Da der Freimaurer jeden Dogmenglauben ablehnt, duldet er auch in seiner Loge kein Dogma (vgl. Großmeister Dr. Theodor Vogel in der Katholischen Nachrichtenagentur vom 11. 2.1960, S. 6). Vom Freimaurer wird daher verlangt, ein freier Mann zu sein, der .. keine Unterwerfung unter Dogmen und Leidenschaft kennt" (Lennhoff I Poser, Sp. 524 f. ). Das bedingt die grundsätzliche Verwerfung aller dogmatischen Positionen, die in folgendem Satz zum Ausdruck kommt: .. Alle Institutionen auf dogmatischer Grundlage, als deren hervorstechendste die katholische

Das Masonische Menschenbild

77

Kirche gelten kann, üben Glaubenszwang aus" (Lennhof I Posner, Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1975 (2), Sp. 374). Ein derartiger Wahrheitsbegriff ist vom Standpunkt weder der natürlichen Theologie noch der Offenbarungstheologie mit dem katholischen Wahrheitsbegriff vereinbar.

3. Der Religionsbegriff der Freimaurer Das Religionsverständnis der Freimaurer ist relativistisch: alle Religionen sind konkurrierende Versuche, die letztlich unerreichbare Gotteswahrheit auszusagen. Denn dieser Gotteswahrheit angemessen ist nur die vieldeutige, der Interpretationsfähigkeit des einzelnen Maurers überlassenen Sprache der maurefischen Symbole. Nicht umsonst ist der religiöse Disput innerhalb der Loge den Angehörigen der Loge streng untersagt. In den "Alten Pflichten von 1723" heißt es unter I: "Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen: und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch ein bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Lande zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen." (Die Alten Pflichten von 1723, Harnburg 1972, S. 10.) Der Begriff Religion, "in der alle Menschen übereinstimmen", impliziert eine relativistische Religionsauffassung, die sich mit der Grundüberzeugung des Christentums nicht zur Deckung bringen läßt. 4. Der Gottesbegriff der Freimaurer In den Ritualien findet sich der Begriff des "Großen Baumeisters aller Welten" an zentraler Stelle. Er ist, bei allem Willen zu religionsumgreifender Offenheit, eine deistisch geprägte Konzeption. Danach gibt es keine objektive Erkenntnis von Gott im Sinne des personalen Gottesbegriffs der monotheistischen Hochreligionen. Der "Große Baumeister aller Welten" ist ein neutrales "Es", undefiniert und offen für jedwedes Verständnis. Jeder "soll" hier seine Gottesvorstellung einbringen, der Christ wie der Moslem, der Konfuzianer wie der Animist oder der Angehörige irgendeiner Religion. Der Weltenbaumeister gilt dem Freimaurer nicht als ein Wesen im Sinne eines personalen Gottes; deshalb genügt für ihn ein beliebiges religiöses Empfinden für die Anerkennung des "Baumeisters aller Welten". Diese Imagination eines im deistischen Abseits thronenden W eltenbaumeisters entzieht der Gottesvorstellung der Katholiken und seiner

78

Robert Prantner

Antwort auf den ihn väterlich und herrscherlieh ansprechenden Gott den Boden.

5. Freimaurerischer Gottesbegriff und Offenbarung Die Gottesvorstellung der Freimaurerei läßt den Gedanken an eine Selbstoffenbarung Gottes, wie er von allen Christen geglaubt und festgehalten wird, nicht zu. Eher noch wird durch die Vorstellung des "Großen Weltenbaumeisters" das Gottesverhältnis auf eine vordeistische Position zurückgeworfen. Ebenso steht die ausdrückliche Herleitung des Christentums von der astralen Urreligion der Babyionier und Sumerer in vollem Widerspruch zum Offenbarungsglauben (vgl. Ritual II, S. 47). 6. Die Toleranzidee der Freimaurer Aus ihrem Wahrheitsbegriff leitet sich auch die spezifische Toleranzidee der Freimaurer ab. Der Katholik versteht unter Toleranz die den Mitmenschen gegenüber geschuldete Duldsamkeit. Bei den Freimaurern jedoch herrscht die Toleranz gegenüber Ideen, wie gegensätzlich zueinander sie auch sein mögen. Wieder ist auf Lennhoff I Posner zu verweisen: "Aus dem Relativismus läßt sich der Standpunkt der Freimaurer zu den Problemen der Welt und Menschheit ableiten ... Der Relativismus unterbaut die Toleranz mit Vernunftargumenten. Die Freimaurerei ist eine der Bewegungen, die von Ausgang des Mittelalters an als Reaktion gegen die Unbedingtheit der Kirchenlehre und den politischen Absolutismus, als Reaktion gegen den Fanatismus jeder Art entstanden sind ... " (Sp. 1300). Eine Toleranz gegenüber den Ideen dieser Art erschüttert die Haltung des Katholiken in der Glaubenstreue und in der Anerkennung des kirchlichen Lehramtes. 7. Die Ritualhandlungen der Freimaurer In ausführlichen Gesprächen und Erklärungen wurden die drei Ritualien des Lehrlings-, des Gesellen- und des Meistergrades erörtert. Diese Ritualhandlungen zeigen in Worten und Symbol einen sakramentsähnlichen Charakter. Sie erwecken den Anschein, als würde hier unter Symbolhandlungen objektiv etwas den Menschen Verwandelndes bewirkt. Inhalt ist eine symbolhafte Initiation des Menschen, die ihrem ganzen Charakter nach in einer deutlichen Konkurrenz zu seiner sakramentalen Umwandlung steht. 8. Die Vervollkommnung des Menschen

Nach Ausweis der Ritualien geht es in der Freimaurerei letztlich um eine ethische und geistige Optimierung des Menschen.

Das Masonische Menschenbild

79

Im Meisterritus heißt es: .,Welche Tugenden muß ein wahrer Meister besitzen? Reinheit des Herzens, Wahrheit in Worten, Vorsicht in Handlungen, Unerschrockenheit bei unvermeidlichen Übeln und unermüdlichen Eifer, wenn es gilt, Gutes zu tun" (Ritual II, S. 66).Hier ist das Bedenken nicht auszuräumen, daß die ethische Vervollkommnung verabsolutiert und von der Gnade gelöst wird und daß kein Raum für die Rechtfertigung des Menschen im christlichen Verständnis bleibt. Was sollen sakramentale Heilsvermittler in Taufe, Buße und Eucharistie noch bewirken, wenn bereits durch die drei grundlegenden Grade die in den Ritualen ausgesagte Erleuchtung und Todesüberwindung erzielt wird? 9. Die Spiritualität der Freimaurer

Die Freimaurerei stellt an ihre Mitglieder einen Totalitätsanspruch, der eine Zugehörigkeit auf Leben und Tod abfordert. Auch wenn man davon ausgeht, daß der in den drei Graden beschritteneWeg in erster Linie das Ziel einer Bewußtseins- und Charakterbildung verfolgt, bleibt doch die Frage, ob der Sendungsanspruch der Kirche es zuläßt, daß die Formung solcher Art von einer ihr fremden Institution übernommen wird. In diesem Totalitätsanspruch aber wird die Unvereinbarkeit von Freimaurerei und katholischer Kirche besonders deutlich. 10. Unterschiedliche Richtungen innerhalb der Freimaurerei Es gibt innerhalb der Freimaurerei neben der überwiegenden Zahl der Logen mit humanitärer .,gottgläubiger" Grundtendenz Extreme, wie die atheistische Bruderschaft des .,Grand Orient de France" auf der einen Seite, der auch einige Logen in Deutschland besitzt, und der in Deutschland bestehenden .,Großen Landesloge" auf der anderen Seite. Letztere nennt sich auch .,Christlicher Freimaurerorden" (vgl. Lennhoff I Posner, Sp. 1175). Diese .,christliche Freimaurerei" liegt aber keinesfalls außerhalb der freimaurerischen Grundordnung; hier wird nur eine größere Möglichkeit intendiert, Freimaurerei und subjektive christliche Gläubigkeit miteinander zu vereinen. Eine theologisch zulässige Verwirklichung muß jedoch verneint werden, weil die Grundtatsachen der Offenbarung des menschgewordenen Gottes und seine Gemeinschaft mit den Menschen nur als mögliche Variante der freimaurerischen Weltansicht verstanden und überdies nur von einem kleinen Teil der Maurer geteilt werden. 11. Freimaurerei und katholische Kirche

So wichtig die Unterscheidung zwischen kirchenfreundlicher, neutraler und kirchenfeindlicher Freimaurerei auch sein mag, ist sie im vorliegenden Zusammenhang doch irreführend. Denn sie legt nahe, daß für die Katholiken eine Mitgliedschaft lediglich bei der kirchenfeindlichen nicht in Frage käme. Nun hat sich die Untersuchung gerade auf jene

80

Robert Prantner

Freimaurerei erstreckt, welche der katholischen Kirche gegenüber wohlgesonnen ist; aber selbst hier mußten die unüberwindlichen Schwierigkeiten festgestellt werden. 12. Freimaurerei und evangelische Kirche Im Jahre 1973 haben Gespräche auch auf dieser Ebene stattgefunden. Die evangelischen Gesprächsteilnehmer haben in ihrer Schlußerklärung vom 13. Oktober 1973 zwar die Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft dem "freien Ermessen des einzelnen überlassen". Beachtlich aber ist, was hier in Ziff. 5 festgestellt ist: "Es war für die kirchlichen Gesprächspartner nicht möglich, sich über das Ritual in seiner Bedeutung und in seiner Erlebnisqualität eine abschließende Meinung zu bilden. Dabei bewegte sich die Frage, ob das Ritualerlebnis und die Arbeit des Maurers nicht Rechtfertigung aus Gnaden in ihrer Bedeutung für den evangelischen Christen mindern könnten" {Information Nr. 58 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 58/74, Seite 19) 13. Abschließende Stellungnahme der deutschen Bischöfe Im Schlußteil der Erklärung der Fuldaer Bischofskonferenz über die Beziehungen von Freimaurerei und katholischer Kirche wird zusammengefaßt: "Mag auch die Freimaurerei aufgrund der in der nationalsozialistischen Ära erlittenen Verfolgung eine Wandlung im Sinne einer größeren Offenheit gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen durchgemacht haben, so ist sie doch in ihrer Mentalität, ihrer Grundüberzeugung und in ihrer Tempelarbeit sich völlig gleichgeblieben. Die aufgezeigten Grundsätze rühren an die Grundlagen der christlichen Existenz. Die eingehenden Untersuchungen der freimaurerischen Ritualien und Geistigkeit macht dies deutlich. Die gleichzeitige Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und zur Freimaurerei ist ausgeschlossen."

ZUR PROBLEMATIK DES NATURRECHTS IN JAPAN Von Johannes Sugano Im Laufe meines Referats werde ich häufiger von "japanischem Denken" oder von "europäischem Denken" sprechen. Dabei bitte ich Sie, im Hinterkopf zu behalten, daß diese Begriffe bereits in sich äußerst problematisch sind, da sie eine Einheitlichkeit vorspiegeln, die weder in Japan noch in Europa in dieser Art vorhanden ist. So sehr, wie sich die nördlichen Länder Europas von Europas Süden unterscheiden, so sehr unterscheiden sich auch die Denk- und Lebensweisen zwischen dem äußersten NordenJapansund dem japanischen Süden. Außerdem beweist ein Blick auf die Geschichte, daß die jeweiligen Zeitalter ebenfalls spezifische Denk- und Lebensformen entwickelt haben, die sich stark voneinander unterscheiden. Da aber ein Verzicht auf diese Arbeitsbegriffe eine zu große Unübersichtlichkeit zur Folge hätte, möchte ich mich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf deren Problematik begnügen. I. Die kulturellen Voraussetzungen Die Welt ist zwar im Laufe dieses Jahrhunderts kleiner geworden, aber dennoch bleiben nach wie vor deutliche kulturelle Unterschiede bestehen. Dies darf auch bei der Betrachtung des Naturrechts nicht außer Acht gelassen werden. Es ist ein schwieriges Unterfangen, Kultur und Nationalcharakter eines Landes zu reformieren, da diese das Produkt einer langen historischen Entwicklung sind. Diese Entwicklung ist in vielen Kulturen sehr unterschiedlich verlaufen. Das heißt, auch wenn wir heute im Zeitalter der Universalisierung und des raschen kulturellen Wandels leben, so läßt sich dennoch ein Wandel in den einzelnen Kulturen nicht einfach mechanisch und blind durchführen.

6 Kulturethik

82

Johannes Sugano

II. Die Frage nach dem Naturrecht Wenn wir uns nun unserem Thema, dem Naturrecht, zuwenden, so wird dies bereits bei der Frage .,Was ist Naturrecht?" deutlich. In Europa wird die Frage vielleicht gar nicht einmal mehr gestellt, da das Naturrecht als etwas völlig Selbstverständliches angenommen wird. In Japan wie auch im gesamten ostasiatischen Raum hingegen hat die Idee des Naturrechts keine weit zurückgreifende Geschichte, so daß eigentlich erst mit Beginn der Meiji-Zeit das Naturrecht als möglicher Gegenstand des Denkens nach Japan importiert wurde. Deshalb soll heute auch nicht die Frage .,Was ist Naturrecht in Japan?" im Mittelpunkt stehen, sondern ich möchte Sie vielmehr bitten, mit mir zusammen zu überlegen, wie die europäische Idee des Naturrechts in Japan aufgenommen wurde und welche Probleme sich dabei ergaben bzw. noch bis heute ergeben. Zu diesem Zweck möchte ich Ihnen zunächst einen Einblick in japanische Denkweisen geben. 111. Denken im modernen Japan Die beiden Weltkriege, besonders aber der 2. Weltkrieg, bezeichneten - sowohl in Europa als auch in Japan - nicht nur das Ende einer Epoche, sondern sie hinterließen einen so tiefen Bruch im traditionellen Denken, daß der Schmerz des Abschieds von der Tradition fast nahtlos in den Geburtsschmerz für ein neues Denken überging. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß der Verlust der Tradition zunächst ein Ideenvakuum hinterließ, welches keine Richtschnur für die weitere Entwicklung bot. Für Japan ergab sich dabei die bis heute noch nicht völlig geklärte Frage, ob und wie die Tradition wiedererrichtet werden sollte, oder ob das europäische Denken den Platz des traditionellen Denkens in Japan einnehmen sollte. Damit verbunden war und ist die Frage, in welcher Weise Japan seinen Platz in der W elt behaupten soll, wieweit es Ausgleich anstreben und wo es sich abgrenzen muß. IV. Das traditionelle japanische Denken Was aber ist nun das Charakteristische an der japanischen Denkweise? Ich möchte Sie bitten, sich zunächst einmal als wesentliche Grundlage des Denkens bewußt zu machen, daß sich das japanische Selbstverständnis von dem in Europa entwickelten Individualismus stark unterscheidet.

Zur Problematik des Naturrechts in Japan

83

1. Gefühlsbestimmtheit in zwischenmenschlichen Beziehungen Das wesentliche Element traditionellen japanischen Lebens ist das Gefühl im Erleben zwischenmenschlicher Beziehungen. Hierbei spielt die Frage nach dem Grund dieses Gefühls keine Rolle, wesentlich ist vielmehr die existenzielle Erfahrung der gefühlsmäßigen Beziehung, die das Denken bestimmt. In Europa hingegen steht gerade die Frage nach dem Sinn und nach der Ursache im Mittelpunkt. 2. Gefühlsbestimmtheit in der Naturbetrachtung

Noch deutlicher sichtbar wird diese Gefühlsbestimmtheit, wenn wir uns nun der traditionellen japanischen Naturbetrachtung zuwenden. Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel von Taisetsu Suzuki zitieren, der die Natur mit einer am Wegrand blühenden Rose vergleicht. Während der Japaner die Rose nur von außen betrachtet und sich an ihr erfreut, so neigt der Europäer dazu, die Rose zu pflücken, um ihrer Schönheit und ihrem Duft durch eine analytische Untersuchung auf den Grund zu kommen. Das heißt also, daß Naturanschauung im japanischen Sinne sich nicht als ein objektives Betrachten, sondern vielmehr als ein poetisches, gefühlsmäßiges Ansehen darstellt. Dieser Hintergrund erklärt auch, daß daraus eine japanische Naturwissenschaft nicht erwachsen konnte - naturwissenschaftliches Denken ist Resultat europäischer Denktradition! Betrachtet man allerdings das moderne Japan, so drängt sich die Frage auf, ob diese Kategorien heute noch so zutreffen. Der 2. Weltkrieg hinterließ in Japan ein im Chaos versinkendes Volk, das sich hilfesuchend nach außen wandte. Naturwissenschaft und Technik wurden aus dem Ausland übernommen. Problematisch bei dieser Übernahme war allerdings, daß sich der ethische Hintergrund, aus welchem sich die europäischen Wissenschaften heraus entwickelten, nicht als solcher übernommen wurde und statt dessen mit der japanischen Weltsicht zusammenprallte. Dies ist zu einem großen Problem für das heutige Japan geworden. 3. Gefühlsbestimmtheit in der Beziehung zum Göttlichen

Nachdem ich bisher die Ebenen Mensch-zu-Mensch und Mensch-zuNatur ein wenig ausgeleuchtet habe, möchte ich mich nun der Ebene Mensch-zu-Göttlichkeit zuwenden. 6'

84

Johannes Sugano

Im Verständnis des Christentums ist Gott ein Schöpfer, seine Schöpfung, die Erde, ist also etwas Gemachtes. Im Buddhismus hingegen ist die Erde von sich aus entstanden, "Gott" ist nicht eine erschaffende Persönlichkeit, und die Frage "Wer ist Gott" taucht deshalb gar nicht erst im religionsphilosophischen Zusammenhang auf. Vielmehr geht es um eine Beziehung zum Göttlichen, die sich wesentlich in dem Gefühl des transzendentalen Zusammengehörensausdrückt und nicht in ein intellektuelles Beziehungs- und Erklärungsmuster verflochten ist. Dieser religionsgeschichtlich vorgegebene Ansatz spiegelt sich in allen Lebens- und Denksituationen wider. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen, Mensch-Natur-Göttlichkeit sind im buddhistischen Verständnis von gleicher Qualität und stehen in kontinuierlicher Verbindung zueinander. V. Das kulturelle Erbe in Japan Es ist durch die Jahrhundert hinweg ein weiterer wesentlicher Charakterzug japanischer Kultur gewesen, daß stets von außen Neues aufgenommen und ausgewählt worden ist. Negativ betrachtet ließe sich diese Eigenschaft der japanischen Kultur als Standpunktlosigkeit bezeichnen, fiele sie aber fort, so wäre Japan längst eine sterbende oder viellicht versunkene Kultur, wie beispielsweise die Mayakultur. Daraus ergibt sich allerdings, daß sich in Japan und Europa im Zuge dieser Entwicklung sehr unterschiedliche Auffassungen zur Stellung des kulturellen Erbes und bezüglich der kulturellen Vorfahren entwickelt haben. In Europa werden die Kulturen der Griechen und der Römer als auch die biblische Tradition des Christentums als die unmittelbarenVorfahren europäischer Kultur und Philosophie empfunden. In Japan allerdings, das beispielsweise den Buddhismus aus Indien und die Schrift aus China importiert hat, existiert ein vergleichbares Gefühl kultureller Verwandtschaft nicht, zumindest nicht in dem Sinne, daß Japan sich einer Indien und China einschließenden Kultur zugehörig fühlt. Statt dessen herrscht (vielleicht aufgrund von Japans Insellage) das Gefühl vor, daß die japanische Kultur diverse Besonderheiten aufweist. Hier ist unkritischer Stolz fehl am Platz, statt dessen müssen wir in kritischer Zurückhaltung unsere gegenwärtige, aus unserer kulturellen Vergangenheit hervorgegangene, Eigentümlichkeit untersuchen.

Zur Problematik des Naturrechts in Japan

85

VI. Ethik in Japan Das Sein des Menschen in seinen Beziehungen wird vom herrschenden ethischen Empfinden bestimmt. Der Mensch ist aber zugleich ein in geschichtlicher Spannung stehendes Wesen, das laufend Neues hervorbringen muß. Das heißt also, daß die Ethik zwar theoretisch Allgemeinheitscharakter besitzt (wie etwa das Naturrecht), daß aber die konkrete Verwirklichung in den von jeweiligen Geschichts- und Naturverhältnissen bestimmten Gesellschaftsstrukturen Formen von sehr unterschiedlichem Charakter annimmt. Es ist daher notwendig, die geschichtlichen Besonderheiten der unterschiedlichen Kulturen nicht aus den Augen zu verlieren. Betrachten wir also Japan unter diesem geschichtlichen Gesichtspunkt, dann fällt auf, daß es zunächst einmal keine "japanische Philosophie" (etwa vergleichbar der griechischen Philosophie) gab. Lange Zeit hindurch war die buddhistische Glaubensdoktrin äußerst einflußreich, dann gewann auch der Konfuzianismus an Bedeutung im geistigen Leben Japans. Eine von Logik getragene Erkenntnistheorie, die sich in ganz Europa als der wesentliche Hauptpfeiler europäischen Denkens herausgebildet hat, ist somit in Japan nur eine These unter vielen anderen. Die Denkweisen Europas und Japans stehen geradezu antipodisch einander entgegen, was sich in einer verkürzten schematischen Darstellung folgendermaßen wiedergeben läßt: Europas Denktradition konstituiert sich grob umrissen als materiell, logisch, äußerlich, analytisch und objektiv, während Begriffe wie seelisch, nicht-logisch, innerlich, unanalytisch und subjektiv das japanische Denken bestimmen. Hält eine der Kulturen die eigene, aus einem begrenzten Kulturraum entstandene philosophische Weltanschauung für die einzig mögliche und wahrhaftige, dann muß sich daraus notwendigerweise ergeben, daß man sich gegenseitig als fremd und seltsam empfindet und sich voller Mißtrauen gegen das Unbekannte in die eigene kleine Denkwelt zurückzieht. So wird aber kultureller Fortschritt unmöglich gemacht. Gerade in unserer Zeit ist ein erweitertes Bewußtsein nötig!

86

Johannes Sugano

VII. Philosophie in Japan Das Cartesische Selbstbewußtsein, das Descartes in seinem berühmten Wort vom .cogito ergo sum" auf eine griffige, häufig zitierte Formel gebracht hat, ist in Japan nicht existent, sondern fehlt einfach. Dafür aber hat Japan eine Philosophie der positiven Selbsterfahrung entwickelt, die sich aus der Erfahrung des Nichtseins, des Nichts im Umgang mit der Natur herauskonstituiert hat. Statt also als denkendes, bewußtes Subjekt der Natur gegenüberzutreten, wird vielmehr das Ich zurückgenommen und löst sich in der Gedankenassoziation zur Natur auf. Diese Besonderheit spiegelt sich in der japanischen Literatur, vor allem in der Haikudichtung, als wesentliche Grundhaltung wider. VIII. Stellung und Bewertung der japanischen Kultur Der Wert der japanischen Kultur ist nicht in dieser Besonderheit als solcher zu finden, vielmehr gilt es, die japanische Kultur im Bezug auf den gesamtweltlichen Kontext hin zu betrachten. Anders ausgedrückt: wäre Japans Kultur mit einem zwar eigenartigen, aber abgesonderten und einsamen Stern am kulturellen Horizont gleichzusetzen, so wäre ihr Wert im höchsten Maße fragwürdig. Da aber die japanische Kultur eine Kultur unter vielen menschlichen Kulturen ist, die alle wegen ihres gemeinsamen Grundcharakters (nämlich, daß sie menschliche Kulturen sind!) miteinander in Beziehung stehen, gewinnt sie aus diesem Gesamtzusammenhang heraus ihren Wert und ihre Bedeutung. IX. Zusammenfassung Lassen Sie mich, bevor ich nun zum Schluß meines Referates komme, noch einmal die wesentlichen Folgerungen zusammenfassen. In einer Welt der großen Änderungen, wie der unseren, dürfen einzelne Kulturen die in ihnen entwickelten und in ihrem Kreis gültigen Maßstäbe für Denken, Ästhetik, Wissenschaft etc. nicht mehr ungefragt als Maßstab betrachten. Vielmehr müssen die verschiedenen Kulturen nun in eine Phase der kritischen Selbsthinterfragung übergehen. Die Überlegenheit kultureller Aspekte manifestiert sich erst in einer Allgemeinheit und Allgemeingültig-

Zur Problematik des Naturrechts in Japan

87

keit, die über den engen Horizont der individuellen Kultur hinauszugehen vermag. Kulturelle Neuerungen und Reformen von erstarrten Traditionen werden erst in der wahren, aufrichtigen und gegenseitigen Auseinandersetzung zwischen Denkweisen und Kulturen möglich. Verschließt sich eine Kultur jedoch beharrlich vor der Auseinandersetzung, so wird das Entstehen eines neuen Denkens unmöglich gemacht. X. Und noch einmal: das Naturrecht in Japan Was bedeutet das aber bezüglich der hier zur Diskussion gestellten Stellung des Naturrechts in Japan? Ich denke, daß die Auseinandersetzung mit der Idee des Naturrechts in Japan noch am Anfang steht, ich bitte aber zu bedenken, daß nur - ich möchte das noch einmal wiederholen - gegenseitige Auseinandersetzung ein neues Denken hervorbringen kann. Besteht die Auseinandersetzung jedoch nur einseitig in Form eines reinen Kulturimports (also hier: des Imports des Naturrechts nach Japan), so ist der Erfolg zumindest in Frage zu stellen. Ich hätte gerne eine detailliertere Darstellung der japanischen Kultur gegeben, um die Tragweite der Problematik etwas deutlicher darzustellen. Ebenso wäre ich gerne noch auf andere Problemstellungen eingegangen, die das Denken im gegenwärtigen Japan bestimmen, etwa die Gegensätze von Technologie und Kultur oder aber den Zusammenprall von modernem Lebensgefühl und Tradition, bedauerlicherweise würde dann aber doch der Rahmen dieser Veranstaltung gesprengt werden. Dennoch hoffe ich, daß ein kleiner Einblick in japanische Denktraditionen und in die Problematik einer Auseinandersetzung mit dem Naturrecht möglich geworden ist.

DIE BEDEUTUNG DER RECHTSKULTUR Von Akira Mizunami I. Über Rechtskultur kann man von zwei Standpunkten aus sprechen: vom juridischen und vom ethischen. Was den ersten Standpunkt betrifft, so folge ich den Thesen eines meiner großen Lehrer, Jean Dabin, der Professor an der Universität von Louvain in Belgien war. Beim zweiten Standpunkt halte ich mich an die Lehre unseres bekannten Johannes Messner. II. Vom juridischen Standpunkt aus dreht sich der Begriff .,Rechtskultur" um das positive Recht, ein materieller Begriff, in dem einige Aspekte des menschlichen Geistes (Kulturgut) enthalten sind. Das positive Recht interessiert vor allem die Juristen. Das positive Recht ist ein künstlich mit den Techniken der Ausarbeitung vom Menschen geschaffenes Werk. Doch handelt es sich dabei nicht um ein Werk, das von einem Handwerker oder Künstler geschaffen wurde, wie z. B. Autos, Holzschuhe, Skulpturen oder Bilder; es enthält eigentlich die Vorschriften für das menschliche Verhalten; das ist die genauere Bezeichnung des Werkes, welches das positive Recht darstellt. Ich werde daher eine Definition des positiven Rechts vorschlagen: Es ist eine von der gesellschaftlichen (staatlichen) Autorität festgelegte und gesicherte Generalregel, die auf die Verwirklichung des Gemeinwohls (oder vielmehr des öffentlichen Wohls) abzielt. Es gibt verschiedene Arten von positivem Recht: das Gesetzesrecht, das Gewohnheitsrecht, die Spruchpraxis etc. Sämtliche Arten des positiven Rechts jedoch werden von den gesetzgebenden Organen der organisierten Gesellschaft festgelegt. Die Bestandteile des positiven Rechts werden von den gesellschaftlichen oder staatlichen Autoritäten gemäß ihrer .,Jurisprudentia" ausgearbeitet, die eine teleologische Entscheidung ist. Die gesetzgebenden Behörden (Parlamentarier, Verwaltungsbeamte, Richter etc.) müssen zunächst das Gemeinwohl interpretieren, das jedoch sehr komplex ist und praktisch alle menschlichen Aspekte, angefangen von den Wirtschafts- und Sozialgütern bis zu den moralischen und religiösen Werten, umfaßt; weiters müssen sie die Wirksamkeit der juridischen Vorschriften bezüglich ihrer Zweckmäßigkeit und Anpassung an die Psychologie der Leute, für die sie gelten, abschätzen. Die .,Jurisprudentia" ist eine vielfältige und heikle Entscheidung. Schließlich entscheidet sogar sie darüber, ob das Naturrecht in das

90

Akira Mizunami

positive Recht Eingang findet oder nicht. Die juristischen Gesetzgeber

schaffen in der Tat die Vorschriften des positiven Rechts. In dieser Hinsicht muß man eine gewisse Unabhängigkeit des positiven Rechts gegenüber

dem Naturrecht anerkennen.

III. Vom ethischen Standpunkt aus dreht sich der Begriff der Rechtskultur um das Naturrecht. Man stellt es unter die ontologischen Bedingungen der Fülle des Menschseins. In diesem Sinn ist die Rechtskultur die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit, die eines der Gebote des Naturrechts darstellt; die soziale Gerechtigkeit ist eine unerläßliche Bedingung für die Entfaltung der Menschheit. Man kann das Naturrecht nicht herstellen; es ist .,gegeben"; es ist nicht .,von der Verfassung vorgesehen" wie das positive Recht. Bei der Erstellung der Rechtsordnung verwendet man es als Mittel für die soziale Gerechtigkeit und paßt es der ontologischen Struktur und den Naturgesetzen des Menschen an. IV. Ich muß nochmals die Unabhängigkeit des positiven Rechts unterstreichen, obgleich dieses - vom ethischen Standpunkt aus - Beziehung zum Naturrecht, d. h. zur Rechtskultur, hat. Und zwar auf zweierlei Art: Erstens: hinsichtlich der Zweckursache, nämlich des Gemeinwohls. Negativ gesprochen, kann das positive Recht die Grundgebote des Naturrechts nicht negieren, weil es kein Gemeinwohl gibt, das die Bedingungen für die volle menschliche Entfaltung zerstört. So hat beispielsweise ein positives Recht, das die Würde der Person leugnet, keine Existenzberechtigung; es ist absurd und- um mit dem Hl. Augustinus zu sprechen- ein .,Monstrum". Positiv gesehen, ist das Gemeinwohl die soziale Gerechtigkeit, wie Johannes Messner und Ignacio Burgoa sagten. Der letztgenannte war Professor an der autonomen Universität von Mexico, ein großer Jurist und Anhänger des Hl. Thomas. Die soziale Gerechtigkeit ist eine Synthese der Rechte und Interessen aller, insbesondere in den Beziehungen zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft (oder dem Staat). Das positive Recht soll diese Synthese verwirklichen und bewahren. Zweitens: hinsichtlich der Daseinsberechtigung des gesamten positiven Rechts. Das positive Recht gründet auf einer der Regeln des Naturrechts, nämlich auf dem Bedürfnis des Menschen nach einem positiven Sozialrecht und vor allem Staatsrecht. Mit einem Wort, nach einem juridischen Naturrecht (rule of Law oder Rechtsstaat in der metaphysischen Bedeutung des Wortes), wie ich es nennen würde. In dieser Form kann das positive Recht von allen anderen Normen unabhängig und autonom sein. Schlußfolgerung: Meiner Meinung nach meint Johannes Messner, wenn er über Kultur spricht, die Kulturgüter und das menschliche Verhalten, das diese hervor-

Die Bedeutung der Rechtskultur

91

bringt, wobei er sich auf die ontologischen Bedingungen des Menschen und auf die einmütige Intuition der unter diesen Bedingungen lebenden Menschen stützt. Er betont die ethische Dynamik. Er hat wohl behauptet, wie ich glaube, daß das positive Recht relativ unabhängig ist und die juristischen Vorschriften autonom sind, doch stellte er beide in den weiten Rahmen der gesamten Ethik.

Diskussion zum Referat von Akira Mizunami Über die Unterschiede der Rechtslehre in so verschiedenen Kulturen wie der europäischen und der japanischen ergab sich eine lebhafte Diskussion. Ausgehend von der Frage von Schmitz nach dem Naturrechtsgehalt im Konfuzianismus ergab sich ein Ansatz zur Trennung zwischen einer ethischen und einer juristischen Rechtskultur. Aus ersterem Gesichtspunkt sieht Sugano Aspekte des Naturrechts im Konfuzianismus gegeben, anders als im rein positiv-rechtlichen Denken von Rechtswissenschaftern in Japan. Andererseits wäre auch in Europa eine positive Rezeption des Konfuzianismus erst notwendig.

Rauscher: Die Betonung der Gefühlselemente in der Rechtskultur ist richtig. Wenn es im japanischen Denken nicht eine bestimmte Rechtstradition gäbe, sondern das Gefühl vorherrsche, so könne man doch an das tägliche Leben in Haus und Familie anknüpfen. Die Schogunate zum Beispiel wären in der japanischen Geschichte eine politische Ordnung gewesen und stellten eine solche Wirklichkeitserfahrung dar. War die politische Geschichte in Europa so ganz anders? Es scheinen also zentrale Elemente des Naturrechts auch in Japan vorhanden zu sein. Zu verweisen wäre auch auf das Eigentumsrecht Wäre eine naturrechtliche Reflexion gemäß de r japanischen Tradition nicht doch möglich? Sugano: Es gibt schon viele naturrechtliche Anknüpfungspunkte, aber auch psychologische Barrieren aus der japanischen Denkweise, die nicht logischen Schlußfolgerungen zu entsprechen scheinen. Daher kommt es auch nicht zu einer Übernahme des Naturrechts selbst. Dieses Problem hat sich auch nach dem Krieg bei der neuen Verfassung gezeigt, die sehr stark naturrechtlich ist, bisher ist aber über politische Erwägungen hinaus keine juristische Diskussion über die alte und die neue Verfassung entstanden. Eine solche Auseinandersetzung könnte zur rechtsphilosophischen Klärung und Entwicklung beitragen.

Diskussion zum Referat von Akira Mizunami

93

Mizunami: Der Unterschied in der Kenntnis der Natur, wie sie ist, und der Art und Weise ihrer Erkenntnis in Japan müßte gegenüber der europäischen Tradition mehr beachtet werden. Tscholl:

Wir haben bisher nicht vom Shintoismus gesprochen! Sugano:

Der Shintoismus ist eine Naturreligion, verehrt Naturgötter. Der Konfuzianismus hingegen ist eine Philosophie des Verhältnisses der Kinder den Eltern gegenüber usw. Der Shintoismus ist im Leben der Japaner aber so verankert, daß man an ihn direkt gar nicht denkt. Er ist wie Brauchtum selbstverständlich. Es gibt keine entsprechende Lehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er im Untergrund wie eine Staatsreligion weitergepflegt worden und ist nicht mehr offizielle doktrinäre Religion. Er ist mehr eine Gefühlsangelegenheit, eine Naturreligion, der man weder angehört noch aus ihr austritt. Der Japaner ist Shintoist. Die Erfahrung des Nichts, der Einsamkeit des Individuums entspricht hinwieder dem Buddhismus. Hier geht eine Rücknahme der Subjektivität oder die Vernichtung der eigenen spontanen Kreativität durch die negative Erfahrung des Seins vor sich. Klose:

Ist die sprichwörtliche japanische Höflichkeit nicht auch ein Hinweis auf die Personwürde des Menschen? Man kann japanische Kinder fröhlich und zugleich diszipliniert erleben. Woher kommt das? Aus einer Naturanlage? Geht das nicht letztlich auf die Personwürde jedes Menschen zurück? Hat das nicht einen anthropologischen Grund? Sugano:

Personwürde im Umgang miteinander ist ein zentrales Element in Japan. Den anderen nicht verletzen bedeutet auch, der andere steht im Mittelpunkt. Man will von seinem Standpunkt andere nicht logisch überzeugen. Die anderen sollen ihr Gesicht nicht verlieren. Der Japaner führt daher Gespräche sehr indirekt, zum Beispiel bei einer Liebeserklärung sagt er: ,.Wir haben einen schönen Mond gesehen." Auf diese Erklärung ist dem anderen jederzeit auch ein Rückzug möglich, er habe ihn nicht so gesehen. Die Auseinandersetzung in Japan mit dem Naturrecht steht rechtsphilosophisch am Anfang, wird nur von wenigen gepflegt. Die zukünftigen Aufgaben der Anpassung angesichts des raschen gesellschaftlichen Wandels

94

Diskussion zum Referat von Akira Mizunami

stehen im Vordergrund. Ein Wandel der japanischen Eigenart muß erst geistig verarbeitet werden, nämlich die Synthese des raschen industriellen Wandels der Gesellschaft mit der eigenen Tradition. Prantner: Für Messner war die Person der Ausgangspunkt. Ist dieses personale Zentrum des Menschen, sein Inneres, nicht auch der Rationalität des japanischen Menschen zugänglich oder ist er tatsächlich nur technisch begabt? Kirchschläger: Naturrecht scheint in Japan weit stärker verankert zu sein, als die Japaner dies selbst anerkennen, also unter anderen Namen und Denkweisen. Der Begriff des Naturrechts selbst ist schillernd. Die eigene Kultur allein kann nicht letzter Maßstab für die Verhältnisse sein. Die japanische Kultur anerkennt doch die Wertigkeit anderer Kultur und damit Gemeinsames. Sugano: Das Problem ist in Japan, die eigenen kulturellen Wurzeln in Einklang mit der übernommenen technischen Kultur zu verbinden. Es besteht ein geistiges Vakuum durch die Übernahme kultureller Dinge aus dem Westen, dadurch auch ein Gegensatz zwischen Jugend und Alter. Der Naturrechtsgedanke könnte hier wesentliche Funktionen übernehmen bei der Auseinandersetzung mit diesen Problemen. Die japanische Moral ist sehr auf Gruppenzugehörigkeit basiert, um diese herum besteht aber ein Wertevakuum. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist vieles überstürzt aus Amerika übernommen worden. Die kulturellen Wurzeln sind aber nicht weiter verfolgt worden. Romig sieht einen europäischen Denkstrom des Rechtsgedankens von Platon über Augustinus bis Heidegger als einen idealistischen Denkstrom, den auch Messner in seinem Naturrecht in Verbindung mit dem göttlichen Recht verfolgt hätte. Dagegen sieht er geschichtlich ebenfalls eine Denkrichtung von den Griechen her über die Aufklärung zur Moderne als individualistisches Naturrecht. Das Recht der Gemeinschaft hingegen sei nicht nur ein Personenrecht, sondern auch ein Gemeinschaftsrecht Schmitz sieht Fortschritte des Naturrechtsdenkens in Japan und verweist einerseits auf das ganz eigenartige japanische Kabuki-Theater und die Musik dabei. Japaner können aber durchaus auch die europäische Musik verstehen. Sie hätten also kulturelle Begabungen über ihre eigene Kultur hinaus. So müßte es durchaus auch möglich sein, neben technischer Ratio-

Diskussion zum Referat von Akira Mizunami

95

nalität Elemente des Naturrechts unter einer gemeinsamen Rationalität in Japan verstehbar zu machen.

Sugano: Idealistische Strömungen des europäischen Denkens sind in Japan sehr stark. Die christlichen Universitäten haben einen hervorragenden Platz. Auch die idealistische Tradition ist sehr bekannt und wird rezipiert. Die Rezeption des Naturrechts allerdings ist schwieriger als die Übernahme europäischer Musik.

DIE FRUCHTBARKEIT DES NATURRECHTSGEDANKENS - UNIVERSELL, ABER DYNAMISCH Von Seiichi Anan I. Vorwort

Der Positivismus hat gegen die Naturrechtslehre immer kritisch eingewandt, daß ,.Naturrecht" kein universeller, allgemein gültiger Begriff sei, sondern daß sein Inhalt nach Zeit und Ort wechselt. Daher ist der Begriff vieldeutig. Erik Wolf hat in seinem Buch: .,Das Problem des Naturrechts" zehn verschiedene Begriffe von ,.Recht" und ,.Natur" herausgearbeitet. Trifft es zu, daß ,.Naturrecht" ein vieldeutiger Begriff ist? Das Naturrecht ist, wie der hl. Thomas von Aquin sagt, veränderlich, aber es liegt eine tiefe Bedeutung in dieser Veränderlichkeit. Wenn wir sie verstehen, werden wir fähig, die Vieldeutigkeitendes Naturrechts nicht als Mangel, sondern eher als Vorzug zu erfassen. Das ist die These, die ich als ,.Vieldeutigkeit und Fruchtbarkeit des Naturrechts" in diesem Artikel diskutieren will.

II. Vieldeutigkeit und Ambiguität Der Naturrechtsbegriff ist so umfassend und darüber hinaus so transzendental, daß er notwendigerweise nicht vollständig erfaßt werden kann. Unter .,Vieldeutigkeit" versteht man im allgemeinen, daß, obwohl es verschiedene Begriffe gibt, sie alle in einem Begriff zusammengeiaßt und mit dem einen Namen ,.Naturrecht" bezeichnet werden können. Darüber hinaus unterscheiden sich viele Naturrechtsbegriffe nicht nur voneinander, sondern einige befinden sich sogar in Gegensatz zueinander. Aus diesen Feststellungen, die für die Naturrechtskritik typisch sind, wird gefolgert, daß der Naturrechtsbegriff vieldeutig sei! Noch einmal, der Naturrechtsbegriff wird als ,.vieldeutig" kritisiert, weil er zwei oder mehr verschiedene Begriffe einschließt. Zum Unterschied von ,.Vieldeutigkeit" wird der Ausdruck ,.Ambiguität" verwendet, wenn ein Wort gleichzeitig zwei oder mehr verschiedene Bedeutungen hat. Aber .,Naturrecht" ist kein solcher Begriff. Die Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffs ist völlig verschieden von der Ambiguität, die gleichzeitig so verschie7 Kulturethik

98

Seiichi Anan

dene Bedeutungen wie ,.Feuer" und ,.Wasser" einschließen kann. Im Naturrechtsbegriff gibt es einen ,.vermittelnden Begriff", der verschiedene Bedeutungen kombiniert. Der Naturrechtsbegriff verändert sich nur durch diesen ,.vermittelnden Begriff". So existiert z. B. zwischen der Naturrechtslehre von John Locke, die besagt, daß die menschliche Natur sozial sei, und der von Thomas Hobbes, für den die menschliche Natur vom ,.bellum omnium contra omnes" geprägt ist, ein solcher ,.vermittelnder Begriff", nämlich ,.natura humana". Mit ,.Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffs" meint man im allgemeinen, daß der Begriff nicht eindeutig ist. Aber ,.Naturrecht" ist eben kein Begriff mit nur einer Bedeutung. Damit ist es etwa dem Begriff ,.medizinische Mittel" ähnlich, der nicht notwendig alle enthaltenen chemischen Bestandteile ausdrückt. Auch ,.Naturrecht" drückt nicht alle möglichen Begriffsinhalte aus. Es ist nur für einen analogen Begriff möglich, weder in Eindeutigkeit gefangen zu sein noch in Ambiguität zu verfallen. Denn es besteht Analogie als Vermittlung, die eine Relation zwischen verschiedenen Begriffen aufrecht hält. ,.Naturrecht" ist daher ein analoger Begriff, der nicht eindeutig fixiert werden kann. Der Naturrechtsbegriff, auch wenn er vieldeutig ist, stellt einen weiten Begriff dar, in dessen Rahmen jeder konkretere Begriff in Korrelation zu jedem anderen stehen kann. Wir können die Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffes zuge ben. Warum ist dies der Fall? Die Antwort darauf ist, daß ,.Naturrecht" ein transzendentaler Begriff ist und über alle in der Geschichte realisierten Begriffe hinaus existieren kann. Nur wenn wir die ontologische Transzendentalität des Naturrechtsbegriffs anerkennen, können wir seine vieldeutige Erscheinung verstehen. Es gibt keinen einzigen und entscheidenden Naturrechtsbegriff. Die meisten Kritiker des Naturrechts übersehen seine transzendentale Basis, auf die alle konkre ten Naturrechtsbegriffe zurückgeführt werden könen (wie Eis auf Wasser zurückgeführt werden kann). Die Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffs ist nicht dasselbe wie Willkür, Ambiguität und Irrationalität. ,.Vieldeutigkeit" meint keine sinnlose Veränderung. Solch ein Mißverständnis kommt jedoch oft vor. Wenn wir uns davon befreien, werden wir weder von Eindeutigkeit gebunden noch in Relativismus verfallen. Der kritische Einwand, das Naturrecht sei vieldeutig, erweist sich so als illusionäres Problem.

III. Vieldeutigkeit und "analogia entis" Wer keine andere Methode der Erkenntnis als die empirische zuläßt, wird die Analogie - weil sie dann nicht mehr ist als eine Metapher ausschließe n. Dennoch gebrauchen wir die Analogie oft im täglichen Leben,

Die Fruchtbarkeit des Naturrechtsgedankens

99

z.B. "weiches Herz", "starker Geist". Aber Begriffe wie "weich" oder "hart" haben ursprünglich eine physikalische Bedeutung, von der wir durch Beobachtung, Messung und logische Überlegung wissen. Wenn wir diese Aussagen auf das menschliche Herz oder den menschlichen Geist beziehen, dann ist ihre Bedeutung nicht vollständig dieselbe wie in den ursprünglichen physikalischen Aussagen. Es ist schwierig, den Grad der "Weichheit des Herzens" zu messen. Nur durch Analogie können wir physikalische Begriffe auf die Beschaffenheit des menschlichen Herzens oder Geistes anwenden. Wenn sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen zwei oder mehr Dingen bestehen, dann wird die Analogie dazu verwendet, um sie auf das Gemeinsame zurückzuführen. Wie jedes Schulkind weiß, kann bei Dreiecken oder Vierecken von ähnlicher Gestalt, A, B oder C, alles, was von A gesagt wird, seiner Natur nach auch von Bund C ausgesagt werden, auch wenn sie sich in Seitenlänge und Fläche unterscheiden. Die Analogie basiert auf der "analogia entis", einer der wichtigsten Lehren der Metaphysik. Metaphysik, auch "erste Philosophie" genannt, ist jene Wissenschaft, die nach den letzten und allgemeinsten Begriffen fragt, die auf alle Dinge angewandt werden können und die allen gemeinsam sind. Ein solcher Begriff ist "ens" (Seiendes). Gemäß der Lehre der Metaphysik ist in allen Seienden einerseits eine Gemeinschaft festzustellen, insofern sie alle Sein verwirklichen, andererseits ein Unterschied, durch den sie zu diesen konkreten Seienden bestimmt werden. Gott, Mensch, Seele, vegetatives und tierisches Leben können alle mit "Sein" benannt werden, aber sie sind in unterschiedlicher Weise "seiendes Sein". Der Mensch z. B. ist "unvollkommenes Sein", während Gott als "vollkommenes Sein" bezeichnet werden kann. Nun komme ich zur Beziehung zwischen Vieldeutigkeit und "analogia entis". Das erste Prinzip des Naturrechts heißt: "Tue das Gute und unterlasse das Böse". Der Begriff des Guten bezieht sich nach der traditionellen metaphysischen Naturrechtslehre auf das Sein. Und, in diesem weiten Sinn, bedeutet "gut", jedes Seiende in seinem Sein zu vervollkommnen. "Übel" ist dann der Mangel am Sein eines Seienden. Deshalb ist die Position der Naturrechtslehre im Hinblick auf "gut und böse" nicht die des Dualismus (wie beim Manichäismus), sondern ein Monismus. Gemäß der metaphysischen Theorie des Guten können wir jedes Seiende als "gut" im weitesten Sinn bezeichnen. "Gut" als W ertbegriff wird gewöhnlich nur in bezug auf das menschliche Handeln verwendet, aber in seiner metaphysischen Bedeutung kann als "gut" jedes, auch das nichtmenschliche Seiende bezeichnet werden. So können wir sagen: "Ein gutes Pferd". In diesem Fall kann "gut" nur dann im seihen Sinn vom Menschen und vom Pferd ausgesagt werden, wenn unter "gut" die "Vollkommenheit im Sein" verstanden wird. Natürlich ist das me nschliche Sein von dem des 7'

100

Seiichi Anan

Pferdes verschieden. Aber auch dann sagen wir .,ein gutes Pferd", indem wir die Analogie verwenden. In der traditionellen Naturrechtslehre ist es .,gut", das Sein jedes Seienden zu vervollkommnen, und dann strebt jedes Seiende natürlicherweise nach dieser Vollkommenheit. Dies wird auch .,inclinatio naturalis" genannt. Nicht nur der Mensch, sondern auch andere Seiende besitzen diese .,inclinatio" in einem analogen Sinn. Die auf der Metaphysik basierende Naturrechtslehre sucht den Seinsbegriff als erstes Prinzip zu denken, das allen Seienden gemeinsam ist. Und sekundär unterscheidet sich jedes Seiende von jedem anderen in der Weise oder im Modus des Seins. Nach diesem Denken bestehen analoge Beziehungen zwischen allen Seienden. Dagegen betont das moderne Denken die unterscheidende Eigenart des Menschen, und trennt das andere Sein vom Menschsein. Die Leugnung der Metaphysik führt ganz natürlich zu einem solchen Denken. In der traditionellen metaphysischen Naturrechtslehre wurde ebenso die Eigenart des Menschen gelehrt. Der hl. Thomas von Aquin, wie das ganze Christentum, unterscheidet klar das menschliche Sein als .,creatura rationalis" von anderen Seienden als .,creatura irrationalis". Überflüssig zu sagen, daß diese Unterscheidung unter der Voraussetzung getroffen wurde, daß alle Seienden- menschliche und nicht-menschliche- insofern übereinkommen, als sie Sein verwirklichen. Als Ergebnis der Leugnung der Metaphysik setzte die moderne Philosophie den Menschen in das Zentrum des Kosmos. Aber das Prinzip, um das menschliche Sein zu leiten und zu begrenzen, wurde verloren. Die Umweltproblematik, mit der der Mensch nun konfrontiert ist, wird nicht gelöst werden können, wenn wir nicht zu einem Denken kommen, für das alle nicht-menschlichen Seienden mit dem Menschen im Sein übereinkommen. Schließlich würde ich gern das Problem des .,naturalistischen Fehlschlusses" diskutieren. Es ist die moderne Kritik der Naturrechtslehre durch die analytische Philosophie. Diese Form der Kritik resultiert ebenso aus der Leugnung der Metaphysik und der .,analogia entis". Es ist wirklich schwierig für jemanden, der nur eindeutige Erklärungen von Begriffen sucht, die Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffs, die auf der Metaphysik und der .,analogia entis" gründet, anzuerkennen. Die Tatsache jedoch, daß der fundamentale Begriff .,Naturrecht", obwohl nicht als eindeutiger, sich immer noch lebendig in der Geschichte verwirklicht, zeigt seine Fruchtbarkeit.

Die Fruchtbarkeit des Naturrechtsgedankens

101

IV. Die Fruchtbarkeit des Naturrechts Es wird oft gesagt, daß die Vieldeutigkeit des Naturrechtsbegriffes sein fataler Mangel sei. Als Ergebnis erscheint das Naturrecht derzeit den meisten Juristen als inakzeptabel. Die Naturrechtsgeschichte lehrt uns jedoch, daß seine Vieldeutigkeit das Naturrecht vielmehr zum "Phönix" gemacht hat (Heinrich Rommen). Denn von einem anderen Gesichtspunkt aus ist die Vieldeutigkeit des Naturrechts nichts anderes als seine "Implikation", d. h. seine Fruchtbarkeit. Wenn auch das Naturrecht im Sprachgebrauch "Recht" genannt wird, bedeutet es inhaltlich "Moral". Das Wort "Naturrecht", das beides-Recht und Moral - einschließt, zu gebrauchen, bringt Verwirrung in die Beziehung zwischen Recht und Moral. Wer das Recht von der Moral zu trennen sucht, wird das Naturrecht als vieldeutig kritisieren. Aber die Zweideutigkeit des Naturrechtsbegriffs belehrt uns vielmehr über das immanente und wichtige Verhältnis zwischen Recht und Moral. Im Mittelalter wurde das Naturrecht "Iex naturalis" oder "ius naturale" genannt. Der Gebrauch der Worte war nicht streng festgelegt. Diese Tatsache zeigt, daß das Naturrecht beides ist, "Recht" und "Moral". Der Rechtspositivist sieht auch Normen als "Recht" an, die inhaltlich "Moral" sind, wenn sie nur vom Gesetzgeber in Kraft gesetzt sind. Die Vieldeutigkeit, d. h. daß das Naturrecht sowohl "Recht" als auch "Moral" einschließt, kommt von seiner Definition als "Gesetz". In seiner Definition des Gesetzes sagt der hl. Thomas, daß das Gesetz eine "ordinatio rationis" sei, und fügt hinzu, daß "ratio" ,.regula et mensura" bedeutet. Mit anderen Worten, das Gesetz ist ein Standard, durch den alles gemessen wird, es seien menschliche Handlungen oder anderes. Wenn dies so ist, dann fallen auch die Aussagen der Meteorologie unter den Begriff des "Gesetzes". Die Definition des Gesetzes als ,.regula et mensura" ist so weit, daß sowohl die Meteorologie als auch die Moral im Begriff des Gesetzes eingeschlossen sind. Es gibt natürlich den Unterschied, daß die Meteorologie keine verpflichtenden Aussagen macht, daß Moral spontan ist und das Recht erzwingbar. Über diese Unterschiede hinaus besteht ein Gemeinsames zwischen ihnen durch den Begriff der "regula et mensura", und sie stehen untereinander in einer analogen Beziehung. Es ist das Schicksal eines solchen Naturrechtsbegriffs, daß er vieldeutig ist. Aber der Gedanke, das Naturrecht habe deshalb keine Bedeutung, ist theoretisch irrig. Denn das Naturrecht hattrotzder Meinung, es sei vieldeutig, in der Geschichte des Sozial- und Rechtsdenkens eine wichtige Rolle gespielt. Dies kann unterschiedlich beurteilt werden, positiv oder negativ, aber niemand kann die Tatsache der geschichtlichen Rolle des Naturrechts leugnen. Es ist paradox, daß das Naturrecht am Leben bleiben kann, obwohl

102

Seiichi Anan

es vieldeutig ist. Heinrich Rommen hat mit Recht gesagt, das Naturrecht sei ein ,.Phönix". Daher ist die Vieldeutigkeit des Naturrechts weniger sein Mangel, als vielmehr sein Vorzug. In einem Beispiel aus der Biologie: Der Mensch ist fähig, sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung zu sich zu nehmen, seine Zähne sind insofern nicht spezialisiert. Aber gerade diese Unvollkommenheit hat es dem Menschen ermöglicht, unter radikal verschiedenen Bedingungen der natürlichen Umwelt zu leben. Deshalb denke ich, daß wir die Rolle des Naturrechts als Sozialethik erklären können, wenn wir fähig sind, seine Vieldeutigkeit, oder besser seine Fruchtbarkeit, positiv zu beurteilen. Letztlich lag die Bedeutung des Naturrechts in der geschichtlichen Veränderung und Entwicklung der Ordnung oder der Formen des Rechts. Darin liegt der Grund für seine Vieldeutigkeit. In einer Zeit, als die Ordnung des positiven Rechts noch unvollkommen entwickelt war, spielte das Naturrecht eine entscheidende Rolle. In der Moderne jedoch, mit der Vervollkommnung des positiven Rechts im souveränen Staat, erhob das positive Recht den Anspruch, das Naturrecht- z. B. in Form der Menschenrechtezu verwirklichen. Daher wird gesagt, daß das Naturrecht keine Rolle mehr spiele und daß es nicht mehr nötig sei. Aber solange sich die menschliche Gesellschaft entwickelt, werden wir neuen Problemen begegnen. Um diese Probleme zu lösen, wird positives Recht gesetzt. Damit ist die Rolle des Naturrechts von neuem gefragt. Denn solange das Bemühen um Gerechtigkeit und der gute Wille das Gemüt des Menschen bewegen, wird das Naturrecht nicht vergehen - ob man es so nennt oder nicht. Es wird, vieldeutig aber fruchtbar, als Phönix lebendig bleiben und auch in Zukunft seine Rolle spielen. Übertragung und Bearbeitung: Werner Freistetter

RANDNOTIZEN ZUM THEMA .,KULTURETHIK" Von Ferdinand Reisinger Religion, Kultur, Ethik und Humanum: Diese Begriffe scheinen in eine Reihe zu gehören; aber in welche? Willkürliche Verknüpfung schafft keine logische Zuordnung. Rund um diese Begriffe und quer durch ihre jeweilige Verschränkung braucht es unseresErachtenseine neuerliche Reflexion. Religion und Ethik scheinen unwidersprochen zueinander zu gehören, ebenso auch Kultur und Religion. Das gesamte Leben hat in diesem Orientierungsgefüge miteinander zu tun. Alles miteinander ist bzw. war durch lange Zeit hindurch ausgerichtet auf ein Prägen und Beeinflussen menschlicher Verhältnisse und Verhaltensweisen. Aber Religion meint nichts Eindeutiges; der Kulturbegriff ist allseits umstritten, und um das Humanum wird nicht selten heftige Interessenspolitik betrieben. Der unmittelbare Kontakt von Kultur und Ethik im .,Einheitsbegriff: Kulturethik" ist nicht eo ipso plausibel. .,Kulturethik" erscheint als so etwas wie ein modernes Konstrukt, dem auch keine eindeutige Abklärung der Absicht mitgegeben zu sein scheint. Das Zweite Vatikanum versuchte in der Pastoralkonstitution .,Gaudium et spes" (11/2, Nr. 53-62 [Die richtige Förderung des kulturellen Fortschrittes]) eine solche Klärung und Koordination. Leider ist gerade dieses Kapitel in der Rezeption lange Zeit unterbelichtet geblieben. Was mögen die Gründe dafür sein? Begriffshülsen erweisen sich zur Zeit leicht als hohl bzw. beliebig, und es ist allein schon eine kulturelle Leistung, wieder zu klareren Begriffen und ihrer Verwendung zu kommen (ob dies im derzeitigen innerkirchlichen Disput über .,lnkulturation" und .,Neuevangelisierung" wirklich gelingt, wird sich erst erweisen). Will man zu einer klareren Begriffsauffüllung und zu einer Relationsbestimmung von so tragenden Begriffen wie den oben genannten kommen, wird man gut daran tun, zurückzugreifen auf das, was Johannes Messner (1954) in seiner .,Kulturethik" vorgelegt hat. Johannes Messner als Ethiker, als Philosoph und (nicht zu vergessen!) als Ökonom wußte um die Notwendigkeit, Begriffe aus ihrer geschichtlichen Verwendung heraus in ein Ordnungsgefüge zu bringen. Welchen Stellenwert hat in solchem Zusammenhang die allfällige Rede von .,Kulturethik"? Welchen Stellenwert hat in dieser Frage die Ethik?

104

Ferdinand Reisirrger

Kultur-Ethik scheint so etwas wie eine Verdoppelung des Anliegens auszudrücken. Es ist klar, daß Ethik eine sittliche Kultur supponiert bzw. intendiert. Genauso ist umgekehrt klar: eine ethiklose Kultur mündet in Unkultur bzw. Sterilität (oder auch im Kitsch). Beide- Ethik und Kulturkönnen nur zielgerichtet an einem Strang verstanden werden - im Sinn eines (nicht selten religiös begründeten) "propter nos homines et propter nostram salutem". "Kultur-Ethik" enthält also einen doppelten Imperativ: Damit Kultur (gleich welcher Art) nicht in einem selbstischen Monismus verkommt, damit sie nicht in einem selbstzweckhaften Separatbereich eines hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten gesellschaftlichen Klüngels agiert und dabei ein eher wertverzehrendes denn wertschaffendes "superfluum" wird, bedarf auch das Kulturelle der ethischen Rückverwiesenheit, also einer gemeinwohlorientierten, solidarischen wie subsidiären, in allem auch personalistischen Grundorientierung. Bei aller Respektierung des selbständigen Bereichs für kulturelles Schaffen und Wirken dürfte das "primum et ultimum propter quod" nicht an den allgemeinen Lebenschancen der Gesellschaft (mit allihren Gruppen) vorbeizielen. Ist es zuviel verlangt, auch der Kultur so etwas wie eine .,Option für die Armen" als Anliegen aufzugeben? Ist Kultur gerade im modernen Verständnis nicht ein privilegierter Bereich für die Reichen... ? Umgekehrt bedarf die Ethik, um nicht zu einer individuell orientierten Sollenslehre zu verkommen bzw. verkürzt zu werden, um also nicht rein ethikintern fixiert zu sein, der Weitläufigeren Perspektive des Kulturellen, des Schönen. Eine Ethik, die zu funktionalistisch nach dem .,bonum" fragt, wird den Möglichkeiten der kulturellen Größe des Menschseins und der menschlichen Gemeinschaft nicht gerecht. Kultur und Ethik bilden in dieser Begriffskombination ein Spannungsfeld. Sie fordern sich gegenseitig gerade unter humanem Aspekt zu je noch überlegterer Bestimmung heraus. Die Kultur wird eingefangen in Verbindlichkeit (des "propter nos homines"); Ethik wird aufgebrochen vom reinen Imperativ zum "kategorischen Indikativ". Auch die Ethik bedarf der strukturell ordnenden (und das heißt in etwa der kulturellen) Einbindung in Lebenszusammenhänge; auch Ethik muß im Gesamt von Kultur ihren Ort finden. Konkret gesprochen bedeutet dies, daß "propter nos homines (huius et futuri saeculi)" das Gespräch zwischen Kulturträgern und Kulturverantwortlichen, nicht zuletzt (freien) Kulturschaffenden und den ethisch Verantwortlichen nicht suspendiert werden kann. Im Gegenteil: die Kommunikation und die kommunikative Kompetenz beider Seiten müssen forciert, gefordert und gefördert werden. Daß es auf der Bühne solchen Dialogs immer auch zu Konfrontationen, ja zum Streit kommen wird, erweist sich als unumgänglich. Allemal aber müßte diese

Randnotizen zum Thema .,Kulturethik"

105

Auseinandersetzung als für das Menschsein, für das Menschbleiben und Menschwerden notwendig ausgefochten werden. Von hier aus ergeben sich nicht wenige Anfragen an die Repräsentanten religiöser Einrichtungen. Hier läuft ja traditioneller Weise die Aufgabe für Kultur wie für Ethik wie in einem Strang zusammen. Unter dieser Rücksicht ist es indispensabel, in einer geschichtlichen Perspektive das Zusammenwirken von Kulturethik und Religion im Gesamthorizont jeweils herrschender Menschenbilder zu ordnen. Da in Zeiten wie den heutigen das Feld des Religiösen einer freien Spielwiese gleicht, auf der- oft ohne Reflexion der Lebenszusammenhänge-jeweilige Interessen als religiöse ausgegeben und vorgetragen werden und auf diese Weise unterschiedlichste Religionen in Aktion sind, ist eine Diskussion über die Zusammenhänge von Religion, Kultur und Ethik- wie es scheint - überfällig und angebracht. An vorderster Front ist dabei auch das Christentum herausgefordert, neben seinem Kultur- und Ethikverständnis auch sein religiöses Selbstverständnis zu überprüfen. Was in der Pastoralkonstitution in Nr. 11 großflächig angesprochen ist, gilt es gerade in diesem Zusammenhang zu präzisieren: .,Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erscheinen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte Bedeutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt? Auf diese Fragen erwartet man Antwort. Von da wird klarer in Erscheinung treten, daß das Volk Gottes und die Menschheit, der es eingefügt ist, in gegenseitigem Dienst stehen, so daß die Sendung der Kirche sich als eine religiöse und gerade dadurch höchst humane erweist."

Gerade die Aussage im letzten Teil dieses Absatzes bedarf der Vergewisserung des Gemeinten. Worin sieht die Kirche ihre religiöse und gerade darum höchst humane Aufgabe? Und sind nicht Kultur und Ethik, mithin auch Kulturethik, gerade jene Vehikel, auf denen diese Absicht zu verfolgen wäre? Eine Koordination der hier angesprochenen und eingeforderten Absicht scheint aber gerade bei Johannes Messners .,Kulturethik" im Auge behalten zu sein, insbesondere im Buch III (S. 331-629, insbesondere 376-395: § 72: Die Religion). Als Impulse für die notwendige Gedankenabwicklung mögen einige Zitate aus diesem Abschnitt dienen: .,Aus unserer Erörterung der Beziehungen von Religion und Kultur wird ... unzweideutig klar: Kulturförderung ist nicht Zweck der Religion, ihr Zweck liegt in der Heilsaufgabe. Tatsächlich erfolgt die Kulturwirkung der religiösen Kräfte vor allem vermittels des Unbewußten, nicht vermittels bewußter Zwecksetzung. Weil aber ihre Wertwirklichkeiten und Wertziele den ganzen Menschen, sein Denken und Wollen, sein Tun und Leben beanspruchen, wird die Religion allumfassender Lebensgrund der Kultur, ohne daß Kultur bewußtes Produkt der

106

Ferdinand Reisinger

Religion oder die Religion unmittelbar Dienstbefohlene der Kultur sein könnte. Würden sie dazu gemacht, müßten sie, Religion wie Kultur, ihres innersten Wesens und Wertes verlustig gehen." (379) ,.Was ist denn die tatsächliche Aufgabe der Religion hinsichtlich der Kultur? Außer Frage zu stehen scheint, daß die Religion und der religiösen Autorität als solcher eine unmittelbare Aufgabe oder Zuständigkeit auf kulturellem Gebiet nicht zukommen, weder auf politischem, sozialem, künstlerischem oder geistigem. Ihre Heilsaufgabe betrifft die endgültigen unter den wesenhaften Lebenszwecken des Menschen. Wie sie dabei an keine gesellschaftlichen Lebensstile und kulturellen Ausdrucksformen gebunden ist, ist sie auch nicht zuständig, solche vorzuschreiben. Geschichtlich gesehen ist aber nichts gewisser, als daß die Religion, und darunter besonders das Christentum, Kultur im eigentlichsten Sinne erzeugt, Lebensstile und Kunstformen geschaffen hat." (389) ,.Gelebte Religion ist immer erhöht gelebte Sittlichkeit, lebendige Sittlichkeit immer wirkkräftige Haltung gegenüber dem Mitmenschen, also ,Nächstenliebe' . . . . Weil Kultur im Grunde ,Menschlichkeit' ist, muß daher gelebte Religion in vielfältigen, von der Nächstenliebe befohlenen Weisen zu Kulturwirkungen führen, in so vielen Weisen, als sie einer durch die Sozialordnung augenblicklich oder überhaupt unheilbaren, aber vor der ,Menschlichkeit' nicht zu verantwortenden Bedürftigkeit begegnet." (392) ,.Religion und religiöse Autorität können, gerade wenn ihr Verhältnis zur Kultur in Frage steht, gar keine andere Aufgabe von entscheidenderer Bedeutung haben als die ihnen wesenseigene Heilsaufgabe: vom Ausmaß der Erfüllung dieser Aufgabe hängt es ab, wieweit der Urgrund einer Kultur selbst lebendig und zeugungskräftig ist und bleibt. Die in den jeweiligen geschichtlichen gesellschaftlich-kulturellen Lebensformen verbundenen Menschen ganz allgemein, besonders aber die für die Gesellschaftsgestaltung und Kulturentwicklung vor allem verantwortliche Schicht (,Elite') einzuwurzeln in den religiösen Lebensgrund, mit anderen Worten, selbst zu einer Lebenswirklichkeit zu werden, ist die entscheidende Kulturaufgabe der Religion." (390)

Es ist unübersehbar, daß auch die Überlegungen von Johannes Messner da und dort einen zeitbedingten Einschlag haben. Die gedankliche Leistung, die er uns vorexerziert hat, betrifft aber gerade die rechte Sicht der Verschränkung der Begriffsfelder von Religion und Kultur, von Ethik und Humanum.

VOLKSGRUPPEN UND ETHNISCHE MINDERHEITEN ALS FRAGE DES MENSCHENBILDES Überlegungen im Anschluß an die Naturrechtslehre von Johannes Messner1

Von Werner Freistetter I. Vorbemerkung zur Terminologie Die Begriffe ,.Volk", ,.Volksgruppe" und ,.ethnische Minderheit" werden mehrdeutig gebraucht und sind schwer zu definieren. Definitionsprobleme nehmen deshalb in der einschlägigen Literatur breiten Raum ein 2• Der Terminus ,.Volksgruppe" scheint sich dabei gegenüber dem der ,.Minderheit" wegen dessen möglichen pejorativen Gebrauchs durchzusetzen. Für die folgenden Überlegungen schließe ich mich den Begriffsbestimmungen von Theodor Veiter an, die ,.objektive" und .. subjektive" Elemente verbinden3: .. Volk im ethnischen Sinn ... ist eine Abstammungsgemeinschaft (Generationengebilde), bei welcher zu diesem natürlichen, d. h. naturhaften Element noch das Element einer geistigen Zielsetzungsgemeinschaft kommt". Dieses geistige Element besteht zwar in den meisten Fällen in der gemeinsamen Sprache, kann sich aber auch in anderen Merkmalen ausdrücken, wie .. Religion, gemeinsam bejahte Geschichte oder rassischer Differenzierung" . .. Volksgruppe ist ein Teil eines Volkes ... , der in einem Staat lebt, dessen Führung ganz oder in wesentlichen juristischen Bezügen oder hinsichtlich der faktischen Machtausübung von einem anderen Volk oder von mehreren anderen Völkern bestimmt wird". Dabei unterscheidet das .. Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer eigenen ethnischen Gemeinschaft (geistigen Zielsetzungsgemeinschaft)" die Volksgruppe ,.von einer bloß zahlenmäßigen völki1 Die folgenden Überlegungen stellen die leicht veränderte Version eines Artikels dar, der in der Zeitschrift ,.Wiener Blätter zur Friedensforschung" 62 (1990), 22-36, veröffentlicht wurde. 2 Vgl. die entsprechenden Abschnitte in der nachfolgend zitierten Literatur, bes. die Arbeiten von Ermacora, Kimminich, Klossund Veiter. 3 Theodor Veiter, Volk und Volksgruppe, in: Ders. (Hrsg.), System eines internationalen Volksgruppenrechts, Bd. 1, Wien 1970, 29-41, 29. Hervorhebungen im Original.

108

Werner Freistetter

sehen (,nationalen', ,ethnischen') Minderheit". Der Wortteil ,.-gruppe" drückt diesen Gemeinschaftscharakter aus. II. Beobachtungen zur regionalen und internationalen Situation Die nationalen Konflikte in der ,.Gemeinschaft unabhängiger Staaten" und besonders die Kriege zwischen Völkern des ehemaligen Jugoslawien haben einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung des ethnischen Faktors im sozialen und politischen Leben neu und dramatisch zu Bewußtsein gebracht. Die in beiden Weltregionen aufgebrochenen Spannungen und gewaltsamen Zusammenstöße bis hin zum offenen Krieg zwischen Völkern und Volksgruppen haben Fehleinschätzungen der sozialen Situation in den beiden früheren Staaten sichtbar werden lassen, das Bild eines weitgehend vereinheitlichten .Sowjetstaates" einerseits und die Annahme einer endgültigen Lösung der ethnischen Konflikte durch das föderative Staatsgefüge Jugoslawiens andererseits4 . Die Formen, in denen sich diese Spannungen entladen, zeigen dabei ein für den Außenstehenden oft unverständliches Maß an gegenseitigem Haß und ungezügelter Gewaltanwendung. Die soziale und politische Entwicklung in den ,.östlichen" Staaten Europas und die völlig ungenügende wirtschaftliche Situation haben ein lange in seiner Bedeutung unterschätztes ethnisches Konfliktpotential wachgerufen. Dabei werden sowohl Ursachen aus der gegenwärtigen Situation - wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheiten und Diskriminierungen -wirksam als auch Ursachen, die ihre Wurzeln in der oft lange zurückreichenden Geschichte des Zusammenlebens der betroffenen Volksgruppen haben, die nicht selten von heftigen Spannungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt ist. Lösungen zur friedlichen Bewältigung dieser Spannungen sind um so schwieriger zu finden, je tiefer die Konflikte in der Geschichte verwurzelt sind und je weniger die bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnungen als zu einer solchen Lösung fähig erachtet werden. Ein Blick auf das internationale politische Geschehen zeigt überdies die wachsende Bedeutung ethnisch bestimmter Konflikte in allen Erdteilen5. Die Tragödie des kurdischen Volkes (wie der Schiiten) im Irak nach dem zweiten Golfkrieg wurde von den Medien eindrücklich dokumentiert. Viele andere ethnisch bestimmte Konflikte finden nur hie und da Erwähnung. Nun wurde in der Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen 4 Vgl. die optimistische Einschätzung der Situation Jugoslawiens durch Roland Breton, Lob der Verschiedenheit, Wien 1983, 41. 5 Eine gute Übersicht über die globale Dimension ethnischer Konflikte gibt Theodor Veiter, Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, Band 1, Wien 2. Auf!. 1984, 90-126.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

109

Situation in einer großen Zahl von Ländern der .. Dritten Welt" das Bestehen ethnischer Spannungen weitgehend gesehen, ja die Wirksamkeit von lokalen, regionalen und Stammesloyalitäten in diesen Ländern als ein entscheidender Unterschied zur Situation in den industriell fortgeschrittenen Ländern - insbesondere Westeuropas - betrachtet. Deren gesellschaftliche und politische Lage schien- von Ausnahmen abgesehen- weit mehr von übernationaler Integration und von der wachsenden Bedeutungslosigkeit ethnischer Konflikte bestimmt zu sein. Aber auch im westeuropäischen Bereich kam es in den 60er und 70er Jahren zum zunehmenden Auftreten ethnischer Spannungen und zu einem steigenden Bewußtsein eigener ethnischer Identität seitens verschiedener westeuropäischer Volksgruppen6 • In der verfehlten Beurteilung dieser Entwicklung wurde die Tragweite der Integration durch Technologie, Wirtschaft und Kommunikationsmittel überschätzt, während die Bedeutung der ethnischen Prägung und Identität als sozialer und politischer Faktor auch in industriell entwickelten Gesellschaften unterschätzt wurde 7 . Ethnisch begründete Gegensätze und Konflikte in verschiedener Intensität stellen jedoch nicht nur für die direkt betroffenen Staaten ein gravierendes Problem für Stabilität und Frieden dar. In der gegenwärtigen Situation einer immer stärker interdependenten Welt kommt es in immer größerem Ausmaß zu einer Internationalisierung von zunächst regionalen Konflikten. Auf der Ebene der Beziehungen von Nachbarstaaten zeigt sich dies bereits bei der Übernahme der Rolle einer Schutzmacht seitens eines Staates für eine Minderheit im Nachbarstaat Oft ist dabei eine Volksgruppe auf beide Staaten aufgeteilt und bildet im einen die Mehrheit, im anderen eine Minderheit der Bevölkerung. Darüber hinaus liegen Staaten und Regionen mit ethnischen Konflikten nicht selten in Interessengebieten der internationalen Politik und werden so in internationale Konfliktsituationen einbezogen. Die regionale Problematik wird dabei dadurch überlagert und verschärft, daß die ethnischen Spannungen zum Mittel der Austragung übernationaler Interessenkonflikte werden. Die Internationalisierung regionaler ethnischer Konflikte geht jedoch noch auf einer weiteren Ebene vor sich, nämlich in Gestalt der Flüchtlinge aus Gründen ethnisch motivierter Diskriminierung, Verfolgung oder Vertreibung, die einen erheblichen Teil der Flüchtlingsströme unserer Zeit 6 Vgl. dazu Walker Connor, Ethnonationalism in the First World: The Present in Historkai Perspective, in: Milton J. Esman (ed.), Ethnic Conflict in the Western World. Cornell University Press, lthaca and London I 977, I 9-45. 7 Zu den möglichen Gründen für diese Fehleinschätzung in den Sozialwissenschaften: Arend Lijphart, Political Theoriesand the Explanation of Ethnic Conflict in the Western World: Falsified Predictions and Plausible Postdictions, in: Milton J. Esman, a.a.O., 46-64.

110

W erner Freistetter

ausmachen. Die Bevölkerung in den Aufnahmeländern wird dabei - über die Möglichkeiten der Information und Berichterstattung durch die modernen Kommunikationsmittel hinaus - in direkt erfahrbarer Weise mit den Folgen von Spannungen und Konflikten in anderen Staaten und Regionen konfrontiert8. Diese Situation stellt die Gastgesellschaft vor das Problem der sozialen Integration der betroffenen Menschen. Dabei ist außer rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen ein hohes Maß an menschlicher Bereitschaft, Offenheit und Akzeptanz seitens der aufnehmenden Gesellschaft erforderlich, das nicht immer in genügender Weise verwirklicht ist. Flüchtlinge werden im Gegenteil - gemeinsam mit der Gruppe der Gastarbeiter -oft als Konkurrenten um Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten empfunden. Diese Situation hat in manchen Staaten bereits zur Entstehung ausländerfeindlicher politischer Bewegungen geführt, die vor ,.Überfremdung" warnen, die eigene ethnische und nationale Identität gefährdet sehen und diese oft aggressiv überbetonen. Dies weist daraufhin, daß in der Zukunft Probleme ethnischer Beziehungen gerade in Europa von zunehmender Bedeutung sein werden: Außer den Fragen, die sich im Umgang der geschichtlich gewachsenen europäischen Volksgruppen miteinander ergeben, steht überdies die europäische Gesellschaft insgesamt vor der Herausforderung einer Welt, die trotz starker Tendenzen zur Vereinheitlichung immer mehr von einer erfahrbaren Vielfalt von Kulturen, Traditionen und Lebensformen geprägt sein wird. Diese Problematik wird für die viel diskutierte Neugestaltung der innereuropäischen Beziehungen wie für die Neubestimmung der Rolle Europas im internationalen Leben von entscheidender Bedeutung sein. Das Problem der Beziehungen zwischen Volksgruppen stellt sich auf einer Vielfalt von Ebenen - von der Ebene der individuellen Begegnung und des Umganges der betroffenen Gruppen miteinander bis zur Ebene der Gestaltung des politischen Prozesses und der Rechtsordnung, der Rolle des Staates sowie der internationalen Gemeinschaft. Die Fragen der Einstellungen und Verhaltensweisen im individuellen und sozialen Bereich sind dabei von ebensolcher Bedeutung wie Fragen der politischen und rechtlichen Ordnung. Umfassende Lösungen der ethnischen Problematik können nur gefunden werden, wenn - nach einem traditionellen Prinzip der Katholischen Soziallehre - die Notwendigkeit der ,.Gesinnungsreform" wie der ,.Strukturreform" gleichrangige Beachtung findet.

8 Die internationale Dimension dieses Problems wird hera usgestellt von Ludger Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als W eltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Politik, Wien 1984.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

111

111. Volksgruppenrecht und Menschenbild

Der steigenden Sensibilisierung für die Anliegen ethnischer Gruppen in der internationalen Öffentlichkeit und dem wachsenden Bewußtsein eigener ethnischer Identität entsprechen Bemühungen um politische und rechtliche Lösungen. Besondere Bedeutung haben hier Initiativen zum Aufbau eines innerstaatlich, regional und international anerkannten Volksgruppenrechts9. Dabei stellen sich noch eine Reihe ungelöster Probleme: Ausgebauten rechtlichen Regelungen in manchen Staaten und weit gediehenen Ansätzen in bestimmten Regionen - z. B. im Bereich des Europarates 10 stehen Situationen ethnischer Unterdrückung, Zwangsassimilierung und Vertreibung in anderen Staaten und Regionen gegenüber. Ein entscheidender Grund dafür, der auch die Schaffung eines internationalen Volksgruppenrechts im Rahmen der Vereinten Nationen erheblich erschwert, ist die Sorge vieler Regierungen um ihre oft erst kürzlich erworbene oder noch im Aufbau begriffene staatliche Einheit, die sie durch die Ansprüche ethnischer Gruppen gefährdet sehen 11 . Darüber hinaus kommen in Fragen des Volksgruppenrechts Grundprobleme zum Tragen, die einerseits den gegenwärtigen Stand des Völkerrechts wie der internationalen Ordnung insgesamt betreffen, andererseits aber eine enge Beziehung zu Fragestellungen der Sozialphilosophie und Sozialethik aufweisen. Es geht dabei etwa um das Verständnis der Menschenrechte vor dem Hintergrund eines individualistisch oder kollektivistisch akzentuierten Menschenbildes sowie um die Frage der Begründung von Kollektivoder Gruppenrechten, durch die - in der Konsequenz des zugrundegelegten Menschenbildes - grundlegend unterschiedliche Akzentuierungen im Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft mit weitreichenden Folgen für die Rechts- und Sozialordnung vorgenommen werden können. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Konzeption von "Rechten der Völker" 12 und besonders Fragen um den rechtlichen Gehalt und die politische Realisierbarkeit des "Selbstbestimmungsrechts der Völ9 Zur historischen und gegenwärtigen Problematik um die Entwicklung des Volksgruppenrechts auf staatlicher, regionaler und internationaler Ebene vgl. außer dem bereits zitierten Buch von Theodor Veiter (vgl. Fn. 4): Heinz Kloss, Grundfragen der Ethnopolitik im 20. Jahrhundert, Wien 1969; Theodor Veiter (Hrsg.), System eines internationalen Volksgruppenrechts, 3 Bde., Wien 1970/ 1972/ 1978; Otto Kirnrninich, Rechtsproblerne der polyethnischen Staatsorganisation, Mainz/München 1985. 10 Vgl. Felix Errnacora, Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht, Bd. 2 (UNO- Europarat), Wien 1978, 107-131. 11 Zur aktuellen Entwicklung in der OVN: Felix Errnacora, Der Minderheitenschutz im Rahmen der Vereinten Nationen, Wien 1988. 12 Vgl. Jarnes Crawford (ed.), The Rights of Peoples, Clarendon Press, Oxford 1988.

112

Werner Freistetter

ker" 13. Weitere Problemfelder der gegenwärtigen internationalen Ordnung mit Bezug auf Fragen des Volksgruppenrechts eröffnen sich mit der Spannung zwischen dem deklarierten universellen Anspruch der Menschenrechte und dem Souveränitätsvorbehalt der Staaten. Dies verweist auf ein die internationalen Beziehungen zutiefst prägendes Problem, die Spannung zwischen der Funktion und den Aufgaben souveräner Staaten auf der einen sowie den Herausfordrungen und notwendigen Befugnissen der organisierten Völkergemeinschaft auf der anderen Seite 14• Der innere Bezug der Probleme um Voksgruppen und ethnische Minderheiten zu anthropologischen Fragestellungen wird in besonderer Weise bei der Frage nach kultureller .Identität" deutlich: In diesem Begriff treffen individuelle und soziale Dimensionen der Person unter dem Anspruch zusammen, die Spannung von Individuum und Gemeinschaft gemäß den in einer bestimmten Kultur grundgelegten Möglichkeiten zu einer eigenen, von dieser besonderen Kultur geprägten Form humanen Lebens zu integrieren. Diese Integration ist eine persönliche wie gemeinschaftliche Leistung der Glieder einer Kulturgemeinschaft, die sich unter den Bedingungen der modernen innergesellschaftlichen und internationalen Entwicklungen oft vor schwierige Aufgaben der Vermittlung zwischen traditional überliefertem Wertbestand und notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen gestellt sehen 15. Im besonderen geht es dabei um das Problem, die Kontinuität der Grundgestalt einer Kultur unter den Bedingungen der industriellen Gesellschaft einerseits wie unter den Anforderungen des modernen Menschenrechtsethos andererseits zu ermöglichen. Daß diese Frage noch weithin ungelöst ist, zeigt das gegenwärtig zu beobachtende vielfältige Auftreten fundamentalistischer Strömungen. Die angesprochenen Fragestellungen weisen über den Bereich des positiven Völkerrechts und der e mpirischen Wissenschaften hinaus auf spezifisch sozialphilosophische Grundprobleme. Es ist vor allem die Frage nach dem Menschen, der individuelle Person und zugleich Glied von Gemeinschaften ist, der als eigenständiges und eigenverantwortliches wie als sozial und kulturell bestimmtes Wesen existiert, die auch bei den vielfältigen Dimensionen ethnischer Beziehungen im Hintergrund steht16. Der Beitrag 13 Zu diesem Begriff vgl. Altred Verdross I Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, Berlin 3. Auf!. 1984, 315-321. 14 Vgl. Charles E. Ritterband, Universeller Menschenrechtsschutz und völkerrechtliches lnterventionsverbot, Bern/ Stuttgart 1982. 15 Vgl. Hermann Bausinger, "Identität", in: H. Bausinger u. a., Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt 1978, 204-263, bes. 204ff. Für einen phänomenologischen Zugang zu Grunddimensionen ethnisch-kultureller Identität vgl. Harold R. Isaacs, Idols of the Tribe. Group Identity and Political Change. Harvard University Press, Cambridge/ Mass.-London 2. Auf!. 1989.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

113

der Katholischen Soziallehre zur Lösung dieser Probleme besteht nun im Aufnehmen und Durchdenken dieser Fragen von ihrem spezifischen Ansatz aus, der als Bemühung um ein "umfassendes" oder "integrales" Menschenbild bezeichnet werden kann. Dieses weist über die theologische Grundlegung hinaus eine spezifisch sozialphilosophische Akzentuierung durch die Tradition der katholischen Naturrechtslehre auf. Deshalb haben in diesem Bemühen die genannten sozialphilosophischen Fragen einen besonderen Stellenwert: Die spannungsvolle Einheit der vielfältigen existentiellen Dimensionen des Menschen, seine Prägung durch Individualität und Gemeinschaftlichkeit sowie Fragen nach Begriff und Realität von Gesellschaft und Kultur stellen für die Katholische Soziallehre zentrale Probleme dar. Im folgenden sollen einige dieser anthropologischen Grundfragen im Anschluß an die Sozialethik von Johannes Messner zur Sprache kommen. Er hat vor allem mit seinen Überlegungen zu den Begriffen "Kultur", .. Tradition" und "Gemeinwohl" Gesichtspunkte entwickelt, die für eine sozialethische Reflexion der Volksgruppenproblematik von Bedeutung sind. IV. ,.Kultur" als Grundform menschlicher Existenz

Der Ausgangspunkt Messners zur Bestimmung des Menschen als kulturelles Wesen ist ein "universaler Kulturbegriff', der "alle Lebensäußerungen und Lebensbereiche des Menschen umfaßt" 17• Damit will sich Messner von einem einseitig auf "geistige" Bereiche eingeschränkten Verständnis der Kultur absetzen, dem ein ebenso eingeschränktes Menschenbild zugrundeliegt. "Kultur" beginnt jedoch "schon im wirtschaftlichen und beruflichen Alltag des Menschen, bei der Beschaffung der Mittel zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse seines Lebens und bei der Art und Weise seines Verhaltens bei ihrer Befriedigung" 18. Messner versteht "Kultur" somit als eine den Menschen zutiefst prägende Grundgestalt seines gesellschaftlichen Daseins, als die dem Menschen "wesenhafte" Lebensform, deren Ziel er in der "Vollentfaltung des wahrhaft Menschlichen" in der Gesellschaft und in der Entfaltung des" vollmenschlichen Seins" der Gesellschaftsglieder sieht. 16 Einen Ansatz von einer personalen Anthropologie aus entwickelt Eduard J. M. Kroker: Ders., Der rechtsphilosophische Ausgangspunkt des Volksgruppenrechts, in: Theodor Veiter (Hrsg.), System eines internationalen Volksgruppenrechts, Bd. 2, 24-53. 17 Johannes Messner, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, lnnsbruch-Wien-München 2. Auf!. 1954, 343. Die Hervorhebungen in den folgenden Zitaten finden sich im Original. 18 Ebd., 336.

8 Kulturethik

114

Werner Freistetter

Dieser Ansatz des Kulturbegriffs läßt die Frage nach grundlegenden Dimensionen menschlicher Existenz in den Mittelpunkt treten. Einerseits geht es um die Bestimmung des ,.wahrhaft Menschlichen", um den Zugang zur fundamentalen menschlichen Wertwelt, deren Entfaltung in gesellschaftlicher Kooperation für Messner Entstehungsgrund, deren personale Aneignung durch die Gesellschaftsglieder Ziel aller Kultur ist. Andererseits führt dieser Ansatz zu einem Grundproblem der Sozialphilosophie, der Beziehung von Person und Gemeinschaft. Da der Mensch zu seiner Entfaltung auf Hilfe und Ergänzung durch gesellschaftliches Zusammenwirken angewiesen ist, hat die Kultur ihren ontologischen Grund in der Sozialnatur des Menschen. Dies hat für Messner eine gegenseitige Abhängigkeit von Einzelmensch und Gesellschaft zur Folge: Der Mensch ,.bedarf der Gesellschaft zur Vollentfaltung als Kulturwesen", die Gesellschaft ihrerseits ,.bedarf zur Entfaltung ihrer Kulturkraft der in der Anteilnahme an der Kultur sich entfaltenden einzelmenschlichen Natur" 19. Die Elemente seines Kulturbegriffs faßt Messner in folgender Weise zusammen20 : Er versteht den Menschen als ,.Kulturwesen kraft seiner geistig-schöpferischen Veranlagung zu Werterkenntnis und Wertverwirklichung". Der ,.unmittelbare Anstoß zum Kulturstreben" entspringt dabei ,.dem Drang des Menschen nach Befriedigung der sich ihm in seiner körperlich-geistigen Triebnatur kundtuenden Bedürfnisse und Lebenszwecke". Aufgrund der sozialen Natur des Menschen ist die Verwirklichung dieses Strebens nur im gesellschaftlichen Zusammenwirken möglich. Die Kultur ist daher durch eine wesentlich soziale Dimension gekennzeichnet. ,.Grundziel" der Kulturentfaltung ist jedoch ,.die Persönlichkeitsentfaltung der Glieder der Kulturgemeinschaft". Entsprechend der individuellen und sozialen, leib-geistigen Natur des Menschen umfaßt der Kulturbegriff Messners ,.in untrennbarer Weise gesellschaftliche, materielle und geistige Kultur". Diese Elemente gehen in die Definition ein, die Messner im Blick auf ,.Kultur" als partikulare Ausprägung dieser grundlegenden, allgemeinmenschlichen Lebensform gibt 21 : ,.Kultur" ist ,.die gesellschaftlich-geschichtliche Form der Lebensentfaltung eines Volkes als Ganzheit mit dem Grundziel der Persönlichkeitsentfaltung seiner Glieder durch Anteilnahme an dieser Lebensentfaltung auf den einzelnen Lebensgebieten". Vor diesem Hintergrund wird auch die kurze und allgemeinste Formulierung Messners verständlich: ,.Kultur ist Wertverwirklichung". Dabei betont Messner den Charakter der ,.Wertverwirklichung" als prozeßhaftes Geschehen: Es ist 19 20 21

Ebd., 368. Ebd., 342-343. Ebd., 343.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

115

nicht der .,Bestand von geschaffenen Wertgütern", der für diesen Prozeß entscheidend ist, sondern .,die schöpferische Persönlichkeitsentfaltung der Gesellschaftsglieder", die aus deren .,Anteilnahme an der im Vorgang der Wertverwirklichung vor sich gehenden Lebensentfaltung der Gesellschaft" folgt. Diese Fassung des Kulturbegriffs bei Messner läßt wesentliche Züge eines Menschenbildes hervortreten, das Grundelemente einer Kultur- und Sozialanthropologie beinhaltet: .,Kultur" als geschichtlich situierter Vorgang der gemeinschaftlichen Entfaltung humaner Grundwerte durch Kommunikation und Kooperation der Gesellschaftsglieder ist die den Menschen als solchen kennzeichnende Lebensform. Aus dieser Sicht ist eine Entgegensetzung von .,Natur" und .,Kultur" im Hinblick auf den Menschen nicht möglich. Die Kultur im skizzierten Sinn ist vielmehr seine .,natürliche", dem Menschen als einem leib-geistigen, sozial eingebundenen und zugleich individuell kreativen Wesen .,von Natur aus" eigene Weise des Daseins. Ebenso kommt bei diesem Kulturbegriff die sozialphilosophisch bedeutsame Spannung zwischen individueller und sozialer Natur des Menschen ins Spiel: Der Prozeß der Kulturentfaltung hat sein Endziel in der Ermöglichung des .,vollmenschlichen Daseins" für die Menschen, die eine bestimmte Kulturgemeinschaft bilden. Die dafür entscheidende .,Anteilnahme" am Kulturprozeß ist jedoch gesellschaftlich vermittelt. Aus dieser Sicht gewinnen im Ansatz Messners Gemeinschaften und Formen menschlicher Vergesellschaftung wie Familie, Recht und Staat, die er als .,gesellschaftliche Lebensordnungen" 22 bezeichnet, eine für das Verständnis der Kultur als Grundform menschlicher Existenz entscheidende Bedeutung. An erster Stelle steht dabei die Familie als die grundlegende menschliche Gemeinschaft. Die Bedeutung der Familiengemeinschaft sieht Messner in der Aufgabe begründet, dem Menschen die erste und ursprüngliche Erfahrung einer gelebten menschlichen Wertwelt zu vermitteln. Dabei bildet für Messner die Familiengemeinschaft das Paradigma von Humanität schlechthin, eröffnen die in dieser Gemeinschaft erfahrbaren .,Familienwerte" dem Menschen überhaupt den Zugang zu humanen Grundwerten und zu ihrem Verständnis. Diese stehen deshalb in einem bleibenden Zusammenhang mit den .,Familienwerten" wie .,der Liebe und Treue gegeneinander, der Sorge und der Opferbereitschaft füreinander, des Einstehens und Arbeitens aller für das gemeinsame Beste". Aufgrund seiner sozialen Natur sind die .,gesellschaftlichen Lebensordnungen" für die Entfaltung des Menschen als Kulturwesen von erstrangiger Bedeutung. Für Messner sind sie nicht bloße Voraussetzung, sondern .,wesenhafter, ja innerster Bestandteil der Kultur" 23 : Die durch die spezifischen 22

23

8'

Ebd., 337. Ebd., 339.

116

Werner Freistetter

,.Lebensordnungen" einer Gesellschaft vermittelten Werte, Anschauungen und Haltungen prägen einerseits die soziale Lebensform eines Volkes insgesamt und bilden andererseits einen zentralen Bereich der Kultur eines Volkes, nämlich seine ,.Tradition". V. Die Tradition als "kulturelle Lebensform" Mit diesem Begriff bezeichnet Johannes Messner die geschichtlich geprägte .kulturelle Lebensform" eines Volkes, die in der Folge der Generationen weitervermittelt wird und ihre erfahrbare Auswirkung in den ,.dauernden Verhaltensweisen der Glieder einer Gruppe auf Grund gesellschaftlich geformter Überzeugungen und gesellschaftlich bestimmter Haltungen" findet 24. Neben Sprache und Symbol findet Messner in der Tradition einen entscheidenden Grund für den Unterschied des Menschen als Kulturwesen vom Tier: Der Mensch kann ,.weder Vollmensch noch Kulturmensch sein ... , ohne es durch die gesellschaftliche Lebensform der Tradition zu werden"25. Mit dieser Bewertung der Tradition setzt sich Messner von individualistischen Auffassungen ab, die .die Gruppe von dem angeblich in sich selbst fertigen Individuum her" verstehen. Die Stellung des Menschen in der Tradition und die Bedeutung dieser Lebensform für die Kultur sind Ausdruck der Sozialnatur des Menschen, die sich nicht nur in der Gleichzeitigkeit der Gegenwart, sondern auch in der geschichtlichen Dimension der Vergangenheit und der Zukunft auswirkt. Der Mensch steht in der Tradition als Wesen, das ,.in einer Folge von Generationen erscheint, die sich vermittels der Tradition das Ergebnis ihrer Erfahrung, ihrer Arbeit und ihrer Erkenntnisse weiterreichen". Diese geschichtliche Dimension seiner Sozialnatur hat für die Existenz des Menschen als Kulturwesen eine entscheidende Konsequenz: Der Mensch ,.empfängt alles für seine Vollentfaltung Wesentliche zunächst aus der gesellschaftlichen Tradition". Aus dieser Sicht hat für Messner der Begriff ,.Tradition" eine zweifache Bedeutung: Zunächst bezeichnet er den Vorgang des Überlieferns, die Vermittlung ,.von Erfahrungen und Einsichten, ihrer Verwertung in werkzeugliehen und gesellschaftlichen Einrichtungen und der ihnen zuerkannten lebensformenden Geltung";

24 25

Ebd., 347. Ebd., 346-347.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

117

sodann auch den Bestand des Überlieferten, der in "gesellschaftlich überkommenen und gesellschaftlich wieder überlieferten Vorstellungs-, Denk- und Wertungsweisen und den darauf beruhenden Haltungen, Sitten und Einrichtungen" besteht. Diesen überlieferten "Bestand" bezeichnet Messner auch als "Volkstum". Dieser gesellschaftliche Prozeß des Tradierens der geschichtlich geprägten Lebensform eines Volkes urnfaßt für Messner gleichermaßen die Weitervermittlung von bewährten Wertvorstellungen, Denkformen und Handlungsweisen wie deren kreative Veränderung und Weiterbildung auf Grund neuer Herausforderungen des sozialen Lebens. Als entscheidende Voraussetzung dieses Vorgangs erscheint das Spannungsverhältnis zwischen den Individuen und der tradierten sozialen Lebensform, durch die sie in Denken und Handeln, in Selbsteinschätzung und Weltsicht grundlegend geprägt werden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen einlinigen Prozeß, dessen komplementäre Seite besteht in der schöpferischen Auseinandersetzung der Menschen mit den überlieferten Inhalten und Formen des Zusammenlebens, den sozialen Ordnungen und Wertsysternen. Das dem Menschen von Natur aus eigene Wertstreben, seine Ausrichtung auf Kultur in ihrer persönlichen wie sozialen Dimension führt - in historisch unterschiedlicher Ausprägung und Intensität- zu deren Bewahrung, Veränderung und Weiterbildung, oder auch zu ihrer Ablösung durch neue, einer veränderten Situation mehr entsprechende Traditionen. So wird für Messner der Mensch zwar von frühester Kindheit an durch die - vor allem in der Familie vermittelte - Tradition in den unbewußten Bereichen der Psyche geprägt. "Sie wirkt auch zu einem großen Teil vorn Unbewußten her im Verhalten des Menschen sein Leben lang fort" 26• Die Entfaltung de Persönlichkeit beruht jedoch "wesentlich auf einerweitgehenden Verselbständigung des Einzelmenschen gegenüber der Tradition", die sich in der Fähigkeit zu bewußtem Urteil und eigenständiger Wertung ausdrückt. Dabei geschieht auch eine kritische Auseinandersetzung mit überlieferten Wertungen und Verhaltensweisen, die auf ihre Eignung zur Bewältigung neu entstandener Problerne und Aufgaben hin geprüft werden. Diese Verselbständigung führt für Messner dennoch nicht zu einem einfachen "Herauswachsen aus der Tradition". In bezugauf jene Seiten der Tradition, die in ihrer ethischen Geltung fragwürdig oder der Problernstellung einer Zeit nicht mehr angernessen sind, wird der Mensch zu unterscheiden lernen. Die Prägung des Menschen durch die Tradition, in der er aufgewachsen ist, erstreckt sich aber über die äußeren Verhaltensweisen hinaus in den Bereich der "Vorstellungs-, Denk- und Wertprinzipien", die 26

Ebd., 347-348.

Werner Freistetter

118

weitgehend die ,.seelische Konstitution des Menschen" bestimmen. Die ,.seelische Kraft" jedoch, die für die Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit erforderlich ist, hängt für Messner mit dieser inneren Konstitution zusammen, die dem Menschen mit der Wertwelt einer bestimmten Tradition vermittelt wurde. Die Bedeutung der Tradition für die Gesellschaft sieht Messner darin, daß deren Grundwerte ,.einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Gemeinwohls" 27 bilden. Dies folgt aus einem Verständnis des Gemeinwohls als Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die dem Menschen die in Eigenverantwortung wahrzunehmende vollmenschliche Entfaltung ermöglichen. Insofern versteht Messner die Tradition als eine ,.überindividuelle Wirklichkeit", als Ausdruck des ,.objektiven Geistes" einer Gesellschaft. Er kritisiert jedoch kollektivistische Interpretationen dieser Begriffe, nach denen die Tradition ,.in der Entfaltung einer vom Menschen unabhängigen und für sich selbst seienden Wirklichkeit bestehe, einer ,Volksseele', des ,absoluten Geistes', eines ,Kollektiv-Ich"' 28 , da der Mensch als Person eine eigenständige, ,.übergesellschaftliche Wirklichkeit" verkörpert. Da die Tradition zum Bereich des Gemeinwohls einer Gesellschaft gehört, bildet sie einen Teil der gesellschaftlichen Voraussetzungen für die vollmenschliche Entfaltung der Gesellschaftsglieder. Darin sieht Messner einen ,.sittlichen Geltungsanspruch der Tradition" begründet: In ihr ist ,.Lebenserfahrung, Welt- und Wertsicht vieler Generationen aufbewahrt und wirksam". Daraus ergibt sich die ethische Forderung an alle, die von der Tradition und in ihr leben, das ,.überkommene Erbe durch eigene Bewährung in Lebenserfahrung und Welt- und Wertsicht zu erhalten, fortzubilden und an die Nachkommenden weiterzugeben" 29 • Aus diesem sittlichen Geltungsanspruch der Tradition als Teil des Gemeinwohls einer Gesellschaft folgt für Messner die Verpflichtung zur Achtung der in der eigenen Tradition überlieferten humanen Grundwerte wie auch die Verpflichtung zur Achtung der Traditionen anderer Völker. In diesem Zusammenhang übt Messner Kritik an einer Sicht anderer Kulturen, die diese in ihrem Eigenwert einseitig an den Maßstäben der Kultur entwickelter Industriestaaten mißt. Gegenüber einer solchen Überschätzung der modernen Lebensformen, die leicht zum ,.absoluten Wertmaßstab" gemacht werden, weist er darauf hin, daß auch diese nur von "relativem Eigenwert" sind. Der für alle Kulturen geltende Maßstab besteht vielmehr in ihrer Ausrichtung auf die Ermöglichung vollmenschlicher Entfaltung der Angehörigen der jeweiligen Kulturgemeinschaft Gleichzeitig weist dieses 27 28 29

Ebd., 351. Ebd., 349. Ebd., 350.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

119

Ziel auf eine gesamtmenschliche Aufgabe hin, die nicht von einer Kultur, sondern nur in interkultureller Kommunikation erfüllbar ist, die fortschreitende Einsicht in die Grundwerte eines vollmenschlichen Daseins und der Gestaltung der dazu erforderlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Dieser Prozeß wird für Messner aber ,.überhaupt nur durch die Tradition mit ihrer ,bewahrenden', weil das zunächst Bewährte sichernden Tendenz" ermöglicht30• Die so verstandene Tradition lebendig zu erhalten, ist daher eine .. Gemeinwohlverpflichtung", eine der .,sittlich-sozialen Grundverpflichtungen" jedes Volkes 31 • ,.Lebendig" bleibt eine kulturelle Lebensform aber nur in der ,.Auseinandersetzung mit der sich entwickelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit und Umwelt". Die Herausforderungen einer Welt in raschem Wandel stellt damit jede Tradition vor die Aufgabe der Bewährung ihrer Grundwerte gegenüber diesen Wandlungen. Nur dann besteht die Chance, daß die jeweilige Tradition .,an innerer lebenformender Kraft wächst". VI. Person und Gemeinschaft: "Ontologie des Gemeinwohls"

Messner versteht Kultur und Tradition als gesellschaftliche Grundformen menschlicher Existenz. Die Teilhabe an der in einer spezifischen Kultur tradierten humanen Wertwirklichkeit ist für den Menschen Voraussetzung und Ermöglichung vollmenschlicher Entfaltung. In der Konsequenz dieses Ansatzes stellt sich für Messner nun eine Frage, die in der Sozialphilosophie im allgemeinen einen zentralen Stellenwert einnimmt, im Problem des sozialethischen Status ethnischer Gruppen aber von besonderer Bedeutung ist: Welche Art von Realität kommt den gesellschaftlichen Verbindungen von Menschen zu? Besteht diese Realität- in einem rein .,ideellen" Sinnnur in den Vorstellungen der Individuen und einer (vielleicht sozial nützlichen) Fiktion gesellschaftlicher Einheit oder kann von einem .,Eigensein" der Gesellschaft als ,.überindividueller Wirklichkeit" gesprochen werden? Die Antwort auf diese Frage hat entscheidende Konsequenzen für die sozialphilosophische Konzeption des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. Für Messner besteht die Seinsweise der gesellschaftlichen Verbindungen jedenfalls nicht bloß in einem .,ideellen" Sinn32 : Die verschiedenen Gesellschaftsgebilde sind in ihrem Verhältnis zu den Individuen als .,sehr reale Wirkeinheiten" erfahrbar, die - wie im Fall von Familie, Volk und Ebd., 351. Ebd., 352. 32 Vgl. zum Folgenden Johannes Messner, Das Naturrecht, Berlin 7. Auf!. 1984, 162ff. 30

31

120

Werner Freistetter

Staat- die Individuen entscheidend in ihrer Eigenart formen und sie auch in der Zeit überdauern können. Insofern kommt für Messner den gesellschaftlichen Verbindungen ,.überindividuelles, überdauerndes Eigensein" 33 zu, jedoch nicht im Sinn einer den Individuen selbständig gegenüberstehenden substanzhaften Wirklichkeit. Denn die Gesellschaft "braucht in ihrer überdauernden Seinsweise die Einzelmenschen als Träger", sie hat "Sein" und "Existenz" nur durch das Sein und die Existenz von Menschen 34 . Diese sind andererseits zur Realisierung ihres" vollmenschlichen Seins" auf Kommunikation und Kooperation in gesellschaftlicher Verbundenheit angewiesen. Aus diesem Prozeß aber entsteht eine ,.neue", "überindividuelle" Wirklichkeit, die nicht einfachhin mit dem identisch ist, was die Individuen für sich genommen erreichen könnten. Diese Überlegung ist für Messner der entscheidende Zugang zum Begriff des "Gemeinwohls". In der näheren Untersuchung der mit diesem Begriff gemeinten Wirklichkeit klärt sich auch das Verhältnis von Individuen und Gemeinschaft. Messner entwickelt dazu eine "Ontologie des Gemeinwohls"35. Denn die Frage nach der ,.Seinsart" oder "Seinsweise" der gesellschaftlichen Verbindungen führt für Messner zu einer Analyse des Gemeinwohlbegriffs: Das Gemeinwohl besteht ontologisch in der "aus der gesellschaftlichen Verbundenheit der Gesellschaftsglieder erwachsenden Hilfe für die eigenverantwortliche Erfüllung der in ihrer Natur vorgezeichneten persönlichen und gesellschaftlichen Lebensaufgaben" 36 . Die Verwirklichung des so verstandenen Gemeinwohls ist naturrechtlich Endzweck aller gesellschaftlichen Verbindungen. Die individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftstheorien lassen sich deshalb von der zugrundeliegenden Auffassung des Gemeinwohls her verdeutlichen. Für Messner bestehen in diesen gegensätzlichen Deutungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit "Wahrheitskerne", die mit dem,. überindividuellen Wesen" der Gesellschaft und des Gemeinwohls einerseits und dem ,.übergesellschaftlichen Wesen" des Menschen mit seinen Eigenzwecken und seiner Eigenverantwortung andererseits zusammenhängen37. Diese Spannung zwischen der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung des Menschen als individuelles und seiner gleichzeitigen Abhängigkeit vom Gemeinwohl als soziales Wesen bietet Messner den Ansatzpunkt für seine ontologische Analyse des Gemeinwohls. Ebd., 162-163. Ebd., 165. 35 Bes. in seinem Artikel .Zur Ontologie des Gemeinwohls", in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie, Bd. V/VI, 1961/62, 365-393. 36 Johannes Messner, Das Naturrecht, 189. 37 Johannes Messner, Zur Ontologie des Gemeinwohls, a.a.O., 366. 33 34

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

121

Aus diesem Ansatz folgt eine gegenseitige Verschränkung der sozialen Wirklichkeit des Gemeinwohls und der .,vollmenschlichen" personalen Existenz der Gesellschaftsglieder38 : Das Gemeinwohl wäre seiner Verwirklichung nach "als das Ergebnis der Kooperation der Gemeinschaftsglieder, zugleich aber als die sich in allen Gliedern verwirklichende vollmenschliche Existenz" zu verstehen. Dies bedeutet jedoch auch, daß .,das Gemeinwohl umso vollkommener verwirklicht ist, je vollkommener die Glieder der Gesellschaft in Eigenständigkeit und Eigenverantwortung den in der Vollexistenz des Menschen als Kulturwesen gelegenen Anforderungen entsprechen". Denn die in seiner Personnatur begründete Eigenständigkeit und Eigenverantwortung erheben den Menschen zu seiner .,übergesellschaftlichen Würde, Eigenzuständigkeit und Eigenberechtigung". Die Frage nach der .,überindividuellen Wirklichkeit" des Gemeinwohls beantwortet Messner nun auf zweifache Weise. Das ,.Eigensein" des Gemeinwohls ist zunächst das eines .,dauernden Prozesses", nämlich .,der in ihm erfolgenden Verwirklichung der vollmenschlichen Existenz der Gesellschaftsglieder". In diesem Vorgang greifen die Lebensprozesse der Gesellschaftsglieder in vielfältiger Weise ineinander. Das "Dauernde und Überdauernde" dieses Vorgangs ermöglicht es, "daß trotzdes Ausfallens einzelner Glieder, aber auch ganzer Generationen der Gesamtprozeß als Einheit fortdauert". Für die weitere, inhaltliche Bestimmung der Gemeinwohlwirklichkeit ist nun Messners kulturphilosophischer Ansatz entscheidend. Für ihn sind die instrumentellen und organisatorischen Werte "nicht die eigentlichen Gemeinwohlwerte". Vielmehr bestehen diese "im Inbegriff der Kulturwirklichkeit, von der die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen getragen und durch die er in seinem ganzen Sein geprägt ist". Diese "Kulturwirklichkeit'' ist die gesamte Kultur eines Volkes als seine "Lebensform und Lebensentfaltung"39. Deshalb gilt für Messner: "Nicht weniger als die Kultur in diesem weiten Sinn ist das Gemeinwohl". In seinem "ontologischen Grundwesen" ist es identisch mit der "Lebensordnung der Gesellschaft als Kulturgemeinschaft". Von hier aus eröffnet sich der Rückbezug zur Tradition als dem grundlegenden Teil des Gemeinwohls 40 • Die in der kulturellen Lebensform eines Volkes überlieferten Werte, Haltungen und Überzeugungen werden in der Tradition zu einer "fortzeugenden Wirkeinheit" gesammelt, die an der Basis der vielfältigen "Ethosformen" der Völker mit ihren verschiedenen Objektivationen in sozialen, rechtlichen und politischen Einrichtungen stehen. 38 39

40

Ebd., 381-382. Ebd., 383. Ebd., 384.

122

Werner Freistetter

Diese .,Wirkeinheit" der gesellschaftlichen Tradition bildet für Messner den Grundbestand der Gemeinwohlwirklichkeit; diese reicht deshalb .,in eine wesentlich tiefere Seinsschicht der Natur des Menschen als eine von außen wirkende Organisationsform an Gemeinwohlwirkung zu erzielen vermag" 41 . Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft stellt sich aufgrund dieser Analyse als ein Vorgang der Interaktion dar: Es treten nicht Einzelmensch und Gemeinwohl als in sich fertige Wirklichkeiten in eine Wechselbeziehung, .,vielmehr kommen beide erst in diesem Wechselwirkungsprozeß zu ihrer Vollwirklichkeit" 42. Der .,Seinsgrund" des Gemeinwohls liegt zwar in der sozialen Natur der Individuen. Diese aber tritt nicht zu einem in sich vollendeten Einzelnen hinzu, sondern ist .,für das vollmenschliche Sein konstitutiv" 43 • Messner zieht daraus die Folgerung, daß sich in dieser wechselseitigen Beziehung .,eine überindividuelle und eine übergesellschaftliche Wirklichkeit durchdringen und gegenseitig bedingen: die aus den Wirkkräften des Gemeinwohls vollentwickelten Menschen sind ihrerseits die Wirkkräfte des Bestandes und des im Fortschritt der Kultur sich weiter entwickelnden Gemeinwohls".

VII. Der Begriff des "Gemeinwohlpluralismus" Aus dieser ontologischen Analyse des Gemeinwohls als einer eigenen, in der sozialen Natur des Menschen begründeten Wirklichkeit, die auf die humane Entfaltung der Individuen hingeordnet ist, folgt eine weitreichende Konsequenz für die gesellschaftliche Ordnung: der Gedanke des .,Gemeinwohlpluralismus". Es gibt dann nämlich nicht nur eine Gemeinwohlwirklichkeit, etwa das Gemeinwohl des Staates oder der politischen Gemeinschaft, sondern es schließt notwendig verschiedene Ebenen und vielfältige Formen seiner Verwirklichung ein - in diesem Sinn ist es .,pluralistisch" strukturiert. Das Gemeinwohl ist für Messner .,vielfältig und vielschichtig, weil der Mensch in der Vollentfaltung seiner Existenz seiner ganzen Natur nach anima/ socia/e im umfassenden Sinn ist". Daraus folgt ein entsprechender .,Pluralismus" von Gemeinschaften und gesellschaftlichen Verbindungen. Besondere und für alle weiteren Formen menschlicher Vergesellschaftung grundlegende Bedeutung kommt hier wieder der Familie zu, die dem Menschen durch ihre Teilhabe an der gesellschaftlichen Tradition die wesentlichen Werte seiner spezifischen Kultur vermittelt. Der Mensch bedarf demnach zur Vollentfaltung seiner Existenz verschiedener Formen gesellschaftlicher Verbindungen, die jeweils eigene 41

42

43

Ebd., 386. Ebd., 385. Ebd., 387-388.

Volksgruppen und Minderheiten als Frage des Menschenbildes

123

Zwecke im Hinblick auf diese Entfaltung des Menschen erfüllen. Für Messner begründen nun diese ,.Eigenzwecke der Sozialeinheiten . . . ihre Eigenverantwortung und daher Eigenzuständigkeit in der Wahrnehmung ihres eigenen Gemeinwohls" 44 • Insbesonders kommt den vorstaatlichen gesellschaftlichen Verbindungen somit ein eigener und eigenständiger Status innerhalb der Sozialordnung zu, die Messner als eine relative ,.Autonomie der Gemeinschaften" in gegenseitiger Zuordnung versteht. Dies schließt auch eine ,.Über- und Unterordnung" von Gemeinschaften ein, eine engere oder weitere Zuständigkeit, die sich nach ihrem spezifischen Beitrag zur Ermöglichung gesamtmenschlicher Entfaltung (ihrem ,.Sozialzweck") bestimmt. ,.Relative Autonomie" bedeutet in diesem Zusammenhang, daß jede Gemeinschaft ,.im Bereich ihrer eigenen Zwecke autonom, jedoch der größeren Gesellschaft untergeordnet" ist, insofern es um ein umfassenderes Ziel der größeren Gemeinschaft geht, das seinerseits die Verwirklichung der engeren Ziele kleinerer Gemeinschaften ermöglicht. In dieser pluralistischen Struktur des Gemeinwohls ist das Prinzip der Subsidiarität als Grundprinzip der Gesellschaftsordnung begründet. Eine nach diesem Prinzip geordnete Gesellschaft weist der ,.relativen Autonomie" der vorstaatlichen Gesellschaftsgebilde einen entscheidenden Platz in ihrem Aufbau und ihrer Gliederung zu 45 • Innerhalb dieser subsidiären Struktur der Gesellschaft kommt nun den ethnischen Gruppen ein besonderer Stellenwert zu. Denn der ,.ontologische Rang" einer gesellschaftlichen Verbindung hängt von ihrer Bedeutung für die vollmenschliche Existenz des Individuums ab 46 • Insofern stehen für Messner gesellschaftliche Einheiten wie die Familie oder das Volk ,.naturhafte", ,.notwendige" Gesellschaften- den Grunderfordernissen vollmenschlicher Entfaltung näher, sind so gesehen ,.in einem wesenhafteren, d. h. seinshaftvolleren Sinn Gesellschaft", als Vereinigungen, die ein zwar frei vereinbartes, aber begrenzteresZiel verfolgen (wie etwa Freizeitgestaltung oder wirtschaftliche Zwecke). Dieser Ansatz bietet nun Grundlagen für eine sozialethische Argumentation aus naturrechtlicher Sicht, die einen spezifischen Beitrag in der vielfältigen Problematik um den gesellschaftlichen und rechtlichen Status ethnischer Gruppierungen auf innerstaatlicher, regionaler und internationaler Ebene leisten kann. VIII. Zu einigen Folgerungen aus dem Ansatz Messners Zunächst läßt sich vom sozialphilosophischen Denken Messners aus die weitreichende existentielle Bedeutung der kulturellen und ethnischen IdenJohannes Messner, Das Naturrecht, 215-216. Ebd.,217f. 46 Ebd., 157. 44

45

124

W erner Freistetter

tität für den Menschen verdeutlichen: Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe als Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft ermöglicht und formt seine Identität als Person- sein Verständnis von sich selbst, sein Verhältnis zu den andern, zu Geschichte und Umwelt, sowie die Ausdrucksformen und die Wertwelt, in denen sich diese Beziehungen artikulieren. Diese primären Prägungen erweisen sich immer wieder als so wirkmächtig, daß bei Versagen oder Zusammenbruch größerer und komplexerer Sozialsysteme eine starke Tendenz des Rückzugs in die fundamentalsten Gruppenbindungen zu beobachten ist47 . Dies kann auch die Form eines weltanschaulichen oder politischen Fundamentalismus annehmen, wobei versucht wird, eine als gefährdet erlebte individuelle und soziale Identität durch eine oft aggressive Abgrenzung nach außen, durch Betonung des Eigenen und Unterscheidenden und den möglichst engen Zusammenhalt der Gruppe zu behaupten. Doch auch in den extremen Zuspitzungen des Fundamentalismus bleibt das Motiv erkennbar, das als brisantes, manchmal geradezu explosives Element die gegenwärtige politische Situation weltweit entscheidend mitbestimmt- die Suche nach Bewahrung kultureller und ethnischer Identität, ihrer Entfaltung oder auch der Rückwendung zu ihr unter den Bedingungen der gegenwärtigen technologischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen48. Dieses Bestreben wirkt sich in der Forderung nach sozialen Ordnungen aus, die fähig sind, die verschiedenen ethnischen und kulturellen Identitäten ohne Diskriminierung zu integrieren. Dabei wird ein grundlegender Zusammenhang mit dem Menschenbild deutlich: Die Forderungen nach Achtung der Menschenwürde, nach Respektierung der Person des anderen und der Anerkennung seiner Rechte schließen Achtung, Respektierung und Anerkennung der konkreten kulturellen, sprachlichen, ethnischen und religiösen Prägungen der Menschen mit ein49. Denn es existiert nicht "der Mensch", unter Absehung von aller historisch-sozialen Formung, sondern immer ein bestimmter, von der Kultur seiner Gruppe geprägter Mensch, der den anderen in seiner Individualität wie in seiner sozialen Zugehörigkeit gegenübertritt. Die ethische Forderung nach Achtung des Menschen in seiner individuellen und sozialen Dimension läßt sich als eine Grundforderung der Gerechtigkeit charakterisieren, die über die Frage der Verteilung materieller Güter hinausgeht und die Achtung der kulturellen 47 Vgl. Harold R. Isaacs, Basic Group ldentity: The Idols of the Tribe, in: Nathan Glazer I Daniel P. Moynihan (ed.), Ethnicity, Harvard University Press, Cambridge/ Mass.-London 2. Auf!. 1976, 29-52, 30. 48 Vgl. Harold R. lsaacs, Basic Group Identity,